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I

AJIgemeine Zeitschrift

für

Geschichte.

Herausgegeben

von

Dr. W. Adolf Scbniidt,

ausserord. Professor der Geschichte an der UniversifKt zu Berlin.

Fttnftei* Band

(der Zeitschrift ftir Geschichtswissenschaft).

Berlin, 1846.

Verlag von Veit und Comp.

* »

Heber die Versammlniiir der franxdstoelleii

Wotabeln Im Jahre ff 09

fonehmUch tu bocIi inl^MSlitoB DocmMtot itr

Piriier ArcUf e

VOD

I^eepeld Ranlie.

Nach dem amerikacüschen Kriege befanden sich die drei Mächte die ihn hauptsächlich geführt hatten, England, Frank- reich und Nordamerika beinahe in gleicher finaniielier Ver- legenheit.

In England war, wenn nicht gradezu die öffentliche Schuld, doch die Summe der Zinsen die dadurch erforder- lich wurde, um das.Doppelte angewachsen: sie überstieg den ganzen Betrag der bleibenden Auflagen: so dass man sich für die regelmässigea Kosten der Regierung auf ausser- ordentliche Einkünfte angewiesen sah, die aber bei weitem nicht zureichten: im Jahr 1784 fielen die consolidirten Stocks auf 55 Pc.

Noch bei weitem schlechter standen die amerikanischen Geldangelegenheiten. Der Congress, der ansehnliche Schul«- den auigenömmen, hatte kein Mittel in Händen, um ihre Verzinsung zu bewirken: alle seine Vorschläge hiezu schei- terten an den wider einander laufenden Interessen der ein- zelnen Staaten. Daraus erfolgte aber, dass das Papiergeld, das diese selber erschufen, im ersten Augenblick entwer- thet ward: Gold und Silber verschwanden: der Handel halte seine alten Wege verloren , und konnte noch keine neuen fin^ den; Congres>s, Staaten und Privatleute sahen .sich alle in der nemlichen pecuniären Hülflosigkeit.

Allg. Z«ilMllvill r. «•<cU«lil«. T. It4f. 1

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2 Die Veriommlung der französ. Notabein im J. 1787,

In Frankreich war das alte Missverhältniss zwischen Ausgabe und Einnahme, das sich aus den früheren Kriegen herschrieb, ^urch den letzten ungemein vergrössert worden. Eine geschickte Verwaltung der Finanzen hatte dem Aus- bruch so schreiender Uebelstände wie in den beiden an- dern Ländern, glücklich vorgebeugt, aber das konnte auch die geschickteste nicht verhindern, dass nicht die Kosten der laufenden Jahre den folgenden aufgebürdet worden wären: es war vielmehr das nothwendige Resultat der Operationen Neckers; als der Friede zu Stande' kam, fand sich das Ein- kommen der nächsten Jahre schon in Voraus aufgezehrt und eine unermessliche schwebende Schuld war zu tilgen.

Es ist nicht allejn characteristisch für die drei Länder, wie man sich in einem jeden aus dieser schwierigen Lage her- vorzuarbeiten suchte, sondern da die wichtigsten Verhältnisse <ler Innern Politik damit zusammenhingen, so ist es für ihre spätere Entwickelung entscheidend geworden.

In. dem Innern von England war ein Gegensatz der ge- föhrlicbsten Art ausgebrochen, zwischen dem König aus dem Hause Hannover und derjenigen Partei welche dieses Haus hauptsächlich zum Throne bef£lrdert hatte, den Whigs und den Presbyterianern: noc)^ einmal machten die alten Whigs einen Versuch, diu'ch die Vereinigung der ministeriellen Macht und des Einflusses auf Ostindien die Gewalt in ihrer Hand zu befestigen; allein ihr Vorhaben ward von dem König durchschaut und von der Nation verworfen; in dem jungen Pitt, der sich auf immer von ihnen losriss, stand ihnen ein Gegner auf, von dem ich nicht weiss ob er sie an ursprünglichem Talent 'übertraf, der sich aber zu einem Standpunct erhob, auf dem er ihnen überlegen vnirde. Sein vornehmates Augenmerk rich- tete dieser Staatsmann auf die Herstellung eines Gleichge- wichts in den Finanzen. Er wagte mit kühner, aber tref- fender Berechnung, die ZöUe herabzusetzen, um ein grösse- res Einkommen davon zu ziehen; es gelang ihm, den Schleieh- handel zu erdrücken, der bisher einen so beträchtlichen The9 desselben verschlungen hatte; das Geschrei der durch einzelne neue Auflagen die er anordnete verletzten partieu-

Die V&rsmnmlung der framös. Noiabeln im J. 1787. 3

laren Interessen liess er sich nicht irren, wenn nur der Haupigestefatspunet gewahrt blieb, vorzugsweise die Wohl- habenden damit zu erreichen; nachdem er durch die Arbeit einiger Jahre die Einnahme sogar ein wenig ^kber die Ausgabe gebracht, s6l»ritt er zu der ^grossen Maassregei die dem Credit ^uf immer eine feste Grundlage geben soHte, und in der That gegeben hat, der Festsetzung des Tilgungsfonds. Dm Tag, an welchem er damit durchdrang, bezeichnet er mit Recht als den, „wo alles Zagen aufhöre und sich die Aus- sicht mit fiofnung und Freude erfülle ^^ Es war zugleich der Tag, der das neue System der Regierung befestigte, als dessen Urheber Pitt betrachtet werden muss , ein System das in den schwersten Stürmen ausgehalten hat, die je ein Jahrhundert erschüttert haben.

Indessen erhob sich in den vereinigten Staaten aus der allgemeinen, zugleich beschämenden und gefährlichen Verwir- rung, worin man sich sah, die Ueberzeugung von der Nöth- wendigkeit, eine Unionsregierung von einiger Kraft zu errich- ten. Die einzdnen Legislaturen entschlossen sich endlich, ihr Recht, die Einfuhr der fremden Waaren zu besteuern, dem Congresse aller Staaten abzutreten. Dieser finanzi^e Moment, der dem dringendsten Bedürfhiss entsprach, wurde die Grundlage der Staatsgewalt und Verfassung die nun dort in weiterer Bildung emporkamen.

Diesseit und jenseit des Weltmeers rief die Oefahr vor Zerrüttung und Verfall die staatbildenden Kräfte auf und führte zur Begründung von Einheit und Recht : Männer von Genius und grossem Sinne nahmen sich der allgemeinen Dinge an*

Nach grossen Kriegen wird sich immer, und zwar f&fst In demselben Maasse als die dadurch verursachte Eraohütlemng mächtig und durchgreifend gewesen ist, die Tbätigkelt auf die inii(dren Verhältnisse wenden; sie fordert eine tdcht min- dere geistige Kraft und vieUeidit eine noch anhaltendere An* sirengung als der Krieg sebst.

Wenden wir denBUok nadiFrankreich, so nahm dort die Be- wegung der Geister die Aufmerksamkeit beinahe noeh mehr

4 ßU Versammlung der fran%ös. Notabein im J. i787.

in Anspruch als die finanzielle Schwierigkeit. In dem einst so gehorsamen Königreich' hatte sich eine Opposition der öffentlichen Meinung erhoben, welche Religion', politisches und sociales Leben, innere und äussere Staatsverwaltung zugleich ümfasste, der bestehenden Oi*dnung der Dinge gerade ihr Gegentheil als ein zu erreichendes Ideal vorhielt, und durch den Krieg, der aus einer ihr verwandten Sinnes weise entsprungen war', Bestätigung und Aüsehn gewonnen hatte. Noch war sie nicht in einer durch die Gesetze anerkannten Berührung mit der Verwaltung und den Angelegenheiten 4es Staates : aber von Jahr zu Jahr gewaltiger anbrausend strebte sie darnach auf. ^ v^

Man hätte glauben sollen, die Regierung von'l^fankreioh, welcher die Gefahr die darin für sie lag, nicht verborgen seyn konnte, werde den Frieden benutzen, um die unläug- baren Uebelstände. zu beseitigen, die dieser Gesinnung ihre Nahrung gaben; -^ eben wenn sie Hand anlegte, ihre Fi- nanzen in Ordnung zu bringen, so bot sich ihr Gelegenheit genug dar, die wirklich gegründeten Beschwerden abzustel- len, und die Veränderungen vorzunehmen die man mit Recht forderte, ihr ganzes System vielleicht zu modificiren, aber zu befestigen. Es Hess sich erwarten, sie würde diess uin ^0 eher durchführen, da sie noch nicht mit populären Stürmen zu kämpfen hatte, sondern eine Gewalt zu besitzen schien, wo ihr Wort und Wille entscheiden konnte.

Allein einmal müssen wir bemerken, dass die alte fran- zösische Regierung doch so vollkommen unumschränkt nicht war, wie sie erschien.

Zuvörderst setzte sich ihr in einigen der wichtigsten Provinzen eine in dem Sinne der alten Zeiten ganz gut or- ganisirte ständische Verfassung entgegen, die hie und da so- gar eine sehr- schroffe Aussenseite hatte; z. B. in der Bre^ tagne, wo man einen förmlichen Contract mit den CU»nmis- sarien der Regierung zu schliessen pflegte; bei der näch- sten Zusammenkunft untersuchte man alle Mal zuerst, * ob demselben auch nicht entgegengehandelt worden sey.

Ferner hielt der Glerus von Frankreich den Grundsatz

Die Versammlung der franj&ös, Notabetn im J. 1787. 5

aafirecht, dass die geistlichen Güter ein ausscbliessendes Be- sitzthum der allgemeinen Kirche seyen, an die dem Staat kein anderes Recht zustehe, als das, was ihm von den kirch- lichen Gewalten selbst eingeräumt werde; die Versammlun- gen der französischen Geistlichkeit, sowohl die provinciellen als die allgemeinen, wurden in den bestimmten Zwischen- räumen regelmässig gehalten; noch hatten sie von ihren althergebrachten Gerechtsamen keines aufgegeben; dass sie ihren. Beitrag zu den Staatslasten von Zeit zu Zeit unter dem Titel eines Don gratuit zu bewilligen hatten, verschafiFtc ihnen dem Staate gegenüber, der denselben weder entbehren konnte noch verzögern lassen mochte, einen nicht gerin- gen Grad von Selbständigkeit.

Endlich die Parlamente, wie von jeher so noch immer hauptsächlich Gerichtshöfe, aber von Anfang an, zunächst zum Behuf eines gesetzlichen Widerstandes gegen die üeber- griffe von Rom, mit politischen Befugnissen bekleidet, waren, von alten Ständeversammlungen und einigen mil- den Königen begünstigt, im Laufe der Zeit zum Rechte einer Revision königlicher Edicte, unter dem Titel der Registrirung, aufgestiegen. Die Grenzen ihrer Gewalt mochten streitig seyn: diese selbst hatte sich durch grosse Thatsachen fest-» gesetzt. Verdankte doch das Haus Bourbon dem Ausspruch der Parlamente über die angefochtene Erbfolge seine Thron- besteigung. Nach dem Tode des mächtigsten Böurbons der Je regiert, Ludwigs XIV, cassirten sie dessen Testament, und ernannten den Regenten. Ihnen hauptsächlich war es zuzuschreiben j dass die Bulle Unigenitus in Frankreich nicht zu dem Ansehen gelangte das ihr zugedacht war; sie haben das Meiste zum Sturze der Jesuiten beigetragen. In diesen geistlichen Streitigkeiten geschah es, dass die ver- schiedenen Höfe sich zu einer grossen Genossenschaft ver- einigten. Nachdem Ludwig XV in seinen letzten Jahren den Versuch gemacht ihre Verfassung zu sprengen, begann Lud- wig XVI seine Regierung mit einer Wiederherstellung der- selben: was ihnen ein erhöhtes Bewusstseyn ihrer Unent-

6 Die Versammlung der frannös. Notabein im J. 1787,

behrlichkeit gab, so dass sie jeder Beschränkung spotteten, die man ihnen darnach auflegen wollte.

Darin lag in der That der Fehler der alten Regierung nicht, dass sie, den geltenden Formen nach, .zu unumschränkt gewesen wäre: bei jedem aussergewi^hnlichen Schritte den sie wagt, finden wir sie im Kampfe mit den mächtigen sie umgebenden Körperschaften: sie weiss denselben häufig nur durch Gewaltsamkeit zu entscheiden.

Dazu kam nun aber, dass sie in sich selbst nicht die Stätigkeit und Energie entwickelte, welche die Regierung eines grossen Landes haben muss. Die Missbriluche in den untern Kreisen der Verwaltung waren ohne Zahl und Je- dermann kannte sie. In den obern Regionen fehlte es nicht allein an leitendem Geist und Festigkeit der Gesichtspuncte : sondern es machte sich auch ein Einfluss geltend, der nur auf persönlichen Interessen beruhte') der Hof, welcher die Königin umgab, und der sich lange Zeit nur mit Vergnü- gungen beschäftigt, und niit dem Antheil an der Gnade, welche ihm der erste Minister Maurepas zufliessen liess, begnügt hatte, fühlte nach dessen Tode, was er auch in wichti- gernDingen erreichen konnte; dagegen regte sich sofort eine der Königin feindselige Partei; entgegengesetzte Cabalen brachten Alles in ein unaufhörliches Hinundwiedersphwanken.

Wie es dann herging, auch ohne dass man mit den grossen Gorporationen in Streit ^ralhen wäre, davon giebt der damalige Augenblick eine Probe.

Man verbarg sich nicht, dass in dem verworrenen Zu- stand der Finanzen eine ernstliche Grefahr liege , und dass zur Herstellung des Gleichgewichts in denselben etwas Durch- greifendes geschehen müsse.

Im Frühjahr 1783 ward eine Finanzcommission einge- richtet, bestehend aus dem Generalcontroleur, dem Gross- siegelbewahrer, und dem Minister der auswärtigen Angele* genheiten, dem Grafen Vergennes, welcher nach Maur repas Tode das Vertrauen |des Publifi^ums und des Königs noch am meisten besass. Von dieser Commissipn sollten alle Ausgaben der verschiedenen Ministerien untersucht und

Die Versammhmg der fran%ä$, NotabetnimJ. 1787. 7

geprüft werden: GrafVergeimes ward mit dem Vorsitz darin betraut. Seine Freunde warnten ibn, sich damit zu be-* fassen; aber das Ueberge wicht, das er auf diese Weise in der ganzen Staatsverwaltung erhielt, vielleicht auch andere Gründe, zu denen man sich noch weniger bekennen mag, bewogen ihn die Sache zu unternehmen.

Yergennes, dem in seinem Leben vieles geglückt war, z. B. die Durchführung der schwedischen Revolution im Jahre 1772, die man wenigstens in Frankreich ihm zuschrieb, obwohl Gustav Ill.es nicht Wort haben will, hielt sieh für stark und einilussreich genug, um auch in dem Innern von Frankreich eine der Monarchie vortheilhafte Reform her- vorzubringen. Im Herbst 1783 erliess er ein Edict, durch welches die Generalpacht aufgehoben und dafür eine Regie unter königlicher Administration eingeführt werden sollte.

' Die Generalpacht umfasste damals das Monopol mit Salz und Tabak, inneren und äusseren Zoll, und die Eingangs- Steuer von Paris, die zugleich Zoll und Accise war. Indem Vergennes sie abstellte, wollte er sich vor allem freie Bahn für die weitern Veränderungen machen , die er besonders in Hinsicht des Zolles beabsichtigte; zugleich aber hoffte er auch, den königlichen Gassen einen unmittelbaren Vortheil zu verschaffen. Man hat denselben auf 60 Millionen angeschla- gen, und zwar haben dies Leute gethan die kein per- sönliches Verhältniss zu Vergennes hatten; noch höher be- rechneten sie die Erleichterung die dem Volke durch diese Maassregel zu Theil werdea durfte.

Allein Vergennes hatte seine Kräfte bei weitem über- schätzt. Sein ganzes System brachte ihm nnr Widerwillen und Hass ein. Die von jener Commission ausgeschlossenen Minister beschwerten sich, dass ein ihnen Gleichstehender eine Art von Vormundschaft Über siei ausüben wolle;. sie sahen darin eine Belästigung und einen Schimpf. Der innere Hof war ohnehin über die Zurückhaltung und Ungefäl- ligkeit des damaligen Gontroleurs, Ormesson, missver- g^ügt. Die Generalpächter, denen ihre Reichthümer und die darauf gegründeten Famitienverbindungen alle Thüreo

8 Die VerHmmhng der franzö$. Notabein im J. i787.

oröflheten, fanden mit ihren Klagen Gehör und Wiederhall Das Unglück wollte, dass die Diseontocasse, sey es nun weil sie nicht gehörig beaufsichtigt war, oder weU sich böser Wille einmischte, als ein plötzlich erregter Sehrecken ihr eine un- erwartete Anzahl voq Papieren die sie ausgegeben zurück- führte^ diese nicht realisiren konnte. Die ganze Finanz- verwaltung gerieth in Misscredit: und nach 14 Tagen sah sich Vergennes genöthigt, die Generalpacht zu erneuem.*) Wollte er seine Stelle behaupten, so musste er sich die Ent- fernung des Generalcontroleurs gefallen lassen der bisher mit ihm gearbeitet, und einen neuen annehmen, den die all* gemeine Stimme des Hofes bezeichnete.

Dies war Herr von Calonne , damals Intendant von Lille. Er hatte in dem Processi gegen La Chalotais seiner Zeit einem in aller Welt besprochenen Rechtshandel eine sehr ^zweideutige Rolle gespielt, die man noch nicht vergessen; auch sein eigenes Vermögen nicht eben sorgfältig verwal- tet ; aber darüber sah man hinweg 3 seitdem hatte er sich in der Administration in den Ruf von. Geschicklichkeit und Arbeitsamkeit gesetzt: der letztern rühmt er sich selbst mit.yielem Nachdruck , und die erste wird ihm Niemand ab- sprechen, der seine Schriften liest. Sie zeigen eine merk- würdige Gewandtheit und Dreistigkeit des Geistes; eine auch unter Franzosen ungewöhnlich leichte Auffassung und flüs- sige Darstellung; freilich ohne alle Tiefe und ohne den Ernst, welcher es sich angelegen seyn lässt, entgegenste- hende Schwierigkeiten gründlich zu heben. Von den gedruck- ten sind die, welche sich auf seine Verwaltung beziehen, nicht ohne literarisches Verdienst. So wusste er sich auch im Umgang und persönlichen Verkehr geltend zu machen. Er trug gern gute Grundsätze, oder die glänzenden alige- meinen halbwahren l^een vor, die nach der hohem Ge.i$ell-

*) Diese Dinge verdienten eine viel genauere Erörterung , als ihnen zu Theil geworden. Auch bei Joseph Droz dürfte man sie nicht suchen. So wohlgemeint und durchgearbeitet dessen Buch auch ist, SQ beruht es doch nicht auf Nacbforscbungen wie sie für Angelegenheiten dieser Art erforderlich wären.

Die VerMommhmg der ftnmön, NoiaMn im J. 1787. 9

Schaft emportauchien ; mit der äussern dSUe eines Hof- manns verband er einen gewissen Scharfsinn in dem Ergrei- fen des Unterscheidenden und der kleinen Beziehungep; Lebhaftigkeit nnd Anmuth des Ausdrucks. Wer es leicht mit den Dingen nahm, ward bald überredet, dass Niemand sie besser verstehe als Calonne; unterrichtete Männer hielten ihn jedoch von seinem ersten Auftreten an ittr einen Empi« riker und Charlatan.

Indem Washington und Pitt alle Kräfte des ernsten, sei- nes Gegenstandes mächtigen Geistes und alle Energie eines ehrenhaften und unerschütterlichen Characters entwickelten, um jeder an seiner Stelle , der eine in Amerika, der andere in England, eine feste, politisch und finanziell haltbare Ord- nung der Dinge zu gründen ^ vertraute man die Geschicke von Frankreich einem Manne wie diesem an, ohne sittliche Haltung, dessen vornehmstes Verdienst in einer gewandten Gefügigkeit bestand.

Mit Recht würden die verlacht werden, die noch heute von Verbrechen Ludwigs XVI reden wollten: moralisch ist das Andenken das er hinterlassen hat fleckenlos. Sollte man aber den Fehler bezeichnen, der ihm am verderblich- sten geworden ist, so liegt derselbe hier zu Tage. Eine der wichtigsten,^ freilich auch schwersten Obliegenheiten eines Fürsten, seine Gewalt zuverlässigen und fähigen Männern anzuvertrauen, wusste Ludwig XVI, im Gedränge der Intri- gue um ihn her, nicht zu verwalten.

Als Calonne seinen Eid leistete, was noch mit einer ge- wissen. Gerimonie vor der Cour des aides geschah, be- zeichnete er das Vorhaben, das so eben im Gange ge- wesen, die Generalpacht abzuschaffen, als das Werk einer strafbaren Unwissenheit. Er seinerseits War entschlossen, sich an die grossen Geldbesitzer anzuschliesseii , mit deren Hülfe er alle Schwierigkeiten zu beseitigen gedachte.

Eine kurz vorher versuchte Anleihe war nicht zu Stande gekommen. Calonne machte so vortheilhafte Bedingungen und wurde so gut unterstützt, dass er ohne Verzug 100 Mil»

M EHe Veriommlmg der framö$. Notabeb^ im J. 1787.

lioDfii zusamm^raehte, die zur Tilgung der Schulden der Marine bestimmt waren.

Hierauf schien ihm nichts unmöglich: er verwarf aus« drttcklich die mürrische Zurückhaltung seiner Vorgänger} er trug kein Bedenken, den Wünschen der hochgestellte- sten Personen, namentlich der Königin und der Prinzen, mit freigebiger Hand entgegenzukammen.

Wohl wahr, dass man dies sehr übertrieben hat: von den geheimen Ausgaben, die in dem rotben Buch erscheinen, lässt sich der Ruin der französischen Finanzen nicht' herlei- ten; aber unläugbar ist es auch, dass bei der misstiohen Lage derselben, welche Ersparnisse erheischte, Vergeudungen >eder Art sehr zur Unzeit geschahen, und nur beitrugen die aufgeregte öffentlich^ Meinung vollends zu erbittern.

Jener Ankauf von St. Cloud , hinler dem Bücken des Königs begonnen, von diesem ungern gut geheissen^ bei dem Parlamente nur mit Mühe durchgesetzt, so dass Galonne selibst seine Theilnahme daran zu verbergen suchte, kam der Königin, in der der Wunsch es zu besitzen wahrscheinlich' erst von Andern erregt worden, theuer zu stehn. Dinge solcheir Art und der vorausgesetzte östreichische Einüuss in diea sUiissern Angelegenbeilen entfremdeten ihr zuerst die Ge- müther. Sie hatte keine Ahnung davon. Von einem Einzug in Paris, wobei sie zum ersten Mal die Ehren einer gekrön^ ten Königin genpss, hatte sie sich Vergnügen und Ge- nugthuung versprochen: sie sah sijch aber schmerzlich ge~ täuscht; die unzählbare Menge empfieng sie schweigend, an den öfifentlichen Orten sprach man nicht vne sich geziemt von ihr.

Calpnne blieb aber nicht bei Begünstigungen des Hofes stehn: wir finden einen Bureaudief angegeben, dessen Bur raaukost^ner aus Gunst um mehr als das. zehnfache vergrösr sert haben sollte.

In der Verschwendung sah Galonne ein Mittel den Cre- dit zu behaiq)ten, worauf ihm alles ankam. Er rühmt sich, selbst, trot& dem dass der Credit dec ihm gesßtzmässig zur gestandenen Anleiben sich nur auf 300 Millionen belaufen, es

d^imocli damil möglich gemacht zu haben, mehr als eine Milliarde ausserordentlicher Ausgaben zu bestreiten.*) Unter andiern verschmähte er nicht, die Geldkräfte des Staates mit einem verderblichen Actienschwindel in Berührung zu hrtn* gen. Bald sab er sich in der Lage , in welcher sich der Vor- steher eines Handelshauses befindet, der den herannahenden 9aiik^rutt noch durch gewagte Combinationen zu verzögern sucht, obgleich er überzeugt ist dass dieser bei der näch- sten Gelegenheit nur um so verderblicher ausbrechen wird.

Was in Calonne das Bewusstseyn hervorbrachte, dass es so nicht weiter gehen könne, war zunächst ein persön- liches Missverhältniss.

Bei überhandnehmender Centralisation , wo dann die veirschiedenen Zweige der Gewalt in ihren Vorstehern reprä- sentirt sitid, kann es nicht anders seyn als dass die wioh- Ijgfilt^n Angelegenheiten zuweilen bein|be wie persönliche behandelt werden.

Schon immer hatte es in Frankreich als eine Maxime gegolten, darauf zu sehen dass zwischen dem jedesmaligen Generalcottrpleur und dem ersten Präsidenten des Paria* meftts ein gutes Verhältniss bestehe. Es lag am Tage, dass der erste nicht einen Schritt thun konnte ohne den letztern. Zwischen G^lonpe nun und dem damaligen ersten Präsidenten, d*Aligre , hatte eine Zeit lang ziemlich gutes Vernehmen ob- gewaltet; schon im December 1785 aber bei einer neuen Anleihe Calonnes zeigte sich der Präsident unbequem; im Jiahre 1786 br-aoh offene Feindschaft zwischen ihnen aus. Calonne liess den Präsidenten an eine Forderung von 50000 Frankep erinnern, welche der königliche Schatz an ihn habe:

*) Memoire fiir die Königin. J'etonnerai, mais je ne dirai que ce qui est prouv6 p^r les ötats reinis au roi, eo disaol qoe dans Taspace de troUi aonees j'ai trouv^ moyen de solder plus d'ua miiliiird 4^ dettei; et de ct«pepses e^traordinaires. II est Evident qua je n'ai pu y paryenir que par les ressources du credit; Celles qni ont et^ ostensibles, c'^st k dire l^s emprunts pgbUcs, n*ont produit que 300 millionQ: les autres ont £t^ beaucoup plus consi« d£rables.

12. Die Versammlung der firanzöa. Notabeh im J, i7S7.

er bemdrkte/ dass von einer lebenslänglichen Rente die der- selbe geno«s, das ,Ciäpital niemals gezahlt worden sey; . D'AIigre leitete diese Erinnerung nicht etwa von amtlicher Gewissen- haftigkeit her: er erblickte darin nur die Absicht ihn zu be- leidigen. Er war sehr jung zu dieser Stelle gekommen , hatte schon manchen Generalcontroleur abtreten sehen und meinte auch Calonne noch zu überdauern. Die Feinde eines jeden sammelten sich um den Andern; und um. so offener lo- derte der Hass zu beiden Seiten auf. Der Siegelbewahrer und Canzlerj Miroroesnil., ein guter alter Mann, suchte die Sache beizulegen und wandte sich an den PräsidenCen mit der Ermahnung , nicht dem Dienste des Königs zu schaden, indem er einen Minister des Königs bekämpfe*); allein er richtete damit nur wenig aus. Von dem Widerwillen des Präsidenten ergriffen, wollte <las Parlament nicht so lange warten, bis etwa (^lonne Anträge mache, die man dann verwerfen könne, sondern vielmehr einen Angriff gegen ihn richten. Der Gedanke war, sich die Rentencontracte vor- legen zu lassen, welche auf den Grund der letzten Anleihen seit Necker abgeschlossen worden waren, und diejenigen welche den Belauf derselben übersteigen würden, flir null und nichtig zu erklären; auch in dem Ministerium hatte Calonne Feinde, welche dies Vorhaben insgeheim unterstützten ; es bereitete sich ein Sturm gegen ihn vor, dem er hätte unterliegen müssen.

Unter diesen Umständen durfte Calonne nicht hoffen, dass man ihm eine neue Anleihe gewähren würde, zumal da er jetzt nicht mehr sagen konnte, dass er alte Kriegs-' schulden damit decken wolle: hätte er es in Antrag gebracht,

*) Schreiben von Miromesnil an Louis XVI, 5 Aug, U ne faut pas se dissimuler qu'il y a entre Hr. le premier pr^sident et Mr. 1e contr6leur g^nöral unjs division qu'il n*est gueres possible de se flatter de faire cesser. Cela seroit moins difficile du c6t6 de Mr* le contrdleur g6n6ral, outre que je le crois d'nn caractere' assez facile, qiioique tout vif, s4l croyoit que celui-ci serviroit son ministire. Von Aligre wurden 200,000 Livres gefordert. Er sagte, er habe geglaubt sie seyen langst bezahlt.

Die Versammlung der f^amös. Notabeln tm J: i787, 13

so hätte er damit selber das Zeichen zum Angriff gegen sieh gegeben. .

Aber dahin war es nun gekommen, dass er ohne eine solche Aushülfe die Finanzen nicht weiter verwalte» konnte« Er sah sich am Ende: alle seine Mittel waren erschöpft.

Es war nicht freier Wille, vorbereiteter Plan, sondern die bittere Nothwendigkeit und Bedrängniss des Augenblicks, was Calonne nöthigte, auf eine andere Auskunft zu denken.

Und da fksste er nun den Gedanken, sich den Ideen der Opposition anzunähern, und mit ihnen im Bunde eine durchgreifende Reform des Finanzwesens vorzunehmen.

Von alleü Ideen aber die in den letzten Jahren in Um> lauf gekommen, 'hatte ihm auf seinem Standpunct keine mehr eingeleuchtet, als diej däss der Fehler der Verfassung von I^rankreich in dem Mangel an Zusammenhang zwischen den verschiedenen Theilen desselbeoi liege; in den Uebei^ bleibseln der Selbständigkeit der Provinzen , so dass man der Monarchie noch allzusehr ansehe wie sie sich allmählig aus denselben zusammengesetzt habe"*); er stinoimte Denen bei, die in einer allgemeinen Uniformität das Heilmittel aller Uebelstände sahen an denen man leide. Dies grosse. Prin« zip, meinte er, müsse man auf alle Zweige anwenden und es werde überall einen rettenden Einfluss ausüben. Bei der Vertheilung der öffentUchen Lasten müsse man die bis» herige Ungleichheit verbannen: den Ackerbau, den Handel und das Gewerbe von den Fesseln los machen die noch drückender seyen als alle Abgaben: auch die königlichen Domänen müsse man demselben unterwerfen wenn man Vbrth0il' von ihnen haben wolle. Es liegt am Tage , dass die finanzielle Reform, so gefas$i, eine Reform des ganzen Staates in- sich schloss; aber Calonne erschrak nicht davor: er

*) Memoire für die Königin: La bigarrure, Tincohörence et le d6faut d'ensemble de toutes les parties est on vice radical de la Constitution. Le principe d'uniformite peut seul 6carter toiHes.les d^cuMs de detail et revivifier leoorps entier de la mo- narchie.

14 Die Versammhmg der fmn»ös. IfotaJMnim X i7S7.

meinte, die bemerkenswerthestö Epoche der Monarcht« werde damit anbrechen*).

Da erhob sich nur die vorläufige Frage, wie ein Hann, der keine Anleihe mehr durcfazubringen vermochte, sich zu- trauen konnte, eine so universale Umwandlung ins Weii zu richten. So stand es nicht, dass es dabei nur auf eine Reihe von Edicten angekommen wäre: die Parlamente, von denen sie registrirt werden mussten, wenn sie gesetzliche Kraft haben sollten, hätten sich dazu unter keiner Bedingung der Weit verstanden.

Galonne fühlte, dass er eines grossen Beistandes und einer solennen Form, in der ihm ein solcher geleistet würde, be- durfte , um den Parlamenten Rücksicht einzuflössen, von ihnen unabhängig zu werden, und den Widerstand zu brechen der sich von andern Seiten gegen ihn erheben musste.

Dazu jedoch was^sonst am nächsten lag, konnte er sich, wie sich denken lässt, nicht entschliessen, auf die Berufung allgemeiner Reichsstände anzutragen, einmal weil diese eine Autorität in Anspruch nahmen, welche der königlichen nach- theilig werden musste, sodann weil bei ihrer Zusatnmen- Setzung im alten Styl sich für Reformentwürfe wie er sie hegte, wahrhaftig keine Gunst erwarten Hess.

Nun aber hatte man in den letzten Zeiten der Valois und den ersten der Bourbons zuweilen noch andre Ver- sammlungen berufen, die so grosse Ansprüche nicht gemacht und der Regierung damals gute Dienste geleistet hatten. Als ihr Erfinder ist wohl Heinrich II anzusehen, der im Jahre 1558 statt der drei Stände nur einige Hif^lieder aus ihnen, die er selber ernannte, berief, und djesen königliche RUthe hinzufügte. Man nannte sie die Notabeln^ Zuweilen, wie unter Heinrich lY, hatten sie neue Auflagen gebilligt, wenn «gleich damals nicht gerade im Sinne SuUys; zuweilen, z. B. im Jahre 1617, sich mit grosser Entschiedenheit gegen die obwaltenden Missbräuche erklärt, als gegen den Verkauf

*) Gelte grande Operation va faire i'^oqtie k pli)8 mteeriMd de la monarchie, (ibid.)

Die Versammlunp der framös. Notabebt im J. 1787, 15

der Aemter, die Exemtionen von der Taille, und Mittel auf- geftinden um dem unmittelbaren Bedürfniss abzuhelfen.

Mirabeau versichert, er sey es gewesen, der die Auf- merksamkeit Calonnes zuerst auf eine Versammlung dieser Art gerichtet habe. Er stand damals mit dem Generalcon- troleur in einem Verhältniss das ihm selbst von seinen Freunden oit zum Vorwurf gemacht worden ist. Mirabeau behauptet mit grosser Bestimmtheit, von ihm stamme die Idee die Notabein zu berufen, er habe den ganzen Plan angegeben.

Sey dem wie ihm wolle, genug Calonne ergriff diesen Gedanken, und bildete ihn weiter aus.

Er hat ein Memoire verfasst worin er den Unterschied zvirischen allgemeinen Reichsständen und den Notabelu er- örtert.

' Die Reichsstände, heisst es darin, werden gewählt, und sind Repräsentanten der Nation: sie deliberiren über alles was ihnen beliebt; sie fordern, reiqonstriren und bewil- ligen; nur selten jedoch sind si^ nützlich gewesen; öfters haben sie Vorschläge gemacht, die man hat zurückweisen müssen, oder die Forderungen der Regierung sind an ihrem Widerstände gescheitert. Die Notabein dagegen, fährt er fort, werden ernannt; die Gegenstände der Berathung werden ihnen vorgelegt; sie sind die erleuchtetsten Männer des Reichs, denen der König seine Absichten mittheilt, um ihre Bemerkungen darüber zu vernehmen, ihren Rath, ehe er als Gesetzgeber auftritt*).

Man nimmt hier die Gründe wahr, aus denen er sich für die Notabein entschied. Die ganze Fülle der legislativen Gewalt war er entschlossen in den Händen der Krone zu behaupten; er wollte nur das Gewicht ihrer Beschlüsse durch die Beistimmung der namhaftesten Männer des Reiehes verstärken , und zweifelte nicht dass es ihm damit gelingen werde. Er spricht die Ueberzeugung aus, die Gerechtigkeit und Wohlthätigkeit der Absichten die er hege,

*) Observations sur la diffiSrence entre les assembl^es des >^tats g^n6raux et les assembl^es des notables du royaumc.

16 Die Versammhmg der franaös. Notabein im J. 1787,

die Verehrung für den König, ihr eigenes Interesse selbst, nicht umsonst berufen zu seyn, werde die Notabehi zur Bei- Stimmung vermögen. Da werde kein Parlament sagen können, der König sey durch Ueberraschung zu den Befehlen gebracht die er erlasse. .

Eine Schwierigkeit lag darin , dass die Parlamente in einer Versammlung dieser Art auch selbst und zwar ziem- lich stark repräsentirt seyn miissten. Galonne berechnete, wie sie zusammenzusetzen sey, um dennoch sowohl die Parlamente, als die mit ihnen verbündete Geistlichkeit in die Minderheit zu bringen. Das war der Grund, weshalb er sie zahlreicher haben wollte, als sie jemals bisher ge- wesen war. Er rechnete auf die Unterstützung nicht allein des dritten Standes, sondern auch des Adels*).

Diesen Plan legte nun Calönne im August 1786 König Ludwig Xyi vor.

Der König hörte denselben an, ohne ihn zu verwerfen, aber auch ohne ihn anzunelynen. Er erklärte, die Vorschläge seyen so umfassend lind wichtige dass er. Zeit brauche, um sie selber zu überlegen; er mü$se sie auch Männern mit- theilen, denen er jseiii Vertrauen schenke, und. sogar die ölfentliehe Meinung über einige der wichtigsten Puncte er- forschen. Er begriff voilkopmen die Wichtigkeit des Schrittes den er thub sollte.

Aber Galonne, der die Bedrängniss vorajussah, in wel- cher er sich, zu Ende des Jahres befinden würde, und di^ Unmöglichkeit, noch ein Jahr länger auf dem gewohnten Wege fortzugehn, ward von Tage zu . Tage dringender.' Er führte aus, dass man eine so beträchtliche Anleihe, wie man brauche; gar nicht in Vorschlag bringen könne: manwürde, um sie zu motiviren, endlich den wahren .Grund der Ver- legenheit gestehen müssen, der in dem Missverhäitniss zwischen Ausgäbe und Einnahme liege , in . dem Deficit der Einnahme, und dies reiche hin, allen Credit zu vernichten.

*) Id^es soumises ä la d^cision du roi sur la necessit^, l'^poque, la composition et la forme de l'assembl^e des notables.

Die Venammlung der fransiöe. Notabein im J. 1787. 17

Da sein Plan auf Naturalleistungen und zwar schon bei der nächsten Ernte ging, so gab er mit ängstlicher Berechnung an, in welchem Monat, wo möglich noch im November 1786, die Notabein zusammenkommen könnten, wie viel Wochen sie brauchen würden um die verschiedenen Serien seiner Entwürfe zu berathen, wie früh im künftigen Jahre sich dann die Vorbereitung der neuen Finanzunternehmungen beginnen lasse. Gewiss sey deren eine kleine Anzahl die in dieser Sache um Rath gefragt zu werden verdienten und denen zugleich das Geheimniss anvertraut werden könne; denn daran liege unendlich viel, dass das Vorhaben bis auf den letzten Augenblick geheim bleibe. Er dürfe ohne Schmeichelei sagen, der König habe in diesen Dingen mehr Tact als irgend ein anderer Mensch. Stimme der König nur erst im Allgemeinen bei, so könne der Entwurf besser ausgearbeitet und in allen seinen Theilen vervollkommnet werden. Er sey gern bereit, ihn den andern Ministern, be- sonders Vergennes, dem er ohnehin schon davon Kenntniss gegeben, und Miromesnil mitzutheilen*).

Calonne versäumte nicht, auch der Königin in einem Me- moire, das besonders leicht und lichtvoll ausgefallen ist, die dringende Nothwendigkeit seiner Auskunft und die Erwar- tung die sich daran knüpfe auseinanderzusetzen**].

Es dauerte jedoch bis gegen Ende des Jahres, ehe die Sache in ernstliche Berathung gezogen ward. Einige Mini- sterialconferenzen wurden darüber gehalten, doch finde ich die Klage, dass man da nicht besonders tief eingegangen sey; am27sten Dezember war ein Comit^ in Gegenwart des Königs des-

*) ObservatioDs sur l'6poque k fixer pour l'ex^cution du projet präsente au roi. Si je dois Stre responsable de l'^v^nement j'aimerois mieux avoir ä garantir les risques d'uoe prompte ex^cution que ceux du retardement.

**) Motifs qui n^cessitent l'ex^cution du plan adopt^ par le roi. Dennoch führt der oben genannte Autor die Verheimlichung des Planes als einen Grund an , weshalb die Königin gegen Calonne gezürnt habe. In der französischen Geschichte liebt man aus Persönlichkeiten herzuleiten; wie oft ohne alle Bewährung!

Allg. Zeitschrift f. ««sehielito. T. 184«. %

IB Die Versammlung der framös. Notabein im J. 1787.

halb beisammen. Der König erschrak als unter den Vorschlägen Calonnes von einer Maassregel die Rede war die das Eigenthum der geistlichen Güter in Frage stellte; er sagte, er denke nicht ein System anzunehmen das. eine andre wiewohl achtungswerlhe Macht ohne Zweifel Oestreich , wo Joseph damals im vollen Zuge seiner kirchlichen Neuerungen begriffen war befolge. Miromesnil brachte seine Einwendungen Tags darauf in einem Briefe nach: er erinnerte an die Schwierigkeiten auf die man mit einer Veränderung der Grundsteuer in den verschiedenen Provinzen, mit denen besondere Abkommen geschlossen seyen,. stossen werde: an die Nothwendigkeit, über einen oder den andern Punct die Meinung der Rechtsgelehrten zu vernehmen, und was dem mehr ist; doch erhob er keinen ernstlichen Widerspruch: er bittet am Schluss seines Schreibens schon im voraus um die HÜlfsarbeiter, deren er, der Grosssiegelbewahrer bei der Abfassung dieser Gesetze bedürfen werde*). Am 29sten Dezember erklärte sich der König in dem vereinigten Con- seil der Depechen und der Finanzen dafür: und auf der Stelle ergingen die Berufungen an die schön im Voraus aus- ersehenen Notabein des Königreiches.

So drang Calonne mit seinem Entwürfe durch. Die Verlegenheiten, in die er geführt, bahnten seinem Plane den Weg. Der König ergriff ihn, wie ihn der Minister ergriffen, nicht nach reiflicher üeberlegung, nicht nachdem er sich auch nur überzeugt hatte dass die Sache recht ausführbar sey, obwohl die mancherlei wohlthätigen Absichten die dabei vorkamen, seinen Beifall erwarben, sondern weil man mit dem bisherigen Verfahren nun einmal am Ende war, ein neues versucht werden musste und Niemand etwas Anderes und Besseres vorschlug.

Noch im Januar 1787 trafen die Berufenen ein: an ZM hundert vier und vierzig. Es waren die Prinzen von Geblüt, die ^änzendsten Namen aus den Reihen des Adels; die Prä- sidenten und angesehensten Räthe der Parlamente; Bischöfe,

*> Lettre au roi 28 D^c.

Die Versammlung der fran%ö8. Notabein im J. i787. 19

jedoch nicht sehr zahlreich; die Maires der vornehmsten Städte. Die Regierung hatte Sorge getragen, Niemand einzu- laden der ihr als feindselig bekannt war, aber man dürfte ihre Wahl darum nicht schlecht nennen. Wir haben darüber das unverdächtigste Zeugniss das es geben kann. Lafayette sagt in einem seiner Briefe nach Amerika, die Auswahl habe

«

wirklich die durch Moralität, Talent und persönliches An- sehen geeignetsten Männer getroffen.

Der Tod des Grafen von Vergennes, der am 9ten Februar eintrat, verzögerte den Anfang der Verhandlungen um einige Wochen. Man empfand diesen Verlust, da Vergennes noch immer unter den damaligen Ministern den begründetsten Credit genossen hatte. Auch sonst waren die Auspicien nicht sehr erfreulich. Einige Bankrutte brachen aus, eben voo hochgestellten und bei der Verwaltung betheiligten Männern.

Am 22sten Februar 1787 ward die Versammlung eröffnet: zu Versailles, in dem Hotel des menus plaisirs, das hiezu zuerst in Stand gesetzt worden so wie die Strasse die dahin führte. Gleich als müsse alles neu seyn in dieser Sache*).

In seiner Thronrede kündigte der König an, er werde der Versammlung eine Reihe von Entwürfen mittheilen lassen, die er zu Verbesserung des Einkommens, gleichmässigerer Vertheilung der Abgaben, Hebung des Handels, Erleichterung

*) In der Introduction de Tancien moniteur findet sich ein „Extrait du proc6s verbal de I'assembl^e des notables 'S der mit dem Original des Verbalprocesses der allgemeinen Versammlungen, welches in den Ärcbives du royaume, von den beiden Secre- tären Hennin und Dupont unterzeichnet, aufbewahrt wird, meistens übereinstimmt; nur dass man, weil es eben ein Auszug seyn sollte, Manches weggelassen hat was sehr wesentlich ist. Zu eigentlichen Beratbungen kam es aber in den allgemeinen Versammlungen über- haupt nicht, sondern erst in den Bureaus, die darüber ihre be- sondere ProtocoUe hielten. Auch diese finden sich noch hand- schriftlich vor: das erste unter dem Titel: Procös verbal du bu- reau pröside par Monsieur, contenant les observations qui y ont €i^ faites sur les diff^reos m^moires comrauniqu6s aux notables par ordre du roi; ahnlich die übrigen; sie sind hier unsere vor- nehmste Quelle,

20 Die Versammlung der französ. Notabeln im /. 1787.

seiner Unterthanen gefasst habe: nach reifer Ueberlegung habe er sich für dieselben entschieden; aber Über ihre Aus* führung wolle er erst den Rath der nahmhaftesten Männer seines Reiches aus den verschiedenen Ständen hören, und dann die Bemerkungen prüfen die sie machen würden. Er sey überzeugt, keiner von ihnen werde sein besonderes Interesse dem allgemeinen Besten vorziehen.

Man sieht, sehr sorgfältig sucht er die Befugniss der Versammlung auf die Berathung allein und zwar nicht ein- mal über die Entwürfe selbst, sondern nur über ihre Aus- führung zu beschränken. Denselben Standpunct hielt auch der Siegelbewahrer fest. Dann erhob sich Galonne, den Zusammenhang der königlichen Entwürfe etwas näher zu erläutern.

Die Rede ist unzählige Mal ausgezogen. Ihre Summe ist, dass Galonne erklärt, ein Deficit sey vorhanden und zwar ein sehr beträchtliches; das einzige Mittel, dasselbe zu decken, liege in der Abstellung der Missbräuche und der Durchführung des Principes der Uniformität, welches dem Reiche ein neues Leben geben werde.

Er Hess den Abgrund erblicken, an den man in der bisherigen Verwaltung gerathen war, und eröffnete dann in den Veränderungen die er vorschlug die grössten und glänzendsten Aussichten.

Den folgenden Tag, in einer fernem allgemeinen Ver- sammlung, die jedoch ohne den Apparat gehalten ward welchen die königliche Gegenwart erforderte , legte Galonne die erste Reihe der angekündigten Entwürfe vor: es waren ihrer sechs, sämmtlich auf die Agricuiturverhält- nisse bezüglich: und er verfehlte nicht, das geschriebene Wort durch mündliche Erläuterungen zu verdeutlichen. Hierauf trat die Versammlung in ihre Abtheilungen aus- einander. Man hatte sie in sieben Bureaus vertheilt, deren jedes von einem Prinzen präsidirt wurde, die beiden ersten von den beiden Brüdern des Königs Monsieur und Graf Artois, die fünf übrigen von dem Herzog von Orleans,

Die Versammlung der framön. Noiabeln im J. 1787. 21

dem Prinzen von Condö, dem Herzog von Bourbon, dem Prinzen von Conti, dem Herzog von Pentfai^vre. In jedem Sassen Mitglieder der verschiedenen Stände: ihre Berathungen waren unabhängig von einander. Die Prinzen bezeichneten Zeit und Ort wo sich ihre Bureaus bei einem jeden verei- nigen sollten.

Vergegenwärtigen wir uns nun zunächst die Entwürfe Galonnes, mit deren Berathung sich die Debatte eröff- nete, die seitdem dort über ein halbes Jahrhundert die Geister beschäftigt hat: sie waren von dem umfassendsten Inhalt.

Der erste betraf die Einrichtung von Provincialversamm- iungen.

Um der Willkühr der Intendanten ein Ziel zu setzen und den Interessen der Provinzen eine gewisse Repräsen- tation zu geben, hatte man schon lange darauf gedacht, und war auch hie und da, namentlich in Berry und Ober- guienne, dazu geschritten. Die Regierung hatte jedes Mal die vornehmsten Mitglieder ernannt, die dann durch Gooptation ihren Kreis erweiterten; sie schienen Vertrauen zu gewinnen und Wurzel zu schlagen.

Galonne wollte nun überall Provincialversammlungen ein- führen wo es keine alten Stände mehr gebe.

Er schien nicht allein vollkommen zu billigen, dass der Staatsgewalt in den Provinzen ein wirksames Gegengewicht gegeben werde^ sondern sogar einen grossen Schritt weiter thun zu wollen als seine Vorgänger. Er verzichtete auf die erste Ernennung, auf die er doch als Minister den grössten Einfluss ausgeübt haben würde; er bewilhgte, dass die Pro- vincialversammlungen durch Wahl zu Stande gebracht wer- den sollten.

Sein Vorschlag ging dahin, die Pfarren und Ge- meinden zur Grundlage zu machen: aus ihren Deputirten sollte sich die Districtversammlung zusammensetzen, Welche wie jene einige eigenthümliche kleine Gerechtsame auszu- üben, hauptsächlich aber wieder j^de einen Deputirten zu

2t Die VersamnUmg der framös. Notabein im J, 1787.

wählen hatte, die dann die Provincialversammlung ausmachen

würden*).

Indessen war seine Meinung niobJt, allen und jeden Eigenthümern Theilnahme daran zu verleihen: vielmehr nur solche sollten Sitz und Stimme haben, welche wenigstens 600 Livres Einkünfte hätten; nur solche aber sollten zur Provincialassemblöe gewählt werden können, welche 1000 Livres Revenuen von liegenden Gründen besässen.

Calonne ging sehr systematisch zu Werke. Es schien ihm hauptsächlich auf eine Repräsentation des Eigenthums anzukommen, wenn er festsetzte, es könne wohl ein grösserer Eigenthümer zwei Drittel der Stimmen in einer Pfarre in sich vereinigen; in den Provincialversammlungen sollte der Rang der Districte nach der Summe der von ihnen bezahlten Gontribution bestimmt werden.

Und diese Provincialversammlungen sollten nun die üm- legung der vom König festgesetzten Abgaben, die hiezu nöthige Classification des Landes^ die Leitung der öffent- lichen Bauten, der Wege und Canäle, der Anstalten der Wotüthätigkeit haben. Sie sollten alle Jahre einmal berufen, in der Zwischenzeit aber durch einen Ausschuss von sechs Mitgliedern vertreten werden. Beiden sollte das Recht zu- stehn, dem König Vorschläge zu machen. Nur würde der President der Versammlung nicht etwa auch der des Aus-

*) Les assemblees paroissiales s'occuperont des charges locales, des travaux publics qui peuvent ^tre utiles ä la paroisse, et des moyens de soulager les pauvres de la communaut^.

Les assemblees des villes seront composees des officiers mu- nicipaux et notables convoques suivant les formes qui y sont usitees;elles enverront, ainsi que les assemblees paroissiales, chacune un depute Charge de leurs Instructions a i'assemblöe du district dont elles feront partie; sauf que les villes ayant plus de 12 m. babitans pourront en envoyer deux.

Les districts comprendront au moins 25 et au plus 30 pa-

oisses de campagoe, outre les villes qui se trouveront dans le

m^me arrondissement. L'ordre des seances dans les assemblees

da district se röglera en raison de la force contributive de chaque

communaute que les depules representeront.

me Versmnmhmg der framnös. NoHAeh im J. iJST. SS

Schusses seyn, keiner von beiden länger als drei Jahr ftingiren dürfen. Keine Ausgabe sollte gemacht werden, ohne Beistini- mung der königlichen Intendanten.

Ich weiss nicht, ob es Eifersucht der revolutionären Gen- sur oder was sonst es war, weshalb man in dem gedruckten Memoire die wichtigsten Stellen welche erst den Gredanken Ca- lonnes enthalten,, weggelassen und eine ganz, fragmentarisohe Mittheilung davon gegeben hat, aus der Niemand seinen Sinn entnehmen könnte.

So sehr aber auch der Plan in seiner Form an Ideen der Revolution erinnert, so ist er doch von der letzten Tendenz derselben noch weit entfernt. Galonne dachte nicht an eiae Repräsentation der Kopfzahl, sondern nur an eine Reprä«- sentation der Quoten des Bigenthums. Hauptsächlich aber wollte er nun nicht etwa Abgeordneten der Provincialver^ Sammlungen Einfluss auf die Regierung gestatten, vielmehr der königlichen Macht die alte Unabhängigkeit vorbehalten. Nur die Provincialinteressen selbst würden von den Provin- cialversammlungen erwogen worden seyn.

Das nächste und grösste von allen wäre die neue An- ordnung und Yertheilung der Grundsteuer gewesen, «die Galonne in seinem zweiten Memoire in Vorschlag brachte.

Er beklagte darin dass die Grundsteuer in den ver- sohiedenen Provinzen Überaus ungleich sey, wie man denn niemals habe ^u dem Kataster gelangen können ; dass ganze Glassen, auf alte Privilegien oder neue Abonnemeats fussend, sich mehr oder minder eximiren; dass die Art der Erhebung den Ertrag aufzehre. Wenn nun an sich noth- wendig seyn würde hierin eine durchgreifende Aenderung vorzunehmen, wie viel mehr sey das der Fall, da darin zugleicb die letzte Hülfsquelle in grosser finanzieller Qe- <kängniss liege. Der vornehmste Gedanke Gabnnes war nun die Erhebung der Grundsteuer in Natur. Eine solche,' sagte er, sey für den Producenten die leichteste: weil sie im Augenblick der Ernte gefordert werde und im Ganzen nicht mehr als einen halben Zehnten betragen dürfe; sie sey aber auch für den Staat die vortheilhaf teste, wie man in

24 Die Versammhmg der fi^amös, Notabeh im J. 1787.

Corsika und einigen proven^alischen Gommunen, die sie in Ausübung gebracht haben, bemerke. Um aber etwas zu nützen, müsse sie allgemein seyn: das eximirte Land, vor allem auch die geistlichen Güter umfassen. Man könne den gesammten Grund und Boden in vier Classen eintheilen: von dem besten etwa den 20sten, von dem schlechtesten den 40sten Theil des Ertrages erheben; worüber die Provincial- stände zu entscheiden haben würden; so werde man von selbst zu einem guten Kataster gelangen und die Kräfte des Reiches erst kennen lernen. Alle Jahre im Mai müsse das Product in den gewöhnlichen Formen, nicht ohne Caution, an den Meistbietenden verkauft und dieser dann in den bestimmten Terminen zur Zahlung angehalten werden.

Auch' hier ist das Original um vieles ausführlicher als was die Einleitung zum Moniteur und andre Sammlungen mitgetheilt haben. Die Ueberzeugung von der Untrüglicbkeit der physiokratischen Doctrin , die diese Entwürfe beherrscht, „weil darin Vernunft, Gerechtigkeit und das nationale Inte« resse sich begegnen'^ ^^^ ^^^ ^^^ unermesslichen Vortheilen die sich weiter daran knüpfen würden, tritt in dem ersten wo möglich noch stärker hervor*).

Von den folgenden Entwürfen, wiewohl sie alle sehr wichtige Gegenstände betreffen, die Aufhebung der TaiUe und der Wegefrohnde, den freien Getreidehandel, ist doch der dritte der merkwürdigste, welcher die Angelegenheiten der Geistlichkeit berührt.

*) Z. B. la Subvention en nature, douce, facilc, exempte de tout abus pour le propriötaire, est par cela m^me plus avanta- geuse au souverain. Und dann weiter über einige damit zu ver- bindende Einrichtungen. La röduetion d'un dixi^me de la taille, un vingti^me affectö sur ce ra^me imp6t au soulagement des pauvres, la suppression absolue de la taille d'industrie, la sup- pression de la capitation en faveur du clerge, de la noblesse et des cours souveraines du royaume, plusieurs sacrifices qui affran- chiront le commerce et la circulation des g^nes on^reuses et nui- sibles k ses progr^, voilä les fruits d'un regime nouveau quo S. M. veut ^lablir daos ses provioces.

Die Versammlung der fran»ö$. Notäbeln im J. i787. 25

Calonne wiederholt darin seine Forderung, dass die Geistlichkeit der neuen Grundsteuer ebenfalls unterworfen seyn solle: in der Gleichförmigkeit liege die Garantie der Gerechtigkeit; aliein die Geistlichkeit habe bisher, zum Behuf ihrer Dons gratuits, Schulden gemacht: um sie davon zu befreien, willige der König ein, dass sie ihre Rechte und Renten zum Theil veräussere. Die mit Grundrenten für den Glerus Behafteten sollten dieselben für einen sofort zu be- stimmenden Preis ablösen können*).

Es bedarf keines grossen Scharfsinnes um wahrzuneh- men, dass dies einen Hauptpunct seines ganzen Planes bildet

Ich will nicht etwa läugnen, dass ihm auch an der Erleich- terung des Volkes und an der Durchfuhrung der Reform- pläne von denen er so ganz erfüllt zu seyn schien , gelegen war: aber diese Dinge verschafften ihm nicht das Geld das er brauchte. Um dies zu erlangen, bedurfte er neuer Hülfs- quellen: die wichtigste von allen war die Herbeiziehung des Glerus zu den allgetheinen Lasten ohne irgend eine fernere Exemtion.

Ohnehin stand seinem Prineip der Uniformität, auf das er ein neues Frankreich zu gründen gedachte, nichts so schroff entgegen als der Glerus in seiner corporativen Hal- tung, mit seinem unermesslichen Landbesitz und dessen abgesonderter Verwaltung, mit dem Recht einer freien Be- willigung seines Beitrags zu den Staatslasten.

Wenn Galonne, wie wir sahen, die kaum eingerichtete Verfassung der Provincialversammlungen wieder verändern wollte, so lag der Grund davon darin, dass wo sie zu Stande gekommen waren , die Geistlichen in denselben einen überwiegenden Einfluss erlangt hatten.'^''^)

*) Toutes rentes fonci^res, soit en argent soit en grains, ou autres denr6es dues aux ögiises, chapitres, aumöneries etc. pourront Stre racbetees per las d^biteurs, ii rexception des cens, renies seigneuriales et autres redevances feudales servantes k desigoer la seigneurie directe.

**) In einer seiner Eingaben über die scbon eingericbteiea Provincialadministrationen heisst es: On a donnö trop de perma*

26 Die Vermmmimg der französ. Noiabeln im /. 1787.

Sehr mit Absicht haue er dem Clerus in der Versamm- lung der Notabein eine verhältnissmässig nur geringe Re- präsentation gegeben.

Die nächste Einwendung gegen sein Vorhaben, die geist- lichen Güter allen andern gleich zu machen, entsprang ihm aber aus der Schuldenlast welche die Geistlichkeit nach und nach zum Behuf jener ihrer Bewilligungen aufgehäuft, und fUr die ihre Güter in ihrem von der Exemtion bedingten Werth zur Hypothek dienten. Es war nicht anders: in seinen Schulden sah der Clerus eine Gewähr seines Bestehens. Der Vorschlag Calonnes zielte dahin, ihm fürs Erste diesen Rückhalt zu entreissen.

Er rechnete auf die öffentliche Stimmung, die königliche Autorität und die Ueberlegenheit seines Geistes.

Sein Unternehmen gehört in so fern zu den Reactio- nen gegen das frühere Uebergewicht der geistlichen Elemente, welche das achtzehnte Jahrhundert erfüllten und ihm sei- nen Character gaben. Keine theoretisclie Umhüllung konnte die Tendenz seiner Entwürfe verbergen.

Wenn wir recht unterrichtet sind, hätte der Clerus lie- ber gesehen und eher geduldet dass z. B. Klostergüter, so viel man wollte, eingezogen worden wären: das hätte seiner politi- schen SteUung nichts geschadet. Calonne aber griff seine Selb- ständigkeit als Staatskörper an: das war ihm unerträglich.

Es versteht sich, dass der Clerus alle seine Kräfte da- gegen anstrengte. Die Parlamente hatte er ohnehin auf seiner Seite, und wenn wirklich der Adel jemals für Calonne gewe- sen ist, wie dieser sich schmeichelte, so fragte sich sehr, ob er es nun, nachdem dessen Entwürfe erschienen waren, noch bleiben würde.

Denn auch an und für sich gaben diese Raum genug zu gegründeten Ausstellungen.

Was vor allem die Provincialversammlungen betrifft,

nence aux membres de Tassembl^e: on leur a laissö trop de pr6- texte pour s'arroger une autoritö executrice, on a surtout attribuö une trop grande influence au clergö sar toutes les Operations de ces assembMes.

ie Versamrnbmg der framöi, NoUMn im J. 1787. 27

über die zuerst berathen wurde, so kam der Minister zwar mit der aUgemeinen EiDfUhrung derselben einem un- läugbaren Bedürfhiss und oft ausgesprochenen Wunsche ent* gegen. Das erste Bureau erklärte, es könne dem König nicht genug danken, dass er auf diese Weise die Steuerpflichtigen zum Antheil an einer Administration berufen wolle, die fttr sie so wichtig sey: sie wünschten nur, diesen Antheil noch bestimmter festgesetzt zu sehen als es in dem Entwürfe geschehen war. Wenn man nun aber weiter auf die nähe- ren Bestimmungen einging, unter denen Calonne die Wah- len vollzogen wisäen wollte, so erhob sich der lebhafteste Widerspruch. Dass in den Versammlungen der Gemeinen der älteste Eigenthümer, wie Calonne vorgeschlagen, dem Edel- mann oder dem Geistlichen vorangehen, oder dass in den Districtsversammlungen die reichere Commune den Vortritt haben sollte, wollte Niemand billigen: nicht allein dem Adel und dem Clerus, sondern auch der angeseheneren Classe des dritten Standes werde es widerwärtig seyn. Calonne hatte den Grundgedanken seiner Vorschläge von Turgot entnom- men: niemals aber war dieser so weit gegangen. Turgot wollte nur die Trennudg der verschiedenen Stände in den Versammlungen vermeiden , ihre Gegensätze daraus verban- nen: sie sollten da sämmtlich als Eigenthümer erscheinen. Allein er sah voraus, dass der vornehmste Einfluss doch den höheren Ständen zufallen müsse, eben weil diese die meisten Güter hatten; und er, selber ein alter Edelmann, hatte nichts dawider: in seinem Project ist von einer Erhal- tung der Ehrenvorrechte des Adels ausdrücklich die Rede. Ich finde sogar, dass Calonne in den ersten Aufzeichnungen seiner £ntwüi*fe denselben Ideen gefolgt war. Er hatte da Vorkehrungen getroffen, damit der dritte Stand, zu dem er auch die Städte herbeizog, nicht etwa Adel und Geistlich- keit unterdrücke. Aber bei der schliesslichen Bearbeitung war dies weggefallen.*). Das rausste dann zur Folge ha-

*) Bemerkungen im ersten Bureau. On a jug6 qu'il etoit plus convenablo que les deux premiers ordres de Tötat conservassent

28 Die Ver$atnmlung der französ, Notabein imJ. $787.

ben dass die ganze Antipathie auch des Adels gegen Ca- lonne erweckt wurde: er machte gemeinschaftliche Sache mit dem Clerus, gegen den er hatte dienen sollen. Was man auch über die Nothwendigkeit einer Reform und den Werth der vorgeschlagenen Maassregeln an sich urtheilen mag, so war das nicht der Weg damit durchzudringen. Sich in finanzielle Verlegenheiten stürzen, die Reform im Augen- blicke der Noth ergreifen, da man sie allein nicht durch- zuführen vermag, eine Versammlung berufen , auf deren Bei- stimmung alles ankäme, und dann doch die Vorschläge so ein- richten dass sie zugleich das Interesse verletzen und die Eigen- liebe beleidigen: wer hat auf diese Weise jemals etwas er- reicht! Bei der Berathung über den zweiten Entwurf brach die volle Opposition hervor.

Jene Perception in Natur hielt man allgemein für un- ausführbar an sich, und gefahrlich auch in administrativer Hinsicht: womit nichts weiter beabsichtigt werde, als dem Finanzminister sobald als möglich eine grosse Hypothek zu verschaffen, um neue Anleihen darauf zu gründen, möge dann ferner daraus folgen was auch wolle. Die Stimmung war dafür so ungünstig, dass Galonne bereits im Februar mit der nachträglichen Erklärung erschien, es liege dem Kö- nig nichts daran, ob man diese Form annehme oder ihm eine bessere angeben wolle: nur daran halte der König fest, dass die Grundsteuer allgemein sey und sich in ihrem Belaufe nach dem Maasse der jedesmaligen Production richte;

leur rang dans toutes les assembl^es que c'^toit plutöt la na- ture de l'intör^t que sa quotit^, qui devroit r6gler le nombre des suf- frages: 11 a ^t^ observ6, qu'il ^loit indispensable qu'll y eüt toujours au moins un tiers de lanoblesse et d'eccl^siastiques dans les assembl6es provinciales de district et du boreau, que toute autre forme seroil contraire aux principes d'une monarchfe dans la quelle les ötats ne doivent jamais ^Ire confondus. Noch ent- schiedener das zweite: On considere la nation comme compos^e seulement de deux ordres, dont le Ir est la noblesse, qui com- prend le cierg^, et le second est le peuple, et l'on demande que la pr^sidence soit exclusivement röserv^e k Tordre sup^rieur ei indistinctement applicable k Tun et i l'autre.

Die Versammlung der franaös. Notabein im /• 1787. 29

nicht über den Grundsatz, sondern nur Über die Art und Weise ihn durchzuführen, begehre er den Rath der Notabein.*) Die Versammlung fühlte sich durch diese Beschränkung in ihrer Würde gekränkt, und der älteste Bruder des Königs be- gab sich zu diesem, um ihm VorstelluDgen deshalb zu machen*, Ludwig XVI gab nach, dass man nicht allein über die Form, sondern auch über den Grund der Sache debattire. Dahatte sich nun aber weiter die Meinung gebildet, dass es gegen alle Principien laufe , eine Auflage einzurichten, deren Ertrag man so wenig übersehen könne: man müsse erst überhaupt wissen, was denn wirklich gebraucht werde, wie hoch das Deficit sey, das man decken solle, und wie es sich gebildet habe. Am 2ten März ward eine allgemeine Sitzung bei Monsieur gehalten, an welcher die Prinzen und von jedem Bureau fünf Mitglieder Antheil nahmen, bei der auch Galonne zugegen war. Es war für diesen schon von schlechter Vorbedeutung dass sie mit jener Erklärung des Königs eröfifoet wurde, die einen grossen Rückschritt gegen die früher ausgesprochenen Ansichten enthielt. Als man dann daran ging den Entwurf über die Territorialabgabe nochmals zu lesen, erhoben sich Unterbrechungen, Anfragen, Einwendungen in Menge: über die Unausführbarkeit einer Perception in Natur; über die Gründe welche die Regierung haben könne, Auflagen unbe- stimmten Ertrages einzuführen ; die Schwierigkeiten ei- ner Classification des Bodens, und die Erfordernisse eines Catasters; die Entstehung und den Betrag des Deficit. Es war eine sehr stürmische Sitzung von fUnflehalb Stunden, welche eigentlich über Galonne entschieden hat.

Die verschiedenen Bureaus gaben in den nächsten Tagen ihreMeinung einstimmig dahin ab, dass die Territorialauflage auf die vorgeschlagene Weise, möge man sie in Natur oder in Geld einziehen wollen, nicht statt finden könne: es lasse sich so- gar über eine solche nicht weiter deliberiren, wofern nicht

*) Er fügt hinzu: qu'elle doit 6tre röelle, non abonnöe, pour qu'etle puisse servir de catastre natural. Ce n'est pas sur ces bases , c'est sur les moyens d'y satlsfaire quo S. M. consulle les notables du royaume.

30 Die Versammlung der fran%Ö8. Notabein im J. 1787.

zuvor die geforderten Erläuterungen mitgetheilt würden. Die Entwürfe über Taille und Frohnde nahmen sie an , doch sollte die nähere Bestimmung den Pro vinciaiassembleen , die auf eine andre als die Weise Gaionnes einzurichten seyen, anheimgesteilt werden. Den Anordnungen derselben sollten auch die geistlichen Güter unterworfen seyn, aber die Versammlungen des Glerus und dessen Reclamationen zu Gunsten seiner bisherigen Formen und gegen die Verletzung seines Eigenthums wurden ausdrücklich vorbehalten.*)

Man sieht: einzelnen Annäherungen zum Trotz war ihr Sinn im Ganzen dem des Ministers geradezu entgegenge- setzt; Da aber ihre Worte doch nicht offenbar feindselig lau- teten, so hielt sich auch Galonne noch nicht für geschlagen^ Am 12ten März trug er eine zweite Serie seiner Entwürfe vor, ebenfalls von dem bedeutendsten Inhalt, wie denn gleich das erste Memoire die Verlegung aller Zölle an die Grenzen des Reiches und einen gleichförmigen Tarif in Vor- schlag brachte, ein anderes die Umgestaltung der bisherigen

*) R6sum6 de ce qui s'est passö le vendredi 9 mars dans les differeuts bureaux:

1. Assembl^es provinciales : Bonnes en elles-m^mes, mais inad- missibles dans la forme propos6e.

2. Imposition territoriale: inex6cutable par une perception en nature et argent: ne peut y 6ire d^liberöe qu'apr^s la remise de toules les Communications demandees.

3. Deltes du clerg^. Les biens du clerg^ soumis ä une Opera- tion des assembl^es provinciales, ainsi que les biens de tous les citoyens. Liberty lors de la prochaine assembl^e da clerg6 de r^clamer pour la conservation de ses formes et contre la violation de la proprietö qu'entraineroit une vente forc^e de ses biens.

4. Commerce des grains. Le memoire fourni k l'assemblee a ^t6 accueilli dans toute son etendue.

5. La taille. Supplier le roi de donner une loi qui garanlira ses peuples de Tinjustice et de Parbitraire d'apr^s les observa- tions qui seront faites dans les assemblees provincielles.

6. La corv^e. Le principe de la supposition et la conversion en argent adopt^ , mais les details vus jusqu'ä präsent estimös incomplets.

Die Versammlmtg der frOMöM. NotabOn im J. 1787. 31

so Überaus beschwerlichen. Salzsteuer; -^ in der Rede, mit der er sie einleitete, drückte er sich so aus, als seyen dke bisherigen Einwendungen der Notabein mehr auf die Form als auf das Wesen der ihnen gemachten Propositionen ge- gangen. Wahrscheinlich sagte er das in versöhnender Absicht: er wünschte fürs Erste, den offenen Hader zu ver- meiden.

Allein die Notabein waren trotziger und auch wahrhafter als die Minister: schon fühlten sie ihr Ueberge wicht; die Bu- reaus erklärten eines nach dem andern, dass ihr Widerspruch dem Wesentlichen seiner Vorschläge gelte, und bewirkten, dass die Reclamationen dem Protoeoll der aligemeinen Sit- zungen hinzugefügt werden mussten.

Hierauf war nun an kein weiteres Verständniss zwischen Calonne und der Versammlung zu denken.

Calonne stand in diesem Augenblick, seitdem er aner«* kannte Missbräuche ernstlich bekämpfen zu wollen schien, ziemlich hoch in der Meinung des Königs: er beschloss aber noch eine andre Macht für sich aufzurufen, in einer Bro- chüre, die man ihm selbst oder doch seinem Einfluss zu- schrieb, ward die Geistlichkeit als eine Scfamarotzerpfianze geschildert, welche die guten Gewächse verdränge und nur im allgemeinen Unglück gedeihe. Die Notabein hatten einander das Wort gegeben, ihreBerathuugen geheim zu halten, um nicht etwa, sagen sie, Einwirkungen des doch nicht hinreichend unterrichteten Publicums Statt zu geben. Recht im Gegen- satz hiemit machte der Minister nicht allein die beiden er- sten Serien seiner Entwürfe durch den Druck bekannt, son- dern in dem Vorwort dazu gab er zu verstehn, er seiner- seits beabsichtige damit nichts als die Erleichterung des Volkes, aber eben dies sey der Grund dass er bei den pri- vilegirten Ständen damit nicht durchdringe. Ludwig XVI, dem es an aller Voraussicht fehlte, hatte diese Bemerkung gelesen und in den klüglich gewählten Worten nichts Anstössi- ges noch Verletzendes gefunden. Um so heftiger war der Sturm der in der Versammlung darüber ausbrach. Man * fand es ungeziemend, dass der Minister Entwürfe bekannt mache, über

82 Die VttBommtmg der framös. Notäbgln iffi J. 1787.

die noch nicht entschieden sey; jene seine Andeutung aber sey ganz verwerflich; sie laufe der Wahrheit entgegen, störe die Eintracht zwischen den verschiedenen Glassen, und ent- halte eine Berufung an das Volk, welche die gefährlichsten Folgen haben könne.*) Man gab ihm Schuld er gefährde die Verfassung und das Königthum.

Ein Zwiespalt, mit dem der Staat nicht länger verwaltet werden konnte. Der König musste entweder Galonne ent- lassen, oder die Versammlung auflösen. Einen Augen- blick soll er doch darüber geschwankt haben. Galonne for- derte wenigstens eine Anzahl Lettres de cachet, um sich der vornehmsten Gegner, von denen er auch einige unter seinen ministeriellen Collegen sah, zu entledigen. Schon hielt der alte Miromesnil für seine Pflicht den König vor einem Manne zu warnen der ihn gegen Geistlichkeit und Adel, Magistrate und Minister einzunehmen suche.**) Indess wa- ren Partei und Intrigue im Schloss erwacht; die Freunde derer, die zur Leitung der Finanzen emporstrebten, obgleich unter einander nichts weniger als einig, arbeiteten fürs Er- ste alle zusammen gegen Galonne; auch seine persönliche Integrität ward jetzt in Zweifel gezogen; die Königin, die als seine Beschützerin gegolten, wollte doch den Hass nicht theilen den er auf sich lud, und Hess ihn fallen; man ver- sichert, nachdem Ludwig XVI den Minister noch des Tages zuvor seines Schutzes versichert, habe sie denselben aus

*) Beschluss des zweiten Bureaus: Le bareau consid^rant quo Sans s'arr^ter aux inductions qu^on pourroit tirer de cet avertisse- ment contre las notables, aux quelles ils se sentent trop sup^rieurs pour 8*en plaindre, le dit avertissement est une serte d'appel au peuple capable d'induire ce peuple en erreur, contraire aux sai- nes maximes du gouvernement, ä ['ordre et k i'union qu'on doit cfaercher ä faire r^gner entre toutes les classes de la soci^tö, eofin aux int^r^ts du roi meme et au succes de ses bienfaisantes in- tentions , et que la mani^re dont le dit avertissement a et^ publik et r^pandu, est ögalement.insolite et dangereuse, a soppIi6 etc.

**) 4 A{>ril. H61as, Sire, ce seroit uoe vöritable douleur que Ton verseroit dans votre ame, si Ton parvenoit k vous indisposer cootre aucun des ordres de votre royaume.

JHe Venammhmg der firoMÖs. Noiabein im J. 1787. 88

Besorgniss vor allgemeinem Ungehorsam umgestimmt: am 9ten April erhielt Galonne seine Entlassung.

Der erste Mann der es wagte, nach so langer Zeit eine berathende Versammlung in Prankreich zu berufen: freilich ohne recht zu wissen was er that, durch das Bedürfniss gedrängt, ohne von der nöthigen Vorbereitung in Bezug auf die Sachen und vornehmlich die Personen einen Begriff zu haben; in blindem Selbstvertrauen. Er unterlag gleich in der ersten Debatte: nach ein paar Wochen sprach man nicht mehr von ihmj allein so wenig er auch in sich selbst wie- gen mochte, so war doch die Entwickelung der Dinge die er hervorgerufen von der grössten Bedeutung.

Das ganze Verhältniss der Regierung hatte sich wie mit Einem Schlage zu ihrem Nachtheile geändert.

Die Bureaus fuhren fort, die ihnen vorgelegten Entwürfe in Berathung zu ziehen, lieber die Aufhebung der Salzsteuer und die Mittel, den Ausfall zu decken, der dadurch entste- hen werde, gab Monsieur, später Ludwig XVIII, selbst einen Vorschlag ein, der dem ministeriellen vorgezogen wurde; viel und lange beschäftigten sie sich mit dem Plane, die Domänen zu veräussern; ganz Europa hatte seine Augen auch hiebei auf sie gerichtet: in den Staatsanzeigen von Schlözer sind einige ihrer Festsetzungen mit dem grössten Beifall begrüsst worden; auf diese Dinge kam es aber jetzt schon so sehr nicht mehr an. Aus den Debatten wa- ren bereits andere Fragen emporgestiegen, welche die Con- stitution der höchsten Gewalt im Reiche berührten.

Die Notabein hatten den Anspruch erhoben, von dem Zustande der Finanzen Eenntniss zu nehmen, um zu sehen was sich zur Herstellung des gestörten Gleichgewichts thun lasse; der König willigte für dies Mal ein und liess ihnen die Etats der letzten Jahre vorlegen.

Die Etats waren jedoch ungenügend; als man nach der Generalcontrolle schickte, fand sich Niemand, der die erfor- derlichen Erläuterungen hätte geben können; nur so viel s^h man , dass alle Hülfsquellen erschöpft und ein grosses Deficit vorhanden war. Einige berechneten es auf 84, an-

AUg. Z«itockrlCt f. GMcUcht«. Y. 1846. g

dere aber sogar auf 140 MillioaeB. Im Angesicht dieser Verwirrung, und aufgefordert, einem auf jeden Fall «ebr starken BedUrfniss abzuhelfen, nahmen nan die NoCabein eine ttberaas stoke Haltung an. Sie waren nicht zufrieden, als der König eine Ersparniss von 15 Millionen anbei. Auf den Grund der älteren Etats, welche sie hervorzogen, er^ klärten sie eine Ersparniss von 43 Millionen für möglich. Ihre Gedanken und Absichten aber gingen noch viel weiter. Sie sprachen ihre Missbilligung über die ganze Art und Weise die Finanzen zu verwalten aus: wo alles in Dun- kel gehüllt sey^ ein einziger Mann über die Wohlfahrt von vie^ len Millionen Menschen entscheide, und ein unzuaammen- hängendes convulsivisches Wesen herrsche.^) Dem zu begeg»^ nen, gebe es kein anderes Mittel, als den Ständen oder weiügr siens Mitgliedern der Stände, denn nur vorsichtig drückten sie sich aus , eine Mitaufsicht über die Verwaltung aniuTor- trau^QL Sie schlugen die Errichtung einer Commission vor^ au der ausser dem Finanzminister und dem Generalcontro- leur auch noch fünf unabhängige Mitglieder von den veN schiedenen Ständen herbeizuziehen seyen.. Ohne deren sehrift^ liehe Beistimmung soUe keine Geldoperation vorg^ommeü werden; aUe sechs Monate sollen sie den Zustand der Fi'- nanzea untersuchen, alle Jahre dem Ei^nig eine Genefalbe* reohnung darüber vorigen; und diese sogleich durch dett Druck zu jedermanns Kenntniss biingen tassen. Selbst jedö Gttadenbezeigung müsse in Zuku^nft unter öffentlicher Gewähr geschehen. Eise Anleihe dürfe manniehti»efar machen, ohneVer* SAcherung für die Zinsen^ ohne Bezeichnung des Fonds zur Wie- flerbezablung, und ohne Begistrirung der Parlamente. Diese Qom- mission sollte nun aber nur für das erste Mal v<m dem K<$»ig er* naoant werden, alsdann auf mimer bestehen und bei voriiLomni^i^ den Vacanzen das Becht haben, die Gandidaten zu präsentiren»

'') Protocoli des ersten Bureaus am 4ten Mai: Un voile perfide a envelopp6 depuis long-tems loutes les Operations des finances; un Systeme incoh^reDt et convulsif est venu de lui-m4me d^mentir toutce qiii avoit ^t^ annonc^, et avertir le roi et la nation du danger de fa^ d^pendre le sort de 24 millions de citoyens £^^ et fid^les d'un seul homme«

JDte Viritmmlttng der framös. Notabein im J. 17S7. SS

Oesug, sH forderten die Aufsicht einer so vid wie möglich nnabää'ngigeti Behörde und die fortlaufende Gonlroile die in der Publieitäi liegi.'*')^ Es war ein offenbarer Angriff auf die bisherige administrative Unumschrä'nklheit der Regierung.

Und wurde dann ernstlich daran gedacht, wie das nun- mehr an den Tag gekommene Bedürfniss zu decken sey , so trat noch eine andere grosse Frage hervor.

Der König hatte wie immer sich zuletzt entschlossen, das zu thun was er anfangs nicht wollte, und den neuen Fi- nanzminister aus den Mitgliedern der Notabelnversammlung erwählt, einen Geistlichen, der aber die neuemden Ten- denzen des Jahrhunderts vollkommen theilte, besonders mit d'Alembert befreundet war, Lomenie de Brienne, Erz- bischof von Toulouse. Er hatte, in dem .zweiten Bureau, eben an der Spitze einer Commission gestanden, welche die Ersparnisse angeben sollte die im königlichen Dienst gemacht werden könnten.

Fast nach constitutionellem Gebrauch stieg der neue Minister aus der Opposition auf.

Am 9ten Mai erschien er als Repräsentant der Staats- gewalt in einem Ausschuss aller Bureaus, welcher über die Finanzangelegenheiton berathen sollte.

Man sagt ihm nach, und fast hat es den Anschein, das« er nachdem er es aHe seinen Ehrgeiz seyn lassen, Ca»- lonne zu stürzen, deniaoch nichts anders vorzubringen ge^ wusst habe ah eben dieser.

Aber er war nun Minister geworden, Vorsteher der Fi- nanzverwaltung, und es war eine Lebensbedingung fUr ihOi Geld herbeizuschaffen. An so weite Gombinalionen wie seiö Vorgänger angegeben, dachte er wohl nie im Ernste: er blieb bei dem stehen , was ihm unbedingt nothwendig schien und was die Notabein doch nicht geradezu verworfen hatten.

*) La plus importante disposition de toutes, la plus f^conde en effets heureux, c'est la publicalion per voye d'impression du compte g^n^ral, certifle par ce comit^, des receltes et des d^penses de l'6tat. Elle est seule le frein le plus puissaot contre toute d^- pr^datton, la sauve-garde de la fid^lit^ aux engagemens.

3*

M DU Yenmmlung der framös, Nötabeh im J. i7S7.

Brienne stellte vor, dass sich das Deficit auf 140 tfiltionen jährlich belaufe, und dass es nicht anders gedeckt werden könne als durch die Verbindung von drei Mitteln, Ersparniss, Anleihe und Auflagen.

Er gab an, die Ersparniss könne vielleicht auf 40 Mil- lionen gebracht werden: er würde mehr sagen, wenn er nicht fürchtete, die Nation damit zu täuschen.

Was die Anleihe anbetrifft, so sprach er die Hofnung aus, sie auf 50 Millionen zu bringen; da die Theilnahme der Notabein und der Ernst den man zeigte den Credit nicht ganz sinken liess.

Augenscheinlich aber, (fuhr er fort,) bedürfe der König auch einer Vermehrung seiner Einkünfte. Allen Einwendun* gen seiner alten Freunde zum Trotz blieb er dabei, man könne einer Erhöhung der Auflagen um 50 Millionen nicht entbehren, es bedürfe selbst noch vieler Arbeit und Sorge xltn mit einer solchen auszukommen; sollten ja die Einkünfte jemals das Bedürfniss übersteigen, so werde man in den lästigsten eine Erleichterung eintreten lassen.

Diese Summe wollte er nun allerdings grossentheils durch die Grundsteuer gedeckt wissen, die jetzt auch die Bevorrechteten treffen sollte. Doch war nicht mehr von dem unbestimmten Ertrag einer Naturalleistung die Rede, sondern nur von einer sehr wohl zu übersehenden Erweiterung einer schon bestehenden Auflage. Die Vingtiemes, welche längst auf Grundstücken und Häusern lasteten, und 55 Millionen ein- trugen, sollten auf 80 erhöht werden. Diese 80 Millionen Sollten nach dem bisherigen Fuss auf die Provinzen vertheilt, innerhalb derselben aber von den Provincialversammlungen, die man nach den Vorschlägen der Notabein einzurichten versprach, auf eine gleichmässigere Art, als es bisher ge- schehen, umgelegt werden.

Da nun aber nach dieser Berechnung die Grundsteuer auch nicht hinreichte, um das ganze Bedürfniss zu decken, 80 schlug Brienne noch einige andere Auflagen, eine Kopfsteuer und hauptsächlich eine Stempelabgabe vor. Es bezeichnet den Geist der Epoche, dass er meint, man werde sich diese

Versammlung der framös. Notabein im J. 1787, 37

in Frankreich wohl um so eher gefallen lassen , da sie auch in England bestehe.*)

Die Bureaus wussten nichts besseres anzurathen : allein eben hier trat nun die neue Schwierigkeit ein, die wir angedeutet.

Die Versammlung hatte sich eine Ansicht über die Fi- nanzen verschafft: sie erkannte die Noth wendigkeit einer Abhülfe, sogar neuer Auflagen an: hatte sie aber auch das Recht, dieselben zu bewilligen? Sie hatte es nicht, und maasste es sich auch nicht an.

Das war der grösste Uebelstand dieser Notabein. Sie waren mächtig genug, Opposition zu machen, aber sie hat- ten die rechtliche Befugniss nicht, zu Bewilligungen zu schrei- ten: dazu erschien vielmehr noch eine ganz andere Ver- sammlung nothwendtg. Es ist merkwürdig wie die verschie- denen Bureaus sich in dieser Hinsicht vernehmen lassen.

Das erste, des ältesten Bruders des Königs, berührte die constitutionelle Frage nicht eigentlich: es vdederholte i^ aufs dringendste und im Gegensatz gegen einen indess ein- gelaufenen Bescheid der ihm nicht genügend schien, die For- derung, dass ein Finanzrath nach den früheren Vorschlä- gen errichtet werden sollte.

Das zweite machte zur Bedingung, dass die Regierung sich verpflichten müsse, alle Jahr den Etat der Ausgabe und Einnahme bekannt zu machen, und dass sie die Re- form der Missbräuche, die Reduction der Ausgaben vorlege, ehe sie sich mit den Auflage-Edicten an die Parlamentshöfe wende. Auf Beschlussnahme derselben ward demnach alles verschoben. Man rühmte hier die Geneigtheit des Glerus, sich den allgemeinen Lasten zu unterwerfen, forderte aber die Erhaltung seiner verfassungsmässigen Rechte.

*) Sitzung des ersten Bureaus vom 18ten Mai. Le plus grand nombre des voix a regard6 l'impöt du timbre comme un des moitts on^reux, puisqu'il ne tomberoit pas sur la classe la plus pauvre du peuple et que sa perception est le moins ch^re. Die Grundsteuer soll höchstens zu 25 Millionen bewilligt werden, „en faisant payer les deux vingtiemes au clerg^ et aux privil6gi6s et en supprimant les abonnemens.^'

3S DU VerMmmbmg der fran%ö$. Notabein ün J. 1787.

Dasdpitte, das unter dem Herzog von Orieans gasessen, wiederholt ausführlich, wie wenig werth die Vorschläge seyen, die man eingebracht habe : Provincialversamnalungen ohne Macht f eine neue Auflage, für alle Glassen gleich drückend; eine Ermässigung der Taille, wobei aber alle Willkührliehkeitea be- stehen geblieben, u. s. w., und wie sie dies zu verbessern ge^ sucht Was die Auflagen anbetrifft, so sagt dies Bureau zwar nieht gradezu, nur die allgemeinen Stände könnten dieselben bewilligen; aber es giebt das sehr deutlich zu erkennen« ,jWir sind der Meinung, beginnt das Gutachten, dasa eine Ver- sammlung der Notabein, ohne Vollmacht und Auftrag, die nicht von den Provinzen deputirt ist und nichts gemein hat mit allgemeinen Ständen, keine Auflage bewilligen dUrfe/^*)

Es ist für die Folge nicht ohne Bedeutung, wenn das vierte Bureau, von Cond^ präsidirt, darauf zurückkommt, das$ das Befielt ungenügend ermittelt sey : da man das Bediirfoiss QtÜit kenne, nach welchem doch allein sich das Maass der Auflagen bestimme , so könne man auch über die Ausdehnung und Dauer derselben sich nicht aussprechen.

Das fünfte, das des Prinzen von Bourbon, weist jede Theilnahme an der Festsetzung einer neuen Auflage von 9iob, und fordert den König in Worten die mehr als Eine Deutung zulassen, auf, durch legale und anerkannte Formen die Rechtmässigkeit der Hülfe die er unglücklicherweise for« dem müsse zu sanctioniren.**)

Das sechste und siebente Bureau, die unter Conti und Penthiivre deliberirt hatten , kommen auf den Mangel an hin- reidiendem Nachweis zur Berechnung des Deficits zurilok,

^i^«4lwa

*) Nous n'avons pens6 qu'une assembl^e des notables, qui n'a rien de commun avec les ötals gen^raux, peut voter un imp6t.

**) Wetanl revdtu d'aucun po«voir pour delib^rer sur l*6tablis- aement de rimp6t, la nation ne lui (h rassamblee des notabied) ayant donnä aucune autorisation pour consenUr ä des lev^es de deniers, les diff^rents membres qui la composent n'ay^nt ^(e appel^ \i» qu9 par ie ohoix du souveraia, c'e$t au souveralo de oonsaerer par des formes legales et reconnues la legitimite du secours quil se voit dans la triste necessite de demander h ses p^uples.

Die Verstmmlkmg der frmmöM. ATotaMH mi J. i787. »

ttfid fordani vor allein dass dies gtfiau bekannl gemacht werde, um alsdann die Mittel su untersuchen, es zu heben.*)

ßo wenig ist es wahr, was man gewöhnlieh liest, dass die Notabeln die neuen Auflagen gebilligt oder die Sache dem Emessen des Königs überlassen hätten.

Dahin hatte es die Regierung keineswegs gebracht.

Die Regierung hatte gemeint sich durch die Reistimmung der Notabeln zu verstärken und damit den Widerstand su ver* niehten den sie bei ihren finanziellen projecten von den Parlamenten schon erfuhr und weiter zu erwarten hatte; statt dessen sah uie sich damit an eben diese Gerichtshöfe verwiesen«

Oaionne hatte sich eingebildet, die Selbständigkeit and Macht des Glerus brechen, dessen Gikter der allgemeinen Administration unterwerfen zu können: seine darauf hin-» zielenden Projecte waren aber von ferne ericannt und we- sentlich beseitigt worden. Zu dieser ungeheuren Operationi welche den Eintritt einer neuen Aera in Frankreich bezeiobnan musstCy gehörten ganz andre Kräfte als welche er ehnzu« setzen hatte.

Seine Verbesserungspläne waren keineswegs alle vor» werfen worden: man hatte ihnen aber, so zu sagen, die de* mokratische Spitze abgebrochen. Provincialversammluagen, wie er sie vorgeschlagen, waren eher das Gegentheil von denoi welche nun zu Stande kommen sollten: in diesen war das Uebergewidit des Adels und der Geistlichkeit aufs neue festgesetzt, und das hatte um so mehr zu bedeuten, da die meisten andern Verbesserungsvorschläge an sie verwiesen wurden.

Ueberhaupt aber stieg in den ständischen Corporationen der Anspruch auf, Einfluss auf die Regierung zu gewinnen.

*) Das Bureau Gonti's drückt sich jedoch ebenfalls sehr lebhaft aus. L^assembl^e n'ayant aucun carsctöre pour voter des imp6ts nl n^mepour donner nne sorta d'aequiesesmeat k des M% qiii selon la constituUon 4^ )a monarohie na peuvenl reeevoir War siActieo que par la verificatioa des tribunaiix d^h^aos, doU 9e rsnfer- mer dans les bornes de sa mission et pr^scoter simplemeot ä S. M. des observations.

A Die Versammlung der frm%ö$\ Notabein imJ, 1787:

Er zeigte sich in jenem Entwarf finanzieller Aufsicht, auf weiche sie unaufhörlich drangen; und dann in dem weit- aussehenden Gedanken, den sie, wenn sie ihn nicht wörtlich aussprachen, doch unverkennbar hervortreten liessen, dass eine Bewilligung wie die geforderte nur von allgemeinen Ständen ausgehen könne.

So wunderbar und neu ist es wahrhaftig nicht, wenn dann später das Parlament, nachdem die entscheidenden Edicte ihm vorgelegt worden, sie zurückweist, weil das De- ficit, auf das man sich dabei bezog, noch nicht gehörig ermittelt sey, und endlich zur Genehmigung neuer Auflägen die Be- rufung von Generalständen fordert. Es liegt darin nur eine Entwickelung dessen, was die Bureaus gesagt oder beab- sichtigt hatten.

Niemand wird glauben, ihr Sinn sey auf eine Natio* naUassembl^e gegangen, wie sie später zu Stande ge- kommen ist. Was sie verlangten, waren die alten Gene- ralstände des Reiches, wie sie in frühem Jahrhunderten zusammengetreten, deren Berechtigungen um so grösser erschienen, da sie niemals genau bestimmt worden. Man rief das Beispiel von England an, aber keineswegs in populärem Sinne. Man kannte das aristokratische Element der englischen Verfassung sehr wohl, das so stark ist, dass das heutige junge England behauptet hat , sie sey eine Nach- ahmung des venezianischen: man wollte die Regierung be- schränken wie sie dort beschränkt ist.

Die Gründung einer ächten Monarchie, welche die all- gemeinen Interessen umfasst, fördert, beschützt ist ein Werk das nur die mächtigsten Geister vollbringen; aber auch die Erhaltung und Fortbildung derselben erfordert geistige Ueberlegenheit und moralische Kraft. Hier, wo das Verderben schon lange begonnen, war es durch die Ver- geudungen und Gedankenlosigkeiten der * letzten Jahre so weit gekommen, dass eine Fortsetzung der Monarchie auf dem gewohnten Wege fast nicht mehr möglich erschien.

Auch das aber war noch eine grosse Frage, ob die Versamm- lung der Generalstände, in den Formen wie sie vor Jahr-

Dk Versammlung der fraimös. Notabdn im J. i79T. 41

hunderten üblich gewesen, bei denen sie jedoch immer etwas Tumultuarisches behalten hatte, nach so langer Zeit wieder genügen werde.

Wir wollen hier nicht den Gegensatz der Gesinnung erörtern, die das Jahrhundert beherrschte, von der ja Edel- leute und Geistliche in ihrem Herzen grossentheils selbst ergriffen waren: es sey genug, wenn wir an unserm Standpunct festhaltend eine Schwierigkeit bezeichnen, auf welche durchgreifende Maasregeln auch von Generalständen nothwendig stossen mussten.

Es gab einige Provinzen die den Entschluss kund gaben, von ihren wohlerworbenen Rechten unter keiner Bedingung abzulassen. Merkwürdig, dass es hauptsächlich die waren, welche einst von Deutschland abgerissen worden. Die Entwürfe welche bei den Notabein vorgekommen, setzten sie in allgemeine Aufregung.

Im Eisass reclamirte man gegen den Plan eine Stern« pelauflage einzuziehen: nachdem sich die Provinz einst von derselben ausdrücklich losgekauft habe. Selbst durch die Rückgabe der damals gezahlten Summe könne die Sache nicht ii^s Gleiche gebracht werden: da ihr z. B. die Instand- haltung der Ufer des Rheins und als einem Grenzlande, das zum Kriege eingerichtet sey, gar manche andere beson- dere Last obliege: sie würde ganz unverhältnissmässig be- steuert seyn.

Lothringen gerleth über die Absicht, ein'e Aenderung mit den Domänen zu treffen, in Bewegung. Die altherzog- lichen Domänen waren dort nach verwüstenden Kriegen an Colonisten ausgetheilt worden, die nur einen geringen Zins zahlten und sich sonst als Eigenthümer betrachteten. Man brachte in Erinnemng, dass nur unter Anerkennung dieser Verhältnisse das Land einst an Stanislaus abgetreten worden sey, von dem es dann an Frankreich übergegangen. Man wollte hier nicht warten, bis man verletzt werde, sondern verlangte sofort eine feierliche Sicherstellung der Besitzer von Domänen und Domanialrechlen, unter welchem Titel sie dieselben auch erworben haben mochten.

41 Ok WeFsmmtOHttff der frm»ö$. NotßhOm im J. i787.

Am DMiBten aber wurden alle diese firüherhin dentsehcn Frovinzen vea dem Entwürfe betreten, die Zölle an die Grenzen des Reichs zu verlegen. Nooh waren sie einem sehr massigen Zolle unterworfen : wie sie denn ausdrücklich ak Provinzen gleich dem wirkUfifaen Ausland bezeichnet wurden. Noch bestanden auch die alten HandeJszüge, aus Italien und der Schweiz durch den Elsass nadi den Frank- ftirter Messen; Lothringen und die Bisthtimer bezogen die Steffe zu ihren Manufooturen aus den Niederlanden: eine vollkommene commercielle Vereinigung mit Frankreich hieltea sie für das sohwerste Unglück das sie betreffen könne*).

Sie riefen die Besitznahmepatente Ludwigs XIV, und die Reiehs^edenssehlüsse an., nach welchen die Krone nur an die Stelle der Erzherzoge von Oestreiefa getreten, aber Städten und Corporationeo , den fremden so wie den ein* heimischen Fürsten und Herrn ihr altes Verhfiltniss und Recht gewährleistet worden sey^).

So hatten auch die zu den Notabein zugezogenen Bre^ tagner erklärt, dass nur den Ständen und Pariamenten der Provinz das Recht zukomme, über eine Abänderung des Systems der Auflagen zu beschliessen***).

Es iiess sich nicht denken^ dass eine Versammlung der allgemeitten Stände stark genug seyn werde, diesen Wider- stand zu brechen.

Eben so wenig aber Hess sich auch erwarten, dass die

*) Observations pour la province d'Alsace: Sous tous les rapperta, oonstitntion, commerce, localll^, on ne peut regarder le reoulement des barri^res quo comme le malbenr le plos irreparable.

"**) L,e roi joqit de tous i^s droit« qui oompeloient aux ar^i- ducs d' Au (riebe dans leur domaine d'Alsace et sur \^ prefecturoi les Corps, les villes, les princes, les seigneurs, soit ^trangera ^oit domiciliös en Alsace, qui relev^rent imm6diatement de fempire, ont 6t^. mainteoos par les träit^s de pars et les lettres patentes de S. M. dans leur constHulion particuli^e, tt^me peur Iteeroioe de la religion.

***) que c'est aux etats seuls de la provino^ assemblee et aux cours souveraines qui y sont stabiles de d61ib6rer sur Tadoption ou le refus de toute Innovation dans le Systeme des imposHlons.

Die Fersammltmg der firamöe. NetßMn im J. 179t, 4t

Regierung sich den Demttihigungen aussetzen, den Besobfän-

kungen unterwerfen werde, die ihr von einer solchen Ver- sammlung ohne Zweifei bevorstanden.

Und wie dann, wenn sie nochmals auf den Weg Ca« lonnes zurückkam 5 sich an die Ideen des Jahrhunderts %vl wenden, und auf die Interessen der Mehrzahl zu stützen, und wenn sie diesen alsdann einen grösseren Einfluss zu verschaffen selber für gerathen hielt?

Dann mussten die grössten Conflicte enlstehep: die durch die eingefilbrte Ordnung der Dinge gehanaien Kräfte mussten sich entbinden, wie ein Kampf der Naturgewalten zwischen ihnen ausbrechen: dem Stärksten war der Sieg beschieden, und neue Geschicke standen der Welt bevor*

Die Versammlung der Notabein ist nicht deshalb meric- würdig, daas sie etwas Bleibendes gestiftet oder veranlasst hätte, sondern deshalb, weil sie die ganze Schwierigkeit und Bedeutung der Lage an den Tag brachte, in der sich Frankreich befand.

Beilage.

Das Verhältnlss der Notabein zu den Vorschlägen Calonues ergiebt sich aus folgendem Actenstück besonders deutlich.

On doit distinguer dans les mömolres remis ^xx\ notables les vues g^o^rales et les moyens de les remplir. Les vues g^nörales sont:

la tenue des assembl6es proviociales,

une imposition territoriale mieux repartie que tes ving-

li^mes, la liböration des dettes du clerg^, quelques $oulagemens sur la taille, la libert^ du commerce des grains, l'abolition de la conröe, Te reculement des traits k T^xtröme fronti^re, l'adoucissement de la g^belle etc. On doit applaudir h |a sagesse du roi qui lui a fait adqpter ces vues, qui bien rempUes pourroient procurer au royaume Ae^ biens infinis.

Mals t>our les proposer au roi, lo roinistre n'a eu besoin que de recueillir quelques r^sultats d'ouvrages connus et de presque toutes les conversations ; ces vues ne sont pas ^ lui; elles sont

44 Die Versammlung der frawiös, Notabein im J. 1787.

leg titres de cbapitres excellens; et en ies prenant dans cettegö« n^ralit^, il n'en est aucuDe qui n'ait ^tö adopt^e.

Ge qui est propre au ministre et qui iui appartient, c'est la ma- niöre de remplir ces vues, et c'est cetle maniöre qu'il a 6t^ question d'eiaminer. 1* La forme des assembl^es provinciales dans )es m^moires a

et^ trouvöe contraire ä la Constitution de la monarchie et

m^me k i'inlör^t du roi comme h celui de ses sujets. 2* L'imp6t territorial auquel Ies m^moires donnent la pröf^rence,

n'a ni T^galilö ni ia proportion d^siree, et est süjet h mille

inconv^niens. 3* Le moyen propose de lib^rer Ies dettes du clerge porte 6yi-

demoient atteinte k la propriel^. 4* Les soulagemens aunonces sur la taiile retombent sur Ies pro-

priötaires et pourroient leur devenir Ires-onöreux. 5^ Le tarif des traits a besoin de röformation , il favorise la nou-

veile compagnie des Indes, occasioune des agiotages, et on ne

peut concilier avec la culture du tabac au moins en Alsace

les prdcautions qu'il exige. 6* Enfin la r^forme de la gabelte teile quelle est dans les me-

moires, offre tant de contradictions qu'il est impossible de

l'admettre malgr6 la rigueur du regime actuel, qui ne peut

cesser que par sa d^struclion totale.

Ainsi, ä l'exception de la libertö du commerce des grains et l'abolitiou de la corvee, aucun des moyens propos^s ne peut et ne doit 6tre admiS; et encore faut il remarquer que les m^moires sur ces deux objels ne presentent presque que le'titre, et qu'on ne peut juger des d^tails dans lesquels ils n'entrent pas.

On pr^voit d^jä qu'on en dira autanl des m^moires sur les domaines et sur les for^ts; il paroit qu'il n'en restera que la necessit^ d'amöliorer ladministration sans que les moyens soient approuves.

On doit aussi ajouler que tous ces moyens ne sont pas mSme expos6s dans les memoires d'une mani^re r6Q6chie et combinöe. Ce ne sont que des apper^us auxquels on a fait des changemens successifs et qui ne montrent aucune suite.

On voit par-lä qu'on ne peut confondre les vues des m^ moires avec les moyens qu'ils proposent. Les premi^res sont au roi et k tous les gens sens6s qui les ont congues et les notables j ont applaudi; les moyens sont au ministre, et tous out €i6 re- jettös, et presque par l'unanimite des sufifrages; ce qui seroitdonc k d^sirer, c'est de remplir les m^mes vues, mais avec d'autres moyens*

Bin Blick In die ttltere prensslsche tte« schlclite, mit Bezug* auf die »tündlsehe

Entwicklung*

Hach drei ongedrackten Chroniken.

Die für Preussen so bedeutungsvolle Zeit der Reformation und des Krakauer Friedens sind zwar schon pfl der Gegen- stand ausführlicher Darstellungen geworden, aber ein Mo- ment hat in keiner einzigen die nöthige Beachtung gefunden, ich meine die eigenthümliche Entwickelung der ständischen Verhältnisse, welche eben damals nach einer langen Zeit der Abspannung die eigentliche Lebensfrage des Landes ge- worden war. Baczko scheint davon Ahnung gehabt zu haben, und traf auch die Quellen, aus welchen hier zu schöpfen war, liess es dann aber bei einzenlen ganz abge- rissenen und deshalb kaum verständlichen Notizen bewenden und irrte in oberflächlichen Reflexionen weit von der Wahr- heit ab; Voigt aber hat nicht nur jene Quellen keiner wei- tern Beachtung gewürdigt, sondern auch das von Baczko schon mitgetheilte Material wieder fallen lassen und durch einige wenige Berichte aus officiellen Briefschaften kaum auf- wiegend ersetzt. Ich glaubte , dass diese bedeutende Lücke endlich ausgefüllt werden müsse.

Die Hauptquellen für diese Darstellung sind drei zeit- genössische Chroniken, deren wesentlicher Inhalt, so oft die Namen ihrer Verfasser genannt sein mögen, doch fast ganz unbekannt geblieben ist. Der Grund davon scheint kein anderer gewesen zu sein, als die Schwierigkeit ihrer Benutzung; denn neben dem Brauchbaren und Nothwen- digen enthalten sie alle viel Gleichgültiges; mühsames Quel- lenstudium aber ist keine so alte Erfindung und nicht die Sache vieler. Da ich vor allem auf den genannten Chroniken

46 Ein Blick in die ältere preussische Oeschichte

baue, und was ich mittheile) den hauptsächlichsten Inhalt derselben beinahe erschöpft, so sei es erlaubt, in kritischem und literaturhistorischem Interesse einige Worte über die- selben vorauszuschicken.

Sifiaen Grünau ist in Verruf jgekom&ien and fabdh«, wo er die ältere Geschichte Preussens erzählt, allerdings. Aber man muss diesen Theil seiner Chronik von demjenigen unterscheiden, in welchem er die Zeitgeschichte erzählt. Er scheint seil dem Jahre 1510 geschrieben zu haben und endet mit dem Jahre 1529. Ich läugne nicht, dass er auch filr diese Zeit mit Vorsicht zu benutzen ist, da ihm eitie Helere Einsicht in öffentliche Verhältnisse abgeht, und be- sonders für die letzten Jahre seit Einführung der Reformation, welche dem Mönche von Tolkemit alle Besinnung raubte und ihn zu den sonderbarsten Vermuthungen und Verdre- hungen führte*. Nichtsdestoweniger enthalten die letzten Tractate Originalnachrichten, an deren Wahrheit zu zweifeln kein Grund vorbanden ist, deren Richtigkeit sogar durch Vergleich mit andern hin und wieder bewiesen werden kann.

Die beiden andern Chroniken wurden ohne Zw^fel durch den polnischen Krieg von 1519 hervorgerufen. Daniel Freiberg fügte wie Grünau die ältere Ordensgeschicfate bei; die Begebenheiten der Jahre 1517 1519 beschrieb er aus der Erinnerung, den Krieg selbst, wie ^r von den Ereig- tiissen Nachricht erhielt, oder wie er sie in Königsberg als Augenzeuge beobachtete. Für die nächsten Jahre finden sich nur vereinzelte Notizen; dann folgen die Acten des Thorner Waffenstillstandes und des Krakauer Friedens; vom Jahre 1525 an giebt er kurze aber bündige Nachrichten, die nicht blos die Geschichte der Hauptstadt betreffen, obwoU er sich auf diese immer mehr und mehr beschränkt. Um 1544 scheint er seine ganze Chronik überarbeitet zu habe», doch machte er auch für die folgenden Jahre noch einige Nachträge. Es ist eine sehr gediegene, interessante Arbeit, lür uns auch insofern wichtig, als wir in derselben die Stimme des in jener Zeit so bedeutenden Rathes der Alt- stadt Königsberg^ zu welchem Fretberg selbst vieUeicbl ge^

) vemehmen. Das Original dieser Ghtoirik befindet skk auf der fatesigea Magistraisbiblioihek und von zweien Abschriften die eine ebenda, die andre in der Wallearodi* sehen Bibliothek, In beiden ist die frühere Ordensgeschichte und die Berichte von 1525 ab, in der letztern auch die Be- richte über dte Jahre 1517 -—1519 weggelassen. Beide Ab* Schriften enthalten aber allerlei Zusätze, von welchen die nach dem iahre 1521 !und die ausführliche (im erläuterten Preussen abgedrackte) Darstellung des Bauernkrieges in der letatern die wichtigsten sind.

Johann Beler ging doch wenigstens bis auf den Tod des Kaisers Maximilian zurück, beschränkte sich aber vor- züglich auf die Stadtgfeschichte, und so auch sein Fortsetzer Caspar Platner. Beide waren Stadtschreiber der Altstadt Königsberg, Beler wurde Ratbsherr und scheint eben des- kB\h die Fortsetzung seiner Chronik, die er bis gegen das Ende des Jahres 1523 führte, beinern Nachfolger im Amte übeiiassen zu haben. Platner kam bis 1527. Ihre Chronik ist schon als Ergänzung zu der zwischen 1521 und 1525 so mangdhaflen von Freiberg sehr erwünscht, und auch des- halb von Bedeutung, weil in derselben manche interessante Actenstücke mitgetbeät werden, steht aber jener an Werth bei weitem nach. Platner zumal konnte d»e Verhältnisse nicht übersehn und fand kein Maass der Ausführltchkieit: er ist verworren und unverständlich , Beler ist übersichtlicher und verständlicher, weiss aber nicht zu unterhalte« wie Freiberg.

Zu diesen Chroniken habe ich aus den Papieren des geheimen Archivs nvir wenig hinzuzusetzen. Einiges aus 4ienselben hat, wie gesagt, Voigt mitgetheilt; doch musste auch hier hin und wieder berichtigt und verbessert werden.

Das Hauptübel, welches Preussen besonders seti der Schlacht hei TaiHienberg drückte, war des Missverhäitnfss zwischen dem Orden und der Landschaft, fls halte iih Lav^ des Ainfzebnten Jahrhunderts den trauriigsien Resultaten

iS Ein Blick in die ältere preussische Oeechiehte

geführt und drohte auch den geretteten Theil des Ordens- staates so wie den im Thorner Frieden abgetretenen in eine polnische Provinz zu verwandeln. Es bedurfte einer durch* greifenden Reformation, wenn dieses Schicksal abgewandt werden sollte; die Hochmeister beschäftigten sich mit diesem Gedanken in der That eine lange Zeit, allein sie wandten ihre Aufmerksamkeit viel mehr auf die Verfassung des Ordens als auf die des Landes und auf diesem Wege konnte nicht geholfen werden, selbst wenn ihre Ideen zur Ausführung gekommen wären. Die Lösung der Frage kam von einer Seite, von welcher der Orden selbst sie am wenigsten er- wartete. Man wählte Hochmeister aus fürstlichen Geschlech- tern, um durch deren Familienverbindungen dem Orden von aussen her Unterstützung zu verschaffen. Aber so ge- ring auch der Vortheil war, den er aus dieser Maassregel zog, so theuer musste er doch erkauft werden. Der Orden glaubte, was er durch eigne Kräfte nicht vermochte, durch fremde zu erreichen , und die Welt ist nun einmal eigennützig. Herzog Friedrich von Sachsen und Markgraf Albrecht von Brandenburg, die beiden letzten Hochmeister, gedachten auch in dieser Würde als Fürsten aufzutreten. Hierdurch geriethen sie sofort in Spannung mit dem Orden: die mäch- tigsten Häupter desselben, die Landmeister in Liefland und Deutschland erlangten um so grössere Selbstständigkeit, je mehr die Hochmeister die allgemeinen Beziehungen des Ordens aus den Augen verloren; die Ritter in Preussen aber sanken zu desto grösserer Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit herab: denn jene Fürsten regierten das Land vielmehr nach dem Rathe ihrer weltlichen Räthe als der Ordensbrüder, und zweitens bedurften sie zur Unterhaltung eines fürst- lichen Hofes so viel, dass die Ordensbrüder viel weniger für sich behielten, als sonst, indem theils die einträglichsten Aemter unbesetzt blieben, andere schlechter dotirt wurden. Seitdem den letztern so Unterhalt, Genuss und Herrschaft geschmälert waren, erfüllte der Eintritt in den Orden die Wünsche der Edelleute weit weniger als sonst. Nach Fried- richs Tode erhob sich eine starke Partei gegen die aber'-^

mU BeAug tmf/He ständiscke Enkeiekhmg. 49

malige Berufung eines Fürsten zum Hochmeisteramte, aber Wilhelm van Eisenberg , bisher Marschall und Statthalter, der in der veränderten Regierungsform auch seinen Vortheil fand , brachte die stärkere zusammen; durch welche Albrecht von Brandenburg gewählt wurde. Es scheint, dass die Zahl der Ordensbrüder seitdem beträchtlich abnahm.

So weit ist man auch frUherbin mit den Ereignissen bekannt gewesen. Nun fehlte aber ein Mittelglied für die fernere Entwickelung. Denn man musste doch fragen, wel- ches die Stütze eines Hochmeisters gewesen sei, der über einen Theil der früheren Kräfte des Ordens nicht mehr verfügen konnte, bei dem andern Abneigung und Wider- stand finden musste? Einem Kriege gegen Polen waren die Stände immer abgeneigt gewesen, wie ja noch der Hoch«- meister Martin Truchses von Wetzhausen, der unter schein* bar günstigen Auspicien Polen anzugreifen Anstalten machte, den Frieden herstellen musste, weil die Stände darauf drangen. Wie konnte Albrecht bei seiner viel ungünstigeren Stellung gegen den Orden dennoch Polen den Fehdehand- schuh hinwerfen? Schon aus dieser einfachen Betrachtung kann man entnehmen, dass sich die ständischen Verhält- nisse damals wesentlich verändert hatten.

Adel und Städte sind der Landesregierung gegenüber vielleicht nirgend so einig gewesen, als in Preussen vor die* ser Zeit Der grosse Städtebund z. B. umfasste auch den grössten Theil der landsässigen Ritterschaft. Wie aber das Hochmeisterthum immer mehr zum Fürstenthum hinneigte, in demselben Maasse schwand diese Einigkeit. Der Adel hatte seit dem Thorner Frieden an Bedeutung sichtbar zu* genommen: die Zahl seiner Mitglieder ward durch Beloh- nung der für ihre Kriegsdienste unbefriedigten Söldnerfüh- rer ansehnlich vermehrt; selbst einzelne Privilegien hatte er von den Hochmeistern erzwungen, wie das über die Verer« bung der magdeburgischen Güter von Martin Truchses. Durch eine Art von Wahlverwandtschaft neigte er zum Für- sten, bis endlich auf dem Landtage zu Heiligenbeil 1516 der Bruch zwischen ihm und den Städten vollkommen enlschie*-

Allg. Z«itoekrift r. GeseUeht». T. 1146. 4

50 £m BUck in dk äUere premsisohe Geschichte

den wurde. Es ist dies eines der wichtigsten Ereignisse, doroh welche die Entstehung des Herzogihums vorbereitet wurde. Die Stellung, welehe der Adel damals einnahm, hat er mit geringen Unterbrechungen auch späterhin beibe- halten. Die nächste Folge seiner Verbindung mit dem Hoch- meister war der erhöhte Steuerdruck. Zuerst wurden, was vorher nicht geschehen war, fast jährUch neue Steuerbewil- Itgungen, dann 1518 zum ersten Mal eine Steuer auf drei Jahre erzwung^i, woran sich dann die ganze folgende Fi* nanzgeschichte Preussens knüpft: 1525 wurde schon eine Steuer auf fUnf Jahre, 1528 eine andere für die ganze Dauer der Regierung Anrechts und seiner Leibeserben bewilligt. Durch diese Steuerbewilligungen sah sich Albrecht zu dem Kriege mit Polen, der das endliche Schicksal Preussens her- beiführte, in den Stand gesetzt. Der ungünstige Erfolg des- selben machte ihm den Adel auf einen Augenblick abtrün- lug; er bedurfte einer anderen Stütze und fand sie in den niedern Glassen in den Städten. Hiedurch stieg wieder der fiinfluss der letzteren, was auf die Art der Einführung der Reformation und auf den Gang des Bauernkrieges von gros- sem Einfluss war. Bald kehrte der Adel zu seinem frühern Yerhältniss gegen den Hochmeister zurück,. und dieses Yer- hUtniss so wie die innere Zwietracht der Städte sicherten die Einführung der weltlichen Herrschaft eines Eii)fürsteo. Endlich musste gerade der so drohende Bauernkrieg dazu beitrage», die Macht des Herzogs so zu befestigen, dass einer seiner Günstlinge daran denken konnte, seine Gewalt unumschränkt zu machen. Dieses ist das Bild jener so er- gebnissreidien Periode, einer Periode der Gährung, Revolu- tion und Gewalt. Wenn das Urtbeil über Albrechts Regie- rung bisher zweifelhaft war, wenn ein älterer Biograph des- selben sich sogar angelegen s^n lässt, ihn als das Muster eines Fürsten darzustellen, so wird der Verfolg hierüber be- stimmtere Aufeohlüsse geben.

Ich gehe auf Herzog Friedrich zurück, unter welchem Adel und Städte im Ganzen noch im Einverständnisse biie» ben. Friedrich erhöhte schon die Anforderung an die Stände

mt B^ug auf die ständische Enimchlnng, 51

md musste um zu sainam Zweck« zu gelangen, sich unge- wöhnlicher Mittel bedienen. Einmal wurde, wahrscheinlich ohne sein Zuthun, bei der Berathung über die Bierzeise der Zwiespalt zwischen den drei Städten Königsberg so gross, dass grobe Excesse nur mühsam unterdrückt werden könnten."^) Auch wussle er bereits schon den Adel näher an sich zu ziehen. Johann von Tiefen hatte nur zwei Steu«- am erhoben, deren Ertrag nicht bedeutend gewesen zu sein seheint.**) Friedrich versuchte zuerst 'manches andere Mit- tel zur Erhöhung seiner Einkünfte; dann aber fand er „mit seinen neugebraehten Bäthen (als Niklas und Caspar Pflug, Doctor Werther, Schönberger und andre mehr) einen Weg, der Geldes die Fülle tragen würde, nämlich die Zeise von einem jeglichen Bier drei Mark zu geben, welche nach dem grossen Kriege abgekommen war/' Diese Bierzeise wurde ihm dreimal bewilUgt 1501, 1506 und 1508. Die näheren Bestimmungen derselben waren diese: in Königsberg wer- den für das Gebräu drei Marie, in den kleinen Städten zwei Mark, airf dem Lande und zwar nur von Krügern und den- jenigen, weiche Krüge mit ihrem Bier versorgen, nach dem Verfaältniss von einer Mark zu 20 Scheffeln gezahlt. Da diese^ Steuer die Landschaft und besonders . den Adel weni- ger beschwerte, als die Städte, so wurde mit derselben je- desmal eine Yiehsteuer verbunden, zuerst von einem Schil- ling, dann von zwei Schillingen für die Nacht, d. h. für die Steuereinheit, welche bei grösserem Vieh ein einzelnes Stück, bei kleinerem zwei oder vier Stücke ausmachten. Der Er- trag dieser Steuer stieg jedesmal über 90,000 Mark.***) Sie war ungewöhnlich, aber nicht unerträglich. Herzog Fried- rich blieb im Lande in gutem Andenken, und unter der drük- kenden B/egierung seines Nachfolgers erinnerte man sich oft der bessern Zeit unter der sßinigen.

Denn die Regierung des Markgrafen Albrecht war in

*) Platner fol. 202 spricht davon beiläufig. **) Gronau S. 1296. Ob nicht fiaczko Bd. 4. S. 73 trotz sei- nes Citates Irrt?

*''') Fit»iberg fol. 74 und 249. Grünau S. 1323.

4*

52 Ein Blick in die ältere preussische Geschichte

seinen jungem Jahren., ehe der Umgang und die Lehre der Reformatoren seinen Sinn gemildert hatten, und dann wie- der in seinen spätem Jahren, als er an den religiösen Be- wegungen persönlichen Antheil nahm, ausserordentlich ge- waltsam und um so drückender, da lieben ihm seine Günst- linge mit despotischer Willkür schalten durften. Viele ha- ben sich die gröbsten UngerlBchtigkeiteu zu Schulden kom- men lassen; die meisten haben sich ohne Scheu vor den empörendsten Mitteln bereichert und in Zeiten der Noth und Bedrängniss das Land verlassen; vor allen Dittrich von Schönberg, später Hans von Besenröde und nach den Zeiten Osianders Paul Skalich luden den Hass und die Verwün- schungen des VQlks auf sich.

Schon auf dem Landtage von 1514 verlangte Markgraf Albrecht eine sehr bedeutende Ausfuhrsteuer, verbunden mit der Viehsteuer, und einer dritten von den Getränken, nämlich einen Pfennig von einem Stof Bier oder Meth und zwei Pfennige von einem St(A Wein. Während der Adel die Viehsteuer wie unter Friedrich bewilligte, widersetzten §ich die Städte, welchen die beiden anderen vorzugsweise zur Last gefallen wären, und zwar mit solchem Erfolge, dass der Hochmeister vorerst von denselben abstehen musste. Nichts weiter bewilligten sie als eine Abgabe wie sie unter dem Hochmeister Johann von Tiefen gegeben war, nämlich eine Wohnungssteuerj vier Skot für das Haus, und eine Ver- mögenssteuer, zwei Pfennige von der Mark. Auch darein musste Albrecht willigen, dass die Vermögensschätzung nicht Ordensbeamten , sondern den Städten selbst überlassen wurde; doch gab er zu verstehen, dass er eine neue Bewil- ligung erwarte, wenn diese nicht zulange. Aus diesem Grunde berief er die Stände schon 1515 nach Königsberg: der Adel bewilligte die Viehsteuer abermals; die Städte aber konnten zu keiner Einigung gelangen, angeblich weil sie nicht mit hinlänglichen Vollmachten versehen seien. Als der Hochmeister bald nach dem Schlüsse des Landtags die ein- zelnen Städte befragen Hess, was sie zu thun gesonnen seien, antworteten diese, sie würden geben, v^^as Königsberg

mU Bezug auf die ständische Ent^^hbtng, 53

bewillige; Königsberg aber, welches der Hochmeister nun um so dringender aufförderte, entzog sich jeder Auflage hart- näckig, unter dem^ Vorwande, es könne ohne die Landschaft nichts bewilligen, wie die Landschaft nicht ohne sie habe handeln wollen. Ueberhaupt erkannte der Hochmeister bald, dass Königsberg bei jeder neuen Auflage die grössten Schwie- rigkeiten machen würde. Königsberg war seil dem Thorner Frieden bei weitem die bedeutendste Stadt im Lande; die kleinen oder Hinterstädte gelangten nur selten zu einigem Einfluss; der Hochmeister musste also vor allem darauf be- dacht sein, den Widerspruch Königsbergs unschädlich zu machen. Eins der wirksamsten Mittel hierzu schien ihm die Verlegung des Landtages von Königsberg, wo er es immer mit der ganzen Bürgerschaft zu thun hatte, nach Heiligenbeil, wo jene durch wenige Deputirte vertreten wurde. Die drei Städte hatten dann vor den übrigen nur den Vorzug, dass sie die doppelte Zahl von Deputirten, zwei voln Rath und zwei von der Gemeine, absandten. Dies war schon 1514 und so viel ich sehe ohne Widerspruch geschehen. Als der Hochmeister 1516 den Kunstgriff erneuerte, erinnerten sie: „Die weil Land und Städte bisher alle drei Städte Königs- berg für ihre Hauptstadt gehalten, ist vollkommene Macht von ihnen anderswohin zu bringen Inhalt löblichen alten Herkommens nie in Gebrauch gewesen," und verlangten, dass er den Landtag nach Königsberg verlege, aber verge- bens«

Zwar hatte der Adel schon im vorigen Jahre eine Steuer bewilligt, während die Städte zu keinem Schluss kamen, aber eine solche, die nur ihn selber traf. Jetzt Hess er es sich aber beikommen, die Biersteuer zuzusagen, von welcher er frei war. Dies veranlasste einen Bruch, den erst das tiefste Elend des Landes heilen konnte. Es sollte die Zeit kommen, da die Edelleute als Hülfeflehende bei den Räthen von Königsberg erschienen. Die Vorwürfe, die man ihnen damals machte, mögen zeigen,, welche Bedeutung dieser Landtag für die Geschichte Preussens gehabt hat. Ge- strenge und ehrbare günstige Herren,'* sagte der Bürgermei-

54 Ein BHck in die ältere preu3sisehe Geschichte

ster ddr Allstadt, „ihr trägt gut Wissen, wie sieh zu Heili* genbeil auf jenes die Sachen in gemeiner Tagfahrt verlaufen, also dass ihr euch von uns getheilt, welches eure Yä* 1er nie getban, und euern Huth willen mit uns gebraucht, mit spöttischen Worten: uns hätte die preussische Sonne beschienen; item da läuft die alte Sau^ die Ferkel gehn her- nach/^ Sie mussten hören, dass das Elend, welches der polnische Krieg über das Land brachte, nicht herbeigezogen wäre, wenn sie die Zeise nicht wider der Städte Gutdünken bewilligt hätten: „denn hätte der Hochmeiser nicht Geld erlangt, und die Landschaft von den Städten getrennt, viel Uebermuth wäre nachgeblieben."*)

Es half den Städten nichts, dass sie eine urkundliche Zusicherung des Hochtneisters Friedrich hervorbrachten, dass die unter ihm erhobene Zeise nur auf ein Jahr und in Zukunft nie wieder erhoben werden sollte. Vom Adel un- terstützt glaubte Albrecht diesen Widerspruch nicht beach- ten zu dürfen. Er sah die Bierzeise, wie sie unter Fried- rich, gegeben war, und mit welcher noch eine Mühlensteucr, ein Vierdung von jedem Rade verbunden wurde, als be- willigt an, und entliess den Landtag.

Schon im folgenden Jahre, obwohl unter Entschuldigun- gen, wie schwer es ihm falle, das Land von neuem zu be* lästigen, ging er die Stände an, die Bierzeise von N^uem auf ein Jahr zu bewilligen. Obwohl der Landtag nun in Königsberg gehalten wurde, war es bei der Wendung, welche die Dinge einmal genommen hatten, doch nicht möglich, die Forderung abzuschlagen. Auf demselben Landtage erreichte Albrecht noch einen anderen Vortheil. Während nämlich seit dem Thorner Frieden, in weichem auch die Stadt Gulm an Polen fiel, der Rath der Altstadt Königsberg als der ober- ste Gerichtshof für die Städte angesehen wurde, wie auch der Orden, obgleich nicht urkundlich und nur auf die Zeit,

*) Beler fol 17. b. Freiberg beim Jahre 1520. Für die Ge schichte dieser ersten Landtage ist Voigt zu vergleichen, der die archivaliscbeki Quellen anfuhrt. ^

UMl BMMg mf dk sitMinke EMwiekkmg. AS

bis Wesipreusseoi wieder erobert würde, anerkaimie, so hai- tan es doch die Bürger bisweilen vorgezogen, sich mit Ueber* gehung dieses Gerichtshofes lieber an des Hochmeisters Kammergerichl zu wenden. Dies benutzte Albrecht, um „das Gericht des Ueberkoims auf das Schloss in das Kam- mergericht zu nehmen/'*)

Dass der Hochmeister nun Jahr für Jahr die Bierzeise forderte, war unerhört, allein dies genügte ihm nicht. Man war erstaunt, als er zu dem Landtage, welchen er am Tage Fabiani und ßebastiani (20« Januar) 1518 in Königsberg zu halten gedachte, aus jeder der drei Städte Königsbei^ zehn Personen von Rath, Schöffen und Gemeine, welchen unbe- dingte Vollmacht ohne Hintergang mitgegeben werden sollte» zu sich beschied. Denn er habe da vorzugeben und mitzu* theilen, was in der Zeit seiner Abwesenheit er hatte eben eine Reise nach Deutschland gemacht dem Lande zum Besten mit andern Herren und Fürsten gehandelt sei. Auch der Adel und die kleinen Städte erhielten Befehl, die dop- pelte Anzahl von Deputirten zu diesem Landtage abzusen* den. Früher waren aus jedem Amte (deren es einige dreis- sig gab) in der Regel vier Deputirte erschienen, zwei vom Adel und zwei voii den Städten; jetzt sollte jener so wie diese je vier erwählen. Man konnte erwarten, dass ein Gegenstand von besonderer Wichtigkeit vorgelegt würde. Die Königsberger gaben aber diese unbedingte Vollmacht immer nur im äussersten Falle, und wenn sie es nicht um« gehen konnten, wenigen in die Hände. Die Gemeine er- suchte daher den Rath, sich bei dem Hochmeister zu be- mühen, „worauf und was Sachen wären, dass er volle Macht allein auf zehn Personen begehrte," der Rath versprach es, fand aber nicht für räthlich, es auszurühren und antwortete der Gemeine, als diese wieder anfragte: ;,Sie sollen anmer- ken des Hochmeisters Fürnehmen, in welcher Meinung er das Land meinte, auch in was Furcht er die Gebietiger, seines Ordens Mitbrüder hielte; auch seine nächste Nach-

*) Freiberg beim Jahre 1517.

56 Ein BUck in die äUere preu$iifche Oe$ckiekte

barn, als der Herr König von Polen, der Bischof von Heils- berg, Danzig, Elbing, Braunsberg, in welcher grossen Be- kümmerniss er sie aufhielte, und auch betrachten bei sich, wie s. G. mit den geistlichen Prälaten, als mit dem Bischof von Samland und Thumherrn des ganzen Kapitels im ver- gangenen Jahre gehandelt hätte; wäre wohl zu bedenken, so wir uns gross wollten gegen s. G. setzen, auch solch eins zu widerfahren." So sehr also waren die Städte da- mals schon eingeschüchtert.

Der Antrag des Hochmeisters , welchen Dittrich von Schönberg dem versammelten Landtage vortrug, rechtfertigte ihre Befürchtungen. In demselben wurde auf den lange vor- bereiteten Krieg gegen Polen deutlicher als je hingewiesen; es wurde den Ständen, so weit es sich thun Hess, darge- than, wie nachtheilig der ewige Friede nicht nur für das fernere Bestehen des Ordens, sondern auch für die Freiheit und den Wohlstand der Unterthanen sei; auch wurde be- merklieh gemacht, dass die Aussichten für das Land sich jetzt ungleich besser stellten als früher; das eigentliche Ge- such an die Stände aber war: ., damit s. f. G. jährlich sie zu mühen und anzusprechen nicht geursacht vsilrde, und dennoch wüsste, was er sich zu bezahlen für das Erste gewisslich trösten dürfte,** sollten sie, „die Zeise, wie die zwei Jahre lang gegeben, nachmals eine benannte Zeit von etlichen Jahren lang consentiren und geben, die- weil Gott Lob dieselbe niemand sonderlich beschwerlich und dennoch s. f. G. und dem Orden hoch hilflich und ihnen allen zu Vorkommen künftigen Schadens erspriesslich.^^

Gegen eine solche Neuerung nahmen die Abgeordneten der Städte noch einmal alle Kraft zusammen. Sie bewillig- ten die Steuer zunächst nur wieder auf ein Jahr und for- derten, um über die Zusage derselben auf noch mehrere Jahre berathen zu können, den Hintergang an die Ihrigen. Der Hochmeister konnte diesen nicht verweigern, berief aber schon auf den Montag nach Cantate eine neue Zusammen- kunft, auf der man sich seinem Wunsche nun doch nicht entziehen konnte. Er verlangte diesmal, dass man die Zeise

I

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Besug auf die ständische Entwicklung. 57

auf fünf Jahre zusage. Der Adel bedachte sich nicht lange einzuwilligen, denn er sehe die Mühe und Arbeit des Hoch- meisters und könne nicht anders verstehen, als dass er es getreulich meinte. ,, Welches die Städte klein und gross herzlich erschrocken, denn der Adel der Städte Beschwe- rutigen nicht zu Herzen fiehmen wollten.^' Endlich erklär- ten auch sie sich bereit, die Zeise auf drei Jahre zuzusagen, forderten aber Brief und Siegel , dass nach diesen drei Jahren diese Beschwerde nicht mehr auf die Städte gelegt werde, und das Versprechen, sie bei gutem Frieden zu behalten. Das erstere versagte der Hochmeister, weil solche Verstrik- kung ihm und dem ganzen Hause Brandenburg schimpflich wäre, das Versprechen, den Frieden zu erhalten, welches er schon am Tage seiner Huldigung abgelegt hatte, scheint er wirklich wiederholt zu haben.*) Die Städte haben ihm später oft den Vorwurf gemacht, dass er dennoch den Krieg begonnen habe.

So war auf diesem Landtage der erste Schritt gemacht zu der Einführung einer stehenden Auflage. Aber es war nur der Anfang; worauf sich die später oft wiederholten Klagen über den unter Albrecht's Regierung vermehrten Steuerdruck beziehen, soll noch deutlicher werden.

Die Summen, welche Albrecht sich schon verschafl't hatte , setzten ihn in den Stand , nicht blos in Preussen die nöthigen Sicherheitsmassregeln vorzukehren, sondern, da der Ausbruch des Krieges immer näher drohte, auch in Deutschland Söldner werben zu lassen. Der Krieg begann im December des Jahres 1519. Obwohl der Orden im Bunde mit dem Zar von Russland stand, auch auf die deutschen Fürsten und die Tataren einige Hofi'nung baute, so war er im Ganzen doch sehr unglücklich. Zwar eroberte der Hoch- meister am Neujahrs tage 1520 Braunsberg durch Ueberfall, aber dieses war auch seine glücklichste Unternehmung in

*) Freiberg beim Jahre 1518, der nur den Fehler begeht, iie beiden VersammlaDgen in eine zusammenzuziehen, und die von Voigt angeführten Stellen.

58 Em Bkck in die äliere preussiiche Qeichiokie

dem ganzen Kriege. Die in Deutschland angeworbenen Söldner erschienen über alle Erwartung spät, und so (Über- schwemmten die Polen schnell das ganze Oberland, nahmen einen festen Platz nach dem andern, raubten und brannten und mordeten in Dörfern und Städten und fanden selbst in Natangen so geringen Widerstand, dass sie bis vor die Thore von Königsberg drangen *)

Was Königsberg dem Lande sei, konnte man in diesem Kriege recht deutlich erkennen. Nicht genug, dass es die Unternehmungen des Hochmeisters durch Stellung von Mann- schaft, Geschütz und Pferden unterstütze, dass es Samland gegen die Angriffe der Danziger und die von Hafstrom her drohenden Polen durch eigene Söldner vertheidigte, dass es wiederholentlich Schiffe gegen die Danziger rüstete, alles das blieb gering im Verhältniss zu den Summen, die es über die früheren Bewilligungen hinaus zur Führung des Krieges hergeben konnte und musste. Wenngleich sein Handel schon Jahre lang darniederlag, so darf man doch mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass es in dieser Hinsicht eben so viel geleistet hat, als das ganze übrige Land zusammengenom- men. Dazu kam, dass der Feind in den Mauern von Königs- berg zuerst einen Widerstand fand, der seinen Eroberungen ein Ziel setzte. Dadurch wurde nicht nur Samland, sondern die ganze Hoffnung des Landes gerettet.

Wie änderte sich die Scene, als bei dem immer wach- senden Elende, dem der Hochmeister zu steuern nicht ver- mochte, Adel und Hinterstädte auf dem Ratbhause der Alt- stadt Königsberg Rath und Hülfe suchten. Welche Sprache führte Königsberg da gegen den Adel und den Hochmeister. Wir hörten, welche Vorwürfe der Adel hinnehmen musste. Ganz denselben Ton durfte die Hauptstadt nun gegen den Hochmeister selbst annehmen. Sie Hess ihm durch Augustin Bartein vorstjßllen: „g. H., so e. f. G. hätte die. alten Herren des Ordens, die des Landes Weise und Gewohnheit wUss-

*) Dieses und das Folgende nach den sehr ausführlichen Uit< tbeilungen Freiberg's über das Jahr 1520.

Betug auf die $tändische EniwkUung. 59

ien, Lande und Städte zu Raihe genommen, ehe man sol« elien Widerwillen anhub, wäre der erlittene Schaden nicht von Nöthen gewesen. Wo sind nun die ausländischen Räthe, die e. G. dazu gerathen, die einem jeden das Seine zu ngkk- men Hath wussten, von denen wir arme e. f. 6. Untersassen unser Recht haben müssen kaufen? Nun sie ihre Beutel ge- fllUt, sind sie zum Lande ausgerissen. Die sollen auch nun Rath wissen und geben, dem grossen Jammer und Schaden zu widerstehen.^^ Der Hochmeister glaubte beschwichtigen EU können, wenn er vorschlug, von Landen und Städten zwölf Personen zu wählen, mit denen er sich über die nö- ihigen Maassregeln besprechen wolle. Aber man liess sich dadurch nicht blenden, man drang so lange in ihn, bis er sich „darein gab, Lande und Städte sollten sich unterstehen, hinter dem Orden ein christlich Geleit zu werben bei den Hauptleuten des Heeres und bei dem Könige mit K. M. zu handeln auf einen andern Tag, auf dass das Land nicht in weitern Verderb gedeihe.*'

Je glänzender die Stellung war, die Königsberg in die- sem Augenblicke einnahm, um so eifriger musste der Her« zog dara\if bedacht sein, die Opposition unschädlich zu ma- chen. Die Friedensunterhandlungen waren durchaus nicht nach seinem Sinn und er hoffte noch auf eine günstige Wendung des Krieges, sobald nur erst die Söldner angekom- men wären. Aber er konnte jene um so weniger hindern, weil der polnische Feldherr Königsberg selbst zur Ergebung aufforderte und es an Vorspiegelungen und Versprechungen nicht fehlen liess. Es stand zu fürchten, dass der lieber- gang der Hauptstadt ähnliche Folgen nach sich ziehen möchte als etwa sechzig Jahre früher die Verbindung Polens mit dem Preussischen Städtebunde. Dies scheint der Zeit- punot gewesen zu sein, in welchem der Hochmeister sich durch Heranziehung einer Partei in der Stadt selbst gegen den Vorstand derselben 9 gegen den Rath, zu stärken ernst- lich bemüht war.

Es gab in Königsberg, wie in den meisten grossen Städ- ten, seit langer Zeit zwei Parteien, die nicht immer in dem

60 Ein BUck in die ältere preusmche Geschichte

besten Vernehmen zu einander standen, Patricier, die sich in den sogenannten Artus- oder Junkerhöfen zusammenfan- den, und Plebejer, deren Versammlungsörter die Gemeinde« gärten waren. Zu jenen gehörten besonders altadelige oder durch Handel reich gewordene Geschlechter, in deren Hän- den die Regierung der Stadt lag; diese waren ihrem Her- kommen nach zum Theil Leibeigene, Hörige, Flüchtige ge* wesen, die sich glücklich schätzten, wenn sie in den Städ- ten Schutz und Erwerb fanden. Es gehörten dann zu ih- nen besonders die Handwerker. Ihre Ansprüche erhöheten siish mit ihrer Anzahl und ihrer Wohlhabenheit; in Innungen und Gilden vereint konnten sie denselben Nachdruck geben ; so waren denn Beibungen unter den Bürgern der einzelnen Städte sel^bst nichts Seltenes. Im zweiten Decennium des sechszehnten Jahrhunderts war die innere Gährung in den deutschen Städten fast allgemein. Hier in Königsberg zeig- ten sich verwandte Bestrebungen. Sie sind besonders des- halb einer näheren Betrachtung würdig, weil sie, ebenso wie in Deutschland, von grossem Einfluss auf die Entwicke- lung und den Charakter gewesen sind, welchen die Refor- mation bei ihrer ersten Ausbreitung nehmen musste.

Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass, wenn eine Par- tei, die der Patricier und des Raths für die Anträge der Polen empfänglich war. Die Antwort, mit der man diesel- ben erwiderte, zeugt keinesweges von Entrüstung; aber man wollte doch nicht ohne die andern Städte handeln. Mit die- sen sei aber eine Zusammenkunft bis dahin nicht möglich gewesen; wollten die Polen deren Abgeordnete nach Kö- nigsberg geleiten, so würde man sich mit ihnen berathen und dann gute Antwort geben» Auf der andern Seite musste der Gemeine jede Unterstützung, besonders aber die des Landesherrn gegen den Rath, wünschenswerth sein. Wenn der Hochmeister sie noch nicht in ihrer Gesammtheit ge- wann, so kam dies daher, weil das demokratische Element in Königsberg noch nicht stark genug war. Indessen er ge- wann doch Einzelne, die sich ein Ansehen zu geben wuss- ten und für ihn das Woit führten.

mit Bezug auf die ständische Enttoickhing. 61

Man wurde es deutlich gewahr, als endlich für den Hochmeister ein freies Geleit vom Könige erwirkt war. Er hatte in einem besonderen Schreiben die einschränkende Bedingung hinzugefügt, das freie Geleit sei dem Hochmeister nur bewilligt, um den ewigen Frieden zu beschwören, und es fragte sich, ob der Hochmeister auch auf diese Bedingung hin von dem Geleitsbriefe Gebrauch machen solle. Er berief Ratb, Schöffen und Gemeine auf das Schloss und legte ihnen die Frage vor. Hier trat nun der Zwiespalt der Mei- nungen zuerst deutlich heraus, und mit solcher Hartnäckig- keit wurden sie verfocbteD, dass die Käthe der drei Städte beschlossen, ihre Meinung ohne Rücksicht auf die Andern auszusprechen. „Könnte jemand von der Gemeine einen bessern Rath linden, sollten sie selber ihre Meinung son- derlich antragen." Die Antwort der Räthe war: wisse der Hochmeister ein Mittel wenigstens das noch Gerettete zu erhalten 4 so möge er es anwenden, wo nicht, sich mit dem Könige vertragen. Als der Hauscomthur noch weiter in sie drang und sie fragte, ob es ihre Meinung wäre, dass s. f. G. dem Könige schwören sollte, antworteten sie, er habe, die Meinung wohl verstanden. Für die Fortsetzung des Krieges erhoben sich mehrere Stimmen in der Gemeine der Altstadt, einige auch in der Löbenichtschen Gemeine. Aber ihre Partei war noch zu schwach , als dass der Hochmeister sich gegen das Verlangen des Raths hätte setzen können. Als er sich auf den Weg nach Thprn machte, wo die wei- teren Verhandlungen mit Polen gepflogen werden sollten, trat' Gregor Eger, der auch später noch mehrmals unter den Volksführern genannt wird, aus der Menge derer her- vor, die gegen diese Unterhandlungen gestimmt hatten, und bat den Hochmeister um Sicherstellung gegen die Verfoi* gungen der Rathspartei für die Zeit seiner Abwesenheit, und der Hochmeister nahm sich dieser räudigen Schafe, wie der streng rathsherrlich gesinnte Chronist sie nennt, aus dem ich diese Data entnehme, mit Theilnahme an.

Ganz ähnliche Erscheinungen kehren in der nächsten Zeit mehrmals wieder. Das Bestreben der Regierung, sich

62 Em BKck in die äUere preusHsehe 6$$chidiie

durch die Gemeine gegen dieRäthe zu stärken, tritt iiminer deutlicher hervor; doch war die städtische Verfassuag noch nicht so weit aufgelöst, dass die Bäthe niofat noch einen bedeutenden Etnfluss auf die Gemeinen geübt hätten. Di^ zeigte sich besonders in der Abwesenheit des Hochmeisters, als die erste Abtheilung, etwa 2,500 Mann der lang erwar- teten Söldnerschaaren in Königsberg Quartier genommen hatten. Der damalige Regent, der Bischof von Samlandi hatte ^versprochen, dass sie nicht länger als drei Tage in der Stadt bleiben sollten, und doch dauerte es Wochen lang, ehe auch nur einzelne Haufen abgeschickt wurden. Hierüber beschwerten sich die Räthe. Ferner verlangten die Söldner einen Bund zur gemeinschafüichen Bewachung der Stadt und ausserhalb derselben für einen Mann zu stellen. Dies schlugen die Bäthe aus. Obwohl die Gemeinen, die schon einmal in dieser Sache auf das Schloss entboten waren, und zwar „Nachbar bei Nachbar ^^ sich ebenso eiilärt hatten, so Hess sich xler Btsdiof doch vernehmen, „die Gemeine wäre gutwillig und erfreut der Knechte, allein die Aeliesten die riethen der Gemeine ab,^' und der Herr von Hindeck fügte hinzu: „Was dürften wir (der Ratb) viel sagen? er wüsste der Gemeine Gemüth sehr wohl; es wär^ ihre Meinung nichi, als wir's vorbrächten*, die Gemeine wäre es erfreut, dass ihnen die Knechte zu Trost gekommen wären/' Kurz die Räthe wurden entlassen mit der W^sung, die Gemeinen auf das Schloss zu entbieten. Diese erschie- nen und der Bischof mit den Seinen führten sie, faeisst es in der Rathschronik, „mit bequemen Worten darein, dass sie vermeinten,* den gemeinen Mann wider den Bath Zwie- tracht^ zu machen/' Dies gelang Ihnen aber nicht so voll- ständig, als sie wünschten. Die Gemeinen wandten sieb vielmehr gerade an die gekränkten Räihe und nach neuen Berathungen wurde dann nur in die gemeinsame Bewacirang der Mauern durch Bürger und Knedite gewilligt.

Die Unterhandlungen zu Thorn brachten dem Hoch* meister wenigstens den Vortheil, dass das Land während dieser Zeit von den Polen mit mehr Schonung behandelt

mii Beemg auf die ttänd/Uehe Bniwiekbing. 68

wurde, und dass er, als dieselben zur Ausgleichung nichi Ahrten, den Krieg mit neuen Kräften wieder eröAnen konnte. Obwohl er bei seiner Rückkehr nach Königsberg erist jene eine Abtheilung von 2,500 Mann fand, so konnte er doch einer besseren Zukunft entgegen sehen. Seine Boflfaongen schienen nun doch gerechtfertigt zu werden. Er erneute den Krieg ohne Bedenken und die Rfithe von Königsberg konnten sich nun theils wegen ihrer früheren Aeusserungen, theils weil 'der Hochmeister über eine s<^ohe Macht gebot, nicht mehr entgegensetzen. In der That erfocht dieser einzelne BrfoJge. Von der Seeseite her auch die erste Abtheilung war aus Dänemark übergesetzt worden langten noch 2,000 Mann über Memel und 700 Mann über Pülau an imd za Lande näherte' sich von den Marken her eine Schaar von 14,000 Söldnerp. Dass nun aber doch kein entscheidender Schlag ausgeführt werden konnte, lag theüs in dem Mangel an Geschütz, .besonders bei dem grossen Heere, theils in der Planlosigkeit der Unternehmungen, vor- züglich aber in dem Mangel an Gelde.

Wie der Hochmeister dem letztem durch Verschlech» tenmg der Münze abzuhelfen suchte, ist in Büchern aller Art, die auf die Preussische Geschichte Bezug haben, bis zum Ueberdruss wiederholt und ausgeführt worden. Ich beschränke mich hier auf dasjenige, was einen Blick in die ständischen Yeriiätnisse überhaupt und in die Verhältnisse Kdnigsbergs im Besondem verstattet.

Die Leistungen, zu denen Königsberg in der ersten Zeit des Krieges angezogen war, blieben auch jetzt nicht aus. Nun machte der Hochmeister aber noch wiederholentlioh Geldforderungen; als die erste grosse Schaar der Süldner in Königsberg lag, verlangte er von der Stadt eine Anleihe von 12,000 Hark zu deren Besoldung, und später zur Be- sokking der zweiten von der Altstadt allein 4,000. Diese Summen konnten nur zu einem kleinen Theile zusammen^ f^ehraefat werden. Ein Landtag wurde in der ganzen Zeit des Krieges nicht berufen , doch verlangte der Hochmeister vmi Kteigsberg aOein die Bewillignng einer Steuer. Er war

64 Ein Blick in die ältete preussische Geschichte

gerade auf einem Zuge gegen Heilsberg abwesend und iiess daher den Antrag durch seinen Bruder, Harkgraf Wilhelm, machen, der als stellvertretender Regent zurückgeblieben war» Diesem widersetzte sich die Stadt mit solcher Ent- schlossenheit, dass er die Sache bis zur ZurÜckkunft des Hochmeisters selbst liegen lassen musste. Der Hochmeister kam und erneuerte den Antrag auf eine Vermögens- Steuer von zwei Prozent, welchen, seiner Instruktion gemäss, schon Markgraf Wilhelm gemacht hatte. * Nun ging die Stadt auPs Neue zu Rathe. Aus dem Gange der fierathungen sehen wir, dass die Gemeinen nicht übergangen wurden. „Sind die ganze Gemeine/' heisst es in unserer Chronik, „mit sammt dem Rathe jede in ihre Stadt entwichen, und ein Gutdünken bei sich beschlossen. Darnach Nachmittag um Ein Uhr an die Schöffenmeister alier dreier Städte getragen, welche fortan in der Aeltesten Gegenwärtigkeit an die Räthe gebracht und mit den Räthen beschlossen, an s. 1 G. zu tragen/' Die Antwort war diese: man könne in solche Be- schwerung hinter Landen und Städten nicht willigen, man bitte daher gar demüthig undfleissig, der Hochmeister möge die andern Städte und den Adel zu einem Landtage berufen. E ist derselbe Vorwand, von dessen Anwendung ich oben schon ein Beispiel anführte. Damals hatte der Hochmeister seine Forderung vielleicht fallen lassen, jetzt an der Spitze der Söldner glaubte er auf diesen Widerspruch weniger Gewicht legen zu dürfen. Auch vergass er seiner Verbin- dung mit den Gemeinen nicht: „er könne wohl abnehmen,'' entgegnete er, „dass diese Sperrung allein bei dem Rathe hinge, und nicht bei der Gemeine, nachdem es den Armen so gross nicht beschwerte; darum bäte er noch, sie wollten es bas bedenken und geben eine bessere Antwort." In der That scheint die Gemeine den Wünschen . des. Hochmeisters nicht bedeutende Hindernisse in den Weg gelegt zu haben, aber d^r Rath gab nur zögernd nach. Man bot zuerst ein Prozent an und musste dann doch die verlangten zwei Pro- zent der Vermögenssteuer bewilligen. Als der Rath dann am Ende die städtischen ausstehenden Gelder und liegenden

mii Be%ug auf die ständische EntwiMung. 65

Gründe von dieser Besteuerung befreit wissen wollte, gab es noch so viel Rede und Widerrede, „dass s. G. auch in grossem Zorne sprach: die Gemeine gutwillig in diesen Zu- sagen gewesen, und von allen liegenden Gründen die Schätzung zu geben bewilligt; nun könnte er verstehen, der Rath sich dawidersetzte und solches zu geben widerte. Was die Räthe sich, fügt unser Chronist hinzu, ihrer grossen Armuth und Ausgaben beklagten, mocht nichts helfen; und schieden in grossen Ungnaden von u. g. H."

Was Königsberg bewilligt hatte, wurde ohne Zweifel auch von den kleinen Städten gefordert, sofern sie sich noch vor dem Feinde gehalten hatten und überhaupt zahlen konnten. Das flache Land war durch Raub und Brand so. fürchterlich verheeret, dass eine Steuerauflage nur dem noch geretteten Samlande zugemuthet werden konnte. Der Hoch- meister versammelte den Adel dieser Provinz bald darauf in Grünhoff und verlangte eine sehr bedeutende Abgabe in Naturalien, die aber nicht dem Adel selbst, der dafür viel- mehr von einer schon beschlossenen Unternehmung ent- bunden wurde, sondern seinen Hintersassen zur Last fiel Die Schulzen und Krüger sollten eine halbe Last, die Bauern drei Scheffel Getreide aller Art einliefern; nur wer des Ver- mögens nicht sei, sollte davon befreit bleiben. Der Adel sagte zu.

Fasst man die Unterhandlungen mit Königsberg über die Vermögensteuer und die zu Grünhoff über die Natural- lieferungen zusammen, so könnte man sagen, sie hätten die Stelle eines Landtages vertreten. Diese Theilung der Land- tagsgeschäfle war vielleicht nur zufallig und durch den Drang der Umstände geboten, vielleicht absichtlich und poUtisch berechnet, um die noch keines weges aufgehobene Verbin- dung des Adels und der Städte > denn der Adel hatte es zu schwer gefühlt, in welche Falle er gegangen sei un- schädlich zu machen. War diese Verbindung der frühern Gewohnheit und Geschichte gemäss, so traten dagegen die untern noch kaum selbstständig vertretenen Klassen in ein sehr eigen thümhches, merkwürdiges Verhältniss: man hätte

Allg. ZütMhrift r. 6«M]iiebU. T. 1816. 5

66 Ein BHck in die ältere preusHsche Geschichte

glauben sollen, ihre Interessen müssten ziemlich dieselben sein, aber nein, sie standen einander gerade gegenüber. Man kann leicht denken, welche Unzufriedenheit, welche Klagen die neue Auflage unter den Bauern veranlasste, da* gegen waren die Gemeinen der Stadt, wie wir sahen, den Forderungen des Herzogs eher förderlich als hinderlich. Ich denke man erkennt darin ziemlich deutlich ein nur durch vorübergehende Gombinationen hervorgerufenes, an sich un- natürliches Verhältniss, das noch seiner Lösung wartete. Diese Lösung führte der bekannte Bauernaufstand von 1525 herbei. Damals war es schon so weit gekommen, dass sich in den Gemeinen starke Sympathien mit den Wünschen der Bauern gegen die Aristokratie überhaupt zeigten, und seit- dem war die Begierung bemüht, die Bewegung, die sie in ihrem Entstehen selbst gefördert hatte, in ihre Schranken zurückzuweisen. Wie es dahin kam, wird der Verfolg zeigen.

Noch hatten die Reibungen zwischen den Räthen und Gemeinen zu keinem eigentlichen Bruch geführt. Sie hatten bisher sich doch noch verständigen, und bei Berathungen einigen können. Aber der Einfluss, den die Gemeinen auf diese Berathungen gewannen, musste immer bedenklicher werden, znmai in einer Zeit, in welcher es den Räthen auch aus andern Gründen schwer wurde, ihre Autorität, wie sie es wünschten, geltend zu machen.

Wir müssen auf die Söldner zurückkommen , deren lang dauernder Aufenthalt in Königsberg in dieser Rücksicht von hoher Bedeutung ist; nicht als ob ihre Hülfe unmittelbar den Bestrebungen der Gemeinen zu Gute gekommen wäre; auch könnte man darauf kein Gewicht legen, dass die reicheren und vornehmeren Familien in dieser Zeit sehr empfindliche Einbussen erlitten , viele von den Handwerkern dagegen an- sehnlichen Gewinn zogen: denn die Klagen über die An- maassung und Raubsucht der Söldner waren, wie im Lande überhaupt, so auch in der Hauptstadt ziemlich" allgemein: aber die Unordnungen und Verwirrungen, welche diese Fremden überall anrichteten und welche den Hochmeister selbst in die ärgsten Verlegenheiten brachten, versetzten

mii Besiug auf die ständische Entwicklung. 67

vonUglich in Königsberg dem Gesetz und dem Herkommen die empfindiiehsten Stösse. In dieser Zeit, in welcher, wie die Chronik sagt, alle Rechte damiederlagen, und Gewalt regierte, fanden die Räthe auch da nicht so unbedingten Gehorsam, wo er sonst nicht verweigert wäre. Die Frech- heit der Söldner blieb natürlich nicht ohne Nachahmung^ zumal da auch von den Königsbergern selbst und zwar aas der Mitte der Handwerker oft mehrere Hunderte zu Kriegs* untemehmungen aufgeboten wurden. Wenn diese Hand- werker, die Waffen in der Hand, vielleicht vereint mit einem Söldnerhaufen in die Stadt zurückkehrten, hätte man da erwarten dürfen, dass sie ihre Werkstätten aufsuchen würden, während die Söldner nun der Beute nachgingen, die sie im Felde nicht hatten gewinnen können?

Noch ein anderer Grund kam hinzu, wodurch die Au- torität der Räthe geschwächt wurde, nämlich dieser, dass die drei Räthe der Stadt untereinander nicht immer einig blieben, und dass die drei Gemeinen in nähere Verbindung traten. Besonders zwischen der Altstadt und dem Kneip- hofe gab es immer Veranlassung zum Hader, und wäre es auch nur die Erhöhung eines Thurmes, oder die Ausbesse- rung des Bollwerks gewesen; ein Prozess wegen des Baues der neuen Brücke über den linken Arm des Pregels, durch welchen die Altstadt dem Kneiphof grosse Vortheile zu ent- ziehen drohte, dauerte schon lange Jahre. So auch jetat. Als über die Aufnahme und Vertheilung des ersten Söldner- haufens in den Städten gerathschlagt wurde, hatte der Kneip- hof, während die Altstadt und der Löbenicht sich fügsam zeigten, nur 300 Mann aufnehmen wollen. Diese Aniahl war aber ganz unverhältnissmässig, da die Leistungen der drei Städte in dieser Zeit gewöhnlich so vertheilt wurden, dass die Altstadt so viel als die beiden andern zusammen- genommen und der Kneiphof doppelt so viel als der Löbe- nicht auf sich nehmen musste. Ob der Kneiphof darauf be- stand und ob er es durchsetzte, ist zwar nicht bekannt, aber schon durch die Forderung war Ursache zu Aergerniss gegeben. Als die Söldner und der ärmere Tfaeil der

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68 Em BHck in die altere preussUche Ge$chichte

Bürger sich beklagten, „dass die Fleischer ihr Fleisch nach ihrem Willen verkauften und die Räthe da kein Einsehen hätten", und der Hochmeister gewisse Maassregeln zur Be- schränkung jener Willkür anbefahl, stimmte ihm der Rath vom Eneiphof bei, aber die beiden andern Räthe setzten sich dagegen und da sich die Gemeinen, in denen doch jene Armen keines weges die entscheidende Stimme hatten, für diese letzteren erklärten, so musste es beim Alten bleiben. Sehr beleidigend war das Verhalten des Kneip- höfschen Rathes auch in folgendem Falle. Da die in Na- tangen und Ermeland postirten Söldner oft ohne Erlaubniss von ihren Posten nach Königsberg zurückkamen, und der Hochmeister den Befehl gegeben hatte, diese nicht einzu- lassen , so mussten die Thore des Kneiphofs besetzt werden. Zu dieser Wache stellten auch die Altstädter und Löbenichter eine Zeit lang einige Bürger. Der Nutzen war aber gering, da die Söldner, wenn sie sich in grösserer Anzahl zusam- menfanden, auch wohl mit Gewalt eindrangen. Den Alt- städtern wurde es endlich lästig, ihre Bürger zu dieser Wache herzugeben und sie beschickten deshalb den kneip- höfischen Rath. Dieser klagte beim Hochmeister. „Was wir gütlich bei ihnen suchten", sagt der Chronist, „wandten sie in einen Hader und Klage, wie sie allezeit vor und nach g»than haben". Es wurde jedoch von der Regierung erkannt, die Altstädter seien zu jenem Dienste nicht verpflichtet.

Allerdings hätten diese Reibungen unter den Räthen unter anderen Umständen weiter keine Wirkungen gehabt. Aber in dieser unruhigen Zeit konnten sie der ohnehin sinkenden Autorität nur nachtheilig sein. Auf die Verbin- dung der Gemeinen, von der ich sprach, wurde in jener Zeit eigentlich erst hingedeutet; indess die Maassrege], in welcher diese Hindeutung lag, regte doch einen Gedanken an, der schon nach wenigen Jahren zu einer förmlichen Berathung über die vollkommene Vereinigung der drei Städte führte und dieses Resultat unfehlbar herbeigeführt haben würde, wenn die Gemeinen die Gewalt, welche sie wirklich erreichten, hätten behaupten können. Und diese

mit Beswg auf die ständische Enitoickbing. 89

Maassregel wurde noch nicht einmal vollständig ausgefübrt Die Söldner und in ihrem Namen der Regent verlangten nämlich, dass die Thore zwischen den drei Städten gebflFnet bleiben sollten;' die Räthe erboten sich nur dazu, dafür zu sorgen, dass die Thore, wenn es nöthig sei, auch in der Nacht schnell geöflhet werden könnten. Mehr erlangte der Regent auch von den Gemeinen vorerst nicht; doch lässt sich annehmen, dass die Thore zwischen den Städten den Söldnern kein grösseres Hindemiss entgegensetzten, als die äusseren.

Ich habe mich bei der Entwickelung dieser Verhältnisse, wie sie im Jahre 1520 allmählig hervortraten, so lange auf- gehalten, weil sie die Basis aller folgenden Ereignisse bil- deten. Es bedurfte nur noch eines Funkens der die zünd- baren Stoffe in Flammen setzte. Und dieser Funke fiel bald.

Bei der damaligen Verfassung der Handwerks-Innungen war es etwas ganz gewöhnliches, dass man, um der Theu* rung abzuhelfen, oder ihr zuvorzukommen, die Preise «für allerlei Waaren und Arbeiten festsetzte. Man musste diese „Satzung und Ordnung '', wie man es nannte, häufig ein- schärfen oder erneuern, da sie sehr leicht übertreten wur- den und in Vergessenheit geriethen. Es war während des polnischen Krieges einige Mal und ohne Widerrede der Ge- werke geschehen; denn dass sich die Fleischer einmal, wie ich berührte, widersetzten, hatte seine besonderen Gründe. Eine solche Ordnung sollte auch im Anfange des Jahres 1521 gemacht werden; da man sich diesmal in den Städten nicht einigen konnte, stellte man die Sache den Regenten denn der Hochmeister war wieder abwesend anheim. In Folge dessen wurden einige von den Regenten und deren Räthen, einige vom Add und einige \otk den Städten ge- wählt, die jedesmal die Aeltesten des Gewerkes, Über dessen Waaren sie verhandelten, zuziehen sollten. So kam nun wohl nach vieler Mühe und Arbeit eine Satzung zu Stande, „aber es wurde wenig oder gar nichts davon gehalten, aus einer geringen Ursache, welche Ursache den drei Städten und dem ganzen Lande einen merklichen, unvermeidlichen

70 Em BHok in die ältere preussisehe GeschicMe

Schaden zugebracht ^^ Der Bischof hatte nämlich befohlen, dass in dieser Satzung nicht vergessen bliebe das Unter- brechen der Kleidung der Frauen und der Handwerker. Dieser Kleiderluxus, der im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert wie in allen Handeisstädten so auch in Königs- berg in der That einen ausserordentlichen Grad erreichte, wurde aligemein als ein Hauptgrund der Theuerung* ange- sehen. Die Gommission fand den Befehl durchaus zweck- mässig und so fand sich denn in der Ordnung auch der Artikel, dass kein Handwerker Marder tragen sollte, „weder unter dem Rock noch am Barrett gefüttert^^ Zugleich wurde, was uns ebenso unbedeutend erscheint, verboten, Schweine in der Stadt zu halten: es sollte nur in den Ställen und Speichern vor der Stadt erlaubt sein.

Die Folgen dieser Verordnungen mögen Freibergs Worte schildern: „diese beiden Artikel,'^ sagt er, „brachten dem gemeinen Manne so grossen Verdruss, dass in nächstfolgen- den Jahren bei ihnen nicht könnt in Vergessenheit gebracht werden. Auch von der Zeit an hub sich die Zwietracht und Aufruhr von der Gemeine auf den Rath, dass in den andern Jahren nachfolgend genug zu thun war, und sind nirgend anders, denn aus einem bösen unbedächtigen Rath der Regenten hergeflossen. Aus diesem Widerwillen der Gemeine begannen etliche von der Gemeine mit der Ober- herrschaft und etlichen von den Regenten heimlich zu rath- schlagen wider die Räthe, dass alles, was die Räthe den Städten zum Besten berathschlagten , für gut ansahen und beschlossen, taugt nicht, wollte bei ihnen nicht gelten und viel weniger gehalten werden. Wie oft man sich bei den Regenten beklagte, war nichts ausgerichtet, allein in allen Stücken hatten die Räthe bei den Regenten als bei der Ge- meine Unrecht und lag aller bürgerlicher Gehorsam nieder." *) Die Gemeine hatte den Rath in Verdacht, jene Verordnun- gen ausgewirkt zu haben, und es liegt am Tage, dass die vornehmen Herren ihre Freude über dieselben zu verbergen

*) Freiberg fol 365 ff.

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nicht eben bemüht gewesen sein werden; daher richtete sich der Unwille nicht, wie man hätte erwarten sollen, gegen die Regierung, sondern gegen den Rath. Allein die Wirkungen desselben konnten fUr's Erste, so lange der Adel und die Stadträthe eine feste Vereinigung bildeten, noch nicht her- vortreten. Untersuchen wir also zunächst die Ursachen, welche diese Vereinigung schwächten.

Während des Krieges und auch in den ersten Zeiten nach dem Abschluss des vierjährigen Waffenstillstandes mit Polen (5ten April 1521), den der Kaiser und der König von Ungarn bei der Erschöpfung der beiden den Krieg führen* den Theile vermittelten, war an diese Trennung nicht zu denken. Vielmehr suchte der Adel nach demselben er fürchtete vielleicht die Rache des Herzogs die Vereinigung mit den Städten noch näher zu knüpfen. Der Hochmeister berief auf Himmelfahrt 1521 einen Landtag nach Königsberg,*) nicht sowohl um die Klagen der Stände zu vernehmen und zu beseitigen, als vielmehr um ihre fernere Hülfe in Anspruch zu nehmen. Er sprach die Hoffnung aus, dass der Kaiser, der sich jetzt sehr für die Sache des Ordens interessire, demselben das Verlorene wieder zusprechen und Ersatz des Schadens erwirken werde. Er selbst werde, um darauf hin-* zuarbeiten, eine Reise nach Deutschland unternehmen. Er ermahnte sie deshalb, während seiner Abwesenheit in kei- nerlei Verbindung einzugehen, ihm zu 100 Rossen und 100 Trabanten einen Schoss zu geben, damit er nach Standes Gebühr auftreten könne, und den Regenten, die er ans dem weltlichen Stande wählen werde, zu gehorsamen. Aber die glatten Worte des Hochmeisters verfehlten ihre Wirkung. Der Bürgermeister aus dem Kneiphofe Martin Roseler ant- wortete ihm im Namen des Adels und der Städte: die Sprüche des Kaisers hätten schon grosse Summen verschlun- gen, aber nicht den geringsten Vortheil gebracht. Die Ver- bindung des Adels und der Städte sei „von Anbeginn in

*) Ueber denselben findet sich nur bei Grünau S. 1611 ff. einige Nachricht.

72 Em BHck in die ältere preussisehe Geschichte

Gebrauch gewesen ''; sie sei nicht gegen ihren Herrn, son dem gegen seine Ungerechtigkeit gerichtet, auch hätten die Städte jetzt, da der Adel die unbegreiflicher Weise gebro- chene Einigkeit mit den Städten herzustellen suche, keine neue oder ungewöhnliche Zusagen gemacht. Den Schoss könnten sie nicht bewilligen: denn sie seien durch die frü- heren Abgaben und noch mehr durch die böse Münze zu sehr heruntergekommen. Weltliche Regenten wollten sie nicht: denn sie seien Geschworne des Ordens und würden nur dem Orden gehorsam sein. Als er geendet hatte, fragte er die Landschaft und die Städte, ob das, was er gesprochen, ihr Befehl gewesen wäre. Sie schrieen: ja, ja. Es ist noch viel zu wenig geredet.

Das einzige Resultat dieses Landtages war, dass der Hochmeister den Städten Königsberg das Privilegium gab, unter seinem Namen und Wappen zehn Jahre läng zu mün« zen nach dem Schrot und Korn der Münze, wie sie vor dein Kriege geschlagen sei. Dies Privilegium brachte den Königs- bergern kbinen grossen Vortheil, entledigte aber den Hoch* meister einer schweren Sorge; und da der Rath der Alt- Stadt, der die neuen Münzen schlagen Hess, nun eben so sehr wie vorhin der Hochmeister, eigennützige Interessen verfolgte, so gab es eine neue Veranlassung zu Unzufrieden'^ heit und Hader zwischen Rath und Gemeine.

Nach der Ertheilung dieses Privilegiums entliess Albrecbt den Landtag, um sich auf ihr Wort weiter zu bedenken und sie darnach zu unterweisen.

Eine noch entschiedenere Sprache führten die in ihrer Vereinigung starken Stände auf dem Landtage zu Bartenstein, der auf Bartholomäi desselben Jahres berufen wurde.*) Die Anträge des Hochmeisters, welche Heinrich von Heideck vor- legte, waren zum Theil dieselben, wie vorher. Man hörte da wieder von der Reise nach Deutschland, die der Hoch- meister zum Besten des Landes unternehmen wolle, von der Steuer, ohne welche jene nicht möglich sei, und von dem

*) Uauptqueile: Grünau S. 1621.

mU Bemg auf die »tänditcke Entteiekbing. 73

Gehorsam, den man den zurttckgelassenen Regenten leisten solle. Ausserdem aber forderte der Fürst von den Ständen freies Geleit für Dittrich von Schönberg, dem man die Schuld gab, den Krieg veranlasst zu haben, damit er von Lochstädt nach Bartenstein kommen tmd sich verantworten könne.

„Aber die Landschaft hatte sich bei Treue und Ehre verbunden, keine Ungerechtigkeit zu leiden, sollte man sie auch alle erwürgen.^' Die vom Hochmeister beabsichtigte Reise wurde auch jetzt fär unnütz erklärt, die Steuer ver- sagt, eine fürstliche Regentschaft energisch zurückgewiesen: „Denn die fürstlichen Regenten,^^ sagten sie, „haben uns geschunden, und sie haben es mit allerlei Dieben, Mördern, Räubern und Verräthern gehalten, uns aber alle Gerech« tigkeit versagt." Das Geleit für Dittrich .von Schönberg verweigerten sie, doch wären sie zufrieden, wenn er vor sie kommen, auf Klage Antwort geben, und „vom Ueberzeu- gen Recht leiden" sollte. Diese Geleitsverweigerung war ohne Zweifel der kühnste Schritt, den die Stände wagten, aber es gab kein anderes Mittel sich jener landverderben- den Günstlinge zu erwehren. Heideck drohte, der Hoch* meister werde den Angeschuldigten ihnen zum Spott gelei- ten. Die Stände antworteten > „so ihn f. G. uns zum Spott geleitet, da mögen wir nicht wider, sondern wo wir ihn er- greifen, wollen wir ihn erbauen (?), obgleich drei Fürsten über ihm ständen." Eine schriftliche Rechtfertigung Schön- bergs wurde kaum beachtet.

Diese Haltung der Stände hatte den Erfolg, dass der Hochmeister seinen Bruder, Markgraf Wilhelm, den er vier Jahre in Königsberg in fürstlichem Glänze gehalten hatte, und von dem man sagte, er solle nach seinem Tode Hoch- meister werden, mit Dittrich von Sehönberg heimlich aus dem Lände schickte. Markgraf Wilhelm war, wie es scheint, zum Regenten für die Zeit der Abwesenheit des Hochmei- sters bestimmt, wie er ihn schon vorher hin und wieder vertreten hatte. Man halte ihm nichts Besonderes vorzu- werfen, vielmehr war er ausdrücklich ausgenommen wor- den, als den weltlichen Räthen nach jeuer ersten Verbin-

74 Ein BUek in die aUere preussisohe QescMekie

düng des Adels mit den Städten, von Augustin Bartein das Verderben des Landes zur Last gelegt wurde; aber sein Aufenthalt in Preussen fiel dem so erschöpften Lande schwer, und, was wohl den Ausschlag gab, man konnte nichts an- deres erwarten, als dass er, schon aus eigenem Interesse, des Hochmeisters schon so lange verfolgte Pläne nicht aus dem Auge verlieren, und die verhassten Räthe beibehalten •werde. Vom Orden, dem Albrechts Regierung selber zur Last fiel, war das nicht zu befürchten, daher suchte man dem Ordens-Kapitel das Regiment zu erhalten, und als der Hochmeister seine Reise antrat, überwies er die Leitung desselben, diesem Wunsche ganz entsprechend, dem Bischof von Samland.

Den Klagea der Stände, besonders über die Münze und über die Fortdauer der Feindseligkeiten zwischen Polen und Preussen und die Unsicherheit der Landstrassen, konnte nicht abgeholfen werden. Der Werth der in Kriegszeiten geschlagenen Münze, den Albrecht bei der Ertheilung des Münzrechts an Königsberg auf den dritten Thcil herabgesetzt hatte, musste noch bedeutend verringert werden, und eben dadurch geriethen viele in immer grössere Armuth. Der Handel nach dem Auslande und im Binnenlande lag darnie- der. Die Polen, ^ die während des WafiTenstillstandes einen Theil des Landes noch besetzt hielten, schalteten rücksichts- los über die Fischereien und über die lang geschonten Wal- dungen und führten die tüchtigsten Bauern fort auf ihre Gü- ter. Die Vergeltung, die der Hochmeister in Braunsberg und einigen anderen Orten üben konnte , war sehr ungleich.

Diese tro&t- und hoffnungslose Lage des Landes begün- stigte nun vielleicht doch die Wünsche des Hochmeisters. Er liess durch den Grosskomthur und einige andere Gebie- tiger einzelne vom Adel und aus den Städten auf die Seite' nehmen und ihnen vorstellen, dass man doch endlich denn schon sei fast ein Jahr des WaffenstiUstandes verflos- sen — an den Abschluss des Friedens denken müsse; man müsse bei den für denselben bestimmten Vermittlern solli- eitiren; man habe vprher durch Gesandte unterhandelt, aber

mit Be%ug auf dU ständische Enitricklung. 75

nichts erreicht.; von des Hochmeisters eigenen Bemühungen habe man mehr 2U erwarten. Diese Vorstellungen waren nicht ganz fruchtlos; von einem Theiie der Versammelten wenigstens wurde der Hochmeister aufgefordert, sich den Beschwerden der Reise selbst zu unterziehen/)

Auf ein . solches Gesuch konnte sich der Hochmeister nun schon berufen, wenn er die Stände von neuem um die zur Reise nothwendige Unterstützung anging. Es war dies ein grosser Gewinn für ihn : denn eben deshalb bekam nun auch die Parteiung zwischen den Räthen und Gemeinen grössere Bedeutung für den Landtag. Nicht ohne Grund wurde also der nächste Landtag, der auf Fabiani und Seba- stiani 1522 gehalten werden sollte, vneder nach Königsberg verlegt.**)

Der Hochmeister verlangte diesmal sehr viel, angeblich auch deshalb, weil er kaiserlichem Befehle gemäss an dem bevorstehenden Türkenkriege Theil nehmen , und so dem Kaiser und Preussen dienen müsse. Fassen wir kurz zu- sammen, was ihm dazu verhalf, so war es nicht eigentlich wie früher energische Unterstützung des einen der beiden Stände, sondern der Einfluss der partikulären Interessen, die in beiden durch Einwirkung auf einzelne rege gemacht wurden. In einer Zeit der Verwirrung, wie die damalige, in der alles aus den Fugen gewichen war, konnte ein sol- ches Mittel mit Erfolg angewandt werden.

Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass der Hochmei- ster, wenn er nicht durch entschiedene Zuneigung des einen Standes auf den andern einwirken konnte, wie vorhin durch den Adel auf die Städte, lieber mit jedem einzeln unterhan- delte, als mit beiden zugleich. Wollte er sie aber ausein- ander halten, so musste er es vermeiden, eine solche Steuer vorzuschlagen, die von beiden zugleich bewilligt werden musste, wie etwa die Bierzeise, und die Auflage vielmehr

*) Collect, des Camerarlus fol. 114 116. Beler fol. 60. 73. **) Hauptstellen: Grünau S. 1633 und Beler fol. 73.

76 Ein Blick m die ältere pretissische Geschichte

so iheilen, dass jeder der Stände auf eine besondere Weise angezogen wurde. Man verfuhr wie 1514 und 1520.

Es war schon früher nicht selten vorgekommen, dass der Adel statt seine persönlichen Dienste zu leisten Geld gab. lieber ein solches Dienstgeld unterhandelte der Hoch- meister auch jetzt mit ihm. Er wandte sich zuerst aa die- jenigen unter dem höheren Adel, die er vorher als Verrä- thor bezeichnet hatte und die nun, um sich wieder einen gnädigen Herrn zu machen, ganz und gar für seine Meinung stimmten; durch diese wurde der übrige Adel mitgezogen. Er bewilligte ein Dienstgeld von anderthalb Mark auf zwei Jahre*) nicht nur für sich, sondern, auch für die Freien, Schulzen und Krüger, für den Bauer eine halbe Mark; doch sollte von den verarmten Bauern auf Natangen nur ein Vierdung gefordert werden Die Krüger wurden der Mahl- steuer, von der sogleich, mitunterworfen.

Mehr als vom Adel, wurde von den Städten verlangt Sie glaubten zuerst mit einer Mühlensteuer, einem Schilling vom Scheffel abzukommen, aber dies war dem Hochmeister viel zu wenig. Dann fügten sie noch eine Salzsteuer, eine halbe Mark von der Last, und eine Verkaufssteuer, einen Schilling von der Mark auf ein Jahr und mit der ausdrück- lichen Einschränkung hinzu, dass die fremden Kaufleute von der letztern unbeschwert bleiben und die in Königsberg aufgestapelten Güter nur dann verschosst werden sollten, wenn sie wirklich zum Verkauf kämen. Auch dies genügte dem Hochmeister nicht. Er verlangte nicht nur einen hö- hern Betrag, sondern wollte denselben auch so lange zie- hen, als er es für nöthig halten würde. Obgleich nun die Käthe in nichts weiter willigten, so erreichte der Hochmei- ster dennoch seinen Zweck.

Denn schon hatte er für diesen Fall seine Maassregeln getroffen. Die Bürger der Hauptstadt waren durch einen Graumönch bearbeitet, der in seinen Predigten die Bewilli- gung der Auflage empfahl: sie sei gottgefälliger als Almo-

•) Beler fol. 97.

mit Bezug auf die ständi$che Entwicklung. 77

sen. Den gewaodien Bürgermeister vom Kneiphof Martin Boseler, der den Städten manchen Dienst geleistet und dem Hochmeister manches' Hinderniss in den Weg gelegt hatte, entfremdeten ehrenvolle und vortheilhafte Anträge dem Inter- esse der Bürger. Er wurde Rath des Hochmeisters und er- hielt, da er arm und verschuldet war, das Privilegium, dass ihn niemand Schulden halber mahnen dürfe.

Was aber die Hauptsache war, die ganze Masse der Handwerker erklärte sich für den Hochmeister. Sie hatten Anfangs die Miene angenommen, als seien sie zu arm, um die Steuer bewilligen zu können, wie sie ja bereits alle kostbare Kleidung und allen Sehmuck abgelegt hätten. Der Hochmeister verstand sehr wohl, was sie sagen wollten. Er wird es an Versprechungen nicht haben fehlen lassen. Die Handwerker aller drei Städte hielten gemeinschaftlich eine Zusammenkunft, stellten ihre Beschwerden gegen den Rath in eine Supplication zusammen, erhielten die erwünschte Antwort und waren nun die eifrigsten Anhänger des Hoch- meisters. Als die Kaufleute, welche die erhöheten Forde- rungen des Hochmeisters besonders zu fürchten hatten, und die daher durch keine Vorspiegelungen vom Rathe gelrennt werden konnten, die Handwerker wenigstens dahin zu ar- beiten aufforderten, dass die Dauer der Auflage festgesetzt würde, erwiederten diese: man habe sie 15 Jahre nicht hö- ren wollen, so möge es auch jetzt so bleiben.

Im Einverständniss mit den Gewerken, mit denen wohl die Gemeinen überhaupt ziemlich übereinstimmten, nahm der Hochmeister, der überdies die Einwilligung der kleinen Städte erhalten zu haben glaubte, auf den Widerspruch der Räthe, Kaufleute und Mälzenbräuer in der Hauptstadt, die allein noch zusammenhielten, keine Rücksicht. Er durfte es sogar wagen, seine Forderungen in Form eines Mandats durch Anschlag an die Kirchenthüren anzukündigen.

Da fanden sich nun vor cillen die Kaufleute sehr ge- drückt: die bewilligte Verkaufssteuer war in eine viel um- fassendere Handelssteuer verwandelt: alle Waaren, die von der Land- oder Seeseite eingeführt, oder durch das Land

78 Em BHek in die ätiere preussische Oeichickte

geführt werden, sollen mit [einem Schilling von der Mark versteuert werden, und nur die aus Hasovien, Litthauen und Samaiten zugefllhrten Lebensmittel von dieser Steuer frei sein. Die Salzsteuer, die von den Räthen nur auf den Verbrauch bezogen war, wurde auf den Handel ausgedehnt: für jede Tonne Salz, die von Königsberg nach dem Aus- lande geführt wird, sollen zwei Schilling genommen werden« Nur die Mahlsteuer blieb unverändert. Es kann aber aus- serdem noch ein neuer Zoll hinzu, der bei Königsberg von allen Schiffern, gleichviel ob sie den Pregel hinauf oder hinabführen, gezahlt werden sollte, und zwar nach der Grösse der Schiffe, von der Last zwei Schilling.

Der Schild, welcher dieses ungewöhnliche Mandat deckte, waren die Verordnungen, welche die Supplication der Hand- werker hervorrief. Das Verbot Marder zu tragen, welches sie so empfindlich verletzt hatte, wurde auf ein Jahr aufge- hoben, sie erhielten die Erlaubniss zum Kaufschlagen „neben gemeinem Kaufmann, <^ nur sollten sie den gemeinen armen Mann nicht übersetzen. Die schlechte Münze des altstädt- schen Rathes, die Pflaumengroschen, wie man sie nach dem Bürgermeister Pflaum nannte, die wohl nicht allein von dem gemeinen Pöbel, wie Freiberg sagt, geschmäht wurde, denn der Hochmeister hatte durch dasselbe Versprechen die Kauf- leute zu gewinnen gesucht *) sollte in einem gewissen Zeitraum bei Strafe von 1000 rheinischen Gulden wieder ein- gewechselt und umgeprägt werden. Endlich hatten die Ge- werke Theilnahme an den Berathungen verlangt, wenn etwas zum gemeinen Besten beschlossen würde, und das Mandat besagte: „es sollen hinfort zwei aus der Gemeine der Werke in einer jeden Stadt, so sich dem gemeinen Nutzen zum Besten hinfort etwas begeben würde, also dass neue Aufsatzung oder anderes vorfallen würde, dabei verordnet werden, solches Thuns ein Mitwissen zu haben, und in solchem mit im Rath allenthalben zu beschliessen.'^

Obwohl die Käthe gegen dieses Mandat noch einmal

*) Freiberg fol. 311. Grünau S. 1636.

mit Bes&ug auf die ständUche Entwiekking. 79

Einspruch erhoben und den Hochmeister um „eine kleine Unterredung^^ baten, so fanden sie doch weiter kein Gehör Die Steuer wurde „ohne BewiUigung der Städte mit Gewalt^' genommen«

Die lange vorbereitete Parteiung in der Hauptstadt war in dieser Weise endlich zum Ausbruch gekommen, und er- füllte dieselbe seitdem eher steigend als nachlassend. Gleich in den ersten Wochen waren die Reibungen so heftig,*) dass die Gewerke einen förmlichen Bund abschlössen ^ ein zweiter Schritt zur Vereinigung der drei Städte und da sie von der Gunst des Hochmeisters noch grössere Vortheile erwarteten, als sie bereits erreicht hatten, einen Ausschuss zu demselben nach Tapiau, wo er sich gerade aufhielt, ab- sandten, ihm ihre ferneren Gebrechen zu klagen. Allein sie täuschten sich doch, wenn sie von demselben rücksichtslose Begünstigung auf Kosten des Raths erwarteten. So weit konnte der Hochmeister seine landesherrliche Stellung nicht vergessen; so weit liefen seine Interessen und die der Ge- meine nicht neben einander; so theuer endlich wollte er die Dienste der Gemeine nicht bezahlen. Es war vielmehr vor- auszusehen, dass sie ebenso wie der Rath, wenn sie sich des Ruders bemächtigt hätte, in Opposition gegen ihn treten würde. Die Parteiung, wie sie war, ein gewisses Gleichge- wicht der Kräfte, führte ihn am leichtesten zu dem Ziele, seine Pläne durch den Widerspruch der Städte nicht gehin- dert zu sehen. Die Gesandtschaft der Gewerke erregte na- türlich grosses Aufsehn. Um daher ungegründeten Argwohn nicht aufkommen zu lassen, schrieb der Hochmeister sogleich den Bürgermeistern und Räthen, was ihm vorgetragen sei, und dass er in Kurzem zur Beilegung des Streites eine Ver- sammlung von Gebietigern, Adel und Städten zusammenbe- rufen wolle.

In dieser Versammlung, am Tage Judica, trug der Aus- schuss der Gewerke (Hans Schief, ein Kupferschmid, dessen Name den Rath in der Folge noch in Schrecken setzen sollte.

*) Das Folgende nach Beler fol. 87fif.

80 Ein Blick in die ältere preussische Geschichte

und Ronefeld, ein BeuUer aus der Altstadt. MerteO) ein Rie- mer aus dem Kneiphof, Lorenz Matern, ein Schmid und Schöffenmeister aus dem Löbenicht) ihre Beschwerden vor. Man hatte ihnen vorgeworfen, sie allein hätten die erhöhte Steueranlage bewilligt und geäussert, sie sollten dieselbe nun auch allein bezahlen. Man bezeichnete sie mit dem Spitz- namen Bundherrn. Wie die den Gewerken ertheiite Erlaub- niss zum Kaufschlagen die Kaufleute beeinträchtigte, so suchte die Gegenpartei ihnen dadurch den Verdienst zu verküm- mern, dass sie Gesellen in ihre Häuser nahm und diesen ihre Arbeiten übertrug. Zu der Theilnahme der nach dem Mandat des Hochmeisters aus dem Handwerkerstande verordneten Beisitzer in den Rathsversammlungeu war es nicht gekommen. Alles dieses kam nun zur Sprache, aber der Rath wusste sich so zu verantworten, dass er den Hochmeister befriedigte. Zugleich stellte der Ausschuss aber auch neue Forderungen. Die eine ist mir nicht ganz verständlich; sie bitten: „man wolle sie erlassen des Eides, gleich wie em Schöffe oder Notarius thun muss, und sie nicht in die Bank noch in Rath kiesen." Der Rath antwortete, dies geschehe nach kölni- schem Rechte, und verweigerte die Aenderung, Der Aus- schuss verlangte: „es sollen zwölf gewählt werden von der Gemeine, die da mitwissen sollten, wenn Geschäfle die ganze Gemeine belangend kämen, und rathschlagen." Der Rath er- wiederte: die erwählten und vereideten Abgeordneten der Gemeine seien nach allem Gebi^uch immer zugelassen, und um Rath gefragt, wenn etwas den Hochmeister oder eine ganze Gemeine zufällig belangte. Sie soUe ihre zwölf Ab- geordneten nur schicken, man könne das leiden. Ferner wünschten die Gemeinen ungehinderte Gommunication zwi- schen den Städten, dass die Thore also geöffnet bleiben oder auch ihnen Schlüssel übergeben werden sollten; aber der Ausschuss konnte dies nicht geradezu aussprechen; er beklagte sich nur, dass, wenn Feuer auskäme, einer dem nndern nicht Beistand leisten könne, weil die Thore ge- schlossen seien, und bat, dass dies abgestellt würde. Der

mit Bezug auf die siändische Entwicklung, Hi

Ratb erinnerte, dass die nöthigen Löschgeräthe jederzeit aus einer Stadt in die andere gelassen seien.

So gewannen die Gemeiüen diesmal also nichts,, und wenn wii* Freiberg Glauben schenken 'dürfen, mussten sie von Miliitz, der im Namen des Hochmeisters sprach, sogar die Zurechtweisung erfahren: dass sie ihn in diesen Sachen zur tfnbiUigkeit gesucht und dass es ihnen wohl angestan- den hätte, einen ehrsamen Rath in solchen Gebrechen zuvor zu besuchen. Miltitz forderte zuletzt alle auf, während des Hochmeisters Abwesenheit in Einigkeit zu leben und der vorigen Artikel nicht zu gedenken. Wer dieses ülfertrete, solle von den verordneten Regenten gestraft werdea.

Donnerstag nach Judica reiste der Hochmeister nach

Deutschland ab. Georg von Polentz , Bischof von Samland,

' ' * *.

übernahm die Reeentschaft.

> Ö. ; , - . . . .

Die Gewerke und die Gemeinen waren dem Hochmeister nur so lange gefällig und dienstbar, als er sie förderte. Nun war der Punkt erreicht, auf welchem er seine Unterstützung versagte. Die Folge davon war, dass die Gemeinen, obwohl sie ihre Machinationen gegen die Räthe keinesweges aufga^ ben, sich mit diesen dennoch verständigten, wenn es sich um Steuern und andere Lasten handelte. Und ()a auch der Adel bei der letzten Steuer -Bewilligung mehr verlockt als gewonnen, war, und sich erst sehr allmählig wieder näher.an den Herzog anschioss, so entwickelte die Opposition be« deutende Kräfte. Wir müssen die Erfolge dieser Opposition berühren, ehe wir die- weiteren Fortschritte der. besonders durch die Reformation angeregten Gemeinen verfolgen.

Die Handelssteuer, hatte von Seiten Polens ein Verbot aller Ausfuhr nach Pxeussen zur Folge. Die Preise stiegen aiisserocdentlich und der Zustand würde unerträglich ger wesen sein, wenn tiicht eigenes Interesse die Polen, selbst die £)lbinger und Danziger, welche jenes Verbot ausgebracht hatten, zu fast öfTentlichem Schleichhandel getrieben . hätte« Da musste es den Gemeinen wohl klar werden, wie sehr sie sich selbst geschadet hatten. Wie wenig man auf si^ rechnen konnte, zeigte sich schon in einer Angelegenheit;)

Allg. Ztitsckrifk f. Gtschiolitt. V. 1846. Q

82 Ein Blick in die äliere preussische Geschichte

die Liefland betraf. Der Landmeister von Liefland - versagte die Beihülfe, die der Hochmeister ihm auferlegte, und soWe duroh eine Botschaft, die zugleich Vollmacht von Landen und Städten hätte, nochmals zur Leistung derselben aufge- fordert werden. Diese Vollmacht verweigerten nicht nur die Bürgermeister, sondern auch die Räthe und Gemeinen, welche jene selbst dem Befehle des Hochmeisters gemäss zu be- fragen riethen. Der Bischof wusste zuletzt keinen andern Rath, als Marlin' Roseler im Namen der Städte zu schicken; die welche den Adel vertreten sollten, waren, wie es scheint, mit keider bessern Vollmacht von den Ihrigen versehen.*) Bald darauf beschlossen die drei Städte, wenn das erste Jahr des Zolles um sei, denselben weiter nicht zu zahlen und zeigten dies dem Regenten an. Dieser berief die Stände auf Fabiani und Sebastiani 1523 nach Königsberg, stellte ihnen vor, in welche Verlegenheit der Hochmeister dadurch gerathen und welchen Schaden das ganze Land davon haben würde, ermuthigte durch Nachrichten vom Stande der Unter- handlungen des Hochmeisters, rügte das ganz ungesetzliche Verfahren der Städte und forderte sie auf, von ihrem Vor- haben abzustehn. Die Deputirten der Städte wollten hierauf, ehe sie sich mit den Gemeinen yon Neuem berathen hätten, nicht antworten. Dieses wurde ihnen gestattet. So versam- melten sich denn am folgenden Tage die Gemeinen und Räthe aller drei Städte in der Pfarrkirche der Altstadt.

Ihre Antwort war diese: „Sie verhohlen, dass sie dies Beginnen nicht* allein ihnen, sondern einem würdigen Orden und dem ganzen Lande zum Besten vorgenommen, und dass nach aller Nothdurft wohl berathschlagt und befunden* kurz, dass sie diesen Zoll und Zeise länger in keinem Weg nicht tragen können: denn in dem vergangenen Kriege haben ihnen weder Klippen noch Knechte noch andere Beschwerungen zu so merklichem Verderb gereicht: und sollten sie diesen Zoll und Zeise länger tragen, müssten sie Weib und Kind

*) Beler fol. 94. 95. Die Geschichte des folgenden Landtages foT. 96 fF. vgl. Grünau S. 1676. 16T7.

mit Besing auf die ständische Enhrickbmg. 8S

nehmen, und mii ihnen zu den Städten hinauslaufen; mit unterthäniger Bitte , ihro Gnaden und Würden wollten 6olch eine Antwort von ihnen auf diesmal in Gnaden annehmen/'

Der Bischofy derb wie er war, hatte sich nicht gescheut, ihr Vorhaben dumm^ grob und unbesonnen zU nennen; da man diese Worte mit Unwillen wiederholte, sagte er, „seine Rede hätte man ihm übet ausgelegt, er hätte nicht ge- sprochen: es solchen elenden dummen Abschlagens, sondern er hätte gesprochen: eines dummen, groben, unbesonnenen Abschlagens. Da hub die Gemeine an laut zu reden: hört, er redet es noch einmal iq unserer Gegenwärtigkeit I da war's anders nicht, weder wie es vor gelautet hat! Da sprach der Bischof, man sollte ihm nichts vor Übel halten; er wäre ein Mensch, und bliebe in der Zeit also bestehen."

Auf diesem Wege erreichte der Bischof doch aber nichts, und es blieb nicht bei der blossen Versagung der Steuer. Es ist noch eine Eingabe an die Regierung, unterzeichnet von Bürgermeistern, Rathmannen, Richtern, Schöffen und Gemeinen der drei Städte Königsberg und der Abgeordneten der Hinterstädte, erhalten, in welcher nach Auffilhfung der im Kriege gebrachten Opfer, nach mancherlei neuen Be- schwerden, z. B. über den Krugverlng durch den Adel, ober die Beeinträchtigung des Getreidehandels durch die Specu- latfonen der Schlosshauptleute, über Eingriffe in alte Rechte und Privilegien, über Parteilichkeit der Räthe die Worte vor- kommen: aus dem allen und dergleichen sei „geschwinde Regierung, darnach eigen Thun nur ihnen nicht allein uner- trägHch und beschwerlich, sondern auch bei männiglich verächtlich und nachtheilig hergeflossen.^^ Nach sol- chen Ausdrücken befremdet die Erklärung nicht, man wolle nicht mehr belästigt sein; möge der Bischof, die Herrschaft, die Glieder des Ordens und wessen Lage sich sonst nach dem Kriege schon gebessert habe, Ra^th suchen zur Unter- stützung des Hochmeisters.*)

*) Faber im Preuss. Archiv Bd. 2 S. 83 erwähnt eineh Land- tag, fifm Tagd Apollonia gehalten. Dies ist woM ein IrrChum. ßi^ zum Tag« Apdlionia wurde die Steuer gezahlt. Grünau S. 1634.

6*

84 Ein Blick in die ältere preussische Geschichte

Wie dringend auch der Hochmeistef der Unterstützung des. Landes bedurfte, er erhielt von jetzt an bis auf seine Zurückkunft nichts. Zwar liess es der Regent, der den näch- sten Landtag schon Dienstag nach Galli 1523 hielt, und der Bischof von Riesonburg, Erhard von Queis, der zweimal vom Hochmeister nach Preussen kam, wodurch die beiden Land- tage zu Jacobi und zu Nicolai 1524 veranlasst wurden, nicht aa Ermahnungen fehlen, aber theils das Uii vermengen des Lanäes, theils die Stellung der Parteien, vereitelten jede Hoffnung,

Der meiste Widerstand ging in dieser Zeit von den Ge- meinen aus, welche noch vor Kurzem dem Hochmeister einen so grossen Dienst geleistet hatten. Am willigsten zeigte sich der Adel, der sich mehr und mehr der Stellung näherte, die er vor dem KHege eingenommen hatte. Die Räthe der Haupt- stadt standen zwispjien beiden in der Mitte; sie suchten den Widerspruch der Gemeinen zu mildern und thaten doch selbst dem Adel nicht immer Genüge»

Dieser Zustand der Dinge musste sich wohl immer wie- der herstellen, so oft die Stände sich durch zufällige Gombi- nationen nicht verblenden Hessen. Die Steuern drücken ja wohl immer am meisten die grosse Menge, die also vor allem das Interesse hat, sie fernzuhalten, zumal in jener Zeit der Verärn^ung, deren sich z. B. die kleinen Städte so schmerz- lich zu beklagen hatten, dass isie auch den Zusagen der Kö- nigsberger f^r eine bessere Zukunft nur zögernd und weil sie es nicht abwenden konnten^ beistimmten. Ausserdem stand der Frieden und die Rückkehr des Hochmeisters nahe bevor; man sprach bereits in dieser Zeit von Aufhebung des Ordens und Verehelichung des Hochmeisters; es liess sich erwarten, dass er seine früheren Bestrebungen, den Ständen gegenüber picht werde aufgeben: das AUes musste wohl den Adel umstimmen, dessen äusseres Wohl vom Hoch- meister so unmittelbar abhing. Endlich trug die Reformation zur Entwickelung dieser Verhältnisse sehr wesentlich bei. Denn bald fanden sich fanatische Prediger, welche unter . dem grossen Haufen in den Städten wie auf dem Lande

mU Besug auf die ständische EnttticUung. 85

«

Ideen der Freiheit verbreiteten, die sowohl der städtischen als der Landesregierung gefährlich wurden; und die Glau- bensveränderung selbst machte Einrichtungen,, besonders in Hinsicht der Kirchengüter nothwehdig, durch welche die Menge übervortheilt zu werden glaubte. Von Solchem Hasse gedrängt, flüchtete sich die städtische Regierung unter den Schutz des Regenten. Nur durch diese Stellung des Adels und der städtischen Regierung wurde der Plan der Säcularisirung des Landet ausführbar.

Aber nicht sogleich trat diese Wirkung der Reformation hervor. Auf dem ersten der eben genannten Landtage er- klärte sich noch die Majorität der Gemeine der Hauptstadt gegen die Begünstigung der Ketzerei. Simon Grünau, ein altgläu^ger Mönch, der hiervon allein Nachricht giebt, mag nicht in jedem Worte zuverlässig sein, aber im Ganzen mag man ihm doch wohl trauen. Die Gemeine soll nämlich ihre Verweigerung der Steuer auch mit folgendem Grunde mo- tivirt haben: „Ueberdas wüssten sie niclit, wie siö im Glau- ben Gottes- ständen: denn alle Ding im christlichen Glauben wandelte sich; auch müssten sie leiden, dass in ihrem An- hören Gottes Mutter geschändet würde etc. Sie auch den Bischof fUr einen Verheger solcher Lästerer anzogen. Auf solches ward ihnen sehr übel geantwortet. Sie ihrer her- gegen auch nicht vergassen. Indem kam ein Schreiben vom Hochmeister an die Regenten, darinnen er ihnen bei grosser Strafe verbot, dass sie Luthers Lehre mit nichten sollten lei- den: denn sie wäre in viel hundert Stücken wider die hei- lige Schrift und zöge sich nur zu eigenem Willen und Frei- heit der Sünder. Von dem hingen die Lutherischen die Nase nieder und zogen also von einander. Der blindeste unter ihnen war Bischof George ihr Herr; der liess alles gehen, wie vor, nur dass er die heiligen Tage wieder gebot zu feiern. Ihrer viele Tausend dankten dem Hochmeister für seine Biriefe. Dem waren etliche Lutheristen zuwider und sprachen: o ihr tollen Leute, er meint nicht eure Seelen, sondern er meinet euer Geld; er will euch nur locken, da- rum hat er geschrieben, was ihr gerne höret, denn niemand

86 Em Bück in dk äUere prwsßkchß G/nchidite

ist so gut lutbecisch als er etc. Diese Worte machten wahi^ lieh nicht eiaen kleinen Neid, jedoch man sähe das Spiel an/'

Halten wir die angegebenen Gesichtspunkte fest, so wer- den sich die ihrem Aeussei*en nach etwas zerstreuten Bera«- thungen auf den drei genannten Landtagen ungefähr über- sehen lassen« ,

Auf dem ersten (1523)*) erklärte sich der Adel bereit, eip Dienstgeld von einer Mark zu geben, wenn die Städte auch zahlen wollten. Itiese schlugen es aber aus: denn sie hätten vorher gegeben, was sie gehabt hätten*, die Büchsen, die von ihrem Gelde angeschaft wären, seien in andern Lan- den (der Hochmeister hatte sie dem König von Dänemark geschickt), sie müssten nachsehen; über das wüssten sie nicht, wie sie im Glauben Gottes ständen. Wegen 4pr herr- schenden Theuerung wurde von einem Ausschüsse der Ab- geordneten mit Zuziehung der ältesten der einzelnen Ge- werke wieder eine Ordnung und Satzung festgestellt. Der Sischof vergass dabei nicht, dem Ausschuss wieder die viel- besprochenen Artikel über den Kleiderluxus und über das Halten der Schweine in der Stadt in Erinnerung zu brlo^n -*- vielleicht in der Hoffnung, dass die Spaltung zwischen Bdth und Gemeine endlich wieder zum Besten des Hoch- meisters benutzt werden könne. Allein dies Mittel war nun abgenutzt und wirkte nicht. Vielmehr einigte sich die Haupt- stadt über eine Beschwerdeschrift, in welcher sie sehr nach- drücklich auf Erhaltung des Herkommens und der Privilegien und auf Abstellung der Unordnungen in der Gerechtigkeits- pflege drang und den Regenten „unterrichtete", dass er ein Verbot der Getreideausfuhr nur mit Beistimmung von Lan- den und Städten ertheilen dürfe. Alles das scheint auf grosse Schwäche der Begentschaft zu deuten. Noch weniger als im Innern vermochte sie gegen den äussern Feind : der pol- nifiche Hauptmann von Mohrungen hatte Liebstadt beritten und in der Umgegend geraubt Der Bischof wollte auch daniber den Rath der Stände einholen^ wie man ihm ent-

*) Grünau S. 1709. i7i0. Player fol. ^IS.

mi Besug auf die siämUfche Enimekhtng. 87

gegentreten solle. Bs wird nicht gesagt, was ihm die Stände rieihen, aber wahrscheinlich geschah nichts.

Auf dem erstem Landtage von 1524*) forderte der Bi- schof von Riesenburg, da der vieijährige WaffensÜIlstand sich dem Ende näherte und der . Hochmeister jetzt seine Thätigkeit für den Frieden verdoppeln musste, „in dieser be- drängten letztern Noth'^ die Bierzeise. Wir können den Gang der Berathungen Über diesen Antrag etwas näher verfolgen.

Ohne die Beistimmung der Gemeine durfte der Rath schon nicht mehr wagen, im Namen der Städte zu handeln. Er musste also den Antrag zuerst den Gemeinen vorlegen. Diese aber beriethen schon nicht mehr gesondert in den drei Städten, sondern gemeinschaftlich und versammelten sich zu diesem Zwecke, wie in jener Zeit als die bei der Abreise des Hochmeisters verwilligte Steuer aufgesagt wurde, in der Pfarrkii^che der Altstadt. Ihre Meinung war, die Bierzeise rund abzuschlagen; sie gedächten auch eine andere Httlfo mit Nichten mehr zu geben, und derhaiben, wie sie schon auf der letzten Tagfahrt erklärt hätten, nicht mehr zusam- menzukommen. Die Räthe empfahlen ihnen eine etwas ge- fükgigere Antwort: man möge an das Versprechen des Hoch- mdsters erinnern, das Land in Frieden zu erhalten und fttr den Fall, dass ein beständiger Friede zu Lande und zu Was- ser hergestellt würde, eine Unterstützung wenigstens in Aus- sicht stellen. Die Gemeinen gingen hierauf ein, auch die Hinterstädte schlössen sich an, obwohl sie am liebsten selbst diese Verpffichtung für die Zukunft vermieden hätten. Der Adel hatte zwar ebenfalls gegen die Bedingung, dass dem Lande erst der Frieden wiedergegeben werden solle, nichts, allein sie wünschten doch eine Wendung, welche die Stände für diesen Fall bestimmter verpflichtete. Hierüber konnte er sich mit den Städten nicht vereinigen. Während diese nur versprachen, unter der angegebenen Bedingung sich als ge- treue Unterthanen zu erzeigen, verhiess er unter derselben, den Hochmeister mit Hülfe nicht zu verlassen.

«) Platner, fol. 141.

88 Ein Blick in die ältere preus$ische Geschichte

Was ihn zu dieser grössern Bereitwilligkeit bewog, sprach er auf demselben Landtage, wenn auch verhohlen aus. Er schlug nämlich vor, einen Ausschuss zu bilden, in welchem Adel und Städte ihre Gebrechen einander mittheilen sollten, und mit Fleiss dahin zu arbeiten, dass dieselben von der Regierung abgestellt würden. Man kann wohl nicht an- nehmen, dass er hierin ohne Erlaubniss oder Auftrag des Regenten handelte. Aber die Gemeine, welche durch einen solchen Ausschuss beeinträchtigt zu werden fürchtete, war dagegen und fügte sich erst dann, als der Bürgermeister ihr die Versicherung gab, dass der Ausschuss nur vprberathen und ihr seine Meinung zur Bestätigung vorlegen sollte. !Nach dieser Verwilligung erschien der Adel auf dem Rathhause. Man erwartete nun, dass von den Gebrechen der Stände die Rede sein würde, aber unter mancherlei Umschweifen legte der Adel den Städten die Frage Tor: ob der Hochmeister sollte ein Weib nehmen.

Erklärte sich die öffentliche Meinung in Preussen für diesen Plan, so war zur Ausführung desselben ein bedeuten- der Schritt gethan; und würde er ausgeführt, so war der Adel dem Fürsten, von welctem ihn bis jetzt der Orden noch trennte, der nächste. Die Räthe willigten nicht ein, wahrscheinlich weil sie vor der Neuheut und den Gefahren eines Unternehmens, das ihnen keinen Vortheil bringen konnte, erschraken. Sie legten den Gemeinen die Frage gar nicht vor.

Auch übrigens kam man in dem Ausschusse zu keinem Resultat. Doch gelangten mancherlei Beschwerden der Städte auf anderem Wege wieder zu den Ohren des Regenten, und durch den Bischof von Riesenburg, der wieder nach Deutsch- land abging, zur Kenntniss des Hochmeisters.

Erhard von Queis ,wurde noch einmal in das Land ge- schickt, um bei dem nahe bevorstehenden Ablaufe des vier- jährigen Waffenstillstandes, da alles auf dem. Spiele stand, die Stände doch noch zu irgend einer Unterstützung zu überreden und zugleich zur Absendung vollmächtiger Depu- tirten nach Pressburg aufzufordern: denn hier sollte nun

mit Bezug auf die ständische Entwicklung. 89

endlich eine Tagfahrt zur definitiven Entscheidung über Preussens Zukunft gehalten werden. Die Stände wurden auf Nicolai 1524 berufen, zum letzten Mal vor der Rückkehr des Hochmeisters. Die Gebietiger erschienen grösstentheils ohne ihr Ordenskleid. Queis schilderte die Noth des Hoch- meisters und das Bedürfniss für das allgemeine Beste. Er stellte vor, dass der Friede mit den benachbarten Seestaaten nun durch Vermittelung Lübecks hergestellt sei; der Friede mit Polen nun auch in Kurzem erwartet werden könne. Denjenigen, die noch an der erschrecklichen Ketzerei An- stoss nahmen, sagte er, dass den Hochmeister dieser Zv^ie- spalt tief betrübe; aber hülfe Gott, so sollte es in Kurzem gebessert werden, in PreusSen nur eine Heerde sein. Er forderte zur Wahl der vollmächtigen Gesandten und zur Be- willigung der Geldunterstützung auf. Weigere man sich auch jetzt, so werde der Hochmeister gezwungen sein, in seiner äussersten Noth Geld und Silber aufzuleihen und sie da- gegen zu verschreiben. *

Der Gang der Berathungen war derselbe, wie vorher? Der Rath befragte die Gemeine. Diese hielt in Rücksicht auf die Steuer die frühere Bedingung fest. Ihre Vollmacht, die sie nur unigern bis. auf das Schloss mitgab, wollte sie noch weniger auf eine so weite Reise ertheilen. Sie küm- merte sich uiu die Bedingungen *dcs Friedens nicht, sondern verlangte nur, dass er weder zur „Beschwerung des J^andes noch einigem Einbruch ihrer Privilegien'* gereiche. Uebrigens hatte sie nichts dagegen und wollte selbst zu den Zehrungs- kosten beitragen, wenn der Rath aus seiner Mitte zwei oder drei dazu Verordnete absenden wolle.

Dann kam der Rath mit den kleinen Städten und mit dem Adel zusammen. Jene bewilligten nichts, dieser aber erklärte es fiir seine Pflicht, irgend etwas zuzusagen, wenn er sich auch noch' nicht entschieden hatte, was. Da der Raih diese Verpflichtung auch anerkannte, so wurde noch einmal bei der Gemeine angefragt, aber vergebens: sie blieb bei ihrer Bedingung. Nun verlangte der Adel, dass unter dieser Bedingung wenigstens eine bestimmte Steuer festge*

90 Ein Blick in die ältere preu^siseht Oeichiehte

setzt würd«. Aber auch dazu war die Gemeine nicbt zu bewegen. Kurz was der Adel auch für Mittel anwandte, er erhielt keine günstigere Antwort, und so war des Hoch- meisters Gesuch abermals fruchtlos.

Die Vollmächtigen nach Pressburg zu schicken, entsohloss ^ich sowohl der Adel als auch der Rath, da sie sich ver- sichert hatten, dass es wirklich der Befehl des Hochmeisters und keine Erfindung der Bischöfe sei. Im Namen des Adels zogen Friedrich Herr von Kitlitz, Freiherr Georg von Kun-

«

heim, im Namen der Städte Nicolaus Richau, Bürgermeister der Altstadt, und Crispinus Schönberg, Compan des Bürger- meisters im Kneiphof.

Sie gingen in den letzten Tagen des Decembers 1524 von Königsberg ab und gelangten im Anfange des Januar 1525 nach Olmütz in Mähren. Dort erfuhren sie^ dass die Tagfahri zu Pressburg vom Könige von Polen nicht ange- nommen sei, und blieben nun drei Wochen lang ohne allen Bescheid, bis der Hochmeister sie nach Breslau zurückgehen Ibiess: denn es blieb ihm nun nichts übrig, als sich auf jede Bedingung hin mit dem Könige zu versöhnen. Georg von Brandenburg und Friedrich von Liegnitz übernahmen die Vermittelung. Der Hochmeister übergab ihnen die Vollmacht zur Unterhandlung, ohne auf die Abgeordneten von Land und Städten Rücksicht zu nehmen. Erst als sie den Vor- schlag des Königs, dass Albrecht Preussen als Herzogthum von ihm für sich und seine Erben zu Lehn nehmen solle, aus Krakau zurückbrachten, wurden auch diese Abgeordne- ten befragt. Sie waren auf diesen Vorschlag nicht gefasst und verlangten, dass der Anstand noch erst auf einige Zeit verlängert würde, damit sie für diesen Fall neue Vollmacht einholen könnten. Die Vermittler stellten vor, vvie sehr sie dadurch blossgestellt und der König erbittert werden müsse. Es sei nur die Wahl zwischen dreien Dingen übrig, Krieg zu gewarten, den ewigen Frieden zu beschwören, oder die Belehnung anzunehmen. Die Abgeordneten der Stände in dieser Verlegenheit wandten sich an den Hochmeister selbst, der seine Meinung aber nicht eher erklärte, als bis sie ihr

mt Bezug auf die ständische Entwicklung, 91

Gutachteo über die proponirten Friedens -Bedingungen ge- stellt halten. So liessen sie geschehen, was sie doch nicht hätten hindern können und was ihnen auch keinen Naehlheil brachte; sie stellten vorzüglich nur die Bedingung, dass die ständischen Freiheiten und Privilegien unverletzt erhalten und von neuem bestätigt würden. Von zweien anderen Forderungen mussten sie doch nachlassen: es war stipulirt, dass, wenn Albrecht ohne männliche Leibeserben abginge, seine Brüder in 'der Regierung nachfolgen sollten: dies woll- ten die ständischen Depulirten noch von weiterer Verhand- lung des Hochmeisters mit den Ständen abhängig machen. Und dann: man fürchtete mit der Bückkehr des Hochmeisters zugleich die Rückkehr seiner Günstlinge, wie des mehrge- nannten Dittrich von Schönberg und des Pfaffen Herrmann, der eine Zeitlang zu eigenem Vortheil Seeräuberei gegen die Schiffe feindlicher und befreundeter Nachbarn getrieben und dadurch dem Lande grossen Schaden zugefügt hatte. *) Schon auf dem vorletzten Landtage hatte man Unzufriedenheit und Befürchtungen wegen ihres dauernden Aufenthalts bei Al- brecht ausgesprochen und auf dem letzten sich ängstlich über dessen Fortdauer in's Klare zu setzen gesucht. Hierauf besonders bezog sich die Bitte der ständischen Abgeordnet ien, künftig die Regierung mit seinen getreuen Unterthanen und nicht mit Fremden zu führen, damit das Land mehr als bisher zu Gedeihen und Aufwachs kommen möchte. Den ersten Punkt wollte der Hochmeister ganz auf sich beruhen lassen, über den zweiten bemerkte er, er werde die aus- ländischen Räthe nicht entbehren können, wolle aber keinen dulden, als fromme christliche Biederleute. Hierauf wurde der Frieden ohne ihr weiteres Zuthun abgeschlossen (8. April); drei Tage darauf bestätigte der neue Herzog sämmtliche Pri- vilegien und Freiheiten seines Landes.**) Friede war des Landes dringendstes Bedürfniss: als der Hochmeister, unge- wiss über den Ausgang der Friedens-Unterhandlungen, dem

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) Platner fol. 47. 102. 250.

) Privilegien der Stande fol. 156.

92 Ein Blich, in die untere prenssische Geschichte

Adel und den Städten durch. Quirin von Schlick ansagen liess, sie sollten sich gerüstet halten, war ein heftigefr Aus- bruch des Unwillens zu befürchten. Der Adel erwiederte: „das soll ihm Lücifer und alle bösen Geister danken, er hat uns bei seiner Treue gelobet, er will uns Frieden schaffen. Vor vier Jahren brannte man uns das Unsrige weg, so haben wir auf seine Vertröstung wieder gebauet; sollten wir es denn nun wieder verlieren? Seitdem ihr uns nicht euer« Wort haltet, so dürfen wir auch nicht uniser Wort halten. Nun ihr uns das Gut ausgesogen habt, woUet ihr uns auch um das Leben bringen. Sintemal ihr denn mit Worten und Wer- ken bewiesea habet, dass man billig Pfaffen und Mönche verjagen mag, darum dass sie mit armer Leute Seh weiss und Blut übel handeln: so seid ihr aber auch Mönche und habet unser Schweiss und Blut mit üebermuth in allem Unflath schändlich weggebracht, derhalben ist es biUig, eben wie ihr Mönche und Pfaffen vertrieben habt, dass wir euch auch :5.u allen Teufeln jagen und uns selber Friede. schafften, auf dass wir dasselbige wenige noch behalten, denn in euch ist kein Trost noch W^ahrheit."*)

Die Nachricht von dem Abschluss des Friedens erfüllte das Land mit Freude. Am 9. Mai hielt der neue Herzog seinen feierlichen Einzug in Königsberg. Bald darauf am 24. und 25. Mai erschienen auch die polnischen Commissarien Georg von Baysen, Achatius von Zemen, Johann von Wyetz- wna. Noch am 28sten desselben wurde der Huldigungs- Landtag gehalten, **) Der Herzog eröffnete ihn mit einer Dar- stellung seiner Bemühungen um den Frieden während seiner Abwesenheit. Dann wurde der Process der Friedens-Unter- bandlüng gelesen. Darauf erschienen die Königlichen Bot- schafter; Georg von Baysen erinnerte daran, wie das Land während der Herrschaft des Ordens nie habe zu einem dauernden Frieden gelangen konrieh. Jetzt da Markgraf Al- brecht sich vor Königlicher Majestät zu Polen gedemüthigt.

*) Grünau S. 1830.

**) Einige zerstreute Papiere über denselben im geheimen Ar- chiv. Plalner fol. ITl ff; Grünau S. 1875. Freiberg fol. 402.

mit Bezug auf die ständische Entwicklung. 93

ihn als Schutzherrn anerkannt und das Land zu Lehen von ihm genommen habe, sei eine bessere Zukunft zu erwarten. Sie wären erschienen, um der Ablegung des Eides, den sie detn Markgrafen als ihrem rechten Erbherren leisten würden, und der' Beschwörung des Krakauer Vertrages beizuwohnen. Am folgenden Tage, Sonntag den 29. Mai, leisteten zuerst die beiden .Bischöfe Georg von Polenlz und Erhard von Queis den Eid auf die Verträge und dem Herzoge den Eid der Treue, dann vor der grossen Treppe des Schlosses die De- putirten der Stände. Der Widerspruch, den einige Brüder des Ordens einlegten , wurde nicht beächtet. Dem Ordens- ritter Caspar Blumenau wurde öffentlich vor Land und Städ- ten unmittelbar nach der Huldigung von einem Edelmann das Kreu2 vom Rock geschnitten. Er 'und fünf andere Or- densbrüder verweigerten den Eid, baten aber schon nach wenigen Tagen um Gnade. Der Herzog hatte vielleicht auch von den Städten einige Opposition befürchtet, wenigstens scheint darauf die Zahl der eingeladenen Deputirten (vier aus den Städten jedes Amtes, aber nui* zwei vom Adel jedes Amtes) hinzudeuten, allein diese Furcht war ungegründet. Die Städte handelten mit dem Adel völlig übereinstimmend. Sie gaben vor der Huldigung zwar zu verstehen, dass sie raimche Beschwerden vorzubringen hätten; wollten dieselben abfer gegenwärtig noch zurückhalten und nur die eine Bitte wiederholen j dass der Herzog das Regiment so führe und bestelle, dass sie hinfort mit fremden und ungebührlichen Regimentsyerwaltern frei und unbelastet blieben." Der Her- zog hatte auch an die Versprechungen des letzten Landtages erinnert, doch wurden die Finanzangelegenheiten auf den nächsten Landtag aufgeschoben.

Königsberg i. P. ' Dr. Max. Toppen.

ingelegenfaeiten der historisclteii Terefaie.

Einleitung.

Nachdem wir in dem Nachwort zum zweiten Jahrgang das Vorhaben angezeigt, mit dem gegenwärtigen die obige Rubrik er- öffnen zu wollen, liegt uns zunächst wohl die Pflicht ob, allen un- sern Lesern hierüber Rechenschaft zu geben.

Kann kein Unternehmen ins Leben treten, das nicht schon in den nächsten Momenten seines Daseins und fortwährend der Re« formen bedürftig wäre: so kann auch keines gedeihen, das aus Liebe zur Behaglichkeit dieser Reformen sich entschlägt.

Wir sind dem frisch dahinströmenden Leben zu sehr zugethan der Stagnation mit der überall nur der Todeskrampf beginnt zu sehr abgewandt, um nicht auch bei unserm Unternehmen die Nolh- wendigkeit einer steten Wandlung und Bildung zu «begreifen.

Unsere Zeilschrift hat nun zwei Jahre ihrer Entwickelung zu- rückgelegt. Da lässt es sich wohl übersehen was an der Zeit ist, welcher Reformen sie zu fernerem Gedeihen und zu lebendigerer Wirksamkeit bedarf. Denn stets wird es ihr mehr frommen, wenn wir im Rückblick auf das was sie geleistet nicht ihrer Vorzüge, sondern ihrer Mängel eingedenk sind. «

Man hat uns mancherlei Ausstellungen gemacht und Wünsche vorgetragen, denen die Anerkennung nicht versagt werden durfib. Aber zuweilen erschienen sie auch ungerecht, weil sie mefu* ver- langten als Raum und ZeR gewähren konnte. Ja nicht selten stan* den sie mit einander im schrofifsten Widerspruch, insofern dem Einen roissfiel, was dem Andern vorzugsweise genehm war. Un- sers Amtes ist es nun, Alles zu beherzigen und nach bester Ein- sieht unsere Wahl zu treffen, indem wir auch für die Zukunft nicht auf allgemeine Beistimmung, wohl aber auf allgemeine Nachsicht rechnen.

Es kann nicht dar<iuf ankommen von solchen Plänen zu reden, mit denen wir für spätere Zeiten umgehen. Man thut immer am besten damit zu warten bi3 sie zur Ausführung reif sind. Auch dürfte wer alles auf einmal erzielt, leicht am wenigsten errei- chen. Für jetzt kommt es uns auf eine Neuerung an , die wir, wenn auch nicht .als einen höheren Reiz, doch als eins der nach« sten Bedürfnisse unserer Zeitschrift erachten.

T

Angelegenheiten der hütorisehen Vereme. 95

Gleich bei ihrer Begründung hegten wir den Wunsch, sie zu einem kritisohen Organ aller historischen Vereine und Gesettscbaf« ten unsers Vaterlandes, soweit sie productive oder refn'oductire Zwecke verfolgen, gestalten zu können. Umstände mancherlei Art, Zweifel über das Gelingen, Hessen für den Augenblick diesen Wunsch unterdrücken. Schon nach dem Erscheinen der ersten Hefte wurde er indessen von anderen Seiten her wiederholt ausgesprochen, und durch den Aufsatz „die historischen Vereine und Zeitschriften Deutschlands'^ regte ibn der Bibliothekar Dr. Klüpfel in Tübingen auf umfas/sende Weise in unserer Zeitschrift selber an (Bd. I. S. 518—559). Der letztere Umstand veranlasste uns damals in einem Nachworte (S. 560 f.) zur Kundgebung unsers ursprünglichen Pla- nes, und wiewohl wir noch immer überzeugt waren, dass einer Ausführung desselben sich zahllose, ja zum Theil vielleicht unbe* siegbare Schwierigkeiten entgegenstellen würden, vorzüglich des- halb, weil die Möglichkeit eines einmülhigen kraftigen Wollens in Deutschland überall noch in den Windeln der Unwahrscheinlichkeit gebettet liegt, so versprachen wir doch freudig zu thun, was un- sererseits zu einer glücklichen Lösung der Frage beitragen künne, und keine Mühe, kein Ungemach, keine Widerwärtigkeit dabei zu scheuen. Zugleich aber glaubten wir vor Uebereilung uns hüten zu müssen, damit nicht um so sicherer misslinge, was mit der Zeit vidleicbt reifen möge. Während wir daher vor der Hand nur zu gelegentlichen kritischen Berichten über die Leistungen ein- zelner Vereine un^ anheischig machten, überhaupt nur allgemach und leise aufzutre^p entschlossen waren, versäumten wir doch keine nur irgend günstige Gelegenheit, um dem fernen Ziele wirk- lieb näher zu kommen. Ging also auch die Angelegenheit nur laaagsam vorwärts, so fand sie desto freieren Spielraum zu einer natürlicien und organischen Entwickelung. Darauf rechneten wir, als wir bei Eröffnung der Zeitschriit sagten (Bd. L Vorwort p. XL): „Nicht alles kann auf einmal errungen werden; auch lasst nicht jegliches sich machen, vieles muss die Zeit erst werden lassen.'^

Zwei Umstände haben nun unser Bestreben Wesentlich ge- fördert

Einmal das freiwillige Entgegenkommen verschiedener Vereine. Die Schleswig-Holstein -Lauenburgische Gesellschaft für vaterländi- sche Geschichte zu Kiel, die Gesellschaft för Pommersche Ge- schichte, Alterthümer und Kuiist zu Stettin, der sächsische Alter- thumsverein in Dresden, sandten zunächst ihre sammtlicben Publi- cationen und versprachai ein gleiches für die Zukunft. Ferner gelangten'^ an uns die Berichte und das Archiv des historischen Verems für Oberfranken zu Bayreuth und Bamberg, die Zeitschrift des historischen Vereins der fünf Orte Lucern, üri, Schwyz, Unter-

I

96^ Angelegenheiten der historischen Vereine,

waideu liöd Zug, das Archiv des Vereins für siebenbürgische Lan- deskunde zu Hermannsladt, üpd die Zeitschrift des erst kürzlich constituirten Vereins für Erforschung der rheinischen Geschichte lind Alterthümer in Mainz, mit einem Schreiben des Vorstandes^ worin es heisst': „Wir sehen Ihre Zeitschrift als ein wahres Gen- tralbiatt für Geschichte an, und hallen es daher für durchaus angemessen, dass jeder Geschichts verein Sie mit dem Ziel und Erfolge seiner Bestrebungen, seien diese auch noch st) vereinzelt, fortdauernd bekannt macht.^* Wiv führen diese Worte, an als ein Zeugniss . des im Schoosse der Vereine selbst unabhängig sich fe- genden Wunsches nach' einem gemeinsamen Organe ihrer Th'atig- keit; denn lum so weniger wird es zweifelhaft dünken, ob die Heranbildung eines solchen gei^enwartig zeitgem'äss sei oder nicht.

Andrerseits ermuthigten die Erfolge der mündlichen Riick- sprache, die wir mit den Vorständen und thätigsten Mitgliedern mehrer Vereine neuerdings, zu nehmen Gelegenheit hatten. Sphon im ersten Jahre des Erscheinens der.Zeitschrift leitete eine persön- liche Zusammenkunft mit Herrn Prof. L. Giesebrecht in Stettin die Anfänge der Ausführung des Planes ein, und im vorjährigen Som- mer, gestaltete uns eine grössere Reise durch die deutschen Staa- ten eine desfallsige mündliche Berathung mit dea. Herren Waitz in Kiel, LappenJ^erg in Hamburg, Bernhardi und Landau in Cassel, Erbard in Miinster, Böhmer in Frankfurt a. M», Knapp und Wei- ther in Darmatadt, Zeuss in Speier, Mone in Karlsruhe, Bauer in Stuttgart^ Klüpfel in Tübingen, Föringer in München, Chmel in Wien, Palacky in Prag, von Langeun in Dresdei;^ Haupt in Leipzig, und Förstemann in Halle. . Es ist hier nicht möglich jedes einzelne Resultat dieser Beralhungen darzulegen; sie. werden sich alle. mit der Zeit herausstellen. Nur des entscheidendsten Umstandes ist zu gedeijken. i«.

Der. Herr Geheime Staatsratht)r.. Knapp in Darmstadt, Präsi^ dent des. dortigen Vereins, kam uns mit Eröffnungen entgegen, deren Durchführung ein Gelingen der Sache zu verbürgen schien. Seine Ansicht war: „durch das nunmehr erschienene systematische Repertorium üi?er die Schriften sämmtlicher historischen Gesell- schaften Deutschlands von dem Bibliothek-Secretär Herrn Dr. Wal- ther daselbst, sei die Hauptschwierigkeit gehoben , welche bisher der Benutzung des in den Vereinsschriften niedergelegten reichen Materials für Geschichte und Alterthqmskunde entgegenstand. Es sei aber auch dadurch der Weg angebahnt worden, welcher zur Bildung eines Centralorgans für die Vereine führen könne, das fort* laufende Berichte über die Wirksamkeit der einzelnen öesellschaf- ten; Üebersichten über den Stand und die Richtungen der For- schungen im Allgemeinen zu erstatten und, durch wissensohafl-

Angelegenheiten der hietorischen Vereine. 97

liehe Kritik auf die Thäligkeit der Vereine einzuwirken balle, um diese mil den Bedürfnissen und Forderungen der Wissenschaft mehr in Einklang zu bringen und für dieselben nutzbarer zu ma- chen/' Nachdem ich mich, den eigenen Absichten entsprechend, bereit erklärt hatte, die vorliegende Zeitschrift in der angedeuteten Weise als Cenlralorgan der historischen Vereine dienen zu lassen, entwickelte derselbe in einem am 6. October v. J. in der Haupt- versammlung des historischen Vereins für das Grossherzogthum Hessen gehaltenen, nunmehr gedruckten und versandten Vortrage „über das Wirken der historischen und antiquarischen Vereine in Bezug auf die Wissenschaft" jene Ansichten näher, die darin ent- haltenen Vorschläge in Betreff der vorliegenden Zeitschrift wurden einstimmig angenommeh, und demgemäss durch ein Circularschrei- ben des Ausschusses vom 16. October die sammtlichen historischen Vereine eingeladen, zu dem angegebenen Zwecke auch ihrerseits mitwirken zu wollen.

Uli Bezugnahme auf dieses Schreiben , von dessen Erlass wir durch den Herrn Geh. Staatsrath Knapp unterm 30. Oct. in Kennt- niss gesetzt wurden, haben wir nun auch unsererseits mittelst ei Des gedruckten Circularschreibens vom 1. December (|en Vereinen über die Ausführung des Planes nähere Eröffnungen zugehen lassen.

Danach soll die vorstehende Rubrik den Zweck verfolgen, sich zur Vermittlerin zwischen den sammtlichen Vereinen heranzubil- den, zur Trägerin alles dessen, was die Thätigkeit oder die Interes- sen derselben fördern kann. Dergestalt würde sie einerseits den Vereinen nicht nur die lästige Corrcspondenz unter einander gros- sentheils ersparen, sondern vermöge der leichtern Communication auch überhaupt zu einem häufigeren Ideenaustausch Anlass geben als dies bisher trotz des inneren Bedürfnisses möglich war; an- dererseits aber dürfte sie, und eben hierdurch zu einem perma- nenten Berührungs- und Vereinigungspunkle sich entwickeln, von dem aus ein gemeinsames Zusammenwirken in dieser oder jener Richtung und nach gleichen Grundsätzen sowohl angeregt als ver mittelt werden könnte. Wir räumen auch hier ein ; dass nur die Praxis und nur im Laufe der Zeit die Einsicht dessen, was noth- iwendig oder erreichbar ist, gewähren kann. Da inzwischen jedoch auf die eine oder die andere Weise ein Anfang gemacht werden muss, so beabsichtigen wir, die Erreichung des Gesammtzweckes zunächst durch folgende Mittel anzubahnen. *)

1) Durch kritische Berichterstattungen und Anzeigen über die

*) Wir führen im Folgenden die Andeutung unseres Circulars näher aus. Allg. Zeitsclirift f. Gesckicbtc. V. 1816. 7

98 Angelegenheiten der historischen Vereine.

Thätigkeit aller historischen Vereine Deutschlands und der Nach- barstaaten, soweit deren Publicationen in deutscher Sprache er- scheinen, also namentlich auch der Schweiz, Siebenbürgens und der russischen Ostseeprovinzen. Schon haben wir unter den vor- genannten, meist selbst den Vorständen von Vereinen angehörigen .Männern eine Anzahl von Mitarbeitern hierfür gewonnen, und dür- fen hoffen, auch die noch vorhandenen Lücken baldigst ausgefüllt zu sehen. Im Allgemeinen werden wir den Grundsatz aufrecht erhalten, dass keinem Referenten die ßeurtheilung des eigenen Vereines zufalle; doch dürften einzelne Ausnahmen und zumal für den Anfang unabweisbar sein. Dass die Anonymität, die jederzeit etwas Gehässiges an sich trägt, gänzlich verbannt bleibt, versteht sich ebenso von selbst, wie dass der Zweck dieser Berichte nicht der sein kann und wird, sich gegenseitig Complimente zu sagen. Ausstellungen aber können Niemanden verwunden der es mit sich redlich meint; denn die Absicht alles Tadels, selbst des ungerech- ten, ist der Antrieb zum Besseren; und das Besserwerden ist ja die Aufgabe selbst des Besten unter Allen.

2) Durch vollständige, wissenschaftlich geordnete Jahresüber- sichten des Zuwachses der Vereinslileratur, im Anschluss an das Walther'sche Repertorium, so dass sie als regelmässige Ergänzun- gen desselben das Bedürfniss eines ähnlichen mühevollen Werkes für die Folge nicht wieder aufkommen lassen würden. Ob es zweckgemäss und ausführbar sein wird, diese systematischen üeber- sichten auch auf die von Walther ausgeschlossenen Vereine aus- zudehnen, und zwar entweder nur über deren künftige Publica- tionen oder noch nachträglich auch über die früheren, müssen wir vor der Hand dahingestellt sein lassen.

3) Durch allgemeine leitende Artikel, deren Bestimmung es ist, in mannigfaltigen Kreuz- und Querzügen die Aufgaben des Vereins- wesens zu immer grösserer Klarheit zu erheben, das von sämmt- liehen Vereinen in bestimmten Richtungen ur,d zumal für die ver- schiedenen Zeitalter der Deutschen Geschichte Geleistete sachlich und chronologisch zu sichten, auf Lücken und Bedürfnisse aufmerk- sam zu machen, neue Saiten der Thätigkeit anzuklingen, und über- haupt auf ein innigeres Ineinandergreifen aller Bestrebungen und von allen Seiten her hinzuwirken; sowie ferner durch besondere Vorschläge, Anträge und Anfragen, welche auch von Seiten der Vereine ausgehen können, durch Millheilung von Preisaufgaben und von sonstigen Notizen, welche für die Mitglieder der Vereine von Interesse sein dürften.

So soll denn die Zeitschrift auf diesem Gebiete nicht sowohl meistern, als vielmehr helfen, nicht ein Tribunal einseiligen Wol- lens und Drängens sein, sondern der Ort^ gegenseitiger Verslandi-

Angelegenheiten der historischen Vereine. 99

guDg und Förderung, das Organ eines allseitigen Ideentausches und lebendiger Wechselwirkung, die Brücke, die da herüber und hinüber zu leiten hat, was hier oder was dort als wünschenswerth erschei- nen mag. Aber auch der übrige Inhalt unserer Zeitschrift wird zu dem Wirken der Vereine in wesentlicher, wenn auch dem minder geübten Auge minder erkennbarer Beziehung stehen; denn insofern es dessen Hauptaufgabe ist, das Besondere mit dem Allgemeinen zu vermitteln, oder die Einzelheit nicht sowohl an sich, als unter dem Reflex grösserer Zusammenhänge zu beleuchten, dürfte er wohl bei glücklicher Lösung dieser Aufgabe am ehesten geeignet sein, das Bewusstsein des Verhältnisses, in welchem die besondere Thätigkeit der Vereine zu den allgemeinen Forderungen der Wis- senschaft steht, jederzeit wach zu erhalten und, dergestalt auch eine innigere Annäherung beider, eine immer reichere Befruchtung der einen durch die andere zu vermitteln.

Mit dem Bekennlniss, dass wir das Gelingen des Planes nicht sowohl von unserm Eifer, als von dem freundlichen Entgegenkom- men und der allgemeinen Theilnahme der Vereine abhängig glau- ben, haben wir demnächst, um jene Mittel mit Aussicht auf Erfolg ins Werk richten zu können, an sie sämmtlich das dreifache Ge- such gestellt: 1) um ihre Zustimmung und ihren Beitritt zur Aus- führung des Planes im Allgemeinen; im Besonderen aber 2) um Mittheilung aller ihrer Publicatioucn, sowohl der früheren, soweit solches nicht schon geschehen oder noch zulässig erscheint, als auch und vornehmlich alier künftigen; denn ohne jene würden etwanige Rückblicke uns wesentlich erschwert, ohne diese aber die beabsichtigten Jahresübersichten gänzlich unausführbar sein; endlich 3) um ihre Mitwirkung in Rath und That, um jegliche Un- terstützung, welche die gemeinsamen Zwecke fördern könnte, ohne die besondern zu beeinträchtigen; sowie uns denn auch Ausstel* lungen hinsichtlich der Haltung des Unternehmens, oder Wünsche und Rathschläge in Betreff der ferneren Gestaltung desselben zu allen Zeiten willkommen sein würden.

Das Circular ist um die Mitte des December durch den Buch- handel versandt worden; über die Erfolge desselben werden wir von Zeit zu Zeit Auskunft ertheilen und bemerken hier nur, dass einige Vereine, unserer Aufforderung zuvorkommend, ihre Bereit- willigkeit zur Unterstützung der Sache uns schon jetzt durch Zu- schriften bezeugt haben, namentlich der Verein für Hessische Ge- schichte und Landeskunde in Cassel und der Verein für Meklen- burgische Geschichte und Alterthumskunde in Schwerin.

Wir schliessen mit der Absicht, die vorstehende Rubrik in Zukunft so oft als tbunlich mit einem allgemeinen Artikel zu er- öffnen, dann die kritischen Referate über einzelne Vereine, cudlicb

7*

100 Angelegenkeiten der historischen Vereine.

Vorschläge, Anfragen oder sonstige Notizen folgen zu lassen. Zugleich aber wollen wir dem Leser durch das nachstehende Ver- zeichniss Gelegenheit geben, von vorn herein den weiten Horizont unsers Standpunktes, wenn auch nur annähernd, zu ermessen.

Teneichniss der bistorischen Vereine nnd Gesellschaften DentscUands nnd der Nachbarstaaten.

I. Deutschland.*)

1. Die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde.

Baden.

2. Die Gesellschaft für Beförderung der Geschichtskunde zu Freiburg.

3. Die Sinsheimer Gesellschaft zur Erforschung der vaterländi- schen Denkmale der Vorzeit.

4. Der archäologische Verein in Baden.

•5. Der Alterlhumsverein in Baden.

Baiern.

6. Der bist. Verein von und für Oberbaiern zu München.

7. Nicderbaiern zu Passau.

8. für Oberfranken zu Bayreuth und Bamberg.

9. jy in Mittelfranken zu Ansbach.

10. Die Gesellschaft für Erhaltung der Denkmäler älterer deut- scher Geschichte, Literatur und Kunst zu Nürnberg.

11. Der bist. Verein von Unterfranken und Aschaffenburg zu

Würzburg.

12. ,, für Schwaben und Neuburg zu Augsburg.

13. ,, für die Oberpfalz zu Regensburg.

14. der Pfalz zu Speyer.

Frankfurt a. M.

15. Der Verein für Geschichte und Kunst in Frankfurt.

Hamburg.

16. Der Verein für Hamburgische Geschichte.

Hannover.

17. Der bist. Verein für Niedersachsen in Hannover.

Kurfürstenthum Hessen.

18. Der Verein für Hessische Geschichte u. Landeskunde zu Cassel.

Grossherzogthum Hessen.

19. Der bist. Verein für das Grossherzogthum Hessen in Darm- stadt.

*) Die mit einem Stern versebenen sind im Waltherschen Repertorium nicht verzeicbnet.

Angelegenheiten der historischen Vereine. 101

20. Der Vercio zur Erforschung der rheinischen Greschicfate uod Alierthümer in Mainz.

Lübeck^ *21. Die Geseilschaft für gemeinnützige Thatigkeit. Section für Geschichtsforschung.

Mecklenburg.

22. Der Verein für Mecklenburgische Geschichte und Alterthums- künde.

Nassau.

23. Der Verein für na^sauische Alterthumskunde und Gescbichts* forschung zu Wiesbaden.

Oesterreich.

24. Das Johanneum zu Gratz.

25. Das Ferdinandeum zu Insbruck.

26. Die Gesellschaft des vaterländischen Museums in Böhmen zu Prag.

27. Die böhmische Gesellschaft der Wissenschaften zu Prag.

28. Der Verein für vaterländische Geschichte, Statistik und Topo- graphie zu Wien.

29. Der Musealverein des FranciscoCarolinuros zu Linz.

Preussen.

30. Der Verein für die Geschichte der Mark Brandenburg zu Berlin.

31. Die berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache und Alter- thumskunde.

*32. Die numismatische Gesellschaft zu Berlin.

33. Die königliche deutsche Gesellschaft zu Königsberg.

34. Die schlesische patriotische Geseilschaft. Historische Section. *35. Der Geschichtsverein für Schlesien.*)

36. Der altm'ärkische Verein für vaterländische Geschichte und Industrie zu Salzwedel.

37. Der thüringisch-sächsische Verein für Erforschung des vater- ländischen Alterlhums zu Halle.

38. Die Gesellschaft für pommersche Geschichte, Alterlhümer und Kunst zu Stettin.

39. Die oberlausitzische Gesellschaft zur Beförderung der Natur- und Geschichtskunde zu Görlitz.

40. Der Verein für Geschichte und Alterlhumskundo Westphalens.

41. Die bist. Section der westphälischen Gesellschaft zur Beför- derung der vaterländischen Cultur zu Minden.

42. Der Verein für Geschichte und Alterthumskunde in Wetzlar,

43. Der Verein von Alterthumsfreunden im Rheinlande zu Bonn.

*) Durch Herrn Geh. Arcbivrath Dr. Slenzel in Breslau gegründet, laut brieflichor MlUheilung desselben vom 29. Oct. 4844.

102 Angelegenheiten der historischen Vereine.

44. Der bistoriscb-antiquariscbe Verein für die Städte Saarbrücken und St. Johann.

45. Der bist. Verein für Erforschung und Sammlung von Alter- Ihümern in den Kreisen SC. Wendel und Oltweiler.

Reussische Fürstenthümer.

46. Der voigtlandiscbe alterthumsforscbende Verein zu Hohen- leuben.

Königreich Sachsen.

47. Der sächsische Alterthumsverein in Dresden.

48. Die jablonovische Geseilschaft in Leipzig.

49. Die deutsche Gesellschaft zur Erforschung vaterländischer Sprache und Älterthümer zu Leipzig.

Sachsen -Altenburg.

50. Die geschichts- und alterthumsforscbende Gesellschaft des Osterlandes.

Sachsen-Meiningen.

51. Der Hennebergische alterthumsforscbende Verein zu Meiningen.

Schleswig- Holstein -Lauenburg.

52. Die Schleswig -bolstein-lauenburgiscbe Gesellschaft für vater- ländische Geschichte zu Kiel.

53. Die königliche Schleswig -holstein-lauenburgiscbe Gesellschaft für Sammlung und Erhaltung vaterländischer Älterthümer zu Kiel.

Würtemberg.

54. Der würtembergiscbe Verein für Vaterlandskunde.

55. Der archäologische Verein von Rottweil.

56. Der würtembergiscbe Alterthumsverein in Stuttgart.

57. Der Verein für Kunst und Altertbum zu Ulm in Oberschwaben. *bS. Der literarische Verein in Stuttgart.

II. Nachbarstaaten.*) Dänemark.

59. Die Gesellschaft für nordische Alterthumskunde in Kopenhagen.

60. Der historische Verein in Kopenhagen.

Kussische Ostseeprovinzen (Liv- Esth- und Kurland).

61. Die Gesellschaft für Geschichte und Alterthumskunde der rus-

sischen Ostseeprovinzen in Riga.

62. Die gelehrte esthnische Gesellschaft zu Dorpat.

Sieben bürgen.

63. Der Verein für siebenbürgische Landeskunde zu Hermannstadt.

*) Diese sind vom Waltherschen Repertorium ganz ausgeschlossen. Wir gedenken später die Bubrik nameuUich auch auf die Niederlande auszu- dehnen.

Angelegenheiten der historischen Vereine. 103

Schweiz.

64. Die allgemeine schweizerische geschichtsforschende Gesellschaft (Vorstand: Rathsherr Heusler zu Basel).

65. Die historische Gesellschaft zu Zürich (Vorstand: Dr. Bluntschii).

66. Die antiquarische Gesellschaft in Zürich (Vorstand F. Keller).

67. Die historische Gesellschaft zu Basel (Vorst. Prof. W. Vischer).

68. Der historische Verein der fünf Orte Luzern, üri, Schwyz,

Unterwaiden und Zug (Vorst. Prof. Kopp in Luzern).

69. La sociele Romande zu Lausanne (Vorst. Prof. Vuillemain.)

70. La societe d'histoire et d'arch^ologie ä Gen^ve (Vorst. Fre-

d6ric Sorel).

miscelle«

Ausschluss vom Abendmal und Ohrenbeichte.

Es dürfte manchen Lesern interessanl sein zu vernehmen , ^ie sich ein früherer Landesherr von Preussen, der Kurfürst Johann Siegmund, in einem Mandat an drei lutherische Geistliche der Stadt Brandenburg, wel- che lieber das Abendmal verweigerten als von der Reichte dispensirten und ihren andersdenkenden Superintendenten öffentlich, selbst von der Kanzel herab, angriffen und verfolgten, über jene Punkte aussprach. Das Mandat beginnt: „Wo jemand in allen Standen ist, der sich des Friedens und der Einigkeit wenig befleissigt, so seid ihr es und andere, die da geistlich geheissen werden wollen; gewissüch, ihr habt eine Zeil lang in der Kirche zu Brandenburg weidlich tumultuirt und einen Lärmen nach dem andern angefangen, und das hat darnach alles, heissen müssen: Euer Amt und Gewissen brächte solclies mit sich;'^ ungeachtet doch „ein Thell unter euch solche geraumige Gewissen haben, dass ein wohlbela- dener Wagen mit vier Pferden wohl hindurchfahren könnte.'' Dann heisst es weiter: „Damit ja kein Friede zu Brandenburg in der Kirche würe, habt ihr für eure friedenstörigen Köpfe und ohne jemands Erlaubniss, gleichsam als wäret ihr des Landes absoluti domini, euch angemasst, wann und wie es euch gerällig, die Leute von dem heil. Abendmalo auszuschliessen, um der liederlichsten und nichtswürdigslen Ursachen willen, da doch laut der Schrift und der ersten wahren Kirchen Gebräu- chen, hievon niemand als der in offener Todsünde gelebet aus- geschlossen worden.'^ Der Kurfürst nennt dies Verfahren „eigenmächtig," mit dem Zusatz: „und hei nach soll es alles mit dem Deckmantel des Am- tes und Gewissens bedecket und verhüllet werden;" aber sie wären „Heuchler", die nicht ^,bedacht halten was Gott durch die Apostel sagt: Ich will Barmherzigkeit haben, und nicht die Opfer." Ueber die Ohren- beichte sagt er: „Stolz, Hoffarlh, Rachgier, Geiz und die Erhaltung nicht der Beichtenden (darum ist es euch wenig zu thun), sondern des hochgeehrten, sehr geliebten, hochwürdigen Beichtpfennigs steckt da- runter. Auch macht ihr neue Glaubensartikel und da eure Allväter allzeit

104 Miscelle,

gelehrt und geschrieben, die Ohrenbeicbt sei nur ein MiUelding, so macht ihr ein nothwendig StUcl^ zur Seiigl^eit daraus/' ,,Ja, die rech^ runde Wahrheit zu sagen: was ist die Obrenbeichte in dieser jetzigen Kirche an vielen Orten anders gewesen, ais eine wahre Officin aller sce- lerum et flagitiorum; in welcher Orflcin manch ehrlich Weib eben durch euch, die Geistlichen oder vielmehr Geistlosen, um ihr Ehr und Redlich- keit gebracht worden, ohne andere BubenslUcke die vieirallig daselbst ge- schmiedet sein worden." Schliesslich ladet er die gedachten drei Geist- lichen, nachdem er ihrem „Widerloben und Dominiren in der Kirche über die Gewissen der Menschen eine Zeit zugesehen, '' zur Verantwor- tung vor seinen „Geheimen- und Consisiorial Räthen," und gebietet ih- nen „bei höhester Strafe und Ungnad'' das ,, Gezanke mit dem Super- intendenten (L)r. Garcäo) nicht auf der Kanzel zu gedenken und da* durch den Riss in der Kirchen noch grösser zu machen." „Geben zu Göln an der Sprew am 96. Juny anno 4 649." gez. „Adam Puttlitz. Frieder. Brücken/' (s. Schuegraf: Altes Pfenning Kabinet. Stadtamhof, 4 845 bei J. Mayr; Magin: bist. Beschreib, d. Reichsgräfl. Residenzstadt Sorau. Leipzig 474 0).

Nachwort.

In der Schlussbemerkung zum Vierten Bande hatie ich die Mo difScationen angekündigt, welche mit dem gegenwärtigen Jahrgange eintreten würden. Ihren wesentlichen Inhalt giebt. nun der Um- schlag des vorliegenden Heftes wieder. Nur in Betrefif des Titels glaube ich noch eine Erläuterung nachtragen zu müssen. Wenn die „Greschichtswissen schaff' in „Geschichte'' und die „Zeit- schrift" in eine „Allge meine'' verwandelt wurde: so liegt der Grund einmal darin, dass der erstere Ausdruck theils begriffliche Missverständnisse, theils verschiedenartigere Ansprüche hervorrief, als die Zeitschrift ihrem Raum und Zwecke nach befriedigen kann ; der letztgedachte Zusatz aber schien erforderlich, um den zahlrei- chen provinciellen Zeitschriften für Geschichte gegenüber, die weit enger begrenzte Zwecke verfolgen, die vorliegende auch durch ein äusseres Merkmal zu unterscheiden. Mit dieser Umgestaltung ist nun zugleich liio Aenderung verknüpft, dass nicht mehr wie bisher einige der Mitwirkenden', nämlich die Herren A ßöckh, J. und W. Grimm, G H. Pertz und L. Ranke, als diejenigen weiche dem Unternehmen mit höchst dankenswerlher Bereitwilligkeit zuerst sich angeschlossen, auf dem Titel namhaft gemacht werden , son- dern statt dessen das Verzeichniss der sämmtlichen Mitwirken- den auf dem Umschlage mitgetheilt wird. Dies konnte nicht eher zulässig erscheinen, als bis sich im Fortgang der Entwicklung erst eine gewisse grössere Summe von factisch mitwirkenden Kräften herausgestellt hatte. Mit dieser Aenderung soll indess keinesweges gesagt sein^ als ob die oben genannten Gelehrten nicht nach wie vor geneigt wären, der Zeitschrift ihre Theilnahme und Unter- stützung zu widmen, vielmehr glauben wir versichern zu dürfen, dass die thatsächlichen Beweise derselben auch in diesem Jahre eher sich mehren als vermindern werden. Da der Kreis der Mit- arbeiter kein abgeschlossener ist, so geben wir uns überdies der Zuversicht hin, dass namentlich auch die Mitwirkung der süddeut- schen Historiker sich immer entschiedenor nhd kräftiger entfalten werdo. Adolf Sclimidl.

Die liandeftverfassungr In Kurliesseii*

Im Vergleich mit den Staatsgrundgesetzen der übrigen

deutsehen Staaten.

Erster Artikel. Entstebong, Cbarakter und Yerhältnlss xom deatschen Bnnde.

llie kurhessische Verfassungsurkunde vom 5ten Januar 1831 ist keineswegs ein ohne Rücksicht auf bestehende Verhält* nisse neu geschaffenes Staatsgrundgesetz, sondern ist, vor- zugsweise hinsichtlich des Systems der Volksvertretung, dem Princip der Reform folgend, auf die frühere landständische Verfassung gegründet, welche sie nach dem Ausdruck des mit der Eröffnung des Landtags im Jahre 1831 vom Landesherrn beauftragten Ministers (Verh. des Landtags von 1831 p. 3.) in einer dem Bedürfnisse der Zeit und des in ihr waltenden und unaufhaltsam fortschreitenden Geistes angemessenen Weise abgeändert und festgestellt hat. Seit Jahrhunderlen halten in Hessen , mit Ausnahme des FUrsten- thums Hanau und der neu erworbenen Provinzen, landstän- dische Einrichtungen bestanden (ofr. Geschichte der land- ständischen Verfassung in Kurhessen von Pfeiffer), welche auf dem Feudalsystem beruhten, wonach die Stände des Landes, getrennt für Allhessen und für die Grafschaft Schaumburg unter einander in Curien abgesondert, durch die Prälaten, die Ritter und die Städte gebildet wurden. Diese Verfassung wurde verdrängt, als der grösste Theil Rurhessens, in Verbindung mit einigen andern Ländern, zu dem Königreich Westphaien umgewandelt und für dasselbe eine neue Constitution am 15ten November 1807 ertheilt wurde. Mit Auflösung des Königreichs Westphaien hörte diese von selbst wieder auf. Nach Wiederherstellung des Kurfürstenthums Hessen wurde „auf ausdrücklichen Befehl^^ des Kurftirsten am 29sten August 1814 „die ausdrücklichste Zusicherung^^ über die Fortdauer der kurhessiseben Land«

AU«. Z«itotkvift f. OMohickU. T, 1§4«. g

106 Die Landesverfassung in Kurhessen.

stände eriheiit, denselben jedoch durch eine kurfürstliche Verordnung vom 27sten'December 1814 ein neues Element beigefügt^ indem dem Stande der Bauern das Recht einge- räumt wurde, zu dem bevorstehenden Landtage Depntirte zu wählen und abzusenden, welche auch von den übrigen Curien zugelassen wurden. Während diesesLandtags wurde von den Ständen auf die Ertheilung einer für alle Landes- theile geltenden Constitution gedrungen, die jedoch nicht zu Stande kam, obwohl ein Entwurf dazu durch landes- herrliche Gommissare vertraulich den Ständen mitgetheilt wurde, welche ihre Bemerkungen darüber jenen Commissaren zugehn liessen. Seit dem Jahre 1816, wo dieser Landtag endete, schlummerte die landständische Verfassung, bis im Jahre 1830 der Kurfürst die Landslände Althessens zu einem neuen Landtage berief, an welchem auch, mit Einwilligung jener Abgeordnete aus der Grafschaft Schaumbnrg und den bisher nicht vertreten gewesenen Provinzen Antheil nahmen. Jedem einzelnen Mitgliede dieses Laqdtags wurde schon vor dessen Erdflriung mit einem besonderen Schreiben der kur- fürstlichen Landtagscommission die landesherrliche Propo- sition vom 7ten October 1830 mitgetheilt. Dieselbe enthielt Vorsehläge zu den Bestimmungen, welche, nach geschehener Berathung auf dem LatKitage, in einen allgemeinen Land- tagsabschied als Staatsgrundgesetz gebracht werdM sollten. Die Landstände wählten nach Eröffnung des Land>- tags einen besonderen Ausschuss zur Prüfung jener Präpo- sition (s* g. Verfassungsausschuss), zu welchem, neben dem Abgeordneten der Landesuniversität, zwei Mitglieder aas ieder der drei Curien genommen wurden, firsterer lieferte als Referent einen selbständigen Entwurf zu einer Verfassungs- urkunde, begleitet von einem denselben begründenden Be- richte, welcher bei der Berathung des Ausschusses über die landesherrliehe Proposition demselben vorgetegen hat (Ver- fassungsentwurf !.). Dieser Ausschuss trug dem Landtage seine Ansichten vor, indem er „gutachtliche Bemerkungen und Anträge zur landesherrlichen Proposition vom 7ten Oc- tober 1830 das zu errichtende Staatsgrundgeseta für Kur-*

Die Landesperfa$$ung in KyrimHn. Wl

hessen betreffend, in Form einzelner, zu einem Ganzen ver- bundener Sätze'' der Ständeveraammlung zur sobliessUohen Erörterung vorlegte, ohne von seinen Arbeiten der landes- berrlicben Gommission Mittheilung gemacht zu haben. Nach- dem der letzteren durch die Stände Versammlung zwei Exem- plare vertraulich mitgetheilt waren, auch die Beratbung darüber in Plenarsitzungen aller Gürien begonnen hatte, an welchen die Landtagscommission in Folge einer besonderen Einladung der Ständeversammlung Theil nahm , wurde zur vorbereitenden Vermittelung der (sowohl von mehren Mit-» gliedern der Ständeversammiung als Seitens der Landtags-* commissarien^ geäusserten) verschiedenen Ansichten über die Arbeiten des mit der Begutachtung der landesherrlidien Proposition vom 7ten October 1830 erwählten Ausschusses ein weiterer Ausschuss der Ständeversammlung unter zu erbittendem Hinzutritte eines der Landtagscommissarien (s. g. Vermittlungsausschuss) gewählt, zu welchem der Verfassungs* ausschuss zwei seiner Mitglieder , das Plenum der Stände- versammlung aber vier Mitglieder ernannte. Mehre Theile der gutachtlichen Bemerkungen etc. (Verfassungsentwurf IL) wurden, noch ehe dieselben zur Berathung in den Plenar- sitzungen kamen, unter Mitwirkung des Yermittlungsaus- schusses veränderL Nach den von der Ständeyersammlung sodann gefassten Beschlüssen wurde eine „Verfassungs- urkunde" als „Entwurf in Folge landständischer Berathung" zusammengestellt. Dieser Entwurf (Verfassungsentw^urf IIL) wurde vom Staatsministerium begutachtet und mit den von demselben in Antrag gebrachten Aenderungen (Verfassungs- entwurf IV.) nochmals von der Ständeversammlung in Be- rathung genommen, nach deren Beschlüssen dann ein wei- terer Entwurf (Verfassungsentwurf V.) im Einverständnisse mit der landesherrlichen Gommission angefertigt und dem Landesherrn zur Genehmigung vorgelegt wurde. Diese er- folgte mit einigen nach vorgängiger Begutachtung durch das Staatsministerium beliebten Aenderungen ( Verfassungsent- wurf VL), welche von der Stäudeversammlung sämmtlich gebilligt vnurden, so dass jener letzte Entwurf am 5ten Ja-

108 JHe Landesverfassung in Kurhessen.

nuar 1831 als Verfassungsurkunde vollzogen und den 8len Januar 1831 feierlich promulgirt wurde.

Darzustellen, wie die einzelnen Bestimmungen derselben nach und nach entstanden sind, daraus eine Ableitung ihrer wahren Bedeutung zu versuchen, die kurhessische Verfassungsurkunde in ihren wesentlichsten Bestandtheilen mit den Constitutionen anderer deutschen Staaten zu ver- gleichen und nach Maassgabe der späteren landständischen Verhandlungen zu zeigen, in welchem Sinne das Staats- grundgesetz Kurhessens aufgefasst wurde, welche Anwen- dung demselben gegeben ist und wie sich solches entwickelt hat das möchte für ein in mancher Beziehung nicht un- wichtiges Werk zu halten sein, was aber freilich sehr um- fassend werden würde. Dennoch findet vielleicht jemand einige Aufmunterung dazu, wenn in dieser Zeitschrift ver- sucht wird, auf jene Weise einzelne Artikel der kurhes- sischen Verfassungsurkunde zu behandeln, was deshalb zu- nächst hinsichtlich des ersten Artikels und der an die Spitze des Ganzen gestellten Einleitung vergönnt sein mag*).

*) Sie lautet: Von Gottes Gnaden Wir Wilhelm 11., Kurfürst von Hessen, Grossherzog von Fulda, Fürst zu Hersfeld, Hanau, Fritzlar und Isenburg, Graf zu Catzenelnbogen , Dietz, Ziegenhain» Nidda und Schaumburg etc. etc. haben , durchdrungen von den hohen Regentenpflichten , Uns stets th'äligst bemüht, die Wohlfahrt Unserer verschiedenen Landestheile, sowie aller Klassen Unserer geliebten Unterthanen zu befördern und sind daher mit aufrieb' tiger Bereitwilligkeit den Bitten und Wünschen Unseres Volkes entgegengekommen, welches in einer landständiscben Mitwirkung zu den inneren Staatsangelegenheiten von allgemeiner Wichtigkeit die kräftigste Gewährleistung Unserer landesherrlichen Gesinnungen und eine dauernde Sicherstellung seines Glücks erblickt. Nach- dem Wir sodann zur Ausführung Unserer deshalbigen Absiebten mit den getreuen Ständen Unserer althessiscben Lande, zu welchen noch Abgeordnete aus den übrigen bisher nicht vertretenen Ge- bietstbeilen und aus der Grafschaft Schaumburg hinzugezogen worden sind, über ein Staatsgrundgesetz haben Beralhung pflegen lassen , erlheilen Wir nunmehr in vollem Einverständnisse mit den Ständen, deren Einsicht und treue Anhänglichkeit Wir hierbei er- probt haben ; die gegenwärtige Verfassungsurkunde mit dem herz*

Die Landesterfa$$ung' in Kurhesim. 109

Obwohl in dieser Einleitung der Regent redend aufge- führt wird und man daher, zugleich in Erwägung der Unter- schrift der Yerfassungsurkunde, zu dem Glauben geleitet werden könnte, als sei solche, wenn gleich nach vorgängiger Berathung mit den Ständen , doch einseitig vom Landesfürsten gegeben, so ist dennoch gerade jene Einleitung zwar der einzige, aber auch vollständige in der Verfassungsurkunde selbst enthaltene Beweis, dass letztere die Form eines zwei- seitigen Vertrages zwischen Fürst und Volk an sich trage. Sie kommt zuerst bei dem Verfassungsentwürfe lll vor, in- dem die beiden früheren alsbald mit dem Materiellen ohne allen Eingang anfangen, und ist auch in den späteren Ent- würfen unverändert geblieben, ausser einer Verschiedenheit in der Titulatur des Regenten und einer von dem Staats- ministerium in den Verfassungsentwurf IV. aufgenommenen unbedeutenden Veränderung, welche darin besteht, dass, während ursprünglich der Wunsch ausgesprochen wurde, der Inhalt der Verfassungsurkunde möge die Staatsregierung

lieben Wunsche, dass dieselbe als festes Denkmal der Eintracht zwischen Fürst und Unterthanen noch in spatem Jahrhunderten bestehen und deren Inhalt sowohl die Staatsregierung in ihrer wohltbätigen Wirksamkeit unterstützen, als dem Volke die Bewah- rung seiner bürgerlichen Freiheiten versichern und dem gesamm* ten Vaterlande eine lange segensreiche Zukunft verbürgen möge.

S. 1. Sämmtliche kurhessischen Lande, namentlich Nieder- und Oberhessen , das Grossberzogthum Fulda, die Fürsten- thümer Hersfeld, Hanau, Fritzlar und Isenburg, die Grafschaften Ziegenhain und Schaumburg, auch die Herrschaft Schmalkalden, so wie Alles, was etwa noch in der Folge mit Kurbessen ver- bunden werden wird, bilden für immer ein untheilbares und unveräusserliches, in einer Verfassung vereinigtes. Ganzes, und einen Bestandtheil des deutschen Bundes.

Nur gegen einen vollständigen Ersatz an Land und Leuten, verbanden mit anderen wesentlichen Vortheilen, kann die Ver- tauschuug einzelner Tbeile mit Zustimmung der Landstande Statt finden. Von dieser Zustimmung sind jedoch die mit auswärtigen Staaten dermal bereits eingeleiteten Verträge ausgenommen. $. 2. etc*

Urkundlich Unserer eigenbändigen Unterschrift und des beige- druckten Staatssiegels gegeben zu Wilhelmsböhe den 5ten Januar 1831.

Wilhelm, Kurfürst ct. Br. v. Meysenburg.

110 Die Lande9f>effa9mng in Kurhessen.

in ihrer wohlthötigen WirkSÄinkeit unterstützen, das Volk über die Bewahrung seiner bürgerlichen Freiheiten beruhigen und dem gesammten Vaterlande, eine lange segensreiche Zu- kunft verbürgen, späterhin gewünscht wurde, ihr Inhalt möge sowohl die Staatsregierung unterstützen, als das Volk beruhigen u. s. w,; eine Aenderung aus weldier, wenn überhaupt derselben eine Bedeutung beigelegt werden kann, nur die Absicht zu erkennen ist, auch in diesem Ausdrucke eine grössere Gleichstellung der Staatsregierung und des Volkes zu bewirken und gewisserroaassen mehr noeh den Standpunkt beider als zweier contrahirenden Theile hervorzuheben. Dieser leuchtet übrigens unverkennbar schon aus dem ganzen Inhalte der Einleitung hervor. Denn es wird darin anerkannt, *(Jass zuerst das Volk Bitten und Wünsche in Beziehung auf die landständische Mitwirkung zu den inneren Staatsangelegenheiten von allgemeiner Wich- tigkeit an den Tag gelegt habe, und dass darauf diesen Bitten und Wünschen des Volkes der Begent mit aufrichtiger Bereitwilligkeit entgegengekommen sei. Weiter wird dann geäussert, dass der letztere zur Ausführung dieser seiner Absicht mit den Ständen Berathung über ein förmliches Staatsgrund- gesetz habe pflegen lassen, und dass diese ein volles Ein- verständniss zwischen dem Regenten und den Ständen her- beigeführt habe. Derselbe nennt endlich die Verfassungsurkunde ein festes Denkmal der Eintracht zwischen Fürst und ünterthanen, lauter Merkmale einer zweiseitigen durch Uebereinkunft der Betheiligten zu Stande gekommenen Ur- kunde, welche noch dadurch bestärkt werden, dass die landesherrlichen Commissare, ihrer eignen Erklärung zufolge, ' an der Berathung der Stähdeversammlung zum Zwecke des nunmehr erforderlichen Anfertigens eines gemeinschaft- lichen Entwurfs einer vollständigen Verfassungsurkunde Antheil nahmen. Zur Gewissheit wird ausserdem die Form des Vertrags durch die Unterschrift der Verfassungsurkunde, die,' wenn gleich nicht bei dem in die Gesetzsammlung auf- genommenen Abdrucke, doch unter dem Original, niobt Wos vom Regenten, sondern auch von den Landständen

JNe Landes0erfa9sung m kurhes$en. 111

erfo]gt ist, welche dabei die Giausel hinzufügten: Der Inhalt der verstehenden Verfassungsurknnde wird als dem daria erklärten landständischen Einverständnisse .yellkomaien ent- sprechend hierdurch anerkannt. Diese Glausel trägt das Datum des 9ten März 1831, an welchem Tage der denLand^ tag von 1830 scbliessende Landtagsabschied vollzogen wurde. Auch in diesem Landtagsabschiede, welchem unbezweifeH die Eigenschaft eines Vertrages' i;^eizulegen ist, wird erwähnt, dass die Ständeversammlung die Verfassungsangelegenheit und die damit in Verbindung stehenden Gesetze unter steter Theilnahme der kurfürstlichen Landtagscommission berathen habe, so dass in vollem Einverständnisse der Staatsregierung und der Landstände die Verfassungsurknnde als ein Grund- gesetz zu Stande gekommen sei, dessen Verbindlichkeiten fiir den Regenten, wie für die Regierten in allen Zeiten feststehe und niemals durch irgend ein die Thronfolge oder den Staat betreffendes Ereigniss erschüttert werden aolte. Hierdurch widerlegt sich die Folgerung, welche in Pölitz' Jahrbüchern der Geschichte und Staatskunst (April 1831) Ak* die Form einer octroyirten Verfassung aus der Unterschrift des. Kurfürsten gezogen wird. Selbst die am Sten Januar 1831 Statt gefundene Feierlichkeit einer förmlichen üeber- gabe der Verfassungsurkunde durch Kurfürst Wilhelm L, der solche eigenhändig vor versammelten Landständen dem Erbmarschall, als deren damaligem Präsidenten, überlieferte, von weichem letztern sie darauf als Namens der Stände empfangen erklärt wurde, deutet die Vertragsform an (Mur- hard kurh. Verf. Urk. Th. 1. p. 43.). Auch in einer officiel- lenRede, die im grossen Hörsaale der Landesuniversitat vom Professor der Geschichte gehalten wurde, ist die Verfassungs- uriLunde ein Bundesvertrag zwischen Herrscher und Be- herrschten genannt (Murhard Th. 1. p. 46.). Die Stellung, welche bei den Verhandlungen über die Verfassungsurkunde Fürst und Volk gegenseitig einzunehmen hatten, war nicht etwa eröt während der Berathung zur Sprache gebracht, sondern schon in der landesherrlichen Proposition vom 7ten October 1830 hervorgehoben, welcher die Einleitung der

112 Die Lande$f^erfa$iung in Kurhessm.

Verfassungsurkunde f^st wörtlich entlehnt ist. Denn bei der genauen Uebereinstimmung des ersten Satzes der Einleitung mit jener Proposition und bei der völligen Gleichheit der in letzterer enthaltenen Schlussworte, mit denen in dem Ver fassungsentwurfe IIl.^ kann man nur in der Verschiedenheit der Zeit und der veränderten Sachlage den Grund finden, wenn der Mittelsatz der Proposition vom 7ten October 1830 lautet: „Um nun über unsre Absichten in gedachter Beziehung keinen Zweifel zu lassen und zugleich eine angemessene Vorbereitung zu den Arbeiten des durch unsre Verordnung vom 19ten v. M. auf den 16ten d. M. berufenen Landtags zu erleichtern, ertheilen wir schon jetzt hierdurch unsern für diesen Landtag ernannten Commissaren den allergnädigsten Auftrag, den getreuen Ständen unsrer althessischen Lande, zu denen noch Abgeordnete aus den übrigen bisher nicht vertretenen Gebietstheilen und aus der Grafschaft Schaum^ bürg hinzuzuziehen sind, die nachstehenden aus freiem Entschlüsse getroffenen Bestimmungen vorzulegen, da- mit sie vor allen andern Angelegenheiten berathen, dem- nächst aber im Einverständnisse mit den Ständen, deren Einsicht und treuer Anhänglichkeit wir gern vertrauen, in einen allgemeinen Landtagsabschied gebracht werden und als Staatsgrundgesetz das schönste Denkmal der Eintracht zwischen Fürst und Unterthanen bilden, die Staatsregierung etc. verbürgen mögen.^'

Die Proposition unterscheidet sich durch diese Andeu- tung des Standpunktes, auf welchen bei den Berathungen über die Verfassungsurkunde Fürst und Volk sich zu ein- ander stellten, sehr wesentlich von der Ansicht, welche der Regent auf dem im Jahre 1816 für Althessen gehaltenen Landtage geltend machte. Damals wurde nämlich einem der ritterschafllichen Deputirten die . neue Landesconstitution zu einer confidentiellen Mittheilung an die hohe Stände Versamm- lung zugefertigt. Diese Art der Mitiheilung geschah, wie dabei bemerkt wurde, um deswillen, um dadurch officiellen Bemerkungen vorzubeugen , als welche Sr. Königlichen Hoheit empfindlich sein würden, indem AUethÖchst Dieselben wünsch-

Die Landesverfassung in Rurhessen. 113

ten, anerkannt zu sebn, aus Allerhöchst eigner Bewegung gehandelt zu haben, wohingegen confidentielle Aeusserungen in persönlichen Gonferenzen wohl Platz greifen dürften. Noch mehr trat jene Ansicht hervor, als der landesherrliche Gommissar die Meinung äusserte, dass die Constitution keiner Discussion unterworfen werden könne , indem Se. Königliche Hoheit den Ständen mehr Rechte eingeräumt, als sie schon gehabt hätten und es am räthlichsten sei, sie nur anzu- nehmen, weil leicht eine Alles vereitelnde Veränderung da- zwischen kommen könne, ohnehin die versammelten Par- ticularstände keine Abänderung fordern könnten, indem dar- über auch die stände der hinzutretenden Provinzen gehört werden müssten, wenn dergleichen Statt finden sollten; und zuletzt nur, als die Stände erwiederten, dass nicht von Ab- änderungen, sondern von Bemerkungen die Rede sei, die vielleicht zu Verbesserungen Aulass gäben, solche anzuhören nachgab. Zwar erklärte die Curie des Bauernstandes, es wäre zu wünschen, dass diß Verfassungsurkunde als Vertrag zwischen Regenten und Ständen zu Stande käme, weil, wenn sie als Gesetz erschiene, kein Nachfolger daran ge- bunden sei; zwar verlangte auch die Städtecurie, die Con- stitution müsse, um hinsichtlich der Successoren eine Ga- rantie für deren Befolgung zu erhalten, nicht einseitig als Gesetz, sondern durch Vertrag zwischen dem Regenten und den Volksrepräsentanten und zwar dergestalt ihre Existenz erhalten, dass jeder Nachfolger zugleich vermöge dieser Constitution und durch dieselbe succedire; zwar wurde endlich, als ein ritterschaftlicher Deputirter ebenfalls erklärt hatte, dass eine Staatsconstitution da, wo reichs- oder landständische Verfassung existirt, als Vertrag zwischen dem Regenten und den Regierten hergestellt, nicht als Gesetz aufgedrungen werden müsse , von der rittersphafllichen Curie beschlossen, dass in dem Begleitungs-Promemoria zu den Bemerkungen über den Entwurf der Constitution zu be- rühren sei, wie man von der bekannten Weisheil und Ge- rechtigkeit Sr. Königlichen Hoheit erwarten dürfe, dass die Constitution dem Vaterlande in der Form eines Vertrags

114 Die Lmde$terfä$sung in Kurheisen.

tverde gegeben werden, welche ttbtigens nach der Meinaog des Abgeordneten der Landesuniversität schon durch die förmliche Annahme des vom zeitigen Regenten aus- zustellenden Reverses über die Angelobung delr Constitution oder durch eine beiderseitige Unterzeichnung der letztern entstehn würde. Allein auch nachher erklärte der landesherrliche Gommissar in einer Conferenz mit den dazu ausersehenen StSndemitgliedern, die Constitution wäre ver- traulich mitgetheilt worden und Stände könnten darüber gar nichts sagen; was freilich die s{ändischen Mitglieder nicht haben zugeben können, weil die vertrauliche llitthei- lung Bemerkungen auf eben diesem Wege gestatte und der- gleichen noch besonders von Sr. Königlichen Hoheit wären nachgegeben worden; wie denn auch noch in einer spätem Conferenz ständischer Seits unter den Hauptpunkten, worauf es dermalen ankomme, die dem Vaterlande zu ertheilende mit den Bemerkungen der Stände begleitete Staats- constitution aufgeführt wurde, wenn gleich auf die etwas mildere Erklärung des landesherrlichen Commissars, es wäre auf die Berücksichtigung sämmtl icher von den Ständen zum Constitutionsentwurf gemachten Bemerkungen wohl nicht zu bestehn, indem Se. Königh'che Hoheit alle und jede aufzunehmen nicht vermöchten, ständischer Seits er- wiedert wurde', dass, sofern nur die Hauptbemerkungen berücksichtigt würden, es auf die übrigen nicht ankomme. Dessenungeachtet aber beharrten die Stände auf einer „dnrch Debereinkunft zwischen dem Regenten und den versammel- ten Landständen und mit Zustimmung der zur Landstand- schafl hinzutretenden Provinzen vertragsmässig zu verfas- senden Constitution"; und selbst als die Landtagscommission erwiederte, es sei nicht von einer neuen Gründung des Staates, nicht von efner vertragsmässig einzugehenden Re- gierungsform die Rede, sondern der Kurfürst wolle nur aus Zuneigung für das Wohl seiner ünterthanen dem ständischen Mitwirkungsrecht eine grössere Ausdehnung als es bisher gehabt geben, worüber jedoch nicht vorerst zu tractiren stehe, indem die partiellen Stände einzelner Provinzen sich

Die Landesverfassung in Kurhessen, 115

Tiieht ihrem Regenten gegenttbefsteHen, niobt mit ihm han* dein, nicht verlangen dürften, dass er ztir SchmXlemng der Regierungsrechte noch ein Mehres einräumen solle, als das Interesse des Staates^ wie die Handhabung der Gereebiig^ keit und Ordnung, unter Entfernung aller willküriichen Maassregeln, erfordere, selbst da noch erklärten zulettt die Stände, die Form der Constitution, die sie begehrt hätten, sei durch den Regriff eines Landesgrundgesetzes unabänderlich bestimmt, indem nur in ihr dasselbe für ewig verbindliche Kraft erhalte, nur durch sie die Erfüllung der ersten Forderungen einer zweckgemässen Staatseinrichtung für immer gesichert werde.

Kurfürst Wilhelm IL mag ebensowohl durch das da- malige Festhalten der Stände an der Idee, dass nur ver- tragsmä«sig eine neue Constitution dem Lande gegeben werden könne, zu dem Gedanken geführt sein, abweichend von der Ansicht des verstorbenen Kurfürsten Wilhelm L, alsbald das neue Staatsgrundgesetz für ein im wechselsei- tigen Einverständnisse zu Stande zu bringendes Werk zu erklären, als durch die üeberzeugung, dass bestehende Verfassungen nur auf verfassungsmässigem Wege, also nur mit Zustimmung der Betheiligten geändert werden können.

Doch entsteht die Frage, ob wirklich die auf dem Land- tage von 1830 erschienenen Personen befugt waren, Samens des kurbessischen Landes in die Gründung einer neuen Ver- fassung zu willigen. Nach der Eröffnung des durch die Ver- ordnung vom 19. Sept. 1830 einberufenen althessischen Land- tags ist von den Landtagscommissarien proponirl,* ob nicht die Deputirten der neuhessischen Stände bei der dringlichen Lage der damaligen Verhältnisse ohne weitere Förmlichkeiten in die Gemeinschaft der althessischen Stände aufzunehmen seien, um an den Berathungen sogleich Theil nehmen zu können; welcher einstimmig gebilligte Antrag zur Folge hatte, dass die Deputirten der neuhessischen Stände in die Ver- sammlung eingeladen und ihnen ihre Aufnahme bekannt ge- macbf wurde, worauf sie ihre Sitze einnahmen. Dieser Act ist in dem Landtagsabschiede vom 9. März 1831 $. 1. so dar-

116 DU Landeiterfa$sung in Kurhesien.

gestelli, dass die Versammlung der althessischen Stände mit den Abgeordneten aus der Grafschaft Schaumburg und aus den übrigen Landestheilen sich zu einem Landtage für die sdmmtlicben kurhessiscben Lande und zur gemeinschaitlichen Berathung der Landes -Angelegenheilen vereinigt habe, dass die Abgeordneten der übrigen Lande zu dieser Vereinigung sämmttich ihre Zustimmung gegeben und dass diese Versamm- lung somit zur Vertretung des ganzen Eurfürstenlhums Hessen befähigt worden sei. Es kann aber gefragt werden, ob die Personen, welche hier gehandelt haben, ermächtigt waren, für den Landestheil, den sie repräsentiren sollten, eine solche Maassregel zu treffen. Man muss hierbei die verschiedenen Landestheile unterscheiden, weil die frühere Verfassung der* selben von einander abwich. Althessen halte eine eigne ständische Vertretung, indem dasselbe herkömmlich durch einen sogenannten engeren Landtag repräsentirt wurde, welcher sich durch den Erbmarschail , einen Obervorsteher der Stifter, einen Deputirten der Landesuniversität, fünf von der allhessischen Ritterschaft gewählte Deputirte, die Bürger- meister von Cassel, Marburg und Homberg, so wie vier aus den Stadträthen der übrige* zur Wahl berechtigten Städte ernannte Deputirte, desgleichen seit dem Jahre 1814 aus fünf Deputirten des Bauernstandes, bildete. Ein solcher engerer Landlag halte die Befugniss, für die allhessischen Lande verbindliche Handlungen vorzunehmen (vergl. Berl, pol. Wbchenblall 1834 Nr. 18. 19. GasseL allg. Zeit. 1834 BeibL 26. p. 1.). Ein Landtag dieser Art war es, welcher durch die kurfürstliche Verordnung vom 19. September 1830, ganz auf die Weise, wie solches noch zuletzt 1815 Statt ge- funden hatte, zusammenberufen wurde.

Die Fürstenlhümer Hanau und Jsenburg, desgleichen das Grossherzogthum Fulda hatten bisher einer landsländischen Verfassung ganz entbehrt. Gesetzliche Vertreter ders Volkes in jenen Gebielslheilen existirten nicht. Für diese Lande war es daher keine Beschwerde, als durch einen Beschluss vom 19. Sept. 1830 vom Regenten den Unterthahen in dem Grossherzogthum Fulda, so wie den Fürstenthümern Hanau

Die Landeiverfanung in Kurheigm. 117

und Isenburg eine landständiscbe Vertretung aus höchst- eigner Bewegung allergnädigst zugesichert wurde. Bei dem Mangel einer landständischen Verfassung konnte eine solche jenen Gebietstheilen octroyirt werden. Deshalb stand es auch in dem Ermessen des Regenten, zu bestimmen, wel« ches die Personen der erwähnten Landestheile sein sollten, mit denen er über ein neu einzuführendes Staatsgrundgesetz Berathung pflegen lassen wollte. Daher wird man es unbe- denküch finden müssen, wenn in Folge landesherrlicher Be- stimmung als solche Personen ein von der ehemaligen un- mittelbaren Reichsritterschafl in Fulda zu wählendes Mitglied, der Bürgermeister der Stadt Fulda, der Bürgermeister der Stadt Hanau, ein von den Städten Gelnhausen, Salmünster, Schlüchtern, Soden, Steinau und Wächtersbach Erwählter, ein von den Ortsvorstehem der Landgemeinden in dem Kreisamtsbezirke Hanau und ein von den Ortsvorstehern der Fuldaischen Landgemeinden Erwählter bezeichnet wurden.

Dadurch wurde zugleich der Bestimmung der deutschen Bundesacte Art. 14 genügt, wonach dem ehemaligen Reichs- adel Antheii der Begüterten an der Landstandschaft zuge« sichert worden war. .

Nicht so unzweifelhaft ist es, ob die Vorschrift der Bundesacte hinlänglich gewahrt wurde, dass die Häupter der im Jahr 1806 und seitdem mittelbar gewordenen fürstlichen und gräflichen Häuser die ersten Standesherrn in dem Staate sind, zu dem sie gehören, sofern hiernach jedem Haupte eines standesherrlichen Hauses für seine Person die Land« slandschafl gebührt, indem zu dem Landtage von 1830 nur ein gemeinschaftlicher Vertreter sämmtlicher Standesherrn vom Regenten einberufen wurde. Da jedoch diese einer solchen Aufforderung sich fügten und wirklich gemeinsam einen BevoUmächtigten bestellten, so haben sie, was ihnen offenbar freistand, jenes Verfahren gebilligt, ohne dass des« halb von einer Verletzung ihrer Rechte noch die Rede sein könnte.

Die Grafschaft Schaumburg hatte von jeher eine von Alt* bessen gesonderte landständische Vertretung gehabt, welche

US Die L(mdei9€rfa$smg in Ktirh^s^m,

sich auf Landlagen äa&serte, die dureh die Prälaten, die RiW ier, die Städte so ^yie seit dem Landtagsabschiede von 1816 dttrch zwei aus dem Bauernstande des ehemaligen Amtes Schaumburg und durch einen aus dem .Bauernstande des Amtes Rodenberg gewählten Deputirten gebildet wurden. Nur ein solcher Landtag war ermächtigt, jenen Landestbeil XU verpflichten und in die Aenderung der altherkömmlichen Verfassung, insbesondere in eine Incorporation dieses Ge- bietstheiies mit den übrigen Landen zu willigen. Statt dessen wurde durch einen Beschluss des Ministeriums des Innern vom 7. October 1S30 verfi^t, dass zu dem am 16. October 18M in Cassel zu eröffnenden Landtage die .in der landes- herrlichen PropositioQ vom 7. Oct. 1830. §. 14. 15 und 16 erwähnten Abgeordneten zeitig erscheinen sollten. Dies war ein Abgeordneter aus der Ritterschaft der Grafschaft Schaum- burg^ gewählt von derselben unter Mitstimmung des Ver- treters des ehemaligen Stiftes Möilenbeck, so wie der ade- Itcfaen Stifter Fischbeck und Obernkirchen, der Bürgermeister der Stadt Rinteln und ein von den Vorstehern der Landge- meinilen in der Grafschalt Schaumburg erwählter Grundbe-. sitzer.. Diese drei Personen erschienen ;5war, erklärten jedoch sowohl mündlich als schriftlich der Landtagscommission und dem Erbmarschall, als Präsidenten des Landtags für Althessen, dass es in der Natur der Sache liege^ wie durch ihre Theil- nahme an der Berathung über die. in ein Staatsgrundge- setz aufzunehmenden Bestimmungen so wenig eine Incorpo- raiion der Grafschaft Schaumburg in Althessen geschefan könne, als dadurch die Rechte und Freiheiten der schaum- burger Landstände aufgehoben würden^ dass ihr Beitritt zu der Versammlung der Landstände allein zum Zweck ihrer MitwiriLung zu einer allgemeinen landständischen Verfassung für Kurhessen und ihrer Theilnahme an der Berathung über die in eine neue Verfassungsurkunde aufzunehmenden Be- stimmungen gesehehn sei, unter dem einstweiligen ausdrück- lichen Vorbehalt aller der Grafschaft Schaumburg und deren F^ndständen zustehenden Freiheiten und Gerechtsame. Hier- mach konnten also die erwähntea drei Personen nur als

solche betracbtet werden, weloÜe xurVorbereiiuag einer VeifasauDgsurkunde diisersebeD seien , die nach ihrer Voll* endung einem auf hergebrachte Weise zu versammelnden schaumburger Landtage hätte vorgelegt werden müssen, um den Beitritt zu derselben Namens der Grafschaft Schaum« bürg zu erklären. Diese Procedur ist jedoch nicht einge- schlagen und man würde deshalb hinsichtlich jenes Gebiets- theiles behaupten können, dass für denselben die Verfassungs« Urkunde keine rechtliche Verbindlichkeit habe, wenn nicht dieselbe nachher von jedem männlichen Bewohner der Graf- schaft Schaumburg beschworen wäre und so dieser Landes- theil zwar nicht durch einen verfassungsmässigen Landtag, wohl aber durch den gesammten Volksstamm die Verfassungs- urkunde als für sich verbindlich anerkannt hätte.

Auf die Vertragsform der Verfassungsurkunde ist später von dem Finanzministerium provocirt worden. Passelbe theilte nämlich zur Begründung seiner Ansicht, dass die rotenburger Quart beim Rückfalle derselben nicht als zum Staatsgut, sondern zum fideicomi^issarischeu Hausgute des Kurhauses Hessen gehörend zu betrachten sei, den Ständen ein rechtliches Bedenken mit, in welchem erklärt wurde, die kurhessische Constitution vom 5. Januar 1831 gehöre aner- kannter Maassen zu den sogenannten pactirten Verfasaun* gen, 830 sei ein Staalsgrqnd vertrag zwischen Sr. König- lichen Hoheit dem Kurfürsten einer Seits und den Land"- ständen anderer Seits, unterliege also auch den allgemeinen Grundsätzen von den Wirkungen dier Verträge überhaupt (Landt. Verh. von 18S4--35 Anl. 360. pag. 38.).

Nicht ohne wesentlichen Einfluss auf die Wirkungen der Verfassungsurkunde (cfr. Murhard Th. 1. p. 95.), auf die Aus* legung derselben und auf die Art der damit vorzunehmetH den AenderuBgen ist jene Eigenschaft des Vertrages, welche den Grundgesetzen vieler deutschen Staaten fehlt. Sie findet sich nur in dem Landesvertrage ftlr das FUrstenthum Wal- deck vom 19. April 1816, wodurch im Einverständniss mit ien Landständen vün Ritterschaft und Städten, der bisherig ffifOL Landes- und ständiaefaen Verfassung eine nähere Ein-

120 Die Landuterfa$$ung in Kurheum,

richtung gegeben wird ; sodann in dem Grundgesetz für das Grossherzogthum Sachsen- Weimar-Eisenach vom 5. Mai 1816, welches unter Zustimmung der landschaftlichen Deputirten der alten Lande und unter Beirath der berufenen Abgeordne«* ten der zugefallenen neuen Gebiete festgestellt ist; auch in der Verfassungsurkunde für das Königreich Würtemberg vom 25. September ldl9, Über welche durch Entschliessung des Königs und Gegenerklärung der von der Ständeversammlung hierzu besonders erwählten Mitglieder eine vollkommene beiderseitige Vereinigung zu Stande gekommen ist; femer in dem Grundgesetz für das Herzogthum Sachsen-Altenburg vom 29. April 1631, welches nach erfolgtem Beirath der Land- schaft und mit deren Zustimmung verliehen ist; desgleichen in der Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen vom 4. September 1831, wonach die Verfassung des Landes mit Beirath und mit Zustimmung der Stände geordnet ist; auch in der Landschaftsordnung für das Herzogthum Braunschweig vom 12. October 1832, welche als das Grundgesetz des Lan-> des nach beendigter Beratjiung und getroffener Uebereinkuilfi mit der Landschaft, mit Zustimmung der Stände erlassen ist; endlich in der landständischen Verfaasungsurkunde für das FUrstenthum Lippe vom 6. Juli 1836, welche mit den Land- siänden sorgfältig berathen und unter deren Zustimmung als Landesgrundgesetz erlassen ist. Bei allen übrigen Verfassun- gen der deutschen Staaten ist mehr oder weniger scharf von den Regenten hervorgehoben, dass sie als ein Ausfluss ihres alleinigen Willens und lediglich als octroyirte Charten zu be- trachten seien. So heisst es in dem landesfürstlichen Patent für das Herzogthum Nassau vom 2. September 1814, unter Erwähnung der nach dem Rathschlusse der göttlichen Vor- sehung anvertrauten unbeschränkten Regierungswirksamkeit, „hiernach haben wir beschlossen und verordnet, wie nach- folgt" etc. In der Verordnung für das Fürstenthum Schwarz- burg-Rudolstadt vom 8. Januar 1816 wird gesagt: „finden wir gut. Folgendes anzuordnen^* etc. Die Bestimmungen der Verfassungsurkunde für das Königreich Baiern vom 26. Mai 1818 erklärt der König fttr eine aus freiem Eutschlusse ge-

Die Landesverf€usung in Kurhessen. 121

gebene Verfassung des Königreichs. Eben so erscheint die Verfassungsurkunde, für das Grossherzogthum Baden vom 22. August 1818 lediglich als eine Gabe des Landesherm. Dasselbe ist riicksichtiich der Verfassung für das Filrstenthum Lichtenstein vom 9. November 1818 der Fall. Vor Ertheilung der Verfassungsurkunde für das Grossherzogthum Hessen vom 17. December 1820 sind nur die Wünsche der Stände über die constitutionelien Bestimmungen vernommen. Eben so hal im Herzogthum Sachsen- Coburg -Saalfeld der Regent die Wünsche der Stände über die landständische Verfassung vernommen, dann aber in möglichster Berücksichtigung der- selben seine Entschliessung gefasst und sich bewogen ge- sehn, die landständische Verfassung in die Verfassungsur- kunde vom 8. August 1821 zusammenzufassen. Genau auf die nämliche Weise ist bei dem Grundgesetz für die ver- einigte landschaftliche Verfassung des Herzogthums Sachsen- Meiningen vom 23. August 1829 verfahren. Nach dem Patente womit das Grundgesetz des Königreichs Hannover vom 26. Sep- tember 1833 publicirt wurde, hat der König auf den Antrag der allgemeinen Ständeversammlung beschlossen, die inneren Verhältnisse des Königreichs durch die Erlassung eines neuen Staatsgrundgesetzißs genauer festzustellen und die Grundsätze zu denselben in einer an die Ständeversammlung erlassenen Declaration vorgeschrieben, darauf die Resultate der statt- gehabten Berathung der Stände sich vorlegen lassen, deren Anträge in allen der Zustimmung derselben bedürfenden Punkten zu bestätigen sich bewogen gefühlt, solche auch übrigens zum grössten Theile den von ihm ertheilten Vor- schriften entsprechend und nur in einigen wenigen Punkten zur Sicherstellung der landesherrlichen Rechte und zum Besten der Unterthanen von ihm einer Abänderung bedürftig gefunden, sich dann veranlasst gesehn, in Beziehung auf die deshalb nothwendig gefundenen Veränderungen des aus den Beralhungen der Stände Versammlung hervorgegangenen Grund- gesetzentwurfs eine Erklärung abzugeben und, nachdem die von ihm nothwendig erachteten Veränderungen des von der Ständeversammlung vorgelegten Gesetzentwurfs gemacht wor-

AI%. ZciUchrift f. Qeschielittf. V. 1846. 9

in Die Landesterfastung in Kurhe$$etL

den sind, demselben die landesherrliche Bestätigung eribeitt, auch befohlen, dass das auf solche Weise zu Stande ge- brachte Grundgesetz des Königreichs Hannover in Kraft tre- ten solle. Ungeachtet der Statt gehabten Mitwirkung der Stände triit doch bei diesem Grandgesetz mehr als bei irgend einer anderen Constitution der einseitige Wille des Regenten hervor, dem es völlig freisteht, dasselbe nach seinem Ermessen beliebig zu deuten. Wie kurze Zeit sich solches Geltung zu verschaffen vermocht hat, ist bekannt.

Was die an der Spitze der kurhessischen Verfassung«- Urkunde stehende Titulatur des Regenten betrifft, so war solche in der landesherrlichen Proposition vom 7. October ISdO nicht vollständig aufgeführt. In dem Verfassungsent- würfe 1 und II war sie übergangen, in dem Verfassungs- eoiwurfe llf, also dem von den Ständen ausgegangenen, lautete dieselbe: KurfUrst, Grossherzog von Hessen und Fulda, Fürst zu Hersfeld etc. In dem Verfassungsentwurfe IV, weU eher die Billigung des Staatsministeriums erlangt hat^e, war dies unverändert geblieben. In dem Veifassungsentwurfe V, welcher darauf im Einverständnisse der ^'ndeversammlung und der Landtagsoommission angefertigt war, ist der erste Theil der Titulatur unausgefüllt geblieben, indem es daselbst

heisst: Kurfürst Fulda^ Fürst zu Hersfeid etc., so dass

gewissermaassen die Bestimmung dem Regenten überlassen wurde. In dem Verfassungsentwurfe VI, der vom Lahdes- herrn selbst ausging, war der Titel: Kurßirst von Hessen, Grossh^zog zu Fulda etc. eingerückt. Diese Titulatur, wakfae die Stände Versammlung genehmigte, weicht von der früher übiicbeii ab. Nach Wiederherstellung des Kurfürstenthums Hessen gebrauchte Kurfürst Wilhelm I, namentlich bei der zuerst erlassenen Verordnung vom 4. Januar 1814 den Titel: „des heiligen römischen Reichs Kurfürst, souverainer Land- graf zu Hessen, Fürst zu Hersfeld" etc., der sich von der Titulatur, welche ^eit dem Erwerbe der Kurwürde im Jahre 1803 angenommen wurde, nur durch die in dieser fehlende Bezeichnung „souverain" unterschied. Auffallead hätte der Gebrauch jenes Titels im Jahre 1814 erseheieen können.

Die LandemDerfoiiung in Kurhesien. 128

nachdem das heilige römische Reich sich im Jahre 1806 durch die Erklärung des Kaisers aufgelöst hatte; doch erkennt dies die kurhessische Regierung nicht an, die noch jetzt, im Jahre 1845, der Ansicht, dass das heilige römische Reich bis zur deutschen Rundesacte fortgedauert habe, practische Gel- tung zu verschaffen sucht, namenthch in Beziehung auf die Wirksamkeit der während des Königreichs Westphalen von dem Inhaber der Staatsgewalt vorgenommenen Handlungen, und in Beziehung auf die Lehnsabhängigkeit mehrer deut* scher Fürsten, welche durch die Auflösung des Reichs die Souverainität erlangten. Diese Idee von der Fortdauer des Reiches lässt sich indess nicht wohl mit der den Reichs- ständen offenbar mangelnden Souverainität vereinigen, welche seit 1814 auch für Hessen angesprochen wurde. Schon vor der deutschen Bundesacte ward durch ein Regierungsaus- schreiben vom 5. Mai 1815 bekannt gemacht, dass der Sou- verain beschlossen habe, ungeachtet der veränderten Zeitumstände, den Titel eines Kurfürsten beizubehalten, welcher durch sein Alter eben so sehr, als durch die da* von abhängende hohe Würde ausgezeichnet sei. Nach Ab- Schliessung des deutschen Bundesvertrages bediente sich derselbe in Gemässheit eines Auszugs eines auswärtigen Protocolls vom 11. Juli 1815 des Titels: Kurfürst und sou- verainer Landgraf zu Hessen, Fürst zu Hersfeld etc. Nach der Erwerbung des Grossherzogthums Fulda nahm Wilhelm I. den Titel an: Kurfürst und souverainer Landgraf von Hessen, Grossherzog von Fulda, Fürst zu Hersfeld etc. Diesen Titel gebrauchte auch Wilhelm IL in der kurfürstlichen Verkündi- gung vom 27. Februar 1821, seinen Regierungsantritt be- treffend. Die durch die Verfassungsurkunde vorgenommene Aenderung besteht also darin, dass die Bezeichnung eines Landgrafen von Hessen weggefallen, dagegen die in dem bisherigen und mehr noch in dem bei dem Verfassungsent- wurfe III und IV gebrauchten Titel als etwas Personelles betrachtete Würde des Kurfürsten auf das Land über- tragen ist, ohne dass die eines Grossherzogs, wie es d«r Vorschlag der Stände war, neben Fulda, auch auf Hessen

9*

124 Die Landesi^erfassung in Kurhessen,

angewendet wurde; so wie darin, dass das von der Souve- rainitöt entlehnte Beiwort ausgelassen wurde. Da die Ver- fassungsurkunde durchaus nicht auf die Verhältnisse des Fürsten und des Staates zu auswärtigen Mächten sich be- zieht, sondern lediglich bestimmt war, die inneren Ange- legenheiten des Landes zu ordnen, so kann jener Auslassung nur die Bedeutung beigelegt werden, dass, wegen der in der Einleitung der Verfassungsurkunde erwähnten landstän- dischen Mitwirkung zu den inneren Staatsangelegenheiten, für die Benennung des Fürsten, den Staatsbürgern gegen- über, der. Ausdruck eines Souverains nicht mehr passend gehalten wurde, ohne dass die Unabhängigkeit des Fürsten und des Staates gegenüber andern Mächten irgend dadurch habe alterirt werden sollen.

Durch den ersten Artikel der Verfassungsurkunde wird die Untheilbarkeit und Unveräusserlichkeit des Staatsgebietes, die Eigenschaft desselben als Bestandtheil des deutschen Bun- des, die Vereinigung aller Landestheile unter einer Verfas- sung und die Bedingung einer Vertauschung ausgesprochen.

Der Constitutionsentv^urf von 1816 zählte im Capitel 2. §. 1. auf, was „das Kurfürstenthum Hessen in seinem gegen- wärtigen Umfange begreift" und nennt dabei zuerst unter Litt, a, die Landgrafschaft Hessen, worauf dann die übrigen Bestandtheile unter den Buchstaben b bis Ä, wie in der Ver- fassungsurkunde, folgen, jedoch ohne das damals noch nicht erworbene Fürstenthum Isenburg. Im §. 2. heisst es weiter „diese Länder, desgleichen auch die in der Folge hinzukom- menden, bilden ein uhtheilbares unveräusserliches Ganzes." Die Stände hatten damals gegen diese Fassungen nichts ein- zuwenden.

Ein vom 4ten März 1817 datirtes Haus- und Staatsge- setz drückt sich, im §. 1 aus: sämmtliche kurhessische Pro- vinzen, namentlich Nieder- und Oberhessen, das Grossher- zogthum Fulda, die Fürstenthümer Hersfeld, Hanau, Fritzlar, der uns in Ansehung der Souverainität zugefallene Antheü des Fürstenthums Isenburg, die Grafschaften Ziegenhain und Schaumburg nebst der Herrschaft Schmalkalden, sowie AI-

Die Landesverfassung in Kurhessen. 125

les, was etwa noch in der Folge mit Kurhessen verbunden werden wird, bilden für immer ein untheilbares und unver- äusserliches Ganzes/* Hier also kehrt der Ausdruck der Landgrafschaft Hessen nicht wieder, sondern- ist in die Benennung Nieder- und Oberhessen verwandelt. Die Mediatisirung des Fürstenthums Isenburg, welches seit Auf- lösung des deutschen Reiches bis zur Vereinigung mit Hes« sen die Souverainität genossen hatte, ist als die Ursache der Weise zu betrachten, in welcher seiner erwähnt wird. In der Proposition vom 7 ten October 1830 ist auf dieses Ver- hällniss nicht mehr Rücksicht genommen, vielmehr lautet die betreffende Stelle: „Die Fürstenthümer Hersfeld, Hanau, Fritzlar und Isenburg.** Sonst stimmt der §. 1 jener Propo- sition genau mit dem Haus- und Staatsgesetze überein, aus- ser dass die irp letzteren vorkommende Benennung „Pro- vinzen** mit dem Ausdruck „Lande** vertauscht ist. Die Unveräusserlichkeit des Staatsgebiets ist hierdurch keines- wegs neu eingeführt, indem das Verbot der Veräusserungen schon seit Jahrhunderten, namentlich seit dem Brüderver- gleiche von 1568 und seit dem Testamente des Landgrafen Wilhelm IV. vom 26sten März 1576 bestanden hatte. Auch die Untheilbarkeit des Landes war schon seit Einführung der Primogenitur unter Landgraf Moritz im Anfange des 17 ten Jahrhunderts in Hessen grundgesetzlich geworden (Verh. d. Landt. von 1834 Anl. 360). Beides ist auch im- mer in der Ausdehnung auf künftige Erwerbungen verstan- den worden, wie es in dem Haus- und Staatsgesetze vom 4 ten März 1817 ebenfalls angeführt ist.

Die Untheilbarkeit und Unveräusserlichkeit des Staats- gebiets wird gleicherweise vorgeschrieben in der badischen Verfassungsurkunde §. 3 und in der Braunschw. LandschaftSr Ordnung §. 1. In dem sachsen-altenburgischen Grundgesetz findet sich nur das Veräusserungsverbot. Die Verfassungs- urkunde für das Königreich Sachsen dehnt dies auf die Rechte der Krone aus, was jedoch auch in der kurhessischen liegt, zumal noch besonders darin (§. 142) die Veräus- se^rung des Staatsvermögens verboten ist. Das Sachsen- wei-

126 Die Landesverfassung in Kurhessen.

marsche Grundgesetz §. 2 verbietet nur die Abtrennung eines staatsrechtlichen Gebiets von dfer Staatserbfolge zu Gunsten eines Allodialerben unter dem Verwände der AUo- dialqualität, was die wohlthätige Folge haben muss, dass Streitigkeiten zwischen den Ständen und einzelnen Gliedern des Regentenhauses über den Heimfall von GUterstUcken vermieden werden. Nach der würtembergischen Verfassungs- urkunde §. 2 soll als ein neuer in die Gemeinschaft der Verfassung des Staates aufzunehmender Landeszuwachs Al- les angesehen werden, was der König nicht blos fUr seine Person, sondern durch Anwendung der Staatskräfte oder mit der ausdrücklichen Bestimmung, dass es einen' Bestand- theil des Königreichs ausmachen soll, erwirbt. Weiter geht die baiersche Verfassungsurkunde III. §. 1 , indem nach der- selben auch alle neue Erwerbungen aus Privattiteln an tinbeweglichen Gütern, sie mögen in der Haupt- oder Nebenlinie geschehen, wenn der erste Erwerber während seines Lebens nicht darüber verfügt hat, als der untheil- baren und unveräusserlichen Gesammtmasse, welche das Königreich bildet, einverleibt angesehen werden. Dies ist auch der Grundsatz, welchen das ältere hessische Staatsrecht kennt und welcher seine Begründung in dem Brüderver- gleiche von 1568 findet. Obwohl die kurhessische Verfas- sungsurkunde darüber schweigt, kann man doch nicht an- nehmen, dass dadurch jener ältere Grundsatz aufgehoben sei, wenn man auch, bestände er nicht, eine Einführung des- selben durch die Verfassungsurkunde nicht würde annehmen können.

In dem Verfassungsentwurfe II. war vor das Wort Gan- zes noch hinzugesetzt: „durch eine Verfassuiig vereinigtes^^ was auch die Genehmigung der Ständeversammlung erhielt und so in den Verfassungsentwurf IIL übergegangen ist, je- doch in dem vom Staatsministerium aufgestellten Verfassungs* efttwurf IV. die Redaction erhielt: „in einer Verfassung vereidigtes^^ wobei es geblieben ist.

Beide Passungen können nur die Bedeutung haben, dass, wie sich Gap. 2 $. 3 des Constitutionsentwurfs von 1816

Die LandesPerfiuiung in Kmhe$$en. 127

ausdrückte, eine sätnmtliohe Provinzen umfassende landsUhi- dische Verfassung dadurch eingefiihrt werde und demnach die Repräsentationen einzelner Provinzen durch besondere Landslände von selbst aufhören. Dass für alle LandestheHe die nämliche Verfassung bestehen solle, hat noch besonders durch die schon in dem Verfassungsentwurf II. vorkommende Sperrung des Wortes: „einer" hervorgehoben werden sol- len. Es ist dies um so erheblicher, als jenes Wort das ein- zige im ersten Abschnitte*) der Verfassungsurkunde ist, für welches durch den Verfassungsentwurf li. eine Sperrung vorgeschlagen wurde, während alle übrigen in der Verfas- sungsurkunde §. 1 bis 8 gesperrt gedruckten Worte, diese Auszeichnung, ohne dass solche auf einem Beschlüsse be- ruhte, nur durch den Vermittlungsausschuss erhalten haben, der mit der Redaction der Verfassungsurkunde d. h. des Verfassungsentwurfs III. beauftragt wurde, welcher letztere hinsichtlich der in den $. 1 bis 8 vorkommenden Sperrun- gen mit der Verfassungsurkunde übereinstimmt. Man kann daher nur annehmen, dass jener Ausschuss durch diese Sperrungen den Inhalt eines jeden Artikels habe augenfällig machen wollen, da es nicht in seiner Befugniss stand, ein- zelnen Worten durch die Sperrung eine nicht beschlossene besondere Bedeutung zu geben. Will man der Verschie- denheit, welche hinsichtlich der Redaction zwischen dem Verfassungsentwurfe 111. und IV. besteht, einen besonderen Sinn unterlegen, so vermag dies wohl nur der zu sein, dass die einzelnen Gebietstheile nicht erst durch die Verfassung vereinigt seien, da sie schon vorher in einer gewissen Ver- bindung standen, auch vielleicht nicht in jedem Betracht völlig eins geworden, sondern nur in einer Verfassung d. h. rücksichtlich der Gleichheit politischer Rechte, was im- mer- noch Abweichungen in den sonstigen Verhältnissen des einen oder des andern Gebietstheiles von denen der Ge- sammtheit zulässt, selbst in Ansehung der Gesetzgebung,

*) Ueberscbrieben: Von dem Staatsgebiete, der Regierungs- form, Regierungsfolge und Regentschaft, und die §• 1 9 umfassend.

128 Die Landewerfasiung in Kurhessen.

obwohl schon 1816 die Curie des Bauernstandes die Be- stimmung verlangte, dass alle Gebietstheile nach gleichen Gesetzen regiert werden sollten. Am angemessensten möchte wohl, um dieses, auszudrücken, die in der Yerfassungsur- künde für das Königreich Sachsen §. 1 gewählte Fassung sein, wonach das Königreich ein unter Eine Verfassung ver- einigter Staat ist. Uebrigens ist das Nämliche in den ver- schiedenartigsten Wendungen wiedergegeben in dem sachsen- weimarschen Grundgesetz §. 1, in der bayerschen Ver- fassungsurkunde I. §. 1, in der würtembergischen $. 1, in der für das Grossherzogthum Hessen §. 3 und in der braunschweigischen $. 1; so wie in dem sachsen-meiningi- sehen Grundgesetz $. 1, welches ganz zweckmässig sich dahin ausdrückt, dass das Herzogthum ein staatsrecht- liches Ganze bilde, während das sachsen-altenburgische $. 1 diesen Ausdruck mit einer Tautologie adoptirt hat, indem es die Wendung gebraucht: ein staatsrechtliches zur Theil- nahme an einer und derselben Verfassung vereinigtes Gan- zes. Als eine Folge der Vereinigung sämmtlicher kurhessi- scher Gebietstheile zu einem Ganzen ist übrigens die Theil- nahme derselben an den althessischen Activen betrachtet worden, was namentlich hervorgehoben wurde, als die zu dem einmaligen kurmainzischen Oberamte Amöneburg gehö- rigen Gemeinden um Erstattung der von denselben seit 1814 bezahlten Landesschuldensteuer bei der Ständeversamm- lung aus dem Grunde baten, weil die Schulden von ihnen nicht hergerührt hätten (Verh. d. Landt. v. 1831 pag. 961).

Der von dem Staatsministerium ausgegangene Verfas- sungsentwurf IV enthält zuerst hinter dem Worte „Ganzes" den Zusatz „und einen Bestandtheil des deutschen Bundes," wogegen ständischer Seits nichts erinnert worden ist. Auf^ fallend ist es, weshalb diese Worte sich nicht schon in^ der Proposition vom 7ten October 1830 finden, da sie wenig- stens nicht durch die Emeiidation hervorgerufen sein kön- nen, welche J. 1 der letzteren bei der ersten Berathung der Stände erhielt.

Die Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen

Die Landesverfassung in Kurhessen, 129

$. 1 ist die einzige, welche gleich der kurhessischen, die Thatsache aufführt, dass das Reich ein Staat des deut- schen Bundes ist. Alle übrigen deutschen Staatsgrundge- setze lassen entweder das Verhältniss zum Bunde ganz un- berührt, oder sie erwähnen es mit den nämlichen Worten wie das kurhessische, stellen aber zugleich die Grundsätze auf, .welche sich als die Folgen desselben ergeben sollen. So erklärt die badische Verfassungsurkunde $. 2, dass alle organischen Beschlüsse der Bundesversammlung, welche die . verfassungsmässigen Verhältnisse Deutschlands oder die Ver- hältnisse deutscher Staatsbürger im Allgemeinen betreffen, einen Theil des badischen Staatsrechts ausmachen und für alle Glassen von Landesangehörigen verbindlich werden, nachdem sie von dem Slaatsoberhaupte verkündet worden sind. Dasselbe enthält die würlembergische %. 3 mit dem Zusätze, dass in Ansehung der Mittel zur Erfüllung der hier- durch begründeten Verbindlichkeiten die verfassungsmässige Mitwirkung der Stände eintritt; desgleichen die Verfassungs- urkunde für das Grossherzogthum Hessen $. 2, sowie die sachsen-coburg-saalfeldische $. 2. und die sachsen-altenbur- ^ische $. 12. Letztere nennt $. 11. nicht das Land einen Bestandth^il des deutschen Bundes, sondern den Herzog ein Mitglied desselben, was sie mit der braunschweig. Landschaftsordnung $.11 gemein hat, und erkennt an, dass der Herzog nach den Bundesgesetzen Rechte und Pflichten habe, woran durch die innere Liandesgesetzgebung nichts geändert werden könne. Genereller als die schon erwähn- ten Staatsgrundgesetze ist die braunschweig. Landschafts- ordnung §. 12 gehalten, wenn sie erklärt, allgemeine An- ordnungen und Beschlüsse des deutschen Bundes sollten dadurch Gesetzeskraft für das Herzogthum erhalten, dass sie von dem Landesfürsten verkündigt werden; wozu denn noch die weitere Bestimmung $. 7 kommt, dass der Landesfürst den^ Staat in allen Verhältnissen zum deutschen Bunde ver- tritt, die auch wohl in der würtembergischen Verfassungs- urkunde §. 85 entdeckt werden könnte.

Alle diese aus der Eigenschaft der Staaten als Bestand-

130 Die Landesterfassung in Kurhessen.

theile des deutschen Bundes oder aus der Eigenschaft der Fürsten als dessen Mitglieder abgeleiteten Folgerungen kön- nen in Kurhessen nicht eintreten, weil dieselben in der * kurhessischen Verfassungsurkunde weder positiv vorgeschrie- ben sind, noch sich aus jener Eigenschaft als etwas Noth- wendiges ableiten lassen, da ein Staat recht gut der Be- standtheil des deutschen Bundes sein kann, ohne dass die Beschlüsse der Bundesversammlung durch die Verkündigung von Seiten des Landesfürsten sofort für die Staatsbürger verbindliche Kraft erlangen müssen. Inzwischen ist eben- sowenig anzunehmen ) dass die Eigenschaft Kurhessens als Bestandtheil des deutschen Bundes in der kurhessischen Verfassungsurkunde blos habe wie eine Thatsache ohne * alle rechtlichen Folgen erzählt werden sollen. Vielmehr lei- tet die Anführung derselben zu einer zweifachen Folge. Es ist üämlich dadurch als ein verfassungsmässiger Grundsatz ausgesprochen, dass Kurhessen einen Bestandtheil des deut- schen Bundes bilden soll; dasselbe darf also aus diesem Verhältnisse nicht heraustreten, so lange nicht die Verfas- sungsurkunde in jener Beziehung geändert wird. Hierdurch unterscheidet sich die kurhessische Verfassungsurkunde von denjenigen Staatsgrundgesetzen, welche den deutschen Bund gar nicht erwähnen, indem die Staaten, in denen dies der Fall ist, wenigstens nicht durch ihre Verfassungsurkunde gehindert sind, die Verbindung aufzugeben, in welche sie zum deutschen Bunde getreten sind. Sodann ist nicht zu bestreiten, dass Kurhessen die Rechte zu üben und die Pflichten zu erftillen hat, welche aus seiner Eigenschaft als Bundesstaat entspringen, oder wie sich das hannoversche Grundgesetz von 1833 §. 2 ausdrückt in seiner Eigen- schaft als Glied des deutschen Bundes alle aus diesem her- fliessenden Rechte und Verpflichtungen thellt; worunter na- türlich, wie auch in der Ständeversammlung geäussert wurde (V. d. L. v, 1832 p. 2373.), nur solche Rechte und Michtefi verstanden sein können, welche zur Zeit, wo die Verfessungs- urkunde Kurhessens verkündigt wurde, aus den damals be- stehenden Bundesgesetzen abgeleitet werden konnten, weil

Die Landesverfassung in Kurhessen. 181

eine durch eine spätere Bundesgesetssgebung oder eine spS^ tere Auslegung der früheren eintretende Erweiterung der Rechte und Pflichten einzelner Staaten den ganzen Bundes- zweck verändert oder erweitert und dadurch gewisser- maassen einen neuen Bund gebildet haben würde, dessen in der Yerfassungsurkunde §. 1 nicht gedacht war (Gass. ailg. Zeit. Beibl. 53. p. 4). Es ist vollkommen richtig, was der Landtagscommissar bei Berathung über das Pressgesetz in der Ständeversammlung erklärte (V. d. L. v. 1833. Nr. 48, p. 35X dass diejenigen, welche darauf dass die Staatsregie- rung ihren Bundespflichten genügen will den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit gegen sie gründen wollen, sich von dem Boden der Verfassung entfernen, welche im §. 1 das Bundesverhältniss des kurhessischen Staats ausdrücklich an- erkenne. Aber die Ausübung der Rechte und die Erfül- lung der Pflichten, die sich hieraus ableiten lassen, muss auf die nämliche Weise geschehn, wie überhaupt Rechte des Staates ausgeübt und Pflichten desselben erfüllt werden, da eine Ausnahme zu Gunsten der bundesmässigen Rechte und Verbindlichkeiten nicht, wie es in andern Verfassungsurkun- den der Fall ist, gemacht wurde; auch da nicht vorgeschrie- ben ist, dass alle oder gewisse Buudesbeschlüsse durch ihre Verkündigung von Seiten des Landesherrn alsbald verbind- liche Kraft für die Staatsbürger erlaogen sollen, noch auch bestimmt, dass wie in dem hannoverschen Grundgesetz $. 7 und in der braunschweig. Landschaftsordnung $. 7 geschah, der Regent den Staat in allen Beziehungen zum deutschen Bunde vertrete. Der Staatsregierung allein steht nach der kurhessischen Verfassungsurkunde §. 95. die Handhabung und Vollziehung der bestehenden Gesetze zu. Dieselbe kann daher auch allein bei der Bundesversammlung für eine Maass- regel stimmen, in deren Ausübung nur eine Handhabung oder Vollziehung der bestehenden Gesetze Kurhessens zu erkennen sein würde. Sie hat aber die Zustimmung der Ständeversammlung einzuholen, wenn sie bei dem Bundes- tage für eine Maassregel stimmen will, welche die Freiheit der Person und des Eigenthums beschränken würde, weil

132 Die Landest^erfassung in Kurhessen.

dies nach der Verfassungsurkunde $.31 nur durch Gesetze geschehen kann, solche aber nach $. 95 nicht ohne Einwil- ligung der Landstände erlassen werden können. Hiernach hat auch die Staatsregierung verfahren, als der Vorstand im Ministerium des Innern der Stande Versammlung, um die An- sicht derselben zu vernehmen, den Entwurf eines Feld- Verpflegungsreglements für die deutsche Bundesarmee vor- legte, da es sich in dieser Angelegenheit von Leistungen der Unterthanen und Gemeinden und zwar von bedeutenden unentgeltlichen Leistungen handele, wobei er bemerkte, dass ausserdem darin nur wenige Punkte vorkämen, welche ein durch die Stäudeversammlung wahrzunehmendes Interesse beträfen (V. d. L. v. 1832. p. 1551. cfr. V. d. L. v. 1833. Beil. GX. p. 6. Nr. 4. V. d. L. v. Juli und März 1833 Beil. L A. p. 4. Sp. 2. Nr. 3. p. 27. S. 2. Nr. 43.). Ein hier- von abweichendes Verfahren kann nicht darin erblickt wer- den, dass der Beschluss der Bundesversammlung vom 9ten Novbr. 1837 über den Nachdruck ohne Mitwirkung der Land- stände durch Verordnung vom 28. Decbr. 1837 bekannt ge- macht wur^ie, weil in Eurhessen schon vorher der Bücher- nachdruck durch ein Landesgesetz vom 16ten Mai 1829 ver- boten war und ausdrücklich mit Beziehung hierauf jene Be- kanntmachung erfolgte, die daher lediglich als Erinnerung an die Befolgung jenes Gesetzes oder als eine Maassregel zur Vollziehung desselben erscheint. Den letzteren Gharak- ter tragen namentlich auch die Ministerialausschreiben an sich, durch welche ein nach jenem Gesetz zulässiger, ausser- gewöhnlicher Schutz gegen den Nachdruck für die Werke von Schiller, Göthe, Jean Paul, Friedrich Richter, Wieland und Herder ertheilt wurde, indem darin, wenn auch die Verleihung dieses Schutzes auf einer am Bundestage getrof- fenen Vereinbarung beruhte, doch nur eine vom Landesherrn ausgehende Beschützung des Eigenthums enlhülten ist, bei welcher die Landslände verfassungsmässig nicht mitzuwirken hatten, deren Zustimmung nur bei ausschliesslichen Handels- und Gewerbs-Privilegien oder bei Patenten erforderlich ist, die auf mehr als 10 Jahre für Erfind un-

Die Landesverfassung in Kurhessen. 133

gen erfheill werden (cfr. Yerfassungsurkunde $. 36.). An- ders möchte es sich mit dem Beschluss der Bundesversamm- lung vom 22 Sien April 1841 über den Schutz musikalischer und dramatischer Werke verhalten , der jedoch in Kurhessen nicht ^ur Verkündigung gekommen ist. '

Willigen die Stände nicht in eine vom Bundestage beab- sichtigte Maassregel, durch welche die Freiheit der Person und des Eigenthums beschränkt werden soll, so wird dem Bundestagsgesändten nicht die Instruction ertheill werden dürfen, für dieselbe zu stimmen, die Staatsregierung vielmehr ve/'pflichtet sein, bei dem Bundestage gegen die Maassregel zu wirken, und der betreffende Minister, welcher eine ent- gegengesetzte Instruction ertheilte, wird dieserhalb verant- wortlich werden. Wird aber eine Maas^regel, gegen welche, übereinstimmend mit der Ansicht der Ständeversammlung, die kurh^ssische Staatsregierung beim Bundestage stimmte, dessenungeachtet von der Bundesversammlung gebilligt, be- trifft sie also einen Gegenstand, bei welchem nicht Stimmen- einhelligkeit zur Gültigkeit eines Beschlusses erforderlich ist, so hört dadurch die Verpflichtung Kurhessens zur Befolgung der Maassregel nicht auf, vorausgesetzt dass überhaupt der Bundestag zur Anordnung derselben befugt war, weil in einem solchen Falle der einzelne Bundesstaat sich der Stim- menmehrheit fügen mus». Aber es mag nun mit oder ohne Zustimmung Kurhessens auf eine an sich gültige Weise eine Maassregel, welche die Freiheit der Person und des Eigen- thums beschränkt, vom Bundestage beschlossen sein, so muss sie, ehe sie die einzelnen Staatsbürger zu verbinden vermag, zu einem Landesgesetz durch Einholung der landständischen Zustimmung erhoben werden, weil nur ein solches, nicht ein Bundesbeschluss an sich, Becbte und Pflichten für die Staatsbürger nach der kurhessischen Verfassungsurkunde be- gründet. Nur liegt, dem Bundesbeschluss auf solche Weise eine Wirksamkeit zu geben, den Landständen die nämliche Verpflichtung ob, welche in dieser Beziehung die Staats- regierung haben könnte, da beide gleichmässig die Folgen anzuerkennen haben, welche aus der verfassungsmässigen

134 Die LandeiterfasBung in KurhesMen.

Vorschrift entspringen, dass Kurhessen einen Besiandtheil des deutschen Bundes bilden soll. Der nämliche Grundsatz ist auch in der Ständeversammiung aufgestellt, indem da- selbst erklärt wurde, jede Bestimmung des Bundestags, welche in Zukunft erfolgen würde, müsse zunächst den Landständen vorgelegt werden, um sie in Bezug auf die kurhessische Ver- fassung zu einem Gesetz zu erheben, indem bekanntlich die BundesbeschlUsse als solche die Völker an und für sich nicht bänden, sondern erst dann, wenn sie von den Regierungen auf verfassungsmässigem Wege zu bindenden Normen er- hoben würden (V. d. L v. 1832. p. 2370. 2370 *.)•

Es lässt sich nicht verkennen, dass nach diesen Grund- sätzen der Beschluss der Bundesversammlung, wonach jedes Unternehmen gegen die Existenz, die Integrität, die Sicher- heit oder die Verfassung des Bundes in den einzelnen Bundes- Staaten ebenso, wie eine gleiche gegen den einzelnen Bun- desstaat begangene Handlung, als Hoch- oder Landes verrath beurtheilt und bestraft werden soll, um in Kurhessen die Eigenschaft eines Landeegesetzes zu erlangen, im Einver- ständnisse mit den Landständen hätte verkündigt werden müssen, während derselbe ohne deren Mitwirkung, durch Verordnung vom 5. November 1836 mit der V^eisung bekannt gemacht worden ist, dass danach die Gerichtsbehörden und Alle, die es angeht, sich zu achten haben. Es dürfte dies mit jenem von der Bundesversammlung in ihrer 16. Sitzung von 1836 gefassten Beschlüsse selbst schwer in Einklang zu bringen sein, da derselbe gerade auf der Voraussetzung be- ruht, dass die Verfassung des Bundes ein nothwendiger Be- standtheil der in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden Verfassungen sei, woraus von selbst folgen dürfte, dass auch die durch die letzteren, welche also selbst die Bundesver- fassung in sich schliessen und diese für einea Theil der Landesverfassung erklären, vorgeschriebenen Formen zur Anwendung kommen müssen, wenn es sich darum handelt, einem bundesverfassungsmässigen Beschluss der Bundesver- sammlung gesetzliche Wirksamkeit in einem einzelnen Bun- desstaate beizulegen. Inwiefern etwa vorkommenden Falls

Die Land€Sverfas$uHg in KurbeMaen» 135

die Gerichte die Yerordnuag vom 5. November 1886 ihren Aussprüchen zu Grunde legen können, da sie durch §. 123 der Yerfasjtungsurkunde angewiesen sind, nach den bestehen- den Rechten und den verfassungsmässigen Gesetzen zu ent- scheiden, steht dahin. Jordan hat in der gegen ihn anhängig gemachten Untersuchung wegen angeschuldigter Theilnahme an dem Frankfurter Attentat vom 3. April 1833 die Frage in Anregung gebracht, ob auch durch einen Angriff gegen die Existenz oder die Integrität des deutschen Bundes ein Hoch- verrath begangen werden könne; allein der Criminalsenat des Obergerichts zu Marburg hat in seinem Urtheile vom 14. Juli 1843 (p. 37.) erklärt, dass es auf eine Entscheidung dieser Frage deshalb nicht ankomme, weil jenes Attentat als eine Unternehmung anzusehn sei, welche auf den Umsturz der kurhessischen Verfassungsurkunde gerichtet war, daher hiasiohtlich der kurhessischen Unterthanen unzweifelhaft un- ter den Begriff des Hochverraths falle.

Da die Landstände nach der Verfassungsurkunde nur für diejenigen Ausgaben die nöUugen Summen aufzubringen haben, deren Nothwendigkeit und Nützlichkeit denselben nachgewiesen ist, so ist auch ihre Einwilligung dazu einzu- holen, wenn bei dem Bundestage Seitens Kurhessens für eine Maassregel gestimmt werden soll, mit welcher ein Kostenaufwand für das Land verknüpft sein würde, indem ohne eine solche Einwilligung Kurhessen gegen eine der- artige Maassregel zu stimmen haben würde. Dieser Grund* satz ist auch nicht blos von einem landständischen Aus- schüsse ausgesprochen, indem derselbe nicht daran zweifelte, dass von Seiten des Ministeriums der auswärtigen Angelegen heiten vermöge seiner verfassungsmässigen Verantwortlichkeit der kufhessische Bundestagsgesandte nicht werde instruirt und ermächtigt werden, zu einer Erweiterung der bundes- gesetzlichen Verpflichtungen in Beziehung auf die Unterhalt tung eines Truppencontingents mitzuwirken ohne vor- gängige laudständische Zustimmung (V. d. L. v. 1832 Beil. LXXUL); sondern auch von der Staatsregierung bethätigt worden. Ais nämlich beim Bundestage die Befriedigung der

136 Die Landesverfassung in Kurhessen,

Personen zur Sprache gekommen war, welchen Forderungen an die ehemalige Reicbsoperationscasse zustanden und die einzelnen Bundestagsgesandtschaften aufgefordert wurden zu erklären, ob ihre Regierungen bereit seien, jene Forde- rungen, zu deren Berichtigung dem Bunde keine rechtliche Verbindlichkeit obliege, aus Billigkeit nach dem Matricular- fusse zu übernehmen, wurde von der kurhessischen Staats- regierung der Ständeversammlung eröffnet, dieselbe beab- sichtige, die von ihr über die noch unbefriedigten Forde- rungen an die ehemalige Reicbsoperationscasse dem deutschen Bundestage abzugebende Erklärung dahin richten zu lassen, dass Kurhessen bereit sei, seinen nach Verhältniss der Bun- desmatrikel zu bestimmenden Beitrag zur Befriedigung dieser Forderungen zu leisten und in drei nach einander folgenden Jahren jährlich mit einem Drittheile zahlen zu lassen^ mit dem Ersuchen, dass die Stände darüber ihre Meinung äussern möchten (V. d. L. v. 1831. p. 720.). Nachdem beim Bundes- tage die rückständigen Abstimmungen in Erinnerung gebracht waren, w^urde die Ständeversammlung von dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten angegangen, baldigst über die ihr hinsichtlich dieser Forderungen gemachte Eröffnung einen Beschluss zu fassen, ohne welchen also die Staats- regierung sich nicht ermächtigt hielt, bei dem Bundestage eine Abstimmung abzugeben. Das Ministerium der auswärti- gen Angelegenheiten , wiederholte seine Erinnerung wegen baldigster Fassung eines Beschlusses in dieser Angelegenheit nach zweifachen weiteren Mahnungen Seitens des Bundes- tags. Darauf erfolgte der der Staatsregierung eröffnete Be- schluss der Ständeversammlung vom 22. März 1832 (V. d. L. V. 1832 p. 1657.), dass man die Leistung des matricular- mässigen Beitrags Kurhessens zur Befriedigung der Gläubiger der ehemaligen Reicbsoperationscasse nur unter Voraus- Setzung der vorgängigen vollständigen Erstattung der von Kurhessen im Jahre 1831 auf Requisition des Bundes aufge- wandten Kosten der Mobilmachung eines Theiles des Con- tingentes genehmigen könne (ibid. p. 1660.), ohne dass der Landtagscommissar dagegen irgend etwas eingewendet hätte,

Die Landesverfassung in Kurhessen. 187

während der Ausschuss den weiteren Antrag, die Staats- regierung darauf aufmerksam zu machen, ob nicht Beiträge zu den gewöhnlichen Bundeskosten bis auf erfolgte Erstat- tung }ener Mobilmachungsgelder auszusetzen seien, zurück- nahm als der Landtagscommissar dies bedenklich hielt und ein Ständemitglied (Jordan) die Aussetzung jener Lei- stungen tür unthuhlich erklärte (ibid. No. 1657.).

Wird nun, nachdem sich die kurhessische Staatsregierung mit den Ständen benommen hat, eine die Belastung des Lan- des mit Ausgaben zur Folge habende Maassregel vom Bundes- tage beschlossen, so muss dann von der Staatsregierung den Ständen der Antrag gemacht werden, die zu deren Aus- führung nöthigen Kosten zu bewilligen. Von dieser Ansicht hat die Staatsregierung sich ebenfalls leiten lassen. Denn als vom Bundestage beschlossen war, dass, um die Ruhe und Autorität des Königs der Niederlande im Grossherzog- thum Luxemburg wieder herzustellen, ein Truppencorps, zu welchem auch ein Theil des hessischen Contingents gehören sollte, schlagfertig aufzustellen sei, dessen Kosten dem Könige der Niederlande zur Last fallen würden, wofür das Land den betreffenden Bundesgliedern Gewähr leiste (V. d. L. v. 1833 No. 41. p. 6*), trug die Staatsregierung bei der Ständever- sammlung darauf an, zu den Mobilmachungskosten für das zum Marschieren bestimmte Contingent und zur Unterhaltung desselben einen Credit, unter Beistimmung zu der ausser- ordentlichen Beschaffung des nöthigen Fonds, zu bewilligen. Als nun der landständische Ausschuss vorschlug, der Staats- regierung den Consens zu einer Anleihe im Allgemeinen zu ertheilen, um damit den ausserordentlichen Staatsbedarf zu decken, äusserte der Landtagscommissar: der Unterschied zwischen Credit und Anlehn dürfe nicht übersehn wer- den; der Credit ermächtige die Staatsregierung eine Ausgabe bis zu einer gewissen Summe eintreten zu lassen; das An- lehn sei bei der Ermanglung von Zahlungsmitteln die letzte Ressource. Wenn von Ausgaben die Rede sei, welche auf Rechtsgründen, auf früheren gesetzlichen Bestimmungen u. dgL beruhten, so bedürfe die Staatsregierung keines Credits; denn

Allg, ZntMclitlh r. Offsebwlite. T. 1846. JQ

188 Die Landesverfoisimg in Kurhesten.

was schon an sich in ihrer Befugniss liege, daru habe sie keine Ermächtigung nölhig. Er fügte dann hinzu, dass durch Bewilh'gung eines Gredits zu Beschaffung der durch die Mo- bilmachung und Unterhaltung des Gontingents nothwendigen Ausgaben die Stände auf alle nachherigen Einreden gegen diese Ausgaben verzichteten, dagegen bei Bewilligung eines Anlehns nichts riskiren würden; dass aber das betreffende Ministerium sich hinsichtlich jener ausserordentlichen Aus- gaben mit einer Anlehnsverwilligung nicht begnügen könne, indem sich dasselbe, insofern demnächst die Stände die da- von bestrittenen Ausgaben nicht genehmigen sollten, einer Verantwortlichkeit aussetze; dass ihm daher, um hiergegen gesichert zu sein, die Ausgaben näher bezeichnet werden müssten, zu weichen das Anlehn bestimmt werden solle (V. d. L. V. 1831. p. 106.). Es liegt jedoch, sogar bei einer gegen die Meinung Kurhessens vom Bundestage beschlossenen Maassrege], wenn die Sache von solcher Beschaffenheit ist, dass ungeachtet des Widerspruchs von Seiten Kurhessens, also durch Stimmenmehrheit dieselbe gültig beschlossen wer- den kann, den Ständen die Verpflichtung ob, die zu deren Ausführung nöthigen Suromen aufzubringen, well die Noffa- wendigkeit der Ausgabe durch den Bundesbeschluss »eVsat nachgewiesen wird. Denn wenn auch die Stände die Aus- gäbe an sich für nutzlos oder unnöthig halten, so wird sie doch in Folge des Gebots der Verfassungsurkunde, dass Kur- hessen einen Bestandtheil des deutschen Bundes bilden soll, zu einer notbwendigen, weil sie vom Bunde auf eine gültige Weise, wenn gleich gegen den Widerspruch E^urhessens, be- schlossen worden ist. In diesem Sinne sprach sich der per« manente Ständeausscbuss aus, als er dem Finanzministerium eröffnete: in der Voraussetzung, dass die Stellung des Gon* tiogents (zur Occupation Luxemburgs) als nojthwendig zur Erfüllung der Bundespflichten des kurhessiscfaen Staates verfassungsmässig unter Verantwortlichkeit des beireffenden Ministerlaldepartements anerkannt sei, könne er nicht* be- zweifeln, dass dem Lande die Aufbringung des zur Vt>ll- Bi^iung einer solchen Maassregel erforderliehen Bedarfs ob«

Die LaniemoerfoiMung Kurhesien. 189

liege. Ob aber ein Beschluss der Bundesversammlung die Erfordernisse an sich trage, welche dessen Gültigkeit be- dingen, insbesondere ob demselben die Stimmeneinhelligkeit zur Seite sieht, wo diese bundesverfassungsmässig nöthig wird, oder ob solcher wegen Mangels dieser Erfordernisse nichtig sei, das hängt von der Beurtheilung des einzelnen Bundesstaates und in diesem von der Prüfung der Behörden, welche zur Ausführung des Beschlusses thätig werden sollen, mithin auch von der Beurtheilung der Landstände in den geeigneten Fällen, in denen ihre Mitwirkung zu jenem Zwecke verfassungsmässig nothwendig erscheint, ab. Denn wenn gleich, wie Jordan sich in dem Berichte über den Entwurf eines Pressgesetzes (Verh. d L. v. 1832. Beil. 89 ) ausdruckt» die Bundesversammlung keinen Richter über sich hat, vor weldiem ein einzelner Bundesstaat gegen dieselbe eine solche formale Nichtigkeit geltend machen könnte und deshalb aller- dings derselbe keine Behörde zu finden vermag, bei welcher auf Wegräumung eines derartigen Beschlusses gedrungen werden könnte, so ist doch kein Bundesstaat verpflichtet, einem nichtigen Beschlüsse der Bundesversammlung Folge zu geben, eben weil dies kein wirklicher Beschluss des Bun* des ist. Was nützte auch die Bestimmung, dass in gewissen Fällen zur Gültigkeit eines Beschlusses Stimmeneinhelligk^ erforderlich ist, wenn dessenungeachtet in einer solchen An- gelegenheit ein Beschluss durch Stimmenmehrheit mit der Wirkung gefasst werden könnte, dass die in der Minderzahl sich befindenden Staaten denselben doch als verbindlich an- erkennen und befolgen müssten.

Nur auf diese Weise dürfte der §. 1. der kurhessischen Verfassungsurkunde zu erklären sein, wenn er mit den sehr bestimmten Vorschriften anderer Staatsgrundgesetze zusam- mengehalten wird, welche doch für ganz überflüssig zu er- achten wären, wenn man glauben wollte dass die in ihnen liegenden Grundsätze auch in Kurhessen gelten müssten, ob- gleich sie daselbst nicht vorgeschrieben sind.

inzwisdien sind nicht blas von dem Criminalsenate def Oberg€iricht3 zu Hanau, sondern auch von dem Griminal-

10*

140 Die Landesterfoisung in Kurhessm.

Senate des OberappcUationsgerichts zu Cassel in einer Unter- suchungssache wegen £ntwerfung, Vervielfältigung und Ver- breitung einer Schrift ohne Regierungsgenehmigung und gesetzwidrigen Inhalts dieser Schrift, so wie wegen Grün- dung eines verbotwidrigen politischen Vereins zur Verfol- gung strafbarer Zwecke, ganz andere Grundsätze angenom- men (Cass. allg. Zeit. 1835 Beil. z. Nr. 59.). Ersteres stellt die Behauptung auf, dass nach Artikel 32. der wiener Schluss- acte die Bundesregierungen die Obliegenheit haben, auf Vollziehung der Bundesbeschlüsse in ihren Ländern zu hal- ten, die Bundesversammlung nach Artikel 31. dieser Acte die Vollziehung derselben von jenen durch Executionsmaass- regeln erzwingen könne, dieser Zwangspflicht der Regie- rung nothwendig ein Zwangsrecht derselben gegenüber ihren Unterthanen entsprechen müsse, und das auf diese Weise begründete Zwangsrecfat der Staatsregierung, dessen Aus- übung nach Artikel 58. der wiener Schlussacte an eine landständische Mitwirkung nicht gebunden sein könne, durch die in der kurhessischen Verfassungsurkunde enthaltene aus- drückliche Anerkennung des Bundesverhältnisses selbst als landesverfassungsmässig erscheine. Es dürfte dabei aber der Artikel 58. der wiener Schlussacte irrig aufgefasst sein. Denn wenn gleich daselbst festgesetzt ist, dass die im Bunde vereinten souverainen Fürsten durch keine landständische Verfassung in der Erfüllung ihrer bundesmässigen Verpflich- tungen gehindert oder beschränkt werden dürfen, so ist doch keineswegs dadurch verboten, bei der Erfüllung der bundesmässigen Verpflichtungen sich der in der Landesver- fassung begründeten Formen zu bedienen und jene Ver- pflichtungen mit Hülfe derjenigen Corporationen und Behörden zu erfüllen, deren Mitwirkung bei der Erfüllung der Re- gentenpflichten überhaupt in Gemässheit der Landesver- fassung erforderlich ist. Will man aus dem Artikel 58 der wiener Schlussacte ableiten, dass die Fürsten bei der Er- hebung eines Bundesbeschlusses zum Landesgesetze an die Einwilligung der Landstände nicht gebunden sind, wo diesen ohne Beschränkung eine Theilnahme an der Gesetzgebung

ie Landesf^erfoisung in Kurhesim. 141

misteht, so kann man auch behaupten, dass der Regent in der Erfüllung seiner bundesmässigen Verpflichtungen durch die Bestimmung der kurhessischen Yerfassungsurkunde ge- hindert oder beschränkt werde, welche die Glaubwürdigkeit und YoUziehbarkeit der landesherrlichen Anordnungen und Verfügungen an eine Gontrasignatur des betreffenden Mi- nisters bindet (§. 108.), welche den Ständen die Beschluss- nahme über die möglichst beste Aufbringung und Verthei- lung der nöthigen Abgabenbeträge überlässt (§. 145.), nach welcher das Eigenthum Air Zwecke des Staates nur gegen Entschädigung in Anspruch genommen werden kann (§. 32.) u. s. w. Man könnte ferner behaupten, dass, weil eine solche Beschränkung nach dem Artikel 58. der ^wiener Schlussacter nicht Statt finden dürfe, die Anordnungen und Verfügungen, des Fürsten, welche zur Vollziehung eines Bundesbeschlusses dienen Sollen , auch ohne Gontrasignatur eines Ministers glaub würdfg und vollziehbar seien; dass nicht, von- den Ständen , sondern von dem Fürsten zu be- schliessen sei, wie die zur Erfüllung der Bundespflichten, z.B. zur Erhaltung des Bundescoütingents nöthigen Summen aufgebradht und vertheilt werden sollen; dass das Eigen- thum der Privaten, welches gebraucht werden soll um den Bündeszwecken zu genügen, z. B. bei Anlegung oder Er- weiterung ^iner Bundesfestung, den Einzelnen ohne Ent- schädigung entzogen werden könne u. s. w. ' Man würde endlich auch behaupten müssen, dass die würtembergische Verfassung §. 3., wonach in Ansehung der Mittel zur Er- füllung der gegen den deutschen Bund begründeten Ver- bindlichkeiten die verfassungsmässige Mitwirkung der Stände eintritt, den Grundgesetzen des deutschen Bundes zuwider- laufe. Es sind dies nothwendige Gonsequenzen der vom Obergericht zu Hanau dem §. 58. der wiener Schlussacte gegebenen Auslegung, die dasselbe doch wohl schwerlich beabsichtigt haben kann, die aber das Irrige jener Aus- legung klar machen dürften.

Das Oberappellationsgericht geht in der erwähnten ünter- suchungssache von der Ansicht aus, dass das kurhessische

142 Die Landesverfassung in Kttrhessen.

StaatÄgrundgesetz nur diejenigen staatsrechtlichen Verhält- nisse ordne, welche sich nicht auf die VerhSltnisse des Staates zum deutschen Bunde und die aus diesem Verhäll- niss entspringenden Rechte und Pflichten beziehen, so dass diese letzterwöhnten Rechtsverhältnisse ganz getrennt von denjenigen bestehen, welche durch das Staatsgrundgesetz geordnet sindj dass demnach auch in dem §. 95. nur von solchen Gesetzen die Rede sein könne, welche nach Maassgabe der Verfassungsurkunde im Bereich der Staats- gewalt, so weit diese nicht durch das Verhältoiss zum deutschen Bunde beschränkt ist, liegen; die Bestimmungen des erwähnten §. aber auf Beschlüsse und Anordnungen nicht angewendet werden könnten, welche in Folge der Fundamentalgesetze des Bundes von der Bundesversammlung ausgehen, und die vielmehr, sobald sie von der Staats- regierung auf gehörige Weise verkündet worden, sind, für die Unterthanen eben die verbindende Kraft hätten, wie Gesetze welche in Gemässheit der Verfassungsurkunde mit Zustimmung der Landstände ertheilt und von der Staats- regierung auf die erwähnte Weise zur allgemeinen Kennt- niss gebracht werden. Auch dieser Grundsatz führt noth- wendig zu der Folge, dass, wenn vermöge eines Bundes beschlusses eine Geldsumme aufgebracht werden soll, die Mitwirkung der Stände wegen der Art der Aufbringung und Vertheilung derselben ganz ausgeschlossen würde; denn so- gut der §. 95. bei der die Erfüllung der Bundespflicfaten betreffenden Gesetzgebung beseitigt werden kann, ebenso gut kann man sich auch, so oft es sich von Erhebung der Abgaben zu jenen Zwecken handelt, über den §. 145. und andere einschlagende Bestimmungen hinaussetzen. Das Ober- appellationsgericht hat aber wojil eine Verwechslung des Subjects eintreten lassen, welches die Bundespfltchten zu erfüllen hat. Als solches scheint es blos die Staatsregierung anzuerkennen, worunter es nur das Ministerium verstanden haben kann. Allein nach der eignen auf Artikel 2. der wiener Schlussacte gegründeten Behauptung des Oberappel- lationsgeriohts ist der deutsche Bund ein Verein selbststän*

Die Lande9terfauung ifi Kwrhes$eH. 148

diger und unter sich unabhängiger Staaten. BundesgUed ist daher der kurhessische Staat. Der Staat also ist es, der die Bundespflichten zu erfüllen hat. Welches die Organe des Staates sind, durch die derselbe diese Pflichten erfüllen lässt, das muss sich nach der Landesverfassung des betref- fenden Staates richten. Wenn also in einem einzelnen Staate, wie in Kurhessen, nach der Landesverfassung zu gewissen Staatsacten, z. B. zur Legislation, die Mitwirkung der Stände erforderlich ist, so muss sie auch bei der zur Erfüllung der Bundesbeschlüsse nötbigen Gesetzgebung ein- treten; es sei denn, dass letztere von der Gonciirrens der Landstände durch eine positive Vorschrift der Verfassungs- urkunde des betreffenden Staates eximirt wäre, wie solches allerdings nach einigen Staatsgrundgesetzen, z. B. dem ba- dischen, der Fall ist. Will das Oberappellatiousge rieht den Landständen jede Theilnahme an der Vollziehung der Bun- desbeschlüsse absprechen, so ist auch kaum einzusehen, weshalb dasselbe deren Verkündigung durch die Staats- regierung nöthig erachtet, um ihnen verbindende Kraft für die Unterthanen zu verschaffen; vielmehr würde zu diesem Zwecke die Verkündigung der Bundesbeschlüsse dem Bundes- tage selbst haben überlassen bleiben können, oder es brauchte eine solche was freilich die Selbstständigkeit des Fürsten nicht blos nach Aussen sondern selbst den Behörden des Landes gegenüber ganz vernichten und so mehr als irgend etwas dem monarchischen Prinzip zuwider sein würde gar nicht für nöthig erachtet zu werden, da das Oberappel- lationsgericht erklärt, dass die deutsche Bundesacte und die wiener Schlussacte zu ihrer Bechtsverbindlichkeit einer be- sonderen Verkündigung in den einzelnen Bundesstaaten nicht bedurften, weil sie als Verträge, die zwischen unab- hängigen Staaten abgeschlossen waren, ihre verbindende Kraft in der Uebereinkunft der contrahirenden Staaten fänden, alle Bundesbeschlüsse aber, selbst die nach der Bundesver- fassung mit Stimmenmehrheit gefassten, gleichfalls den Gha- racter einer Uebereinkunft zwischen unabhängigen Staaten an sich tragen, wodurch dieselben sich verbindlich machen,

144 Die Landeseerfassung in Kurhessen.

gewisse Maassregeln einzuführen. Doch so lange noch ein besonderer Act des Bundesstaates erforderlich gehalten wird, um den Bundesbeschlüssen Wirksamkeit zu geben, muss derselbe auch von den nach der Landesverfassung com- petenten Staatsgewalten ausgehen. Wenn daher zur Voll- ziehung eines Bundesbeschlusses eine Anordnung nöthig ist, welche die Kraft eines Gesetzes äussern soll, z.B. die Wei- sung dem Inhalte eines Bundesbeschlusses bei Vermeidung einer Strafe Folge zu leisten, so kann man nicht annehmen, dass der Staat seiner Verbindlichkeit gegen den deutschen Bund genügt iiabe, sofern jene Anordnung ohne Concurrenz der Landstände getroffen ist, indem sie dann nicht von den zuständigen , in ihrem Zusammenwirken den Staat repräsen- tirenden Staatsgewalten ausgegangen ist. Sollte auch der nämliche Zweck, Ausführung des Bundesbeschlusses, durch die blosse Verkündigung von Seiten . der Staatsregierung d. h. im Sinne des Oberappellationsgerichts von Seiten des Ministeriums erreicht werden, so bleibt dies doch immer nur ein factischer Zustand, der vielleicht dem Bundestage genügen kann, aber es erlangt derselbe keine rechtliche Beschaffenheit.

Würde die Meinung des Oberappellationsgerichtes von allen Behörden des Landes, namentlich allen Gerichtshöfen getheilt, so würde d.urch eine solche constante Praxis zu- letzt der jener Meinung entsprechende Zustand einen der rechtlichen Beschaffenheit gleichkommenden Charakter in seinen Wirkungen annehmen. Allein andere kurhessische Gerichte folgen einer von der "des Oberappeliationsgerichts verschiedenen Ansicht. Nachdem näiiilich der in der Sitzung der Bundesversammlung vom Jahre 1832 gefasste Beschluss wegen der Maassregeln zur Aufrechthaltung der öffentlichen Ruhe und gesetzlichen Ordnung, demzufolge das. Tragen von Cocarden in anderen Farben als denen des Landes, dem der, welcher solche trägt, als ünterthan angehört, un- nachsichtlich bestraft werden soll, durch Verordnung vom 21steh Juli 1832 ohne Mitwirkung der Landstände mit der Weisung bekannt gemacht war, dass diejenigen, welche

Die Lande$f^erfas$ung in Kurhessen. 145

unter jene Slrafbestimmung fallen, mit angemessener Strafe bis zu vierzehntägigem Gefängniss oder 20 Rthlr. zu ahnden seien, wurde ein kurhessischer Staatsbürger, weil er eine schwarz roth goldene Gocarde getragen habe, auf den Grund jener Verordnung zu einer Geldbusse von .einem Gulden verurtheilt, ergriff aber dagegen die Berufung an das Ober- gericht in Rinteln. Dieses sprach den Angeklagten von der Anschuldigung eines Vergehens frei und cassirte das Er- kenntniss erster Instanz, weil derselbe ohne Vorhandensein eines rechtsgültigen Strafgesetzes zur Untersuchung gezogen und bestraft sei. Das Urlheil zweiter Instanz ging hierbei davon aus, dass nach §. 115. der Verfassungsurkunde Nie- mand anders als in deq durch die Gesetze bestimmten Fällen bestraft werden solle; dass unter Gesetzen aber nach der Verfassungsurkunde solche Vorschriften zu verstehen seien, welche unter Mitwirkung der Stände erlassen würden; dass im Eingange der Verordnung vom 21sten. Juli 1832 die im §v 95. der Verfassungsurkunde vorgeschriebene Erwähnung der landständischen Zustimmung mangele; dass somit die- selbe als Strafgesetz nicht angesehen werden könne; dass der Umstand^ wie dieser Verordnung ein Bundestagsbe- schluss zum Grunde liegt, keinen Unterschied mache, indem dem deutsche^ Bunde, wie schon aus der Natur des Vereins folge, keine gesetzgebende Gewalt zusiehe, mithin ein Bun- destagsbeschluss nicht schon als solcher Gesetz für die Unterthanen der einzelnen Vereinsstaaten sei (Wiener Schluss- acte Art. 32.); ebensowenig aber ein solcher Beschluss als vertragsmässige Norm in den Bundesländern Gültigkeit habe, da der Bund nach der ausdrücklichen Erklärung des Art. 1. der Wiener Schlussacte und in der Wirklichkeit« nur in einem Vereine der deutschen Fürsten bestehe; woraus folge, dass wenn die den Bund bildenden Regierungen eine Maassregel beschliessen, die in dem Staate der einen oder andern nur nach der Beistimmung der die Regierten ver- tretenden Stände Kraft hat, solche in diesem Staate vor der Zustimmung der Landstände nicht verbindlich für die Re- gierten sei; da ferner, selbst wenn man den deutschen Bund

146 Die Landewerfoimmg in Kurkessen.

als einen Verein deutscher Staaten, mit der Beschränkung dass letztere in ihrem Verhältnisse zu jenem durch die Lan- desfürsten vertreten werden, betrachte, in Kurhessen, weil nach §. 10. der Verfassungsurkunde der Landesfürst alle Rechte der Staatsgewalt auf verfassungsmässige Weise austibt und zufolge der Verfassung kein Gesetz ohne Zu- stimmung der Landstände gegeben werden kann, ohne aus- drückliche Ausnahme, die sich nicht vorfinde, auch zu Ge- setzen, welchen ein Bundesbeschluss zum Grunde gelegt werden soll, die Zustimmung der Landstände erforderlich sei; hiermit aber stehe nicht im Widerspruche, dass den Vereinsmitgliedem die Verpflichtung, bundesverfassungs- massige Bundestagsbeschlüsse zur Ausführung zu bringen, obliegt und dass sie darin nach Art. 58. der Schlussacte dureh keine landständische Vrrfassung gehindert oder be- schränkt werden sollen, da hieraus nur die Unzulässigkeit der Versagung der Zustimmung zur Vollziehung eines solchen Bundestagsbeschlusses von Seiten der Stände, nicht aber das Recht der Enlhörung der letztern von Seiten des Landes- fUrsten folge, weil nach §. 10. der Verfassungsurkunde das Oberhaupt des Staates in der Ausübung der Rechte der Staatsgewalt an die verfassungsmässige Mitwirkung der Stände gebunden sei und nach Art. 56. der wiener. Schlussacte in anerkannter Wirksamkeit bestehende landständische Verfas- sungen nur auf verfassungsmässigem Wege wieder abge ändert werden könnten.

Wenn die unteren Gerichte die in diesem Erkenntnisße ausgesprochenen Grundsätze ihren Entscheidungen zu Grunde legen, so kann auch nicht der Fall eintreten, dass eine ent- gegenstehende Meinung vom Criminalsenat des Oberappella- tionsgerichts zur Anwendung gebracht werde, weil nach der kurhessiscben Gesetzgebung die Thätigkeit der höheren Gerichte in Strafsachen nur dann eingreift, wenn gegen d^ Erkenntnisse der unteren Gerichte ein Rechtsmittel ergriffen wird, ein solches aber der Regel nach nur dem Verur- t heilten zusteht, mithin nicht verfolgt werden kann, wenn

Die Landesverfasmng in Kurhe$$en. 147

der Angeschuldigte in einer unteren Instanz ein freispre* chendes Urtheil ausgewirkt hat.

Die in jenem Erkenntnisse angedeutete Idee, dass der deutsche Bund ein Verein der Fürsten, nicht ein Verein der Staaten sei, möchte übrigens zu bezweifeln sein; auch von der Ständeversammlung ist die letztere Eigenschaft desselben anerkannt worden. Nachdem nämlich ein öffentliches Blatt (Verfass.-Freund 1831 p. 367. 368) angeblich den Wunsch des ganzen Volkes dahin ausgesprochen hatte, dass die Land- stände den Minister der auswärtigen Angelegenheiten ver- anlassen möchten, nicht allein durch den hessischen Botschaf- ter in Frankfurt stets so stimmen zu lassen, wie es den un- veräusserlichen Rechten der deutschen Nation, dem Geiste der deutschen Bundesacte und dem Buchslaben des kurhes- sischen Grundgesetzes gemäss sei, sondern auch alle constitutionelie Regierungen, Fürsten und Volksvertreter Deutschlands auf offlciellem Wege aufzufordern, ein Gle^ ches zu thun, wurde bei der Berathung über den Etat des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten von ei- nem Ständemitgliede die Ansicht aufgestellt, es sollten nicht die einzelnen deutschen Staaten jeder für sich Gesandte an den übrigen europäischen Höfen unterhalten, sondern die Gesammtheit derselben, der deutsche Staatenbund, um Deutschland zu repräsentiren in seiner Gesammtheit, um Deutschland wieder die Stellung unter den europäischen Staaten einnehmen zu lassen, die ihm gebühre; es sei zu beklagen, dass der deutsche Bund in dieser Hinsicht noch nicht das Gewicht, das Ansehen sich verschafft habe, wel- ches er nach den für ihn gegebenen grundgesetzlichen Be- stimmungen haben solle und es sei dahin zu wirken, dass er Realität erlange, dass jene grundgesetzlichen Bestimmun- gen ins Leben treten. Dabei wurde weiter angeführt: was in neuer Zeit am Bundestage geschehen, sei nicht bekannt, weil er seine Verhandlungen meist der Oeffentlichkeil ent- zogen habe; man wisse nicht, ob die Bundestagsgesandten der constitutionellen Staaten auch im constitutionellen Sinne handelten ', die Ständeversammlung sei indess befugt, über

148 DU Landeiverfagiung m Kurhessm.

alles, was das Wohl und Wehe des Landes betreffe, Aus- kunft von der Staatsregierung zu begehren. Daran wurde der Antrag geknüpft, vor allen Dingen und ehe Über die Gehalte des Gesandtschaitspersonals etwas bestimmt werde, die Staatsregierung zu ersuchen, dass sie sich darüber Aus- kunft verschaffen möge, ob nicht die einzelnen deutschen •Staaten durch eine Gesandtschaft des Bundestages bei den üb- rigen europäischen Mächten repräsentirt werden würden, dass sie nöthigenfalls mit den übrigen constitutionellen Staaten sieb zu vereinigen suchen möge, um beim Bundestage dabin zu wirken, dass dies geschehe, der Bundestag überhaupt im constitutionellen Sinne handle, den deutschen Staaten- bund zu einer selbstständigen deutschen Macht erhebe und seinen Verbandlungen Publicität verschaffe; auch möge die StaatsregieruBg der Ständeversammlung die Bundestagsprö- tQColle ihittheilen. Gegen diesen Antrag erklärte sich weder der anwesende Minister der auswärtigen Angelegenheiten, noch irgend eines der Ständemitglieder; nur wurde er von einem der letzteren für einen frommen Wunsch erklärt, und von dem Präsidenten darauf geäussert: so richtig die Bemer- kungen des Antragstellers a priori sein lüöchten, so sei es nach der Erfahrung nicht anzunehmen, dass es Kurhessen gelingen werde, den frommen Wunsch, wie der Antrag sei- ner Meinung nach ganz richtig bezeichnet sei, in der näch- sten Finanzperiode, für welche jetzt auf jeden Fall noch Ge- sandtschaften unterhalten werden müssten, zu erreichen. Es wurde deshalb die Frage, ob der Antrag genehmigt und das deshalbige Schreiben in einer anderweiten Sitzung vor- gebracht und darüber beratben und beschlossen werden solle, bejaht, worauf der Antragsteller von dem Antrage ab- strahirte, dass die Bewilligung der Gehalte für die Gesandt- schaften bis zum Erscheinen des Resultats jenes Hauptan- trags ausgesetzt werde. Der Antragsteller trug nunmehr am 24sten October 1831 den Entwurf eines Schreibens der Stände Versammlung an die Staatsregierung, die Verhältnisse des deutschen Bundes betreffend, der Ständeversammlung vor (V. d. L. y. 1831. p. 797), welche es zur Revision

Die Landesverfoisung in Kurhe$»en. 149

einem Ausschusse äbergab (ibid. p. 798), der durch drei vom Präsidenten vorgeschlagene Mitglieder gebildet wurde (V. d. L V. 1831. p. 838). Nach geschehener Revision wurde das Schreiben am 31. October 1831 ohne Widerspruch der Staatsregierung genehmigt. Der Präsident hatte die Bemer* kung gemacht: der Schluss desselben enthalte eine Replik auf eine noch nicht vorgebrachte Einwendung, indem man därzuthun suche, dass der Ständeversammlung das Recht zu- stehe die Auskunft zu fordern, und sich deshalb auf die Yerfas- sung stütze, ohne dass die Staatsregierung diesesRecht bestrit- ten hätte, so dass es ihm, der gegen die Sache selbst nichts zu erinnern habe, nur scheine, als werde hier etwas widerlegt, was nicht bestritten sei; doch ward von Andern darauf er* wiedert, dass die gen^ählte Fassung nicht präjudiciren könne (V. d. L. V. 1831. ibid. 843. 844.). In diesem Schreiben wurde eri^Iart: .man habe sich der auf Erfahrung gegründe- ten UeberzeuguQg nicht verschliessen können, dass die bis- herige Wirksamkeit des Bundes nur von sehr geringem prak* tischen Erfolge gewesen sei, sowohl in Bezug auf die Be- gründung und Behauptung des politischen Ansehens von Deutschland als einer europäischen Macht, als hinsichtlich derjenigen inneren Angelegenheiten, welche die deutschen Völker in ihrem Interesse mit Recht für die wichtigsten hal- ten, namentlich hinsichtlich der Verwirklichung der densel- ben in den Artikeln 13. 18. 19. der Bundesacte gegebenen Verheissungen. Man habe sich von der Nothwendigkeit über- zeugt, dass die sämmtlichen Bundesregierungen dahin stre- ben müssten, um Deutschland durch einiges und inniges Zu- sammenhalten und Wirken das alte Ansehn wieder zu ver- schaffen und es auf diese Weise zu einer pohtischen Macht zu erheben. Man habe sich dabei nicht bergen können, dass die Erreichung dieses Zwecks nur von den Regierun- gen ausgehn könne, da die Gesandtem der einzelnen Staa- ten bei der Bundesversammlung von ihren Regierungen ab- hängig und denselben verantwortlich seien. Durch diese müsse daher den Bundesgesandten aufgegeben werden, die Wünsche und Bedürfhisse der deutschen Völker, sowohl in

150 Die Landeseerftusung in Kurhesten,

innerer als äusserer Beziehung allenthalben mit Umsieht zu beachten, stets nur im constitutionellen Sinne und Geiste zu handeln und so durch ein offenes Benehmen dem Bundes* tage zunächst das aligemeine Vertrauen wieder zu erwerben, welches besonders durch das seit dem Jahre 1824 beste- hende geheime Verfahren geschwächt worden sei. Man habe dieses um so leichler erreichbar gehalten, als der deutsche Bund, zufolge seiner StifUingsacte , als ein Verein von Staa- ten erscheine, zu deren Regierungsform die landständische Verfassung grundgesetzltch gehöre, auch die meisten Bundes- staaten mit förmlichen Verfassungen versehq seien und durch diese die schon in den ProtocoUen des wiener Congreases gegründete Verantwortlichkeit der höheren Staatsbeamten, somit auch der Bundestagsgesandten und der sie instruiren- den Minister der auswärligen Angelegenheiten, ausdrück- lich ausgesprochen wäre. Man habe sich nicht verhehlen können, dass es vorzugsweise den Landständen eines jeden Bundesstaates als Vertretern des V<^kes obliege, ihre Regie- rung zu vermögen, sowohl bei dem Bundestage als bei den übrigen Bundesregierungen dahin zu wirken, dass nicht nur das Bundesverhältniss auf die angegebene Weise sich ge- stalte und kräftige, sondern auch die öffentliche Bekanntma- chung der Bundestagsverhandlungen wieder erlangt werde, bis dahin aber die MiUheilung der bisher gefiihrten Sepa- ratprotocolle an die Landstände zum Zwecke der Einsicht der von den Bundesgesandten ihres Landes abgegebenen Erklärungen und Abstimmun^gen erfolge. Die Befugniss , hier- auf bezügliche Anträge zu stellen, wurde hinsichtlich der kurhessischen Landstände insbesondere auf §. 89 und 92 der Verfassungsurkunde gegründet und dann die Staatsre- gierung ersucht: der Ständeversammlung die bisherigen Se* paralprotocoUe des deutschen Bundestags zur Einsicht mit- zutheilen, damit sich dieselbe von der bisherigen Wirksamkeit des kuihessischen Bundestagsgesandten überzeugen könne; zugleich aber sich auf diplomatischem Wege mit den übrigen constiUitioneUen Staaten Deutschlands zu einer, dem consti- tutiondlen Wesen in jeder Hinsicht entsprechenden Wirk-

Dte Landem^trfoMMmg m Kurhenm. 151

samkeit beim deutschen Bundestage zu vereinigen, inabeson- dere auch darauf anzutragen und dahin zu wirken, dass wie- der sämmtliche Protocolie der deutschen Bundeaversammlttng durch den Druck öffentlich bekannt gemacht werden möch- ten (V. d. L. V. 1831 p. 850. 851.). Es wurde also von der Ständeversammlung, womit auch ein Erkenntoiss des Ober- appeUaUonsgerichts (Gass. allg. Zeit 1835. Nr. 59. Beil. p. S. litt b.), nicht aber ein Journalist der damaligen Zeit (Gass. allg. Zeit. 1832. Beibl. Nr. 14. p. 2. A. Nr. 1. p. 4.) überein- sUmmt, der deutsche Bund für einen Verein von Staaten und die die Bundesversammlung bildenden Gesandten flir Staatsdiener gehalten, welche zwar von der Staatsregierung allein zu instruiren, jedoch ebeny wie der die Instruction erUieiteode Minister der auswärtigen Angelegenheiten für ihre Handlungen den Landständen verantwortlich seien, die durch Einwirkung auf die Staatsregierung mittelbar einen Einfluss auf die Verfabrungsweise dar Bundesversamm- lung äussern könnten und, um zu pr Ulen in wie weit solche von der Staatsregierung beachtet sei, die Einsiebt der Proio« colle zu begehren hätten , welche nicht zur öffentlichen Kunde S^ens des Bundestags gebracht werden.

Nachdem dieses Schreiben am 31 sten Ociober 1831 er* lassen war, liefen bei der Ständeversammlung Dankadressen von Seiten der Bürger und Einwohner der Stadt Marburg, ferner des Stadtmagistrats, des Bürgerausschusaes und des Officiercorps der Bürgergarde in Fulda, so wie der Bürger und Einwohner von Hanau ein. Die Stände versammhing beschloss den 5ten December 1831, jenes Schreiben we- nigstens hinsichtlich des zweiten sofort zu erledigenden Theiles des in demselben gestellten Antrags ^ in Erinne- rung zu bringen und machte zugleich eine Anwendung von den darin ausgesprochenen Grundsätzen, indem sie die StaatsregieruQg um schleunige Auskunft darüber ersuchte, ob und aus welchen Gründen sie dem kurhesäschen Bun- destagsgesandten aufgegeben habe, für die Annahme der vom Präsidium der deuischen Bundesversammluog gethanen, auf die Beschränkung der Pressfreiheit bezüglichen Vor-

152 DU Landewerfoiiung In Kurhe$$en,

schlage zu stimmen, sowie um die alsbaldige Hittheilung desjenigen Berichts des kurbessischen Bundestagsgesandten, mittelst dessen dieser den Bundesbeschluss vom lOlen No- vember 1831 eingesandt habe (V. d. L. v. 18B1. p. 1047. 1162.). In diesem Berichte sollte, zufolge der Angabe eines Ständemitgliedes, sicherm Vernehmen nach über das Schrei- ben der Ständeversammlung vom SlsCen October 1831 ein Urtheil vorkommen, welches, wenn es auch das der Staats- regierung wäre, eine Beacihtung der landständischen Wünsche nicht würde hoffen lassen, obgleich dies, wie jenes Stände- mitgUed erwähnte, mit der beifälligen Aufnahme seines An- trags von Seiten des Ministers der auswärtigen Angelegen- heiten sich nicht vereinig^ lasse. Letzterer erwiederte nun der Ständeversammlung auf deren Schreiben vom 31sten October 1831 (V. d. L. v. 1831. pag. 1163. Beil. XXXIX, p. 1.)} dass die Staatsregicrung, wie sie nie ausser Acht lassen werde', es könne nur durch die enge Einigung aller deutschen Staaten nicht nur deren Selbstständigkeit gesichert bleiben, sondern auch Deutschland denjenigen Standpunct unter den europäischen Mächten behaupten, auf welchen es so gerechten Anspruch habe, bereits vor dem Empfang des landständischen Erlasses darauf bedacht gewesen und es sich auch ferner werde angelegen sein lassen, durch ihre diplomatischen Agenten dahin zu wirken, dass die Bundes- verfassung nicht nur aufrecht erhalten, sondern auch immer mehr ausgebildet und vervollkommnet werde, namentlich auch die Art. 13. 18. 19. der Bundesacte und die darin ent- hältenen Zusagen, insoweit es noch nicht geschehn, in Erfül- lung gingen; dass jedoch die Mittheilung der Separatbundes- protocolle nicht geschehn könne, weil solche dem einstim- mig gefassten Bundestagsbeschlusse vom Isten Juli 1824, von welchem man einseitig nicht abgehen könne, zuwider sein würde. Bemerkenswerth bei dieser Antwort ist das gänzliche Schweigen über das Begehren der Landstände, dass der Bundestagsgesandte instruirt werde, stets nur im constitutionellen Sinne und Geiste zu handeln, und dass die Staatsregierung sich auf diplomatischem Wege mit den übri* gen constitutionellen Staaten Deutschlands zu einer dem

Die Lan€ks0erfas3ung in Kurhessen 153

eoQstitutionelien Wesen in jeder Hinsicht entsprechenden Wirksamkeit beim Bundeslage vereinigen möge. Auf dieses Begehren der Landstände war nolhwendig etwas zu erwie- dem; nach Lage der Sache war es also unvermeidlich, dass man Jn jeder Antwort, sie mochte lauten wie sie wollte, eine Erwiederung darauf enthalten glauben musste. Da nun in der Mittheilung nicht versichert wurde, dass dem land- ständischen Begehren entsprochen werden würde, noch dass dies bereits früher geschehn sei; da nicht einmal erwähnt wurde, dass das landständische Ersuchen sieb auf ein Ver- hältniss beziehe, dessen Beobachtung als etwas sich von selbst Verstehendes vorausgesetzt werden müsse: so könnte aus der Antwort des Ministers fast gefolgert werden, dass er den Gesandten nicht instruiren wolle im conslitutionellen Sinne zu handeln, und dass er mit andern Staaten sich nicht zu einer dem constitutionellen Wesen entsprechenden Wirk- samkeit beim Bundestage zu vereinigen gedenke. Ja man könnte sogar, da der Minister doch auf eine enge Einigung aller deutschen Staaten hinweiset, versucht werden, in der Antwort die Erklärung zu finden, dass derselbe eine solche Verbindung im anticonstitutionellen Sinne beabsichtigt habe. Dieses Antwortschreiben wurde zu weiterer Berichter- stattung einem Ständemitgliede abgegeben, welches die mi- nisterielle Erklärung als völlig ungenügend bezeichnete, weil die Ständeversammlung bei ihrem Antrage Handlungen iind bestimmte Maassregeln von Seiten der Staatsregierung be- absichtigt habe, nicht aber blos Versicherungen; weil kein Schritt bekannt geworden, der zur Erreichung des Zwecks irgend vorher geschehn wäre; weil die Zustimmung zu den neusten Bundestagsbeschlüssen vom lOten und 19ten Novbr. 1831 mit den gegebenen Versprechungen nicht in Einklang zu bringen (ibid. p. 2. 3.) und der Antrag auf Veröffentli- chung sämmtlicher Bundesprotocolle gänzlich' unerwähnt ge- blieben sei (ibid. p. 4). Sodann wurde entwickelt, dass, wenn auch nach dem Bundestagsbeschlusse vom Isten Juli 1824 nicht mehr alle Bundestagsverhandlungen der Publici- tät übergeben, sondern blos in die loco dictaturae zu drok-

A\lg, Zeitschrift f. Gescliicble. Y. 1816. H

1S4 Die Lande»terfa$$ung in Kwrhenm.

kendea SeparaiprotocoUe aufjgeQomtnen werden soUicni, aus doch nur fUr die einzelnen Bundesregierungen die POiobI folge ) diese loco dictaturae gedruckten ProtocoUe nicht öf- fentlich durch den Druck bekannt macbeü zu lassen, ohne dass darin eine Vorschrift darüber enthalten wäre, welchen Gebrauch davon die Bundesregierungen machen sollten, viel- weniger ein Verbot, sie den Landständen zum Zwecke ihrer BerufserfUUung mitzutheilen (ibid. p. 5.), denen ja durch die Vorenthaltung solcher Documente, welche tkber das Be- nehmen der Staatsbeamten Aufschluss geben könnten, die Ausübung des Anklagerechts gegen dieselben ganz unmög- lich gemacht werden würde. Zugleich wurde der Vorschlag gemacht, die Anträge voip 31. Oct. 1881 zu wiederholen und dabei die Mittheilung der SeparatprotocoUe entweder vollständig oder wenigstens die Abstimmungen, Aeuaserun- gen und Anträge der kurhessischen Buudesgesandten in be- glaubigten Abschriften nochmals zu verlangen ; auch die Staats* regierung um specielie Angabe der Schritte zu ersuchen, welche sie zum Zweck der Ausbildung und Vervollkomm- nung der deutschen Bundesverfassung, sowie zur Erzielung einer dem constilutionellen Wesen in jeder Hinsicht ent* sprechenden Wirksamkeit beim Bundestage, und der Erfül- lung der in den Art. 13. 18. 19. der Bundesacte enthaltenen Zusagen bereits gethan habe und noch zu tbun gedenke; endlieh sie um Erklärung darüber anzugehn, ob und in welcher Weise sie auf den Theil des Antrags eingehn werde, welcher die öffentliche Bekanntmachung der Bundestagspro- tocoile betreffe, oder was sie in dieser Hinsicht etwa schon verfügt habe (ibid. p. 6).

Ais die Discussion über diesen, den 22. December 1831 gestellten Antrag (V. d. L. v. 1831. p. 1150.) eröffnet werden sollte, verlas den 30. Januar 1832 der Landlagscommissar eine Aeusserung des Ministeriums der auswärtigen Ange» legenheilen (V. d. L. v. 1832. pag. 1839.). Darin wurde auf den Grund der in England und Frankreich angeblich gellen- den Grundsätze, der Natur der europäischen Diplomalie, der allgemeinen Vernunft, der Lehre der deutschen Pub)icislen,

IHe Landesterfasätmg in Kurhessen. 155

d^r Bestimmungen der wiener Schfussacite §. 57. und der kurhessiseben Verfassungsurkunde §. 10. behauptet, dass von einer landständiscben Mitwirkung bei Ausübung der äusseren Hoheitsrechte, namentlich des Gesandtschaftsrechtes in den monarchtscben Staaten Deutschlands gar nicht die Rede sein könne, weil die Gesandten landesherrliche Com« mtssare oder Bevollmächtigte seien, die nur nach Maassgabe der ihnen ertheilten Aufträge und Instructionen handeln dUr^ fen und daher auch wegen ihrer Geschäftsführung nur dem Landesherm als ihrem alleinigen Commitlenten verantwort- lich seien; dass auch auf das Klarste in der wiener Schluss- acte Art. 8. ausgesprochen wäre, die Ständeversammlungen sollten in keinerlei Weise auf die Gesohäftsführung der Bun- deslagsgesandten einwirken oder auch nur über deren Wirk- samkeit eine aotenmässige Aufklärung verlangen können, was auch aus der rechtlichen Natur und dem politischen Charak- ter des deutschen Staatenbundes folge, indem die Be- vollmächtigten der Bundesglieder an die Bundesversammlung nicht abgeordnet würden, um die besonderen Interessen ihres Landes wahrzunehmen, sondern die Rechte auszuüben, welche dem Bunde in seiner Gesammtheit zukommen; dass ferner die äussern Hoheitsrechte, insbesondere das Gesandt-» scbaftsrecht nicht zu den nach §. 89. der Yerfassungsurkunde von den Landständen geltend zu machenden Rechten des Landes gehöre, dass dagegen die Garantie, welche die Ver- fassungsurkunde für die gesetzliche und verfassungsmässige Verwaltung der auswärtigen Staatsgeschäfte gebe, einzig in der Verantwortlichkeit des Ministers der auswärtigen Ange-^ legenheiten bestehe, welcher j falls er sich bei den mit aus- wärtigen Staaten eingegangenen Verträgen irgend einer Ver«- letzung der Verfassung schuldig gemacht haben sollte, gleich einem jeden anderen Hinisterialvorstande von den Landstän^ den vor Gericht gestellt werden könne. Sodann wurde noch erwähnt, dass durch den Beschluss der Bundesversammlung vom 1. Juli 1824 jedes Bundesglied zur Geheimhaltung der loco dictaturae gedruckten Protocolle veriragsmässig ver- pfliebfcet sei und jedes Zuwiderhandeln ihm den Vorwurf der

11*

156 Die Landesterfassung in Kurhessen»

Wortbrüchigkeit zuziehen würde; auch der Antrag, der Ständeversammlung blos die Anträge, Aeusserungen und Abstimmungen des kurhessischen Bundestagsgesandten in beglaubigten Abschriften mitzutheilen , gar keine Aenderung in der rechtlichen Beurtheilung der Sache hervorbringen künne, da sämmtliche Bundesglieder ein Becht darauf hätten, dass die Abstimmung keines einzigen Bundestagsgesandten nicht (?) zur Publicität gelange. Schliesslich ward erklärt, dass die Ständeversammlung ihr Becht zur Stellung des ersten in ihrem Schreiben vom 31. October 1831 enthaltenen Antrags zu bezweifeln, und rücksichtlich ihres zweiten An- trags sich bei der ihr ertheilten allgemeinen Versicherung zu beruhigen haben dürfte, auch steh überzeugen möge, wie die Staatsregierung im Falle eines etwa erneuerten Antrags der fraglichen Art darauf nicht eingehn könne (V. d. L. v. 1832« p. 1338. Beil. XXXIX b.).

Diese ministerielle Aeusserung, welche von einem da- mals schon verstorbenen Staatsbeamten ausgearbeitet sein soll (V. d. L. V. 1832. Beil. LXXVl. p. 2. Cass. allg. Zeit. 1832. Beibl. No. 14. p. 1.), wurde einem Ständemitgliede zum Be- ferate mitgetheilt (ibid. p. 1340.), welches den 6. Mäfz 1832 (ibid. p. 1523.) die am 22. December 1831 gestellten An- träge wiederholte, indem in der ministeriellen Aeusserung auch nicht *das Mindeste enthalten sei, welches davon abzu- gehn bewegen könne (ibid. Beil. LXXVI. p. 7.). Es wurde in dem Berichte angeführt, dass das Becht der Ständever- Sammlung zu solchen Anträgen nicht mehr in Frage sein könne, da solches bereits in dem landständischen Schreiben vom 31. October 1831 begründet und in dem Antwortschrei- ben des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten gar nicht angefochten sei (ibid. p. 1.). Dabei wurde der Unter- schied zwischen der formeilen Ausübung der äusseren Ho- heitsrechte und den materiellen Zwecken dieser Ausübung hervorgehoben, wonach die Stände Kurhessens das auch von der Staatsregierung bei dem Abschluss des Zoll- und Handels- vertrags mit Preussen und dem Grossherzogthum Hessen an- erkannte (ibid. p. 3. 7.) Recht der Mitsprache hinsichtlich

Die Landesverfassung in Kurheuen. 157

der durch die Ausübung der äusseren Hoheiisrechte realisir- baren materiellen Zwecke verlangen können, zumal im §. 89. der Verfassungsurkunde für die auswärtigen Verhältnisse keine Ausnahme gemacht sei (ibid. p. 4.), jedoch ohne dass sie eine Mitwirkung bei der formalen Ausübung selbst an- zusprechen hätten, welche unbedingt dem Regenten unter Mitwirkung des verantwortlichen Ministers des Aeusseren zu- stehe (ibid. p. 2.). Zugleich wurde bestritten, dass die Ge- sandten nur dem Landesherrn verantwortlich seien, da alle Staatsbeamten, zu denen doch die Gesandten ebenfalls ge- hören, von den Landständen angeklagt werden könnten und die wiener Schlussacte §. 8. nur die Verantwortlichkeit eines einzelnen Bundestagsgesandten gegenüber der Gesammtheit der Bundesglieder ausgeschlossen, solche vielmehr blos gegen den Staat vorbehalten habe, von welchem derselbe gesendet sei; so dass die Landstände die Befugniss hätten, nicht nur den Minister des Aeusseren welcher eine verfassungswidrige Instruction contrasignirt, sondern auch den Gesandten welcher dieselbe befolgt oder einer verfassungsmässigen zuwiderge- handelt habe, anzuklagen und zu dem Ende die Einsicht der zur Begründung der Anklage erforderlichen Documente zu begehren (ibid. p. 4. 5.), Bei der Discussion hierüber wurde noch besonders von einem Ständemitgliede Bezug auf die Verhandlungen des wiener Congresses genommen, denen zufolge den Landständen das Recht, die Bestrafung schuldiger Staatsdiener wegen dienstpflichtwidriger Handlungen zu be- gehren, zustehe, letztere also in ihrer Dienstführung den Landständen verantwortlich gemacht sein sollten, und daraus die durch den Antrag wegen Mittheilung der Separatpro to- cojle der Bundesversammlung geltend gemachte Befugniss der Landstände gefolgert, von dem Minister des Auswärtigen genaue und vollständige Auskunft über die Wirksamkeit des Bundestagsgesandten zu verlangen. Uebrigens wollte dieses Mitglied jenen Antrag auf diejenigen Protocolle beschränkt wissen, welche mit dem innern Landesinteresse in Be- ziehung stehn, indem dasselbe zugleich darauf aufmerksam machte, das$ die Staatsregierung durch die Mittheilung der

158 Die Lanie9f>erfaMnng in Kurhesim.

Pft)t<>Goll6 Ufoer die loxetnburger Etrpedition und über die tll&iohsopefatioiisiCdföe schon practisch anerkannt habe, wie ihr die Zurückhaltung solcher Protocolie nicht unbedingt zur Pflicht gemacht worden sei (V. d. L. v. 1834. p. 1748.). Diese letztere Itiatsache steht freilich im schroiFen Wider- spruch mit der Aeusserung des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten, welcher dergestalt, wie es wenigstens nicht anders den Anschein hatte, wegen der durch den damaligen Rriegsminister bewirkten Mittheitung von Separatprotocolien, auf die kurhessische Staatsregierung den Vorwurf einer Worl- brUöhigkeit lud. Das Recht, die Vorlegung solcher Protocolle zu begehren, möchte sich übrigens nicht auf die Befugniss stützen lassen, zum Zweck einer Anklage die ndthige AufUM- mng sich zu verschaffen; zwar nicht deswegen weil, wie vor- gegeben ist (Oass. allg. Zeit. 1832. Beibl. No. 14. p. 2.), der Beklagte nicht verpflieht'Ct sei, dem Kläger die Beweise seiner l^hutd £u liefern, aber doch weil aus^enem Grunde nur specielle bestimmt bezeichnete Protocolle begehrt werden ki^nlen, in denen man den Beweis einer Anschuldigung gegen einen gewissen Bnndestagsgesandten finden zu können ^ai)t, keineswegs aber alle und jede Protocolle, ohne Rück- si<ohl darauf ob eine Veranlassung vorhanden ist zu glauben, dass <darin Pflichtwidrigkeiten der Bundestagsgesandten zu ^blicken sein würden*, weshalb auch der Antrag, dass wenigstens die Aeusserungen und Abstimmungen der ktrr» bessischen Bundestagsgesandt^i abschriftlich mitgetheilt wür^ den, nicM ails angemessen zu erachten sein dürfte. £nt^ sdieidewd möchte vielmehr der Umstand sein, dass die tooo diotaturae gedruckten Protocolle der Bundesversammlung nidit etwa blos zimn Gebrauch der von den einzelnen Bun^ desgKedem bevoHmächtigtenOe sandten, sondern nat^Kch auch zum Gebrauch der Bundesstaaten, voti denen die Ge- sandten bevoilmächligt werden, dso für die Gorporati<me& be^ittmt sind, welche nach der inneren Verfassung ^eäves jeden Staates die Befugniss haben, dergtoicben Docamente «Ad deren Inhalt kennen zu lernen. Niemand wird woM bezwetf^n, dass die tSes^^dlen soiohe Protocolle ihren Re-

Die Lami€$terfa$9img •» Kurhe$$en. IM

fieruBgen zu Überliefern gehalten sind. Ist dies aber der Fal], so scheint auch die Befugniss der Landstände, von der Regierung die MiUheMung der ProtocoHe zu begehren, deut- lich aus den §. 92 und 93. der Verfassungsurkunde zu folgen, weil hiemach die Stände Versammlung über alle Verhältnisse, welche nach ihrem Ermessen auf das Landes wohl weseni- Ui^en Einfluss haben, die zweckdienliche Aufklärung fordern kann und sogar jeder von den Landständen gewählte Aus- sohuss zur Erlangung von Aufschlüssen über die ihm vor- liegenden Gegenstände schriftliche MittheHung von den ein- schlägigen Behörden einziehen, auch die persönliche Zu- ziehung der dazu sich eignenden Staatsbeamten veranlassen kann. Wenn also nach dem Ermessen der Ständever- sammlung die Verhandlungen des Bundestags auf das Lan- deswohl einSussreich erachtet werden, so kann dieselbe von der Regierung die Aufklärung begehren, die ihr zweckdien- Meh scheint, also auch bestimmen, dass ihr zur Erreichung ihres Zweckes nur durch Einsicht der SeparatprotocoUe die aöthige Atcfklärung über die -Bundestagsverbandlungen ge- währt werde. Ebenso iässt sieh leicht an einen Aus^ sehttss zur Beguiachtung eine Angelegenheit verwiesen den- ken, wdehe ee fl)r denselben nöthig machen würde, von dem Buadestagsgesandten selbst solche schriftliche oder mündliche mtiheiiung über den Inhalt der erwähnten ProtocoUe zu be- gelu^en, weiche der wirklichen Voriegung der letzteren gleich käme. Freiiiefa würde es nicht zulässig sein, abgleichen schrift- liche oder mündliche Mittfaeiiungen von dem Buodestagsge- eandien zu fordern, wenn derselbe nur als ein Haus- und flofbeami^ anzusehn wäre., wie in einem öffentlichen Blatte (€as8. a% Zeit. 1832. Beibl. No. 14. p. 8. A. No. 10.) und ^»ftau genommen auc^ In der ministeriellen Aeusserung i>e- jiaiqpAet ist, oder wenn gar die Leitung der auswärtigen An- gelegenheiten kein Hoheits- sondern ein unbeschränktes Haus- hund üofreefat wäre (€as8. allg. Zeit 1832. Beibl. No. 14. p. 3. B. Ko« 1.), in welchem Falle von einem Minister der auswärtigen Angelegenheiten gso* keine Rede sein könnte; allein dass die Sundestagsgesandt^n wirküebe Staatodiener sind, leidet kei-

160 DU Landesverfoisung in Kuthessen.

nen Zweifel, da sie ja von dem Minister der auswärligen Angelegenheiten abhängig sind, jene Eigienschaft auch in Er- kenntnissen des Obergerichts zu Hanau und des Oberappel- latibnsgerichts ausdrücklich als vorhanden ausgesprochen ist (Cass. alig. Zeit. 1835. No. 59. Beil. p. 2. 10.). Eigenthümlich ist es, dass die ministerielle Aeusserung .eine Verantwortlichr keit des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten gegen die Landstände wegen Leitung der in sein Departement ge- hörigen Gegenstände anerkennt und doch den Landsiänden jede Mitwirkung bei der Ausübung der äussern Hoheitsrechle abspricht, als ob nicht der höchste Grad einer Mitwirkung der Landstände bei gewissen Angelegenheiten in der bis zur gerichtlichen Anklage geführten Gontrole über den Beamten läge, welchem die Handhabung jener Angelegenheiten anver- traut ist. Durch das freilich unvermeidliche Zugeständniss dieses Anklagerechts in Betreff der dem Bundeslagsgesandten ertheilten Instruction hatte auch das Ministerium unzweifel- haft anerkannt, dass den Landständen die Befugniss zustehe, einen Einfluss auf die Verhandlungen der Bundesversamm- lung zu äussern, soweit dies überhaupt durch den kurhessi- schen Gesandten möglich ist, und sich Eenntniss von jeiien Verhandlungen zu verschaffen. Die Ständeversammlung be- schloss auch am 3. April 1832 (V. d. L. v. 1832. p. 1744.) die früheren Anträge als nicht erledigt zu wiederholen und genehmigte die den 22. December 1831 gemachten Vorschläge, beschränkle jedoch zugleich das Begehren einer Miltheilung der Separatprolocoll^ auf diejenigen, welche die inneren Angelegenheiten des deutschen Bundes und seiner Glieder betreffen. Die Ständeversammlung begehrte also nicht weiter diejenigen Protocolle, welche sich auf das Verhältniss des deutschen Bundes in seiner Gesammtheit zu andern euro- päischen Mächten elc. beziehn. Zu dieser Unterscheidung ist eigentlich kein rechtlicher Grund aufzufinden, sondern nur der factische, dass die damalige Ständeversammlung nach ihrem Ermessen die ausgeschlossenen Protocolle nicht einflussreich für das Landeswohl gehalten hat. Nach gefass- tem Beschlüsse entspann sich noch eine Erörterung mit dem

Die Landesverfassung in Kurhessen, 161

Landtagsdommissar darüber, ob die Proiocoüe zur landstäo- dischen Bibliothek abgegeben oder jedesmal an einen Aus- schuss zur Begutachtung verwiesen werden sollten, was jedoch von keiner Wichtigkeit zu sein scheint, da, wenn auch die ProtocoUe zur Bibliothek abgegeben werden» die Ständeversammlung doch vom Inhalte Kenntniss erlangen und dann jeden beliebigen Beschluss fassen kann. Obwohl nun am 19. Juli 1832 (ibid. p. 2368 A.) die fraglichen Anträge t>ei der Staatsregierung in Erinnerung gebracht und diese mit Beziehung auf §. 105. der Verfassungsurkunde um eine MHtfaeilung ihrer Beschlussnahme ersucht wurde, so ist solches doch ganz erfolglos geblieben, was um so mehr auf- fallen kann, als der nachherige Minister der auswärtigen An- gelegenheiten als früherer Präsident der Ständeversammlung die Befugniss der letzteren zu solchen Anträgen völlig ge- billigt hatte.

Die Ständeversammlung suchte bei andern Gelegenheiten auf den Gang t]er Verhandlungen beim Bundestage mittelbar einzuwirken. Will man hierhin auch nicht den Fall rechnen, wo der Staatsregierung, weiche in Bezug auf ein Gesuch des englischen Fräuleinstifts zu Fulda erklärt hatte, dass sie wegen der von dem Königreiche Baiern und dem Gross- herzogthume Sachsen-Weimar in Beschlag genommenen, den milden Stiftungen des Grossherzogthums Fulda gehörigen Fonds die Hülfe der deutschen Bundesversammlung mittelst Herstellung des eigenmächtig gestörten Besitzstandes und Entscheidung über die Forderungen jener Staaten in An- spruch genommen habe (V. d. L. v. 1831. p. 476. 468.), von -der Ständeversammlung ein auf dieselbe Angelegenheit sich beziehendes Gesuch des jungfräulichen Benedictinerconvents •zu Fulda als SoUicitation der etwa erforderlichen Verfügung an den kurhessischen Bundestagsgesandten mitgetheilt wurde (V. d. L. V. 1832. p. 1220.): so gehört dahin doch der Be- schluss, nach welchem die Ständeversammlung die Staats- regierung ersuchte, durch den kurhessischen Bundestagsge- sandten mit allem Ernste und Nachdrucke dahin wirken zu lassen, dass die den Bundesstaaten vermöge der gesetzlichen

16t Die Land€i9$rfä$$9mg m Kwrkesien.

Kriegsrerftesufig ihis Bundes obliegende VerpAicfatitng zur Unteriiattung eines bestimmten MiKUiretats atif keine Weise erschwert, im Gegentheil so viel irgend thnnlich denselben erieichtert werden möge (V. d. L. t.1882. p.2ft6l. Beil.€XXIIL). Auch wurde auf den Antrag eines Ständemitgliedes die Erwartung ausgesprochen, dass ein Vertrag mit den zum 9. Armeecoqis des deutsdien Bundes concurrirendeii Staaten tkber die Or^uiisation der Contingeiite vor seiner follziehung der Stilndeversfflnailung v,orgelegt werde (V. d. L v. 18S2. p. 2260. 2261,), vm\j wie bei einer andern Gelegenheit wie- derholt benrorgeboben wurde (itHd p. 2373.), von der kur* hessischen Staateregierung dargleichen Verträge, von denen <£e Stärke des Heeres und die Grösse der Kosten abhänge, nicfal anders als mit Zustimmung der Ständeversammlüng abgesciilosseti werden ktonten. Als ein Re^eruagscommis- sar äusserte, der Staatsregierung würde es leicht gewesen sein, alsbald eine Interpretation der Kriegsv^rfassung des deutschen Bandes hinsichtlich der Verbincfficfakeit fUr die Beurtheilung der zu stellenden militairischen StreitkräHe im Frieden «md der Art ihrer Aufstellung fiir den £rieg von der Bundesversammlung zu erwirken, wodurdi die Verpfliciitufli- gen in ihrem wahren Umteige deutlich zu erkennnen ge- wesen sein würden (V. d. L. v. 1832. p. 2870«.), trug «iü Ständemitglied (ibid. p. 2370 &.) am 21. JuJi 1632 darauf an, dass die Ständeversammlüng ihrer Seits gegen aine solche Aeusserung w^igstens Protestation einlegen möge, als kdnne 4er Bundestag über die kurbessischen Finanzea dergestalt verfügen^ dass Eurhessen alle financieUen V^ortheüe aufoi^ opfern, AMem zu entsagen genöthigt sei, blos um dn Kriegs- heer herzusieäen, wek^s nur dazu bestimaart «ein würde, im Interesse d^ grösseren Staaten zu T^erbhiten, Die Be^ ratbung über tHesen Gegenstand wurde cu einer andern Sitzung ausgesetzt (ii»d. p. 2370:ji,), liat iber nicht weiter Statt gefanden, wahrscheiiiiieh weil am 26. Joü 1882 «i«e Auflösung der iStändeversammlung erfolgte <sfbid. fx. 2414.). Inzwisdten tthlte sich doch die folgende Sttedeversamnikuig veranlasst, 1a ftror Antwort auf die fifsöSmogsiede -den

Die Landesf>erfa99nng in Kurhesten. 163

15. MMrz 1833 anzudeuten, dass die Kosten des stehenden Heeres auf denjenigen Betrag vermindert werden mttssten, welcher nicht allein den Verpfliefatangen gegen den deut- schen Bund, sondern auch den Kräften des Landes ange- messen sei (Verh. d. Ldt. vom Februar und März 1883 p. 28.); so dass sie auch letztern bei der Erfüllung der Bundespffich- ten zu beachten sich vornahm, obwohl sie eine Belhätigung dieser Absicht nicht weiter an den Tag legen konnte, weil sie den 18. März 1833 aufgelöst wurde (ibid. p. 32.).

Sollte wiiiLlich irgend eine Bestimmung der kurhessi- sehen Yerfassungsurkunde in Coilision mit einem Bundesge- setze, welches als ein solches von Kurhessen beachtet wer- den müsste, oder mit einer auf den Grund eines derartigen Bundesgesetzes zu dessen Vollziehung von der Bundesver- sammlung beschlossenen Maassregei stehen, so würden den- noch die kurhessischen Staatsgenossen und Staatsbehörden die Vorschrift der Verfassungsurkunde, als Grandgesetz des Landes, zu beobachten, mithin dieselbe den Bundesgesetzen und Bundesbeschiüssen vorzuziehen haben, werl die letzteren beiden für die Staatsangehörigen und die Behörden des Lan- des^ die sich nicht in einer unmittelbaren Abhängigkeit zu dem Bunile befinden, doch nur in der Eigenschaft von Lan- desgesetzen bindend sind, von welchen natürlich das spätere die früheren auFhebl. Hiermit ist jedoch die Frage nicht zu verwechsein, ob nicht die gesetzgebenden Gewalten in Kur- faessen gehalten sind, zur Beseitigung der Coilision eine Aenderung der Veffassungsurkunde vorzunehmen. Man glaubte, dass die BesdilQsse des Bundestags vom 28. Juni und 4. Juh 1832 fß)er die Aufrechthaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland (Verordnung vom 18. Juli 1882. V«rerda. v«an 21. ivä 1<832.), von demen <ler letztere den Landfitttadefn am 23. Juli 1*832 unter dem Bemerken mit- getheilt wurde, dass der kufbessische Bundestagsgesandte vor der gedachten Beschlussnahmo instruirt worden sei, deix\|emge& in den fraglichen 1*0 Punetai, was mit (ien eia* sohtigigen Bestninuiigea der kttrhessiscbefi Verfassnngsur» kunde vom 5. Ituitmr 1831 im Widerspruch stehe, nicht mit

164 Die Landesverfassung in Kurhessen.

beizustimmen, mit der Verfassungsurkunde unvereinbar seien. Die Berichterstattung eines landständischen Aus- schusses darüber, welche in der Sitzung vom 26. Juli 1832 bewirkt werden sollte, musste unterbleiben, weil beim Be- ginn dieser Sitzung die Auflösung der Ständeversaromlung erfolgte (Verh. d. Landt. v. Febr. und März 1833. Beil. I. Anl. A. pag. 25. No. 351.). Der darauf in Wirksamkeit tre- tende permanente AusschuSs legte, noch ehe eine darauf hinzielende Bittschrift der Bewohner der Grafschaft Schaum- burg eingegangen war, gegen die jene Beschlüsse verkünden- den Verordnungen, insoweit dieselben nach Form oder Inhalt mit Bestimmungen der Verfassungsurkunde nicht vereinbar seien, in Uebereinstimmung mit 30 Mitgliedern der aufge- lösten Ständeversammlung*) Verwahrung ein, der künftigen Ständeversammlung vorbehaltend, dieselbe im verfassungs- mässigen Wege geltend zu machen (Verh. d. Ldt. v. Febr. und März 1833. Beil. I. p. 1.); dies veranlasste den Magistrat und die Bürgerschaft der Stadt Marburg zu einem Antrage auf Veröfifentlichung jener Verwahrung, Bewohner von Darm- Stadt aber zu einer Dankadresse. Der Ausschuss hat später- hin bei dem Ministerium des Innern darauf angetragen, dass die Staatsregierung nicht blos auf die Zurücknahme jener Beschlüsse bei dem Bundestage mit mögliehstem Eifer hin- wirken, sondern solche auch dabin erläutern möchte, dass dieselben nur insofern zur Vollziehung kommen könnten und sollten, als solche mit der vaterländischen Verfassung ver- einbar seien (ibid. p. 2.). Obwohl letzteres nicht geschah, hat dennoch die folgende Ständeversammlung, ungeachtet mehre Bürger von Cassel bei dem Ausschusse darauf ange-

*) von Baumbach n (Kammerrath, nachher Geheimer Ober- Finanzrath), Bach (Anwalt), Dedolph (Obergerichts>Rath) , Duysing (nachher Geb. Ober-Finanzrath), Eckhardt (Anwalt), Engel, Fuchs, von Ueydwolf, Jordan, Jungk, Kaitz,'Kebr, Krug, König', Michael, Manns, Meier, Scheuch I , Scheuch H. (nachher Landrichter), Schmidt- mann, Schäfer, Schauberger; Strubberg, von Trolt (Hauptmann), Vilmar (nachher Gymnasial-Direktor), von Warnsdorf (Obergericbts- Direktor), Wenthe, Kraus, von Riedesel (Erbmarschall),

Die Landesperfassung in Kttrkessen. 16$

tragen hatten, gegen den Poliz^eidirector eine Untersuchung einzuleiten, weil er, dem §. 35. der Verfassungsurkunde zu- wider, auf den Grund des Bundesbeschlüsses eine öffentliche Versammlung untersagt habe (ibid. p. 7.), keine besonderen Schritte zur Verfolgung jenes Zweckes unternommen. Viel- leicht ist dieselbe dazu durch die von dem Landesherrn bei deren Eröffnung in Person abgegebene Erklärung bewogen worden, dass das ernste Bestreben, die Vorschriften der Ländesverfassung und die Verpflichtungen gegen den deut- schen Bund gewissenhaft zu erfüllen, stets die Schritte seiner Regierung leiten werde (V. d. L. v. Febr. u. März 1833. p. 3 ). Wenigstens hat die Ständeversammlung hierin die Erfüllung des vom Ausschusse gestellten letzten Antrags erblickt, in- dem sie in ihrer Antwort auf jene Eröffnungsrede erwiederte, sie sei mit Freude durch den Ausdruck des ernsten landes- herrlichen Willens erfüllt, dass den Vorschriften der Landes- verfassung gewissenhaft genügt werde, indem sie zugleich jene beruhigende Zuversicht hieraus wieder schöpfe, welche durch die neueren Maassregeln des deutschen Bundes ge- trübt worden sei (ibid. pag. 28.).

Ueber Vertauschungen des Staatsgebiets schwieg der Constitutionsentwurf von 1816 gänzlich; doch schon das Haus- und Staatsgesetz von 1817 enthält die Bestimmung: nur gegen ein vollständiges Aequivalent, verbunden mit an- dern wesentlichen Vortheilen, kann eine Vertauschung ein- zelner Theile Statt finden. In der Proposition vom 7. Oclo* ber 1830 fand sich die nämliche Anordnung, doch war hier der Ausdruck: Aequivalent '' in die Bezeichnung: „Ersatz an Land und Leuten" verwandelt; die dann ebenso in den Verfassungsentwurf 11. übergegangen ist und landständischer Seits keine Anfechtung erlitten hat. Offenbar ist hierdurch angedeutet, dass das Aequivalent, welches gegen vertauschte Theile des Staatsgebietes erworben würde, in einem andern Staatsgebiete, verbünden mit der Landeshoheit über dasselbe, bestehn müsse, nicht etwa blos in Geldentschädigungen, oder in Grundslücken die ohne Landeshoheit abgetreten würden.

Die Bestimmung an sich schliesst übrigens die Einver-

166 tHe LanduiwfaBSHnp in Kurhesien.

ieibung des ganzen Siaats in einen andern, auch wohl die Loatrennung ganzer Provinzen zum Zweck der Vereinigung mit andern Staaten aus, indem sie eigentlioh nur gestattet, gjeringe Parcelen des Staatsgebiets abzutreten. Worin die wesentlichen Vortheile bestehn sollen, deren Gewinnung noch neben dem vollständigen Ersatz an Land und Leuten eine Vertauschung rechtfertigen müsse, lässt sich nicht im Allgemeinen, sondern nur in jedem einzelnen Falle bestimmen. In dem Verfassungsentwürfe IL sind die Worte: „mit Zustimmung der Landstände ^^ vor den Worten: „Statt fin- den" eingeschoben, so dass alle sonstigen eine Vertauschung bedingenden Erfordernisse vorausgesetzt, die Einwilligung der Stände doch hinzutreten muss. Die wUrtembergische Verfassungsurkunde §.85. untersagt die Veräusserungen des Staatsgebietes nicht, bindet solche jedoch an die Einwilli- gung der Stände, ist also im Ganzen milder als die kurbes- sische, fUgt aber ($. 2.) die für die Staatsbürger sehr beru- higende Glausel hinzu, dass, sollte ein unabwendbarer Noth- fall (auf welchen demnach die Abtretung beschränkt sein dürfte) die Abtretung eines Landestheils unvermeidlioh ma- chen, wenigstens dafür zu sorgen ist, dass den Eingesesse- nen des getrennten Landestheils eine hinlängliche Zeitfrist gestattet wird, um sich anderwärts im Königreiche mit ihrem Eigenthume niederlassen zu können, ohne in Veräusserung ihrer Liegenschaften übereilt oder durch eine auf das mit- zunehmende Vermögen gelegte Abgabe oder sonst auf an- dere Weise belästigt zu werden. Bei Berathung der kur< hessischen Verfassungsurkunde ist, was fi*eilich noch grössere Garantie für die Betheiligten gewesen wäre, zur Sprache gekommen, ob nicht bei Abtretungen vorzubehalten sei, dass die Bewohner der abzutretenden Gebielstheile durch den neuen Regenten keiner ihnen geringere Vortheile gewähren- den Landesverfassung unterworfen werden dürften, als sie durch die kurhessische erlangt hätten; doch ist diese Idee nicht weiter verfolgt worden. Das Sachsen -altenburgische Grundgesetz §. 2. gestattet lediglich zur Ausgleichung mit den Nachbarstaaten wegen bestehender Grenzstreitigkeiten,

Die Landeseerftuning in KurhesMm. 107

Hobeiis-- und anderer IrruDgen einen Austausch kleinerer Gebietstbeile, diesen aber ohne Einwilligung der Stände, blos nach Vernehmlassung der Landesdeputation, wenn da- bei Abtretung von Wohnsitzen mit Untertbanen oder von Domanialeigenthum beabsichtigt wird. Die Yerfassungsur- kunde für das Königreich Sachsen $. 2. enthält nur die Vor- schrift, dass zu einer Yeräusserung Zustimmung der Stände erforderlich sei. Dasselbe ist in dem hannoverschen Grund-» gesetz von 1833. $. 2. und in der braunschweig. Landschafts- ordnung $. 1. der FalL Doch nehmen diese letzteren drei Staatsgrundgesetze davon Grenzberichtigungen aus, das ftkr das Königreich Sachsen mit der Beschränkung, dass nicht dabei Unterthanen abgetreten werden, welche unzweifelhaft zu dem Königreiche gehört haben. Bei solchen Berichtigun- gen streitiger Grenzen hat daher die Regierung der erwähn- ten drei Staaten ziemlich freie Hand, indem sie weder durch die Zustimmung der Landstände noch auf sonstige Weise gebunden ist.

Nicht so ausgedehnte Befugniss hat in dieser Beziehung die kurhessische Regierung, indem nach der Verfassungs- urkunde nur die bei deren Verkündigung bereits mit aus« wärtigen Staaten eingeleiteten Verträge von der Zustimmung der Landslände ausgenommen sind, eine Clause!, die man schon in dem Verfassungsentwurfe iL wahrnimmt und die ihren Ursprung der in die Proposition vom 7ten October 1830 nicht aufgenommenen Bestimmung verdanken wird, dass als Regel die landständische Zustimmung zu allen Ab- tretungen erforderlich sein sollte, wovon man eine Ausnahme in dem Falle gestatten wollte, dass hinsichtlich einzelner be- absichtigter Abtretungen Verträge bereits eingeleitet seien, um zu vermeiden, dass nicht die dieserhalb schon zu einem Resultat gediehenen Verabredungen mit andern Staaten in Folge eines landständischen Beschlusses alterirt würden. Nach diesem Grunde kann man die erwähnte Glausel nicht auf alle Unlei^andlungen ausdehnen, welche etwa irgend einmal eröffnet gewesen sind und wieder geruht haben^ ohne dass sie schon irgend ein Resultat getiefert hätten;

168 Die Landesverfassung in Knrhesien.

n»au muss dieselbe vielmehr auf diejenigen Unterhandlungen beschränken, welche Anfangs 1831 so weit gediehen waren, dass bereits die Einleitung eines förinlichen Vertrages- Statt gefunden hatte. Es muss also mit den betreffenden auswärtigen Staaten Über eine Abtretung schon eine Ver- abredung wenigstens in ihren GrundzUgen getroffen sein, die, ohne Veränderung der letzteren, zu einem Vertrage fuhrt, wenn auch das Detail desselben noch eine nähere Erörterung erheischen sollte. Diese Ansicht wurde auch in der Ständeversammlung ausgesprochen. Nachdem nämlich eine Verkündigung des Regenten vom Uten April 1832 er- folgt war (Gass. allg. Zeit. 1832. Nr. 134. Beil.), wonach in Folge eines am 23sten December 1831 abgeschlossenen Ver- trags mit Hannover, gegen die Erwerbung des Gesammtdor- fes Nieste, des Dorfes Wahnhausen und des Gutes Nienfeld, das Mengedorf Mollenfelde, das Dorf Laubach und das Mengedorf Pohle abgetreten werden sollte, ohne dass land- ständische Zustimmung zu jenem Vertrage eingeholt war, wurde in der Stände Versammlung der Landtagscommissar ersucht, zu bestätigen, dass die deshalbigen Verhandlungen schon vor dem Erscheinen der Verfassungsurkunde einge- leitet gewesen seien (V. d. L. v. 1832. p. 2029.). Als der- selbe erwiederte, dass diese Gebietsausgleichung der Erfolg von Unterhandlungen sei, welche schon in früheren Jahrhun- derten begonnen hätten, wurde solche Erklärung nicht genügend befunden, vielmehr geglaubt, es müsse die Erklä- rung des Landtagscommissars dahin gerichtet sein, dass die unmittelbaren Verhandlungen über den jetzt abge- schlossenen Vertrag schon vor der Verfassung begonnen hätten. Wenn auf die Ertheilung einer Erklärung dieser Art nicht weiter gedrungen wurde, so mag dies darin seine Ursache haben, dass ein Ständemitglied erwiederte, es sei solches wirklich der Fall gewesen und bei der Djscussion des %. 1. der Verfassungsurkunde ausdrücklich angegeben, was dann auch in dem landständischen Berichte bestätigt wurde, welcher sich auf das Gesetz über die künftige Rechts- verfassung der durch den erwähnten Staatsvertrag an Kur-

Die Landeieerfasmmg in Kurhessen, 169

hessen übergegangenen Ortschaften vom SOsten Juii 1832 bezog (V. d. L. v. 1832. p. 2368 p.).

Obwohl demnach zu jenem Vertrage landständische Zustimmung nicht erforderlich war, musste dabei doch die nach der Verfassungsurkunde weiter nöthige Bedingung ei- ner Gebietsabtretung, nämlich vollständiger Ersatz an Land und Leuten, verbunden mit andern wesentlichen Vortheilen, berücksichtigt werden, weil die Erfüllung dieser Bedingung nach §. 1. der Verfassungsurkunde nicht gleich der landstän- dischen Zustimmung bei den bereits eingeleitet gewesenen Verträgen nachgelassen ist. Da die Stände in das Gesetz vom 30sten Juli 1832 gewilligt, welches zur Vollziehung je- nes Vertrags dienen sollte, so müssen »ie auch die Ueber- zeugung gehabt haben, dass die fragliche Bedingung nicht ausser Acht gelassen sei; Der vollständige Ersatz an Land und Leuten ist leicht in den neu erworbenen Ortschaften zu suchen; die damit verbundenen wesentlichen Vortheile lassen sich dagegen nur in der durch die Verkündigung vom Uten April 1832 erwähnten Beseitigung mehrer Territorial- und Grenzstreitigkeiten, sowie verschiedener gemeinschaftli- chen und gemischten Verhältnisse entdecken. Diese Ver- hältnisse bestanden darin, dass das Dorf Nieste nach einem Vertrage von 1536 Kurhessen und Hannover z\, \eicher Ge- rechtigkeit und Nutzbarkeit zustand, dergestalt dass die Gon- tribution monatlich zwischen beiden Staaten getheilt, auch die ausgehobene Rekrutenzahl, die jedoch nur ausnahms- weise gehoben worden ist, gleich getheilt wurde, Einquartie- rung gar nicht Statt fand, ebensowenig eine Publication von Landesordnungen, die Gerichtsbarkeit aber von einem Sammt- gerichte ausgeübt wurde, dessen Directorium jährlich zwi- schen beiden Staaten wechselte, womit auch zugleich ein Wechsel des instanzenzugs und der zur Anwendung zu bringenden Gesetze des einen und des andern Landes Statt fand; sowie darin, dass die Feldmark des kurhessischen Dorfes Vernawachtshausen zu einem Theile dem Hoheitsge- biete Hannovers angehörte und dessen Besteuerung unterlag.

Der Verfassungsentwurf IL und HL hatte noch die Be*

Allg. ZeitMkrlfi f, Gescbieht«. V. 1846. 12

170 Die Landest>erfasBung in Kurhessen.

stimiDUDg-: ^Jederneuerworbene Landestheil tritt in die Gemein«^ Schaft dieser Staatsverfassung", die jedoch in dem Verfassungs« entwürfe IV. weggelassen wurde. In der That war dieselbe iiberflUssig^ da sich schon im Anfange des $. 1. die Vor- schrift findet, dass auch Alles , was etwa noch in der Folge Inil Rurhessen verbunden werden wird, ein in einer Verfas- sung vereinigtes Ganzes mit dendermaligen kurhessischen Lan- den bilden soll. Es ist übrigens nöthig erachtet, die Ein- verleibung der durch deu Vertrag mit Hannover erworbenen Ortschaften mittelst eines eignen Gesetzes speciell anauord nen, obgleich der Regent durch die Verkündigung vom Uten ^ril 1832 davon Besitz ergriflfen und dieselben von dem Tage der Uebergabe an (lOten Mai 1832) mit dem KurfÜr- stenthum vereinigt erklärt hatte. Ja man begnügte sich nicht damit, dass der Entwurf des Gesetzes über die künf- tige Rechtsverfassung jener Ortschaften (V. d. L. v. 1832» Beil. LXXIIa.) blos im Eingänge die Einverleibung dersel- ben mit Kurhessen erwähne, weil diese gesetzlich aus- gesprochen werden müsse, um die rechtliche Nothwen- digkeit ihrer Anerkennung und die rechtliche Möglichkeit ihrer Vollziehung durch die Behörden zu begründen, indem der Slaatsvertrag selbst Rechte und Pflichten nur für die Gontrahirenden Theile als solche zur Folge habe und sohin diese blos zur thatsächlichen Ausführung der Einverleibung auf dem Wege der Gesetzgebung berechtige (V. d. L. v. 1832. p. 2368 o. p.). Es ergiebt sich hieraus, dass auch die Aufnahme neuer Gebiete, also der Erwerbungen welche, sei es mit oder ohne Abtretung anderer Landestheile B. durch Erbanfall, gemacht werden, in den kurhessischen Staatsverband nicht ohne Zustimmung der Landstände ge- schehn kann, was, wenn auch die Einverleibung nach Vor- schrift der Verfassungsurkunde nicht zu verweigern ist, doch in Beziehung auf die dadurch mögliche VerSnderung der Landes-Repräsentation von Wichtigkeit erscheint. Jenes Prin- zip hat eine um so stärkere Feststellung erhalten, als ge« mäss demselben verfahren wurde, nachdem schon durch die Verkündigung vom Uten April 1832 in eiaeffl eoigegenge-

Die Landesverfassung in Kurhessen. 171

setzten Sinne gehandelt war, späterhin aber dennoch aner- kannt wurde, dass die in der Proposition zum Eingange des Gesetzes vom SOsten Juli 1832 als Thatsache erzählte Einverleibung, mit Weglassung dieser Erzählung erst in dem §. 1. des Gesetzes selbst ausgesprochen werden müsse. Der von der Staatsregierung proponirte Eingang zu jenem Ge* setze unterscheidet sich in Beziehung auf diesen Theil hin- sichtlich des Materiellen von dem durch die Ständeversamm- lung genehmigten Vorschlage des Ausschusses (V. d. L. v. 1832 p. 2368 o. p.) dadurch, dass, während nach der Pro- positton die erworbenen Ortschaften „einen Bestandtheil des Kurstaates" bilden sollten, dieselben, dem ständischen Be- schlüsse gemäss, „integrirende Bestandtheile des Kurstaates mR allen in Bezug auf den Staatsverband und die staats- bürgerlichen Rechte und Pflichten sich aus dieser Einverleibung ergebenden rechtlichen Folgen" bilden sollten. Es hat dadurch eine noch innigere Verbindung der neuerworbenen Ort- schaften mit den bisherigen Landen ausgedrückt und ausser- dem zugleich den Bewohnern derselben der Genuss der den Hessen nach der Verfassungsurkunde gebührenden staats- bürgerlichen Rechte, gegen Uebernahme der Pflichten hessi- scher Staatsbürger, zugesichert werden sollen. Nach dem hannoverschen Grundgesetz von 1833 §. 1. bilden auch Frie- densschlüsse eine Ausnahme von der Regel, dass Bestand- theile des Staatsgebiets nicht ohne Zustimmung der Stände abgetreten werden können. Die kurhessische Verfassungs- orkifhde kennt eine solche Ausnahme nicht. Es muss da- her die Ständeversammlung auch zu solchen Friedensschlüs- sen einwilligen, durch welche Theile des Staates abgetreten werden, sei es nun, dass ein Friedenstractat dieser Art von Hessen unmittelbar oder von einem Staatenverein abgeschlos- sen würde, welcher Hessen zu seinen Mitgliedern zählt. Cassel, Carl Wilhelm Wippermann.

12*

Macpherson*« Osslan.

Die von Macpherson herausgegebenen, dem Ossian zuge- schriebenen Gedichte sind schon mehrfach in dem Glauben an ihre Aechtheit von Geschichtsforschern, die mit Untersu- chungen über die Wikingszüge der alten Skandinavier sich beschäftigt haben, einer nähern Betrachtung unterzogen und theiiweise selbst als Quellen benutzt worden. Es hat sich indess mit Sicherheit herausgestellt, dass Macpherson dem Ossian diese Gedichte untergeschoben hat. Was O'Connor, Drummond und O'Reilly in dieser Rücksicht nachgewiesen haben, ist dergestalt überzeugend, dass ein Zweifel an der Wahrheit ihrer Behauptungen gar nicht mehr zulässig ist Ganz besonders aber bestätigt es sich auch bei einem nä- hern Eingehen in das Einzelne der Geschichte der Wikings- züge auf westlichen Wegen. ^

Bei Forschungen über diesen zuletzt angedeuteten Ge- genstand bin auch ich auf Untersuchungen über Ossian ge- führt worden. Meinerseits war jedoch hauptsächlich nur die Forschung auf jenen anderen Gegenstand gerichtete Die Ergebnisse derselben werden sobald sich in dieser ZeiU Schrift Platz für die ziemlich weitläu6g gewordene Abhand- lung findet, durch den Druck bekannt gemacht werden. Die Untersuchungen über Ossian mit besonderer Rücksicht auf die Geschichte der Literatur weiter auszuführen, hat Herr Dr. Fritz Mayer aus Arolsen übernommen. Ehe jedoch die Ergebnisse der Forschungen meines jungen Freundes zur voll- endeten Reife gediehen sein werden, dürfte es zweckmässig sein, auf die Hauptpuncte, auf die es bei der gedachten Untersuchung ankommt, vorläufig in wenigen Worten auf-

Maqpherson'g Ossian. 173

merksam zu machen. In der Absicht, diesem Zwecke zu genügen, sind die nachstehenden Zeilen niedergeschrieben.

Vor Allem zuerst ist nun in Rücksicht auf den zu be- trachtenden Gegenstand das Urtheii der zur Untersuchung der Aechtheit der Gedichte Ossians niedergesetzten Gommis- sion über das Ganze, was Macpherson dargeboten hat, vor Augen zu stellen. Die Worte lauten im Original, wie folgt*. „That Ossianic poetry was formerly common, general and in great abundance trough the Highlands; but that they could not say, how much of his collection Macpherson had obtai- ned in the form he had given it to the public; and that they had not been able to obtain any one poem, Ihe same in title and tenor with those he had published" (The genu- ine remains of Ossian literally, translated; with a prelimi- nary dissertatioA. By Patrik Macgregor. London 1841. p. 26.). - It. (The Gommittee of the Highland Society) is inclined to believe that he (Macpherson) was in use to supply chasms, and to give connection by insenting passages which he did not find, and to add what he conceived to be dignity and delicacy to the original composition, by striking out passages, by softening incidenis, by refining the language; in short, by changing what he considered as too rüde for a modern ear*^ (The transact of the royal Irish academy. Vol. 16. part* 2. polit. literat. p. 313.).

Schon im Jahre 1784 hatte Young Gedichte Ossians, die er in Schottland gesammelt, herausgegeben (The transact. of the roy. Ir. acad. vol. I. 1787. antiquit p. 43.) und da- bei bemerkt „dass Macpherson keinesweges ein treuer üebersetzer gewesen wäre, sondern dass er sich eigenmäch- tige Veränderungen erlaubt habe, die seine Ossianischen Gedichte zu höchst unzuverlässigen Urkunden über die Ge- schichte, Gebräuche und Denkungsart der Zeiten, von denen diese Lieder handeln, machten.

Später trat O'Connor bei Gelegenheit der von ihm be- sorgten Ausgabe der alten irischen Geschichtschreiber ge- gen Macpherson auf. Sein Hauptzweck war, im Gegensatze gegen die Behauptungen der Schotten darzuthun, dass Fin-

174 Macphersan's Ouian,

gal, Ossian und Osgar nicht in den schottischen Hochlanden gelebt bätien, sondern in Irland; demnächst widersprach er der Behauptung der Schotten, dass die dem Ossian zuge- schriebenen Gedichte wirkh'ch von diesem Sänger wären« Er läugnet zwar nicht, dass man dergleichen, in älteren Handschriften in irischen Bibliotheken findet, verwirft aber aus sprachlichen Gründen, wie Andere schon vor ihm ge- than haben, die Behauptung von deren Alterthümlichkeit. Sie sind nicht in der alten reinen Sprache, deren sich die irischen Barden bedient haben, gescl^rieben, sondern zeigen die bestimmtesten Spuren des EinOusses, den die Eroberung und die Herrschaft der Engländer in Irland auch auf die Sprache geUbt. Mit sicherer Ueberzeugung spricht er fd^ gende Behauptungen aus, dass kein in keltischer Sprache geschriebener Godeic angeblich Ossianischer Gedichte vorge- legt werden könnte, der nicht in irischer Sprache und mit irischen Buchstaben geschrieben wäre*, dass bisher kein solcher Codex gefunden sei, der bis an das dreizehnte Jahr- hundert reiche; d^ss ferner der Codex, den man in das achte Jahrhundert zurückversetzen wolle, dem vierzehnten angehöre (Rerum Hibernicarum scripftres veteres. tom. 1. epistol. nuncupat. pag. 61. 127 129. proleg. 2. p. 76.).

Aus diesen Gründen behauptet O'Connor, da3s die un* ter dem Namen von Ossian überlieferten Gedichte irischen Ursprungs wären, wenn auch vielleicht Einiges davon nach Schottland hätte verpflanzt worden sein können. In Rück* sieht auf den gaelischen Text der von Macpberson gegebe« nen Gedichte behauptet er aber, dass sie ein Machwerk wä- ren. Er gründet seine Behauptung theils darauf, dass in jenem Text fünf Buchstaben (k w x y z) hier und da vor* kämen, die von den irischen Sängern niemals gebratt<^t worden wären; theils bemerkt er, dass in jenem Text Worte vorkämen, die ganz offenbar neueren und zwar lateinischen Ursprungs wären. Drese Worte sinä: Houdir Auetor, ny- ceithnox, englisch night, Spiorad Spiritus, Corp Corpus, Beist Bestiä, Corn Cornu, Ros Rosa, Halla Aula, englisch Hall, Roda via^ englisch read, Arm Arma, Anam Anima,

Macpkerson's Ossian. 175

MuiDMclb MonteS) englisch Mountains , Geir Gera, Libfaearn Liburna, Stoirm Tempestas, englisch Storm (a. a. 0. epist nuncupat. p. 121. Vergl. The transact. of ihe roy. Ir. Aca« demy. Vol. 16. part. 2. pol. liL p. 104.).

Was aber sonst den Ursprung der irischen Gedichte, die man dem Ossian zuschreibt, betrifft, so wird der Beweis dafür, dass sie nicht von ihm sein könnten, besonders von der Thatsache hergenommen, dass fast in allen diesen Ge- dichten Ossian im Gespräch mit St. Patrik aufgeführt wird, und selbst in einem angeführten Ossianischen Gedichte der Verfasser sich als einen Christen bezeichnet (a. a. O. epist. nunc. p. 61. 126). Nach der Zeitrechnung, die freilich nicht sehr bewährt scheint, nach welcher jedoch Tigernach im eilften Jahrhundert die alte irische Sagengeschichte chrono- logisch behandelte, hätten Fingal, Ossian und Osgar im drit- ten Jahrhundert gelebt; St. Patrik aber ist als christlicher Bekehrer erst im fünften Jahrhundert nach Irland gekommen. Dass der Name „St. Patrik'^ von Macpherson Überall ausge- merzt und statt dessen ein Guide eingeschwärzt worden, ist bekanntlich schon oft bemerkt worden. Auch der Mac- phersonsche Kukullin gehört nach der Zeitrechnung des Ti* gernach nicht in das Jahrhundert von Fingal, da er schon im zweiten Jahre unserer Zeitrechnung gestorben sein soll (O'Gonnor, epistol. nunc. p. 61. proleg. 2. p. 12. scriptor« rer. bibern. tom. 2. p. 14. 49. 50. The transact. of the roy. Ir. Academ. VoL 13. antiquit. p. 65.). Wie man auch über die Zeitrechnung des Tigernach mag urtheilen wollen, es erhellt aus den Nachrichten dieses Ghronisten, dass man im eilften Jahrhundert in Irland Kukullin, Ossian und St. Patrik nicht als Zeitgenossen hat ansehen können. Die irischen Ge- dichte, die dem Ossian zugeschrieben werden, müssen da- her aus einer jüngeren Zeit herstammen.

Dass^ aus Gedichten solcher Art Macpherson zum Theii seinen Stoff hergenommen habe, wird ihm von allen seinen Gegnern zugestanden. Es ist nur die Frage darüber ent- standen, ob die Gedichte, die er gegeben hat, reine und einfache Uebersetzungen sind, oder ob sie ihm nur den

176 Macpherson^s Ossian.

Stoff dargeboten haben zu eigenen Dichtungen in englischer Sprache, bei welchen er in einer sehr willkürlichen Weise und manches verworren untereinai^derwerfend verfahren wäre» Das Urtheil der Gomraission in Rücksicht auf die Entscheidung dieser Frage ist schon im Vorhergehenden bei- gebracht. Sie hätte ohne Zweifel gewünscht, die Aechtheit des Macphersonschen Ossians beweisen zu können, und doch ist ihr Urtheil in einem sehr entgegengesetzten Sinne ausgefallen. Schärfer noch gegen Macpherson aufgetreten sind Drummond und O'Reilly in zwei von der irischen Aka- demie gekrönten Preisschriften (The transact. of the roy. academy. vol. 16. part. 2. polit. literat.). Sie ergehen sich in weitläuftigen Betrachtungen, um von allen Seiten den Gegenstand zu beleuchten. Hier indess kann nur auf das Rücksicht genommen werden, worauf es besonders ankommt, auf das Sprachliche nämlich, auf die Ergebnisse, die aus den Untersuchungen über den gaelischen Text des Macpher- sonschen Ossians sich herausgestellt haben. Drummond frei- lich, der sich nicht scheut, mit aller Sicherheit der Ueber- zeugung die Behauptung aufzustellen, dass jener Text erst nachträglich aus dem Englischen ins Gaelische übers<3tzt worden sei (a. a. 0. p. 107. 113. 114.), ist nicht ganz so gründlich verfahren, wie O'Reilly. Man wird daher wohl thun, mehr diesem Letzteren sich anzuschllessen.

O'Reilly ist wie O'Connor ein gründlicher Kenner der irischen Sprache und Literatur, und als solcher greift er den Macphersonschen Ossian scharf an. Er setzt weitläuftig die strengen Regeln der alten irischen und schottischea Dichtkunst nach Versmaass und Reim auseinander, und hebt es dann ganz besonders hervor, dass in den Gedichten, die von den Freunden Macphersons als Ossianische dargeboten worden sind, schlechthin nicht die geringste Spur von der Beobachtung jener alten Regeln vorkomme. Z\yar ist es wahr, dass seit etwa hundert oder hundert und fünfzig Jahren neuere Formen in die schottische Dichtkunst sich ein- geschlichen haben, und dies zum grossen Theil in Folge der nicht nach den alten Regeln abgefassten Uebersetzungen der

Macpherson's Ossian. 177

Psalmen; auch ist wahr, dass O'Connor ein älteres, dem Ossian fälschlich zugeschriebenes, nicht nach den alten Re« geln der irischen Dichtkunst abgefasstes Gedicht gekannt bat, in welchem Ossian und St. Patrik auftreten, mit ein- ander im Streit begriffen über religiöse Angelegenheiten (The Transactions of the royal Irish academy. Vol. 16. polit. lit. p. 301 309. scriptores rerum hibern. tom. 1. prol. 2* pag. 71.): sollte es indess, bei dem Verhältnisse, nach wel- chem grade die strengere Regel dem Gedächtniss zu Hülfe kommt, denkbar sein, dass dieselbe im Munde des Volkes sich abgeschliffen hätte. Dies ist nicht anzunehmen in Rück- sicht auf Heldengedichte, die Jahrhunderte hindurch gesungen sein sollen. Gegen die Aechtheit des neu herausgegebenen Textes spricht daher auch ganz besonders dies, dass die älteren Handschriften, aus denen derselbe herstammen soll, nirgends vorliegen. Unbestimmte Gerüchte nach mündlichen Ueberlieferungen y dass irgend Jemand diese oder jene ältere Handschrift entweder in Schottland oder in Amerika oder in Belgien vor zwanzig oder mehr Jahren gesehen habe (The genuine remains of Ossian, literaily transJated by Patrick Macgregor p. 34. 35. 41.), können bei einer so wichtigen Sache keinen Beweis geben. Macpherson hat, obgleich er im Besitze mehrer älterer Handschriften, die nicht sein Eigentbum waren und die er zurückzugeben versprochen hatte, gewesen ist, weder dieselben den Eigenthümern zurück- gegeben, noch nach seinem Tode eine einzige hinterlassen. Er muss die Handschriften, die er gehabt hat, absichtlich vernichtet haben. Dass er dies getban hat, davon hat man freilich die Schuld auf seine Eitelkeit werfen wollen, und angegeben, es wäre ihm ganz recht gewesen, wenn er den Schein eines grossen Dichters i^m sich hätte verbreiten können (Macgregor a. a. 0. p. 40.). Weit wahrscheinlicher indess ist es^ dass die Vernichtung der Handschriften in der Absicht geschehen ist, die Entdeckung der vielfachen willkürlichen Umänderungen und Verfälschungen, die er sich erlaubt haben muss, unmöglich zu machen.

Zu Macphersons Rechtfertigung hat der letzte, der aU

178 Macpherson's Ossian.

sein Vertheidiger aufgetreten ist, Macgregor nichts Bedeu- tendes und kaum etwas Neues beigebracht. Er behauptet sogar, dass seit dem Jahre 1807 in Bezug auf den von ihm behandelten Gegenstand Nichts erschienen wäre, was Er* wähnung verdiente. 0*Connor hat 1814 seine einleitenden Bemerkungen zu seiner Ausgabe der alten irischen Geschieht* Schreiber herausgegeben*, die Abhandlungen von Drummond und 0*Reilly sind 1831 erschienen. Die gründlichsten und gelehrtesten Gegner Macphersons hat somit Macgregor keiner Erwähnung würdig geachtet. Was er (S. 59.) sagt, um ein geregeltes Yersmaas und Reim in dem gaelischen Text des neuen Ossians nachzuweisen, werden ihm weder O'Gonnor noch O'Reilly zugeben. Ueberdies auch scheint eine Steile in der Vorrede dem, was in der Abhandlung selbst gesagt wird, zu widersprechen. Es heisst (p. 4.) in der Vorrede: „The disadvantage of the absence of metre and rhyme, is so obvious that no reader will fail to make a due alio<i> wance for it. 1 might easily have rendered the whole into octosyllabic blank verse; but the metre would not, in tbis case , compensate for the loss of perfeot fidelity to the ori'^ ginal.^^ ^ [n der Abhandlung (S. 59.) heisst es: „Ossian's poetry consists throughout of octosyllabic verse."

Des Vorwurfes von O'Connor und Drummond, dass die schon im Vorhergehenden an ihrem Orte angeführten Worte neueren Ursprungs wären, thut Macgregor gar keiner Erwäh- nung. Ueberhaupt scheint er auch nicht grade im Stande zu sein , sprachliche Verhältnisse mit dem gehörigen Geschick zu behandeln. Laing hatte geäussert, dass das Wort Long in der Bedeutung von Schiff in der gaelischen Sprache auf römischen Ursprung hinweise und von navis longa abzu- leiten sei« Um ihn zu widerlegen, stellt Mdcgregor (S« 102.) die Vermuthung auf, dass das Wort Longa wahrscheinlich ein punisches in der Bedeutung von Schiff gewesen' und von den Puniern auf die Römer wie auf die Gaelen übergegangen sei. Auch meint er (S. 66.), dass die irische Sprache in der Zeit vom sechsten bis zum achtzehnten' Jahrhundert keine bedeutenden Veränderungen erlitten hätte.

Angelegenheiten der kUtorischen Vereine. 179

Jeder Unpartheiische muss eingestehen, dad!f der neuere Versuch Macgregors zur Vertheidigung Macphersons und der Freunde desselben gescheitert sei. Welche Ansicht man in- dess auch' sonst noch über den streitigen Gegenstand mag festhalten wollen, so viel steht ohne Zweifel fest, dass kein Geschichtsforscher auf Ossianische Gedichte, in welcher Form sie auch besteben mögen, fernerhin sich noch berufen darf, wenn er auch sonst im Allgemeinen nicht abgeneigt ist, die Sagengeschichte eines Volks auf historische Erinnerungen 2u deuten. P. F. Stuhr.

Angelegenbeiten der historischen Vereine.

Referate.*)

Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst. Mit Abbildungen. Drittes Heft. Frankfurt, 4 844. 8.

Dieses, wie seine Vorgänger, glänzend ausgestattete Doeoment der Tbätigkeit des Frankfurter Vereins für iocale Geschichte ent- hält lauter Beschreibungen architectonischer Denkmale der frank- furter Vorzeit, die übrigens in der Art behandelt sind, dass sie ein wirklich historisches Interesse haben und ein Stück Leben aus der deutschen Geschichte vergegenwärtigen.

Krieg von Hocbfelden, der Geschicbtschreiber der Grafen von Eberstein, beschreibt die ältesten Bauwerke im Saalbo^zu Frank« furty die im Jahr 1842 bis auf eine kleine Gapelle abgebrochen wurden. Der Verfasser unternahm es, diese Denkmäler einer ganz anderen Welt, die fremdartig in das moderne Frankfurt berein- ragten, noch vor ihrer Zerstörung zu vermessen und zu zeichnen, um ao doch ihr Andenken zu retten und zugleich diese räthseU haften Zeugen dunkler Jahrhunderte in den letzten Momenten ihres Daseins über Alter und Zweck zu befragen und zu Aufschlüssen zu zwingen.

Die ersten Anfänge des Saalbofes, ein Stück Ringmauern und zwei halbrunde Flankenthürme stammen noch aus der karolingi'

*) Die beiden zunächst folgenden sind aus dem vorigen Jahre rück- Mündig. I^ed,

180 Ängekgenhriten der hi$iori$ehm Vereme.

sehen Zeit und bildeten Tbeiie des befestigten -Palatiams, das Lud- wig der Fromme ums Jahr 822 in Frankfurt erbauen iiess. Nach dem Abgang der Karolinger hört die frankfurter Königspfalz auf, für längere Zeiten eigentlicher Wohnsitz der Kaiser zu sein, doch nehmen die sächsischen und fränkischen Kaiser noch zuweilen ihren Aufenthalt hier, wie man schon daraus sieht, dass Otto II. seinem Kanzler, dem Bischof Hildebald von Worms im Jahr 979 ein Pfortenhaus auf der Westseite des Palatiums schenkt, um bei kaiserlichen Versammlungen und Reichtstagen daselbst zu wohnen. In der hohenstauflschen Zeit scheint der Saalhof einen weiteren Zuwachs bekommen zu haben durch den Anbau einer Kapelle, die muthmaasslich vom Jahr 1208—12 zu Aufbewahrung der Reichs- kleinodien gedient hat. In der nachhohenstaufischen Zeit zerfiel die frankfurter Königspfalz immer mehr, kam in den Besitz einiger Dynasten und sofort an wohlhabende Bürger und Kau Heute.

L D. Passavant giebt aus alten Acten eine vollständige Ge- schichte des Pfarrkirchentburmbaus, der im Jahr 1411 durch den Werkmeister Madern Gertner begonnen und bis zum Jahr 1512 forlgesetzt wurde, wo er nach mehren Unterbrechungen endlich ganz in Stocken gerieth und unvollendet stehen blieb. Interessant ist eS; aus den Rechnungen zu ersehen, wie viele Privaten sich beeiferten, jeder auf seine Weise, der eine durch Geld, ein anderer durch Naturalleistungen, sein Scherflein zum Bau beizutragen. Selbst ein verurtheilter Missethäter vermachte vor seinem Ende seine Habe zum Besten des Baus. In den aufgestellten Opferstöcken sammel- ten sich bedeutende Summen. Andächtige Personen zahlen einmal 20 Last Miltenberger Steine.

Die Idee einer Restauration und beziehungsweisen Vollendung ist auch bei dieser Domkirche aufgetaucht, und dies hat wohl zu der weiteren Abhandlung Professor Hessemers Veranlassung ge- geben, der eine ästhetische Würdigung des Pfarrthurms versucht und Vorschläge zu etwaigem weiterem Ausbau macht, wobei über- haupt Betrachtungen über den Charakter des damaligen Baustils angeknüpft werden. Zur Verdeutlichung des ursprünglichen Bau- risses und der neueren Vorschläge sind zwei Zeichnungen beige- geben, die eine nach dem im Stadtarchiv befindlichen Original- entwurfe, die andere von Hessemer mit neuentworfener Spitze.

Der Abbruch eines alten äusserlich unansehnlichen Hospital- gebäudes zum heiligen Geist, das aber, näher angesehen, als ein sehr ausgezeichnetes Denkmal deutscher Baukunst sich herausstellte, gab dem Dr. Böhmer Veranlassung, es durch sorgfältige Beschrei- bung wenigstens für die Geschichte gleichsam zu retten. Eine gute Zeichnung giebt eine Ansicht der Hospitalhallen im Moment, wo zu ihrem Abbruch Hand ans Werk gelegt wird. Schöfi' Usener

AngeUgenheiien der hiiiari$dm$ Verelm. 181

giebt eine auf Urkunden gestutzte €reschichte der Herren von Reiffen- berg, erzählt ihre Fehden, deren eine im Anfang des 16. Jahrhun- derts zwischen verschiedenen Linien des Geschlechts ausgebrochen, sich spater in einen Rechtsstreit verwandelt hat, bei dem es sich um den Besitz der zerfallenen Burgtrümmer (Stammschlosses) und des dabei liegenden Dorfes gleichen Namens handelt, und der bis auf den heutigen Tag noch nicht entschieden ist. Die Ansicht des Dorfes und der Burgtrümmer ist etwas gar grob ausgefallen.

Eine ehemalige Tbüre der Barlholomäuskirche in Frankfurt wird in alten Chroniken die rothe genannt, Böhmer untersucht nun, warum sie so hiess, und kommt zu dem Ergebniss, dass diese Benennung daher komme, dass ehemals auf dem Platz vor dieser Thüre Gericht gehalten worden sei.

Am Schluss beschreibt Hessemer mit einigen einleitenden Ent- schuldigungen über die Geringfügigkeit des Gegenstandes, das so- genannte Holzpförtchen , ein abgebrochenes Ausgangsthor gegen die Mainseite.

S'ammtliche Abhandlungen dieses Beftes enthalten gerade keine erheblichen Resultate der Geschichtsforschung, aber in allen weht eine alterthümliche Luft, alle zeugen von liebevoller, patriotischer Auffassung der frankfurter Vorzeit, und dienen dazu, die Phy- siognomie des alten Frankfurts zu vergegenwärtigen. Arbeilen dieser Art, in diesem Sinne ausgeführt, haben für die Geschichte immer einigen Werth, sie helfen zu lebendiger Anschauung deut- schen Alterthums. Klüpfel.

Mittheilnngeo , Neue , aus dem Gebiet der historisch - anUquarischen ForscbuDgeo. Herausgegeben von dem Thüringisch - sächsischen Verein für Erforschung des vaterländischen Alterthums. Bd. VII, 4. 2. Halle, 48|^.

Diese Mittheilungen bewegen sich seit ihrem Bestehen vorzugs- weise innerhalb des archäologischen und rechlsgeschicfatlichen Ge- bietes. Auch die beiden vorliegenden Befte sind grossentheils mit Beiträgen angefüllt, die einem von jenen Gebieten angehören. In Beft 1 ßnden wir eine Sammlung sphragistischer Aphorismen von Lepsius, welche um so werthvoller sind, da sie sich nicht auf Siegelkunde beschränken, sondern auch für die Sagengescbichte Ausbeute gewähren. Eine Untersuchung über das alte Siegel der Stadt Bonn fuhrt zu dem Resultat, dass die Stadt Bonn im 12. und 14. Jahrhundert auch Verona und Bern geheissen habe, nicht so jedoch, dass Bonn, Verona und Bern ganz gleichbedeutend gewesen wäre, sondern dass ein Theil der Stadt, das königliche palatium innerhalb des castrum die deutsche Benennung Berna, die glänzende, bekommen und Analogie mit der Burg des lombardischen Königs Dieterich die italienische Form Verona hinzugefügt hatte.

18S AngelegeiAeUm der hktoriichm Vereine.

Bemerkeoswerth ist, dass beinahe gieichzeüig eine AbbandHimg von Dr» Lersch in den iahrbüciiern des Vereins von AÜerthums- freonden im Rbeiniande erschien, welche sowohl in den Beweis« initteln als in den Resultaten mit der von Lepsius zusammentrifll, welcher auch in einem Nachwort die Untersuchung Lerscb's be- rücksichtigt.*) In No. 6. giebt Lepsius ein Beispiel von dem Nach- klingen der Volkssage in der Zeichensprache der Wappen und Siegel. Er seigt nämlich eine Spur in dem Vl^appen der Herren von Alzei von dem Helden des Nibelungenliedes Volker von Alzei dem Fiedler und dann in dem der Sladt, wo sich ein Löwe einer Fiedel beOndet. Die Frage, ob die Sage aus dem Wappen- bild oder letzteres aus dem Fiedler in der Sage abzuleiten sei, glaubt er dahin entscheiden zu müssen, dass die Sage dem Wap- penbild zu Grunde liege, indem die Ausbildung der Wappen offen- bar später als die Entstehung des Nibelungenliedes gesetzt werden muss. Das Wappen der Herren von Alzei und der Stadt finden wir in der Beilage abgebildet

* Die Erinnerungen von Modems an eine Reise durch Thüringen gehört eigentlich auch in das Gebiet der Archäologie. Man findet zwar auch frische Eindrücke von Naturanschauungen, aber die Schilderung geschichtlicher Alterthümer ist denn doch die Haupt- sache; besonders die Beschreibung der Wartburg und ihrer be- gonnenen Restauration ist für den AUerthumsforscher von Interesse. Die hier angelegte Rüstkammer, in welcher alte Röstungen, prächtig neu aufgeputzt glänzen, giebt dem Verfasser Veranlassung ähnlicher antiquarischer Sammlungen zu gedenken und den Wunsch auszu- sprechen, dass historische Vereine die beweglichen Alterthümer ihrer Heimath sammeln und dass die betreffenden Regierungen da- bei ins Mittel treten und diesen Vereinen eine sichere von der Discretion ihrer Mitglieder unabhängige Einnahme gewähren, auch für taugliche Locale sorgen möchten.

Der Verfasser beklagt, dass in keinem deutschen Bundesstaat genügend für diese Angelegenheit gesorgt sei. Es sei auch nicht genug, dass man in der Residenz eines grössern Staates wie z. B. In Berlin ein Centralmuseum gründe , da solche allgemeine Samm- lungen, wenn auch noch so reichhaltig, doch immer etwas Ab- stractes, Lebloses an sich haben, und nie die frische Anschaulichkeit kleiner landschaftlich abgeschlossener Sammlungen, die vielleicht noch von einer besonderen Localität belebt werden, gewähren können« Dadurch könnte auch dem Unfug vorgebeugt werden, grossere Alterthümer in verschiedene Museen zu zerstreuen, etwa das Wichtigere inCentralmuseen, anderes scheinbar minder wichtige

*) Vgl. hierüber das Nttiere im folgendtn Referat. Red.

ÄngelegenkeiteH der hUtoriMcheH Vereine, 188

den ProvioEialmuseen zu überlassen. Dwch solche Zersplitterung des Zusammeogehörigen wird alle Anscbaulicbkeit zerstört und die richtige Beobachtung gehemmt.

Zar Archäologie können wir gewissermaassen auch San Hartes Bemerkungen zu des Grafen von Villemarqu^ Sammlung: Coates populaires des anciens Bretons und dessen Entwicklung der Arthur- sage rechnen*

Die übrigen Beiträge gehören dem Gebiet der Rechtsgeschichte an, wie z. B. die dritte Fortsetzung von Stephan's Geschichte der Yogtei Doria vor dem Hainich. Diese Arbeit war ursprünglich von dem Verfasser unternommen, um eine historiscbe Grundlage für Provinzialrechtsarbeiten zu verschaffen, und enthält die Geschichte von drei Dörfern in dem Regierungsbezirk Erfurt, deren Einwohner unter dem EinQuss einer getheilten Herrschaft bis auf die neueste Zeit an alten Einrichtungen, Rechten und Sitten festgehalten haben. Der ehrenwerthe Verfasser entschuldigt sich selbst darüber, dass er seinen Aufsatz vielleicht zu sehr habe in die Breite gehen lassen, und fürchtet, dass aus dem historischen Gesichtspunct manches als Spreu erscheinen möchte, hofll übrigens, dass doch einige gute Kömer zu finden sein möchten. Es muss dies auch wirklich mit Dank anerkannt werden, und wir möchten diesen Aufsatz keines- wegs zu denen rechnen, welche in gutgemeintem Eifer gehaltloses Material anhäufen. Die rechtsgeschichliichen Beiträge t>e6tehen in No. 3. einer Fortsetzung der schon im dritten Band der Mit* tkeikingen begonnenen Gesetzsammlung der Stadt Nordhausen im 15. und 16. Jahrhundert. Dass solche Gesetzsammlungen für die Rechts- und Sittengeschichte von grossem Werth sind, unterliegt keinem Zweifel; da aJ»er die Sache doch von grösserer Ausdehnung ist, wäre wohl ein besonderer Abdruck geeigneter gewesen. Mit ihm hätte dann auch das in No. 4. mitgetheilte Recbtsbuch der Schwestersladi Mühlhausen verbunden werden können. Ohnehin fragt es sieh, ob die in den thüringischen Miltheilungen hin und wieder vorkommenden Fragmente von mittelalterlichen Gesetz« bächern nicht hesser in einer besonderen Gesetzsammlung ver- einigt würden. In eine periodische Zeitschrift wollen ganze Gesetz- bücher nun einmal nicht passen.

Im. (olgenden Heft fällt der Erfurter Zuchtbrief vom Jahr 1351 ebenfelis in die Rubrik der Rechts- und Sittengeschichte; der hi- storische Werth ist nicht zu bezweifeln, aber der Wunsch, den wir oben ausgedrückt, findet auch auf dieses Stück seine An- wendung.

Eine interessante MittheUung von Böhmer ist das Schreiben Kaiser Heinricb V. über die Gefangennehmung des Erabi6cho£s Adelbert von Mainz im Jahr 1112. Der Kaiser ^pellirt yer m 49t

184 AngelegenheUen der historischen Vereine.

Meinung deines guten Rechtes an did öffentliche Meinung, bei welcher er aber, wie der Erfolg zeigte, keinen Anklang fand. Die weltliche Macht musste schon damals erfahren, dass Msiassregeln der blossen Gewalt gegen die Kirche, wenn sie nicht mit einer kräftigen Bekämpfung durch geistige Waffen sich verbinden, nur das Spiel verderben und der Hierarchie liberale Sympathien er- wecken. Ueberdies geschah es dem Kaiser, der mit Hülfe der Kirche seinen Vater gestürzt und des Reiches Einheit an die fürst- liche Aristokratie und päpstliche Hierarchie verrathen hatte, recht, dass er von den Würdeträgern der Kirche solchen Dank erntete.

Das merkwürdige Actenstück stammt aus einer auf der vaticani- sohen Bibliothek in Rom befindlichen Handschrift, von der es Böhmer abgeschrieben und zum erstenmale vollständig mitgelbeilt hat.

Eine palaographische Mittheilung macht Dr. Gustav Schwetschke in Halle in der Abhandlung No. 1. des zweiten Heftes durch den Nachweis der Unächtheit der Kölner Freimaurerurkunde vom Jahr 1535, worin 19 fiundesmitglieder, darunter sehr berühmte Namen, über Geschichte und Tendenz der Verbrüderung apologetische Nachricht geben. Die Unächtheit dieser Urkunde, die sehen früher aus inneren Gründen erwiesen wurde, wird hier aus äusseren dargethan und zugleich ein nicht unwichtiger Beitrag zur Paläo- graphie gegeben.

In No. 2. beschreibt Heinr. Otte die Kirche des ehemaligen Cisterzienser- und Mönchsklosters zu Zinna, und will dabei an einem Beispiel zeigen, wie die in seinem „Abriss einer kirchlichen Kunstarcbäologie des Mittelalters" aufgestellten Grundsätze auf Be- schreibung von Kirchen angewendet werden könnten.

In No. 3. beschreibt und erläutert Domprediger Augustin zu Halberstadt das Diptychon consulare in der dortigen Domkirche. Diese Diptychen sind nämlich kunstvoll bearbeitete Deckel zu Schreibtafeln meist aus Elfenbein, welche vornehme Römer, be- sonders Consularen, ihren Freunden als Neujahrsgeschenke aus- zutheilen pflegten.

Dieses Halberstädter Diptychon, das seiner Verwendung zum Einband eines alten Chorbuchs seine Erhaltung verdankt, hat aller- hand eingegrabene Figuren, in welchen unser Erklärer Beziehun- gen auf die Geschichte der Königin Zenobia von Palmyra ver- muthet, welche im Jahr 273 nach Christi Geburt unter der Regie* rung des Kaisers Aurelian gefangen nach Rom gebracht wurde und dort den Triumph des Siegers verherrlichen musste.

In No. 4. berichtet Fr. Wiggert über einige goldene und sil- berne Schmucksachen aus dem 14. Jahrhundert, die im Jahr 1826 bei Weissenfeis gefunden wurden, und in einer lithographirten Beilage abgebildet sind.

Angelegenheiten der historischen Vereine, 18i

In No. 7. stellt Mooyer in Minden zusammen, was sich von einem gewissen Herzog Ismael von Apnlien in deutschen Nekro- logien und anderswo findet. In No. 8. stellt J. Schneider eine neue Ansicht über die sogenannte Langmauer bei Trier auf, wo- nach dieselbe ein Theil eines umfassenden Verschanzungswerkes wäre, das die Römer während ihrer Herrschaft in Gallien zum Schutz gegen die einfalle der itberrbeinischen Völker errichtet hätten.

In No. 9. giebt Lcpsius Bemerkungen zu einem früheren Auf- satz Niemeyers über die Wesierburg, worin er über einige in jener Beschreibung unklar gebliebene Punkte, die Construction der Burg betreffend, einige Fragen aufwirft. Beide Hefte enthalten als An- hang eine Reihe von Berichten über andere historische Vereine und deren literarische Leistungen. Die Vollständigkeit, in der über diese Vereinsschriften berichtet wird, verleiht den Miitheilungeii einen eigenthümlichen Werth.

Welche wissenschaftliche Bedeutung dieser thüringisch-sächsi- schen Vereinszeitschrifl zukomme, ergiebt sich aus dem angeführ- ten Inhalte von selbst. Sie leistet das, was ihr Titel verspricht, und giebt historisch-antiquarische Forschungen. Die Abhand- lungen sind meistens in gründlicher Weise gehalten, ohne jedoch durch umfassendere Combinationen oder tiefere Auffassungen sich auszuzeichnen. Auch wollen sie nicht in sich abgeschlossene Dar- stellungen geben, sondern nur dem Forscher für weitere Verarbei- tungen kritisch gesicherte Materialien bieten. Klüpfel.

Jahrbücher des Vereins von Alterlhumsrreunden im Rheinlande.

Niederrheinisches Jahrbuch fUr Geschichte und Kunst. Herausgegeben von L. Lersch.

Beide Schriften können fuglich zusammengenommen werden, da beide einzelne Arbeiten mehrer Verfasser enthalten, beide vorzugsweise die Aiterthümer und Geschichten des Niederrheins berücksichtigen, und der Herausgeber von No. 2. auch an der Redactijon der Vereinsschriften fortdauernd Antheil genommen hat.

Der Verein, im Herbste 1841 gestiftet, hat bis jetzt acht Hefte herausgegeben, deren Inhalt unter die drei Rubriken: Chorographie und Geschichte, Monumente, Literatur ziemlich gleichmässig vertheilt ist: dem Zwecke dieser Zeitschrift gemäss ziehe ich hier nur die erste in Betracht.

In den vorliegenden Heften erfreut sich in chorograpiHSchcr Beziehung die Moselgegend bei weitem der häufigsten Berücksich- tigung. Schneider (früher in Trier, jetzt in Emmerich), Ch. von Plorencourt in Trier, Obristlientenant Schmidt in Berlin, Deycks in Goblenz haben eine grosse Anzahl sich ergänzender, unter-

All^. Zeitschrift f. Gescbiehte. Y. 1846. 13

186 Angelegenheiten der hietorischen Vereine.

stützender oder berichtigender Abbandlangen , Böcking eine höchst sorgfältige Ausgabe der Moselgedichle des Ausonius und Venantius mit kritischen und erklärenden Anmerkungen voll von Erudition und Scharfsinn geliefert: unbedenklich kann man die Leistungen des Vereins auf diesem Felde als einen merkbaren Fortschritt der rheinischen Geschichtswissenschaft bezeichnen. Es wäre sehr wünschenswerth, von den übrigen Gegenden, über welche der Verein seine Wirksamkeit erstreckt, ein Gleiches sagen zu können, doch flndet sich überhaupt wenig, und was vorkommt, wie z. B. eine Abhandlung von Oligschläger in Elberfeld über römische Niederlassungen im fiergiscben, oder ein Aufsatz von Janssen über eine Hünenschanze am Hadeler Meer, ist nicht der Art, dass be* sonders Rühmliches davon zu pradiciren wäre. In hohem Grade muss man bedauern, dass ein von Seiten des Vereins in Anre« gung gebrachter Plan, eine Karte sämmtlicher römischer Antiqui- täten im Rheinlande entwerfen zu lassen, bis jetzt wegen ander- weitiger Hindernisse nicht zur Ausfuhrung gelangen konnte.

Die eigentlich geschichtliehen Arbeiten ordne ich nach den Gegenständen.

Römisches. In einer weiterhin anzurührenden Abhandlung schlug Lersch vor, in der bekannten Stelle des Florus IV., 12, Bonnam et Gesoniam in Bonnam et Veronam zu ändern, wor- unter dann ein Theil des jetzigen Bonn zu verstehen wäre. Osann nahm darauf (Heft 2) ausführlichst die Lesart Bononiam et Ge* soriacum in Schutz , wogegen Dederich Heft 8 wieder auf Bonnam et Gesoniam zurückging und gegen Lersch die Existenz eines Bonn gegenüberliegenden Geusen von Neuem behauptete. Osann's An- sicht ist durch ihn wohl für beseitigt zu erachten; über Geusen ist die Frage offen zu halten, da Lersch eine Widerlegung der von Dederich angeführten Gewährsmänner ankündigt.

Düntzer giebt in drei Abhandlungen schätzbare Beiträge zur kritischen Feststellung der römischen Kaisei^escbichte. In der einen (Heft 1) wird gegen Vopiscus die Richtigkeit der Angaben dargethan, welche Aurelius Victor über die gallischen WeinpQan- zungen des Probus liefert. In der zweiten erfährt die Darstellung einiger Gegenkaiser des Gallienus durch Trebellius PoUio eine me- thodisch fortschreitende Sichtung (Heft 4). Endlich im achten Hefte wird der Bericht Ammians über die Ermordung des Silvanus gegen die Erzählung Kaiser Julians vertheidigt, die Beschaffenheit und Lage des Pallasies Silvans in Cöln ermittelt, und der nähere Zeit- punkt seines Todes festgestellt.

Germanisches. Dederich und Hermann MuUer führen Heft 5, 6, 7, die von dem letztern in den Marken des Vaterlandes an« geregte GontroYerse über das Local der Usipetenschlacht fort Je

Angelegenheiten der historischen Vereine. 187

bestittimter ich mich früher (Heft 2) gegen Müllers Ansicht erklärt habe, nm so weniger k;inn ich jetzt nnstehn, seinen vorliegenden Aufsatz als musterhaft in Form und Inhalt anzuerkennen: ich glaube nicht, dass es möglich sein wird, in dem Gange dieser Beweisführung und der Bündigkeit ihres Ergebnisses die kleinste Lücke nachzuweisen.

Uebcr die Alamannenschlacht des Chlodovech hat Düntzer (Heft 3) die früher gewöhnliche Ansicht, die sie nach Zülpich ver- legt, wieder aufgenommen und in Detaillirung der Quellenaussageci das Mögliche geleistet. Warum ich nicht beistimmen kann, habe ich in einem Zusätze zu der Abhandlung angegeben: die unbe* dingte Verwerfung der vita Vedasti und Arnulfi scheint mir nicht tu rechtfertigen, die Identität des ripuarischen und saliscben Krieges nicht zu erhärten. Im vierten Hefte habe ich selbst die Rechts- trerh'allnlsse der germanischen Unterthanen des römischen Reiches festzustellen versucht, und ebendaselbst über Chlodovech bemerkt^ dass er im Jahre 408 nach dem Prologe des saliscben Gesetzes den Titel nicht eines Consul sondern eines Proconsul erhatten hat,

Mittelalter. Seiner ersten Bestimmung nach nimmt der Verein nur gelegentlich von diesem Gebiete Notiz, dafür ist das Jahrbuch fast ausschliesslich mit demselben beschäftigt. War übri- gens im Vorigen beinahe durchgängig zu loben, so wird es gut sein, hier auch die andre Seile in Betracht zu ziehn. Die gewöhn- frchen Mängel der Vereinsschriflen zeigen sich auch bei dem unsern in häufigen Fällen: ich wähle zu ihrer Darlegung einen Repräsen- tanten, bei dem sie In besonders charakteristischer Art hervor- treten.

Lersch handelt (Heft 1) über Verona, als besondern, ursprüng- lich $elbstständlgen ThetI der Stndt Bonn. Er bringt einige bisher übersehene Urkunden und Münzen, auf denen der Name vom 10. bis zum 14. Jahrhundert sich Verfolgen lässt, gelangt jedoch in der Sache nicht über Simrocks Ausführung hinaus, dass' neben dem römischen Castrum sich in der Gegend der Münsterkirobe ein neuer Ort Namens Verona gebildet und später mit Bonn ver- schmolzen habe. Ganz abenteuerlich ist es, wenn Lersch dies Verona in einer Constitution Valenlinians von 366 vermutben will, während Ammian ausdrücklich sagt, der Kaiser sei damals nur bis Rheims gekommen, und sonst in Gallien mehr als ein Verona (gerade bei Rheims ein Verna in der vita Remigii) bekannt ist. Ebenso wenig ist der Beweis haltbar, dass die beiden Städte noch im Vi, Jahr- hundert getrennt gewesen: ein gewisser Roing nennt sich einmal cWis Bonnensis, ein andres Mal coacivis Veronensis, und Lersch denkt, er sei also ansässiger Bürger zu Bonn und Ehrenbürger zu Bern gewesen! Eine Anzahl sehr junger Zeugnisse für das

13*

188 Angelegenkeiien der historischen Vereine.

hoho Alter Veronas werden dann noch beigebracht, ihr Unwerth anerkannt, endlich aber doch geschlossen : .,es ist schwer denkbar, dass erst im Mittelalter der ganze Name entstanden sein sollte, wir finden keine historische Thatsache, woran wir die Gründung einer neuen Stadt hier anlehnen könnten/' ;Man sieht, welche Begriffe der Verf. von mittelalterlicher Städtebildung hat: es ist unmöglich, seine ganze Arbeit besser zu charakterisiren , als er selbst es S. 214. gethan hat: ^,die Forschung taucht mit tastender Hand in alle diese dunkeln Schachten und Gänge , in die eine ein- zige glücklich gefundene ätejle eines niittelalterliehen Schriftstellers, ein einziger römischer Ziegel volles Licht bringen kann/'

Freilich bleibt dann die Forschung, in Erwartung eines solchen Fundes. oder Ziegels, völlig unwissend über das Licht, welches reichlich genug aus allgemeinen geschichtlichen oder rechtsge- schichtlichen Studien zu gewinnen wäre. Es versteht sich von selbst, die geschichtliche Thatsache, an die sich die Entstehung des zweiten Orts anlehnt, ist die Existenz des Münsterstiftes, und da dem Verf. immer nur der Nachweis eines doppelten Namens, nicht des doppelten Ortes gelungei! ist, so mag die Bemerkung Platz finden, dass ein kundigerer Forscher (Lacomblet) sich im Be- sitze bisher unbekannter entscheidender Zeugnisse befindet.

lieber drei andere Arbeiten desselben Verfassers, sammtlich Bonn oder Cöln betreffend, ist ein ähnliches Urtheil zu fällen. Er findet sich auch dort auf „einem Felde der Vermuthungen und Ahnungen, das sich wie ein mit Ruinen und Denkmälern über- sätes, in das der Fuss des Wanderers zum Erstenmale tritt, unübersehbar vor ihm aofthut.'' In der That auf einem ihm unbekannten Gebiet bewegt er sich um den einzelnen, zufällig in Betrachtung genommenen Punkt, sucht emsig die Stellen zusam- men, wo er ihn ausdrücklich genannt findet, und führt dann auf diesen frischen Schätzen ein fi^sches Conglomerat von Gombinatio- nen, Wahrscheinlichkeiten, „vielleicht unsicbern," stets aber „höchst merkwürdigen" Möglichkeiten auf. Wie ein Knabe, der im Busche bunte Blumen gefunden, versichert er, das sei schön und äusserst selten, und würde sich höchlich wundern, wenn der Botaniker den interessanten Strauss gelassen auf die Seite legte. Da ist eine weitläufige Arbeit über einen Ronner Propst Gerhard (Jahrbuch I), die zu dem Ergebniss kommt, er sei ohne Frage einer der ge- wandtesten Köpfe, der bedeutendsten Menschen seiner Zeit ge* Wesen. Die Entdeckung einer solchen, bisher ganz obscuren GriJsse, wäre freilich ein Verdienst. Leider weiss man nicht das Mindeste über ihn, als den Inhalt einer Anzahl von Urkunden über die da- maligen Gütererwerbungen des Bonner Stiftes, Käufe, Precarien, Wachs- und Weinzinsen u, dgl., Alles in den bekannten^ feststehen-

Angelegenheiten der historischen Vereine. 189

den Formelo. Der Verf. findet das Alles besonders und wichtig, ,,das System des Erwerbs von Grundbesitz wird beharrlich ver* folgt,'* )}Ein Streben, Eine Idee durchdringt Gerhards Leben/* Eine Schenkung ad opus Bonnensis ecciesiae wird zu einer Gabe zum Bonner Kirchenbau etc. Bäcker, Koche et aliorum officio- rum artifices verwandeln sich in Bäcker, Köche und andre Künst- ler; bei einer Schenkung in arliculo mortis, ebenfalls in den typi- schen Formein dieses Rechtsgeschäftes vollzogen, erhebt sich Ger* hard „zu einer fast furchtbaren Gestalt."

Das Schülermässige und Dilettanten hafte, welches hier greJl genug zu Tage liegt, spricht sich überall in ähnlicher Weise, nicht aber überall in bescheidenen Formen aus. Eine Biographie des hl. Anno wird mit der Versicherung eingeleitet: „in der Geschichte des deutschen Reichs schwankt sein Charakterbild von der Par- teiung nicht selten entstellt, in den Annalen des Rheinlandes ist seine Persönlichkeit noch immer nicht gehörig erkannt und ge-- würdigt. '^ Nach diesem preliösen Exordium erfahren wir dann aus der Reichsgeschichte, dass der Tod Heinrich III. höchlich zu bedauern, die Verwaltung Anno's aber nicht weniger des grössten Lobes werth sei. Wie dergleichen neben einander bestehen könne, begreift sich nur aus der fernem Wahrnehmung, dass in dem ganzen Aufsatze der Name Hildebrands nicht genannt, der Kampf zwischen Kaiser und Papst nicht erwähnt, die Opposition der Aristokratie auf den Unwillen der Sachsen über Heinrichs Miss- handlungen reducirt wird. Fragen wir nach dem Gewinn, den die „Annalen des Rheinlandes*' aus diesen Forschungen gezogen, so finden wir die Angaben: „die Befugniss Recht zu sprechen, stand eines Theils dem Stadtgerichte, d. b. dem Stadtvogte und den Schöffen namentlich in Erbschaflssachen zu andern Theils stand wirklich die Befugniss, Recht zu sprechen, dem Erzbischofe zu; seit welcher Zeit er dort das weltliche Schwert geführt, ist schwer zu ermitteln; die CÖlner Chronik leitet diese Befugniss auf den Bischof Bruno, Otto^s Bruder zurück; so viel ist sicher, dass zu Anno's Zeil das ganze Verhaltniss schon sehr ausgebildet war, ein grosser Theil der Rechtspflege, und namentlich die ganze pein- liche war förmlich in seine Hand übergegangen.** So kann nur schreiben, wer von der Existenz der ganzen durch Eichhorn her- vorgerufenen Literatur über Immunität und Stadtrecht gar nichts weiss, der Quellen zu geschweigen, die bekanntlich ganz bestimmt den Vogt gerade aus dem Gerichte über Erbschaftssachen aus- schliessen und dem Bischof gerade den Blutbann absprechen. Aber freilich, diese Quellen sind Urkunden des 12. und 13. Jahrhunderts, und da der Verf. nicht darüber, sondern über den hl. Anno schriA-

100 Angelegenheiten der historischen Vereine.

steuert, so hat er davon etwas zu erfahren, eben keine Gelegen- heit gehabt.

Zum Schlüsse ein historisches Curiosum. Wie der Verf. in aileo diesen Aufsätzen überhaupt eine sehr uukirchliohe Gesinnung zeigt (k>ei dem Schisma von t062 nennt er den schismalischen Gegenpapst stets Papst Honorius, Alexander H. aber fortdauernd nur Anselm von Lucca):*) so legt er jener Zeit ,,die wärmste Heiligen» und Reliquienverehrung bei, die in eine wahre Schwär- merei ausartete, wenn sie nicht etwa zuweilen ein klug berechnetes Geheimniss der Baumeister im romani- schen Style war/* Leider erfahren wir, ausser. einer geheim- nissvollen Hindeutung auf die thebäische Legion nichts weiter«

Die beiden Bände des Jahrbuchs enthalten neben diesen Er* Zeugnissen des Herausgebers noch Mehres von ähnlichem Schlage, sonst aber, unter Andern, sorgfältige Arbeiten Aschbachs über ein- .zelue Cölner Brzbischöfe, so wie ausgezeichnete, wenn auch im Resultate nicht immer unzweifelhafte Untersuchungen von Bock in Brüssel über Albert von Aachen und die karolingische Pfalz in Ingelheim.

Fasst man Alles zusammen, so wird man dem Vereine das Zeugniss nicht versagen, dass seine Mitlheilungen an allgemeinem Interesse und wissenschaftlicher Bedeutung hinter den Leistungen keiner andern Gesellschaft ähnlicher Art zurückstehn. Auf der andern Seite werden' am Rheine die competenten Urtheiler wohl tbun, wenn sie auf dem Felde ihrer geschichtlichen Wissenschaft aufmerksame Polizei halten. Bekanntlich ist in früherer Zeit kaum in einer deutschen Specialgeschichte so wenig geleistet worden wie in der niederrheinischen: jetzt liegen die Umstände günstiger als irgend wann seit langer Zeit, aber gerade dort ist die Zahl derer recht ansehnlich, die es nicht wissen oder nicht wissen wol-

*) Wunderbar genug publiclrte er etwas frttber in der Aachner Zei- tung Bruchstüclte „aua dem neuen Hannolied,'' die aus ganz andern Tönen sangen. Dort wird dem Könige gemeldet (icli citire das jetzt selten {ge- wordene Werk aus deu relclien Sammlungen eines Freundes sur Geschichte rheinischer Poesie): der Cölner Bischof hat sich gegen dich verbunden worauf der König den Bischof zur Rechtfertigung ladet. Der sagt: Ich habe dein Gesetz aufrecht gehalten Als treuer Unterlhan. Der Kirche goltgespendete Gewalten: Rein König soll daran mit List gestalten, Kein Kaiser rühre dran. ^

Und stumm mit Stolz hebt Hanno sich verneigend, Den Segen gibt die Hand, -^ Der König eilt vom Throne niedersteigend, Er fasst den Saum und beugt dann schweigend Pio Knieo in den Sand.

AngekgekiMim der hktorischen Vereme, 191

len, dass Technik selbst za jedem Handwerke, und zu geschicht- lichen Arbeilen noch etwas Anderes als Patriotismus, Philologie oder Aestbetik gehört.

Marburg, Januar 1846. v. Sybel.

Archiv des VereiQS für siebenbörgische Landeskunde. 4. Band. 9. 3. Heft. 3. Band. 4. Heft. 4 845. 8.

Ueber das 1. Heft dieses Archives haben wir schon in unserm Aufsatze „die historische Thätigkeit in Siebenbürgen^' (Zeitsehr. für Gesch. Wissensch. 2. p. 377 80.) Nachricht gegeben, jetzt ist uns die Möglichkeit und das Vergnügen gegönnt, dasselbe über die seit 1843 erschienenen 3 Hefte zu thnn. Aber die ganze Thätigkeit und was noch wichtiger ist die Tendenz dieses Vereins ist uns seitdem klarer geworden ; durch die Güte des Herrn Gustav Seivert, unsres lieben Freundes, der jetzt nach Uermannstadt zurückge- kehrt ist, um seinem Vaterlande ein charaktervoller und Fähiger Bürger zu sein, sind wir es im Stande; wir wissen die histori- schen Bestrebungen in Transilvanien zu würdigen und wir hoffen, dass die vortrefflichen Grundsatze, von denen er sich leiten lasst, nicht blos ausgesprochen und gedruckt sind, sondern dass sie von jedem Mitgliede desselben ganz und gar aufgenommen, namentlich aber, was bei dergleichen Consociationen nicht immer geschieht^ dass jegliche kleinliche Eifersucht und philisterhafte Persönlichkeits- rücksicht ganz und gar verbannt sein werden.

Die Herren Senatoren A. und S. Gräser aus Mediasch und der Pfarrer J. Fabius waren es, welche den alten Gedanken eines Ver- eins für siebenbürgische Landeskunde aufnahmen und durch eine öffentliche Aufforderung alle Freunde siebenbürgischer Landeskunde zu einer beratbenden Versammlung auf den 8. October 1840 nach Mediasch einluden.*) Auf diese Aufforderung versammelten sich 76 Theilnehmer in Mediasch persönlich, 13 andere zeigten ihren Beitritt schriftlich an: die in dieser Versammlung entworfenen Sta* tuten erhielten schon am 11. Mai 1841 die Bestätigung der höch- sten Behörde. In der zweiten Generalversammlung, die zu Schäss- burg den 19. Mai 1842 sich versammelte, und in der sich der Verein um 127 Mitglieder vermehrte, ward der Hofrath und sieben- bürgische Gubernialrath und Oberlandescommissär Joseph Bedeus von Scharberg zum lebenslänglichen Präsidenten ernannt und ein Vereinsausscbuss von 12 Männern gewählt. Es bescbloss die Ver- sammlung die Aussetzung eines Preises von 100 Gulden Silber-

*) Aas dem Vereins- Album. DenkblfiUer der vierten Versammlung des Vereins (ttr siebenb. Landeskunde. Herausgegeb. von Benigni, Edlen v. IftUdenberg. Bermannstadt, 48fc5. fc.

192 Angelegenheiten der hiitorisdien Vereine.

möDze für die Abfassung einer Gescblcbte der Siebenbürger Sacbsen für das Volk, den Druclw der Vereinsstaluteu und des Mitglieder- verzeichnisses und die Gründung einer in zwanglosen Heften er- scheinenden Zeilscbrift unter dem Titel „Archiv des Vereins für siebenbürgiscbe Landeskunde/* Die Versammlung war zu einem Fest für die Stadt geworden; die Wissenschaft und die Vaterlands- liebe hatten lange in Siebenbürgen kein solches gefeiert. Am 12, und 13, Sept. 1842 hielt der Präsident in Hermannstadt eine Aus- schussversammlung ab. Hier ward zum Sekretär und Redakteur des Archivs Herr Feldkriegs-Sekretar v. ßentgni erwählt und damit so bald als möglich das erste Heft erscheinen könne, ein Aufruf um Arbeiten an die Gelehr^ten Siebenbürgens erlassen. Am 8. u, 9. Juni 1843 war in Kronstadt die dritte Versammlang. Hier wurde schon das 1. Heft dem Vereine vorgelegt. Für die 5 Gymnasien Siebenbürgens Hess man durch Herrn Ackner kleine geognostiscbe Sammlungen anschaffen; die Ausarbeitungen zu dem Werke Flora transilvanica von Dr. Baumgarten in Schässburg wurden als 4. Tbeü dazu zu drucken beschlossen. An 242 Alitglieder waren hinzuge* tretea Am 30. Mai 1844 ward die vierte Generalversammlung in Hermannstadt eröffnet. Es war dies die bedeutendste der bisher abgehaltenen. Bedeus erschien selbst. Unter den vielen Beschlüs- sen derselben hebe ich folgende hervor. Sie setzte drei Preise von 60, 50 und 40 Gulden auf die besten Ausarbeitungen zu neuen Regesten aus; man trug ferner dem Ausschusse auf, Abschriften von ihnen zugänglichen Urkunden anfertigen zu lassen; Joseph v. Kemeny wollte seine Urkundensammlung dazu leihen, aber man bestimmte nur die anderswo nicht enthaltenen und unzugänglichen aus derselben zu copiren. Alles Vorarbeiten für einen Codex di- plomaticus. Ebenso wurde für die beiden besten Monographien eines siebenbürg. Gomitats ein Preis von 60 Gulden festgesetzt. An Capitalien war der Verein viel reicher geworden. Das dispo- nible Vermögen allein betrug au 1061 Flor. 42 Kreuzer. In der- selben Versammlung wurden Vorträge abgehalten, von denen einige im Archiv abgedruckt sind. Grosse Festlichkeiten folgten dem Schlüsse der wissenschaftlichen Verhandlungen. Man sang und trank, ass und sass in fröhlicher Gesellschaft zusammen; dort nimmt noch die ganze Bevölkerung an Unternehmungen Theil, die ihre Besten zu Führern haben

Am 20. Mai v J. ward die 5. Versammlung*) in Bistritz eröffnet. Bedeus begann mit einer interessanten Rede, die auch für die Bio- graphie des Redners wichtig ist. Auch die Rede des Oberrichters Job. Emanuel Regius enthielt über Bistritz historische Anspielungen,

*) Aus der Transüvania 4 8ib. n. 48 47.

AmgelegeiAeUen der AurlomcAefi Veremt. 193

Die alle, von vielem Leid getroffene Stadt war der Gegenstand vieler Betrachtungen. Die im Jahre 1842 ausgestellte Preisfrage über die ^^Beschreibungen der Mineralien Siebenbürgens aus geogno- stiscbem Standpunkt'* ist von Herrn Ackner glückHch beantwortet worden; er erhielt den Preis von 100 Rhein. Gulden C. M. Auch eine Arbeit über die Regesten bis zum Jahre 1300 ist eingelaufen und wird beurlheilt werden. Neue Preisfragen wurden ausgegeben und zwar folgende: Aus dem Gebiete der Geschichte, die Aus- arbeitung von Regesten von 1301 1526 in zwei Abschnitten; der erste, der bis 1437 gehen soll, muss den 1, Mai 1846, der zweite den 31. Dec. 1846 eingeliefert sein. Für jeden Abschnitt beträgt der Preis 60, 50 und 40 Gulden. Aus dem Gebiet der Naturge- schichte, die Beschreibung der Wirbelthiere oder Fauna Sieben- bürgens, worauf ein Preis von 100. Gulden gesetzt ist.

Die Tendenz der kurz und pracis abgefassten Statuten con- centrirt sich in $. 1. u. 2., die so lauten:

§. L Der Zweck des Vereins ist: 1. Unterstützung von Forschun* gen in allen Zweigen der Vaterlandskuode. 2. Ausarbeitungen über sämmtliche Zweige der Vaterlandsknnde und Veröffentlichung der- selben durch den Druck. $. n. Durch dieses rein wissenschaftliche Streben ist jedem Mitgliede alles Politisiren und Debattiren über Ereignisse der Gegenwart untersagt.

V^as nun diesen Verein vor allen Andern unterscheidet, das ist erstens die volksthümliche Bedeutung. Es ist ein nationales Unter- nehmen , was sich hier manifestirt. Die deutsche Wissenschaft in Siebenburgen bekundet sich hier in ihrer entfernten uralten Golonie. Jedes Produkt derselben ist der Theilnahme der ganzen Golonie sicher, aller Augen schauen auf die Vertreter und die Vertretenen. Je mehr erst die wahre Kenntniss und Wissenschaft sich des ganzen siebenbürgisch-deutschen Geistes bemächtigen soll, desto wichtiger erscheint eine solche Vereinigung in den Augen der Nation; es giebt auch nichts Heilsameres für eine solche, als dieses volks- thümliche Anschlingen an jede That des Geistes in der Nation. Durch die öffentlichen Spiele Griechenlands, denn das sind die wahren Vorbilder unserer Vereine oder sollen sie werden, ist die Nation der Griechen eben die geistig grosse, die wir bewundem geworden. Der zweite unterscheidende Punkt hangt mit dem Obi- gen zusammen; es ist die Aufmerksamkeit nicht blos auf das Ge- schichtsleben, sondern auf die ganze Landeskunde, die also die Naturwissenschaft miteinschliesst. Eben weil der Verein die geisti- gen Bestrebungen der Golonie in sich vereinigen und von sich ausgeben lassen will, eben weil der Verein ein nationales Erzeug- niss einer in sich abgeschlossenen Menge ist, deshalb widmet er sich der Geschichte und der Natur; die Kenntniss beider ist die

194 Angekgenheiten der hi$tori$ehen

wahrhaft bildende; die Vereioigung beider das wahrhaft Nothwen- dige, nur aas beiden schöpfen wir, was unsere Zeil an gerechten Ansprüchen an diese Kenntniss fordert; die Pedanterie vergange- ner Jahrhunderte hat diese Kenntniss so streng gesondert. Im Alterthume, wo man den Pedantismus nicht Isannte und niclit stu« dirte, war die Verschmelzung der Naturwissenschaft mit der Ge- schichte eine natürliche; sie sind auch in ihrem Wesen so ver- bunden, wie es Raum und Zeit, heute und gestern nach dem Raum, zu den längst versunkenen tausenden Heute und Gestern des Gedächtnisses sind.

Der Verein wirkt also national für die Bildung der Nation; das Archiv ist sein Organ und der Abdruck seiner Thätigkeit. Kurz, nachdem wir vor 1^ Jahren darüber gesprochen, erhielt er auch in den österreichischen Blättern für Literatur und Kunst (Jahr- gang 1845. No. 6. 7.) eine Besprechung; den Siebenbürgen gegen* über bespricht ihn namentlich die Transil venia, die vom Prof« Friedrich Hann redigirt wird und als Beiblatt zu dem Siebenbürger Boten erscheint.*)

Wir gehen nun an den kurzen Bericht über den Inhalt oben genannter Hefte. 2. Heft« 1. Reisebericht über einen Theil der südlichen Karpathen, welche Siebenbürgen von der kleinen Wa- lachei trennen, aus dem Jahre .1838 (Schluss desselben Artikels in Schuller's Archiv 2. Heft). 2* Politischer Zustand der Siebenbürger Sachsen, unmittelbar vor der engern Vereinigung der drei ständi- schen Nationen. Eine Skizze von J. K. Bder. Herr Job. Putsch (Oheim des genannten Herrn G. Seivert und Verf. einer Dissertatio de Romanorum in Dacia coloniis Gibinii 1808. 8. cf. Scbuller Um- risse p. 3.), der Besitzer mehrer interessanten Handschriften hat diesen Aufsatz des alten Eder dem' Vereine zur Veröffentlichung übergeben. 3. Die antiken Münzen, eine Quelle der altern Ge- schichte Siebenbürgens (Schluss). Gegen diesen Aufsatz ist eine Kritik des Grafen Kem^ny gerichtet, die in Kurz's Magazin im 1. Heft enthalten ist. 4. Der ZoUstreit der Sachsen mit dem Grosswardei- ner Kapitel in dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts. Ein Bei- trag zur Sachsengeschichte jener Zeit« Von G. D. Teutsch. Mit^ ungedruckten Diplomen. Es ist Schade, dass der Verf. seine Ar- beiten in einzelne Aufsätze zerstückelt, die eben als einzelne einen nur secundären Werth haben müssen. 5. Höhenlage einiger Berge

*) Benign!, der diese Zeitschrlll redigirt, giebl noch das deutMAe Volka» blatt heraus fUr Landwlrtbscbafl und Gewerbe. Der SiebenbUrger Bote ist mehr politisch, die Transilvanla wissenschaftlich. Auch unser Aufsatz war aus der Zeitschrift dort abgedruckt No. 43. 45. 49. 54. in ausserordent- lichen Beilagen. Was wir tiber den Verein gesagt No. 30, vom e. Mai. Eine KrHIk desselben ist versprochen.

Angelegenhdtm der hiatori$ekm Vereine. 195

und Städte Siebenbürgens von Anton Kurz. Der Verf. verdankt die Notizen dem Freiherrn v. Gorizuttij er hat sie in der Kron- stadter Versammlung 1843 vorgelesen und der Verein bat dem Freiherrn für seine Güte ein Dankschreiben zugesandt (Album p. 8.). 6. Ueber den Namen der Siei>enburger ,,Sachsen*' von 6. D. Teutsch. In den ältesten Urkunden der Deutschen in Siebenbürgen erschein nen diese unter dem Namen Flandrenses, Teutonici und am häufig- sten als Saxones. Letzteren Namen tragen die Colonisten bis auf den heutigen Tag. Woher sie zu demselben gekommen, ist frag- lich. Herr Teutsch übergeht die alten Meinunge^p und will eine neue IMeinung dargelegt haben; Warnkönig in seiner flandrischen Staats- und Rechtsgeschichte erwähnt, dass der pagus Flandrensis aus dem von den Römern so genannten litus saxonicum bestanden und er« klärt diesen Namen durch sächsiche Ansiedler, die ihn bevölkert und zu den Urbewohnern herzugekommen sind. Warnkönig er- wähnt ferner, dass Karl der Grosse viele Tausende von Sachsen nach Flandern versetzte. Und so meint Herr Teutsch, dass die Fiandrenses, die nach Siebenbürgen gekommen, sich selbst Saxones genannt hätten. Diese nicht ohne Sinn ausgesprochene Conjectur möchten wir nicht anerkennen. 1. Wie kommt es, dass die Fian- drenses sich erst in Ungarn und Siebenbürgen Saxones und nicht schon im Lande genannt haben. Hat denn Herr Teutsch Beweise, dass sich die Flandrer oder ein Theil von ihnen noch in Flandern Saxones genannt haben. Und gerade die altsächsisoben Bewohner wären ausgewandert? 2. Nach Marienburg's Aufsatz ist Flandrensoa gewiss nur Colonistenname. Aus dem Niederrhein ist gewiss ein grosser Theil ausgewandert. Nun sind zwar auch dabin im 9. Jahr* hundert Sachsen vertheilt worden ; es gab auch da einen Sachsen* gau, aber dass gerade die Bewohner in grösserer Zahl sich Saxones genannt hätten, ist nicht historisch begründet 3. Die Gründe, die er gegen die alte Meinung, dass Saxones in Ungarn und Sieben* bürgen Colonistenname gewesen und ihn die Deutschen daher ge* nommen hatten, angiebt, sind nicht sicher. Wenn auch dieselbea in alten Diplomen Fiandrenses, Teutonici, Saxones genannt werden, so hat das gar nichts zu sagen. Die verschiedenen Notarien nann- ten sie nach ihrem Wissen bald Fiandrenses als Colonistenname im Allgemeinen, bald Teutoniei als Deutsche, bald Saxones als Na* men der Deutschen in Ungarn. Die Annahme eines Namens für Einwanderer eines Grades ist allen Nationen eigenthümlich ge* wesen, noch heute nennen ja die Ungarn alle Colonisten aus Deutsch- land „Schwaben^* wie die Türken alle Europäer Franken nennen;*)

*) Die Siebenbürger Sachsen nenaen ja die andern Deutschen Mouso Mauser cf. Zeitschrift für Oeschicbts Wissenschaft S. p. 367. not. 8.

196 Angelegenheiten der historischen Vereine,

w^nn Dan beute in einer Schrift „Schwaben** und Deutsche (an- geblich die alten Bewohner) zusammenständen, wer würde das nicht erkl'arh'ch finden und daher ist auch die Stelle in einem Di* plom aus 1231, wo Teutonici und Saxones zusammenkommen, nicht so wichtig. 4. Wenn gesagt wird, es sei unwahrscheinlich, dass eine Nation sich mit dem Namen bezeichne, den sie von An- dern erhalten, so ist das nicht richtig. Es giebt eine Menge Ana- logien. Im Mittelalter nannten die Juden im Westen die östlich slawischen Staaten mit dem biblischen Namen Aschkenas; in späte« rer Zeit und heut nennen die östlichen umgekehrt die westlichen mit diesem Namen und die Juden nennen sich selbst so. Die deut- schen Waräger in Konstantinopel hatten von dem slawischen Namen für Deutschland „Nemcy** den Namen Ntfin^ot erhalten, was schon Thunmann hat (Untersuch, über die östl. Völker p. 348. n. X.), obschon mit Unrecht noch Schlosser daran zweifelt (Weltgeschichte 2. 640. not.) und es war ihr privilegirter Name geworden (cf. WiU ken Gesch. der Kreuzzüge 1. p. 106. n. 7.). Mit dem Namen Russland ist es ein ähnlicher Fall gewesen. Die Schweden, denn dies waren die Waräger, wurden von den Finnen und werden noch Russen genannt und Geijer (Gesch. v. Schweden 1. 36.) bringt sehr glücklich die Stelle der Annal. Bertiniani hierher (Prudentius Trecensis bei Pertz 1. 434. ad 859.), wo Gesandte sich selbst Rhos nannten und man denn erfuhr eos esse gentis Sueonum. Selbst der Name Transilvania ist doch von Andern gegeben, da man in Siebenbürgen das Land nicht ,jenseits der Berge*' nennen konnte. Auf eine ähnliche Weise hat man Unterwaiden in der Schweiz Transilvania genannt cf. Remig. Meyer: die Waldstätte vor dem ewigen Bunde von 1291. Basel 1844. p. 41» not. 107. Dass aber die Deutschen in Siebenbürgen den Namen Saxones, den ihnen Ungarn gaben in Privilegien und Urkunden annahmen, ist sehr natürlich. 1. Die Bevölkerung von Siebenbürgen durch Deutsche geschah nicht aus einem Distrikt Deutschlands; es müsste der Fall eingetreten sein, dass Colonisten sich nicht Sachsen, sondern an- ders genannt hätten. 2. Eben weil sie in Privilegien und Urkunden Saxones hiessen und sie in diesen Privilegien von ihren Gegnern genug angegriffen waren, nahm man, um die Identificirung mit diesen Saxones, welche da erwähnt wurden, festzuhalten, auch den Namen an. Man musste sich eben so nennen, wie man bei dem Ungar hiess, um immer der zu sein, dem dieses und jenes gewährt war. Weü aber nirgends dieses Staats- und Privilegien- leben so in das Volk eingedrungen war, wie in Siebenbürgen, so ward der Name eben aus dem Privilegium heraus ganz volksthüm- lich und natürlich, ohne dabei bei anderer Erklärung auf historische Binzelnheit recurriren zu müssen« Es ist nichts einfacher, als dass

AngelegenheUen der historischen Vereine. 197

wie der Europäer dem Türken gegenüber sich als Franken, so der Bistritzer und Mediascher und Kronstädter dem Unger und Szekler gegenüber sich als Sachsen zu erkennen gegeben bat. Etwas Anderes ist es zu beweisen, wie es gekommen, dass die Ungarn die deut* sehen Ankömmlinge Sachsen genannt haben. Der Grund ist wahr* scheinlich ebenso einfach und schreibt sich aus der grossen Zahl sächsischer Ankömmlinge unter den ersten Arpaden her, w4e eben der heutige Name Schwabe von der Zahl wirklicher Schwaben, die einwanderten, gekommen ist. 7. Das Echo am Königstein von An- ton Kurz. Das 3. Heft enthält: 1. Abhandlungen über Monumente, Steinschriften, Münzen und Itinerarien aus der Römerzeit mit be- sonderer Hinsicht auf Dacien. 2. Ueber das Verbältniss der sieben- bürgisch-sächsischen Sprache zu den niedersächsischen und nie* derrheinischen Dialekten. Der Aufsatz, der sogar in der hiesigen Vossischen Zeitung eine Erwähnung fand, ist interessant ^ind scheint das Rechte getroffen zu haben. Namentlich scheint mir das An« treffen des Nasenlautes im niederrheiniscben Dialekt eine der schlagendsten Aehnlichkeiten, denn gerade er ist ein echt Volks- thümliches, das, weil es nur in der Sprache, nicht in der Schrift lebt, eben in gebildeteren Tagen verdrängt und nicht mehr gewusst wird. Der Nasenlaut, den das y Ain noch heute in der vulgären Aussprache der Juden hat, schreibt sich wohl noch aus der doppei- ten Aussprache dieses Buchstabens im Alterthume her, wo er bald wie das arabische Ghain ausgesprochen, bald einfacher betont ward. So ist auch der französische Nasenlaut nur aus der Vulgärsprache in die feine übergegangen ; einen Fehler begebt aber Herr Marien- burg wieder, wenn er von der siebenbürgisch- sächsischen Sprache im Allgemeinen spricht ; es rouss da unter jeder Bedingung geson- dert werden; namentlich der Bistritzer, der ganz andern Ursprunges ist, wie ja auch Bedeus in seiner Rede darauf hindeutet (Transil- vania 1845. n. 45.); wir kennen ihn nur aus einem Gedichte, das in Schuller's Gedichten siebenbürgisch- sächsicber Mundart p. 27. steht und woraus allein der grosse Unterschied herausspringt. Er hat nämlich keinen Nasenlaut und scheint uns, da. wir ihn weit besser als die andern verstehn und auch anderer Umstände wegen, Aehnlichkeit mit dem schlesischen Dialekt zu haben. Be- deus' Rede bestätigte uns dies, der die alten Traditionen wieder- giebt, dass sie über Schlesien nach Ungarn gekommen. 3. Kritische Beiträge, zur Reformation des Hermannstädter Kapitels in Sieben- burgen vor der Reformation (Fortsetzung). 4. Die Dechanten des Hermannslädter Kapitels. 5. Beiträge zur Staatskunde von Sieben- bürgen von G. Binder, Lehrer in Schässburg. Der zweite Band, dessen 1. Heft auch schon erschienen ist, enthält bis jetzt folgen- des: 1. Die Archive Siebenbürgens als Quellen vaterländischer Ge*

198 AngelegenheUen der hiitorischen V^äne,

schichte von Eugen v. Friedenfeis. Wir miissen hier auf das zu rückkomroen, worauf in den literarischen Berichten über Lanz und Spiegel (voriieg. Zeitsch. Bd. 4. Decemberheft 1845.) aufmerksam ge- macht worden ist. Zuvörderst sind Verzeichnisse der Schätze noth, bevor man drucken lässt. Eher ist zuviel Reichthnm als das Ge* gentheil zu fürchten. Was er angiebt, ist grösstentheils aus Ke- mdny Notitia geschöpft, über die wir schon früher (Bd. 2. p. 369« n. 1.) ein Wort sprachen. 2. Aus den handschriftiichen Denkwür- digkeiten eines Sachsen des 17. Jahrhunderts. Mitgelheilt von 6. D. Teutsch. 3. Beiträge zur Geschichte Siebenbürgens unter dem König Karl Robert von G.D. Teutsch (noch nicht vollendet). 4. Das Wieder- aufleben der evangelisch-lutherischen Kirche in Klausenburg. Von loh. Georg Schaser, ev. Pfarrer zu Thalheim. 5. Die Bandscbrifteo der k. k Hofbibliothek in Wien, in Bezug auf die Geschichte Sieben- bürgens. 6. Eine angeblich im Archiv der königl. ungarischen Hofkammer in Ofen befindliche Urkunde. Die Urkunde ist sehr verdächtig. Wir zweifeln um nur eines anzugeben sehr, dass Wa- ladio in einer Urkunde von 1413 vorkommt. 7. Beiträge zur Staats* künde von Siebenbürgen (Schluss). 8. Uebersicbt der Josephini« sehen Grundausmessung in Siebenburgen in den Jahren 1786—90«

9. Verzeicbniss veralteter Namen siebenbürgischer Ortschafleilv

10. Mittheilungen des Pf. J. Putsch an den Verein für Siebenbürgi* sehe Landeskunde. (Brief von Eder an die sächsische Universität bei der Herausgabe von Felme^rs siebenbürg. Geschichte.) 11. Alt6 Namen des Kronstädter oder Burzenländer DIstricts und seiner Ortschaften, aus Urkunden verzeichnet von J. Trausch. 12. Comi- tes de Bestercze, de Megyes et de Brasso (Bistritz, Mediascb, Kron- stadt) e literis coaevis eruti. 13. Die Witterungsbeobacbtungen auf der Karlsburger Sternwarte im Jahr 1843.

Die Hefte, besonders das dritte, sind durch den Patriotismus der Buchdrucker und Buchhändler, die sie auf ihre Kosten er-, scheinen lassen, anständig, wenn auch nicht gleichmässig im For- mat ausgestattet. Ob der Inhalt jedoch bei aller Mannigfaltigkeit und allem guten Willen den Ansprüchen ganz entspreche, isl doch noch fraglich. Wenn man über den Zweck des Vereins ganz im Reinen ist, so ist doch das weniger mit dem des Archivs der Fall. Wenn es, was freilich nicht ausgesprochen ist, eben ein Archiv sein soll für jegliches, was Tür &(iebenbürg. Landeskunde gearbeitet und gesammelt wird und sonst kein Unterkommen findet, so bat es allerdings seinen Zweck erfüllt; es nimmt dann keine Rücksicht auf den qualitativ grössern oder geringern Werth der Arbeiten und es dient nur zur Aufmunterung der Arbeitenden. Pann aber muss man immer noch an den Arbeiten und Arbeitern (den geringen Grad der Nothwendigkeit rügen, der an ihnen ist;

AngelegenheUen der historischen Vereine. 199

es sollen Vorarbeiten sein zu einer künftigen grossen Geschiebte, aber als solche sind nur die wenigeren von Bedeutung; selbst die Aufsatze des fleissigen Teutsch würden, ständen sie unter sich in einer Verbindung und träten sie in einer gewissen yorm und Ab- rundung, nicht immer als Beiträge etc. auf, mehr Verdienst haben. Hiemit soll keinesweges das Streben des Vereins verkannt und geringgeschätzt sein. Wahrscheinlich ist das Archiv selbst mit seinen Mängeln noch ein unausweichbares Bedürfniss. Mag es nur innerhalb des Landes denselben Eifer sich bewahren und die thätige Anerkennung; das ferne Mutterland wird stets bereit sein die Bestrebungen seiner Colonie zu würdigen.

Selig Cassel.

Notizen.

Literarischer Verein: Bericbtigaogen.

Der Stuttgarter literarische Verein hat im Jahre 1844 aus einer Brüsseler Handschrift des dreizehnten Jahrhunderts ein Bruchstück einer Erzählung von dem Kreuzzuge Friedrichs des ersten ab- drucken lassen , deren unbekannter aber als Augenzeuge berich- tender Verfasser dem Freiberrn von Reiffenberg, dem wir die Mit theilung dieses Bruchstückes verdanken , noch vor Friedrichs Tode geschrieben zu haben scheint. Herr von Reiffenberg gründet seine Vermuthung auf die Worte mit denen S. 20. Kaiser Friedrich ge» priesen wird, eins strenuit^s, praesertim in annis vigentibus, non minus stupenda quam laudanda (^t. nam cum senior esset et fiiios haberet quibus et aetas et virtus ad miütandum aptior Yide- batur, eos tamen tanquam insufficientes reputans ipse priocipis christianissimi negotium procurandum suscepit. Er meint, wenn diese Stelle nicht verderbt sei, so könne in annis vigentibus nur so viet als in annis praesentitiys bedeuten. Aber gewiss ist die Stelle verderbt: der Zusammennang lehrt, dass man in annis ver- genttbus schreiben muss. Statt quibus im folgenden Satse wäre quorqm besser. S. 6. Z. 4. v. u. giebt abiecto erubescente velo keinen Sinn: mit erubescentiae ist geholfen. -- S. 23. Z. 15. wird in den Worten in votum eximiae tam peregrinationis prociamant nicht, wie der Herausgeber meint, etwas fehlen, sondern nur tam verstellt sein. S. 15. in der lezten Zeile ist interrium wohl nar Druckfehler für interitum. Moriz Haupt.

Reformen der bessiseben Vereine.

Der Verein Tür hessische Geschichte und Landeskunde zu Cassel hat seit dem Juli v. J. die Herausgabe „Periodischer Blätter" eingeführt, welche die Stelle der bisherigen Jahres- berichte ersetzen sollen. Sie erscheinen in kürzeren etwa 2 bis 3monatlichen Fristen, sind nur für die Mitglieder bestimmt und bezwecken, indem sie neben der den wissenschaftlichen Arbeiten gewidmeten Zeitschrift als ein besonderes Organ einhergeben, die Entwicklung eines regeren Verkehrs im Innern des Vereines selbst.

200 Angelegenheiten der historischen Vereine,

Sie sollen Nachricht geben über die Zusammenkünfte und Sitzun- gen, über die Erwerbungen des Vereins, über den Zu- und Ab- gang der Mitglieder, über literarische Unternehmungen welche sich auf hessische Volks- und Landeskunde beziehen, über Ausgra- bungen und Entdeckungen, sowie über Wünsche und Anträge einzelner Mitglieder; zugleich wird damit eine fortlaurende Ueber- sicbt der neuesten die Interessen des Vereins berührenden Literatur verbunden sein. Der Ausschuss hoOl mit Recht, dass diese Blätter einen wesentlich fördernden Einfluss auf die Lebensth'ätigkeit der Gesellschaft ausüben werden. ' Die bisher ausgegebenen Nummern 1 4 (Juli, September, November), jede im Durchschnitt zu |Bg.8., entsprechen ganz dem beabsichtigten Zwecke und lassen diese Einrichtung auch für andere Vereine als nachahmungswerth erscheinen; nur müssten dann die bisher üblichen Jahresberichte, als überflüssig verschwinden. Der Vortheil liegt klar vor Augen: das ganze Vereinswesen würde dadurch innerlich und ausserlich mehr Flüssigkeit bekommen, während es jetzt, wie sich nicht läugnen l'ässt, in beiden Beziehungen an einer gewissen Erstarrung leidet.

Mit jener Einrichtung des Casseler Vereins ist aber zugleich ein zweiter, noch wichtigerer Zweck erstrebt und erreicht worden. Die „Periodischen Blätter*' werden nämlich von diesem Jahre an ein gemeinschaftliches Organ für die beiden hessischen Vereine, zu Gassei und zu Darmstadt, bilden. Hierdurch bahnt sich also zum erstenmal eine derartige Annäherung oder Verschmelzung von Vereinen an, wie sie unsere Zeitschrift schon früher als im Interesse der Wissenschaft und des Vereinswesens gleich wün- schenswerth dargestellt hatte. Nur müsste dieses Verschmelzungs- princip mit der Zeit noch weiter greifen, auch auf die wissen- schaftlichen Publicationen stammverwandter Vereine in An- wendung gebracht werden. Ad. Schmidt

BeUrittserklärangen der Vereine.

Ihre Zustimmung und Mitwirbiug zu dem von uns eingelei- teten Unternehmen haben bis jetzt uns zugesagt: 1) ausser dem bist. Verein f. d. Grossherz. Hessen in Darmstadt, von dem die erste allgemeine Anregung dazu ausging, 2) der Verein f. hes- sische Gesch. u. Landeskunde in Cassel. 3) Der V. f. Mecklenb. Gesch. u, Alterthumsknnde. 4) Der V. f. d. Gesch. der Mark Bran- denburg zu Berlin. 5) Die geschicbts- u. altertbumsforschende Ge- sellsch. des Osterlandes in Altenburg. 6) Die bist. Section der west- phäl. Gesellsch. z. Beförderung der vaterl. Cultur zu Minden. 7) Der Museal verein des Francisco -Carolinums zu Linz. 8) Der Ver- ein zur Erforschung der rheinisch. Gesch. u. Alterthümer in Mainz. 9) Die Schleswig« holstein-lauenburgische Gesellsch. f. vaterländ. Gesch. zu Kiel. Auch dem Darmstädter Verein sind auf sein Circularschreiben eine etwa gleiche Zahl von beistimmenden Ant- worten zugegangen. Um Wiederholungen zu vermeiden , enthalten wir uns der Mittheilung dieses zweiten Verzeichnisses. Die mehr- fachen Abweichungen lassen der Hoffnung zu wachsendem An- klänge Raum.

Januar 1846. Ad. Schmidt.

Eine deutoehe Colonle und deren Abfall«

Ls ist uns Deutschen hä'ußg vorgeworfen worden, dass wir es versäumt, Golonieen zu grUnden, die Vortheile uns an- zueignen^ welche für die Rhederei, den KunstQeiss, dadurch zu erzielen sind, und was gar nicht hätle ausbleiben dUrfen, war es doch schon zur Behauptung des Erworbenen erforderlich uns in die Reihe der grossen Seemächte zu stellen. Als ob nicht auch wir einstmals unsere Handels- colonie gegründet und besessen besessen und ausgebeutet und so ziemlich durch dieselben Fehler wieder eingebüsst hätten, wie es andern Nationen mit ihren überseeischen Pflanzungen ergangen. Freilich, es ist eine verschollene, fast vergessene Sache. Denn am frühesten gingen wir ans Werk: als noch kaum ein Denker oder Dichter, und nie ein Schiffer (wenn*s nicht der Nordmann war denn auch er kürzt mit der Erzählung spurlos verschwundener Thaten seine Winternächte) als noch kein Segler unsrer Zone den Schleier gelüftet, unter dessen Umhüllung die westliche Welt im Arm ihres Hüters, des alten Oceans, schlummerte. Es ist lauge her, sehr lange: aber es ist gewesen: wir waren ,den andern Völkern vorangegangen , und unsre Colonie war Liefland.

An dies Yerhältniss ist jüngst von E. Herrmann, in dem ersten seiner dankenswerthen „Beiträge zur Geschichte des russischen Reiches"*), erinnert worden. Manche wesent- liche Gesichtspunkte ßndet man daselbst trefflich erörtert, wenn man auch bei der Auffassung andrer seine Bedenken

*) Leipzig, 1843.

AHg. Zeiteekrift f. GtUkUhU. T. 1846. 14

202 Eine dfui$che Colonie und deren AhfaiL

nicht unterdrücken kann. So z. B. wenn er in dem russi- schen Besitz der Ostseeprovinzen eine Art von moraüscher Nothwendigkeit zu erblicken scheint, einen Stand der Dinge, ohne welchen eine gedeihliche Berührung deutscher und russischer Nationalität (gedeihlich für die letztere) nicht möglich wäre, und wenn er den Beherrschern Russlands den Entschluss einer religiösen Schonung deutscher Eigen- thümlichkeit leiht, um einen nahen und lauteren Quell zu- strömender Gesittung nicht zu gefährden. Es wird immer misslich bleiben, wenn man die Gulturmomente von den politischen Interessen abgesondert betrachten will. Bei dieser Art zu sehen, wo bleiben die unabänderlichen Tendenzen der russischen Politik, seit Abwerfung des Tartarenjochs? Es soll unten nachgewiesen werden, wie man in Deutsch* land schon im sechszehnten Jahrhundert darüber urtheilte. Wo bleiben die „geographischen" Nothwendigkeiten, von welchen in Tilsit und Erfurt die Rede war? Wo die unab« weisbare Parallele zwischen den Ostseeprovinzen und den Erwerbungen am schwarzen Meere, zwischen den, dem Namen nach selbstständigen Dardanellen und dem Sunde? Und^ bei dem offenkundigen Charakter der Staatsform und der Politik, wo ist die BürgschafL für die so stete als zarte, präsumirte Schonung des deutschen Wesens, wenn eine andre, sei's moralische oder politische Nothwendigkeit in den Weg zu treten scheint?

Doch ist's nicht die nähere, sondern die entferntere Ver. gangenheit der Ostseeprovinzen, mit welcher der gegen- wärtige Aufsatz sich beschäftigen wird. Da ist vor Allem das Verdienst der Darstellung Herrmanns anzuerkennen. Er entwickelt in festen und sicheren Zügen, wie die Vereinigung der deutschen Kaufleute auf Gothland, und der daher ab- geleitete Hof in Nowgorod ursprünglich auf der breitesten nationalen Grundlage beruhte; wie im Bunde der Hanse- städte allmählig die Sonderinleressen ein beunruhigendes Uebergewicht erlangten; wie endlich diese Sonderinteressen die Auflockerung, die Auflösung des grossen Bundes, und den Verlust Lieflands, gutentheils Herbeigeführt haben.

Eme deutsche Colome und deren AhfaU, 203

Das Alles ist nur zu wahr; es wird in den Einzeln- heilen des nachfolgenden Versuchs vielleicht noch schärfer hervortreten. Wenn Herrmann Etwas vermissen lässt, so ist es die Erwa'gung derjenigen Verhältnisse, die zur Wür- digung des Auftretens der Hansestädte nicht wohl übersehen werden dürfen. Der bewährteste Führer, dem er in Bezug auf den Ursprung der deutschen Hansa gefolgt ist, hat die Erwähnung jener Verhältnisse gleich an die Spitze seiner Untersuchungen gestellt. „Es ist^S sagt Lappenberg in seinem Vorwort zum Sartorius, „es ist vor Allem der Mangel an Einheit der Nation gewesen, welcher die Städte des nördlichen Deutschlands, wie früher Italiens, gross gemacht hat, und jene zu der Entstehung der Ver* fassungen und Vereine führen musste, welche den kräftigen Sinn der Bürger nährten, und den vollen Genuss des Er worbenen ihnen zu sichern vermochten/^ Hier ist der Schlüssel zum Verstand niss des Ganzen. Oder giebt es eine andre, zugleich einfachere und erschöpfendere Erklärung?

Der Schutz, den der Verkehr im Vaterlande, den die Sicherheit der Meere, den die Gerechtsame des gemeinen deutschen Kaufmanns in überseeischen Niederlassungen nich| fand^ wo man ihn hätte erwarten sollen, nicht bei Kaiser und Reich der musste ersetzt werden, so gut es anging, durch Bündnisse der Einzelnen unter einander. An Er* mahnungen freilich, an Verwendungen, an Intercessionaion, sogenannten „Vorschreiben" abseiten der Kaiser hat es nicht ganz gefehlt. Aber wenn die nicht fruchteten, was erfolgte dann weiter? Die Fälle sind zu zählen, in weichen ein Reichsstand, der eine Lebensader des Verkehrs durchschnitt, zu befürchten hatte, dass es zur Execution gegen ihn kom- men würde. Und wann hätte wohl ein auswärtiger Monarch besorgen müssen, dass ihm der Reichskrieg deshalb würde erklärt werden, weil er die wohlerworbenen Rechte deutscher Reichsbürger verletzte? Unter solchen Umständen war's für das Ganze ein Gewinn, eine Wohlthat, dass die Städte zum Bündniss zusammentraten. Was sie für die deutschen Inter- essen und für die forlAhreitende Cuitur unsres Welttbeils

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204 Eine deutsche Colonie und deren Abfall.

überhaupt damals geleistet, das. hat die Geschichte bereit- willig anerkannt. Kein Schriftsteller ist verblendet genug, es zu leugnen. Wir verlangen keinen Dank: die Rolle, die wir damals übernahmen, war uns geradezu aufgenöthigt durch die Unthätigkeit von Kaiser und Reich, durch den „Mangel an Einheit der Nation*^.

. Eben darum hatte diese Rolle auch ihre Unzuträglich- keiten für das Ganze. Die erhöhte Kraftentwickelung ein- zelner Theile mochte über den kränkelnden Zustand, über die gestörte Lebensthätigkeit des Reichskörpers täuschen: das Uebel zu heilen vermochte sie nicht. Der Geist der Association, mächtig wie er war, konnte das Unheil nicht beschwören, welches das Erschlaffen der Gentralgewalt in der Reichsverfassung bereitete. War das Bündniss durch äussere oder innere Stürme bedroht, so blieb dem Reich Nichts, was dessen Stelle vertreten konnte. Der grosse Zoll- verein wird seine Euthanasie finden, in def* Erfüllung des 19ten Artikels der Bundesakte. Kein so günstiges Loos war der grossen Hansa beschieden. Die Eifersucht der Fürsten, die Religionsspaltung, die erstarkende Gentralisirung der auswärtigen Staaten, bedrohten zugleich den Hansabund und das Reich. Jener ward das erste Opfer. Die Lücke, die er zurückliess, ward nur durch thatenlose Sehnsucht bezeichnet. Es wird unten, aus einem ungedruckten Akten- stück, gezeigt werden, dass noch auf dem Reichstage zu Speier 1570 der Kaiser die Aufstellung eines Reichsad- mirals vorschlug. Warum ist es beim Vorschlag geblieben? Unsre gebietenden Kriegsflaggen, in der Ostsee und West« see entfaltet, mochten das Stillsitzen des Reichsadlers be- schämen; seinen kühneren Flügelschlag konnten sie auf die Dauer nicht ersetzen.

Allerdings auch das Hervortreten der Sonderinteressen im Bunde selbst hat dem Ganzen Unheil gebracht. Bei dem Verlust Lieflands hat eg entscheidend mitgewirkt. Auch dies Missverhältniss erklärt sich aus der Entstehung des Bundes und ays der Art, wie er seine Aufgabe zu erfüllen ange- wiesen war. Einzelne mussten an die Spitze treten; ihnen

Eine deutsche Colonie und deren Abfall. 205

ward selbst verstanden jede äusserste Anstrengung zugemuthet, Lübeck zumal mit den übrigen ,, wendischen Städten^'; auf ihren Schultern ruhte die Last des Kampfes mit den drei nordischen Kronen. Sie suchten für die Mühen und Auf- wendungen sich zu entschädigen. Die Grossmuth haben sie nicht geübt, die vor dem Ideal*) die Probe hält. Den ersten Stein mag auf sie werfen, wer darthun kann, dass das Ge^ meinwesen, dem er selbst angehört, Zug für Zug dem Ideale gleicht. Kamen Unbilligkeiten, Verletzungen vor, wo war die höhere Einheit, welche Alles hätte ausgleichen können? Die Zeiten waren vorüber, wo Kaiser Friedrich IL (1226) auf die Aufnahme einer willkürlich ausgeschlossenen Stadt in die Gemeinschaft berechtigter Genossen dringen konnte. Also die Fehler des Hansabundes sollen nicht beschö- nigt, sie sollen nur in ihre richtige Beziehung zu denjenigen Mängeln gesetzt werden, für welche die ganze Nation auf- zukommen hat. in der That, es ist Keiner schuldlos, auch nicht Einer.

Vattel zählt unter den Pflichten einer Nation auch die- jenige auf, dass sie sich selber kennen lerne. Dies Bedürf- niss der Selbstken ntniss ist für die Deutschen sehr lebhaft erwacht. Sie kann nicht unwesentlich gefördert werden durch die Bekanntschaft mit dem Verlauf der hansischen Geschichten. Eben das Verhältniss zu Liefland enthüllt eine eigensüchtige Colonialpolitik, deren Folgen empfunden wur- den, während man die Ursache kaum ahnte. Auch in den Schiffahrtsacten sind die Hansen die Lehrmeister der Engländer gewesen. So gehören denn diese Begebenheiten zu den lehrreichsten, nächst dem Verhältniss Deutschlands zu England im sechszehnten Jahrhundert, wo zu der unwürdigen Stel- lung unsres Vaterlandes, der englischen Handelsherrschaft gegenüber, der erste Grund gelegt ward.

*) Geläutertem Gemülhe Vom Leben nur das Heute,

Genügt der Schönheit Btüihe, Vom Feinde keine Beute: Vom Golde schon der Glanz. Vom Siege nur der Kränzt

Gustav Pfizer.

206 Eine deutBcke Colome und deren ÄbfiM.

Mein Beruf briogl die Verpflichtung mit sich (mir eine der willkommensten), jene Geschichten einem Kreise von Bürgern einer freien Hansestadt vorzutragen. Ich wider-- stehe der Versuchung nicht, aus dem Material, das ich für diesen Zweck aus gedruckten und ungedruckten Schrift- quellen gesammelt« und aus den Betrachtungen,, die in der mtlndlichen Rede am natürlichsten sich anreihen, diese oder jene Partie auch der Beachtung eines weiteren Kreises deutscher Leser zu empfehlen.

1. Die GrftndiiBg.

Drei Elemente lassen sich unterscheiden » welche die Colonisirung jener fernen Ostseeküsle bewirkt haben: Kauf- leute, Priester und Ritter.

In grosser Uebereinstimmung berichten die Quellen*), dass deutsche Kaufleute in der zweiten Hälfte des 12ten Jahrhunderts von Gothland aus (also vom damaligen Mittel- punkt des ostseeischen Verkehrs) an die liefländische Küste verschlagen worden. Sie liefen in die Düna ein, vertrugen

*) Unter den Quellen steht obenan die lateinische Chronik der Bischöfe Lieflands, die, im Jahr 1225 verfasst uud von Gruber (Origines Livoniae) 1740 zuerst herausgegeben, seitdem unter dem Namen Heinrichs des Letten geht. Sodann eine Reimchronik» welche die Thalen der Ritter darstellt, „geschriben in der Ku- mentur zu Rewal durch den DiÜeb von Alupeke im mcclxxxxvj jar*^, und zum erstenmal edirt von L. Bergmann (Riga 1817). Ein überraschendes Zeugniss dafür, dass die Einwanderung nicht aus Njederdeutscbland allein vor sich ging, bietet die Mundart dieser so tief im Norden geschriebenen Reime dar: es ist die Sprache der Minnesinger, der Nachhall der Töne, die Conradin auf Hohenschwangau „scheidend hold in die Harfe sang'^ 6er- vinus, in seiner National- Literatur, bat die liefländische Reim- chronik der Erwähnung werth gehalten; Franz Pfeiffer bat sie jüngst (in der 7ten Publication des Stuttgarter Vereins) aus einer heidelberger Handschrift vollständig abdrucken lassen: ein doppelt verdienstliches Werk, weil dadurch die grosse Lücke in Berg- manns Handschrift ergänzt ist, und wegen der Seltenheit der frü- heren Ausgabe (auch ich habe von dieser nie. ein andres Exemplar gesehen, als dasjenige, das Bergmann unsrer Stadtbibliotbek ge-

Eme deuUeke Cehme md deren AbfiM. 20?

sioh bald mit dem Heidenvoik, machten ein gutes Tausoh- geschäft, und wurden zur baldigen und häufigen Wieder- kehr eingeladen. Auf einer späteren Reise brachten sie den Augustiner Meinbard mit (aus dem holsteinischen Kloster Segeberg), der eine Kirche in Ixkull erbaute, viel Volkes taufte, und zum ersten Bischof in Liefland geweiht ward. Es war eine streitende Kirche; Kreuzfahrer bald in grösserer, bald in geringerer Anzahl kamen aus Deutschland herbei; der Zug nach Liefland ward der Fahrt nach Jerusalem, was die Busse der Sünden und das Anrecht auf geistlichen Schulz anlangt, gleichgestellt. Und es that Noth; denn die Heiden liefen schaarenweise ins Wasser, um die Taufe, wie sie sagten, wieder abzuwaschen; das Kirchlein selbst hatten sie mit Stricken umzurcissen gedacht, waren aber mit Wurf- geschoss zurückgetrieben worden. Der staatskluge Blick des dritten Bischofs, Albert, erkannte, dass der Eifer der Kreuz-

schenkt hat). Dazu kommt, dass wir nicht überreich sind an deutschen Geschichtsdenk malen aus dem 13ten Jahrhundert. Ein Bruchstück der von Anton Matth'äi im lOlen Bande seiner Analekten abgedruckten niederdeutschen Bochmeisterchronik hat Gruber wiederholt; die Erzählung der liefländischen Dinge wird daselbst eingeleitet durch den naiven Uebergang ,,uun sol man von Pruyssen wat swigen ende scriven von Lieflant ende Goer- lanl'S Zu den Urkundensammlungen, aus deren Studium man ein sehr viel reicheres und iebhafieres Bild der Zustande gewinnt, als irgend eine Chronik gewähren kann, ist jetzt das Lübeckische Urkundenbuch (erster Theil 1139-1300) herausgegeben von dem Verein für Lübeckische Geschichte, hinzugekommen, dessen In- halt auch für Liefland manche Ausbeute gewahrt, indem mehr als 70 Nummern auf Liefländische Verhältnisse Bezug nehmen. Ein Beispiel, wie man aus Urkunden erzählen muss, um auch Den- jenigen nützlich zu werden und sie anzuziehen, welche etwas Andres zu thun haben, als sich mit Urkunden zu befassen, hat so eben einer der Herausgeber des Urkundenbuchs, mein ge* schätzter Freund Ernst De ecke, im ersten Buch seiner Ge- schichte Lübecks geliefert. Wann wird Bremen dem Vorgang der Schwesterstädte folgen, und seine archivalischen Schätze, die es dem Einzelnen so freundlich öffnet, durch eine ähnliche Samm* lung, unter Mitwirkung vereinter Kräfte, der gemeinnützigen Oef* fentlichkeit übergeben t

208 Eine deiOscke Colome und deren Abfall.

fahrer, die nur ein Jahr auszuhallen pfleglen, nicht genUge; er belehnte einige Kämpfer edeln Geschlechts mit Land- gütern, und errichtete (1202) den Orden der SchwertbrUder. Es bedurfte einer fortwährend kampfgerUsleten Schaar, um das ohne Unterlass fortgehende gedoppelte Werk der Veiv theidigung und der Eroberung zu vollbringen. Heinrich der Lette wird nicht müde , ein Jahr nach dem andern in seiner Chronik in dieser kläglichen Weise zu eröffnen: es war das 26ste Jahr des Bischofs Albert, und noch immer keine Ruhe vorhanden für die Kirche in Liefland. Die Reimchronik, von welcher gleichfalls unten die Rede ist, geht 70 Jahre weiter; sie erschöpft sich in Abwandelungen über ihr Thema „beide stich unde slac was da wolfeile'^; sie endet so krie- gerisch wie sie begonnen. Auch hat sie kein Hehl, dass das Rauben, Morden und Brennen neben dem Werke der Bekehrung herging""). Ueberall aber waltet das lebendigste Bewusstsein, dass es ein heiliger Krieg, dass eine unver- gängliche Krone den Kämpfern beschieden sei'"*).

Fragen wir nun, indem wir von den Motiven der Ein- zelnen auf den Erfolg im Ganzen hinUberblicken: welchen Gewalten, welchen Interessen sind jene Anstrengungen zu- nächst dienstbar geworden? Die Antwort ist: der Macht der Kirche; der Ehre des Reiches; dem Bürgerthum, in dessen Händen die PQege des Welthandels lag, und das, * noch bevor das Jahrhundert abgelaufen, als politische Macht durch den Bund der deutschen Hansa sich gestaltete.

Die römische Kirche hat mit der ihr eignen Wachsam- keil und Gonsequenz eine so willkommene Erweiterung

*> Z. B. auf einem Zug gegen die Kurländer: ,,ln der glute man sie sluc, Das her euch us dem vuere truc Roubes vil, das ist wahr; Was Kuren was über eilf jar, Die wurden alle tot ge- slagen Und wider in das vuer getragen'' (Bei Bergmann 76). ,

**) Heinrich der Lette scbliesst mit der Betrachtuog, was grosse Könige nicht vermocht (ein Seitenblick auf Dänemark), das habe die h. Jungfrau durch ihre Knechte, die von Riga, zu ihres Namens Ebre vollführt. Und aus der Reimcbronik eine Probe von vielen: „Mutter maget Marie, Edele unde vric, hilf siner sele us aller not: Er bleib in dine dienste tot^' (109).

Eine deutsche Cohme und deren Abfall 209

ihrer Grenzen zu fördern und zu leiten verstanden. Papst Clemens III. hatte (1188) dem Erz^ischof von Bremen das neue Bisthum Itkull untergeordnet. Der Umstand ward hervorgehoben, dass der erste Bischof Meinhard aus dem bremischen ErzsUft entsendet und von dorther vielfach unter- stützt worden. Aber als Riga aufblühte, und die neue Kirche dahin verlegt war, erklärte Innocenz IIL (1213) das Bisthum Riga unabhängig von jedem andern, und dem päpstlichen Stuhl unmittelbar unterworfen. Da enthüllt sich denn (aus den tbeils neuen, theils nach den Urschriften berichtigten Miltheiiungen im hamburgischen Urkundenbuch) ein Streit, .den man nicht ganz auf Rechnung der vielberufenen Herrsch- sucht der Priesterfürsten schreiben mag. Es scheint (wenig« stens ward von Liefland her Klage darüber gefuhrt), dass der Erzbischof von Bremen die Pilger, die sich der lieflän- dischen Heerfahrt geweiht, jetzt unfreundlich behandelte, sie von der Ausführung ihres gottgefälligen Vorhabens zu- rückzuhalten trachtete. Gewiss, es war nicht schön von dem geistlichen Herrn, dass er auf diese Weise geltend zu machen suchte, was ihm, nach Clemens' III. feierlicher Zu- sage, freilich als sein gutes Recht erscheinen musste. Ho- norius III. bedräut wiederholt und noch ernstlicher zum dritten Mal (1218—1223) den Erzbischof und das Capitel, von ihren unchristlichen Maassnahmen , und von jedem Ver* such abzulassen, ihrer Botmassigkeit die liefländische Kirche zu unterwerfen'; er selbst, der Papst, habe diese Kirche, und jegliche die in jenen Landen noch ferper gegründet werden möge, seinen Händen besonders vorbehalten. Doch mochte dem bremischen Kirchenfursten die ursprüngliche Bedeutung des (von Hamburg herüber verpflanzten) Erz- stiftes, ibm mochte der Gedanke Karls des Grossen vor- schweben, welcher an der Niederelbe, neben dem starken Bollwerk der neuen Reichsgrenze, einen Mittelpunkt für jede künftige Entwickelung der kirchlichen Dinge im gesammten Norden hatte gründen wollen. Mag der Wandrer, wenn er von der Anhöhe über Blankenese (wir nennen sie in der Genügsamkeit unsrer Herzen einen Berg, den Süllberg)

210 Eine deuisd^ Cohtrie und deren AhfaU.

luederschaui; wenn er die Breite des Eibstroms misst, und die Masten, die Segel, die bunten Wimpel zu zählen ver- gebens sich bemüht; mag der deutsche Wandrer sich er innern, dass von dieser selben Höhe einst zwei Augen niederschauten, vor deren Blick, inmitten eines reichen und stolzen Lebens, eine noch grössere Zukunft aufstieg. Dort war der Lieblingssitz jenes Erzbischofs Adalbert, den die Jugendgeschichte Heinrichs IV. so vielfach nennt, und von dem die Zeitgenossen bald lobend bald scheltend berichten, er habe das Erzstifl zum Patriarchat des Nordens umzu- schaffen .und mit dem römischen Bischof zu wetteifern ge-^ dacht. Ihn ereilte über solchen Entwürfen der Tod. Unsern. Kaisern wäre die Demüthignng vor den fremden Priestern, den Gewissen das Aergerniss, unsrem Vaterland das wüste Zwischenreich erspart geblieben, hätte der kühne Traum in Erfüllung gehn können. Es war anders bestimmt; und auch jene liefländische Angelegenheit, anderthalb hundert Jahre nach Adalbert, bekundete Roms Uebergewicht aufs Neue, fiiga war und blieb von der Mutterkirche losgerissen. Die Sendung eines päpstlichen Legaten, des Wilhelm von Mo- dena, versinnlichte (1224) den Neubekehrten und ihren Hirten die Beziehung zu dem fernen, geistlichen Oberherm; sie bot zugleich die Gelegenheit zu einem Schritt, der ohne Folgen geblieben, aber von den Päpsten öfters erneuert ist: Honorius HI. lud (1227) die russischen Fürsten in Nowgorod und anderwärts ein, in den Schooss der' römischen Kirche zurückzukehren. Zum Einschreiten in inneren Angelegen- heiten der Kirchenprovinz gaben die Streitigkeiten zwischen den Bischöfen und den Rittern, über Besitz und Vorrecht, schon seit 12i3 nur zu häufigen Anlass.

So unzweifelhaft deutsch der Charakter der Golonie, so hat doch das deutsche Reich, als solches, mit dem Namen einer Erweiteruug seiner Herrschaft sich begnügt, ohne die neue Erwerbung selbst irgendwie auszubeuten. Das drei- zehnte Jahrhundert brachte so schwere innere Wirren, die Macht der Hohenstaufen verzehrte sich so gänzlich in den italischen Stürmen, dass an die energische Behauptung neuer

Eine dMlfcfte Cokmie und d$rm Abfall. 211

Rechte im fernen Nordosten in der Tbat am wenigsten zu denken war. Es wird angeführt, dass der Bischof Albert 1206 Uefland vom König Philipp zu Lehn genommen; dass König Otto iV. den Besitzungen der Bischöfe und der Ritter 1211 seinen Schutz zugesagt; dass König Heinrich in Ab- wesenheit seines Vaters Friedrichs 11, die Bischöfe von Riga und von Dorpat 1224 zu ReichsfQrsten erhoben. Wenn auch der urkundliche Beweis für diese Verhältnisse nicht in aller Schärfe dasteht; wenn eine Theilnahme der genannten Bi- schöfe an den deutschen Reichstagen vor dem 16ten Jahr- hundert überall nicht nachgewiesen ist; so ist auf der an- dern Seite ausgemacht, dass Liefland als ein Theil des rö- mischen Reiches betrachtet ward. Entscheidend ist z. B. eine Erklärung Rudolfs von Habsburg, welche das Lübecki- sche Urkundenbuch liefert. Die Bürger Lübecks hatten um die Erlaubniss nachgesucht, in Preussen, Uefland und andern dem Reich unterworfenen Orten, welche sie des Handels wegen besuchen, in ihren Angelegenheiten ordentliche Zu- sammenkünfte und Morgensprache ungestört zu halten. Der König in seiner Antwort (1275) findet das Gesuch überflüs- sig-, da solches ihnen nach gemeinem Rechte schon zuzu- stehen scheine; auf ihren Wunsch indessen bestätigt er ihnen ausdrücklich jene Befugniss, und zwar „fUr Preussen, Liefland und alle andern Orte, weiche unter die Botmäs- sigkeit des römischen Reiches gehöran.''

Wie eng aber oder wie lose die Verbindung mit dem Reich gewesen sein mag, sie war die Folge einer Eroberung des Landes durch die Deutschen. Die Frage liegt sehr nahe: welchen Rechten, welchen Ansprüchen ist die Eroberung entgegen getreten? Dass die Einwohner Lieflands zur Zeit der deutschen Ansiedelung den benachbarten Russenfürsten zinsbar gewesen, wird sich um so weniger leugnen lassen, da der Bischof Albert 1209 sieh anheischig machte, für seine neue Heerde den Tribut zu entrichten. ludessen scheinen die Russei^ um die innereu Verhältnisse Lieflands sich wenig gekümmert zu haben. Heinrich der Lette sagt, es sei die Gewohnheit der russischen Fürsten, ein Volk, das sie unter-

212 Eine deuiscke Colome und deren Abfall.

worfen, nicht zum Christenthum zu bekehren, sondern dem* selben nur einen Tribut aufzulegen. Auch den Tribut liess der FUrst von Plozk bald (1211) schwinden. Aber wäre der Tribut. auch von grösserer Bedeutung gewesen, wäre er durch den Vortheil der Verbindung mit aufblühenden See- städten nicht mehr als aufgewogen worden, so war Russ- land nicht in der Lage, einen Anspruch gellend zu machen. Die Kraft des Reiches war zersplittert durch die TheiJung in kleine Lehnfürslenthümer, und bereits begannen die Einfälle der Tartaren, welche bald nachher das gesammte Gebiet überwältigten *).

Sehr viel bedenklicher war es, dass die deutsche An- siedelung mit den Entwürfen der Dänen und Schweden sich kreuzte, welche früher schon mit den seeräuberischen Be- wohnern von Oesel gekämpft, und an der Küste Ehstlands verkehrt hatten. Die Dänen hatten bereits am Ende des eilften Jahrhunderts eine Abtei am Eingang des finnischen Meerbusens gegründet Waldemar 11. begann 1218 die Stadt Reval zu bauen: er war der zwölfte König von Dänemark, der sich Herzog von Ehstlaud nannte. Es konnte nicht aus* bleiben, die beiden erobernden Mächte, von entgegengesetz- ten, nicht sehr entfernten Punkten her sich ausbreitend, mussten bald zusammentreffen. Liefländische und deutsche Berichte sind voll von Beschwerden über das, was sie die Anmaassungen der Dänen nennen. Die Dänen, sagt Hein- rich der Lette, sandten ihre Priester in eine fremde Aernte. Der päpstliche Legat predigte auf Gothland einen erneuerten Kreuzzug gegen die Heiden in Liefland: die Dänen hörten nicht auf Gottes Wort, fassten es nicht; nur die deutschen Kaufleute waren begierig, himmlisches Gut. zu erwerben. Albert hatte seinen Bruder Hermann zum Bischof von Reval

*) Es beisst einem früheren Jahrhundert die Erfahrungen und die Besorgnisse* eines späteren leihen , wenn ein Reichsgutachten von 1570 (in der weiterhin anzuführenden Handschrift der Hamb, Stadtbibh'othek) davon spricht, dass ,,dic Ritterschaft deutscher Nation solche Lande als ein veste Vormauer gegen die Moscowiter gewalligUch erhallen und regirel'^ habe.

Eine deutsche Colanke und deren Abfaü. 213

geweiht} die Dänen wollten ihn gar nicht nach seinem Sitze hin gelangen lassen. Albert führte Klage in Rom; aber am römischen Hofe war Waldemar gar wohl gelitten; hatte er doch, wie Honorius IIL behauptet, „sich und sein Reich dem heiligen Peter übergeben.'^ Albert wandte sich an den Kaiser, fand aber auch hier wenig Trost für sich, und mehr Freund- schaft für Dänemark. Es ist einer der Flecken in Friedrichs If. Regierung, dass er, gleichgültiger gegen den Norden unsres Vaterlandes, ganz Nordalbingien dem König von Dänemark überlassen in einer Urkunde von 1214, die nur nach be- glaubigten AbschriHen gedruckt ist, denn das Original hat eine deutsche Frau (Mechtild, die Wittwe des Herzogs Abel) vernichtet, doch erst nachdem Nordalbingien in der Schlacht von Bornhörd seine Deutschheit bewährt hatte. Albert aber, in einer Anwandlung von Kleinmuth, wie sie den geistes- kräfligen Mann selten beschlich, war endlich bereit, dem König von Dänemark ganz Liefland und Ehstland zur Ver- fügung zu stellen, vorausgesetzt, dass seine Prälaten und Mannen und alles Volk in Stadt und Laüd einwilligen wür- den. Es braucht nicht gesagt zu werden, dass diese Ein- willigung nicht erfolgt ist. Nach einigen Jahren fand sich der König auf Oesel bedrängt; der Bischof und die Ritter kamen ihm zu Hülfe; zum Dank erkannte er des Bischofs geistliche Rechte an; auch hat er dem Orden einen Land- strich eingeräumt. Die Reimchronik ist die einzige deutsche Quelle, welche die Verstimmung gegen Dänemark nicht theilt: sie ist in Reval geschrieben, zur Zeit als Reval unter Däne- mark stand. Die Hochmeisterchronik spricht gar von einem falschen Legaten mit falschen Bullen, der im Namen des Papstes verboten, die Heiden ferner zu beeinträchtigen, es sei denn, dass sie in der €hristen Land Schaden anrichten. Der Teufel säete diese Saat, sagt die Chronik, und erklärt sich dahin, die Dänen haben den Betrug angestiftet, um die Fortschritte der Deutschen zu hemmen. Das Lübeckische Urkundenbuch bringt uns zuverlässigere Kunde über die Mittel, deren Dänemark zur Erreichung seiner Zwecke sich bedient. Papst Gregor IX. fand sich veranlasst, lin einer eignen, fei^«

214 JSine deui$eke Colome und deren Abfäll.

liehen Erkltfrung (15. Febr. 1234) den Hafen Lübecks und die von dort nach Liefland segelnden Pilger in seinen be- sondern Schutz zu nehmen. Es ist die Sorge um die junge Kirche Lieflands, die den Papst bewegt Der böse Feind ist bemüht, unter der auflceimenden Saat Unkraut auszustreuen. Dep Papst ist vorgestellt worden, dass für die Pilgrime, die nach Liefland gehn wollen, kein Hafen so geeignet ist, wie der von Lübeck: dass aber gewisse Leute, welche nachdem Besitz des Landes selbst trachten, eben diesen Hafen zu zerstören suchen, um desto eher Liefland sich unterwerfen, und die Pilger von der Einschiffung zurückhalten zu können. Der Hafen, die Pilger, die zu ihrer BeftSrderung bestimmten Seeleute, werden deshalb unter des heiligen Peters und des Papstes apostolischen Schutz gestellt. Gleichlautend und un- ter demselben Datum überträgt der Papst dem Bischof von Ratzeburg, dem Abt des St. Johannisklosters zu Lübeck und dem Dekan des Stiftes die Aufrechthaltung des Schutzbriefes, mittelst Androhung kirchlicher Strafen für die Zuwiderhan- delnden. Noch siiid aber die „gewissen Leute" nicht nam- haft gemacht. Am 30. August desselben Jahres schreibt Gregor IX. an den Propst und Dekan von Halberstadt: der König von Dänemark habe den Lübecker Hafen durch Versenkung von Schiffen unbrauchbar gemacht; der Bischof von Ratzeburg und die andern geistlichen Herren, die in der vorigen Urkunde genannt worden, seien Über die Gebühr bange und wollen gegen den König nicht, wie sie ange- wiesen seien, vorschreiten: deshalb werde der Schutz des Hafens von Lübeck den Stiftsherren von Halberstadt über- tragen. Würde der König in seines Herzens Härte den Vor-- Stellungen sich qicht fügen, so mögen sie seinen Hof und jeglichen Ort, wo er sich befinde, mit dem Interdikt, seine Käthe aber mit dem Bann belegen, und nicht ablassen, bis er in sich gegangen und Alles wieder gut gemacht. Am 10. März des folgenden Jahres 1235 schreibt Gregor IX. dem Erzbischof von Bremen, dem Dekan zu Schwerin und dem Abt von Reinfeld: der König von Dänemark habe ihm vor- g^cllt, der Hafen Lübecks sei jetzt wieder eröffnet, auch

Eme demiiche Cohme imd derm AbfiM. 215

sei er, der König, bereit, die Pilger ungestört sich einschiflen zu lassen. Wenn diese seine Aussage der Wahrheit gemäss befunden werde, so mögen sie, die geistlichen Herren, Sorge tragen, dass alle in Folge der früheren Aufforderung ge- troffenen Maassregein gegen den König iron Dänemark ein- gestellt werden.

Es scheint eine Art von Gompromiss zwischen dem päpstlichen Stuhl und dem König von Dänemark eingetreten zu sein, welche sich erklärt, wenn man die Ereignisse mit der römischen Politik zusammenhält In Liefland hatten die Bitter und die Bischöfe sich mit Gewalt in den Besitz von Beval zu setzen gewusst. Um die Eroberung festzuhalten, und auch in Zukunft den dänischen Entwürfen gegenüber sich zu behaupten, erschien es noth wendig, an eine be- freundete, deutsche Kriegsmacht sich anzulehnen. So fasste der Meister in Liefland, Yolkwin, ohne Zeifel in Verbindung mit dem Bischof Albert, den Entschluss, den Orden der Schweriritter dem Deutschorden einzuverleiben, welcher mit der Eroberung und Colonisirung Preussens beschäftigt war. Was an Selbstständigkeit geopfert ward, das wurde wieder- gewonnen durch die Kraft und Einheit eines Bündnisses von gesicherter Grundlage. Zugleich war zu erwarten, dass den Ostseeküsten von der Nogat bis zur Narwa ein gleichförmi- ger Charakter deutscher Gesittung werde aufgeprägt werden. Dies Verhältniss ist für das Städtewesen und den Handels* verkehr dieser Gegenden wirklich von dem grös^ten Einfluss gewesen. Die Unterhandlung über die Vereinigung hatte eine Zeitlang hingezögert; bald erschien der Abschluss als Be- dürfniss, als einziges Betlungsmittel; denn der Meister Volk- win war in einem unglücklichen Treffen durch die Litthauer erschlagen. Gregor IX. bestätigte (1237) die Vereinigung der beiden Orden, jedoch unter der Bedingung, dass Reval an Dänemark zurückgegeben werde. Dadurch war flreüioh wohl einer der Hauptzwecke Volkwins vernichtet. Aber die Besetzung Revals war eine eigenmächtige Handlung gewesen; man hatte den Papst nicht gefragt, und der Papst wollte ge- fragt sein. Schon zuvor (1224) hatte sein Legat, mit einer

2X6 Eine deiUsche CoUme und deren Abfall

Politik, welche an die des alten Roms erinnert, Deutsche und Dänen bewogen, einen Landstrich, um welchen sie sich stritten, in seine Hand zu übergeben. Nun entschied sein Machtspruch zwischen den Parteien, stärkte das deutsche Element, ohne sich der Möglichkeit zu berauben, das däni- sche gelegentlich als Gegengewicht zu handhaben. Auch hier, welche Ueberlegenheit Roms, im Vergleich mit der Schwäche des deutschen Reiches! Wenn später einmal (1249) durch den Krieg zwischen Lübeck und Dänemark das „Werk des Glaubens'^ in Liefland und Preussen ge- fährdet schien, so stand Innocenz IV. nicht vergebens auf der hohen Warte: sogleich beauftragt er den Erzbischof von Bremen und den Bischof von Schwerin, den König von Däne- mark zum Frieden zu ermahnen.

Die dänische Herrschaft in Ehstland dauerte bis gegen die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. Ein Bauernaufstand brachte alle inneren Verhältnisse in Verwirrung; und Däne- mark, während des siebenjährigen Zwischenreiches nach Christophs IL Tode (1333) war offenbar nicht im Stande, die Ordnung in der Provinz herzustellen. So verzweifelt war die Sache der dänischen Herrschaft, dass der Statthalter von Reval die Stadt, die er nicht behaupten konnte, 1334 den liefländischen Rittern antrug. Darauf war nun allerdings weder ein rechtmässiger, noch ein faktisch gesicherter Besitz zu gründen« Das Zusammentreffen einer Reihe von Umstän- den führte endlich dahin, dass Ehstland, das, wenn nicht der Anarchie preisgegeben, so doch jeder fremden Herr- schaft thatsächlich entledigt war, abseiten Dänemarks in alier Form dem deutschen Orden abgetreten wurde. Herr von Bray *) hat zuerst aus den Urkunden des geheimen Ordens- Archivs in Königsberg diese Verhältnisse ins rechte Licht gesetzt. Für unsern Zweck ist etwa das Folgende zu be- merken. Margaretha, die Tochter Christophs IL von Däne-

T - I

*) Essai critique sur Ihistoire de la Livonie. Per L. C. D. B. Drei Bände. Dorpat, 1817. Ein Werk, das besonders über die Geschichte der inneren Verhältnisse sehr viele neue Aufschlösse enthält.

Eine deutsche Colome und deren Abfall. 217

mark, war vermählt an den Markgrafen Ludwig von Branden- bui^, den Sohn Kaiser Ludwig des Baiern. Margarelhens BrUder waren sehr verlegen um die Aufbringung des zuge- sagten Heirathsgutes. Woher sollte es kommen, wenn nicht aus Ehstland? Und wie aus Ehstland, unier den besagten traurigen Umständen? Ludwig der Baier war bei der Sache inieressirt; er sann auf Mittel und Wege. Die ostseeischen Wirren waren ihm nicht ganz fremd geblieben. Schon ein- mal hatte er sich aufgefordert gefunden, den Rigaischen Sühnebrief (1332) zu bestätigen, und dadurch der Schlich- tung eines langen Streites zwischen der Stadt Riga und dem Orden sein Siegel aufzudrücken. Nun rief er aus kaiser- licher Machtvollkommenheit (1339) den deutschen Orden auf, Ehstland für Dänemark wieder zurückzuerobern. Weder der Befehl, noch die verheissene Erstattung der Kriegskosten scheint den Orden in Bewegung gesetzt zu haben; die Sache nahm eine andre Wendung. Von den dänischen Prinzen hatte Waldemar (der Dritte) den Thron seiner Väter be- stiegen; sein Bruder Otto halte in der Einsamkeit einer lan- gen Haft seinen Sinn auf ein „geistliches Leben <^ gestellt, und den Entschluss gefasst, in den deutschen Orden zu tre ten. Um die Ansprüche des Schwagers, vielleicht auch das Drängen von dessen Vater, zu befriedigen, beschlossen beide Brüder, Ehstland an den deutschen Orden zu verkaufen. Die Sache ward so geheim betrieben, dass Hrilfeld versichert, dem dänischen Reichsrath sei vor 1570 kein Document über die Angelegenheit vorgelegt worden. Schon 1341 waren die ersten Urkunden ausgefertigt; aber erst 1347 am 24. Juni ward die letzte unterzeichnet, wodurch gegen eine Summe von 19,000 Mark Silber alle Rechte der dänischen Krone auf Ehstland an den Deutschmeister abgetreten wurden. Diese Abtretung bestätigte Ludwig der Baicr im September dessel- ben Jahrs, und der Papst Clemens VL im folgenden Februar. Der Papst, dessen Sanction auch hier als wesentlich be- trachtet ward, verwahrt die ganze Verhandlung ausdrucklich gegen jedes Missverständniss: durch die geringe Kaufsumme möge Niemand sich verleiten lassen, eine Täuschung oder

All^. ZeiUcbrift f. GescbicbU. V. lBi6. 15

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Erschleichung zu argwohnen: Alles sei mit rechten Dingen zugegangen. Von dieser Zeit an war ausschliesslich deutsche Herrschaft an jenen Küsten begründet *). Der Deutschmeister übertrug gegen Zahlung von 20,000 Mark Silbers seihe neuen Rechte auf Ehstland an den Heermeister in Liefland *, ein Zeichen mehr für den genauen Zusammenhang der beiden Provinzen f wie denn auch die ganze Halbinsel früher unter dem gemeinsamen Namen Lieflands zusammengefasst zu wer- den pflegte.

Unter den auswärtigen Verbindungen aber, in welche Liefland getreten, war keine so innig, so nachhaltig und an gegenseitigen Beziehungen so reich, wie das Yerhältniss zu den Bürgern der deutschen Handelsstädte. Glaube man doch nicht, dass diese deutschen Kaufleute erst die geregelte Ord- nung, den gesicherten Rechtszustand abgewartet haben, um dann die gewinnverheissende Geschäftsverbindung anzu- knüpfen. Nein, sie waren unter den Vorkämpfern des deut- schen Wesens. Sie haben mitgestritten und Gut und Blut dran gesetzt, dass am wüsten Strand die deutsche, die christliche Pflanzung erstehn möge. Bei Heinrich dem Letten sind es wieder und wieder die Kaufleute, die Bürger, die mit den Schwertrittern gegen das Heidenvolk ziehen. Die Reimchronik kennt ihren Eifer, und rühmt ihren Muth, im Gegensatz zu den Geistlichen.**) Das redendste Zeugniss geben aber auch hier die Urkunden, in welchen die geist- lichen und weltlichen Häupter der Colonie das Verdienst der Bürger deutscher Städte anerkennen. ,;Durch das Blut", schreibt der Vicemeister des Ordens 1261 an die von Lübeck, „durch das Blut eurer Väter und Brüder, eurer Söhne und

*) Meine Hoffnung, im Jobann von Victring oder den übrigen, von Böhmer jüngst eröffneten Geschichtsquellen ferneres Licht über diese Verhandlungen zu gewinnen, ist nicht erfüllt worden. Auch weiss ich nicht, welche Bewandtniss es mit der daselbst (S. 438) vorkommenden Pilia regis Livoniae haben mag.

**) „Die Pfaffen vurchten sere den tot; bas war ja ir alder Site, Und wonet in noch vil vaste mite" (S. 86.). Dagegen (S. 91.): „die bürgere durch der sele gewinn Qaomen zu der brudere schar."

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Freunde, ist das Feld des Glaubens in diesen Landen, ^ie ein auserwähller Garten, oftmals benetzt." Und der Bischof von Dorpat (1274): „Durch die Mühen, die Schätze und das Blut der Kaufleute ist die junge Kirche in Liefland und Ehst- land zur Erkennlniss ihres Schöpfers, unter göttlicher Gnade, erstmals geführt." Mit denselben Worten beinahe schreibt der Erzbischof von Liefland (1275), und fügt hinzu: deshalb ist billig, dass alle Eaufleute tn diesen Landen steter Gunst sich versichert halten, Rathmänner und Gemeinde von Riga, durch den Orden bedrängt, wenden sich an die von Lübeck um Schutz für ihre ererbte Freiheit: ,,haben doch ehrenhafte Männer, Herren, Ritter und Knappen, Kaufleute und Pilger, einst ihr Blut vergossen um dies Land frei zu machen." Um dieselbe Zeit (1299) rUhmt der Landmeister von Liefland „dio unverdrossene Treue der Freundschaft, welche die Bürger Lübecks nicht allein in dieser letzten Zeit, sondern alibercits bei unsres Ordens Ursprung gegen uns an den Tag gelegt/* Bekanntlich lässt der gangbare Bericht einzelne Bürger von Bremen und Lübeck, welche dem Grafen Adolf in Barbaros- sa's Kreuzzug gefolgt, bei dem Ursprung des Deutschordens in der Art mitwirken, dass sie die Segel ihrer Schiffe ge- nommen, Zelte daraus gemacht, und darin die Kranken und Verwundeten vor Acre verpflegt; Friedrich von Schwaben habe dafür gesorgt, dass ein Haus mit einer Gapelle daselbst, 2U Ehren der Jungfrau erbaut, und zur Fortsetzung des frommen Werkes der Orden der Brüder des Hospitals vom deutscheu Hause durch den Papst errichtet worden der- selbe Orden, der später dem geistlichen Ritterdienst an den OslSeekÜsten sich weihte, und dessen schwarzem Kreuz auf weissem Schilde das Schwert der Brüder von Liefland sich unterordnete. Albert Granz versichert, dass Lübecker und Bremer, in Anerkennung ihrer frühen Theilnahme, und sonst keine Bürger, in den Orden aufgenommen seien; und der wackere Rüssau, in dessen liefldndischer Chronik jede deut- sche Erinnerung kräftig wiederklingt, ruft in der Zueignung seines Werkes (1578) dem Rath von Bremen ins Gedächt- niss« dass anfänglich nicht allein die vom Adel des deutschen

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Ordeus in Liefland würdig oder mächtig gewesen, sondern auch „Börgerkinder ulh den Steden", insonderheit aber von Bremen und Lübeck, welche Lieflands halber nicht weniger als die vom Adel, ja auch viel mehr, gethan} und nachdem die Reisigen von Bremen sich wohl gehalten, seien sie von den Bischöfen, ihren Landsleuten, vor allen Anderen beför- dert und mit stattlichen Verlehnungen begabt, daraus denn Viele des liefländischen Adels enisprossen. Denn, fährt er fort, Diejenigen billig für edel zu achten sind, die mit männ- lichen Thaten dazu verhelfen haben , dass solche mächtige heidnische Lande gewonnen, der Christenheit einverleibt, und dem heiligen römischen Reiche unterthan ge;cvorden.

Hag es vergönnt sein , hier auch die ferneren Spuren nachzuweisen, wie bei der Colonisirung Lieflands grade die- jenigen Städte hervortreten, weiche das Bündniss unter ein- ander (wohl zu unterscheiden von der Hansa der deutschen Kaufleute im Auslande) am frühesten geknüpft, und welche, nachdem den übrigen, den einst verbündeten allen bestimmt war, der Fürstenmacht zu verfallen, allein bis auf diesen Tag, mit Gott, die Freiheit behauptet haben. Bremische Eauf- leute waren es, welche 1157 zuerst, von Gothiand her, in die Dünamündung einliefen*). Das Bremer Erzstift entsen- dete die ersten, die eifrigsten Diener des Wortes. Wohl mag Rüssau ausrufen: die löbliche Stadt Bremen ist wahr- haftig eine Mutter vieler liefländischer Städte und Schlösser, und die auch fast ganz Liefiand aus der Taufe ge- hoben (vth der dope gehauen)! Die Chronik des bre- mischen Domvicars Gerhard Rynesberch meldet: der Bischof Albert bauete die Stadt zu* Riga mit den Bürgern von Bre-

*) Man hat es wahrscheinlicher zu machen versucht, dass von Lübeck aus die Entdeckung slattgefanden habe, als von Seiten nordseeischer Seefahrer. Aber das ausdruckliche Zeugniss der Chroniken wird dadurch unterstützt, dass Lübeck damals noch nicht war, was es durch Heinrichs des Löwen und Barbarossas Fürsorge bald darauf geworden. Nennt doch Adam von Bremen noch Schleswig und (das wagrische) Oldenburg als die gewöhn- lichen Ausgangspunkte für grössere oslseeische Fahrten.

Bitte deutsche Colome uiui deren Abfall. 221

men und mit den Pilgrimen. Für die Theilnabme Hamburgs spricht, dass der Graf Adolf von Holstein in liefländischen*) Heerfahrten mitgekämpft; dass, ausweise des hamburgischen Urkundenbuches, bereits 1251 den Rigaern in Hamburg Zoll- freiheit gewährt war; und dass hamburgisches Recht, mit gewissen Abänderungen, in Riga sich wiederfand ♦♦). Lübeck, einmal erstarkt, ward sofort, wie wir gesehen haben, von der grössten Bedeutung schon als der geeignetste Einschif- fungsort für die Kreuzfahrer ♦♦♦). Riga räumte bereits 1231 den Lübeckern einen Hof innerhalb der Ringmauern eine Factorei ein, als ewigen Besitz zum Zeichen wahrer Freundschaft und beständiger Treue. Dorpat ersucht ums Jahr 1250 den Rath zu Lübeck, er möge seine Bürger auf- fordern, ihre Stadt mit milden Gaben und Vermächtnissen zu bedenken: sie bedürfe derselben gar sehr, um ihre Be- festigung zu vollenden. Reval, mit lübischem Rechte be- widmet, schreibt noch als dänische Stadt (1274) die zärt- lichsten Briefe an Lübeck: „Wir müssen zu einander halten wie die beiden Arme des Gekreuzigten". Manche letzlwillige Verfügungen von Bürgern Lübecks, die uns erhalten sind, be- zeugen die Theilnahme theils für Individuen, theils für fromme Stiftungen. Kamen die ersten Bischöfe Liefiands aus Bremen, so war der erste Erzbischof Riga's früher Bischof von Lübeck

*) Auch in chsllandischeu , wie Einige berichten, unter dä- nischen Fahnen. Im Heergefolge des Dänenkönigs in Ehstland waren stets sehr viele Deutsche. Lappenberg in einer Anzeige von F. G. v. Bunge's Beiträgen u. s. w. (Gölt. Gel. Anz. 1833. a 1, ff.)

**) Lappenberg a. a. 0.

***) Lübeck blieb lange ein Sammelplatz für Kreuzfahrer. Im Jahr 1375 fand man uötbig, in einem hansischen Recess festzu- setzen: „die Kreuzsignaten , die das Zeichen darum empfahen, dass sie privilegia ecciesiastica geniessen mögen, sollen in keiner Hansestadt gelitten werden"; und noch 1463 schifl^en sich in Lübeck 200 Personen , zum Zuge wider die Türken , nach Venedig ein. Sie fanden in Venedig unfreundliche Aufnahme. Siebenzehn Jahre später begnügte man sich, in Lübeck für die Ritter auf Rhodos Geld zu sammeln.

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gewesen. Der deutsche Orden wandte sich vorzugsweise an Lübeck, um zur Colonisirung verschiedener Punkte an der Ostsee aufzufordern, wenn er auch seine Eifersucht gegen das liibische Recht und gegen wohlbegrUndetes Selbst- gefühl des Bürgers nicht immer zurückhalten mochte. Elbing (seit 1237) war eine Pflanzung Lübecks; über eine ähnliche im Samland, an der Bernsteinküste, ward seit 1242 vielfach verhandelt; auch wurden 1246 durch lübecker Kämpfer die Angesehensten des Samlandes gefangen, in Lübeck unter- wiesen und getauft, und dann in die Heimalh entlassen, um ihre vorigen Güter zinsfrei zu besitzen. Im Jahr 1261 schreibt, nach schweren Verlusten im Kriege, der Landmeisfer Lief- lands an Rath und Gemeinde von Lübeck, es sei seine Ab- sicht, Deutsche aufs Neue heranzuziehen, und mit liegenden Gründen zu belehnen; er gelobt, wie viel Landes er einem Ritter oder ehrbaren Bürger anweisen wolle, wie viel dem Knappen, wie viel dem Landbauer.

2. Die haiuiflclie Colonialpolitik; die hansisdien SchillUirtsgesetie.

Herrmann, in der oben angeführten Abhandlung, be- zeichnet die Gründung Lieflands, sofern die Städte Nord- deutscblands dabei mitwirkten, als eine grossartige Erwei* terung des Hofes zu Nowgorod. Ausser der Newa und Narwa war im Süden ein dritter Wasserweg eröfi^net, um die Stapel- plätze des russischen^ Handels zu erreichen; und die Mün- dung dieses dritten Stromes war ausschliesslich in deut- schen Händen.

Es kam vor allen Dingen darauf an, der deutschen SchitTahrt den sichern und begünstigten Zugang gesetzlich zu erwerben. Befreiung vom Strandrecht und vom Zoll ward von der Dankbarkeit der ersten Herren des Landes den befreundeten, den verbündeten deutschen Kaufleuten gerne gewährt. Auch Dänemark befreite sie an der Küste von Ebstland wenigstens vom Strandrecht, um sein Reval zu heben. Es war nur nicht ganz leicht, eine Bürgschaft für die Aufrechthaltung dieser Privilegien zu erhalten. Galt auch der gute Wille der dänischen Regierung für unzweifei-

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haft (wie er denn in manchen Befehlen zu Gunsten gestran- deter und geraubter Guter an den Tag gelegt ward), so musste man es doch erleben, dass der Stadthauptmann Re- vals ( 1287 , Lüb. U. fi. 473.) den Gesandten den* tröstlichen Bescheid ertheilte: „wenn Ihr jemals durch Bitten oder durch Briefe (wie viele und grosse Briefe auch anher gelangen mögen) eure Güter wieder erhaltet, so will ich mir das rechte Auge ausstechen lassen ^^ Seitdem vollends Finnland der schwedischen Herrschaft verfallen (1293) , und bis Reval vom dänischen Staatsverband abgelöset war, musste den Deutschen der überwiegende Vorzug des Dünabusens vor dem finnischen gar sehr einleuchten.

Aber die Fahrt im Innern? Man suchte sie vorerst durch ein Abkomihen mit den Fürsten zu schützen, welche die Vortheile des Verkehrs auch nicht gerne verscherzten. Schon 1228 findet sich ein Handelsvertrag zwischen dem Fürsten von Sroolensk und den deutschen, oder wie sie dem Grie- chen hiessen, den lateinischen Kaufleuten zu Riga und auf Gothland. An der Stirn trägt das Document den an dieser Stelle fast zweideutigen Spruch: was auf der Zeit beruht, das vergeht mit der Zeit. Uebrigens ist es ein ordentlicher Reciprocitätsvertrag. Die Dünaschiffahrt wird freigegeben, natürlich jusqu' ä la mer (von oben bis unten zum Meere, faeisst es); und „wer nur ein wirklicher Kaufmann ist, dem wird männiglich die Freiheit gegeben, die Düna herauf und hinab zu fahren '^

Was indessen diese Verhältnisse ausserordentlich er- schwerte, das war der langdauernde Kriegszustand. Die Ur- kunden lassen uns auch hier einen Blick in den Wechsel der Dinge und den beginnenden Widerstreit der Interessen thun. Häufig warnen die Rigaer, die Fahrt sei unsicher« Lässt sich dann Einer nicht warnen, und verunglückt, so entschuldigen sie sich bei den Lübeckern (1274): sie haben sich gemüssigt gefunden, die DUnafahri zu hemmen, und einstweilen die Strasse nach Nowgorod zu empfehlen, bis es auf der Düna wieder geheuer sein werde*, sie wünschen aber, dass man Leute hinsende, welche guten Rath zu

%U Eine deuische CoUmie und deren Ab fall

schätzen wissen. Dann warnen sie noch eindringlicher (1278): die Russen küssen das Kreuz, und verrathen doch die Deut- schen in die Hände der abgefallenen Letten. Hat der ge- meine Kaufmann, der die Ostsee befährt, einmal den Be- schluss gefasst, allen Verkehr mit den Russen abzubrechen, um sie zur Vernunft zu bringen, so bedanken sich der Erz* bischof von Rig^, der Landmeister, der Vogt zu Reval (1278), als fUr eine ganz besondere Gefälligkeit: die Bischöfe von Dorpat und Oesel kommen nachträglich noch mit einer apar- ten Dankadresse. Endlich ist Alles auf denjenigen Punkt ge- diehen, wo der gemeine Kaufmann es haben will: inmitten der Kämpfe, durch welche der Orden mit den Russen ent- zweit ist, wird der neutrale Charakter des Handels an- erkannt Der grosse Freibrief des Deutschordens an die Lü- becker (1299) besagt: wenn zwischen uns und den Russen Feindschaft ist, sollen nichtsdestoweniger die Lübecker mit ihren Gütern in unserm Schutz und auf eigne Gefahr hin- fahren durch unser Land und ausserhalb desselben, und was sie nicht im Namen der Feinde, sondern im Namen der Kaufmannschaft mit sich führen, das mögen sie frei ver- kaufen: kein Gebot unsrerseits soll sie daran verhindern. Gilt dies zunächst nur für Lübeck, so weiss der gemeine Kaufmann denselben Vortheil, wie billig, sich anzueignen. In dem Vergleich zwisphen den Abgeordneten Lübecks und Gothlands einerseits, und Nowgorods andrerseits (1338) heisst es: haben die Nowgoroder Krieg mit Schweden, Dänemark, Dorpat, Riga oder Oesel, so soll der deutsche Kaufmann Nichts damit zu thun haben, er soll einen reinen Weg haben, beides zu Wasser und zu Lande, sonder Hinderniss. Wäh- rend man auf diese Weise, gewiss mit Recht, bemüht war, den Handel von den Wechselfällen der nicht seltnen Einzel- fehden möglichst unabhängig zu erhalten, so fehlte viel, dass man ein Gleiches dem Handel fremder Nationen zugestanden hätte, sobald man selbst im Kriege begriffen. Es ist ein nur zu wohl bekannter Grundsatz der hansischen Politik, dass sie im Kriege Niemanden den freien Verkehr mit ihren Feinden verstatten wollte. Ein Beispiel mag zeigen, wie

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frlihe schon in diesem Sinn verfahren wurde. Während der grossen Fehde mit Dänemark ward auf dem Hansatag zu Stralsund 1369 beschlossen: allen Städten, die in diesem VerbanXie sind, zu verbieten, dass Niemand Dänemark be- suche, bei Strafe an Leib und Gut, Land und Leute zu stärken mit Speise, mit Wasser, oder mit irgend Etwas sonst. Soweit ist Alles in Ordnung. Ferner aber heisst es: segelte auch Jemand nach Dänemark von denen, die ausser unsrem Verbände sitzen, was dem widerfährt, das soll ohne Strafe sein (sunder broke wesen): darüber soll man Briefe senden nach Norwegen, nach Flandern, nach England, nach Schottland und Schweden, damit ein Jeder die Seinigen warne, dass sie sich davor hüten. Man würde die Inconse- quenz der Gewalt, die hier zum erstenmal auftritt, noch härter zu verklagen berechtigt sein, hätte nicht Aehnliches in den spätem Zeiten sich wiederholt, als die Wissenschaft des Völkerrechts sich des Einflusses zu rühmen begann, den sie auf die Politik erlangt. Eine Seemacht nach der andern *) hat. die Rechte der Neutralität für sich in weitem Umfang in Anspruch genommen, wenn sie neutral, und hat sie An- dern geweigert, wenn sie selbst im Kriege begrifien war. Die Holländer halten Jahrelang unterhandelt, um das Princip „frei Schiff, frei Gut^' für ihre Frachtfahrt eingeräumt zu er- halten; und bei erster Gelegenheit Hessen sie sich von dem Oranier hinreissen, im Bunde mit England den Neutralen- (1689) allen Handel mit Frankreich verbieten zu wollen. Russland hat zweimal an der Spitze der bewaffneten Neu- tralität gestanden: in der Zwischenzeit hat es dem Aus- hungerungssystem gegen das revolutionnirte Frankreich das Wort geredet.

Wir haben gesehen, wie für die Sicherheit des neuen Handelsweges nach Russiand, mittelst der Niederlassungen

*) Man muss England das Zeugniss geben, dass es eine Aus- nahme macht, und seinen Grundsätzen treu bleibt. Aber freilich seine Grundsätze sind die härtesten für die Neutralen; und Eng- land selbst wird bei obschwebendem Seekriege kaum in den Fall kommen, sich neutral zu halten.

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in Liefland, gesorgt war. Was waren die nächsten Folgen der neuen Ordnung der Dinge?

Lübeck hebt sich ungemein rasch und kräftig. Andre Slädte sind in kürzerer Frist reich und blühend geworden; so mächtig «in so kurzer Zeit, keine. Bald steht es neben Wisby, gleich bevorzugt, in jener Art von Stellung, nach deren Berechtigung von d^n Wenigsten gefragt, die von den Meisten als vollendete Thafsache anerkannt wird. Bald ist Wisby überflügelt. In den jungen Städten Lieflands kehrt reges Leben, bedeutender Wohlstand ein; aber zu einem namhaften Einfluss im Rath der Hansa können sie es nicht bringen; ihre Interessen scheinen ihnen nicht genugsam ver- treten; sie fühlen sich gedrückt, zurückgeselzt, den Zwecken Andrer untergeordnet. Sie wissen es wohl, dass sie eben eine Colonie sind; sie wollen mehr werden; wer mag es ihnen verdenken?

Sind Beschlüsse vorzubereiten, durchzusetzen/ auszu- führen, man wendet sich vor Allen an Wisby und Lübeck« Die beiden Üben die SchiflTahrtspoIizei. Ein Rigaer ist mit einer Ladung Asche an Gothland vorbeigesegelt, ohne auf des Vogts Anrufen die vorschriftmässige Declaration zu machen; von Wisby wird nach Lübeck geschrieben (1286), man möge den Schiffer anhalten, bis er für seinen Muth- willen genug gethan habe. Das ist heilsam und löblich. Aber Wisby und Lübeck beherrschen den Hof zu Nowgorod. Im Jahr 1346 ward zu Nowgorod beschlossen: des Hofes Aelleimann soll man kiesen das eine Mal von Lübeck, das andre Mal von Gothland. Dass dies ausgesprochen wird, ist eine Neuerung; in der Praxis hatte es sich längst so ge- , staltet, freilich im Widerspruch mit der ältesten geschriebe- nen Ordnung des Hofes, worin es noch geheissen hatte, zu Aelterleuten sollen gewählt werden, die da am geeignetsten (rechtest) dazu sind, aus welcher Stadt sie sein mögen. Aber eben diesen letzten Salz halte schon aus der nächsten vorhandnen Skra vermuthlich der überwiegende Einfluss Wisbys und Lübecks entfernt. Darüber, dass dieser Einfluss nun gesetzlich anerkannt, für die Folgezeit festgestellt wer-

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den sollte, scheint Riga vornebrolioh Klage geführt zu haben. Wenigstens berichten darüber die Beamten des Nowgoroder Hofes nach Lübeck: die ältesten Leute wissen sich nicht zu erinnern, dass jemals ein Rigaer zum Aeltermann gewählt sei. Wahrscheinlich nichi; aber weshalb sollt' er es nicht werden können? Als Concession besonders für die liefländi- sehen Städte erscheint es daher, wenn im Lübecker Recess von 1363 beschlossen ward, der Aeltermann in Nowgorod möge stammen, wober er wolle, wenn er nur zur deutschen Hansa gehöre; nur der Secretair (clericus) solle von Lübeck oder Gothland sein. Zögernd ward nun den Rigaern auch ihr Anspruch auf das eine Drittel des Hofes eingeräumt, unter allerlei Clausein, namentlich „sofern sie ihre Schuldig- keit thun werden/^ Es mag ihr Einfluss in Nowgorod nach und nach sich erweitert haben; doch Hess man es nicht auf- kommen, wenn sie eine Tendenz verriethen, selbstständig aufzutreten. Im Recess von 1418, bei Gelegenheit einiger Irrungen mit den Russen, ward den liefländischen Städten geboten, sich dieser Sache halber keiner Unterhandlung zu unternehmen, sondern solche denen von Lübeck und Goth* land zu überlassen; und da man die Deutschen in Naugard nicht leiden wollte, so sollten auch die Russen in den liefländi- schen Städten nicht geduldet werden, bei Strafe 100 Mark Silbers. Für Lübeck bildete sich, durch das hohe Ansehen, in welchem sein heimisches Recht stand, unter dek Städten frühe schon eine Art von fester ClienteL Wie viele Städte haben sich um die Mittheilung dieses Rechtes beworben, oder es als Wohlthat anerkannt, wenn ihre Herren, geist- liche oder weltliche, sie damit belehnt; wie oft war Anlass vorhanden, bei denen, welche an der Quelle sassen, Rechts* belehrung einzuholen. Schwerlich hat ekie Stadt des griechi- schen Alterthums, wenn auch Andre, wie die Sage berichtet, das Werk eines weisen Gesetzgebers gerne herübernahmen, um ihre Bürger dadurch heranzubilden schwerlich hat irgend eine griechische Stadt die Genugthuung gehabt, in so manchem aufblühenden Gemeinwesen das Bild der eignen Jugend sich verjüngen zu sehen.

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Diesen Einfluss zu fördern, welcher so tief in alle bür- gerlichen Verhältnisse eingriff, diente gar sehr ein Beschluss, der gegen das Ende des 13ten Jahrhunderts schon zu Stande kam, dass nämlich von den Entscheidungen des Hofes zu Nowgorod nur nach Lübeck sollte appeliirt worden dür- fen.*) Die Härte, die "darin lag, blieb nicht unbemerkt. Auch ist es nicht ohne Widerspruch abgegangen. Es existirt ein Schreiben, worin Wisby den Osnabrückern dankt, dass sie nicht in die Anforderungen Lübecks wegen der Appel- lation gewilligt. Man sieht, Wisby Tuhlt, dass es sich um sein eignes Ansehen handelt. Es hebt die alten guten Ge- wohnheiten hervor, die alten Freiheiten, zu deren Gründung auch die Osnabrücker (Binnenländer, wie sie waren, aber durch das enge Verhältniss zu den Seestädten selber an die See gerückt) einst das ihrige beigetragen. Es weiset auf die Nachtheile hin, die Tür den Kaufmann entstehn würden, wenn er sich jedesmal an das ferne Lübeck zu wenden hätte, während die Waare, um die es sich handelt, in Nowgorod zurückbleibt. Wisby spricht endlich im Namen der öst- lichen Städte; wohl wissend, dass diese in seiner Macht für ihre Interessen, der Politik Lübecks gegenüber, ^inen Stützpunkt nicht ungerne finden werden. Und doch, auf der Liste der 24 Städte, welche im Laufe weniger Jahre mit den Wünschen Lübecks sich einverstanden erklärt, sind auch drei östliche Städte verzeichnet: Riga, Danzig und Elbing. Aus derselben Zeit findet- sich ein Schreiben Riga's an Lübeck. Die Rigaer entschuldigen, dass in den Statuten der Skra des Nowgoroder Hofes ein Artikel, welcher den Namen Lü- becks berühre, getilgt worden; es thue ihnen leid, es sei ohne ihren Willen, ohne ihr Vorwissen geschehen; sie wer-

*) Im folgenden Jahrhundert verlangt Lübeck auf dem Stral- sunder flansatage von 1365: die Handelsrichter am Hofe zu Bergen müssen aus solchen Slädten sein, in welchen lübisches Recht gilt, upd nur an solche Städte kann die Appellation von den zu Bergen gesprocbnen Urtheilen geheu. Der Streit zwischen Lübeck und Wisby über die Appellation von Nowgorod wird noch im Lübecker Recess von 1366 als obschwebend erwähnt.

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den sieh an die Beschlüsse halten, wie sie gelautet, bevor jene Stelle ausgelöscht worden. Dies Alles ist in einer ziem* lieh submissen Weise zur Sprache gebracht. Es bezieht sich ohne Zweifel auf dieselbe Verhandlung. Man kann daraus entnehmen, dass der Widerstreit der Interessen zwar sich schon regte, dass aber die östlichen Städte noch nicht hin- länglich erstarkt waren (Riga insbesondere war durch Dank- barkeit und SchutzbedUrfniss noch zu eng an Lübeck ge- kettet), um einen nachhaltigen Widerspruch gegen bedenk- lichere Wünsche Lübecks zu versuchen.

Das Widerstreben trat erst recht offen und entschieden heraus, nachdem Gothland gesunken war. Unter den Ur- sachen von Gothlands Sinken pflegt man die Plünderung Wisby's durch den dänischen Waldemar (1361) obenan zu steilen, als einen Schlag, den es nicht verwinden, von dem es sich nicht wieder erholen konnte. Allerdings ist diese grosse dänische Fehde ein Prüfstein der Macht und ein Wendepunkt geworden. Aber gewiss war es nicht dieser Schlag allein, dem Gothland unterlag. Durch den verändere ten Gang des ostseeischen Handels war Gothlands Fall vor- bereitet. Hören wir die einfache Erklärung, die ein Danzi- ger Beobachter im siebenzehnten Jahrhundert über den Verlauf der Sache sich zurechtgelegt hat. „Da die Reussen nicht mehr nach Gothland Überfuhren, sondern ihre Waaren in Liefland begunden zu verhandeln, haben Riga und Reval zugenommen, Wisby ist zu Boden gangen."*) Hier sind so

*) In einer Handschrift, in der Hamburgischen Commerzbiblio- thek, unter dem Haupttitel: ,, Hanseatica , oder kurzer Auszug der hansischen Recesse.'* Der erste Theil dieses starken Foliobandes enthält, wie ich mich bald überzeugte, dieselbe Arbeit, welche Sartori US in einer andern Abschrift benutzt und in seinem 2ten Bande S. 745 f. beschrieben bat. Sartorius hielt für wahrscheinlich, dass die Arbeit von dem brauuschweigischen Syndicus Cammann herrühre, unter dessen Namen er sie durchweg citirt. Die vor mir liegende Abschrift nennt als Verf. Wessel Mittendorp, wei- land Secretair der Sladt Danzig; eine fernere Notiz lautet: „trac- talus hie descriptus est ex autographo manuscripto originalis, quod asservatur Gedani in archivo Senatus, anno 1673.^' Für den ost-

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ziemlich alle Umstände berührt, auf weiche es anliommt.' Dass vorerst die Russen ihren Activhandel (sie waren schon 1188 durch Barbarossa in Lübeck mit der Zollfreiheit begabt gewesen), in Folge der Colonisirung Lieflands allmählig auf- gaben, dass die Deutschen den Alteinhandel mit den nordi- schen Produkten an sich zogen, leidet keinen Zweifel. Eben diese commercielle Entwickelung Lieflands aber brachte weitere Veränderungen mit sich. Je reger der Verkehr der westlicher gelegenen baltischen Seestädte mit den östlich- sten, Lübecks zumal mit Riga, desto ^her ward Gothland entbehrlich in seiner früheren Bedeutung, als Hauplniederr läge. Man bedurfte Gothlands nicht mehr, um zwischen den westlichsten Märkten und den östlichsten zu vermitteln. Lü- beck schickte längst sich an, in die Erbschaft Gothlands einzutreten. Es war eine Verlängerung der graden Linie, welche der Verkehr aufzusuchen liebt, wenn er nicht durch

seeischeu, und gradezu für den Danziger Ursprung der Arbeit reden auch innere Zeugnisse. Aus dem j: weiten Tbeil, den Sartorius nicht gekannt zu haben scheint (denti er führt nur die Deberscbriften der 9 Capitel an, welche den ersten Theil ausmachen), ersieht man, dass Mittendorp 1604 als Danziger Gesandter nach England ging. Auf die Zeit der Abfassung lasst sich daraus schliessen, dass es bei Erwähnung der spätesten vorkommenden Jabrszabl heisst „neulich anno 164S bei Krönung Königs Friderici Jü.** (von Däne- mark), üeber den Werth der Sammlung hat S. sich, gewiss nicht zu rühmend, ausgesprochen. Bei den obigen Miltheilungen hansi- scher Beschlösse aus dem 15ten bis 17ten Jahrhundert liegt vor- zugsweise Mittendorp zu Grunde. Wer sich die Mühe nehmen will, die bei S. zerstreuten Notizen zu vergleichen, wird finden, dass mir eine Nachlese übrig geblieben. Der zuverlässige Gewährs« mann war mir so erwünschter, da die alteren hanseatischen Samm- lungen unsres Archivs grossentheils durch das Feuer zerstört sind. ;— Voigt hat bei seiner Geschichte Preussens eine Sammlung hansi- scher Akten benutzt, welche zu den reichhaltigsten (nächst der' des Archivs von Wismar) zu gehören scheint. Aus dem letzteren Archiv sind die meisten der neuen und trefflich bearbeiteten Ma- terialien geschöpft, weiche der leider frühe verstorbene B ur- ineist er mitgelheilt hat, in seinen „Beiträgen zur Geschichte Europa's im 16ten Jahrhundert, aus den Archiven der Hansestädte." (Rostock, 1S43.)

deutsehe Colonie u$ul deren AbfaU. 231

Hemmnisse zurückgehaUen, oder durch ungewöhnliche Vor- theile gefesselt ist. Diesem Streben aber, das Alle theilten, war kein Stillstand zu gebieten. Wir werden sehen, wie bald den Uebrigen auch Lübecks Yermlttelung lästig zu wer- den begann.

Wie überhaupt die Formen des Hansabundes nur nach und nach einen, dem Auge nicht mehr verschwimmendeu Halt gewinnen,- so sind wir auch auf einzelne Notizen be- schränkt, um das Yerhältniss der östlichen Städte insbesondre zur Anschauung zu bringen. Bereits 1282 Urkunden Vogt, Rathmänner und Gemeinde von Riga über ein Bündniss, das sie mit „den ebrenwerthen Männern, ihren besondern Freun- den, den Bürgern Lübecks und allen Deutschen zu Wisby^' geschlossen. Es ist ein Schutz bündniss auf acht Jahre, gegen „Alle und Jede, Hohe und Niedrige, jeder Würde und jeden Standes,^' welche den Ostseeverkehr beeinträchtigen. Sobald dann die Reibe der ordentlichen (bei Sartorius abgedruckten) Recesse beginnt, treten auch die liefländischen Städte auf. Im Jahr 1362 übernimmt Stralsund es, Riga von den Be- schlüssen in Kenntniss zu setzen; dasselbe geschieht durch Köln 1367, und das Jahr darauf durch Lübeck. Auf dem Lübecker Tage 1363 erscheinen zum erstenmal Deputirte von Riga, Reval und Dorpat. *) Von da an erscheinen sie ziem- lich regelmässig, wenigstens einmal des Jahres. Aber gleich bei der ersten Gelegenheit zeigt sich, dass die östlichen Städte mit den kriegerischen Anstrengungen des Bundes nicht gleichen Schritt hallen. Die liefländischen Städte sol- len (1363) sechs Schiffe und sechshundert Bewaffnete stellen; sie erklären, ihr Land sei nicht volkreich genug dazu, aber gerne wollen sie Zoll geben und Geld zum Kriege beisteuern, Das konnten sie auch, denn wenn auch der Sund gesperrt war, so sollte doch der Handel zwischen der Trave und den östlichen Städten nicht gestört werden, Man lässt ihnen nun die Wahl, ob sie 2000 Mark reinen Silbers oder 200 Be^

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*) Auch Parnau und Lemsal werden 1368 als coDtribuirende Stfidte genannt.

232 Eine deutsche Colonie und deren Abfall.

waffnete mit drei Schiffen geben wollen*,*) die DepuUrien werden zu Hause darüber anfragen. Die preussischen Städte schreiben im selben Jahr, sie haben mit den Heiden zu kämpfen und leben sonst noch in andern Fehden; ob sie Menschen und Schiffe missen können, wissen sie noch nicht; **) den Zoll aber wollen auch sie gerne erheben , so lange es den Städten gefeillt. Kein Wunder, wenn im folgen- den Jahr die Frage aufgeworfen wird, ob im Frieden die- jenigen mit begriffen werden sollen, welche zum Kriege nicht mitgewirkt haben. Indessen erklären Riga, Reval, Dor- pat ihren Beitritt zum Waffenstillstand (1365). Die preussi* sehen Städte aber waren wirklich im Frieden nicht mit ein- geschlossen, und da Dänemark ihre Güter nicht schonte, so fand 1367 mehr als eine peinliche Verhandlung statt, wie es denn werden sollte, wenn sie mit Dänemark sich nicht ver- gleichen könnten. Die übrigen Städte zeigen alle Bereitwil- ligkeit, das Bündniss aufrechtzuhalten, wenn es nur unter leidlichen, die Ehre nicht gefährdenden Bedingungen ge- schehen könne. Die Verstimmung, der Riss, machte sich so bemerkbar, dass die oben erwähnte Danziger Uebersicht

*) Zur Beurtheilung der Bedeutung, welche den einzelnen Städten zukam, geben vielleicht die folgenden Notizen einen An- haltpunkt. An Pfuudgeld war 1368 erhoben in Lübeck 1400 Mark, in den liefländiscben Städten 581 (darunter Riga mit 261, Reval mit 221), in den preussischen 1494. Gegen die Vitalienbruder stellte 1398 Lübeck 2 Schiffe mit 200 Mann, ebensoviel die preussi- schen Städte, Hamburg 1 Schiff mit 50, die lieffandischen Städte 1 Schiff mit 100 Mann. In einer späteren Matrikel sind Lübeck und Cöln angesetzt mit je 100 Rlhlr., Hamburg und Danzig mit 80, Bremen, Lüneburg, Königsberg mit 60, Riga, Reval, Rostock, Stral- sund mit 50 Rthlr.

**) Thorn hatte schon 1280 sich einmal entschuldigt, wenn aus den gegen Flandern eingeschlagenen Maassregeln Krieg ent- stehe, so könne es nicht daran theilnehmen, „wegen unserer Obe- ren, unter deren Herrschaft wir stehen." Eine so bedenkliche Erklärung hätte später leicht die Ausschliessung zur Folge haben können. Mussten doch die Stetliner 1518 sich sagen lassen, man habe aufgehört sie einzuladen, „weil sie der Herrschaft so gar unterworfen."

Eine deutsche Colonie und deren Abfall. Ttii

diese Recesse anführt ziim Zeichen, wie es damals mit der Eintracht unter den Städten bestellt gewesen.

So frühe war der Grund zu schweren Irrungen gelegt. Vergessen wir nicht, dass die liefländischen Städte mit den preussischen nicht allein wegen der östlichen Lage, sondern auch wegen des gemeinsamen Verhältnisses zum Deutsch- orden unter einem und demselben Gesichtspunkte sich dar- stellen.

Es wird hier der Ort sein, einer Sage zu gedenken, welche oftmals wiederholt und lange geglaubt war, bis Sartorius gezeigt hat, dass sie vor der historischen Kritik nicht Stand hält. Es hiess nämlich in vielen gangbaren Schriften, der Hochmeister des Deutschordens sei der Schutz- herr der deutschen Hansa gewesen. Sartorius wird ohne Zweifel Recht behalten, wenn er behauptet, die sogenannte Schutzherrschaft sei weiter Nichts gewesen, als eine „laxe Allianz.^' Indessen wird es für unsern Zweck nicht ganz unfruchtbar sein, diejenigen Auszüge hansischer Recesse hier durchzugehen, welche man für die Begründung jener Vorstellung von einer Schutzherrschaft anzuführen pflegte. So heisst es denn (bei Mittendorp) zum Jahr 1398: weil das ganze Land zu Preussen mit in die Hanse gehöret, ist allhie ein Exempel, dass unter eines preussischen Ordens- herrn Insiegel Schreiben nomine totius Hansae von einem Hansetage ausgesandt. Ferner 1430: dem Lande zu Preussen und Liefland ist erlaubt, dass ein jedes Land mit zwo Abge- sandten die Hansetage beschicken möge. Im Jahr 1434 haben die Städte ihre Gesandten zu dem Hochmeister und den Städten in Preussen geschickt, und sich beklagt, dass die preussischen Abgesandten nicht in gebührlicher Anzahl auf die fiansetage kommen, auch wann man Etwas schliessen soll, aus Mangel Befehlichs zuvor Alles dahin referiren wol- len, u. s. w. Darauf sind etliche Deputirte von Danzig mit gebührlicher Vollmacht des Ordens und aller Städte auf den Hansetag gen Lübeck mit zurückegezogen. Im Recess von 1449, heisst es ferner, wird zum erstenmal gedacht, dass die von Lübeck sollen den Herrn Hochmeister und

Ailg. Zeitschrift r. «eaebicbt*. T, 1616. 16

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das ganze Land zu Preussen auf den Hanseiag vorschrei- ben, auch zugleich die Artikel, da man von handeln soll, mit überschicken.

Dies Alles beweist nun freilich Nichts weniger, als eine Schutzherrschafl des Hochmeisters. Aber es ist doch wohl nicht so ganz bedeutungslos. Vorerst ist es offenbar etwas ganz Andres, als die Vertretung der einzelnen Städte, um die es sich handelt, wenn von dem „ganzen Lande zu Preussen und Liefland ^^ die Rede ist* Es ist keine leere Phrase, wenn das ganze Land als zur Hansa gehörig be- zeichnet wird. Es liegt darin das Bewusstsein der Art und Weise, der Kämpfe und Anstrengungen deutscher Städte, wodurch das Land einst erworben worden. Dass dies Be- wusstsein sich geltend macht, erklärt sich vollständig aus den Daten der obigen Auszüge. Sie fallen in die Zwischen- zeit nach den ersten bedenklichen Absondeningsversuchen der östlichen Städte und vor den Ereignissen, durch welche der Riss unheilbar geworden. Es galt, sich der östlichen Städte zu versichern. Diese Städte gehörten zum Reich dem Namen nach; der Sache nach gehörten sie nur zur deutschen Hansa. Ward dies Verhäitniss aufgelockert, so war das letzte Band zerrissen, durch welches die Verbin- dung mit dem Reich etwa erneuert werden konnte. So mögen wir nach dem Erfolg urtheilen. Gewiss aber leihen wir den Führern der hansischen Politik keinen fremden Ge- danken, wenn wir sagen, für die Hansa selbst standen die grössten Interessen auf dem Spiel.

Unter diesen Umständen nähert die Hansa sich dem deutschen Orden. Sie wendet sich an diejenige Gewalt, welche das Land beherrscht, und die Einheit des Gebietes repräsentirt, in welchem die einzelnen Städte, mit ihren freien Verfassungen, der Vortheile einer gewissen Selbst- ständigkeit und freieren Bewegung sich erfreuen. Gar leicht täuscht man in solcher Lage sich Über die Gefahr, die nicht ausbleibt, wenn nicht einBundesverhältniss (die sicherste Schulz wehr der Freiheit, die Krone aller menschlichen Ein- richtungen) schirmt und rettet. Wird der Orden diesen Er-

JSina deutsche Colome und deten AbfaU^ 235

i^SguDgen 6ebör geben? Wird der Hochmeister die darge- botene Hand fassen?

Es war Grund vorbanden , das zu glauben. Auch dem Orden, gedrängt wie er war durch die Nachbareo, hätte ein Bündniss willkommen sein müssen. Für ein Bündniss mit der Hansa insbesondere sprachen die alten Erinnerungen. Hier gewinnt denn Alles seine volle Geltung, was oben über das ursprüngliche Yerhältniss des Ordens zu den Städten ausführlicher beigebracht ist. Sartorius hat in seiner ersten Ausgabe (den zweiten Theil konnte er bekanntlich nicht wie- der überarbeiten) diese Dinge zu wenig beachtet. Der Ge- danke eines engeren Bündnisses war ein durchaus richtiger. Missverständnisse aber und mehrfaches Unheil haben verschul- det, dass die Erwartung hansischer Staatsmänner nicht in Er* fdliung ging, dass es bei der „laxen Allianz^^ geblieben ist.

Allerdings die einzige sichtbare Frucht der Annäherung war eine angelegentlichere Verwendung des Hochmeisters an fremden Höfen (England, Dänemark, Burgund) zu Gunsten der hansischen Interessen. In England traten seine Gesandt ten in der Weise auf, dass englische Privilegien des fünf* zehnten Jahrhunderts auf „das ganze Land zu Preussen und die übrigen zur Hansa gehörigen Orte*^ gestellt sind. Neu war übrigens der Vorgang seiner unterstützenden Maass- regeln nicht. Schon 1374 war der Hochmeister ersucht wor- den, in England durch Gesandte zu sollicitiren, damit eine Neuerung im Zoll abgethan werde. Die preussischen Städte berichten, weil so viele Schreiben vergeblich nach England geschickt, wolle ihr Herr, der Hochmeister, nunmehr wegen selbigen Schadens Gegenarreste verhängen. Nachdem Alles in Ordnung ist, wird dem Hochmeister (1381) geschrieben, es möge nun mit Arresten nicht weiter verfahren werden.

Die Lage des Ordens gestaltete sich immer mehr in der Art, dass eine Erreichung des beabsichtigten Zweckes eine nachhaltige Bückwirkung auf den von den östlichen Städten einzuschlagenden Gang auch beim besten Willen der Hoch- meister schwieriger wurde. Fielen doch im Laufe des fünf- zehnten Jahrhunderts manche der angesehensten preussischen

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236 Eine deutsche Colonie und deren AbfatL

Städte vom Orden ab, und wandten sich der polnischen Hoheit zu. Die Polenkönige scheinen später die Idee der Schutzherrschaft aufgenommen und so ausgebildet zu haben (denn sie wünschten diese Rolle sich anzueignen), dass auch ihren Vorgängern den Hochmeistern in der Vorstellung des Zeitalters eine Gerechtsame beigelegt ward, von welcher die Geschichte Nichts weiss. Im Jahr 1511 versicherte der pol- nische Gesandte in Lübeck, sein Herr, der König in Polen, sei von Alters her der Hanse Schutzherr gewesen, und habe auf allen Hansetagen seine Bolschaft gehabt „mit nochmals wiederhoUem gnädigstem Erbieten.^'

Der Abfall preussischer Städte war sicherlich ein Haupt- grund, weshalb die Wirkung des Bündnisses verfehlt wurde. Indessen auch abgesehen davon mag es schwer genug ge* Wesen sein, über die Ansprüche, die von einem Verbünde- ten, wie der Deutschorden, erhoben werden mochten, sich zu verständigen. Der Zeitraum, in welchen die obigen Be- schlüsse fallen, zeigt mehre Spuren davon. Man hat der ostindischen Compagnie vorgeworfen, dass sie in der einen Hand das Schwert, in der andern das Hauptbuch habe hal^ ten wollen. Die Hdnsa hat beides trefflich zu führen ver- standen. Aber wie, wenn auch der Hochmeister nach dem Hauptbuche die Hand ausstreckte? In Lübeck erschien 1381 der Schaffner des Ordens, und warb unter Andrem, dass man dem Orden, wenn er sein Geld auf Nowgorod führen wolle, gleiche Rechte mit den hansischen Eaufleuten zuge- stehn möge. Man half sich zuerst mit einer ausweichenden Antwort. Als man endlich eine entscheidende geben musste^ ward (1388) den preussischen Städten ausdrücklich unter- sagt, beim Verkehr mit Nowgorod sich des Capitals eines geistlichen*) oder weltlichen Herrn, oder überhaupt eines

*) Zugleich ward beschlossen, kein Hanse soll von einem Pfaffen russisches Gut kaufen. Darin war man strenger geworden. Hun- dert Jahre früher (1284 Lüb. ü. B.) weiset der Bischof Friedrich von Dorpat zwei Löbeckische Bürger an, sein Wachs (ceram nostram), das sie von ihm in Händen haben, in seinem Namen an den Markt zu bringen, wenn sie Gelegenheit haben, es zu acht und einer halben Mark loszuschlagen.

Eine deutsche Colonie utid deren Abfall. 237

Fremden zu bedienen, der in das gemeine Kaufniannsrecht nicht gehöre. Dieser Scbluss ward auch dem HochiTieister mitgetheilt.

Aehnliche Irrungen ergaben sich, als der Hochmeister in das Zollwesen der Städte sich einmischte, um seine eignen Zwecke dabei zu verfolgen. Mittendorp sagt darüber: zu Be* huf der Kriegsrilstung (gegen die Vitalienbrüder, 1398) ward ein Pfundzoll in den Seestädten aufgerichtet, daher der Hoch- meister in Preussen ein Exempel genommen, dergleichen Zoll für sich Selbsten, und zu des Ordens eigenem Nutz, in den Seestädten seiner Lande anzurichten, und also ein ewiges Eigenlhum daraus machen wollen. An einer andern Stelle heisst es, 1395 haben die preussischen Städte proprio motu begehret, dass man möge einen Pfundzollen wieder anordnen, und ist ihnen solches abgeschlagen. Der Hoch- meister mochte also darüber mit seinen Städten einig sein. Um so schlimmer, wenn er mit ihnen einig war, gegen die Beschlüsse gesammter Hansa. Hier ist nun die ursprüng- liche Bestimmung und das Wesen dieser Abgabe ins Auge zu fassen. Mittendorp belehrt uns: dass der Pfundzoll zu Erhaltung der freien Schiffahrt und Abwehrung der Plackerei und Unfriedens auf der See, anfänglich von den Städten ist gesetzt worden auf dieWaaren, die aus den hansischen See- städten in andre derselben Verwandtnuss Seestädte zu Markt geführet werden, davon der Pfundzoll nur einsten gegeben ward, und war ein teraporarium und arbitragum, wie her- nach der Schoss und andre Conlributionen*); wird auch nach Gelegenheit der Zeit wieder abgesetzt (abgeschafft); dasPfahlgeld aber ist ein stetiger und ewiger Zoll bei den Seestädten insgemein gewesen, wie auch auf alle Waaren, welche aus- und eingehen, auf hansische und fremde, welche der Städte Havenungen gebrauchen, zu Unterhaltung der Porten und Ströme. Man sieht, wie sehr das Beginnen des Hochmeisters den Grundsätzen widerstrebte. Nun hätte er

•) Der Erlrag des Pfundzolis ward in der Art verwaltet, dass man zuerst den einzelnen Städten ihre Aufwendungen für die KriegsrüsluDg ersetzte, und den Ueberschuss repartirte,

238 Eine deutsche Colonie und deren Abfall.

freilich im Cicero lesen können (aber dazu hatte er offenbar keine Zeit), es zieme sich nicht, dass der Yölkerhirt und Vorkämpfer zugleich zum Zöllner sich aufwerfe. Die Köler* sehe Sammlung berichtet den Ausgang der langen Vorhand-

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lung. Die Antwort ist bemerkenswerh , welche der Hoch- meister (1421) den Lübeckischen Gesandten ertheilt. Er sei schon der vierte Hochmeister, der den Pfundzoll eingehoben, und könne sich unmöglich entschliessen, dasjenige abzu- schaffen, was er nicht aufgebracht; er habe unstreitig so ein freies Land^ als irgend ein andrer Fürst, und sei also ver- bunden, zu erhalten, was von seinen Vorfahren auf ihn ge- kommen; Nichts aber sei ihm unmöglicher, als von denjeni- gen Geldern Rechenschaft zu tfaun, die er nicht eingenom- men. Endlich so sei es auch nicht zum Besten seiner Lande, sondern auch den Stadien zum Vorlheil aufgewandt worden. Und weil es bekannt genug, wie vielen Schaden er leiden müssen, so halte er Ursach, um Mitleiden zu bitten, und durch seinen Marschall anhalten zu lassen, dass man auf einige Zeit wenigstens in Betrachtung des vielen Schadens, welchen sein Land erlitten, den Pfundzoli bewilligen möchte. Insonderheit zweifle er nicht, dass die Herren Lübecker sich seiner annehmen werden, weil sie, nebst den Bremensern, die ersten Stifter seines Ordens gewiesen. Gewiss, das ist nicht die Sprache eines Schutzherrn; sondern Alles führt sich auf das natürliche, oben^ von uns entwickelte Verhält* niss zurück. Wie sollte man nun mit diesem gepanzerten Supplicanten fertig werden? Er war endlich damit friedlich, den Pfundzoli abzuthun, wenn er von dem vorigen keine Rechnung abzulegen brauche. Bei Köler heisst es ferner: hiebei versprach er, dass inskünftige, wenn die Städte einen andern Pfundzoll wieder errichten würden, das Geld nicht mehr von dem Orden sollte untergeschlagen werden; er verwilligte ferner, wenn seine Städte, sowohl in Preussen als in Liefland, Etwas mit den Hansestädten ausmachen würden, so wolle er alle Artikel, die dem Comtoir und dem gemeinen Kaufmann nutzbar wären, gelten lassen, wenn sie nur nicht gegen ihn, seinen Orden und seine Län«

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der*), wären. Richtig hat auch 1442 ein neuer Hochmeister wiederum einen Pfundzoll aus eigner Machtvollkommenheit aufgesetzt; er vermeinte, sagt Mittendorp, durch seine und des Ordens Privilegien dazu befugt zu sein *♦).

Ist dies Alles nun eine Abschweifung von der Betrach- tung der hansischen Colonialpolitik? Keineswegs; sondern es ist eine der Spuren, dass eine solche wirklich vorhanden war. Dass die Hansa sich in diesem Fall an die Landes- regierung wandte, das eben beweiset, dass man die öst- lichen Städte doch in andrem Lichte betrachtete, als die übrigen, gleichberechtigten Genossen. Wann hätte wohl sonst die Hansa, wo es darauf ankam, einem Beschluss b^ ihren eignen Mitgliedern Geltung zu verschaffen, an deren Obere sich gewendet? Aber das ganze Land zu Preussen und Liefland stand in einem eigenthümlichen Verhältniss. Liefland zumal erschien wirklich als Erweiterung des Hofes

*) Eine faassliche ClauseL Sie erinnert an die Reservate der Stuarts, oder, naher zur Hand, sie erinnert an die Bedingungen, unter wejchen dieselben Ordensritter den Eibingern (10. April 1246) lübiscbes Recht verwilligt hatten: es soll, was gegen Golt (man denke, raftDeecke aus, im lubischen Stadirecht gegen Gott!) gegen den Orden und gegen Stadt und Land sein könnte, nach der Or- densritter und andrer weiser Männer Rath durch andres Recht er« setzi werden.

**) Nichts ansteckender, als das Beispiel von Willkürlichkeiten bei der Erhebung und Verwendung indirekter Abgaben. Während man in Preussen über eigenmächtige Erhebung Beschwerde führte, verwies man <i402) den liefländischen Städten die eigenmächtige Abschaffung eines Pfundzolls. Später war ein Pfundzoll in Re- val angeordnet, zu Behuf der Zehrung, wenn aus überseeischen Städten Gesandle künftig in die Aloscau wieder sollten geschickt werden; 1476 fragte man die von Reval, wieviel etwa davon im Vorrath; sie erklärten, dass die liefländischen Städte ad partem Tagfahrten mit den Reussen zu mehrmalen gehalten, darauf das Geld verzehrt, mit welcher Antwort die Städte nicht friedlich. Im Recess von 1507 scheint zuerst den preussischen Städten eine Concession gemacht zu sein: ihnen ist nachgegeben, dass sie ihre contributiones hanseaticas, die zuvor jährlich gen Lübeck einge- schickt worden, mögen bmnen Landes zusammenlegen (Mitten- dorp).

240 Eine deutsche Colome und deren Abfall,

zu Nowgorod. Wie hier, so wollte man dort unbedingt das Gesetz geben. Man halte, nur im grösseren Maassstabe, mit einer Facto rei zu thun.

Sehr ins Einzelne gingen die Beschlüsse. Viele dersel- ben waren unverfänglich, und der Grund einleuchtend. Aber es waren Vorschriften, Beschränkungen der freien Be- wegung. In Liefland selbst hätte man schwerlich ein Motiv gehabt, eben diese Einrichtungen alle zu wünschen. Geben wir Einiges zur Probe. Kein Schiffer soll nach Michaelis mit köstlichen Gütern auf Liefland zufahren (beschlossen 1470) bei Strafe einer Mark Goldes. Durchaus kein Silber soll nach Russland geführt werden (1388, erneuert 1401 und noch 1507). Man soll keine schweren Güter aus Liefland ins Niederland, oder von dannen in Liefland zu Lande führen (1470 und öfters erneuert). Zu verwundern ist nicht, dass dies verboten ward, wohl aber, dass man es zu verbieten brauchte; ein dringender Beweggrund, irgend einer Controle siöh zu entziehen, musste vorhanden sein, um mit schwe- ren Gütern den Landweg einzuschlagen. Mit den Russen soll Keiner auf Borg handeln, sondern allein baar um baar (rede umme rede); diese uralte Vorschrift ist immer wieder erneuert*), und erst 1511 ist die angedrohte Leibes- strafe in Einbusse des Gutes, Ausstossung von der Hansa und Ehrlosigkeit verwandelt. Für den weither Gereiseten war es wohl heilsam, wenn gradezu ein Verbot ihn davon zurückhielt, sich Streitigkeiten und Verlusten im fernen bar- barischen Lande auszusetzen. Aber wenn nun ein Lief- länder wagen wollte, was er bei der Nachbarschaft, bei der Kenntniss der Personen und der Umstände, weit eher wagen konnte? Jedenfalls ein Beispiel, wie man Gesetze nicht machen muss; denn wie sollte es aufrecht gehalten

•) Noch im Jahr 1542 suchte Lübeck die Aufnahme Narwas den andern Städten durch die Bemerkung plausibel zu machen, die von Narwa möchten auch wohl zu bewegen sein^ den Borge- kauf mit den Russen abzustellen, wenn sie in die Hansa aufge« nommen würden. (Acten des Hansatages zu Lübeck, auf Jnvo- cavit 1542 im Lüb. Archiv.)

Eine deutiche Colonie und deren Abfall. 241

werden? oder wie wäre es sonst so häufig erneuert? Die preussiscben Städte beklagten sich schon 1382, dass ihnen nicht verstattet werde, polnische Tücher nach ^ussland zu führen; sie konnten die gewünschte Erlaubniss nicht er- langen. Was aber konnte den Liefländern an der Aufrecht- haltung des Verbotes gelegen sein, wenn die Russen auch solche Tücher kaufen wollten? Wieder ward 1470 beschlos- sen, dass nach Liefland und Russland keine andre Tücher geführt werden sollten, als flämische und englische, die auf flämische Art gemacht sind. Uebrigens hat Sartorius, aus einer Göttinger Urkunde von 1423, nachgewiesen, dass gute Leute (vrome lüde) auch deutsche Tücher (die nur nicht zu kurz fallen mussten) nach Russland zu führen pflegten. Kam denn einmal Streit mit England, so wurden englische Tücher verboten, und die preussiscben Städte (1453) be- gehren umsonst, dass man erlaube, solche wenigstens durch: führen zu lassen.

Ein neuer, nur allzu fruchtbarer Keim der Zerwürfniss mit den östlichen Städten entsprang aus dem veränderten Yerhältniss der Hansa zu den Niederländern. Zum Verständ- niss dieser Dinge ist es nöthig, an die dänischen Fehden der Hansen zu erinnern. Die Sache scheint verwickelt; aber nur auf den ersten Blick. Zollordnungen, Handelsstatuten, Scbiffahrtsgesetze kann nut Derjenige vorschreiben, der die Macht in Händen hat. Die Geschichte der Hansa ist nicht eine Handelsgeschichte; es ist eine politische Geschichte. Jahrhunderte hindurch ist sie mit den grossen Veränderungen im Staatensystem Europas innig verflochten. Nun, die dä- nischen Fehden Lübecks und seiner engeren Genossen, der „wendischen Städte*^, diese Fehden von der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts bis gegen die Mitte des sechs- zehnten, bedeuten nichts Anderes als den Kampf um die Ostseeherrschaft. Und diese Ostseeherrschaft, von den wendischen Städten einmal erkämpft, ward bald für die Preussen und Liefländer und für die Niederländer kaum weniger drückend , als für die scandinavischen Reiche. Dieser Verlauf und Zusammenhang ist nun historisch nachzuweisen.

242 Eine deutsche Colonie und deren Abfall,

Die erste grosse Fehde endete im Frieden 1370 überaus glücklich und glorreich für die Hansen. Sehr schwer hat der Dänenköüig, der dritte Waldemar, für jene unziemlichen Reime gebüsst, in 'welchen er die „sieben und siebenzig Hanse, sieben und siebenzig Gänse^^ verhöhnt. Kopenhagen und Helsingör, dazu mehre feste Plätze auf Schonen, hatten die Hansen erobert. Sie waren Meister des Sundes, und dictirten den Frieden. In diesem blieben ihnen die Plätze und Landstrecken in Schonen auf fünfzehn Jahre verpfändet, und zwar so, dass der König versprechen musste, falls die Plätze ihnen entrissen würden, wolle er selbst sie dem Feinde wieder abnehmen und ihnen, den Hansen, zurück- steilen; als Unterpfand für diese Zusage erhielten sie noch ein Schloss in Hailand. Zwei Drittheile der königlichen Ein- künfte aus den ihnen dergestalt überlassenen Gebieten ver- blieben ihnen gleichfalls auf fünfzehn Jahre. Zur Bewilligung ausgedehnter Handelsvorrechle kam endlich noch die grössto aller politischen Goncessionen: die Reichsrälhe, welche den Vertrag ausgestellt, verpflichten sich, weder bei Waidemars Lebzeiten, falls dieser das Reich abtreten wollte, noch nach Waidemars Tode, irgend Einen zum Herrn anzunehmen, es sei denn mit dem Rath der Städte, und dass er mit den Bischöfen, Rittern und Knappen^ welche sie dazu aus- ersehen, den Städten zuvor ihre Freiheiten besiegelt habe.

Lübecks Name insbesondre war in diesen Verhandlungen zu solchem Glänze gelangt, dass die Stadt noch spät sich rühmte, ohne ihre Zustimmung dürfe Keiner in Dänemark König sein. Auf dem Hansatage von 1535 in jenen letz- ten Zeiten, als Lübeck unter WuUenwebers Leitung kühner als je den nordischen Kronen den Fehdehandschuh hinge- worfen, und als Lübecks Hegemonie auch den nächsten Bundesgenossen beschwerlich geworden sind über diesen Gegenstand merkwürdige Reden gefallen. Dem Kanzler des Herzogs Ernst von Braunschweig, der mit dem Kanzler des Landgrafen Philipp von Hessen auf dem Tage anwesend war, hatte der Bürgermeister von Cöln das nicht eben an- genehme Geschäft übertragen, den Lübecker Abgeordneten

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die Meinung der versammelten Städte auseinanderzusetzen. Es habe, sagte er, bei kaiserlicher Majestät und andern ho* hen Potentaten einen „wunderlichen Verstand^, sich um so hohe Dinge zu bekümmern, Könige zu setzen und zu ent- setzen; sonderlich werde auch den Städten zugemessen, dass sie ihren Nutz und Vortheil suchten, mehr denn ge- bührlich. Die von Lübeck, mit den nächsten Verbündeten, Rostock und Stralsund, entschlossen sich zu einer kurzen und freundiichen Antwort. Dass auf die Stadt Lübeck von ihren Missgönnern ein Argwohn geworfen, als wollte man Könige und Fürsten reformiren, ,Ja wohl umbringen", das habe man wohl erfahren; Gott wolle es Denen vergeben, die es verschuldet. Bekannt sei es aber auch, und nichts Neues, dass die von Lübeck und ihre „Verwandten" mit den Ständen in Dänemark Vertrag und Bündniss aufgerichtet. Nichts Neues sei ferner, dass durch ihre vertragsmässige Mitwirkung (byplichtinge) Könige entsetzt und wieder eingesetzt worden nicht aus Gewalt Derer von Lü* beck, sondern weil zwischen Dänemark und Lübeck eine so natürliche, so innige, so nothwendige Beziehung (vor- wantenisse) bestehe, dass das Reich ohne die Städte, und wiederum die Städte ohne das Reich nicht im Frieden sein können. Es sei auch an dem, dass die Städte sich des Reiches nicht könnten noch möchten begeben, noch sich davon ausschliessen lassen. Auch seien glaubwürdige Nach- richten, dass kein König in Dänemark erwählt werden solle, ohne Derer von Lübeck Mitwissen , und es sei stets also ge- halten worden. Offenbar setzten die Abgeordneten hier, um die Missgunst zu mildern, an die Stelle der Macht Lübecks die Grundlage der gemeinsamen Interessen. Geht man auf die Verhandlungen von 1370 zurück, so fehlt allerdings nicht viel (wie auch Dahlmann andeutet) dass diese als ein Bund der Städte und der dänischen Reichsrälhe gegen die Gewalt des Königs sich darslellten: der Vertrag sollte gelten, selbst wenn der König ihn nicht besiegeln würde, also musste er wohl den Interessen des Reiches so gut wie denen der Städte entsprechen* Das Argument war geläufig und noch

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jüngst*) von den Lübecker Gesandten in Kopenhagen ent- wickelt worden: Denen von Lübeck sei an dem Reich so- viel, wie dem Reich an Denen von Lübeck und den Städten gelegen, der Eine könne des Andern nicht entbehren, man werde sie, die vom Reich, nicht verlassen. Als Lübeck an jene früheren Vorgänge in der eben angeführten Weise er- innert hatte, erwiderten die übrigen Städte ziemlich trocken: es möge wohl sein, dass die von Lübeck die angezogene Gerechtigkeit hätten, sie (die Uebrigen) könnten Nichts da- von sagen; gewiss aber sei, dass Herren und Fürsten ein- gebildet worden, dass die von Lübeck Könige setzten und entsetzten, welches an Fürstenhöfen seltsam gedeutet werde. Die Discussion ward von Lüneburg, wo sie begonnen, nach Lübeck vertagt, und hier, in einem Augenblick des Unmuths und zur Abwehr wiederholter Vorwürfe, liess Lübeck das beschönigende Argument der beiderseitigen Interessen fallen, erhob sich im Bewusstsein der alten Macht, und erklärte rund heraus: wenn ihnen Etwas vorzuwerfen sei, so hätten sie nur darin es versehen (vorseen unde vorsnappet), dass sie den Königen von Dänemark und Schweden unver- dient in den Sattel geholfen, und sie gross gemacht, wel- ches ihnen jetzt übel gelohnt werde**). Es war das letzte Aufblitzen des Zornes gegen die Könige von Lübecks Gnaden. Aber die Niederländer? Burmeister bemerkt treffend: „ein König von Dänemark, Waldemar IIL, hat die hollän- dischen Städte dem Hansabunde genähert, und ein König von Dänemark, Erich XL, hat sie demselben wieder ent- fremdet". In jener ersten, grossen Fehde nämlich hatten die Holländer gegen Dänemark mitgekämpft. Aus dem. ge- meinsamen Siege, aus den eroberten Privilegien, zogen sie geringen Vortheil. Ihre Strebsamkeit liess sie den Versuch machen, auch ihrerseits den Ostseehandel die neue Do- maine der Hansen auszubeuten. Lübeck sah diese Be-

*) Acten der Gesandtschaft nach Kopenhagen 1532 (Lüb. Archiv).

**) Acten dos Hansatages 1535 (Brem. Archiv).

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strebungen mit Missbehagen, und gab auf ihr und des Her- zogs von Holland freundliches Werben und Erbieten eine ziemlich schnöde Antwort '^). Burmeister fügt hinzu, man scheine ihnen die directe Schiffahrt nach der Ostsee nicht verstattet zu haben, die holländischen Schiffer haben ihre Waaren nur nach Hamburg bringen und von dort ihre Rück- fracht einnehmen sollen. Einen Beweis dafür giebt er nicht; und es ist mir nicht bekannt, auch nicht wahrscheinlich, dass vor dem fünfzehnten Jahrhundert darüber in Bezug auf die Holländer ausdrücklich Etwas festgestellt gewesen* Vermuthlich war es aber auch nicht früher erforderlich. Yer* muthlich war bis dahin das Erscheinen der Holländer in der Ostsee nicht sowohl etwas Ungesetzliches, als vielmehr etwas Ungewohntes. Nicht ein Statut, sondern die- Mühen der Fahrt durch den Skind, die nur allmählige Gewöhnung län- gerer Seereisen, und im Gegensatz dazu die kurze, durch Verträge und wachsame Hüter sichere Landstrecke zwischen der Elbe und der Trave diese Verhältnisse sind es, durch welche Lübeck und Hamburg als unbestrittene Stapelplätze so lange sich behauptet. Anders schien es jetzt werden zu können. Was konnte einladender für die Holländer sein, als die Bedingungen des Friedens von 1370, an der Ostsee- fahrt auch ihrerseits theilzunehmen? Aber so war es nicht gemeint. Als die Holländer häufiger nach der Ostsee kamen, machte man ihnen Schwierigkeiten, was daraus erhellt, dass sie sich (laut einer Klage im Recess von 1417, bei Bur- meister) nach ungewohnten Häfen wendeten, nicht-han- sische Orte aufsuchten, um daselbst Getreide zu verschiffen. Derselbe Recess aber verfügte: bei Strafe der Confiscation soll kein Getreide aus dem Sunde, der Elbe oder Weser verschifft werden, es komme denn aus einer Hansastadt.

Genug, die Holländer fanden ihre Rechnung nicht beim Bunde. Da kamen neue Irrungen mit Dänemark. Sollte man den wendischen Städten wieder beistehn, sollte man (wieder vielleicht auf eigene Kosten) sie noch mächtiger

*) Recess von 1387, bei Burmeister 105.

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werden lassen? Die Holländer konnten in der Tbal um so weniger sich dazu aufgefordert finden, wenn sie den Ur* Sprung der Fehde erwogen. Lübeck und Hamburg hatten ein augenföliiges Interesse, den holsteinischen Grafen die Belehnung mit dem Herzoglhum Schleswig zu Wege zu bringen. Hamburg schloss bereits 1417 ein Bttndniss mit den holsteinischen Herren gegen Dänemark. Das Interesse war nicht ganz so particülaristisch, wie es scheinen mochte. Will man sich auf den deutschen Standpunkt erheben, so ist es Nichts weniger als gleichgültig, ob Schleswig der dä- nischen Herrschaft ohne Mittel unterworfen ist. Doch möch- ten wir nicht verbürgen^ dass die Städte daran gedacht; noch weniger war von den Holländern zu erwarten, dass sie dafür eine Lanze brechen sollten. Waren es doch von sämmtlichen Städten nur die wendischen, die sich zur Fehde ernstlich entschlossen, und darüber das Bündniss mit den Herzogen und Grafen (Lübeck, 27. September 1426) besiegelten.

Die Holländer waren auf die Seite des Königs getreten, noch bevor es dazu kam. Schon 1423 waren sie mit dem König dahin einig, die hansischen Schiffe auf Schonen zu überfallen. Also der Riss, die offene Feindschaft zwischen den Bundesgliedern war entschieden. Der grossen Marga- relha, der „Semiramis des Norden", war es nicht gegeben, für die Einheit der scandinavischen Reiche eine Form zu erfinden, unter deren Bürgschaft die Schlüssel der Ostsee aus der mächtigen Hand der wendischen Städte hätten zu- rückerobert werden können. Dagegen ist es dem wenig politischen Erich gelungen^ den grossen Hansabund zu tren- nen. Denn die meisten holländischen Städte schieden für immer aus der Gemeinschaft. Zur rechten Freundschaft zwischen den Hansen und den Holländern ist es nicht wieder gediehen, bis zu dem (allzuspäten) Bündniss von 1615 mit den Generalstaaten«

Sofort waffnet sich die Politik der Hansa mit Verboten; Man soll keinen niederländischen Schiffer auf LieHand be- frachten, bei Verlust der Güter, die man ihm eingethan (1425).

Eine deutsche Colonie und deren Abfall 247

Keinem ausserhansischen (buten hansischen) Handelsmann, insonderheit keinem Holländer, soll verstailel werden in Liefland die reussische Sprache zu lernen. Das Verbot im Allgemeinen war schon in den alten Statuten des Nau- gardischen Hofes verzeichnet; eifersüchtig war darüber ge- wacht worden, und um die Mitte des vierzehnten Jahr« hunderts hatte Rostock dem Meister in Liefland einen langen Brief darüber geschrieben, dass ein Lombarde sich in Nau- gard eingeschlichen; mit der speciellen Anwendung auf die Holländer ist est 1426 ausgesprochen, und oft (noch 1517) erneuert. Ein andrer, allgemein gefasster Beschluss verräth durch die gleiche Jahreszahl (1426) dieselbe, besondere Tendenz: man soll mit keinem ausserhansischen SchilTspart, Gesellschaft oder Matschapey halten, bei Verlust der Hanse, einer Mark Goldes, und der Güter, damit die Matschapey gehalten.

Mittend orp hat diese Beschlüsse ganz richtig da ein* getragen, wo er von ausserhansischen überhaupt handelt. Es waren so viele Anwendungen eines Princips auf Die* jenigen, die nun nicht mehr zur Hansa gehörten. Unter demselben Gesichtspunkt, als nicht zum Bunde gehörend (und dies ist hierbei das Wesentliche) suchte man dann die Holländer von der Ostseefahrt ganz auszuschlies^en. Man stellte sie auf eine Linie mit den Flamländern und Friesen, welche niemals zum Bunde gehört, und welchen von Alters her die Ostseefahrt untersagt war*).

Hier kommt nun ein lehrreiches Actenstück (aus dem Lübeckischen Urkundenbuch S. 446.) in Betracht, das auch fernerhin uns dienen wird, eine dunkle Frage aufzuhellen. Ums Jahr 1285 danken Richter, Schöffen und Bürger der

*) Der Gegensatz zwischen dem factischen und dem recht- lichen Verbaitniss war auch dem Bewusstsein der Niederländer nicht fremd. Eine seltsam klingende Spur davon habe ich in ei- nem ,,Recessiis in causa Hollandinorum factus Bremis anno xiiij (1514) Nativ. Mariae" (im Lüb. Archiv) angetroffen. „Die Ant- werpeoer Depntirten haben in dem Concept nicht wollen leiden das Wort: Freiheit, sie sagten, dass sie viel lieber wollten fünf

248 Eine deutsche Colonie und deren Abfall.

Stadt Zwoll den Lübeckern, dass diese für ibr (deren von Zwoll) altes Recht, das durch Lässigkeit und Nichtachtung fast in Abgang gekommen (fere abolita), so treulich und er- folgreich sich bemüht. Was ist's denn, was Lübeck ihnen wiederum verschafft hat? Nichts anders, als dass hinfort weder den Friesen noch den Flamländern verstattet sein soll, irgendwie durch die Ostsee nach Gothland zu schiffen, wie sie bisher gegen das alte Recht gethan. Ebensowenig soll den Gothländern erlaubt sein (was auch sie lange Zeit gegen das alte Recht gethan), die Westsee (Nordsee) zu besuchen. Was die Lübecker ferner in die- sem so löblichen und nützlichen Werk beschliessen , soll durch die von Zwoll auf alle Weise gefördert werden. Zum Zeichen ist Gegenwärtiges besiegelt. Ein wörtlich gleich- lautendes Schreiben in dieser Sache hat die Sladt Campen an Lübeck erlassen. Es fehlt nur Eins, damit ihrer Reider Freude vollkommen werde: „im Uebrigen bitten wir instän- digst, Ihr wollet Euch auf alle Weise bemühen, dass auch~ den Engländern allen die Schiffahrt auf der Ostsee gänzlich untersagt werde ^^

So strenge Satzungen zu erneuern, solche Ausschlies* sung, zumal gegen früher Re;*echtigte, im Namen eines noch früheren „alten Rechtes '' geltend zu machen, war kein leichtes Unternehmen. Gelingen könnt' es hur, wenn man der freiwilligen oder erzwungenen Mitwirkung Dänemarks, und dazu noch der aufrichtigen Zustimmung sämmtlicher Ostseestädte sicher war.

Es fehlte viel, dass Dänemark an der Revorzugung der Hansen seine Freude gehabt hätte. Vielmehr sah es sehr natürlich sein Interesse in einer für die Holländer eröffneten

Jahr gefangen sitzen ^ als das Wort mit nach Hause bringen. Und ist darnach in dem Goncepte statt der Worte: auf ihre alte Freiheit und Gerechtsame gesetzt: wie sie von Alters her gethan haben (so se von oldinges gedan hebben), und ist es darnach allenthalben einträchtiglich beliebt''. Ob sie wohl ausserdem noch besorgten, Lübeck wolle ihre alte Freiheit und Gerechtsame als eine Sache der Gunst und Gnade darstellen?

Eine deutsche Colonie und deren Ah fall. 249

Hilbewerbung. Die Holländer werden nicht unterlassen ha- ben, ihrem neuen Bundesgenossen, dem König, dies mög- lichst einleuchtend vorzustellen. Die Zeiten waren nicht mehr, wo die Hansen den Sund vollkommen beherrschten, ihn hermetisch verschliessen konnten. Die Bestätigung ihrer alten Privilegien, wenn sie auch' verheissen war, sahen sie durch Ausflüchte verzögert. König Christoph liess es sich wohl gefallen, wenn die wendischen Städte ihm (1441) Bei- stand thaten gegen die Holländer, die noch für den abge- setzten Erich standen; aber wenn von den Privilegien die Rede ward, so verlangte er die Originalurkunden zu sehen, worauf die Städte (gleichfalls 1441) erwiderten, es sei kein Gebrauch, Privilegien über See*) zu führen, ein Vidimus wollten sie aber beibringen. Am liebsten hätte er der Un- abhängigkeit Lübecks ein Ende gemacht, und als die Stadt ihren Argwohn über den Zweck seiner mehrfachen Besuche nicht unterdrückte, ward er zornig, und verbot (1447) Korn und Ochsen dahin auszuführen; was doch (sagt Detmar) Gott der Herr, der alle Dinge zum Besten kehrt, anders fügte, denn in die Städte kam Alles, was man bedurfte.

Mit Privilegien ist es wie mit Gesetzen: je häufiger sie erneuert werden, desto weniger lässt sich schliessen, dass sie gehalten werden. Eine solche Bewandtniss wird es denn auch mit den beiden Freibriefen Christians I. haben, von 1469 und 1471, welche Willebrand abdruckt. Beide sind zu Gunsten der Hansa, und gegen die ungewöhnliche Kauf- mannschaft Derjenigen, die nicht im Bunde begrifi'en, na- mentlich der Holländer, gerichtet. Nach Bergen (denn überall nur von Norwegen, nicht von der Ostsee, ist die Rede) sollen die Holländer „allein mit einem Schiff oder zweien <' kommen. Dabei ist aber bekannt, dass es Chris- tians Politik war, auch wieder die Holländer gegen die Hansen auszuspielen. Dänemark fügte sich dem Einfluss,

*) Ebenso Lübeck, bei ähnlichem Anlass, ein Jahrhundert später: „de rechten Originalia were nicht radt aver sehe und sandt iho eventuren*^ ^ Acten des Hansatags auf Invocavit 1542 (Lüb. Archiv).

All«. Z«iUchrift f. €!*scLirbte. T. 1846. J7

250 Eine deiäsche Colonie und deren Abfall

der augenblicklich vorherrschte; es fUgle sich dem Bedürf- niss, und benutzte wieder die gute Gelegenheit; im Voraus liess sich niemals sagen, weicher Maassregeln man von dieser Seite her sich zu versehn habe.

In den Augen der Hansa galt jedenfalls der Ostseever- kehr der Holländer als Schleichhandel. Man suchte ihn zu unterdrücken, wo man ihn antraf. Um so mehr musste man auf feindseliges Begegnen gefasst sein. Daher denn Be- schlüsse, wie der folgende (1447 und 1470): ein jeder han- sische Schiffer soll allewege, auf jede 100 Last die er führen kann, 20 Mann Harnisch mit sich führen , bei Verlust einer Mark Goldes.

Vor Allem kam es darauf an, dass man einig war, die Ausschliessung der Holländer durchzusetzen. Das mag den Gegenstand mancher Berathung ausgemacht haben. Ein lü- becker Schreiben von 1461 (bei Willebrand) fordert die Kieler auf, den Hansatag zu beschicken. Unter den ange- kündigten Punkten, welche zur Sprache kommen sollen, ist auch der von wegen der Befrachtung der Holländer, '„die nun zur Zeit mehr Geschäft und Betrieb in Kaufmannschaften haben, als die Kaufleute von der Hansa ^^ Mag diese Klage Übertrieben sein, immer sieht man daraus, wie ernst Lübek die Sache nahm, wie wenig bis dahin die Maassregeln ge- fruchtet hatten; und man kennt die Thätigkeit, das zähe Be- harren der Holländer.

Ein Widerspruch kommt von der Seite, von welcher Lübeck schon gewohnt wai^, seine Politik mit Misstrauen betrachtet zu sehen. lai Jahr 1487 beschloss man, kein burgundischer Unterthan solle in den Städten geduldet wer- den. Dem widersetzten sich die Preussen. So wenig wurden Beschlüsse dieser Art respectirt, dass man ein eignes Verbot für nöthig fand: den Holländern soll nicht gestattet werden, in den (Istlichen Städten Schiffe zu bauen*).

*) Wieder eine, durch die Umstände veranlasste, specielle Anwendung eines allgemeinen Grundsalzes. Seit 1434 war jede Stadt verpflichtet, zu verhüten, dass nicht von Lombarden, Eng* ändern, Flamländeru, Holländern neue Schiffe erbauet würden;

Eine deutsche Colonie und deren Abfall 251

Nun hatten grade die östlichen Städte unter den Feind- seligkeiten mit Holland sehr gelitten. Schon 1435 hatten die Holländer 23 preussische und liefländische Schiffe weggenomraen. Welchem Interesse zu lieb sollten sie sol eher Einbusse noch ferner sich aussetzen? War es etwa ihrem eignen Interesse gemäss, die Mitbewerbung der Frem- den auf ihren heimischen Märkten zu beschränken, oder vielmehr Käufer und Verkäufer aus' allerlei Volk heranzu ziehen? Sie meinten das Letztere. Demnach war hier auf keine Unterstützung der beliebten Maassregeln gegen die Holländer zu zählen. Zweifelhafte Verbündete im Herzen den Holländern nicht abgeneigt: in diesem Licht erschienen fortan die östlichen Städte^

Nach, geraumer Zeit tritt Lübeck, auf dem Hansatage 1521, mit der Behauptung auf; die Liefländer seien nicht berechtigt, durch den Sund zu fahren; sie dürfen mit ihren Schiffen nur auf die Trave kommen: das sei von Alters her Sitte gewesen.

Sartorius giebt an zwei Stellen in seinem Werk*) diese Nqtiz; beide Male nur im Vqrbeigehen; ihre überaus grosse Bedeutung scheint ihm nicht aufgefallen zu sein, wenigstens ihn zu genaueren Nachforschungen nicht aufge- fordert zuhaben. Herrmann hat jene Bedeutung sehr wohl begriffen) aber hanseatische Quellen standen ihm nicht zu Gebot; so könnt' er die Notiz nur, unvermittelt und uner- klärt, wie er sie vorfand, wiedergeben.

So viel ist klar: wenn die Sache sich bestätigt, wenn die Liefländer so wenig in die Nordsee, als die Holländer

wenn eine Stadt es doch zuliess, so war sie den übrigen Städten in eine Strafe von 10 Mark Goldes verfallen. Der Recess ist ge- druckt bei Pardessus, Collection des lois maritimes 2, 473. Die Particulargesetzgebung der einzelnen Städte hat das Verbot, Schiffe für Fremde zu bauen, noch lange festgehalten. Hambur- gische Recesse von 1483, Art. 47.; 1529, Art. 107.; 1603, Art. 52. Erst 1618 fand man für gut, die Execution obiger Artikel aus be- wegenden Ursachen eine Zeitlang zu suspendiren.

*) Gescb, d. hans. Bundes 2, 293 in der Note, und 3, 196 im Text.

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in die Ostsee kommen sollten, so blieb der Gewinn des Zwischenhandels und der Frachtfahrt den Lübeckern und ihren engeren Genossen vorbehalten. Der Leser, der uns bis hieher gefolgt ist, wird es nicht verschmähen, auch den Gang der ferneren Untersuchung, die Gombination der zer- streut liegenden, abgerissen sich darbietenden Beweisstücke, und den auf diesem Wege möglichen Aufschluss über das Wesen der hansischen Schiffahrtsacte zu iheilen.

Zuerst gehört hieher ein Aufsatz, der im Lübeckischen Archiv bei den Papieren Über das Brüg^esche Gomtoir liegt, mit der Ueberschrift: „Artycle der gebreke der Vlanderfarer, dath Gunter tho Brügge bedrepend, avergegewen den herren Raden Wendescher Steder Anne 1519 Epyphanie dni". Eins der Gebrechen, oder vielmehr der dadurch hervocgerufenen Postulate, geht dahin: der Kaufmann von Lübeck begehrt, dass die von Reval und Riga alles Wachs und Wergk auf Lübeck führen wollen, nach alter Weise, ohne um ^en Skagen zu schiffen; desgleichen sollen von Westen alle Laken von Brügge über Lübeck geführt werden*).

Von der Ausfuhr Lieflands, welche den Weg auf Lübeck, nicht um den Skagen, also nicht durch den Sund, neh- men soll, sind hier nur zwei Artikel namhaft gemacht: Wachs und Wergk. Eben diese Artikel stehn an der Spitze eines

*) Item de copmann von Lubek begeret dat de von Reuall vnnd Righe willen Schepenn vp Lubek als Wass Werck, sunder vmme denn Schagenn to Schepenn na older Wisse vnnd derge* liken vonn Westeo to Schepenn, alle liflandiscbe lakenn vonn Brügge by Lübeck, dat wyli de copmann also hir holden vnnd begeren vonn den anderen datsulve ock gelik one to holdenn. Liefl'andische Laken heissen doch wohl (uneigenllich zwar, aber durch den Zusatz von Brügge verdeutlicht) diejenigen, die in Brügge eingekauft werden, um über Liefland den Russen zuge- führt zu werden. Es ist bekannt, wie streng der Hof zu Naugard über die untadelige Lieferung dieses Einfuhr-Artikels wachte; und man ersieht aus den Zusätzen zur alten Skra (Sartorius* Urkun- denbuch 288, 289), dass die Beschlüsse, welche gewissen schlech- ten oder verdächtigen Tüchern den Eingang untersagten, in Brügge selbst, mit Rücksicht auf die Bestimmung der Waaren für den russischen Handel, vor allen Dingen verkündigt wurden.

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^^Verzeichnisses etlicher Güter, die man für Stapelgut achtet/' das in dem Aufsatz vorkommt und das, seiner Yoll« siändigkeit wegen, in der Note*) wiederholt w^erden mag, während seine Bedeutung aus dem nachfolgenden Postulat erhellt: Item so begehrt der Kaufmann von Lübeck, dass alle Bürger, Einwohner und „Gesellen," in den Hansestädten gesessen, die im Reiche Dänemark verkehren oder sonst anderswo einige Stapelgüter kaufen, dass sie dieselben Güter in die Hansestädte bringen oder zum Stapel führen sollen, ohne Schleichwege (bywege) zu suchen in einige west- wärts belegene Städte, anders als zu Brügge.

Diese Bemühungen um die Aufrechthaltung des Stapels zu Brügge hängen viel genauer, als man denkt, mit unsrem Gegenstande zusammen. Es ist der Kampf der alten mit der neuen Zeit, welcher darin zur Anschauung kommt.

Altmeyer**) hat nachgewiesen, wie die Hansa-Acten der ersten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts erfüllt sind von dem langen Streit um die Beibehaltung der Factorei in Brügge oder deren Verlegung nach Antwerpen. Allerdings war der äussere Anstoss gegeben durch die Rückwirkung des Seeverkehrs mit Ostindien, durch den Umstand, dass die Portugiesen Antwerpen zur Niederlage jener werthvollfen Er- zeugnisse des fernen Morgenlandes auserkoren. Staunend sahen die Oberdeutschen aus Niederland herbeiführen, was sonst Venedig ihnen geliefert. Brügge ward zunächst und sehr schwer betroffen; es sank und musste sinken, im sel^ ben Maasse, wie Antwerpens Stern heraufstieg.

Aber dies war ein äusserer Anstoss und in Bezug auf

*) Ilem so ys gelogel . . . eyne czedele, worynne vortekent ellicke guder de men vor slapelgudt achtet Als Wass, Werck, allerleye ropp (Reep? Tauwerk), Tynn, Buckuelle, tzegenuelle, Saltenhude (flämisch: gesoutene Hude; gesottene, gegerbte Häute), allerley vell, Wergk (noch einmal), Wulle, traon, ozemunt (Eisen- klumpen s. Sartorlus' Glossar), allerley iserwerck, victryell, Botter, tallicb, Flomen, allerleye Getterwar (gegossene Waare?), Vlass, Hemmp, lynnwant.

**) Des causes de la decadence du comptoir hans^atique de Bruges. Brüssel, 1843,

254 Eine deutsche Colonie und deren Abfall

BrUgge ein zufälliger. Das Wichtigere war das Streben der. Zeit, von dem allen Handelssystem, von den Fesseln der. Factorei, des Stapels, des Monopols, sich zu befreien. Man hatte drei Jahrzehente frUher, als es geschah, die Factorei nach Antwerpen verpflanzen können, und man würde Das- selbe erlebt haben. Die Unordnungen in der Factorei, die Umgehung des Stapels, die verbotenen Fahrten, die Miss- achtung der alten Satzungen, berechtigten nicht unbedingt zur Anklage Derer, welche die Aufsicht zu führen hatten. Die Zeit der Factorei war vorüber, die Zeit der Börse be- gann — der Börse, die, im Gegensalz zu der Abgeschlossen- heit und Eifersucht, das bezeichnende Motto führte: „zum Gebrauch der Handelsleute jeglicher Nation und Zunge." *)

Der Kampf um den Stapel zu Brügge war ein Kampf um den Leichnam des Patroklus. Lübeck konnte wohl an den Strom hintreteu und seine Wellen übertönen und selbst, unbe wehrt, die Gegner einen Augenblick schrecken durch den Klang der gebietenden Stimme: aber den Entseelten wieder ins Leben rufen nimmermehr.

Das kann uns nicht überraschen, dass die Gegner vor- zugsweise unter den östlichen Städten zu suchen sind, deren Missvergnügen über die Ausschliesslichkeit der strengen Satzungen, deren Hinneigen zu den Holländern wir längst kennen gelernt haben. Im Streit um den Stapel zu Brügge sind die östlichen Städte auf der äussersten Linken, wohin das Interesse nicht minder als das gekränkte Selbstgefühl sie geführt. Schon 1507 proteslirten (laut Mittendorp) Danzig und andere Städte: es sei ihnen unmöglich, alle Stapelgüter gen Brügge zum Stapel zu schicken. Im Becess von 1511, den AUmeyer excerpirt hat, ward an alle Städte, auch an die liefländischen und preussischen, eine kräftige Ermahnung erlassen, gegen die Holländer und Brabanter, die Verächter der alten Privilegien, sich zu einigen.

Nach , solchen und ähnlichen Vorgängen drangen die

*) Kirchenpauer: Programm z. Einweihung d, n, Bö;-s« in Hamburg, 1841. S. 3, 6.

Eine deutsche Colome und deren Abfall 255

Flanderfahrer Lübecks auf geschärfte Vorschriften, welche die ostseeische Ausfuhr au den Stapel in Brügge, die lief- ländische Ausfuhr zunächst, anstatt der unmittelbaren, einer Controle sich entziehenden Versendung durch den Sund, an den Stapel zu Lübeck fesseln sollten.

Das Begehren der Flanderfahrer blieb nicht ohne Ein- üuss auf die EntSchliessungen der Städte. Als Beilage des Recesses von 1530 (im Bremischen Archiv) findet sich ein „Appunctament^^ vom 21. August 1520, zwischen den Send- boten der Städte einerseits, und Bürgermeistern, Schöffen und Rath der Stadt Brügge andrerseits. Leider ist der hie- hergehörige Hauptsatz durch die Nachlässigkeit des Schreibers heiilos entstellt. Deutlich genug aber enthält auch der ent- stellte Wortlaut die Vorschrift, dass die ostseeische Ausfuhr nach dem Westen, anstatt aus Liefland, Preussen oder Schwe- den durch den Sund zu gehen, vielmehr zunächst auf die Trave^ von da auf die Elbe, endlich zum Stapel nach Brügge verwiesen wird.*)

*) Ich würde nicht den Schreiber, sondern meinen eignen Mangel an Verständniss anklagen, wenn nicht Jenec zwei (unten mit [ ] bezeichnete) Zeilen offenbar wiederholt, oder wenn ein ge- übteres Verständniss alle Einzelnheiten der nachstehenden, übri- gens in äusserst deutlicher Schrift verzeichneten Stelle hätte ent- ratbseln mögen. Auch meine Hoffnung, in Lübeck eine Ausfertigung des Appunctamenls aufzufinden, ist nicht in Erfüllung gegangen, sondern hat mich nur auf die Spur der obenerwähnten Artikel der Flanderfahrer geleitet. „Erst dat die van der.vorschreven Natie coopmannen vrunde geszellen ingesethen ende poorters in prussen l^yfflandt Szweden ende westwaerts hauterende alle hyrludeu ge- dinghe efiHe dar sie pareth . efite deel ahn hebben vuth Lyfilandt Szweden ende [westwärts hanlerende alle hyrluden] prussen in de traveu van dar up de Elve ende vorth tot unsser daghe alfi'ongst in ende up tzwyn ther Sluss befrachten bringhen ende voren sul- len ende nerchens eil vthgenhamen mercklycke nothsake Ende nhar den vorsc: alffongst zo zullen [Ende nhar den vorschreven alfifongst zo zullen] sie buer stapelgudt In ende upt tzwyn the be- frachtende onverbonden wesen Meth solcken beschedo in dien dat sie in Zeelandt ofile Eiders angenhomen^dath men nochtans goeth nhar Brügge bringhen szoll ende van dar vuthschepen nhar der markede/' Die Erwähnung der Eingesessenen in Schweden

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Ward diese Vorschrift nun gehalten? Konnte sie gehal- ten werden? Der erste Hansatag des Jahres 1521 *) mag die Antwort geben. Die Aclcn (im Bremischen Archiv) weisen die folgende Debatte nach.

Es wird von Seiten Lübecks angezeigt, dass im vorigen Sommer mit Denen von BrUgge ein freundlicher Handel, eine Ordinantie, wie zu segeln und die Märkte zu halten, angestellt worden. Das ist denn das Appunctament, das wir so eben kennen gelernt. Lübeck verwahrt sich: es könne für sich allein, und wie bisher mit eignem Schaden, das Gomtoir in Brügge nicht erhalten. Bremen bemerkt, in Antwerpen sei der Kaufmann bequemer (gefueglicher) und mit geringeren Kosten, auch seien Die von Danzig in Brügge zu residiren nicht geneigt. Riga: wenn die Städte alle wollten das Gomtoir zu Brügge unterhalten, wären ihre Aeite- sten dess auch wohl geneigt; dass sie aber auf die Trave segeln sollten, wäre beschwerlich (beswerich) und würde zu merklichem Schaden gereichen. Dorpat: wie Riga. Reval: dass sie nicht wollen verpflichtet (vorstricket) sein, ihre Güter auf die Trave zu senden, wollten sich auch den Sund nicht verschlossen haben, sondern ihre Stapel- güter führen, wie von Alters gewöhnlich (wo van oldiogs wontlich). Nun kommen die niederländischen Städte an die Reihe, die noch im Bunde waren, und die durch die jüngst eingeschärfte Vorschrift Über das Slapelwesen mitbetroffen wurden. D eventer: protestirt, sich keiner Segellation zu verbinden; die von Hamburg hätten die Eibe, die von Bre- men die Weser, sie hätten die Issel, könnten sich also nicht verpflichten, auf die Zwyn zu segeln. Gampen: auf die Trave zu segeln sei ihnen nicht füglich (fuchlich). Gampen also, dem, wie wir oben gesehn haben, der Sund nicht ver- schlossen war, wollte den Stapel zu Lübeck (für Ladungen,

in diesem Znsammenhang erinnert an die Willküren gem. Kauf- leute zu Brügge von 1347, und an die Bemerkung von Sartorius, Urkundenbuch 395 ').

*) Zu Himmelfahrt; der zweite Hansatag desselben Jahres be* gann am Sonntag nach der Ereuzerhöhuog.

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die nach östlicheren Plätzen bestimmt waren) so wenig ein- halten, als Deventer für die Rückfracht aus der Ostsee den Stapel zu Brügge. Weiterhin, als die Anliegen der einzelnen Städte zur Sprache kommen, wird von Riga und Reval noch einmal als besondre Beschwerde vorgebracht, dass sie den Sund meiden und auf die Trave segeln sollen.

Das Schicksal der jüngsten Vorschrift Hess sich voraus- sehn. Lübeck erklärt endlich, wenn man das Gomtoir von Brügge nach Antwerpen verlegen wolle und müsse, so möge es doch nur nach und nach, und unmerklich upt alder unvormerglikeste vorbereitet werden. Die wahre Lage der Dinge, die Ahnung mindestens der Unmöglichkeit des bisherigen Systems, enthüllt der bedeutungsvolle Zusatz: „der Kaufmann sei zu Brügge oder wo er sein mag, ist kein Gehorsam, so kann das Gomtoir nicht unterhalten werden/' Auf dem Hansatag 1530 erschienen Gesandte von Brügge: sie wurden zwischen die Ehrsamen von Colin und Hamburg gesetzt (geioceret) und mit gewöhnlichen Geschenken von „Kraut und Wein" verehrt: ihre Werbung war, anzufragen, ob man eigentlich gemeint sei, das Appunctament von 1520 zu halten, oder nicht? So sehr war es ein todter Buchstabe geblieben.

Die Verhandlungen von 1521 enthalten noch eine ge- waltige Disputation, wie es in der von Sartorius benutzten Kopenhagener Handschrift heisst, oder, wie die Bremische Ausfertigung es nennt, viele und mancherlei Altercalion, we- gen des Gomtoirs zu Nowgorod. Darauf werden wir weiter unten (in der Geschichte des Abfalls) zurückkommen müssen. Hier mag nur eine, von Sartorius ausgezogene Stelle den Ton der Bitterkeit bezeichnen, in welchen man, den Liefländern gegenüber, verfallen war. „Die Liefländer baten, die übrigen Städte sollten ihnen rathen, wie zu verhindern sei, dass die Edelleute des Landes nicht Handel trieben, worauf man Ihnen kurz antwortete: in ihrer Städte Rath sässen treffliche Leute, sie möchten sich selbst rathen."

Wie lässt sich nun die Behauptung Lübecks begründen, dass es von Alters her den Uefländern nicht verstattet ge-

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wesen, durch den Sund und um den Skagen, sondern nur bis auf die Trave zu schiffen? Sartorius meint es sei ,,doch gewiss nicht ausschliessend so^< gewesen. Die Hauptsache bleibt, zu welcher Zeit denn jene, von den lübeckischen Plan- derfahrern sogenannte ,,aUe Weise^^ mag bestanden haben?

Es liegen die Beweise vor, dass sehr frUhe schon die Liefländer durch den Sund in die Nordsee herausgesegeU. Riga ist unter den neun Stadien, welchen „nebst allen an- dern Kaufleuten, die das deutsche Meer besuchen,^' Phi- lipp IV. von Frankreich 1294 am 3. März einen Freibrief ausgestellt hat. Er giebt ihnen zu Land und zu Wasser, in Häfen, Städten und anderen Orten seines Reiches freien Ver- kehr, ausgenommen mit englischen, schottischen und irischen Waaren, und unter dem Vorbehalt, im Kriege mit England ihrer Schiffe, jedoch gegen eine durch beiderseitig ge- wählte gute Männer abzuschätzende Miethe, sich zu bedienen. Am 21. März desselben Jahres giebt er einige der Fahrzeuge frei, die zu diesem Zweck bereits in Anspruch genommen waren. Ferner wird schon 1366 (im lübecker Recess vom 24. Juni) ein Streit erwähnt zwischen Wisby und den öst- lichen Städten in Liefland „über ihr Driltheil, welches sie in Brügge haben. ^^ Also halten damals schon die Liefländer Antheil am niederländischen Gomtoir. Sollen wir nun, nach diesen Thatsachen, die denn doch wirklich der Zeit „vor Alters ^^ angehören, die Behauptung Lübecks als eine willkür- lich ersonnene^ oder rein irrthümliche betrachten?

Keins von beiden. Das oben angeführte Schreiben der Städte ZwoU und Campen (im lübischen Urkundenbuch) wird uns auch hier Aufschluss geben. Die Gothländer, hiess es dort, sollen nicht die Westsee besuchen dürfen: das sei das alle Recht. Wie, und was dem mächtigen Gothland versagt war, das hätte den lief ländischen Gemeinden sofort, beim ersten Eintritt in die Welt, vergönnt sein sollen? Aber das alte Recht war bereits um 1285 fast in Vergessenheit ge- rathen. Die Gothländer kehrten sich nicht mehr daran, segelten, wie es ihnen beliebte, durch den Sund in die West- see. Die Liefländer werden es vermulhlich ebenso gemacht

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haben. Sie waren noch sehr jung; ihre Hitbewerbung weckle noch keine Besorgniss, eher vielleicht ihre Rührigkeil den Beifall der älteren Städte, die sie ja „aus der Taufe gehoben/^ So Hess man das alte, strenge Recht wohl auf sich beruhen, und verfuhr säuberlich mit dem Knaben Absalom.

Andre Zeiten kamen. Die östlichen Städte hatten eine bedenkliche Hinneigung zu den Holländern, und auch sonst eine gewisse Unbotmässigkeit , eine Gleichgültigkeit zumal gegen Lübecks Interessen und Wünsche an den Tag gelegt. War es nun nicht an der Zeit, sie einmal wieder an ihren Ursprung zu erinnern? Wem verdankten sie, was sie waren und was sie hatten? Ihren Gründern: denn die Städte waren Kolonieen.

Uebrigens vergesse man nicht, dass die alten, wendi- schen Städte Lübeck und seine engeren Genossen wenn sie die Frachtfahrt durch den Sund den Andern auch nicht ganz verwehren konnten, doch immer in diesem Ver- kehr Etwas voraus hatten. Sie waren im Sunde privile- girt. Der Vorzug der wendischen Städte in dieser Beziehung datirt weit früher, als der bekannte, zu Odenso 1560 ge- schlossene Vertrag. Entscheidend für das Vorhandensein dieser Ungleichheit ist eine Aeusserung von Danzig im Jahr 1487, welche bei Mittendorp und Köhler gleichlautend zu lesen ist. Die von Danzig begehren, man möge dazu helfen, dass sie ebensowohl als die wendischen Städte im Sunde frei werden, oder sie müssen dero Behuf auf andre Mittel gedenken. Dass die gegenseitige Stimmung durch das Andauern einer solchen Zurücksetzung nicht verbessert worden, braucht nicht gesagt zu werden. Auf dem Hansatag 1556 zeigt Lübeck an, zu Verhütung grosser Weitläuftigkeit und Nachlheils sei nicht zu gedulden, dass die Kaufleute (natürlich hansische, wozu sonjBt die An- zeige auf dem Hansatag?) die im Sunde nicht zollfrei, zu Bergen Güter in lübische Schiffe mit einschiffen. Nach dem Odenseer Vertrag erneuern sich die Beschwerden. Aus dem zweiten Recess von 1584 merkt Mittendorp an: die von Bremen repetiren ihre Klage, dass die ihren nicht mögen

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lübische Schiffe zu Bergen schiffen (was wohl heissen soll, befrachten).

Soll man nun sagen, die wendischen Städte bedienten sich selber des Sundzolls, den Dänemark festhielt und aus- dehnte, als einer Waffe in ihrem Interesse? Oder war es Dänemark, das unterschied und trennte, das die Eifersucht der Einen weckte, indem es die Andern bevorzugte, um Alle unter sich uneins zu machen? Die letztere Ansicht wird in den meisten Fällen die richtigere sein. Doch hatte Lübeck den Gedanken der Ostseeherrschaft, mittelst der directen oder indirecten Meisterschaft im Sunde, noch nicht aufgegeben.

Die nordischen Wirren, in den 20er und 30er Jahren des sechszehnten Jahrhunderts, führten endlich die Entschei- dung herbei. Niemals war Lübecks Politik Ihätiger, kühner, und, wie es bis zum letzten Augenblick schien, glücklicher; recht im Angesicht des Hafens ward sie vom Schiffbruch er* eilt. Niemals ist das deiche Interesse der Niederländer und der östlichen Städte (Danzig mit eingeschlossen), und die Unvereinbarkeit desselben mit den Ansprüchen Lübecks, so ins volle Bewusstsein getreten. Einen eignen Reiz hat die Geschichte dieser nordischen Kämpfe. Altmeyer hat es auch empfunden: sie lässt Den nicht wieder los, der sich einmal lebendig hineinversetzt hat; in drei Schriften nach einander ist er darauf zurückgekommen. Wie reich und abenteuerlich ist nicht die I^ärbung des Einzelnen und die Wirkung des Ganzen, wie tragisch und gross! Für unsern Zweck aber sind wir auf die bescheidenste aller Aufgaben angewiesen, auf die Analyse der wichtigsten Actenstücke.

Schon auf dem ersten Hansatage "") des Jahres 1521 (zu Himmelfahrt) klagt Lübeck, in Dänemark werde Nichls ge- halten. Es war die Regierung Christierns IL; und Jedermann weiss, dass seine Vermählung mit der burgundischen Fürsten- tochter, der Schwester Karls V., und noch mehr die Rath- schläge der klugen Sigbrit, der Mutter seiner Düweke, den

*) Dies und das Folgende nach den hanseatischen Recessen im bremischen Archiv.

Eine deutsche Colonie und deren Abfall. 261

König für die Niederländer sehr günstig gestimmt. Es ge- hörte zu den nicht alltäglichen, aber auch nicht allzuklaren, durch Leidenschaft oft umdiisterten Reform-Ideen Ghristiems, dass seine Regierung der Anfangspunkt einer neuen Zeit für die Handelsmacht der nordischen Reiche werden sollte. Land und Volk wollt* er von der Handelsherrschaft der Hansen emancipiren, die Erträgnisse des Sundzolls durch die Theilnahme der Holländer an der Ostseefahrt anschwellen, Kopenhagen zur Stapelstadt, zur kaufmännischen Metropole des Norden erheben.

Bedenkliche Tendenzen, wenn Besonnenheit und Aus- dauer ihnen zur Seite stand. Man begreift, dass Lübeck dabei nicht still sitzen konnte. Der Klage über Nichtachtung der Privilegien fügt es die Aeusserung bei: ungern wolle man zur Fehde schreiten, wenn man davon Umgang nehmen könne) aber Frieden länger, als der Nachbar wolle, könne man nicht halten. Köln: man müsse sich an kaiserliche Majestät wenden, als das Haupt; er müsse die Städte ja billig handhaben. Lübeck: an den Kaiser sei bereits ein Bote abgegangen; es komme jetzt darauf an, sich zu einer kräftigen Maassregel zu einigen, und die Fahrt auf Dänemark für's Erste gänzlich einzustellen. Da zeigt sich sogleich, wie schwer für einen energischen Beschluss Einstimmigkeit auch selbst nur unter den wendischen Städten zu erreichen war. Lüneburg wendet klüglich ein: sie hätten Nichts von Pro- ducten (in ere opkumpst) als nur Salz; hielten sie da- mit ein, so würden die Holländer dem Dänen Salz zuführen, und grosser Nachtheil würde „miserabeln Personen, Bene- dictinern, Jungfrauen u. s. w.^^ daraus entstehen.

Im September (am Sonntag nach Kreuzerhöhung) sind die Sendboten von Rostock, Stralsund, Wismar, Bremen und Hamburg in Lübeck versammelt. Was hat sie so bald nach dem Hansatage wieder zusammengeführt? Einzig nur der dänische Handel. Der Herzog von Holstein .hat zu Gunsten der Städte nach Dänemark gesandt, aber der Bote hat den König nicht im Lande getroffen er war bei seinem Schwa- ger, dem Kaiser ; die Königin wusste Nichts von den Be->

262 Eine deutsche Colonie und deren Abfall

schwerden, bat zu verziehen bis zur Rückkehr ihres Gemahls; keine weitere Antwort war von ihr zu erlangen als diese: die Kaufleute mögen das Reich besuchen auf ganz gleichen Fuss (lykenst) mit den burgundischen und andern Städten, so unter kaiserlicher Majestät stehn. Ein schlechter Trost, den Burgundern gleichgestellt zu sein! Und die Reise des Königs zum Kaiser war ein Grund zu neuer Besorgniss. Man kennt die Anekdote, dass Ghristiern seinen Schwager um die Gefälligkeit ersucht, er möge ihm Lübeck schenken eine kleine Stadt, und ihm, dem König, ganz gelegen, um Station daselbst zu machen, und von der Meerfahrt aus- zuruhn, wenn er einmal nach Deutschland herüberkomme. Da hl mann bemerkt mit Recht, das kaiserliche Schreiben vom 21. Juli 1521, bei Altmeyer, sei allgemein gehalten, wenn auch manche Absicht des Königs auf Vcrgrösserung hervorleuchte. Aber auch die Hansa-Acten reden von einer speciellen Absicht auf Lübeck. Der König von Dänemark, berichtet Lübeck, habe den Kaiser „mit Bitten angefallen, um Lübeck,- Delmenhorst, auch das Land zu Holstein zu er- langen/^ Ein Rathmann sei deshalb bereits nach Westen entsendet Mit den Ditmarsen (denn auch auf diese und die „beibelegenen Städte'^ sei^des Königs Augenmerk gerichtet) bestehe bereits ein Bündniss; mit Leib und Gut seien die Ditmarsen bereit, denen von Lübeck Beistand zu thun. Fer- ner habe der König eine Commission auf Acht und Aberacht gegen Hildesheim und Lüneburg ausgebracht: er meine aber eigenlhch andre Städte, die mit den Geächteten hantieren.

So ernst nimmt Lübeck die Sache, dass es vorschlägt, die Städte mögen sich mit einem Fürsten verbünden, und ihn, wenn er mit Reitern und Volk Beistand thun wolle, als Schutzherrn nehmen. Der Zusatz „jedoch nicht anders den to dusser grünt und meninge*' scheint anzudeuten, dass kein bleibendes, sondern nur ein vorübergehendes Ver- häUniss gemeint ist. Einen geeigneten Fürsten zu nennen, war nicht leicht. Der Bischof von Münster (an kriegerischen und staatsklugen Herren hat es diesem Stuhl nie gefehlt) wird in Vorschlag gebracht. Ferner lässt der Rath von Lü*

Eine deuische Colonie und deren Abfall 263

beck sich'bedUnken, dass es ,, nicht ungelegen wäre, die Herren von Mecklenburg gegen den König von Dänemark zu gebrauchen;" auch vom Herzog von Holstein wird die Rede, als von einem guten, friedsamen Nachbar. Bremen findet ein jedes Bündniss mit fürstlichen Personen bedenklicheres erinnert an die Nachtheile aus früheren Verbindungen mit Fürsten, die den Feinden blutsverwandt. Die Uebrigen sind ohne Instruction. Endlich trägt Lübeck darauf an, es würde nicht unnütz sein, mit Danzig sich zu vergleichen (to vor- weten), und den alten Zwist in Vergessenheit zu stellen; sei doch auch Danzig vom dänischen König merklich be- schwert.

Als Folge dieser Berathungen haben wir es zu beirach- ten, wenn im Jahr darauf das Schutz- und Trutzbündniss zwischen Lübeck und Danzig *) geschlossen wird, und wenn Lübeck 1523 am 15. Februar ein ähnliches Bündniss mit dem Herzog Friedrich von Holstein eingeht, dessen glückliche Er- höhung (lyckelig forhyelse) in Dänemark der Text des Ver- trages, nach Hvilfeld, bereits in Aussicht stellt.

Wer kennt nicht die grosse Umgestaltung der nordischen Dinge,* und den überwiegenden Einfluss, den die vereinte Macht Lübecks und Danzigs dabei geübt? Am 20. April 1523 verliess Christiern seine Hauptstadt , am 6. Juni desselben Jahrs xuahm Gustav Wasa die Huldigung der Schweden an, und der Herzog Friedrich von Holstein ward am 7. August 1524 als König von Dänemark gekrönt.

Gustav Wasa war nicht im Stande, den Städten die Kriegskosten zu erstatten: er zahlte mit Privilegien, die mehr werth waren als klingende Münze. Der König und die Räthe

*) Zu den Rosten soll Danzig je 10 Mark beitragen, wo Lübeck 12 Mark übernimmt; SchiGfe und Söldner in demselben Verh'ällniss. Brederlow: Gesch. d. Handels u. d. gewcrbl. Gnltur d. Ostsee- reiche, mit bes. Bezug auf Danzig (Berlin, 1820), S. 255. Auf dies Werk, das mir erst im Verlauf dieser Arbeit bekannt geworden, beziehe ich mich mit um so grösserem Vergnügen, da ich in der Vorrede (S. XX) den Gesichtspunkt angedeutet Gnde, die Ge- schichte der Hansa könne als Prolog angesehn werden zu der künftigen Geschichte der Colonieeo,

264 Eine deuiiche Colanie und deinen Abfall

des Reiches erkennen, dass es billig ist, die Gunst, die ihnen widerfahren, mit Gleichem zu vergelten; für sie und ihre Nachkommen in Ewigkeit geloben sie, was der Freibrief Denen von Lübeck, von Danzig, und deren Bundesverwandten, verheisst. Die politische Abhängigkeit Schwedens von der Hansa wird besiegelt durch die Verpflichtung (der keine Gegenseitigkeit entspricht) mit Königen, Fürsten und Herren keinen Bund oder Frieden zu machen, ohne der Städte Wissen und Willen. Die commercielle Abhängigkeit zieht sich durch das ganze Document. Namentlich werden, zu Gunsten der Lübecker und ihrer Verbündeten, die ausländi- schen Nationen von der Gewinnung des Bürgerrechts (der Bedingung kaufmännischen Geschäfls-Betriebes), und von der Fahrt durch den Oeresund oder Belt ausgeschlossen.

Dass solche Bedingungen lästig werden mussten, ist so begreiflich, als die Klage Lübecks über den Undank der Könige. Diese Dinge erinnern in Wahrheit sehr lebhaft an das Verhältniss Napoleons zu den Königen, seinen Brüdern, insbesondre zu Ludwig, dem er nie vergeben konnte, dass er, kaum eingesetzt, als Holländer sich zu fühlen begann. Gustav Wasa wäre ohne die Lübecker sowenig König von Schweden geworden, als Ludwig Bonaparte König von Hol- land ohne Napoleon 3 die angesonnene Vasallenscbafl aber, die Verleugnung der National -Interessen war und blieb ia beiden Fällen unnatürlich.

Der neue König von Dänemark war vorsichtiger gewesen; nur das Bündniss von 1523 erneuerte er, welches die Wieder- einsetzung Lübecks in die alten Privilegien in sich fasste. Die wendischen Städte üblen noch einmal (zu Malmoe, 1. Sept. 1524) das hohe Schiedsrichter-Amt zwischen den nordischen Monarchen*, auf einem Gongress zu Lübeck sollten, im Mai 1525, die rückständigen Punkte erledigt werden. Die däni- schen Bevollmächtigten fanden in Lübeck rechtzeitig sich ein, harrten auf die Schweden; als diese endlich anlangten, war die Geduld der Däaen erschöpft, sie reisten ab, ohne dass Etwas verhandelt worden. Die Schweden aber, so berichtet Dalin, trafen in Lübeck niederländische Gesandte, und vcr-

Eine deutsche Colanie tmd deren Abfall. 265

^tändigten sich mit diesen Über die Grundlage eines Handels- bUndnisses. Wenn in Lübeck selbst diese Verhandlung vor sich ging, so mochte man daraus abnehmen, wie wenig der Schwede gesonnen war, die Privilegien zu halten. Das JocI]t abzuschütteln, war in der That sein eifriges Bestreben. G^ljer hat einen Stockholmer Reichstagsschluss von 1526 aasgezogen, worin es heisst: „die Lübecker wollten die Ost- see allein behalten und nur ihren eigenen Vortheil bedenken/' Dal in hat gleichfalls 1526 die merkwürdige Notiz: Gustav habe Lödese am Göta-Elf zur Stapelstadt ausersehen, weil von da aus mit allen westlichen Ländern verkehrt werden könne, ohne durch den Sund oder die Belte zu fahren, „als welches nach dem lübischen Handelsvergleich unterbleiben sollte/' Er habe geglaubt, dass von Lödese die Waaren über das ganze Land und nach Stockholm hin durch den Wäner- Hjälmer und Mälar-See verfiahren werden könnten, wenn die dazwischen laufenden Seen und Flüsse dazu bequem gemacht würden. Also schon Gustav Wasa halte den grossartigen Gedanken gefasst, der theilweise wenigstens durch den Göta- Oanal, und durch die staunenswjsrthen Werke am Trollhätta verwirklicht ist. Wie wir neuerdings in den öffentlichen Blättern einen Entwurf gelesen haben, der in noch grösserem Maassstabe darauf berechnet ist, den dänischen Sundzoll zu umgehen, so galt es damals, dem Monopol der Lübecker und ihrer Genossen sich zu entziehen. Der Handelsvertrag zwischen Schweden und den Niederlanden kam wirklich zu Stande, und schon am 20. April 1526 konnte Gustav Wasa, wie Geijer aus dem Reichsarchiv meldet, an Land und Städte tröstend schreiben, es seien holländische Schiffe mit Salz, Tuch, Wein und andern Waaren in Stockholm ange- langt, das Volk möge guten Muthes sein, allmählig werde die Theuerung aufhören. Sehr erfreulich für Land und Leute in Schweden; aber wo blieben, nach der kurzen Ewigkeit von zwei Jahren, die besiegelten Privilegien?

In die Zwischenzeit fallt der Hansatag von 1525 (7. Juli u. ff.). Lübeck tritt auf und berichtet dem weiteren Kreise der ver- bündeten Städte, wie man den eignen Nutzen und Vortheil

Allg. Zeitoebrift f. GMcUebt«. T. 184«. 18

266 Bne deui$i^ Colame und deren Abfall.

Dicht angesehen, treflliche Kosten aufgewendet, mit Herrn Ghristiern, etwan König zu Dänemark, in offenbare Fehde sich gesetzt, sammt den „Verwandten*' mit des Allmächtigen Hülfe mit gewaltiger Hand Jenem gewehrt, wie man- Mühe und Verlust von Fürsten und Herren, als welche den Städten allezeit nachstellen (persequeren) vermuthen und erwar- ten müsse wie man deshalb zu wissen begehre, wessen man zu den Städten sich zu versehen habe. Ob man erst- lich Über Erstattung der Kosten reden, oder zuvor die er- langten Privilegien hören wolle? Bremen bemerkt: bei ihnen zu Hause werden die Einkünfte nicht vom Bath allein, son- dern auch mit durch Etliche von der Gemeinde, ausserhalb des Ralhes, in Macht und Bewahrung gehalten sie bitten daher um Copie der Privilegien, den Kaufmann damit zu er- freuen. *) Danzig: wer der Privilegien zu gemessen denke, der habe auch mit .,zu leiden/^ Colberg: auch die Abwesen- den müssten taxirt werden. Im selben Sinn hatte Lübeck schon erinnert, der Beschluss sei den Ausgebliebenen zu übersenden; wenn sie Bundesglieder (ladematen) sein wollten, müssten sie thun, was Bundesglieder scWdig; sonst können sie des Schutzes der gemeinsamen Privilegien nicht iheilhaftig sein. Die Sendboten zweifeln sämmtlich nicht, ihre Aeltesten (soviel sie auch alle gethan und gelitten, so schwer es ihnen fallen möge) werden sich billig finden lassen. Wer sich mit hansischen Acten aus diesem , und aus früheren Jahrhunderten beschäftigt hat, der weiss, wie es mit dem Kostenpunkt abzulaufen pOegle. Lübeck, etwa mit den wendischen Städten zusammen, machte die ausserordent- liebsten Anstrengungen*, an Ersatz, nach billigem Maassstab, war nicht leicht zu denken. Ist's nun ein Wunder, oder ist es gross zu tadeln, wenn auch der Genuss der werth voll- sten Privilegien auf den engsten Kreis beschränkt blieb?

*) Den Czedei der unkost, den Lübeck vorgelegt, haben die bremischen Sendboten nicht für nöthig erachtet, ihrem Bericht einzuverleiben. Die Lücke ist nicht für uns allein schmerzlich; sie vcrhiess wenig Gutes für die Beiheiligung Bremens an der Wieder- erstattung.

£ifi6 deutsche Colome und deren Abfall, 267

Die folgende Discassion wird zeigen, dass selbst Danzig dem Argwohn verfiel, dass es sich wieder isoliren wolle«

Lübeck bespricht die Verhältnisse in Dänemark > die Räthe des Reiches seien ganz undankbar: wenn ferneres Gezanke mit Dänemark entstehe, so müsse Lübeck in der That wissen, wessen es, weg^n seiner Unkosten, zu den Städten sich zu versehen habe? Bremen räth zum Frieden: es seien eben die Menschen, nach dem Worte Davidis, wan- delbar. Danzig hält dem grossen Verstand des ehrbaren Rathes zu Lübeck eine Lobrede um daran die Über- raschende Mittheilung zu knüpfen : ihre Aeltesten hätten sich wenig um die Sache gekümmert, es habe in ihrem Vermögen nicht gestanden, ihre Bürger seien unwillig und ungehorsam; zudem seien immer noch etliche Beschwerdepunkte (ge* breke) zwischen dem ehrbaren Rath zu Lübeck und ihren Aeltesten. Mao sieht, Danzig ermattet auf der Bahn der ungewohnten Anstrengung; auch dies enger geschlungene Bündniss erschlafTl. Um indessen die Bundestreue (die noch nicht in Zweifel gezogen war) zu beweisen, heisst es weiter: Severin Norby (der kühne Abenteurer, recht eigentlich ein Meer wunder des sechszehnten Jahrhunderts, Übrigens un- ter allem Wechsel des Geschickes dem entthronten Christiern unverbrüchlich zugethan) Severin Norby habe den Danzigern Gothland angetragen, wenn sie ihn schützen wollten, Danzig aber habe das Anerbieten ausgeschlagen. Diese Probe von Uneigennützigkeit entwaffnet nicht den Verdacht, den Lübeck in die Bemerkung legt: Danzig habe mit den Holländern in Besonderheit, vielleicht der Segellation und andrer gemeinen Sachen wegen Unterhandlung gepflogen. Danzig erwidert sehr kühl: der holländische Handel sei nicht das gemeine Beste belangend.

Von jetzt an sehen wir Danzig den Bestrebungen ent- fremdet, die es im Verein mit Lübeck entwickelt hatte: bald genug wird auch Lübeck der Rücksicht auf die Interessen Danzigs sich gänzlich entschlagen.

Wie das Verhältniss zu Dänemark sich stellt, hat schon die Klage über den Undank der Reichsräthe gezeigt. Severin

18*

268 Eine deui$ehe Colonie und deren Ab faU.

Norby, der gemeinsame Feind, werde von dem Reichsralb, Herrn Andreas Bilde, „in seiner Untreue verhärlel.^^ Stral- sund sagt gradezu, er werde von Dänemark „gebandhabei/^ bänische Gesandte erscheinen auf dem Hansatage: Wulf I'oggewisch, und Hinrich Ranzau, der Amtmann von Rends«- bürg. Sie erzählen, und machen offenbar ihrem König ein Verdienst daraus, wie sich königliche Majestät, dem gemeinen Besten zu Gut, zur Erhaltung der Privilegien kaiserlicher und andrer Hansestädte, und um das unchristliche, harte, geschwinde Vornehmen Herrn Ghrislierns, etwan Königes zu Dänemark, zu stillen und zu kränken, in seiner könig« liehen Würden alten, betagten*) Jahren und Zeiten in eine offenbare, nimmer endende (unsterfflicke) Fehde begeben. Unangesehen nun, dass Herr Ghristiern mit treflflichen, grossen, mächtigen Kaisern und Königen verschwägert und besippet, und von grossem Anhang, wollten sich seine königlichen Würden zu Erhaltung gemeiner Wohlfahrt mit den obenge- dachten Städten gerne zu einem Bündniss und Vertrag ver- einigen: die Räthe mögen es an ihre Aeltesten berichten (thorugge draghen).

Das neu angetragene Bündniss wird, ohne Debatte, ad referendum genommen.

Endlich erscheinen noch Gesandte von der Statthallerin der Niederlande und dta Staaten von Holland, Seeland und Friesland. Sie werden mit Vorwürfen empfangen: in Kopen- hagen, ruft Lübeck ihnen entgegen, sei jüngst verabschiedet, dass man Herrn Ghristiern aus den vorbenannten Landen keine Hülfe thun solle; wie dem nachgekommen, sei offen- bar. Der Rentmeister von Seeland habe Vorschuss für Knyp- hoffs Gallion bezahlt, u. s. w. Knyphoff war Einer von Denen, die in Christierns Interesse den Hansen und den Dänen das Heer unsicher machten; er suchte mit Norby sich zu vereinigen, ward aber später von Hamburgern ge-

*) Zu wissen dient, dass Friederich eben damals im 55. Jahr seines Altera stand.

Eine deui$che Colome und deren Abfall. 269

fangen und als gemeiner Seeräuber gerichtet*). Die nieder* ländischen Gesandten haben einen schweren Stand. Doctoir Hermann Suderhusen bringt die Entschuldigung seiner guten Frauen Margaretben- vor: Alles, was also geschehn, sei ohne ihrer Gnaden Wissen und Willen; die Gallion sei in der Meinung erkauft, dass Herr Ghristiern damit in His- panien segeln sollte. Sein College Bopard ergänzt, ein an- dres von Enyphoff's Schiffen, der ,Jlegende geyst von Amstelredam^^ (siehe da das Original des fliegenden Hol- länders) sei vor zwei Jahren schon verkauft. Lübeck findet die Entschuldigung nicht ehrhaftig; der Bürgermeister Sals- berg von Hamburg versichert, in Briefen sei gelesen, dass Knyphoff von Frauen Margarethen und Herrn Ghristiern Markbriefe**) haben solle. Was Frau Margaretha anlangt, so wollen wir gern zu ihrer Ehre glauben, dass ein Irrthum obwaltet; dass in Bezug auf Chrisliern (trotz dessen Ab- leugnen) der Bürgermeister nur zu sehr Recht hat, ist durch Altmeyer erwiesen. Sehr glaublich ist, dass die Holländer mit der Ausrüstung von Kaperschiffen in ihren Häfen ernst- lich unzufrieden waren. Das dynastische Interesse war ihnen Nichts, das Handelsinteresse Alles. Und Über das letztere das hatte die Erfahrung bereits gelehrt konnte man mit dem sinnigen Friedrich mindestens eben so leicht sich verständigen, als mit dem unsinnigen Ghristiern.

Das Jahr vorher nämlich war eine stattliche Zusammen'' kunft in Hamburg gewesen von Sendboten vieler gekrönten Häupter (selbst der heilige Vater hatte den Bischof von Ratze- burg geschickt); die sollten entscheiden, ob Friederich das Reich Dänemark mit Recht oder mit Unrecht innehabe. Ver- mittelungsversuche zwischen Friederich und Ghristiern wur- den gemacht; aber der Gongress lief ganz fruchtlos ab. Nur Eins ist bei dieser Gelegenheit beschafft: die Dänen verstau-

*) Ueber Knyphoff s. Lappenberg in derZeitschr. d. Vereins für hamb. Gescb, 2, 118-140.

**) Stehlbriefe Stelbreue nannte sie das unverfälschte völkerrechtliche Bewusslsein jener Zeit.

270 Eine deutsche Colonie und deren ÄbfalL

digten sich nämlich mit den Niederländern , dass die Letz^ leren im Oeresund ihrer Segellalion sich gebrauchen mögen, unbeschadet dem Zollrecht der dänischen Krone , und unler der Bedingung, dass sie Ghristiern nicht stäri^en, und gegen das Reich nichts Feindliches unternehmen solHen*).

Das war nun der Erfolg von LUbccI^s Mühen. Wozu denn hatte man einen König entthront, und zwei Könige eingesetzt, wenn die Niederländer dennoch durch den Sund fahren sollten?

Der Hansatag von 1530 (zu Himmelfahrt) bietet wenig oder Nichts Air unsern Zweck. Den Grund erräth man; Lü- beck hatte keine Mittheilungen über eine Angelegenheit zu machen, für ^welche die Uebrigen zu keiner Anstrengung sich entschhessen konnten. Es wird in Bezug auf Däne- mark nur angezeigt, es sei ein Brief von König Friederieh eingelaufen, man möge auf Johannis einen Tag zu Kopen- hagen beschicken. Stralsund bemerkt, das werde nicht viel helfen, „man wisse wohl, ein Jeder sei König". Danzig hat, fast möchte man glauben, absichtlich, nur durch einen Syu- dicus und einen Secretair sich vertreten lassen. Da es nur Gebrauch ist, Rathspersonen Sitz und Stimme zu bewil- ligen, so wird beschlossen, den Syndicus, wiewohl derselbe nicht ungeschickt, nicht zuzulassen, sondern nur anzuhören, was er etwan anzubringen hätte. Reval und Riga sind entschuldigt.

Dagegen liegt im lUbecker Archiv eine Instruction für Herrn Herman Plönnies und Herrn Joachim Gercken, Bür- germeister, als Abgesandte der wendischen Städte zu einer Tagfahrt mit den Niederländern, die in Bremen auf Maria Heimsuchung (2. Juli) 1530 anberaumt war. Wenn man zum ewigen Frieden kommen kann , so ist man geneigt, Schaden gegen Schaden aufgehn zu lassen^ und alsdann kann davon die Rede werden, dass aus den Hauptstädten der Wasser-

*) Hrilfeld 1269 ist dafür unser einziger Gewährsroconn. Nä- heren Aufscbluss bot ohne Zweifei das bamburgischo Archiv vor dem grossen Brande.

Eine deutsche Colotne und deren AhfoiL 271

lande, aber auch nur aus diesen, in die Oslsee gesegelt werde *).

Die Tagfahrt ist gehalten worden, und eine summariq^ Vernotulinge enthält den Bericht. Den Holländern ward vorgestellt, sie seien mit kaiserJichem Mandat (noch zu Kaiser Maximilians Zeit) aufgefordert, auch durch Schrift eines ehr- baren Rathes zu Lübeck aufs Freundlichste gewarnt (ge- warschuwet), sich der Segellation durch den Oeresund zu enthalten. Die Antvyort zeigt uns die Holländer in ihrem eigensten Element. . ,, Kaiser Maximilian habe das Mandat als ein Kaiser gegeben, und sie wären seiner Majestät nicht unterworfen gewesen als einem Kaiser, wie sie auch jetzige kaiserliche Majestät als einen Kaiser für ihren Herrn nicht erkennten". Es braucht kaum gesagt zu werden, dass die Sache „ohne Frucht abgegangen".

War denn nun auch Lübeck selbst ermattet? Nach der grossen Concession, die des Friedens wegen die Abgesandten anzubieten beauftragt waren, möchte man es fast glauben. Aber in Lübeck führte eine Volksbewegung (es war die Zeit der Reformation) eine andre Partei ans Ruder; und der König von Dänemark, von einer neuen Gefahr bedroht, suchte wiederum Hülfe bei Lübeck. Hamburg. * Prof. Wurm.

*) Item wo man thom ewigen Frede mochte kamen is man genagt, schaden tagen schaden afTloslande und alsdenne tho be- sprekan, de Zegelatie in der Ostze vth den waterlanden nicht tho donde, den vth den howetsteden.

(Fortsetzung und Schluss in einem spatern Heft.)

272 Aniiquit^ de Bei- Air, prds LauMtme,

Antiqnitte de Bei -Air, prte Lausanne, de Hordendorf^ prte ingsbonrg et de Lens, dana le dipartement du Pa8•d^Galai8.

Au miiien des aotiquit^s qu'oo d^ouvre eo si graod nombr» de DOS jours, il en est quelques -unes qui, apr^s avoir M n^li- g^es pendant assez long temps, viennent eofiu d'aitirer rattention, de plusieurs archöologues. Ce o'est ni Tart classlque, dont Ics restes sout k juste tftre recoeillis avec tant de sorns, ni la simp?i- cit^ et la rudesse des temps priinitifs qui les distinguent. Des 61^ mens de civilisations diverses, cooime nous le verrons plus tard, caract^risent ces d^bris sur l'origine desquels ont ^16 ömises des opinioDs fort differentes. Si nous revenons sur ce sujet^ du reste encore peu connu, c'est que nous sommes en possession de faits, propres k apporter quelque jour dans la discussion , et que nous ferons connailre en d^crivant les antiquit^ de Bei -Air, Nous ajouterons anssi la description de Celles de Nordendorf et Leus, afin de donner une idee exacte de ces restes, provenant essen- tieliemenl d'anciens tombeaux.

Depuis plusieurs annees, on trouvait ^a et \k dans la Suisse occidentale des d^brls d'armure qo'on attribuait tantdt aux Geltes, aux Romains ou aux Sarrasins, quand arriva, au printemps de 183S, la decouverte d'un vaste cimeti^re, dans le domaine de Bei- Air, pres Cbeseaux sur Lausanne. Des fouilies faites avec soin ne tard^rent pas k montrer que plusieurs g6n^rations d'hommes avaient eii inhum^es dans ce Heu, comme i'indique entr'autres la superposilion de trois coucbes de tombeaux. A une profondeur de 6 pieds depuis la surface du sol, reposaient des squelettes nombreux, qui formaient des alignemens plus ou moins r^ullers. Ce fut Sans doute lorsque l'enceinte consacr^e eut ^ii remplie, qu'on d^posa au dessus des anciens tombeaux une seconde couche, profonde de 4 ä 5 pieds. Enfin, ä 2 ou 3 pieds de profondeur seulement, uue troisi^me couche donne Tage le plus r^ent de ces inhumations, mais encore ces derniers sarcophages, coustruits pour la plupart en dalles brutes, furent-ils souvent rouverts afin d'y placer un mortnouveau, ainsi qu'on peut s'en convaincre par les d^bris de squelettes humains jetös p^le-m^le dans un coin de la tombe.

Dien que ces fouilles ne soient pas encore acbev^es, et que les agriculteurs aient boulevers6 un nombre cpnsid^rable de ces tombeaux, ä la fin du si^cle passö et au commencement de celui- ci, le nombre de ceux qui ont ete ouverts depuis 1838 s'^t^ve

de Nordendorf, prh$ Augeboürg eic, 273

k 246*). Quoiqae les objeU trouves ä travers ces diff^renles coQches r^v^lenl un möme art, ils t^moignent cependani du deve- loppement graduel de la civilisation chez le peuple dont dous poss^doDS ces restes. Ce sont entr'aulres des armes, des agrafes, des boucles, d«s bagues, des Colliers, des vases, des m^dailles ei d'aulres objets en m^tal, en terre cuite ou eD verre.

Les armes, lootes en fer sauf Irois pointes de flache dont deux en silex et une en os, consistenl surtout en coutelas, longs de 20 ä 25 pouces, qui se distinguent des anciennes ^p^es en bronze par la longueur de leur poignöe, rev^tue autrefois de bois, et par la largeor de leur iame, trancbaute d*un seul c6l6 et ter- mio^e en pointe. Ils reposent ordinairement le long du femur droit sur la Iame beaucoup plus petite d'un couteaU; dont la gaine a du ^tre annex6e au fourreau du coutelas.

Souvent on Irouve, k la hauteur de la ceinture, une petite boucle de fer ou de bronze, d'une forme ovale ou carr^e et munie d'un fort ardillon. Gbez le guerrier, une grande ägrafe repose en outre sur le c6t6 droit du bassin et est accompagn^e de plaques, ornemens du ceinturon. Montfaucon, dans son Histoire de la mo- narcbie fran<^aise**), donne le dessin d'une ancienne repr^sentation de Charlemagne, qui explique parfaitement l'usage de ces pieces et montre que la petite boucle appartenait ä In ceinture destin^e ä resserrer les v^temens' au bas de la taille, tanüisque l'agrafe re- tei)ait le ceinturon de l'öp^e fix6 en dessous des banches. D'an- ciennes statues de Chevaliers prösentent encore le m^me fait, comme on peut s'en convaincre en visitant les cath^drales de Bäle et Fribourg en Brisgau. Ces agrafes***), partie importanle de nos decouvertes, sont compos^es d'une plaque, d'une boucle, d'un ardillon et du lien qui unit ces trois pieces. Les plaques, dont les plus grandes ont jusqu'ä 5 pouces de long sur 3 de large, lo plus souvent carrees ou triangulaires, sont ornees dans leurs angles de rosettes ou tdtes de clous, qui pr^entent en dessous

*) Voir notre Description de 4 6S de ces tombeaux , accompagode de 7 planches gr. 4to, daos les „llUttieilungea der Antiquarischen Gesell- schaft in Zürich. 4. Band. 1844/'

**) Tome 1. Fl. XXV. fig. 8.

***) U Importe de ne pas confondre la boucle, Tagrafe et la fibule. Par boucle nous entendons tout anneau rond, carrö ou ovale, muni d'un ardillon. L'agrafe, outre la boucle h ardillon, possäde une plaque deslinöe ä ötre flxöe sur I'une des extr^mil^s du ceintaron. La fibule, dont les formes varieut ä Tinflni, se distingue des pieces prdcödeiites en ce que l'ardillou est remplacö par une öpingle ä cbarniöre ou ä ressort dont Textrömitö acör^e, apr^s avoir saisi le vdtement, se fixe k un tenon. La fibule n'est gu^re autre chose que la broche qui sert encore uujourd'hui d^omement.

274 AntiquUi$ de Bei ^ Air, pr^ Lausanne^

de forts tenons destin^ ä entrer dans le cuir du ceinturou. Des ciselures profondes recouvrent las agräfes en bronre qui sembleDt parfois rappeler, par les sujels graves d'une main inhabile, des el^mens du culte de Mithra, dont plusieurs contröes de TEurope prösentent tant de traces. D'aulrefois c'est une syrubolique chrö- tienoe, le triorophe du Chmlianisme, qu'il faut voir par les sujets du proph^te Daniel dans la fosse aux iions et par l'aUilude d'hommes priant devant la crotx et tournant le dos k des esp^ces de griffons*). Plusieurs des agrares en fer ofTrent un genre d'art ötranger ä Tan- tiquile classique par leurs incruslations de lamelies d'argent ou de ßlets de metaux precieux d'une finessc extreme**), formant des entrelacs divers sur le milieu de la plaque, et disposes pour les encadremens, en lignes drpites, paralleles, obliques ou brisees, L'oxidation, qui recouvre ordinairement une partie de ces dessins, pourrait faire croire au premier coup d'oeil que ces traits 6pars qui se rencontreut et se croisent en sous divers appariiennent ä quelqu' aiphabet ignor6 ou ä quelques chiffres magiques dont le sens nous estinconnu, mais en y regardant de plus pr^s et en enlevant 16görement Toxidatiön qui recouvre le prolongement des filets et la symötrie generale de ces incrustations on peut se con- vaincre qu'il n'est queslion ni de leltres, ni de magie***). Plusieurs Plaques sans boucle, ni ardillon, etaient, comme nous l'avons dit, des ornemens de ccinturon, et entouraient parfois la taille du guerrier, ainsi qu'on peut s'en con vaincre par la position de quel- ques unes de ces pi^ces sous le bassin du squeleltef).

Les bagues sont de fer, de bronze ou d'argent, et munies d'un chaton. ~ Des grains eu 6mail, en terre cuite, en verre de

*) Uoe do ces plagues porte l'inscnption: NASVALDVS NANSA VIVAT DEO. VTERE FELEX. DANINIL. Voir. les dessins de ces pidces dans nolre Description des bracelets et agrafes antiques du Ganton de Vaud, ins6r6o dans le „Zeitschrift der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich. 3. Ben. 4 849/'

**) Nous disons que ces filets ont 6tö incrustös, et non fondus comme on Ta avancö, ce dont il est du resto facile de se con vaincre en examinant ces pieces uvec soin. 11 serait dailleurs impossible de couler ces filels dont quelques -uns ont la t^nuitö du cheveu le plus fln«

***) Mr. Matthias Koch dans son „Aufklärung über die Sclilacht zu Fridolfing durch die neuesten antiquarischen Funde 'S ins^rö dans r,, Oberbayrisches Archiv für vaterländische Geschichte, herausgegeben von dem historischen Verein von und für Oberbayern, sechster Rand. I. Heft'', a cru reconnallre des letires dans ces traits qui, s'ils n'eussent pas M interrompus pur l'oxidation, lui auraient montrö lout simplement des ornemens sym^triques.

t) Dans l'article que nous venons de cilor Hr. M. Koch pr6lend que ces piaques et agrafes ötaient des talismans fixös sur les bouciiers. Nous ignorons sMl a vu des boncliers avec de telles pioces, mais ce que nous savons bien, c'est que le Kunstmuseum de Copenhague renferme une ceiDture en cuir, postörleuro ä rintroduction du Christianisme en Da-

de Nordendorf, pr^ Augebawrg eie. 275

cooieur ou en ambre composent les Colliers, diff^rens aiasi du Collier primitif, form^ d'uoe senle pi^ce de m^ial, avec lequel on trouve ordinairement les bracelets et m^tne les anneaux de jambes, genre d'ornemenl absolument ^trangcr ä nos tombeaux.

Le plus souvcnt, c'^tait aux pieds du inort qu'on d^posail le vase sepuJcral, dont la forn>e et les ornemens ne sont pas sans rapport avec ceax qa'on decouvre dans les tumuli. L'argile grise et jaunätre de ces vases est loin d'atteindre la finesse de la poterie romaine. lls sont ^vas^s au sommet, ä moins qu'ils ne portent une anse et un goulot. Ceux en pierre ollaire, travaitl6s au lour, represenlent un cöne Ironque renverse; et deux en verre ont la forme d'une petite bouteille et d'une coupe arrondie k sa base.

Ces tombeaux renfermaient en outre un coutre de charrue d^une forme analogue ä ceux dont on se sert de nos jours dans cette contree , un Operon en fu sans motette, des ciseaux ä rcssort, des peignes en os, des ornemens de fourreau, des clefs, une fl- bule, une petite mosaique d'emaux sur bronze dor^, des boucles d'oreilles, un croissant en argen t^ des verroteries, des silex in- formes et un fragment de quarz.

Tels sont les debris qui caract^risent la döcouverle de Bei- Air, mais ii est ä r^marquer que, soit pour Part, soft pour le nombre des objets, ils suivent une marcbe ascendante, ensorte que les tombeaux les moins anciens sont les plus riches et les plus ornös. Dans la couche införieure, ce sont les boucles en bronzo qui predominent. tandisqne les coutelas, les agrafes et les Colliers y sont rares. La couche moyenne, se trouvaient deux me- dailles romaines malheureusement frustes, offre döjä un per- feolionnement sensible dans le travail et Tornementation des objets. Et la couche superieure, qui reproduit tous l6s d^bris prec^dens, renfermait au milieu des pi^ces les plus remarquabies quelques moyen-bronzes romains, dont l'un est de Maxime, et deux bagues portant des caract^res gravis sur le chaton. La seulement, se rencontrent les vases et les damasquinures ou incrustations de filels d'argent sur le fer. Enfin, dans Tun des tombeaux les moins anciens, presque ä fleur de ierre, et qui reposait immediatement sur deux autres, elaient dix monnaies de Charlemagne.

Enfans, jeunes gens, femraes, guerrlers, vieillards ont 6t6 coucbes dans ce vaste cimetiere. Sur le sein d'une jeune mere, reposaienl les restes d'un enfaut. Sur la (^te d'une jeune fille,

nemarc, parfatlemenl cooserv6e et roonio d'une agrafe et d'une plaque d'une forme toute pareüle ä Celles que nous poss^dons. Nous ne com«- prenons dailleurs pas comment ces piaques, si elles appartenaient ä des boudiers, pourraient se retrouver dans le möme sarcophage, les unes sur le bassin et les autrea( entre le squelelte et le fond de Ja tombe.

276 Aniiquit^s de Bei- Air ^ pris Lausanme,

des brillaos et des flijgranes paraissaieni Ätre les döbris d'une couronoe. Les objets prös du mort diseot parfois sa profession et les regrets qtii l'ont accompago^. Le vieillard, dont la t^cbe est regardöe comme accompiie, offre g^D^ralement moins de (ö- moigDages de deuil. Des crAnes porlent des traces de blessures; des ossemens monlreot des fractures r^duites du vivant de rindi* vidu. Deux sarcopbages nous ont m^me pr^enlö deux cas de letbargie par raltitude des squelettes, qui indiquait d'ioutües efforts pour se dögager de la tonibe*). En un mot, toute une peinlure de la \ie nous est rövöljse par ces toinbeaux.

Une döcouverte importante daos la question qui nous occupe est Celle qui a eu Heu, sur la fio de 1843, ä Nordendorf, pr&s d'Augsbourg**). Les tombeaux, döposös par alignemens r^guliers, renfermaient ä c6te d^ossemens d^hommes, de femmes et d'enfaus, des objets d'un grand rapport, soit avec les antiquil^s de Bei- Air, soit avec Celles decouvertes dans des cimeliöres analogues de la Suisse occidentale. Un trait caract^ristique des armes offensives trouvöes prds d'Augsbourg, c*est qu'elles sont aussi toutes en fer et que le bronze n'est employ^ que pour des ornemens et usten- siles particuliers. A part les coutelas, les petites lames et les debris de fourreaux, dont la description que nous avons donnee repond parfaitement ä ceux de Nordendorf, on y a trouve de nombreux fers de flache et de lance et des epöes k deux tran- chans, de 3 pieds de long sur 2^ pouces de large, pareilles ä Celles de Lavigny, Lonay et Severi, dans le canton de Vaud. Nordeudorf poss^de en outre, comme debris d'armes defensives, trois um bonos en fer«

Les pelites boucles de ceinture et les grandes agrafes en fer du cimeti^re bavarois sont surtout importantes dans ce rappro* chemenL M6me genre de ciselures sur bronze, seulement dies ne sont pas employ6es ä des sojels religieux; m^me incrustation

*) Au milieu de la position göndrale des squelettes, couchös sur le dos, les bras röguli^reroent ^tendus le long des c6l68, ceux dont nous parlons ötaient remarqUables par leur altitude« L'un entr^aulres, ayant les jambes un peu reploy^es, s'appuyail des genoux et des pieds conlte les parois de la tombe , comme sMl eül voulu les faire cöder. L'öpine dorsale contoumöe semblait indiquer un effort; la main gaucbe reposait sur la poitrine; la droile apres s'^tre ^lev^e contro le couvercle ötait retomböe sur la partie sup^rieure de Tbumerus ; et la töle Mali inclin^e sur Töpaule gaucbe. Gelte attitude avait quelque chose de si frappant que des enfans, qui croyaient ne pas öire enlendus, direnl en voyant le squelette: „Tiens, regarde, U a rebougö!^'

**) Outre les noles prises sur les lieux, nous recourons ä la De- scription dölaill^e de ces tombeaux par JIr. V. R., insör^e dans le ,;Jabr8- Beriebt des bistoriscben Vereins für den Reglerungs-Bezirk voa Scbwabea und Neuburg. -^ Für die Jabre 4 8 4S 4 843''.

de Nordendarf, pr^ Augsbourg etc. 277

des filets de m^taux pr^cieux sur les piaques de fer, qooiqu'elles soieot g^B^ralement ici moins ricbes et moins nombreuses. M^oie ressemblance dans les piaques de ceintaron, dans la forme des bagues et des boucies d'oreilles.

Les fibules circulaires ou brocbes en mödaiilon, en argent ou en or, oriiees d^un c6l4 de verres de couleur formanl des especes de rosaus, et munics de Tautre d'une öpiogle ä charni^re et d'un tenon, sont des pi6ces que nos tombeaux de la Suisse occideDtale ne reproduisent pas avec la m^oie richesse. 11 en est de m^me des grandes fibules d'argenl ciselö et dor^ et des petites pi^ces en or de formes diverses, munies d'un piton et desUn^es ä ^tro suspendues.

Grande est aussi la riebesse des colliers de Nordendorf, for* m^s de grains applatis , allong^s, arrondis, cylindriques ou d'autrea formes encore. II en est en terre cuite, en ^mail, en verre blanc, vert et bleu , en nacre , en ambre, en corail marin , en am6lhyste, en verre noir ^maill^ de fleurs et en grenats tailles k facettes. Dans le nombre des m^dailles romaines qui ont öle trouvöes et appartlennent entr'autres aux empereurs Trajan, Adrieu et Con- stantin, quelques unes^ percees d'un trou, faisaient partie des colliers.

Les vases d'argile sont göneralement plus grands que ceux de Bei -Air, mais de formes moins variöes. Enfin, ciseaux k ressort, peigues en os, eperons sans molette, clefs, silex bruts, petits anneaux de bronze et de fer sont communs aux deux de* couvertes. D*entre ces anneaux de Nordendorf, une seule pi^ce, brisee en deux, est indiquöe sous le nom de bracelet. Nous de- vons encore mentionner pour complöter ce tableau, de longues öpingles en bronze, des disques ä jour, des coquillages et deux obaines, composöes cbacune de trois cbainettes, pareilles ä Celles qu'on voil dans la coUection de Mr. Gh« Bahr, äDresde, au milieu d'autres objets trouvös en Livonie*).

Si nous ajoutons ä notre rapprochement des deux cimeti^res precedens la döcouverte archöologique falle ä Leus, dans le d6- partement.du Pas-de*Calais, c'est afin d'ötendre le champ de ces recberchßs et d'introduire un nouvel ölöment qui nous parait propre ä ^lairer la discussion. Mr. le conseiller Uoubigant nous ecrit de Nogent-les-Vierges qu'on trouve dans les ecvirons de Leus des coutelas, des boucies et des piaques (c'est-ädire les objets caracteristiques de nos antiquitös) semblables ä ceux des tombeaux de Bei -Air, „mais ce qui distingue vos säpultures des Dötres, ajoute-t-il, c'est que vous trouvez de longues öpöes, tan-

*) Le possessear de celte interessante coUection, produit de ses fouilles, pense qua ces piöces ne remontent pas au delä du 40me si^cle.

278 Antiqmt^ de Bei ^ Air ^ pr^ Lausanne,

disqne nous n'cn trouvons jamais , c'est que nous trouvons lou- jours des haches en fcr (Trancisques), semblabtes k celle du tom-

beau de Tournay, tandisque vous n'en Irouvez pas Les

antiquiles de Leus, au milieu desquelles sont des verroteries nombreuses onchass6es dans de Tor, appartiennent k Part Gallo- romain, ou plul6t Gallo -byzantin des rois de ia premi^re ^ace*^

Mainlenanl que nous avons d^lermin^ par les descripllons pr^cödentes ie genre d*antiqui(^s sur lequel nous d^sirons attirer Pattention, abordons Ia question historique relative an peuple et k Tepoque auxquels appartiennent ces d^brts.

Plusieurs arch^ologues attribuent uniquement aux Celtes tous les roonumens anaiogues ä ceux de Bei- Air, Nordendorf et Leus. Celui qui k notre connaissance s'est exprim^ Ie ^plus exclusivement k cet 6gard, est Mr. M. K. dans son article de Ia Gazelle univer- selle d'Augsbourg, du 20. janvier 1845. Les Celles (slreitmeissel), fibules, bracelets, anneaux de jambes, 6p^es et poignards de bronze et de fer se retrouvaut, dit-il, pr^s de Salzbourg, dans des tom- beaux des localites voisines, pareils k ceux de Nordendorf, et dans les collections de province de Ia Bavi6re et du midi de PAutriche, ainsi que dans les ouvrages de Dorow, Klemm, Wagner et des arcb^ologues anglais, il en conclut que ces d^bris de Nordendorf n'appartlenuent pas seulement aux environs de Salzbourg et ä Ia Baviere, mais encore au nord de TAllemagne, k Ia Scandinavie, k TEcosse, k Ia principautö de Galles et k l'lrlande. Arriv^ k celte conclusion, il essaie de montrer que les Germains, n'ayant jamais p6netr6 dans ces derniers pays, ne peuvent dlre Ie peuple du- quel proviennent ces restes. Dailleurs il ne voit, d'entre les po- pulations ^trang^res k Ia culture classique, que les Celles qui aient ^le capables par leurs connaissances m^tallurgiques de produire de lels objels d'art, tandisque les Germains, longtemps contens des armes en pierre et ne les ayant changees qu'assez tard contre Celles de fer, ^laient toul-äfait ötrangers ä cette culture.

L'une des erreurs fondamentales de celle maniöre de voir est Ia confusion Evidente des deux genres d'anliquil^s , bien distiucts, röunis dans Ia m^me Enumeration. Les celtes, les Ep^es de bronze, les bracelets et les anneaux de jambes, auxquels on peut ajouler les Colliers massifs et les cercles de melal en forme de diad^mes döposös sur Ia t^le, sont pr^cisement les pi6ces que nous n'avons jamais relrouv6es dans aucun des 246 sarcophages de Bei- Air, mais que nous avons rencontr^es dans une foule de cimeli6res plus anciens, n'etaient en revanche ni coulelas de fer, ni agrafes damasquinöes. C'est que ces anneaux caracterisent en effet en France, en Suisse, en Allemagne et dans Ie Nord, les antiquiles des Celtes et d'autres' peuples arrivös k un degrö de

de Nordendorf, prH Augtbourg etc, 279

culture analogue, avant d'avoir öprouv6 i'influence des Romaios et du Cbrislianisme, A celte epoque r6cul^e, un grand nombre d'objets sont simplemenl jeles eo moule et non forges; la gravure dont ils sont ornös s'expriine par des rayures fines, peu profondes, predominent d'abord la ligne droile, les disques et quelques sujets qui revelent l'eufaDce de Tart; plus tard, ce sont des courbes diverses, des entrelacs et les serpeiitemens bien coniius des der- niers temps payens de la Scandinavie. Le contenu des tombeaux de fiel -Air indique un usage moins fr^quent du moule; la ciselure sur bronze ne ressemble plus ä ce fin tatouage, mais est grav^e en trails larges et profonds; on n'y voit plus Tancienne Image du vaisseau, mais des figures representant des sujets chretiens; enfin rincrustation des filels d'argent sur le Ter est un fait tout nouveau. De ce quo des sarcophages de localites voisines ont produit la damasquinure et raoneau grave ä la raani^re des Geltes ^ oa ne peut nullement en conclure avec certitude qu'ils apparliennent ä la memo epoque. 11 est plus d'une contr^eoü le pass^ a döpos^ necessivemeot ses debris dans un memelieu, et nous connaissons plus d'un temple chretien dont les fondemens reposent sur des conslructions romaines*). A plus forte raison, la r^union de ces pieces diOerentes dans les musees mentionn^s n'a-t<elle d'autre valeur que de montrer les divers debris arch^ologiques de la contröe**).

Ce n'est que par cette confusion que nous pouvons com* prendre qu^on ait cru relrouver dans les ouvrages indiqu6s et dans les collections du nord de l'Allemagne, de la Scandinavie« de PEcosse, de la principaule de Galles et de l'Irlande, des anti- quites toutes pareilles ä Celles de Nordendorf, vu que nous n'avons rencontr6, malgrö nos recherches dirigees dans ce but, qu'un fort petit nombre de ccs pieces et qui encore s'en ^loignent loujours par quelques traits dislinctifs***). Quant ä Tabime qu'on se plait

*) Lors m^me qu^un lombeau aurait pr^sentö le celte (streit meissel)^ le bracelet ou le coUier de bronze avec l'agrafe damasquin6e et le cou- telas de fe.r, on ne pourrait y voir d'apr^s les faits gön^raux, conslans en plusieurs lieux, qu^une exc«ption et uoe survivance plus pcolongöe des anciens usages ä c6t6 d'une noavelle culture.

**) II est d'un grand prix pour ce genre de collections que les anti* quitös soient exactement class^es d'aprös les lieux de leur d^oouverte et autant que possible d'apres leur Age.

***) C'est ä Gopentiague que nous avons retrouv^ les pieces les plus analogues, mais le coutelas de fer k un tranchant et l'agrafe damasquinöe n'y sont pas du tout. Les savans arch^ologues Rafn et Thomson n^ont pas bösitö k reconnaltre dans nos monumens de Bei -Air un genre d'anti- quitös dislinct de Celles du Nord. En revanche le celte, le bracelet, le coUier massif, etc. appartiennent bien aux divers pays indiqu^s par M.

280 Antiquar de Bei ^ Air, prä$ Lausanne,

ä creuser entre les Geltes et les Germains, il noas paralt ^tre assez gratuit, bten que nous ne pensioDs poiot ä les placer ab* solument au m^me degrö de culture. On est trop souveot dis- pos6 ä faire relomber sur la civilisation d'un peupie toute Tobsca- rii6 qui Tcntoure k dos yeux par le manque de documens histo- riques. Trop souvent Von conclut aassi k cette graade inferiorit^ de la Germanie par des faits sp^ciaox, sans avoir de ses monu- mens une connaissance assez generale. Pour le moment, nous nous borneroDs ä citer les debris de Tun des peuples sortis de son sein, et qui ont ^tö retrouv^s ä Tournay, dans le tombeau de Cbild^ric p^re de Clovis*), döbris qui ne sont pas sans ana- logie avec ceux de Nordendorf, bien qu'ils nous paraissent indi- quer un äge un peu ant^rieur**).

Nous ne nous arröterons pas ä Topinion qui a vu dans nos antiquit^s des restes des Romains. £lles diff^rent trop de Fart g^n^ral de ces derniers et renferment trop d'ölemens ^trangers k ses productions, trop de t^moignages d^une civilisation naissante, pour n^^tre pas obiige de recourir ä un autre peupie. II snffiraii du reste d'opposer le d^veloppement progressif k travers les coucbes de Bel-Air, k ia d^gen^rescence successive de l'art romain k partir du si^cle d' Auguste. Nous nous arr^terons encore moins k röfuter Topinion de ceux qui prenant nos damasquinures pour des arabesques, les ont attribu^es aux Arabes***). Nos monumens se retrouvent dans trop de localites ceux-ci n'ont jamais p4- n^trö, pour qu'il soit nöcessaire de recourir k d'autres argumens.

A qui donc altribuer les antiquit^s qui nous occupent? A quelle ^poque la faire remonter? Les tombeaux de Bel-Air peuvent

*) J. J. Scbifflet, Anastasis Cbilderici. Montfaueoo, Histoire de la Monarchie fran^aise, T. I.

**) L'agrafe n'y präsente, par exemple, ni le döveloppement qu*elle moDtre ailieurs , ni l'incruslation des fllels d^argent.

***) Peut-6tie n*est-il pas inutile d'ajouler que, si quelques personnes ont attribuö aux Sarrazins les damasquinures de la Suisse occideutale, elles ne se sont du moins pas tromp^es en admeltanl la prösenco de ce peupie dans ce pays. Dans le 4 0me siöcle^ ils occupaient en effet la plupart des passages ölev6s des montagnes, d'oü ils ran^onnaient les Yoyageurs et faisaient de rapides incursions dans les plaines, jusqu'ä ce que Conrad, roi de Bourgogne, les d^fit en bataille rangle dans une vall^e voisine du saint Bernafd. Les Sarrazins ne reparurent plus en Helvdtle depuis la nouvelle d^faite qu'ils ^prouvörent en 973 pr^s d'Arles. -— Un marbre dans l'öglise du village de saint Pierre, en Valais, roentionne leurs ravages. Le peupie n'a pas de traditions plus nombreuses que Celles qu'ii raconte des Sarrazins. Liutprand et Frodoard attestent aussi la prösence des Arabes en Suisse. Voir en outre l'intöressant travail de Mr. le professeur Vulliemln de Lausanne sur la reine Berthe (femme de Rodolphe lU., roi de Bourgogne), et l'Histoire des Invaslons des Sarrazins par Ralnaud, Membre de l'Institut.

de Nordendorf, prhs Augsbourg etc. 281

nous mettre sur )a voJe d^une r^poDse satisfaisante. Pour cela examinons dabord les pi^ces qui servent ä d^termider ODe öpoqae. La couche moyenue et la couche sup^rieure, avoDs nous dit, ren- fermaient quelques medailles romaines, dont Tune est de Maiume, Dans celte derni^re couche , deux bagues, provenant de deux tom- beaux diff^rens, portent sur leur cbaton deux monogrammes par- faitement pareils ä ceux qu'on voit sur le revers de plusieurs monnaics merovingiennes*). Une bague avec les mSmes caracl^res a aussi ete retrouvöe ä Mons, au milieu de tiers-de-sols mörovin* glens**); et des cimeti^res de la Francbe-Comtö, du m^me genre que celui de Bei- Air, conlcnaient aussi de ces pi^ces***)* Enfin, dans un tombeau reposant imm^diatement sur deux autres et pa* raissaiüt appartenir au dernier lige de ces inbumations, ötaient pr^s du bassin du squelette dix monnaies de Cbarlemagne. Ces diff(6rentes pi^ces prouvent d'une maniöre incontestable que ces sarcophages de la Suisse occidentaie sont un peu moins auciens qu'on ne Ta souvent cruf). D'un autre c6i6, la succession des couches, la diff^rence de döcomposition des squelettes et la gra- dation sensible de l'art disent assez que les inhumations ont 6i6 poursuivies dans ce lieu durant un long espace de temps. Aussi croyons-nous ne pas nous tromper beaucoup en fixant ces limites depuis les derniers temps de la domination romaine en Helv6tie, jusqu'au neuvi^me siecle. Durant cette Periode, il n'est qu'ua seul peuple qui ait pu poursuivre paisiblement ces inbumations, et ce peuple ne peut ^tre que les Burgondes , qui s'^tablirent dans THeivetie occidentaie dans la premi^re moitid du cinqui^me si^clef f), et non les Allemani, qui n^y söjourn^rent que fort peu de temps apr6s la premi^re destruction d'Aventicum, dans le troisi^me si^cle, et n'y reparureut plus tard que par des incursions rapides. Le cimeti^re de Bel-Air est loin de präsenter un fait isole, puisque 21 autres localil^s, dans le canton deVaud, renferment les mdmes pieces qui se retrouvent aussi k NeuchAtel et dans les parties

*] Lelewel, Numismatique du moyen-dge, Vol. I. pag. 36 40. PI. lil. flg. 456.

**) Revue numismatique beige, 1849. No.l. pag. 4 45-— .4 49. pl. II. flg. 5.

***) Annnaire du Departement du Jura, 4 844. Congrös scientiflque de France, Session 8me., BesanQon 4 840. pag. 4 58. et sqq.

t) Avant nos dernidres fouilles, nous pensions aussi que les tombeaux de Bel-Air ne pouvaient provenir que des Belv6tiens sous la domination romaine, mais la ddcouverte des monnaies de Cbarlemagne, la pr^sence de ces monumens en divers lieux d^Ailemagne et de France, et une ^tude plus gdnörale de iVchäologie nous ont conduit ä la maniäre de voir ^mise dans ce travail.

tt) Es^ai sur r^tablissement des Burgondes par M. le baron de Gin- gins-la- Sarraz.

Allg. ZeiUclirift f. Geschichte. Y. 1846. 19

282 AntiquitSs de Bei -Air, prts Lausanney

occfdentales de Berne et de Solcare. Ces cimeliöres se rencon- treot en outre dans la Pranche-Corol6 et la Bourgogne en g6n6ral, ce qui he saurait confirmer Topinion de ceux qai ont regard^ nos tombeaux comme all^maniques.

Attribuerons-nous mainlenant am Bürgendes toos les monu-

mens anale gues qui ont 6t^ d^couverts dans la Suisse Orientale,

dans les contr6es que baigne le Rhin, de Bäle k Wisbaden, en

Wurtcmber^ et en Bavi^re? Loin de le faire, nous croyons que

la cause des erreurs dans lesquelles plusiears sont tomb^s, a

6tö pröcisement de vouloir accorder ä on seul penple ce qui

appartient ä plusieurs. Lorsqu'on examine de pr^s ces d^cou-

verles faites en divers pays, si Pon ne se bome pas ä les com-

parer pi^ces par pi^ces, mais qu'on les ötudie aussi dans leur

ensemble, on ne tarde pas ä apercevoir assez de rapports pour

constater un mSme genrc, et assez de traits distinctifs pour con-

clure k des penples parens. C*est alnsi que le cimetiöre d^cou-

vert par Mr. Schmidt, pr^s d*Augst (Augusta Rauracorum),

dans le canlon de Bäle, se rattache plus ä Nordendorf qu*^ Bei*

Air, malgr^ la diff^rfence d'^loignement. Äugst et Nordendorf offrent

la möme richesse de m^taux pr^cieux, de Colliers, de fibulesj

tandisque *les tombeaux de la Bourgogne se distinguent par le

nombre et la beaut^ de la damasquinure, la grandeur de leurs

agrafes et la symbolique cbr^tienne, grav^e sur le bronze. L*äge

du cimeti^re d' Äugst ne saurait s^6loigner beaucoup de celui de

Bei- Air '^). Ses sarcophages sont construits avec des marbres en-

lev^s aux ruines de la cit^ romaine. Quelquefois les morts ont

6t6 depos6s dans des bassins recouverts de dalles taill^s. D'autre-.

fois, sur des couverclcs d'une seule pi^ce, est sculptee une grande

eroix latine**). La diff^rence du contenu de ces sarcophages avec

les antiquites romaines d'Augst , les ruines utllis^es***), la pr^sence

du Chhstianisme nous fönt remouter au peuple qui s*assit dans

cette contr^e lors des invasions des premiers siöcles de notre ^re,

c'est ä-dire aux Allemani. De savans archöologues ont döjä avanc6

celte opinion pour les monumens du midi de l'Aliemagnef), et

*) Mr. Schmidt d'Aogsl noas a dit y avoir trouvö une moDDaie des rois francs de la premiöre race.

**) Ces sarcophages en pierre ne peuvent ötablir une difförence es- sentielle avec le cimetidre de Nordendorf, parceque le peuple qui les em. ploya ä ces söpuluires ne fit que les tirer des ruines d'Augusta Bau- racoruro.

*•*) Plusieurs dalles employöes pour ces tombeaux portent encore des restes d^nscriptions romalnes.

t) Voir entr'autres les arttcles de Mr. le Prof. Thiersch, dans les supplömens de la Gazette universelle d'Augsbourg, No. !«7. «8. et 28r. Janv. 4 844.

de Nordendorf, pr^ Äugsboutg eic. 283

nous la partageons pleioement, aussi long-temps qo^on ne ratend pas sur eeux de Tancienne Bourgogoe.

Apr^s C8 qui pr^c^de, il est facile de pr^voir ce qui nous resle ä dire sur las anliqoitös du departement du Pas-de Calais et Celles de m^me genre des environs de Gaen et de Versailles. Les Alteraani et les Bürgendes ne s'ötant jamais dtablis dans le nord de la Gaule, et le tombeau de Tournay servant de point de com- paraison ä ces debris, nous devons, avec Mr. Houbigant, les faire remonter aux Francs, sous les rois de la premi^re race, et les distinguer surtout des antlquit^s de la Bourgogne et du midi de rAllemagne par leurs nombreuses francisques, dont Tusage ^tait familier aux compagnons de Merov^e et de Child^ric.

L^un des points sur iequel il est iroportant d'insister, c*e$t que ces tombeaux entrent plus avant qu'on ne l'a dit dans la pre- mi^repartie du moyen-äge. Les tiers«de-sols merovingiens qui les accompagnent en France et les monnaies de Cbarlemagtie k Bei- Air ne peuvent laisser aucun doule k cet ^gard. Si les tombeaux de Nordendorf n'ont pas encore ofifert ces t^moignages irr^cusables, on n*en peut nullement conclure ä un äge beaucoup plus ancien, car les pieces carlovingiennes ne se soiit pr^sent^es ä nous qu'a- pr^s avoir ouvert plus de 200 sarcophages, qui ne nous avaient donne jusque \k que quelques medailles romaines. D'un autre c6t6, OB ne peut admettre que Tart ait fait des progr^s plus ra^ pides dans le midi de TAUemagne, que dans la France et PHel- vötie occidentale. L'^lude generale des monumens nous le dit, et si nous nous avan^onsr vers le nord, nous voyons les anciens nsages s*y prolonger d'autant plus que Pinfluence romaine s'y fit moins ressentir, et que le Ghristianisme , ce grand r^novateur des societes, y penetra k une ^poque plus tardive. Aussi, d'entre les piÄces qui nous occupeut, Celles en fort petit nombre que nous avons retrouvees dans le riebe musöe de Copenhague n^appar- tiennenl-elles qu'aux premiers temps le culte du vrai Dieu fut introduit dans le Danemarc. Ce sont des agrafes dont le travail indique la derni^re p6riode de ces anliqukes, et dont quelques unes portent sur leurs plaques en os les ciselures de sujets cbrö- tiens. L^introductlon de ces pieces en m^me temps que le Chris* tianisme, c'esl-ä-dire vers le dixi^me si^cle, montre que ieur usage deTait exister encore k cette 6poque dans d^aulres pays, et Ieur rarete peut s'expliquer en ce qu'elles furent bientdt remplac^es par une armure plus compl^te qui ne tarda pas k devenir celle du Chevalier.

En attribuant aux Burgondes, aux Allemani et aux Francs, les trois cimeti^res d^crits, nous ne pensons point epuiser la liste des peuples qui peuvent avoir produit des monumens analogues.

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284 Antiquitis de Bei ^ Air, pres Lamafme.

Ed refusant d'y reconnaitre des Geltes, nous admettons la possi- biIU6 qu*ils aient laissö des resies pareils dans teile autre contröe encore k nous inconnue. C'est que nous ne pensons pas qu'au- cun des peuples indiqa^s soH rinventeur et le possesseiir exclusif de ce genre d'antiqoil6s. Nous y voyoDS en effet moins une ia* ▼ention que le döveloppement naturel de Tart plus aocien des Geltes, des Germalos, des Scandinaves, dont les coUections ren- ferment de nombreux d^bris, et que nous avons ^tä surpris de retrouver si semblables depuis les Alpes jusqu^ä la mer du Nord, Les Bürgendes, les Alleroani et les Francs n'apport^rent certaine- ment pas avec eux, d^s leurs premi^res migrations, les pi^ces qui les caract^rlsent plus tard. Ge d^veloppemeni plus complei ne se manifeste, comme le montrent les couches de Bei -Air, qu*apres leur etablissement dans les contr^es qu'ils cboisirent de- finitivement fi^r patrie. Ge Tut surtout qu*ils subirent l'in- fluence de la ci^lKsation du midi. Mais, libres du joug de Rome, ils copi^renl biens moins Tart classique qu'ils ne le firent servir k exprimer leur goüt national, ils lui emprunterent bien moins ridee que l'ex^cution pour r^aliser ce qu'ils croyaient beau. L'ornement de dötails continua de prevaloir sur Tensemble des formes et la grkce des contours. Un goüt peii exercö et la re- cberche de rornementatton produisirent k la fois ces pieces lourdes et massives, cbargees dMncrustalions ou de gravures. Une nou- velle direction cependant fut impriD^ee ä ce d^veloppement par la puissante influence du Ghristianisme. Celui-ci dut travailier ä combattre ce qui dans Part du nord ^tait lAh^rent k la foi payenne* Peut-^tre aussi conserva-t-il plus d^nne image dont il s'appropria la signißcation*). QuoiquMI en seit,, il ne tarda pas k se cr^er sa symbolique, dont il nous reste des traits analogues dans le canton de Vaud et les catacombes de Rome. Sur les debris de l'ancieu monde, une ^re nouveile venait de s'ouvrir pour Thumanite, et avec eile une nouveile culture qui ne put ^tre inherente k un seui penple.

Les d^couvertes qui nous fönt assister ä la naissance de ce nouvel äge m^ritent Taltention de Tarch^logue et de Tbistorien. Les couches superpos^es qui nous montrent les premlers pas de notre civilisation röclament une place dans l'6tude. Les ciselures de divers sujets qui nous r^v^lent parfois des id6es dont la gran- deur n'appartient qu'au Ghristianisme, demandent qu'on rechercbe

•) C'est ce que firenl parfois les premiers chröliens, en introdaisant dans leurs lemples des allögdries «da paganisme romain, auxquelles Ils donnaient un nouveau sens conforme ä leur foi.

Angelegenheiten der historiscken Verein^. 285

le sens cach^ sous ces figures d'un travail grossier. Les lombeaux de Bei -Air et les moDumens analogues ofTrent ainsi uo nouveaa cbamp ä l*archeologie et un nouveau document ä Thistoire sur les Premiers si^cles du moyen-äge. BerliD, Avril 1845. " Fred6ric Troyon.

Angelegenheiten der historischen Vereine.

Referate.

Der Geschichlsfreund. Mittbeilungen des historischen Vereins der fünf Orte Lucern, Uri, Schwyz^ Unterwaiden und Zug, I. Bd. Erste und Zweite Lieferung« Einsiedeln 4 843 und 4 844,

Der Entwurf, die geschichtliche Aufhellung der obgenannten fünf Orte an die Thätigkeit eines selbstständigeu Vereins zu knüpfen, ist in der allgemeinen geschicbtsforschenden schweizer Gesellschaft entsprungen. Von der B^denklichkeit, hiedurch eine Zersplitterung der eignen Kräfte hervorzurufen, ward abgesehen, indem man eine fortgesetzte Theilnahme an den gemeinsamen Bestrebungen bei den Angehörigen der neuen Verbindung nicht aufgab.

Die letztere trat somit am lOlen Januar 1843 ins Leben und bezeichnete zuvörderst in den „Grundlagen des Vereins^* die Ge- biete näher, denen ihre Aufmerksamkeit zu widmen sei. Kirch- licher Seits soll auf die innere und äussere Geschichte des Bis- tbums Constanz und in politischem Betracht auf die historischen, sittlichen und rechtlichen Verhältnisse der fünf Orte das Absehen gerichtet sein. Demnächst wird ins Besondere als Hauptmittel dem Ziele treffend näher zu kommen, die Herbeischafifung archiva- lischen Stoffes zur vorzüglichsten Aufgabe der Theilnehmer er- hoben. Urkunden in weitester Ausdehnung, Chroniken und Nekro- logien sollen aus den Archiven und Bibliotheken der heimischen Pfarreien, Stifte, Klöster, Ritterhäuser, so wie aus denen zu Cou' stanz und Karlsruhe, zu Rom und Mainz und vornehmlich Oest- reichs zusammengebracht und mitgetheilt, ferner die Alterthums- künde durch Sammlung von Inschriflen , Waffen, Münzen u. dergl. aus christlicher und vorchristlicher Zeit erweitert werden.

Zudem unterzog sich ein Mitglied der Gesellschaft, J. E. Kopp, der sehr dankenswerthen Mühe, in dem Vorworte des als Probe ausgegebenen ersten Heftes der Vereinszeitschrift einige Haupt- punkte der mittelalterlichen Zustände zu beleuchten, um hieran

286 Angelegenheiten der historischen Vereine.

za gleicher Zeit belehrende Winke darüber anzulehnen , worauf der Verein innerhalb des ihm zustehenden Bezirkes sonderlich sein Augenmerk zu wenden habe. Anhebend mit der Frage über die früheste Yertheilung von Grund und fioden und dem allmahligen Uebergang desselben aus den Händen der Grafen und Freien in die der Bürger und Gemeinden, nimmt er Gelegenheit, darauf hin- zudeuten, dass die hierherbezüglichen Verhaltnisse der Grafen von Kyburg und Habsburg bisher noch unzureichend erörtert seien, berührt sodann die Stellung zum deutschen Könige, als der eigent- lichen Quelle der Freiheiten und Rechte, empGehlt der Forschung in kirchlicher Ansehung zumeist die Anfänge und Schicksale der Kirchen und Klöster, ihre innern Einrichtungen nebst ihren Be- ziehungen zu den geistlichen wie welllichen höhern Mächten und gelangt endlich zu einer Hinweisung auf die Bündnisse während der Kriege mit Oesterreich.

Hieran scbliesst er die, will uns nur scheinen, ein wenig zu ausgedehnte Aufforderung an sammtliche Mitglieder des Vereins, den herangeförderten urkundlichen Stoff in besonderen kritischen Aufsätzen zu verarbeiten, vergisst indess mit rühmlichem Bedacht die Mahnung nicht, dass dabei nicht sowohl Schmuck der Fassung, als vielmehr Gediegenheit des Inhalts zu erzielen sein möge. Es ist von der Gesellschaft, die in einer spätem Versammlung ge* Sunden Sinnes sich zu den von Kopp entwickelten Grundsätzen bekannt hat, wohl zu gewärtigen, dass sie dessen stets eingedenk bleiben und einen ungedeihlichen, Maculatur schaffenden Eifer unter sich nicht aufkommen lassen werde.

Finden wir demzufolge den Zweck der Vereinigung klar er- wogen und festgesetzt, Mittel und Wege ihn zu erreichen, deut- lich und sachgemäss angedeutet, so erhärten gleicher Weise die beiden uns vorliegenden Lieferungen des Geschichtsfreundes zur Genüge, dass der Verein seiner aufgestellten Regel auch entspre- chende Anwendung zu bieten im Stande ist.

Die vorwiegende Beachtung erwirbt sich der höchst beträcht- liche, zum Theil, wo bereits Abdrücke vorhanden oder künftighin erfolgen sollen, in Regesteuform , zum grösseren Theil jedoch mit unverkürztem Texte dargebotene Urkundenvorrath, der dem Zeit- raum vom 9len bis zum sechszehnlen Jahrhundert entnommen ist und die Anzahl von 200 wohl überschreiten mag. Er ist nach mehrfachen Gesichtspunkten gesondert und angeordnet. Zu An- fang begegnen wir I, den Reichssachen, innerhalb deren die Regesten kaiserlicher und königlicher Urkunden des Stadt- archivs zu Lucern und 6, den Reichszoll zu Fluelen angehende Stücke von einander getrennt werden; darauf sind 11, die eben- falls einige Scheidungen erfahrenden kirchlichen Sachen (unter

Angelegenheiten der historuchen Vereine. 287

denen einige Beitrage zur Geschichte der Kreuzzöge gegen die Mongolen im 13ten Jahrhundert besonders hervorgehoben za werden verdienen), nicht- minder reichlich bedacht; und schliess- lich m, Hofrechte, Stadirechte, Burg- und Landrechte, Voigtei und Lehen, Bündnisse und Urfehden, Eidge- nössisches und Oesterreichisches enthaltende Urkunden zusammengeschaart.

An dieser rücksichtlich des mitgetheilten Materials unbedingt preiswurdigen Darbringung hätten wir nur in formeller Beziehung die eben angedeuteten Theilungen derselben auszusetzen. Obschon das dem zweiten Hefte beigegebene chronologische Verzeichniss aller in beiden Lieferungen, die zusammen den ersten Band der Zeitschrift bilden, veröffentlichten Urkunden den Ueberblick der- selben für einen allgemeinern Gebrauch erleichtert; so möchte doch die Frage, ob andererseits durch die stoffliche Sonderung das da- mit beabsichtigte Ziel wahrhaft erreicht werde, sich bei näherer Würdigung kaum bejahen lassen. Unleugbar hat das Letztere seinen Bestand darin, dass eine schnelle Gesammtanschauung dessen gewonnen werde, was eine bestimmte Seite des zu erfor- schenden Gebietes in*s Licht zu setzen geeignet ist. Kann sich aber streng genommen bei der stets wechselseitigen Durchdrin- gung der geschichlUcheu Bezüge einer nicht allzu erweiterten Oertlichkeit überhaupt, und in's Besondere der Im Obigen erwähn- ten Verhältnisse, eine solche Auseinauderhaltung auch wirklich immerdar durchführen lassen? Man denke sich z. B. den Fall, dass das Reichsoberhaupt über die rechtliche Lage einer Bürger- schaft zu ihrer kirchlichen Behörde Festsetzungen treffe. Hier sind alle drei oben geschiedenen Punkte betheiligt; wo könnte dann, ohne zweien Titeln Abbruch zu thun , die Urkunde eingefügt wer- den? Ohnehin ist ja das Geschäft, das Zusammengehörige zu vereinen , an die Bearbeiter des rohen Materials gewiesen worden. Und so möchte die rein der Zeitfolge sich anschmiegende Anord- nung aller in einem Hefte abgedruckten Urkunden, anderer Vor- theile zu geschweigen , schon deswegen als die passendste zu er« achten sein, weil dabei zum Mindesten ein Bestreben aufgegeben wäre, das doch immer hinkend seinen Zweck verfehlen muss.

Eine andere gleichfalls sehr schatzbare Mittheilung des Ge- schichtsfreundes ist die des sogenannten über Heremi. Laut der Erklärung seines Herausgebers, P. Gall Morel's, hat Tschudi im Jahre 1550 von den zur Zeit in Ginsiedeln vorhandenen wichtig- sten Geschichtsdenkmalon, die 1577 durch den grossen Kloster- brand vertilgt wurden, Abschrift genommen und da im Über He- remi Tschudi^s Handzüge sich offenbar erkennen Hessen, so, scbliesst er, sei nicht zu zweifeln, dass darin jene Nachricl>ten

288 Angekgenheiten der historischen Vereine.

UDS bewahrt worden siDd. Sie bestehen in zweierlei Annalen, ge- nannt Einsidlenses majores und minores, zweien einsiedelscheo Nekrologien und einem Verzeichniss der dem Kloster nach und nach zugefallenen Schenkungen. Bei der Erwägung, ob im über Heremi die ursprüngliche Form der einsiedelschen Denkmale getreu von Tschudi beibehalten worden, oder ob darin nur eine Ton ihm yeranstaltele Sammlung verschiedener historischer Bemerkungen zu erkennen sei, entscheidet sich Morel für das Erste. Doch möchten wir, unbeschadet des Werthes der im über enthaltenen Angaben für Geschichte und Ortsbeschreibung, doch dieser Ansicbl beizupflichten Anstand nehmen. Die Annaies majores berufen sich, was dem Herausgeber auch nicht entgangen ist, zu 1020 und 1027 ausdrücklich auf andere Quellen : die gesta Murensia und die gesta monasterii Novientensis; ausserdem spricht die alphabetische Auf» Zählung der Dotationes entschieden gegen die Annahme anfäng- licher Aufzeichnung.

Von bearbeitenden Darstellungen bringt die Zeitschrift eine rechtshistorische Untersuchung Segesser's unter der Aufschrift „Lu- cern unter Murbach''; worin der Verfasser zunächst das letztge- nannte Kloster in seiner Lage zu Reich und Kirche, dann sein oberherrliches Verhältniss zum lucerner Kloster, sowie des letz- tern Besitzungen betrachtet und sich darauf genauer über den frühesten Rechtszustand der Stadt Lucern selbst verbreitet. Noch sind Schnelleres Erläuterungen zu einem Briefe des Bruder Klaus an Bürgermeister und Rath zu Konstanz vom SOsten Januar 1482 zu erwähnen; und der Wunsch auszusprechen, dass die Arbeiten des fünfdrtlichen Vereines sich fernerhin ebenso erspriesslich fort- entwickeln mögen, als sie begonnen. > Philipp Jaff^.

Die antiquarische Gesellschaft; in Zürich.

Die Bracteaten der Schweiz. Nebst Beiträgen zur Renntniss der schweizerischen Miinzrechte während des Mittelalters. Von Dr. H. Meyer, Direct. des Miinzkabinets. Mit drei Münztafeln. Aus den Mittheilungen der Antiq. Gesellsch. besonders abgedruckt. Zürich, Meyer und Zeller. 4 845. XII. 76. S. 4.

Die historisch antiquarischen Vereine sind auf dem Gebiete der Numismatik von jeher sehr thatig gewesen; die des eigent- lichen Deutschlands allein haben bis jetzt nicht weniger als 200 numismatische Arbeiten oder Aufsätze geliefert. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die Münzkunde die Rechte einer selbstst'an- digen Wissenschaft beansprucht, auch dazu berechtigt und befä- higt ist; soll sie aber, wie man sich öfters dieses Ausdrucks be- dient hat, zur Würde einer Wissenschaft sich erheben: so sind dazu Vorbedingungen erforderlich, die grossentheils noch nicht

Angelegenheiten der historischen Vereine* 289

gelöst sind. Es genügt nicht einzelne Münzfunde auf das Ge- naueste zu beschreiben: vollständige Kataloge der vorhandenen Münzsammlungen, sowie zuverlässige Bearbeitungen der Münz- geschichte der einzelnen Länder und Geschlechter sind noch we- sentlichere Bedürfnisse. Wie manches noch bis auf die neueste Zeit hierfür zu wünschen' blieb, hatte im Isten Bande der vorlie- genden Zeitschrift (1844. S. 356 ff.) Herr Dr. B. Köhne in dem Aufsatz „der jetzige Zustand der münzkundlichen Wissenschaft'* ans Licht gestellt. Seitdem ist in beiden Beziehungen auf deut- schem Boden manches Erfreuliche geleistet worden, wodurch der Umblick vervollständigt und ausgedehnt ward. Wir erinnern nur an Stickel's Handbuch zur morgenländischen Münzkunde (1845. Erstes Heft), welches eine Beschreibung und Erläuterung der Sammlungen des orientalischen Münzkabinets zu Jena gewährt, nnd an Albrecht's Münzgeschichte des Hauses Uohenlohe vom 13ten bis zum 19ten Jahrhundert (1844), welche von wissenschaftlichem Geist und geschichtlichem Sinn getragen ist. Ueberhaupt wird die Numismatik nie, soll sie von wissenschaftlichem Hauche beseelt sein, von der Geschichte sich emancipiren, ihr als eine unabhän* gige Potenz gegenübertreten dürfen; es wird immer ihre Aufgabe bleiben, aus dem Studium der Geschichte die zahlreicbsten und vornehmsten Mittel ihrer Erkenntniss zu schöpfen, und nur wenn sie auf dieser Grundlage sich erbaut, vermag sie auch befruch- tend auf die Geschichte wijederum zurückzuwirken. Die Fülle des numismatischen Materials ist auf der einen Seite so ungeheuer gross, und doch sind auf der andern die Fälle wo die Geschichte der Numismatik eine wirkliche Bereicherung verdankt verhältniss- mässig so ungemein selten, dass man mit Recht daran zweifeln darf, ob die Mehrzahl der heutigen Münzkenner von einem echt wissenschaftlichen d. h. historischen Bewusstsein und von der Nothwendigkeit jenes Wechselverhältnisses zwischen Geschichte und Numismatik durchdrungen sei. Nirgend mehr als auf dem« letztern Gebiete waltet die Gefahr, dass der Gehalt der Wissen- schaft in Gehaltlosigkeit sich verflüchtige, ihr Stoff zu einem Ob- ject blosser Unterhaltung herabsinke; denn nur zu leicht wird grade hier die eigentliche Basis, der historische Gesichtspunkt, durch die mehr beiläuflgen , durch rein technische oder ästhetische verdrängt.

Das Hauptverdienst der vorliegenden Arbeit erkennen wir nun darin , dass Hr. Meyer an dieser so nothwendigen Basis streng festgehalten und daher nicht nur der Numismatik, sondern zu- gleich auch der Geschichte einen wesentlichen Dienst geleistet hat. Die Münzgeschichte Zürichs im Mittelalter, welche der Verf. im Jahre 1840 herausgab, bewegte sich schon in dieser Richtung,

290 Angelegenheiien der historüchm Vereine.

und wenn die jetzige Frucht seiner ailm'ählig erweiterten Unter- suchungen auch noch Icein vollständiges Bild der Münzgeschichte der gesammten Schweiz darbietet, so liefert sie doch fruchtbare und deshalb willkommene Beiträge zur Geschichte aller derjenigen Münzstätten, welche gleich der zürcherischen Bracteaten geschla- gen haben. Bedenkt man, dass dies die einzige Geldsorte war, welche vom 12. bis 15. Jahrhundert dort Kurs und Geltung hatte, dass Alles darin berechnet und bezahlt wurde: so ersieht mau leicht > wie in ihren Schicksalen sich die ganze ßiünzgescbichte der Schweiz während dieses Zeitraumes concentrirt. Der Verf. be- handelt nach einander die Münzrechte von Zofingen, der Grafen von Kyburg zu Burgdorf und Wangen , der Städte Bern und Solo- thurn, der Grafen von Habsburg- Laufeuburg, der Abtei und der Stadt St. Gallen, der Städte Schaffhausen und Basel, der Bischöfe von Konstanz, des Stilles Peterlingen^ der Stadt Diessenhofen (Kt. Thurgau), der Abtei St. Georg zu Stein am Rhein (Kt. Schaff- hausen), der Abtei Rheinau, der Abtei Fischiugen, der Abtei En- gelberg (Kt» Unterwaiden), der alemannischen Herzoge, der Grafen von Saugern, der Grafen von Bargen, der Städte Luzern, Uri, Freiburg (im üechtland) und Zug. Die Bereicherung, welche die Geschichte dieser Arbeit verdankt, ist eine doppelte: eine kritische und eine politische. Denn ist es an sich von entschieden histo- rischem Interesse, zu wissen wann und wie da oder dort ein Münzrecht entstand oder erlosch: so müssen wir die Umsicht und den Scharfsinn anerkennen, womit der Verf. grade derartige Dun- kelheiten aufzuhellen, .Schwierigkeilen hinwegzuräumen und be- gründete Verxnuthungen zu erhärten bemüht ist; dahin gehören namentlich Abschnitte wie die über Zofingen, Solothurn, Luzern und Engelberg: in den kritischen Resultaten derselben darf die Geschichte mit Recht eine Förderung ihrer selbst erblicken; manche kommen zu einer definitiven Entscheidung, andere ihr wesentlich näher. Dass Luzern kein Münzrecht vor dem Jahre 1418 besass, wird wohl nun als ausgemacht gelten dürfen; ebenso dass auch Engelberg im Mittelaller gemünzt habe, worauf der gleiche Typus einiger unbekannten Bractäaten mit dem Wappen dieser Abtei hin- führt. Bildet das Münzrecht den Kern der Münz ge schichte: so zeigt die Arbeit auch andrerseits, und in anschaulicherer Weise als dies sonst in numismatischen Werken der Fall zu sein pflegt, eine wie bedeutende Stellung die Munzgeschichte in der poli- tischen Geschichte eines Landes einzunehmen geeignet ist; zu- mal allerdings in einem vielgetbeilten oder mannigfaltig geglieder- ten Lande wie die Schweiz. An die Streitigkeiten über die Münze knüpfen sich zum guten Theil die Fäden der politischen Entwick- lang Luzerns an; und fast nur an ihren Wandlungen spinnen sie

Angekgenheiten der historUcken Vereine, 291

eine laogere Zeit hindurch sich ab. Wir können nicht umhin, Schriften wie die in Rede stehende als Muster einer Wissenschaft* lieben Behandlung der Numismatik zu bezeichnen und zu empfehlen. Auf ein materielles Erschöpfen kommt es so wenig an, wie auf ein Abwickeln aller auch der entferntesten Zweifel; ist doch das eine so unmöglich wie das andere, auch dem unermüdlichsten Streben beides unerreichbar. Die Bracteaten der Schweiz theilen sich übrigens äusserlich in zwei Hauptklassen: runde mit dem Per- lenrand und viereckige mit hohem Rande. Ad. Schmidt.

Notizen.

KenntDiss des Auslandes von den historischen Vereinen in Deutschland.

Von dieser Renntniss darf man nichts anders erwarten, als dass sie sich als U n kenntniss offenbare. Der berühmte italienische Geschicbtschreiber Cesar Cantu, der grade sonst durch eine aus- gedehnte literarische und bibliographische Gelehrsamkeit in seinen Schriften sich auszeichnet, sagt in seiner Histoire universelle T. VDL discours pr^liminaire sur le moyen äge, p. 30. (Paris 1845): des soci6t^s chargees de recherches historiques se sont formöcs dans plusieurs (!) pays de TAllemagne. U y en a pour la Thuringe saxonne, pour la Pomöranie, pour (?!) les £tudes Baltiques, pour la Westphalie, pour je haut Mein, pour Fribourg, pour Lau- sanne, pour la Suisse romane, pour la Boheme etc. Es versteht sich von selbst, dass wer ausserhalb der Pommerschen Gesellschaft noch eine besondere für baltische Studien zu kennen meint, in der That weder von jener noch von diesen das mindeste weiss. Das Magazin für Gesch., Liter, etc. Siebenbürgens, von Kurz zu Kronstadt herausgegeben, eröffnet das erste Heft (1844) mit der Behauptung, dass jetzt eine besondere Rührigkeit in ganz D'eutsch- land herrsche in Beireff des Forschens nach Geschichtsquellen, und führt zum Beweise dafür (mit einem „denn es erscheint etc.'*) nichts anders an als in höchst bunter und wunderlicher Zusam- menstellung — 1) Uaupt's Zeitschrift, 2) Kruse's Necrolivonica, 3) Bülau's Jahrbücher, 4) die vorliegende Zeitschrift, 5) Heeren und Uckert's Staatengescbichte und mitten darunter 6) den Verein für Kunst und Alterlhumskunde in Ulm. Es ist klar: das Aus* land weiss von unsern histor. Vereinen gar nichts und von ihren Arbeiten noch weniger. Um so mehr Bedeutung gewinnt die gegenwärtige Rubrik unserer Zeitschrift, deren Verbreitung im Aus- lande dafür bürgt, dass dasselbe mit unsern Vereinen und ihren Leistungen nunmehr eine vertraulere Bekanntschaft schliessen werde. Der bisherige Mangel derselben darf aber keinem Auslander zur Last gelegt werden; die Schuld liegt -vielmehr in dem Orga*» nismus des Vereins wesens selbst, in der unendlichen Zersplitte- rung der Publicationcn wie sie leider aber sicher noch lange Zeil fortdauern wird, und in dem bisherigen Mangel an centraler Ver- tretung ihrer Interessen. Könnten die zahllosen Zeitschriften, Ar- chive und Berichte der Vereine (ein sehr frommer revolutionärer Wunschi) zu einer einheitlichen, nur in verschiedene Serien zer

292 Allgemeine LUeraturberiehte.

fallenden grossartigen Sammlang unter gemeinsamer Redaction vereinigt werden: nimmermehr würde diese der Aufmerksamkeit des Auslandes, geschweige xler des Inlandes entgehen können. Denn diese Wahrheit dürfen wir uns nicht verhehlen auch für die einheimischen Fachgelehrten war bis dahin das Terrain des Vereinswesens so ziemlich eine terra incogniCa, aus der nur dunkle Vorstellungen, zusammenhanglose Traditionen in mythischer Unbestimmtheit zu ihnen herüberflossen. Was Alle drückt, das druckt nicht schwer. Darum wurde die Unkenntniss auf diesem Gebiete selbst dem Fachgelehrten nie übel angerechnet. Künftig wird das anders werden. Hat es sich erst für das allgemeine Wissen her- ausgestellt, dass der uberflutbende Strom der Vereinspublicationen doch auch manche goldhaltige Bestandtheile mit sich führt, woran man, um die eigene Unkunde zu beschönigen, so gern noch zwei- feln möchte: dann wird auch eine fernere Unkunde der Art zur Schmach gereichen und aus Scheu davor der Fachgelehrte zu wär- merer Theilnahme und schärferer Beobachtung sich angetrieben fühlen; während andrerseits die Vereine selbst dieser wachsameren' Controle gegenüber dann um so sorglicher den Vorwurf scheuen und verhüten werden, als ob sie nicht anständen auch schlechte und verdorbene Waare auf den Markt zu bringen. In den Trieben dieser zwiefachen Scheu wurzeln demnach unsere Hoffnungen auf eine bedeutsamere und einilussreichere Gestaltung des Vereiuswesens.

AUgfemelne liiteratarberlehte«

Deutschland.

Fürsten und Städte zur Zeit der Hohenstaufen , dargestellt an den Reichsgesetzen Kaiser Frtedrich's H. Von Franz Löher, Oberlandesgericlif s Referendar. Halle, Ed. Anton, 4846. 4 48 S. 8. Ist der erweiterte Bestandtheil eines nahe in Aussicht gestellten grössern Werkes über die Geschichte der staatsbürgerlichen Freiheit der Deutschen, wurde vorgetragen in der Paderborner Section des Vereins f. Gesch. u. Alterthumskunde Westfalens, und bezweckt, den Kampf zwischen der Fürstengewalt und der freien Genossen- schaft, wie er sich durch die ganze Geschichte hindurchzieht, auf- zufassen innerhalb der Grenzen des Hohenstauf. Zeitalters und auf dem Grunde von Gesetzesurkunden. Den Mittelpunkt bildet dio Entwicklung der Städte, ihr Ringen mit der Fürstengewalt, und die Stellung des Kaisers zwischen den Parteien. Die Veranlassung zu den städtefeindlichen Gesetzen der Hohenstaufen wird weder in Städtehass noch in verwandten Motiven gesucht, sondern im Wesentlichen mit Raumer in der eigenthümlichen Stellung der Kaiser, welche sie eher dem Gange der rechtsgeschichtlichen Ent- wicklung zu folgen, namentlich gewaltsame Aenderungen der- selben zu unterdrücken nöthigte, als ihnen selbstständig in die- selbe hineinzugreifen erlaubte. Von HÖfeler^s Friedrich U. wird gesagt, das Buch sei den Worten nach ein Verdammungsurtheii und der Darstellung der Thatsachen nach die bündigste Ehrenrede des Kaisers. Der Verf. bat seinen Stoff in 18 Paragraphen 3ehr

Allgemeine Literaturberickte, 293

anschaulich gegliedert und^ um so erfolgreicher zu fast populärer Klarheit erhoben, als zugleich auch die Form gewandt, anziehend und weder durch Noten noch durch überflüssige Gelehrsamkeit innerhalb des Textes selbst belästigt ist. So berechtigt diese in- teressante Probe zu den besten Erwartungen für das Gesammt- unternehmen, macht darauf gespannt.

Lulher von seiner Geburt bis zum Ablassstreite. 4483 1517. Von! Karl Jürgens. Bd. I. Lpzg. F. A. Brockhaus. 4 846. Es ist dies sichCl^ das bedeutendste Denkmal, das dem Reformator in den Tagen ge- stiftet ward, da die protestantische Welt das Andenken seines Hinscheidens feierte. Es ist aber auch an sich von grösser Bedeu- tung, nicht ein Erzeugniss augenblicklicher Erregung, sondern die Frucht langer Jahre und Studien; und es tritt, in einer Zeit der Bewegung ans Licht, die ihm eben so sehr ein grosses Publicum wie mittelbar eine grosse Einwirkung auf die streitenden Richtun- gen verbürgt. Der Verf. (Pfarrer zu Stadtoldendorf) will nicht sowohl ein Porträt des Reformators liefern, als vielmehr ein Ge- mälde aufrollen, das ihn zugleich als nothwendiges Product und als Führer seiner Zeit darstellt, deren Zustände deshalb meist den Hintergrund der Schilderung, oft aber auch den unmittelbaren Vordergrund bilden während die Gestalt des Reformators nur perspectivisch uns entgegentritt. Er will zeigen, wie Luther ganz mit seiner Zeit sich bildete, mit ihr wurde was er geworden ist, mit ihr that was er gethan, fast in ihr stehen bleibend sie weiter führte soweit sie zu folgen vermochte, ihre Richtungen in sich aufnahm, durchbildete, zur Reife brachte und eben dadurch neue Wege bahnte, so dass er dasteht als Vertreter und Werkzeug des Gebots der Verhältnisse, des Wollens, der Vernunft seines Zeit-^ alters, sofern es auf ihn und er auf die Zeitgenossen eingewirkt* * bat. Nur so kann der ganze Mann aus seinem innersten Wesen vorurtheilsfrei erkannt und dem Missbrauch gesteuert werden, den man gegenwärtig mit einzelnen seiner Aeusserungen oder Schritte zii Gunsten willkürlicher Ansichten und Urtheile treibt. Der Stand- punkt des Verf. ist der kirchliche und nationale, auf den er sich stelle, wie er sagt, um eben nicht befangen zu urtheilen. Die Objectivil'ät, in sofern darunter Mangel an theilnehmender Wärme una an eigener fester Ansicht verstanden werde, weist er zurück; die geschichtliche Wahrheit aber erkennt er als höchstes Gebot, und will, obwohl philosophische Geschichtschreibung anstrebend, doch sowenig Philosoph als Theolog oder Kosmopolit sein, und sowenig über oder ausser der Kirche als im lutherischen Bekennt- nisse oder gar bis zum Buchstaben in der Dogmatik stehen, wel- che Luther als ewige Wahrheit mit der seine Stellung und Wirk- samkeit bedingenden, im Einzelnen fehlgreifenden Leidenschaft festzustellen suchte; denn die Reformationszeit ist noch keine ab- geschlossene, sie reicht mit dem was sie gegründet, angefangen und angedeuiet, in die unsrige herein. Leider müssen wir uns jedes weitere Eingehen auf den Inhalt versagen; aber die ganze Erscheinung ist in ihren Grundlagen und Mitteln , in ihren Absich- ten und Erfolgen zu bedeutungsvoll, als dass wir nicht später wenn auch in anderer Form darauf zurückkommen sollten; hier kam es nur, und aus denselben Gründen darauf an, die Aufmerk- samkeit unverweilt auf ein Unternehmen hinzulenken, welches die- selbe in dem ausgedehntesten Maasse verdient« Sollten wir ein

294 Miscellen.

Bedenken kund geben, so betrifft dies die weite Anlage des Werkes, wie sie selten dem Eindruck und der Verbreitung zum Förderniss gereicht. Dem vorliegenden Bande, der die Entwicklung Luthers und seiner Zeit bis auf das Jahr 1507 schildert und 700 Seiten umfasst, werden noch zwei andere folgen , um bis zum Jahre 1517 zu gelangen und dergestalt die erste, freilich innerlich bedeute samste Bildungsperiode Luthers abzuscbliessen. Hoffen wir, dass CS dem Verf., wie es der Doppeltilel (Luthers Leben. Erste Ab- theilung) andeutet, vergönnt sein werde, den Reformator auch in der Periode seines Wirkens uns vorzuführen. Je mehr indessen grade dieser letztern das Studium bisher sich zugewandt, um so dringender und dankenswerther ist die tiefere Ergründung der ersteren, welche der Verf. für jetzt uns bietet, woran er sein Alles gesetzt, und worin unbedenklich keiner seiner Vorganger an erschöpfender Allseitigkeit den Vergleich mit ihm aushält.

MIscellen.

Gustav Adolf. Erinnerung am Todestage Luthers.

Im Jahre 4632, kurz vor der verbängnissvollen Lutz ener Schlacht, erschien in Deutschland, ohne Ortsangabe folgende merkwürdige Schrift in 4to. ,,Der Newe Römerzug, Das ist Discurs, Ob die Königliche Majestät zu Schweden, vnd die Protestirende Churfiirsten vnd Stönde in Deutschland, als die GOTT dem Allmächligen seiner Christlichen Kicchen gegebenen Defensores nicht alleine gar wol können, sondern auch schul- dig seyn. Seiner Majestät alleine von Göttlicher Allmacht verliehenen Vic- torien, auch weiter den Päbstlichen Stuel zu Rom, sampt seinem Anhang des Welschlandes zu prosequiren Ohnferlich auffgesetzt durch Virich von Hütten den Jungern zu Vfferew, Im Jahr 4632,

Wie einst die deutschen Kaiser ihren Römerzug (ihre römvart) hielten, sich dort krönen zu lassen, so räth diese ziemlich umfangreiche Schrift Gustav Adolf (vielleicht als er schon bis München vorgerückt war, das er am 47. Mai einnahm), sich nich^ länger aufzuhalten^ sondern grades Weges auf Rom loszugeben und, nachdem auch die Möglichkeiten und Mittel umsichtig betrachtet worden sind, schliesst die besonnene, ja kluge Schrift wörtlich:

,,Wann Königliche Majestät (möchte Gott gnädiglich verleihen wollen) jhr intent in Italia erlanget hat, so ist kein zweifei, es werden dieje- nigen, welche sie an sich aller Orten gezogen, vnd aus der vtiterschied- liehen Tyranney hin vnd wieder errettet, mit beneficiis cumuliret, der Königlichen Majestät wobl zugethan vnd gewogen, verbleiben, bevorab, wenn sie Ihrer Majestät Lindigkeit in der that verspüren vnd sehen, dass er nichts andres, denn wahre Gottesfurcht vnd Tugend liebet, vnd die Justitz handzuhaben wündschet. Vornemlich aber wird die Königliche Majestät allen Widerwillen dadurch ver- hüte n, wann sie diejenigen Italiener, so sich jhr Trew jederzeit er« zeiget, vnd vor andern erhoben worden, zu Reg-imentssachen ziehen wird, wodurch sie denn vmb so vielmehr die andern zu gleicher Trew anreitzet, vnd diese auch vmb so vielmehr trew zu bleiben Terbindet, Wiewol hierbey grosse Prudentz von nöthen, dass man dei» Italienern von den Regimentssacben nicht zu viel^vnd nicht zu

MisceUen. 295

wenig In die Htfnde gebe. Gibt man zu viel PreThelt, wie etzlicbe 4 00 Jahr hero geschehen, so werden sie bald rebelliren, gibt man :]hnen ganz nichts, ergreilTen sie, darzu sie ohne das naturaliter inclinirt, die Desperation, vnd machen so denn mit solchen molibus grosse MUhe. Vnd aber desshalben wird Königliche Majeslttl zu Schweden in enderong der Religion bey den Itaiis grosse Auffsicht vnd Prudentz haben, vnd mit freundlicher LIndigkeit sie zu allem sittsamen stillen humor disponiren, vnd solche Sachen, die Re* ligiou betreffend, nicht auff einen sturtz endern vnd verbessern. Der Anfang were zu machen an der Policey des Römischen Hofes, vnd nicht an dem genere doctrinae, denn das guberno des Römischen Hofes, wann solches ab geschaffet wird, dem gemeinen Mann mehr Freybeil In Religionssachen bringen wird^S

„Es ist ohne das wider Gottes Wort, die Gewissen mit dem Schwerde zu zwingen, dannenhero wird dem gemeinen Mann seine superstition so lange zu lassen seyn, als es jhm gefallet, vnter dess wird die Königliche Majesiat das jhrige ihun, vnd das reine vnverfelschte Wort Gottes predigen vnd anfangs demonstriren lassen, dass bey dem Pabstihumb allmehlich etzlicbe Missbräuche eingeschlichen, manche Mis»brfiuche von Menschentand jhren Vrsprung genommen, die rechte Religion aber nicht seyn, noch darzu dienen, derohalben müsse man solche fahren lassen. Item bey den Literatis können sittsame dlFpula- tiones angesiellet werden, dass man also zuvor die Gemülher ge* winne, ehe man die Religion zu endern vnd abzuschaffen an- fahe. Wie denn kein Zweiffei, GOTT der Allmächtige werde vieler Her- tzen erleuchten, dass sie der Menschenlehre vberdrüssig werden, vnd zu dem Evangelio einen Hunger vnd Durst tragen".

,, Gleicher weise wird sich Königliche Majestät in acht nehmen, Klöster vnd Kirchen ad usus prophanos & privates zu verwen- den, zum wenigsten werden in usus publlcos der Juslitz zu verwenden seyn, denn dergleichen Verwendung in usus privatos ganlz viele alternationes macht".

„Derohalben so lasse man das Evangelium nur öffenilich lehren^ allen die es hören wollen, es kan ohne Frucht nicht abgehen, das Pabstihumb wird auch nicht anders, denn mit dem Geist- lichen Schwerdt getödtet".

,.ln Summa, wie vor Zeiten die Longobardi vnd Gothi gantze regna In Italia stabilirt, also ist auch nicht vnmöglich, das jetzige Schwedisehe Königl. Majestät mit seinen newen Longobardis vnd Gothis gleichfals sich Italien werden bemächtigen können, zumal desshalb Königliche Majestät Göttlichen Beruff vor sich hat, dahero sie sich auch dessen zu trösten, dass wie sie von Gott dem Allmächtigen nicht zur Straffe in diese Orte, sondern die Tyrannen zu verfolgen vnd die Kir- che zu schützen, ge schicket, Ihr Reich, so denn nicht nur etzlicbe Jahre, sondern biss an der Welt Ende wären vnd bleiben werde, welches denn die jetzige Christenheit vor Königliche Msjestät zu Schweden von Hertzen von Gott dem Allmächtigen wündschen vnd bitten thut".

Die nachstehende Einladung '' ist zugleich in der Augsb. Allg. Zeitung und in der Tübinger Zeitschrift für deutsches Recht un4 deutsche Rechtswissenschaft abgedruckt.

296 Einladung.

Einladniig an die fiemanisteii zu einer Gelehrten-Tenamm-

Inng in Frankflirt a. H.

Naturforschung und classische Philologie haben es eine Reihe von Jahren her empfunden, wie grosser Gewinn aus Zusammenkünf- ten, wo Bekanntschaften gemacht, Gedanken gesammelt werden, zu ziehen ist. Drei Wissenscnaflen, aufs Imiigste unter sich selbst zu- sammenhängend und im letzten Menschenalter wechselseitig durch einander erstarkt und getragen, wollen jener Vortheile gleichfalls theilhaft zu werden suchen. Allem inneren Gehalt ^ dessen sie fähig erscheinen, tritt noch ein eigenthümlicher vaterländischer Reiz hinzu.

M^uer, die sich der Pflege des deutschen Rechts, deut- scher Geschichte und Sprache ergeben, nehmen sich vor, in einer der ehrwürdigsten Städte des Vaterlandes, zu Frankfurt am Main, vom 24. September 1846 an einige Tage mit einander zu ver- kehren, und da sie wünschen mit andern Gleichstrebenden dort zusammen zu treffen, so wählen sie diesen öffentlichen Weg, um ihr Vorhaben zur Kunde Aller zu bringen.

Wissenschaftliches Anregen, persönliches Kennenlernen und Aus- gleichen der Gegensätze, soweit aiese nicht innerhalb der Forschung Bedürfiiiss sind, werden Zweck unserer Versammlung sein, ein Ziel, worin sich auch sonst abweichende Bestrebunf^en vereinigen können, vorausgesetzt nur, dass es ihnen um Wahrheit zu thun ist.

Ueber die Art und Weise ihrer Besprechungen und künftiges Wiederholen nach zwei, drei Jahren wira die Versammlung selbst beschliessen. Vorläufig angenommen sei, dass freie Rede und unge- zwungenes (besprach iiberwiegen, abgelesene Vorträge ftir die Regel ausgeschlossen sein sollen. Sondening' in mehrere Abtheilungen hängt theils von Zahl und Neigung der Besuchenden ab, theils von den Gegenständen der Verhandlung, deren manche sich jedenfalls .für Gemeinsitzungen eignen werden. Hierbei sind wir nach dem Bei- spiel anderer Versammlungen davon ausgegangen, dass die Zusam- menkunft zwar öffentlich, thätige Theiluahme aber auf den Kreis der Männer eingeschränkt sei, welche ihre Betheiligung am Fortschritte der deutschen Wissenschaft durch ihre Arbeiten oder im Amte dar- gelegt haben.

Es wäre zu viel erwartet von einer Gelehrten -Zusammenkunft, wenn sichtbares Fördern einzelner Lehren oder unmittelbares Ein- greifen in das Leben ihr zur Aufgabe gestellt würde; aber nicht Gre- ringes versprechen wir uns von unserer Versammlung,- wenn sie, wie nicht zu zweifehl steht, auf dem Boden wissenschaftlicher Unter- suchung festhaltend sowohl den Werth als audi den Ernst der Zeit würdigen und jeden Einzelnen von dem Eifer, der das Gfanze be- seelt, erfüllen wird.

Neujahr 1846.

E. M. Arndt. Beseler. Dahlmann. Falk.* Ger- vinus. J. Grimm. *W. Grimm'. Haupt. Lach- mann. Lappenberg. -Mittermaier. Pertz. Ranke. Reyscher. Kunde. A. Schmidt. Uhlaiilä: Wilda.

Aus Frankfurt haben sich dieser Einladung angeschlossen und die dortigen Vorbereitungen übernommen:

Schöff Dr. Souchay. Dr. Euler.

lieber die Qesclilclite dev neuesten Zelt*

vom Wiener Congreue bis auf muere Tage,

mit Rücksicht auf die neuesten, insbesondere deutschen

Bearbeitungen derselben.

Von Dr. Karl II«iren,

Professor d«r Gssekieht« in Heid*ll»er||.

Erster Artikel: Einleitung. Ueber Ctnellen und Behaadlang der neuesten (teschtchte.

Heber die Wichtigkeit der Geschichte unserer Zeit ist man jetzt im Reinen: man hat die Ueberzeugung erlangt, dass sie uns ebenso nöthig, ja weit nöthiger ist, als die Geschichte des himmlischen Reiches, des alten Aegyptens und Bactriens, ja selbst des alten Griechenlands und Roms, Gegenstände, auf welche unsere Gelehrten von jeher so erstaunliche Mühe und Arbeit verwendet haben. Ich sehe diese Erscheinung als ein höchst charakteristisches und zugleich erfreuliches Zeichen der Zeit an: denn offenbar spricht sich darin ein bedeutendes Selbstbewusstsein der Gegenwart aus oder zum Mindesten das Bestreben, sich über die jetzige Epoche, ihre Ansichten und Tendenzen zu orientiren, was unzertrennlich ist von dem Interesse an den Bewegungen derselben, das wohl auch zu Thaten führen könnte. Gräme man sich des- halb nicht allzusehr darüber, wenn unsere solide gelehrte Literatur, welche die gründlichsten notenbespicklesten For- schungen über längst entschwundene Zeiten und Völker an- gestellt, allmählig in Decadence geräth. Hat man uns doch oft genug, und nicht mit Unrecht, vorgeworfen, dass wir

Ailg. Zeit«chriri f. GesebickU. T. iSi6. 20

298 Veber die Geschichte der neuesten Zeit,

vor lauter Wissenschaft und Gelehrsamkeit es nicht zum Handeln brächten. Und doch wäre es einmal an der Zeit, dass die deutsche Nation, die eine so gründliche Schule durchgemacht wie kein anderes Volk, endlich auch eine ge- wisse Selbstständigkeit in politischen Dingen erwürbe. Freuen wir uns daher darüber, dass das Publikum den Geschmack an jener gelehrten, in der Studierstube entstandenen Lite- ratur nachgerade verliert und sich lieber zu denjenigen Büchern wendet, welche die unmittelbarste Wirklichkeit, die Gegenwart bebandeln und die Mitwelt am allerbesten über den Boden zu orientiren vermögen, auf welchem sie wirken soll. Aber freilich die Geschichte unserer Zeit ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Zunächst wegen der Quellen. Es fehlt allerdings nicht an Stoff. Denn in keiner Periode sind diese so zahlreich geflossen: namentlich was die jour- nalistische Literatur betrifft. Allein die Quantität macht es nicht aus, sondern der Gehalt. Und da müssen wir denn gestehen^ dass uns gerade über die wichtigsten Verhältnisse^ Verhandlungen und Bestrebungen die Quellen absichtUcli vorenthalten oder sogar verfälscht worden sind. Um nur Einiges anzufUiren , so wurde das Publikum über die eigent- lichen Verhandlungen des Achner Congresses im Jahre 1818 gänzlich getäuscht: die geheimen Beschlüsse, die daselbst zwischen den drei absoluten Mächten verabredet worden sind, und welche die Grundlage für die Garlsbader Minister- conferenzen im Jahre 1819 bildeten, kamen nicht zur Oef- fentlichkeit. Ebenso wenig war dem Publikum die Veröfient- lichung der letzteren, nämlich der eigentlichen Verhandlun- gen zugedacht. Die Sitzungen der Bundesversammlung in Frankfurt, deren Aufgabe für das gesammte deutsche Vater- land doch eine so höchst wichtige ist, und wobei die Rich- tungen der einzelnen Regierangen und zum Tbeil auch die Motive, von denen ihre Handlungsweise geleitet ist, sieb deutlich herausstellen könnten, sind ebenfalls, wenigstens seit dem Jahre 1824 der Oeffentlichkeit und somit der Zeit- geschichte entzogen. Diese Heimlichkeit wird sogar bei solchen Regierungsbandlungen angewendet, welche öffent^

üeber die Geickichfe der neneiim ZeU. 209

liebe Normei) abgel>en sollen, wie denn maocbe fieigieriiagen solche Verordüimgen, von denen sie lUrchteB, dass sie b^ses Blut machen könnten, nicht mehr durch den Druck uod durch die Zeitungen bekannt machen lassen, sondern litlio* graphirt den betreffenden Behörden mittheiien, welche sich blos darnach zu richten haben, ohne jedoch die VerordauBg veröffentlichen zu dürfen. Durch dieses Verfahren werden aber dem Geschichtschreiber höchst schätzbare MaieriaJiett zur Cbarakterisirung der Begierungen entzogen.

Während man nun auf der einen Seite sich bemüht, das, was in Heimlichkeit geboren worden, sorgsam vor dem Liebte zu bewahren, und um dasselbe einen so dicblen Schleier als möglich zu ziehen, sucht man zugleich dasjenige, was nach Oeffentlichkeit und nach dem Tageslicfale drän^ und nur darin sein wahres Element erblickl, gewaltsam da- von zurllckzuhaUen: nümlich die öffentliche Meinung. Diese ist nicht minder wichtig, wie die Regierung^i: beide bilden zusammen die Faktoren der Zeit. Die (Iffentiiche Meinung ist aber im Ganzen viel zugänglicher, ich möchte sagen, de- mokratischer, als die Diplomatie; während die letztere sich in die Gabinete verschliesst, treibt jene so zu sagen sich auf den Strassen und in den Wirihshäusem herum, und kann von jedem angegangen und befragt werden, der sich dafür interessirt vorausgesetzt nämlich, dass dies die Polizei erlaubt. Das ist aber nicht überall der Fall. In den Ländern, wo das beklagenswertbe Institut der Censur existirt, ist nämlich auch die öffentliche Meinung verfälscht worden: sie kann sich weder in Zeitungen, noch in Broschüren, noch auch, wenigstens in manchen Ländern, in dicken Büchern aussprectien: entweder werden die betreffenden Artikel von dem Gensor zerstückelt, oder der Verfasser muss mit Rück- sichtnahme auf jene seinem Geistesprodukte bevorstehende Scbeere so verhüllt, zahm und in allgemeinen Redensarten schreiben, dass alles Gharakteristische hinwegfälit und im Grunde doch nur ein Schatten von der öffentlichen Meinung zurückbleibL Manchmal werden übrigens selbst blosse That- Sachen, ohne alles Raisonnement von Seiten des Bericbter«

20*

300 Üeber die Geschichte der neuesten Zeit.

stdtterS; von der Censur gestrichen, wenn dieselben ganz prägnant und entschieden eine Ansicht repräsentirten, die mit der des Censors oder der Regierung nicht überein- stimmte. So ist Manchen noch im guten Gedächtniss, wie bei den Demagogenverfolgungen die schreiendsten Ungerech- tigkeiten begangen wurden, ohne dass es den Angeklagten verstattet war, die in Bezug auf sie verbreiteten Unwahr- heiten in Zeitungen zu berichtigen und vor dem Publikum die Dinge so hinzustellen, wie sie sich wirklich verhielten. Man sieht daher: die Censur verfälscht die Geschichtsmate- rialien, indem sie einerseits der öffentlichen Meinung nicht erlaubt, frei und unumwunden sich zu äussern, während sie andererseits der herrschenden Partei die vollkommenste Willkür gestattet.

Wie nun? könnte man fragen, ist unter solchen Um- ständen überhaupt nur eine Geschichte unserer Zeit möglich? Auf der einen Seite Mangel an den wichtigsten Aktenstücken, wodurch man höchst wahrscheinhch die Fäden der gesamm- ten Thätigkeit eines Theils der europäischen Cabinete er- kennen würde: auf der andern nicht einmal die Möglichkeit, sich genau über die öffentliche Meinung und somit über den Geist der Zeit, das Streben der gegenwärtigen Menschheit zu unterrichten wie kann auf diese Weise die Geschichte unserer Zeit etwas anderes sein, als traurige Halb Wahrheit oder Entstellung?

Indessen beim Lichte besehen, gewährt uns die Sache doch einen ganz andern Anblick. Was zunächst die Heim- ' lichkeit der Cabinete betrifft, so hat es ihnen trotz aller Be- mühungen doch niemals vollständig gelingen können, sie ganz und gar zu bewahren. Die Zeit, welche in allen Stücken nach Oeffentlichkeit hinarbeitet, weiss auch solche Dinge an das Tageslicht zu ziehen, die gleich bei ihrem Entstehen auf die Heimlichkeit' berechnet waren und nur auf ihrem Boden gedeihen konnten. So sind uns die geheimen Ver- handlungen des Achner Gongresses mitgetheilt, so sind die Protokolle der Karlsbader Ministerconferenzen erst neuerdings durch Welcker der Geschichte übergeben, so hat Kombsf

Veber die Geschichte der neuesten Zeit. 301

durch seine Aktenstücke die späteren Ereignisse in Deutsch* land aufgeklärt, so sind die Wiener geheimen Beschlüsse von 1834 zu allgemeiner Kunde gelangt, so hat zu seiner Zeit das Porlfolio die interessantesten Aufschlüsse über die russische Politik und was damit zusammenhängt gegeben. Kurz: es ist kaum möglich, dass irgend eine Verhandlung oder Beschlüsse, welche von ganz entschiedenem Einflusise auf die allgemeine Entwicklung gewesen sind, Geheimniss bleiben können: früher oder später gelangen sie an das Licht. Auch würde ein aufmerksamer Beobachter dergleichen Ur- kunden nicht einmal nöthig haben, um den Zusammenhang der Dinge zu erkennen: wie denn z. B. die heller Sehenden durch die Veröffentlichung der Wiener Ministerconferenzen vom Jahre 1834 nichts Neues gelernt, sondern nur einen Beleg für das, was sie schon längst gewusst^ erhalten haben. Denn da das Charakteristische von dergleichen Beschlüssen, welche geheim gehalten werden sollen, darin besteht, dass sie realisirt werden müssen, und zwar so bald und so um- fassend als möglich, so darf man nur die ungewöhnliche Uebereinstimmung der Thatsachen in verschiedenen Ländern ins Auge fassen, um daraus den Schluss zu ziehen, dass eine Verabredung vorhergegangen sein müsse. Auch liegt gerade in der Heimlichkeit ein ungewöhnlicher Reiz für den Verstand und Scharfsinn des Menschen: man kennt Ja den alten Spruch, dass wir uns zu dem Verbotenen hinneigen: dieser hat noch eine edlere Bedeutung: die Hindernisse, welche sich dem Forscher entgegenstemraen, reizen seine Wissbegierde und sein Talent, wie denn gerade solche Männer, die mit den grössten Hemmnissen kämpfen mussten, es in der Wissenschaft am Weitesten gebracht haben. So wird die gegenwärtige Menschheit, wenigstens die Gebildeteren, welche sich mit den Fragen der Politik beschäftigen , durch das geheimnissvolle Dunkel, das um die Diplomatie der Ca- binete verbreitet ist, weit mehr angereizt, in das Innere des Getriebes zu dringen, als dies sonst der Fall wäre, wenn man sich nicht recht auffallende Mühe gäbe, das Licht der Oef- fentlichkeit im fliehe». Peun Alles, w?is das belle TagösUcbt

302 Vebw dn Qe$ckiehte der neueiien Zeit

mdbX vortragen k«in, imiss dies Ist der gewdhDKcke SehlüftS des gesuDden Menschenverstandes etwas ganz Biorbitanies sein, und darum verlohnte es sich wohl der MUhe, ihm auf die Spur t\x kommen. Daher wird jedes grosso politische Geheimniss gegenwärtig sich immer in der Lage sehen, von allen Seiten aafgespürt zu werden, und wie es sich atfch winden und drehen mag, es moss am Ende doch den unermüdlichen Jägern seine Fährte verratheor Mit dem einen Punkte sähe es demnach nicht so ttbel aus. Was aber den anderen betrifft, nämlich die Verf^l« •chung der öffentlichen Meinung durch die Ceosor, so hat finan auch dagegen ein Auskunftsmittel gefunden. Wer weiss nicht, dass alle politische Schrift&telierei, welche in den Journalen beschnitten und verkürzt wird^ zu den 21 Bogen ihre Zufiucbt nimmt , wo man wenigstens für die erste Zeit der Polizei entgeht, und selbst dann wenn ein Verbot er- folgen sollte, die Aussicht hat, trotz dem oder vielmehr eben deshalb nur noch mehr gelesen zu werden? Wem ist es unbekannt, um ein eclatantes Beispiel anzuführen, dass in dem vorsichtigen Oestreich , welches die ganze Monarchie mit dem dichtesten Geistescordon umzogen hat, über die Hälfte der eingeführten Bücher zu den verbotenen gehören und dass gerade für diese dort verhältnissmässig der grösste Markt zu finden ist? Dicke Bücher werden allerdings we- niger gelesen und wirken eben darum weniger, als Journale: aber nur dann, wenn diese interessant und kurzweilig sind. Wenn sie aber durch die Scheere der Censur so zusammen- gearbeitet werden, dass man in ihnen tagtäglich nichts wei- ter, als immer nur das Nämliche findet, und wenn man da*- gegen die Erfahrung gemacht hat, dass gerade in den dicken Büchern über 20 Bogen das sich findet, was die Journalistik bieten soll, so wendet sich das nachgerade gescheid gewor- dene Publicum von dieser weg zu jenen, und die Tages* literatur pflanzt allmählig ihr Schild auf der geschlosseneren, weniger verfolgten Presse auf. Dadurch hat eines Theils die öffentliche Meinung wieder einen Ausweg gefunden, sich rttoksicbtslos und unumwunden zu äussern , und es ist ihr

Ueber die Geichichte der tieue^ten Zeit. 303

Gelegenheit genug geboten, um Alles wieder einzubringen, ,was sie dort hat aufgeben müssen: andern Theiis ist dadurch, was auch der Engländer Urquhart schon bemerkt hat, die Möglichkeit gegeben, die politischen Fragen viel tiefer, IgrUnd- licher und umfassender zu behandeln, als Journale gestatten würden: und wir Deutsche gewinnen hiemit den ungemeinen Vortheil, uns weit besser und vielseitiger in den staatlichen Dingen zu unterrichten, als diejenigen Völker, welche ihre politische Bildung lediglich aus den Zeitungen schöpfen.

Uebrigens ist, genau betrachtet, die Censur im Ganzen doch unwirksam. Es ist zwar richtig, was wir oben be« merkt haben, verfälscht wird die öffentliche Meinung durch sie: aber doch nur in einzelnen Fällen, in einzelnen Punkten, und nur momentan: aber weder kann die öffentliche Mei- nung gänzlich unterdrückt werden, noch vermag sie es auf lange Zeit: sie hat ein zu tiefes, in dem ganzen Volksbe- wusstsein wurzelndes Leben, als dass man, so viel einzelne Glieder man auch abschneiden möge, sie völlig tödten könnte: sie ist vielmehr gleich jener Schlange in der Fabel, die statt des einen abgehauenen Kopfes sofort eine Menge anderer zum Vorscheine bringt. So wird sie durch die Censur zwar abgehalten, sich rücksichtslos und unverhülU zu zeigen: aber ihr innerstes Wesen bricht doch durch alle Fesseln, die man ihr anlegt, hindurch: und wenn man sich nur ein Bischen auf die Kunst versteht, zwischen den Zeilen zu le- sen, insbesondere zwischen den weitgedruckten, wo der Gensor seine Verwüstung angerichtet hat, so vermag man selbst aus unseren gegenwärtigen Blättern die öffentliche Meinung, die Stimmung und die Tendenzen der Zeit zu er- kennen. Früher, bis zum Jahre 1834, wo noch die Censur- lücken existirten, war das viel leichter: hier konnte die Phantasie mit Leichtigkeit nachhelfen. Seitdem diese ver- boten sind, ist es aUerdings schwerer geworden, weil da- durch der Gewaltact des Censors auf die Rechnung der Un- geschicklichkeit des Schriftstellers kam, indem man nicht mehr unterscheiden konnte, wem der Unsinn eines durch die Censur verstümmelten Satzes zugerechnet werden musste,

304 Veber die Geschichte der neuesten Zeit,

ob dem Schriflsteller oder dem Gensor? [ndessen sind wir durch die Länge der Zeit auch dafür feinfühlender geworden, und haben allmählig die Ueberzeugung erlangt, dass, wo offenbarer Unsinn sich findet, dieser durch den Gensor ge- macht worden ist, keineswegs durch den Schriftsteller. Schwieriger ist dadurch allerdings die Aufgabe des Histo- rikers geworden: denn während er bei Pressfreiheit nichts weiter zu thun hätte, als blos zu lesen, was geschrieben worden, muss er jetzt gleichsam mit dem Geiste jedes cen- sirte Blatt betasten, um herauszufühlen, was etwa unter den gedruckten Buchstaben noch für ein Sinn stecken möge. Jedoch wird diesem Uebelstande wieder ^uf einer anderen Seite abgeholfen. Durch die ausserordentliche Erleichterung der Gommunication vermittelst Dampfschiffahrt und Eisen- bahnen nämlich kann sich Jeder von dem wirklichen Stande der Dinge selber unterrichten: und überhaupt sind durch diese Erfindungen die Menschen persönlich einander wieder 80 nahe gekommen, dass die mündlichen Mittheilungen be- reits anfangen, die schriftlichen zu verdrängen, so, dass man die Zeitungen, zumal die censirten, fast entbehren könnte, und doch wüsste wie es in der Welt stände. Die Sachen sind nun schon "So weit gediehen, dass das Ver- bieten sämmtlicher Zeitungen, ja dass selbst das gänzliche Verbot der Buchdruckerkunst nichts mehr helfen würde: denn die Menschen würden dann nur desto häufiger per- sönlich zusammenkommen und sich gegenseitig ihre Mitthei- lungen machen. Die Eisenbahnen aber kann man, schon aus finanziellen Rücksichten, doch nicht eingehen lassen. Die Quellen für die neueste Geschichte also, so unzu- länglich sie uns beim ersten Anblicke erschienen sind, sind doch nicht schlechter, als die für jede andere Epoche: ja, sie sind vielleicht noch besser: denn ausser den gedruckten Quellen giebt es noch lebendige Zeugen, welche, wenn sie sich auch scheuen, etwas von dem, was sie wissen, der Oeffentlichkeit zu übergeben, doch in vertrautem Gespräche nicht hinter dem Berge halten: eine Quelle, wie man sieht, VW ßusserprdentjicher Bedeutung, wodurch sich die Ge-

lieber die Geschichte der neuesten Zeit, 305

schichte der neuesten Zeit vor allen anderen auszeichnet, die sich nur mit todten begnügen müssen.

Wie aber? Gesetzt auch, die Quellen seien hinreichend gut, der Geschichtsforscher besässe ferner genug Scharfsinn und kritisches Talent, um den wahren Zusammenhang der Dinge zu ergründen , die objective Geschichte könne also in Wahrheit gefunden und herausgestellt werden wird sie nun nicht an der Subjectivität des Geschichtschreibers schei- tern? und macht es diese nicht überhaupt unmöglich, die Geschichte der eigenen Zeit wahrhaftig zu beschreiben? Dies ist eine Frage, die oftmals aufgeworfen und beant- wortet worden ist. Auch verdient die Wichtigkeit derselben, dass wir bei ihr ebenfalls etwas länger verweilen.

Dass die Geschichte der eigenen Zeit seilen wahrhaft beschrieben worden, ist leider nur zu wahr. Furcht, Wohl- dienerei, Rücksichten aller Art haben sehr häußg den Ge- schichtschreiber abgehalten, seine Pflicht zu erfüllen. Leider findet man diese unlöblichen Eigenschaften auch heut zu Tage oft genug in dem Stande unserer Gelehrten. Die Wis- senschaft, welche in ihrer rechten Bedeutung erfasst, sich selber genug sein muss, hat sich neuerdings gar zu sehr mit fremdem Prunke und Schimmer umgebens, als dass sie die ursprüngliche Reinheit ihres Wesens hätte bewahren können. Nicht dadurch aber wird der Priester der Wissen- schaft eine bedeutendere Stellung einnehmen können, dass er den Mächtigen schmeichelt und sein Talent, das ihm die Natur zum Schutze der Wahrheit verliehen, nur dazu an- wendet, um unhaltbare Theorien zu vertheidigen oder That- sachen zu entstellen und ihnen einen andern Zusammenhang unterzubreiten. Nur den wird die Nachwelt als echten Jünger der Wissenschaft anerkennen, der ohne Menschenfurcht, ohne Rücksicht auf zeitliche Vorlheile nur der Stimme in seinem Busen folgt und nicht ermüdet, nach bester Ueber- zeugung die Wahrheit zu ergründen. Wohl ist es nicht so leicht, auf dem Pfade der Tugend und der Wahrheit zu wandeln: denn, wie wir schon aus der Bibel wissen, eben solche sind den Pharisäern und Zöllnern ein Aergernis^,

^

306 üeber die Geschichte dei* t^uesten Zeit

und werden van ihnen, so gut es geht, verfolgt. Aber es ist auch etwas Schönes und Erhabenes, in einer Zeit der Demoralisation , wo das Schlechte noch so viel Mittel besitzt, um ehrenwerthen Charakteren zu schaden oder sie gar zu vemichten, mit männlichem Trotze da zu stehen und den Wellen, die gegen uns anschlagen, muthig die Stirne zu bieten. Ein schönerer Lohn ist doch wohl das Bewusstsein, unter den Wenigen gewesen zu sein , die selbst im Unglücke treu geblieben, als zu dem charakterlosen Trosse gerechnet zu werden y die aus Feigheit und Egoismus nur dem grossen Haufen und dem Glücke nachgegangen.

Aber die Unwahrheit des Geschichtschreibers seiner eigenen Zeit kann noch einen anderen Grund haben, als Furcht oder Feigheit. Sie kann aus einer edleren Quelle fliessen: der Geschichtschreiber kann ja mit ganzem Herzen und aus voller Ueberzeugung Partei nehmen für eine der sich bekämpfenden Richtungen. Dies gilt besonders von der Gegenwart. Denn heut zu Tage ist es kaum mehr möglich, nicht Partei zu nehmen, so sehr haben sich die verschie- denen streitenden Richtungen der Gemüther der Zeitgenossen bemächtigt. Wie nun? könnte man fragen, wenn auch der Historiker, wie doch wohl anzunehmen, einer der sich be- kämpfenden Parteien angehört, wie ist sodann von ihm jene Objectivilät zu erwarten, die doch ein wesentliches Erfor- derniss des Geschichtschreibers ist? Wird er nicht vielmehr Alles im Sinne der Richtung, zu der er sich bekennt, dar- stellen, und blind sein gegen die Fehler derselben, so wie gegen die Vorzüge der anderen?

Ich gestehe, dass mich diese Frage nicht gar zu sehr incommodirt. ich verlange vom Historiker mehr, als von irgend einem anderen Manne der Wissenschaft, Charakter. Wo ich diesen finde, wiU ich gerne mit in den Kauf nehmen, dass der Mann einer Partei angehört: ja gerade in einer Zeit des Kampfes wird der charaktervolle Mann sicherlich Partei nehmen: vorausgesetzt nämlich, dass der Gegenstand des- selben nichts Kleinliches und Persönliches, sondern etwas Grosses unä Gewaltiges, mit Einem Worte Ideen silid. Der

Ueber die Geschichte der neuesten Zeit. 307

cbaraktervolle, wenn auch einer Partei angeh^^rende Ge- scbicbtschreiber wird mir gewiss ein besseres Bild der Zeit geben, als derjenige, welcher, indem ersieh der Gesinnnngs^ iosigkeii und Zahmheit befleissigt, uns weiss machen möcbte, dass er nach Unparteilichkeit und Objectivität gestrebt habe. Aber gar zu häufig wird Höfiscbkeit und ängstliches Zurück- ballen seiner eigenen Meinung mit jenen Eigenschaften ver- wechselt, die allerdings die schönste Zierde des echten Historikers sind.

Wir glauben indess, dass diese dem Historiker inne- wohnen können, auch wenn er einer Partei angehört. Denn beim echten Historiker nniss die Liebe zur Wahrheit so über« wiegen, dass jede andere Neigung vor ihr zurücktritt und mit ihr gar nicht in Conflict kommen kann, oder, wenn auch, doch so, dass jene unzweifelhaft den Sieg davon trägt. Die Gewissenhaftigkeit muss ihm angeboren sein , nicht etwa erzeugt durch Reflexion und Ueberlegung: sie muss ein we- sentliches Element seines Natureis ausmachen. Ist dies der Fall, so darf der Historiker getrost einer Partei angehören, und er wird sich doch nicht gegen die Geschichte versün- digen.

Die wahre historische Treue, das Hauptziel des Ge-> Schichtschreibers, besteht jedoch nach unserer Ansicht nicht blos in jener Unparteilichkeit, welche mit Wissen nichts Unwahres und Entstelltes berichtet, vielmehr das Gute auf gleiche Weise vom Feinde, so wie das Schlechte vom Freunde erzählt, eine Eigenschaft, welche uns mehr oder minder einen blos negativen Charakter zu haben scheint, sondern sie besteht vorzugsweise in dem Talente, in die verschieden- sten Richtungen und Bestrebungen, selber in solche, mit denen wir eigentlich nicht übereinstimmen, einzugehen, sie in ihrem Wesen und in ihrem Kerne aufzufassen und mög* liehst getreu wieder darzustellen. Man sieht: wir verlangen Vielseitigkeit vom Historiker, und zwar nicht blos diejenige, welche durch Kenntnisse erworben wird, sondern welche das Resultat des ganzen inneren Menschen ist und immer einen Reicbthum voa Anlagen , zum wenigsten von Phantasie

308 Uebef' die Geschichte der neuesten Zeit.

voraussetzt. Er muss fähig sein, den höchsten Flug der Ideen zu verfolgen und zugleich in dem gemüthlichen Spiele des Seelenlebens sich heimisch finden. Er muss di& gewal- tige Natur eines zum Herrschen Geborenen ebenso verstehen, wie die zarlere Seele eines zur stillen Wirksamkeit berufenen Geistes. Weder die Leidenschaft eines thatkräftigen, Willens- stärken Menschen, noch die Consequenzen des scharfen, klaren Verstandes, noch die Welt einer gemüthlichen wohl- wollenden Phantasie dürfen ihn überraschen: er muss so zu sagen, zu allen Modificationen der menschlichen Natur eine verwandte Ader in sich verspüren. Dies Alles ist aber nicht möglich ohne eine entsprechende Eigenschaft des Herzens, nämlich nicht ohne eine gewisse Milde. Diese verlangen wir vom Historiker so gut wie festen Charakter und Wahr- heitsliebe. Auch widersprechen sie sich keineswegs. Denn die Milde ist keineswegs Schwäche, sondern mit Billigkeit und Gerechligkeitsliebe identisch, Eigenschaften, welche mit der Wahrhaftigkeit auf das Innigste zusammenhängen. Denn unter der Milde, die wir vom Historiker verlangen, verstehen wir natürlich nicht Mangel an Entschiedenheit, Furcht vor jeder kühnen oder excentrischen Natur, sittlichen Indiffe- rentismus, selbst der Niederträchtigkeit und Erbärmlichkeit gegenüber, Fehler, welche gar zu häufig mit den schönen Namen von rechter Mitte, Besonnenheit, Unparteilichkeit und dergleichen ausgestattet werden, die aber alle in die Kategorie der Halbheit und der moralischen Dürftigkeit ge- hören, sondern jene wohlwollende Gesinnung, welche Men- schen und Richtungen nicht beim ersten Anblicke und ohne Weiteres aburtheilt und verdammt j sondern in Allem, was von Menschen ausgeht, so lange die edlere Natur derselben vermuthet, bis die kritische Forschung das Gegentheil da- von dargethan hat. Man sieht daher: Milde verträgt sich recht gut mit Charakterfestigkeit. Aber nicht selten haben Diejenigen, welche, wie wir, vom Geschichtschreiber Cha- rakter forderten, denselben mit einer ausgeprägten Subjec- tivilät verwechselt, welche freilich sowohl mit der Milde,

Üeber die Geschichte der neuesten Zeit, 309

wie mit der wahren Objectivität der Geschichtschreibung unvereinbar ist.

Denn die Subjectivität will weniger den Gegenstand, den sie behandelt, als vielmehr nur sich selber und be- trachtet jenen nur als Folie, um sich an ihm gleichsam zu allgemeiner Beschauung auszustellen. Sie hat daher auch nicht den Zweck, den der echte Historiker immer verfolgen muss, die Geschichte selber reden zu lassen, sondern sie muss gleichsam wie der Cicerone in der Bildergalterie immer dabei stehen und den Lesern das und jenes expliciren: aber wie gesagt, weniger, um den Gegenstand in das rechte Licht zu setzen, als vielmehr um sich selber in dem vortbeil- haftesten Lichte zu zeigen. Die Subjectivität kennt daher kein Eingehen in Persönlichkeiten und Richtungen, die von ihr selber wesentlich verschieden sind, sondern sie raisonnirt blos, meistert, verurtheilt und verdammt oder lobt und er- hebt: sie vermag sich daher auch nicht leicht zu einer echt künstlerischen Form zu erheben, weil, je vollkommener diese ist, desto weniger das Subject hervortritt; sie erfordert also eine gewisse Selbstverläugnung und Aufopferung, zu welcher sich die Subjectivität unmöglich entschliessen kann. So lange daher die Subjectivität vorherrscht, so lange kann von einem vollendeten Historiker nicht die Rede sein: ohne Vielseitigkeit und ohne jene Milde, die wir eben geschildert, (|ie aber zu- gleich von Charakterstärke getragen sein muss, wird er es nie.

Die Vielseitigkeit muss natürlich angeboren sein: aber das Leben muss nachhelfen und entwickeln. Ohne das Leben würde das angeborene Talent bald verkümmern. Der His- toriker muss daher eben so sehr in den höchsten wie in den niedersten Kreisen der Gesellschaft zu Hause sein, und nur durch eine gleichmässige Kenntniss der verschiedensten Sphären des Lebens und der Politik kann es ihm gelingen, das Ganze zu umfassen und ein wahres anschauliches Bild davon zu entwerfen. Denn wer den Kreisen der höheren Gesellschaft gänzlich fremd geblieben, der wird sich von dem eigentlichen Hergange der Begebenheiten und von dem wirklichen Zusammenhange der Thatsachen, deren knoten

310 üeber die G€$ckiehte der »euesien Zni.

dont geschürzt worden sind , eine falsche Vi^rstelluag machen, die je nach dem Naturelle des Historikers eine bald rosigere, bald schw^zere Färbung erhalten wird. Nur wem dieser Schauplatz Lein unbekannter Boden ist, der wird sich auch auf ihm auszukennen und manche schwachen Andeutungen in ihrem eigentlichen Wesen aufzufassen vermögen. Eben so sehr aber ist dem Historiker die Kennlniss des Volks- lebens nöthig. Es genügt nicht, dass er in seiner Studier- stube sitzen bleibe, dass er daselbst philanthropische Ideen aushecke und dergleichen. Er muss sich auch unter dem Volke bewegen: er muss es erlauschen in seinen Ansichten, wünschen, Hoffnungen, selbst Begehrlichkeiten und sich hier so wenig einer Täuschung hingeben, wie dort. Aber unsere Gelehrten haben das in der Regel versäumt: sei es, dass sie es wirklich für überflüssig hielten, mit dem Volke zu ver- kehren, oder, was der Hauptgrund war, aus einer gewissen Vomebmthuerei. Denn selbst die Besten, Freisinnigsten und Wohlwollendsten unserer Gelehrten können sich doch selten eines Anflugs von Hochmuth erwehren, wenn sie in irgend eine Beziehung zum Volke kommen. Sie betrachten dasselbe in der Regel als in der Lage , von ihnen Belehrung annehmen zu müssen, und machen sich daher äusserst schwer von dem Tone des Schulmeisters los. Wer aber schulmeistert, der wird sich zu denen, welchen er Lehren ertheilt, in kein genaueres Verhällniss zu setzen für ndthig finden. Und doch könnte der gesunde Sinn des Volks manchem verschrobenen Bücherwurme eine bei Weitem bessere Belehrung geben, als er selbst zu ertheilen vermöchte. Aber wir vermissen unter den Gelehrten so häufig die Liebe und jene Hingebung, welche nicht sich selber ^ucht und am Wenigsten auf die eigene Stellung eifersüchtig ist, sondern nur die Wahrheit und das Wohl der Mitmenschen im Auge hat. Denn nur eine solche unegoistische Gesinnung vermag sich selber zu verläugnen und zu Wesen herabzusteigen, die wir in eine niedere Klasse zu verweisen gewohnt sind.

Also Wohlwollen und Empfänglichkeit für das Volks- massige > ebenso wie feinere Bildung, die ihn befähigt, sich

Ueber die Geschichte de$* neuesten Zeit. Sil

in den höheren Kreisen der Gresellschaft zu bewegen, und hier seine Beobachtungen anzustellen, verlangen wir vom Geschichtschreiber unserer Zeit. Denn durch diese Eigen- schaften wird er die beiden Endpunkte der Gesellschaft, von denen die Bewegung der Gegenwart ausgeht, zu>er£ass^i und ^cfa auf dem Terrain des Kampfes auszukennen ver- mögen. In einem gewissen Sinne wird er sich schon da- durch die Möglichkeit erwerben, historische. Gerechtigkeit zu üben.

Aber er muss zu diesem Resultate noch von einer an« deren Seite bsr gelangen. Der echte Historiker nämlich wird keine Epoche als etwas Vereinzeltes betrachten, sondern in Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte der Mensch^ heit. So wird ihm auch die Gegenwart nicht als für sich bestehendes Bruchstück erscheinen, sondern als ein aller- dings höchst bedeutender Abschnitt in der allgemeinen Ent- wicklung. Hierdurch verliert in seinen Augen die Gegen- wart alle jene kleinlichen persönlichen Momente, welche menschlichen Verhältnissen, und handelte es sich auch um die höchsten geistigen Güter, niemals fehlen: alle Bittericeit, Ungerechtigkeit und Härte, welche der unmittelbare Kampf nothwendtg erzeugt, alle menschlichen Leidenschaften und unedleren Motive, welche allen Zeiten und selbst der besten Sache anzukleben pflegen, und die, in ihrer Nacktheit be- trachtet, den Dingen oft einen ganz anderen Charakter auf- zuprägen scheinen, die aber im Ganzen doch mehr zufällig, als wesentlich sind , all' diese Schlacken treten in den Hinter* grund und nur die grossen Resultate, die Ideen und die geistigen Bewegungen bleiben Übrig. Diese erhalten aber dann erst ihre wahre Bedeutung und ihre Berechtigung für Gegenwart und Zukunft, wenn sie mit den Bestrebungen der Vergangenheit in Beziehung gesetzt werden: indem diese dem Historiker ihre Blätter entrollt, deutet sie ihm zugleich die künftige Entwicklung an. So, den gewaltigen Bau ver- gangener Jahrhunderte, die gesammten bisherigen Bestre- bungen des menschlichen Geistes vor seinen Blicken, wird er es am Ersten vermögen , die Tendenzen des Jahrhunderts

312 Ueber die Geschichte der neuesten Zeit.

in ihrer Reinheit zu erfassen und den Kern ausfindig zu machen, welcher nach Abstreifung der Auswüchse und der Schlacken als feuerfester Edelstein noch übrig bleiben muss. In der höchsten Bedeutung des Worts wird er dann zugleich Staatsmann und Yolksmann sein. Er wird die politische Richtung, welche der Genius der Menschheit für das jeweilige Jahrhundert verlangt, zu erkennen und zu beurtheiien wissen, welche Institutionen dem Geiste seiner Nation und der Ent^ Wicklung, die sie bisher durchlaufen, gemäss seien. Ueber diesen grossen Resultaten aber wird und muss die Klein- lichkeit des Parteigeistes verschwinden: und deshalb kann beim echten Historiker von Eni Stellung der Wahrheit zu Gunsten einer Partei, von absichtlicher Verfälschung der Thatsachen oder Verdrehung des Ganges der Geschichte keine Rede sein.

Wir können daher getrost den Einwurf von der Un^ möglichkeit, die Geschichte der eigenen Zeit wahrhaft zu beschreiben, zurückweiseh. Wenn das Bild, welches wir vom Historiker entworfen, Überhaupt realisirt werden kann, so ist auch ein getreuer Geschichtschreiber der neuesten Zeit keine Unmöglichkeit.

Nun aber drängt sich eine andere Frage auf: wie soll die Methode sein? Hier mehr, wie bei irgend einer anderen Periode, muss man von den Ideen ausgehen. Die Persön- lichkeilen treten ganz entschieden zurück, und es ist schon manchmal gesagt worden, dass der Charakter unserer Epoche sich gerade in dem Mangel hervorragender Individuen be- merklich macht. Selbst die ausgezeichnetsten unter ihnen dienen doch nur den Massen d. h. dem, was die Massen wollen und erstreben, und würden, wenn sie etwas anderes wollten, sofort der Vergessenheit anheimgegeben werden. So ist unsere Zeit recht eigentlich die Zeit der Massen, aber keineswegs der rohen, sondern der durch Ideen und Stre- bungen geklärten , und unterscheidet sich dadurch sehr vor- theilhaft von manchen früheren Epochen. Auch die Völker- individuen spielen nicht von einander abgesonderte Rollen. Das, wovon sie bewegt werden, ist vielmehr fast das Näm-

üeber die Geschichte der neuesten Zeit. 313

liehe: es sind dieselben Ideen, Richtungen, Bestrebungen, mit nur wenigen, durch den Nationalcharakter bedingten, Modificationen: so dass, was in dem einen Ende Europas vorgeht, fast in dem anderen gefühlt und mitempfunden wird. Die gegenseitigen Einwirkungen der Nationen auf ein- ander sind jetzt vielleicht bedeutender, als je, und manche Erscheinungen in dem einem Lande wären ohne den Vor- gang in einem anderen gar nicht zu erklären. Man dürfte daher keinesfalls die ethnographische Darsteliungsweise be« folgen, weil diese nothwendig das, was zusammen gehört, aus einander reissen würde.

Was sind das aber für Ideen, die wir bei der Geschichte der neuesten Zeit vorzugsweise im Auge behalten müssen? Zunächst tritt uns der politische Kampf entgegen. Es ist schwer, diesen mit ein Paar Worten zu charakterisiren, weil er verschiedene Gesichtspunkte zulässt. Einmal nämlich ist der Gegensatz der strengeren monarchischen Verfassungs- formen oder des Absolutismus und der freieren, wie der constitutionellen Monarchie oder der Republik ins Auge zu fassen. Zweitens das Verhältniss, in welchem die Staatsge- walt, rein als Idee betrachtet, ohne Rücksicht auf Monarchie oder Republik, zu ihren Untergebenen steht, d. h. ob den Individuen und den Corporationen mehr oder weniger Frei- heit und Selbstständigkeit der Staatsgewalt gegenüber ein- geräumt ist. Drittens endlich der Widerspruch zwischen der nationalen und der kosmopolitischen Richtung, oder zwischen den Interessen der Nationen als solcher und den aligemeinen Tendenzen der Epoche. Dieser Widerspruch bildet eines der bedeutendsten Momente in der neuesten Geschichte. Aus ihm erklärt sich, wie die Regierungen mancher, selbst grosser Staaten gewissen politischen Ten- denzen zu Gefallen die höchsten Interessen ihrer Völker an- deren zum Opfer bringen, und, während sie bei dem Ein- schlagen der entgegengesetzten Richtung eine der ersten Rollen hätten spielen können, es vorziehen, als das fünfte Rad am Wagen der europäischen Diplomatie zu erscheinen. Aus ihm erklärt sich ferner, wie eine Zeitlang auch die

Allg. Zeittclirift f. Geschichte. Y. 1846. . 21

^ I

314 lieber die Geschichte der nene$ten Zeit.

Völker, dem Beispiele ihrer Oberhäupter folgend, die eigenen Interessen aufs Spiel setzten, in der Hoffnung, dadurch die Realisirung ihrer politischen Wünsche zu erreichen. Andere Völker und Hegierungen wiederum berücksichtigten fast nur die eigenen nationalen Interessen, und stiessen eben darum bei dem Geiste des Jahrhunderts an Nur ein Staat wusste seine Tendenzen in Hinsicht auf die innere Politik vortreff- lich mit den nationalen Interessen zu vereinigen, nämlich der russische: welcher in allen Fragen der inneren Politik, namentlich Deutschlands, seine Hände mit im Spiele hatte und eine Zeitlang selbst die mächtigsten deutschen 'Staaten nach seinem Willen lenkte, zugleich aber die Interessen Russlands gegen Aussen hin auf keine Weise vergass, ja schon dadurch der künftigen Vergrösserung desselben vor- arbeitete , dass er die deutschen Regierungen schlauer Weise vermochte, ihren eigenen Interessen entgegenzuhandeln. Nie ist die Intrigue auf eine grosaartigere und erfolgreichere Weise apgelegt worden: aber nie war sie auch von einer grösseren Verblendung begünstigt.

Ist es aber nur der politische Kampf, den wir zu be* rücksichtigen haben? 0 nein! Von nicht minderer Wich- tigkeit ist der religiöse und der kircUiche. Aber auch hier gibt es verschiedene Gesichtspunkte. Erstens der Streit zwischen Ejrche und Staat. Zweitens der Kampf zwischen Eatholicismus und Protestantismus. Drittens der Gegensatz der freieren Religionsansicht sowohl innerhalb des Katholi- cismus, als des Protestantismus^ neuerdings auch des Juden- thums, wider die noch im Besitze der Gewall sich befindende reactionäre Richtung der privilegirten Kirchen.

Zu diesen kommt nun noch als drittes Element das so- ciale, das sich ebenfalls auf dreifache Weise ausspricht« Nämlich in der industriellen und merkantilischen Entwick- lung, sodann in dem Punkte des Vermögensunterschiedes, endlich in den Zuständen der büi^erlichen Gesellschaft, na- mentlich in den sexualen Verhältnissen.

Dies wären die Hauptpunkte, die wir ins Auge zu fassen hätten. Nach ihnen könnte man die Eintheilung der Ge-

lieber die Geschichte der neuesten Zeit, 315

schichte treffen. Offenbar nämlich mUssen wir drei Perioden annehmen. Die erste gebt von dem Sturze Napoleons und dem Wiener Gongresse bis zur Julirevolution oder von 1814 bis 1830. Die zweite von der Julirevolution bis zur Thron* besteigung Friedrich Wilhelms IV. von Preussen, oder von 1830 bis 1840. Die dritte geht von da an bis auf die Ge- genwart, ist aber noch nicht geschlossen.

Diese Perioden sind ziemlich von einander verschieden. Was zunächst das Yerhältniss der kämpfenden Parteien be- trifft ^ so ist in der ersten die Bewegungspartei im Ganzen intensiver, tüchtiger an Gesinnung und Wollen, aber nicht so zahlreich und weniger klar über die eigentliche Lage der Dinge, über das zu Erstrebende und die praktische Aus^ führung desselben. In der zweiten Periode ist die Bewe- gungspartei massenhafter, so ziemlich verständigt über ein- zelne Hauptpunkte und Richtungen, aber nicht so tüchtig und sittlich bedeutend wie in der ersten, deshalb im Ganzen flachet* und weniger nachhaltend. In der dritten ist, so viel wir sehen können, die Bewegungspartei noch massenhafter wie in der zweiten, aber auch die Gesinnungstüchtigkeit hat zugenommen und nicht minder die Klarheit über die Zustände der Gegenwart und die Bedürfnisse der Zukunft. Man könnte sagen: in der ersten Periode geht die Bewegung von den Gebildeten aus, in der zweiten von einem Theile der Volks- massen, in der dritten von beiden zugleich.

Man kann auch noch von einem anderen Gesichtspunkte ausgehen. In der ersten Periode, wenigstens anfänglich, ist das Nationale vorherrschend. In der zweiten tritt die na- tionale Richtung zurück, um mehr oder minder der kosmo- politischen Platz zu machen. In der dritten kommt die na- tionale Richtung von Neuem zur Geltung, aber klarer und durchgebildeter, wie in der ersten.

In religiöser und kirchlicher Beziehung ist ebenfalls eini- ger Unterschied. In der ersten ist das religiöse Element von grosser Bedeutung: die Kirche sucht ihren verlorenen Einfluss wieder zu gewinnen , und es gelingt ihr dieses Stre- |t)en mannigfach. In der zweiten wird das religiös-kirchliche

21*

316 lieber die Geschichte der neuesten Zeit.

Element vom politischen grossentheils verschlungen, und wenn auch die Entwürfe der hierarchischen Partei keines- wegs aufgegeben werden, so scheint doch ein aligemeiner religiöser Indifferentismus eingerissen zu sein. In der dritten kommt der religiöse Kampf wieder mit aller Kraft zum Vor- schein, und zugleich mit einer Klarheit und logischen Strenge, wie noch niemals vorher.

Was die socialen Bestrebungen betrifft, so haben die- selben zwar in den ersten beiden Perioden bereits ihre An- fänge, jedoch noch ziemlich untergeordnet. Erst in der drit- ten erringen sie eine nicht mehr zu verkennende allgemeine

«

Bedeutung: auch sie werden, wie Alles in dieser Periode, massenhaft, und gehen augenscheinlich einer Lösung ent- gegen.

Es versteht sich jedoch von selbst, dass wir diese Cha- rakteristik der einzelnen Perioden nur cum grano salis be- trachtet wissen wollen, wie denn jede allgemeine Bemer- kung ihre Ausnahmen erleidet. Denn in jeder Periode selber ist wiederum Fortschritt unverkennbar, so dass am Schlüsse derselben der Geist der Zeit schon ein ganz anderes Gepräge '^dngenommen hat, wie im Anfange, während umgekehrt in eine neue Periode noch Reste von dorn Charakter der frü- heren herüberkommen. Jede Periode hat daher wieder ihre Unterabtheilungen, die sich von einander obngefahr ebenso unterscheiden, wie die Perioden selber. Den Gang der letzten können wir noch nicht bestimmen, weil sie, wie gesagt, noch nicht geschlossen ist; von den beiden ersten aber können wir ihn angeben. Jede derselben hat nämlich wiederum drei Unterabtheilungen. Diese sind in der ersten folgende. Die erste geht von dem Wiener Congresse bis in das Jahr 1820 und enthält die Restaurationen in den ein- zelnen Ländern Europas, den Widerspruch der öffentlichen Meinung gegen die Maassregeln der Regierungen und die dadurch nur noch gesteigerte Reaction von Seite des absolut monarchische!^ Princips. Die zweite Abtheilung g^ht von 1S20 bis 1824, und enthält die revolutionären Bewegungen in Europa, die anfänglichen Erfolge derselben und die bald

Weifen und Gibelinye. .317

darauf siegreiche Reaclion. Die dritte Abtheilung von 1824 bis 1830 wendet sich mehr zur äussern Politik, indem die griechisch-türkisch-russische Frage so ziemlich alle andere Thätigkeit absorbirt: sie enthält jedoch bereits die Vorberei- tungen zu der Katastrophe im Jahre 1830. Die ünterab- theilungen der zweiten Periode, von 1830 bis 1840, sind folgende. Dio erste, von 1830 bis etwa 1833 , enthält die revolutionären Bewegungen in Europa, die mit der Julirevo- lution beginnen und dann die Runde fast durch alle Länder machen. Die zweite, von 1833 bis 1836, enthält den theil- weisen Sieg der Reaction. Die dritte wendet sich wiederum vorzugsweise zur äusseren Politik, indem die orieutalische Frage und die Verwicklungen auf der pyrenäischen Halb- insel, die allerdings bereits in der zweiten angefangen, sich immer mehr einer Lösung entgegendrängen.

In eine noch nähere Charakteristik können wir jetzt noch nicht eingehen, weil wir sonst späteren Artikeln vor- greifen würden. Einstweilen möge das Gesagte genügen, um unsere Ansicht von dem Gegenstandie, wenigstens im Allgemeinen, erkennen zu lassen und den Standpunkt anzu- deuten, den wir bei der Beurtheilung der dahin einschla- genden Werke einzunehmen gedenken.

H^elfeii und Gibelinge.

Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Reiches und der

deutschen Heldensage.

Uer Versuch den Ursprung dieser beiden so vielfältig ge- brauchten Benennungen zu ermitteln, ist schon vor Jahr- hunderten und seither Öfters gemacht worden, aber nie mit befriedigendem Erfolg. Ihn zu erneuern darf schon darum kein Bedenken erregen, weil sich an diese Frage, obwohl sie zunächst nur der Sprachforschung angehört, doch aufs engste mehre Betrachtungen schliessen , die Lichl über einen

318 Weifen und Gibetinge.

der wichtigsten Zeiträume der deutschen Dichtkunst und des deutschen Reiches werfen. Ausserdem hängt sie zusammen mit wichtigen Angelegenheiten der Gegenwart. Der Kampf der beiden Kräfte die sich eine Zeit lang unter den Namen der Weifen und Gibelinge gegenüberstanden, ist nicht nur älter als sie: er hat sie auch Überdauert, und wird fort- währen so lang es eine deutsche Geschichte giebt. Diese nämtich bewegt sich seit 1400 Jahren, d. h. seitdem das Schwert der Franken angefangen hat, den grösseren Tbeil der germanischen Stämme zu verbinden, in einem unauf- hörlichen, oft höchst gewaltsamen Schwanken zwischen Ein- heit und Auflösung. Die Kriege der älteren Franken gegen Alemannen, Baiem und Sachsen 3 der Könige von sächsischem Stamm gegen Franken, Baiern, Schwaben und Lothringer;;: der späteren Franken gegen Sachsen und Schwaben; der Staufen gegen die Weifen; der Habsburger gegen Baiern, Böhmen und Preussen: sie alle bedeuten das nämliche, den Kampf zweier Wagschalen, von denen keine das Ueberge- wicht erlangen darf, wenn nicht entweder das Königthum auf Kosten der Freiheit allmächtig werden, oder die Selbst« ständigkeit der einzelnen Stämme der Einheit, die dem rings gefährdeten Volke so nöthig ist, zum Verderben gereichen soll. Vom Ende des 11. bis in den Anfang des 13. Jahr- hunderts waren die Feinde der Königsgewalt, alle die für Geltung der Stämme kämpften, allerdings mit Unterbrechun- gen, unter dem Banner der Weifen vereint. Ob sie auch so genannt wurden, ferner ob für ihre Gegner eine gemein- same Benennung da war, und welche, das sind bestrittene Fragen, deren Lösung mir im Verlauf dieser Arbeit vielleicht wenigstens annähernd gelingt.

Wenn nach Ursprung und Sinn jener beiden Benen- nungen gefragt wird, so rührt die Schwierigkeit einer Ant- wort vornehmlich daher, dass Parteinamen immer aus kleinen Anfängen hervorgehn, häufig sogar Schimpfwörter sind. Des- wegen bleiben sie in der Zeit wa jedermann ihren Ursprung kennt, von den Geschichtschreibern unbeachtet; und wenn die Zeit kommt wo sie sich zu allgemeiner Bedeutung aus-

Weifen und Gibelinge. 319

gebreitet haben, so ist das Andenken an ihre Herkunft er- loschen. Daher sagt Papst Gregor X. schon im Jahr 1273 mit vollem Rechte, die Bedeutung der Namen Weif und Gi- beling sei völlig unbekannt, selbst bei denen die sie führen i). £s könnte scheinen, wenn am päpstlichen Hof, einem Haupt* sitze für europäische Wissenschaft und Staatskunst, schon damals keine Lösung der Frage möglich war, so könne man jetzt, beinahe 600 Jahre später, noch weniger hoffen etwas erkleckliches ans Licht zu bringen. Indessen darf nicht ver- gessen werden dass die mittelalterliche Wissenschaft, gleich der des Alterlhums, in Sachen der Wortforschung überaus unglücklich gewesen ist, und dass dagegen wir in unserer weit vorgeschrittenen Sprach- und . Geschichtskunde die Mittel besitzen, selbst aus der Ferne über vieles klar zu werden, was den damaligen aus ziemlicher Nähe dunkel bleiben musste.

Die WelfDn und ihr Name.

Das Geschlecht der Weifen, einheimisch in der Gegend von Ravensburg und Altdorf (Weingarten), nach welchen Orten es auch später zuweilen genannt wird, war reich be- gütert im südöstlichen Schwaben, sowie in den angrenzenden Theilen von Baiern, Tirol und Graubünden (Ghur-Rätien); und schon im 9. Jahrhundert dadurch geehrt, dass zwei ka- rolingische Könige, Ludwig der Fromme (819) und sein Sohn, Ludwig der Deutsche (827) Gemahlinnen aus ihm wählten, beide Töchter Eines Mannes, desselben der zuerst nachweisbar den Namen Weif trug 2). Er starb ums Jahr 824. Ein zweiter geschichtlich sichrer Weif (Welfo) wird

0 Guelphus aut Gibellinas, nomina ne Ulis quidem qui illa proferuDt nota; inane nomen, quod quid signißcet nemo intelligit» Muratori, Scriptores XI, 178. Nach dem Zusammenhang will er durch diese Vorstellung die Parteien zum Frieden bewegen, weil sie eigenitich um etwas Leeres entzweit seien.

>) Die Angaben über die Geschichte der Weifen, in der Sicher- heit und Kürze wie sie für Untersuchungen dieser Art nicht ent- behrt werden können, verdanke ich der trefilicben Würtember-

320 Weifen und Gibelinge.

um 850 mehrfach als Graf dos Argen- und Linzgaues genannt; doch lässt sich seine Verwandtschaft mit dem ebengenann- ten, dessen Enkel er sein könnte, nicht urkundlich darthun. Von ihm an vernehmen wir den Namen beinah zweihundert Jahre lang nicht mehr: die Männer des Geschlechtes, so weit wir sie kennen, heissen Konrad, Eticho, Rudolf, Heinrich. Erst ums Jahr lOOÖ tritt wieder ein Weif (H.) auf, der Er- bauer von Ravensburg (t 1030); von ihm an geht der Name nun fort, indem sich Weif III. IV. V. VI. und VII. ohne Un- terbrechung folgen. Er vererbte sich in dieser späteren Zeit, wenn der Vater Weif hiess, auf den ältesten Sohn; hatte der Vater, als nachgeborener, einen andern Namen, so über- trug er diesen auf seinen ältesten, nannte aber den zweiten Weif: die beiden Söhne WelfsIV. z.B. (f 1101) sind WelfV. und Heinrich der Schwarze; die beiden Söhne Heinrichs des Schwarzen (f 1126) sind Heinrich der Stolze und Weif VI. So konnte sichs begeben, dass von diesem weit überwie- genden Namen das ganze Geschlecht seine Benennung empfing. Die Form Weif (althochdeutsch Welfo, in mittelalterlich lateinischer Form Guelfus, Guelfo) ist nicht die ursprüng- liche. Unter den Verkürzungen zusammengesetzter Manns- namen war eine der beliebtesten die, welche einfach den zweiten Theil wegwarf und dem ersten die Endung o der sogenannten schwachen Masculinen gab. So findet man Kuonrad verkürzt in Kuono, Berngar oder Bernhart in Benno, Eberhart in Eppo 3); so ist auch Welfo nachweisbar aus Welf-hart gebildet. Eckehard IV. z. B. nennt Weif den II. (t 1030) wiederholt geradezu Welf-hart ^).

gischen Geschichte von Stalin. Dns wichtigste für die altere Zeit findet sich im ersten Band, vornehmlich S. 251 und 556; die spä- tere wird im zweiten Bande geschildert, dessen handschriftliche Benutzung mir die zuvorkommende Güte des Verfassers gestattet hat.

») Vergl. Schmellers Bay. Wörterb. 2, 82.

^) Die Stelle nebst manchen andern hieher gehörigen giebt Stalin 1, 557. Wohl im Zusammenhang mit dem Haus der Wei- fen oder Welfharte steht der S. Gualfardus, confessor augustanus, dessen Lebensbeschreibung, aus einem Druck von 1596, Pfeiffer in seinen deutschen Mystikern (Stuttgart 1845, S. XXI) erwähnt.

Weifen und Gibelinge. 321

Dieses Weifhart hat etwas auffallendes. Sonst nämlich ist man meistens im Stand, jeden der beiden Theile die den Namen bilden auch anderwärts nachzuweisen: ein Weif ist mir aber nirgends begegnet, es giebt keinen Welf-win, Welf- ram, Welf-goz u. s. w. Schmeller macht zwar ein Weifrat geltend 5), allein ich vermuthe dass diese Form, wenn sie wirklich geschrieben steht, nur durch Tonlosigkeil der zwei- ten Silbe aus Weifhart entsprungen ist, also richtiger Welf- ert oder Weifret hiesse. Auch Gualfredus zieht Schmeller wohl nicht mit Recht herbei, da es vielmehr von Walach- frid herzukommen scheint. Rtbhtiger nimmt die Sage öin Wort der alten Sprache zu Hülfe, indem sie behauptet Kin- der aus diesem Stamm seien einmal als Weife Q'unge Hunde) ausgesetzt worden 6). Daran ist wenigstens so viel begrün- det, dass Weif (der, das) in der älteren Sprache das Junge des Hundes, Wolfes, Bären, Löwen u. s. w. bezeichnet). Gern w^ählten die alten Deutschen zur Benennung ihrer Kna- ben die Namen tapfrer Thiere; z. B. Eber-hart, Wolf-hart, Bern-hart, Leon-hart bedeuten hart (tapfer) wie der Eber, Wolf, Bär, Löwe. In Welf-hart scheint ein neues Wort die- ser Art aufzutauchen: tapfer wie ein junger Wolf oder Bär. Dass die Benennung nicht auch in andern Namen noch vor- kommt, weist vielleicht auf ihr hohes Aller hin: sonst über- all scheint sie verloren gegangen zu sein. Dass das Haus der Altdorfer sie bewahrte, rührt vielleicht von der stolzen Erinnerung her die sich ihm damit verband: sein Ahnherr, der erste von dem wir wissen dass er ihn trug, war der Vater zweier Königinnen, und es könnte deswegen mehr als ein Zufall sein, dass der Name seine neue^ alles über- wiegende Geltung gerade von der Zeit an erhält, wo das Geschlecht anfängt sich in einen grossen Kampf mit dem Königthum, möglicher Weise schon damals sogar um das Königthum, einzulassen.

») a. a. 0. 4, 67. •) Brüder Grimm, deutsche Sagen 2, 233. ') Beweise s. bei Schmeller, Bay. Wörterb. 4, 66; und in GraflPs althocbd. Sprachschatz 4, 1227. Die älteste Form ist hwelf, wie auch das Wort im Altsächs. und Angels. hvelp , im Altnord, help-r lautet.

322 Weifen und Gibelinge.

Denn das erste feindiiche Auftreten der Weifen gegen die Salier fällt in die Jahre, wo dieses letztere Haus, das nicht unter die vornehmsten gehörte, eben erst zur Krone gelangt war, wo also manches andere von gleich hoher und höherer Bedeutung, wohl hoffen konnte sich mit Erfolg ihm gegenüberzustellen. Im Jahr 1026 begann Herzog Ernst IL von Schwaben Krieg wider den ersten Salier, Kunrad U., weil er auf Burgund, welches dieser zum Reich gezogen hatte, näheren Anspruch zu haben glaubte. Ihm zur Seite stand, als einer der heftigsten Feinde des Kaisers, der mehr erivähnte Herzog Weif IL (i*1030), vielleicht weil er, als entfernter Verwandter des burgundischen Königshausos, auf einen beträchtlichen Antheil am Gewinn hofiTte. Er verlor zur Strafe die Grafschaft Botzen, ward aber vom Hofe nach- her wieder zu Gnaden angenommen. Der Sohn dieses Welfs, Weif IIL, erhielt zwar 1047 von Heinrich III. das Herzog- thum Kärnten mit der Mark Verona, ward jedoch dadurch nicht für den Kaiser gewonnen.

Mit ihm endete (1055) der alte Weifenstamm. Aber der Sohn den seine Schwester Kunigunde dem Markgrafen Appo U. von Este, einem Hauptgegner Heinrichs IV. in Italien (f 1097) geboren hatte. Weif IV., erbte nicht nur seines Vaters ita- lienische Besitzungen , sondern auch die ausgebreiteten deut- schen seines mütterlichen Oheims, und begründete den zweiten, zur Stunde noch blühenden Weifenstamm, auf den die Gesinnungen des älteren übergingen. Weif IV. erlangte zwar 1071 von Heinrich IV. das Herzogthum Baiern, ward aber nachher (1076) mit Berchtolt von Zärlngen eine Haupt- stütze derer die jenen Kaiser vom Thron stossen wollten, bis er 1096, alt und müde, nachgab und sein Herzogthum zugesichert erhielt. Im Jahr 1101 starb er auf Cypern, vom Kreuzzug heimkehrend.

Seine beiden Söhne, Weif V. (f 1119 oder 1120) und Heinrich der Schwarze (f 1126) tbeilten sich in das Erbe des Hauses: Baiern fiel zuerst jenem, als dem älteren, zu; nach seinem Ende diesem. Durch Welfs Heirath mit der berühmiien Mathilde von Tuscien (1089) wäre, worauf sie

Weifen und Gibelinge. 323

berechnet war, das welGsche Haus noch fester an Rom ge- bunden worden, wenn nicht der unnatürliche Bund zwischen einem Jüngling von 18 Jahren und einer herrschsüchtigen Wittwe von 43 sich schon 1095 wieder aufgelöst hätte : Weif wurde bald nach seines Vaters Aussöhnung mit Heinrich IV. (1096) von diesem gleichfalls wieder zu Gnaden angenommen, und erscheint von da bis an seinen Tod als treuer Anhänger des fränkischen Kaiserhauses. Mit seinem Bruder, Heinrich dem Schwarzen, der seit 1119 oder 1120 alle weifischen Besitzungen vereinigle, ja durch seine Vermählung mit der Sächsin Wulfhild, der Erbtochter des Herzogs Magnus, noch die Hälfte der biliungischen bekommen (1106), und dadurch in Niederdeutschland festen Fuss gefasst hatte, war derselbe Fall. Noch 1125, nach dem Erlöschen des fränkischen Kai- serhauses, wirkte er zuerst für die Wahl Herzog Friderichs von Schwaben, der den Saliern durch Geburt, ihm als Ei- dam verbunden war. Aber unerwartet gelang es den Geg- nern ihn für die Sache der Kirche, für die Wahl des Sach- sen Lothar zu gewinnen: Lothar, der keinen Sohn hatte, verlobte seine einzige Tochter Gertrud mit Heinrichs gleich- namigem Sohn, Heinrich dem Stolzen, und eröffnete so dem Weifenstamm die wohl schon lang genährte Hoffnung auf die Krone. Vater und Sohn waren auch in dem nun begin- nenden ernsten Kampfe, der mit Unterwerfung der staufi- schen Brüder endete, Lothars treueste Bundesgenossen. Heinrich der Stolze fand nach des Vaters Tod (1126) seinen einzigen Bruder Weif (f 1191) mit den schwäbischen Gütern ab, während er selber die bairischen und sächsischen be- hielt. Eng verbunden mit seinem kaiserlichen Schwieger vater, erhielt er 1136 und 1137 das Herzoglhum Sachsen. Bei einer solchen Macht war für ihn viele Hoffnung da, nach Lothars Tod (1137) Kaiser zu werden, aber das Glück ent- schied sich für seinen Gegner, den Hohenstaufen Kunrad 111. Dieser entriss ihm Baiern, und ein unerwarteter Tod machte den Bemühungen, dasselbe von Sachsen aus wieder zu ge- winnen, ein Ende*, auch der Überlebende Bruder, Weif VI., versuchte das Glück der Waffen mehrmals umsonst, und

324 Weifen und Gibelinge,

fügte sich endlich. Barbarossa verlieh ihm 1152 die reiche Belehnung mit Spoleto, Tuscien, Sardinien und Gorsica. Mit ihm endete 1191 dieser Seitenzweig der Weifen.

Heinrichs des Stolzen Schicksal wiederholte sich an seinem Sohne, Heinrich dem Löwen (geb. 1129, gest. 1195). Kaiser Friderich der Erste, der Sohn jenes Schwabenherzogs der die Tochter Heinrichs des Schwarzen geheirathet hatte, aber von diesem bei der Thronbewerbung verrathen worden war, schien durch seine Herkunft berufen den Hass der beiden feindlichen Geschlechter zu sühnen, und sein Beneh- men gegen den Vetter, Heinrich den Löwen, war voll Ge- rechtigkeit und Güte, er übertrug ihm sogar, um den alten Groll zu sühnen. Baiern wieder (1154), so dass Heinrich, wie sein Vater, zwei Herzogtbümer besass. Drei und zwan- zig Jahre lang hielt er auch treu zum Kaiser; aber die beiden Helden gingen zu sehr auf gleicher Bahn, als dass sie sich hätten auf die Dauer vertragen können. In einem entschei- denden Augenblick, 1175, als es sich für Friderich darum handelte, gegen Rom und die Lombarden die Früchte der Anstrengungen eines ganzen Lebens zu behaupten, fiel Hein- rich von ihm ab. Er wurde zwar geächtet und verjagt (1180), aber die Kaisermacht war durch ihn der päpstlichen unter- legen und erholte sich von diesem Schlage nicht wieder. Als ein Grund welcher zu Heinrichs Abfall bedeutend mit- gewirkt haben mag, darf wohl der Aerger über den Verlust einer freilich sehr wichtigen Erbschaft angesehen werden. Weif VL nämlich, der Oheim Heinrichs und des Kaisers, hatte, wie schon erwähnt ist, bei des Vaters Xode die schwä- bischen Güter bekommen, die seine Vermählung mit Uta, der Erbtochter des rheinischen Pfalzgrafen Gotfrid, und die schon erwähnte Verleihung italischer Lehen durch Friderich Barbarossa noch sehr bedeutend vermehrten. Der Tod seines einzigen Sohnes, Welfs VH., welcher 1167 mit einem grossen Theil des kaiserlichen Heers in Italien von einer Seuche hin- gerafft ward, brachte in dem Alten eine merkwürdige Ver- änderung hervor. Er zog sich von der Welt zurück, aber nicht in klösterliche Stille, sondern in den Taumel eines

Weifen und Gibelinge. 325

genussreichen Lebens, als ob er den Reichthum den er kei- nem Sohn hinterlassen konnte, selbst noch so viel wie mög- lich geniessen wolle: Lieder aus jener Zeit nennen ihn daher Weif den Milden (Freigebigen). In der Geldnoth welche häufig die Folge hievon war, fand er bei dem sparsamen Sohne des Bruders, bei Heinrich dem Löwen, wenig Gehör; wogegen sich der Sohn der Schwester, Kaiser Friderich,

immer bereitwillig zeigte. So wandte der Greis nun sein Herz und sein überaus reiches Erbe vom Weifen ab, dem Hohenstaufen zu; die italischen Güter und Rechte fielen als erledigte Lehen ohnehin an Friderich, den Kaiser, zurück.

Der Kampf welcher zuerst die Väter, dann die Söhne einander gegenübergestellt hatte, entbrannte, zum dritten Mal,* auch zwischen den Enkeln. Nach dem Tod Kaiser Heinrichs VI. (1198) stritten Philipp von Schwaben, der Sohn Barbarossa's, und Otto (IV.), der Sohn Heinrichs des Löwen, um die Krone. Als Philipp ermordet war (1208), kam Otto durch die Vermählung mit der Tochter seines unglücklichen Gegners, und weil kein andrer Bewerber da war, empor; aber schon 1212 erlag er dem neu erweckten Gegenkönig aus staufischem Blut,« Friderich IL Dieser beendete den alten Hader der beiden Geschlechter durch den Frieden den er 1234 mit Olto dem" Kinde, dem Neffen Otto's IV., schloss.

Seit dieser Zeit kann man, was Deutschland betrifft, nicht mehr von weifischen Streitigkeiten sprechen; wohl aber gingen sie in Italien wenigstens dem Namen nach fort, weil daselbst die Kämpfe von Stadt zu Stadt die einmal üblich gewordene Benennung zweckmässig finden Hessen.

Fasst man zusammen was sich aus diesen Hergängen als Hauptergebniss für unsre Namenfrage darbietet, so ist es folgendes. Als neue Form für einen Gegensatz der schon weit früher da war, finden wir im 11. und 12. Jahrhundert den Kampf des weifischen Hauses gegen die königliche Macht, die zuerst durch die fränkischen Salier, nachher durch die schwäbisch- fränkischen Hohenstaufen vertreten ist. Wie die Salier den Sitz ihrer Macht vornehmlich am Rheine haben, so die Weifen ursprünglich am Fuss der schwäbisch -tiro-

326 Weifen und Gibelinge,

liscben Alpen. Von hier aber breiten sie sich alimähiig aus. Der Besitz Kärntens und Verona's ist zwar nur vorüber- gehend (1047 1055); aber durch das Aufkommen des Ne- benzweiges von Este fassen sie doch, seit 1055, festen Fuss in Italien. Dazu kommt 1071 die bairische Herzogs wUrde; seit 1100 reicher Aliodbesitz in Sachsen, seit 1131 desglei- chen am Rhein, seit 1136 eine umfassende Herrschaft in Italien, seit 1137 die sächsisclie HerzogswUrde. Die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts, namentlich die Jahre 1180 und 119i, werden für diese wahrhaft königliche Macht verderblich: es bleiben blos die sächsischen Erbgüter.

Der Kampf der Weifen gegen das Königthum beginnt unter Kunrad H., zwar bitter, aber doch nicht in seiner späteren Stärke, weil noch ein andres Geschlecht, das ba- benbergische, die Hauptrolle spielt. Auch ist die Flamme nur vorübergehend (1027—1030).

Um so heftiger lodert sie auf nachdem das weifische Blut italisches in sich aufgenommen hat: Weifen und Zäringer wetteifern in Hass gegen die Salier. Das war der zweite Gang (1076—1096).

Die Feindschaft schien entschlummert, versöhnt: da er- wacht sie beim Erlöschen des fränkischen Königshauses, so- wie sich Hoflhung auf die höchste Gewalt zeigt, heftiger als je zuvor: die Kämpfe nach der Erwählung Lothars (um 1130) und Kunrads HI. (um 1140 und 1150) können als dritter Ausbruch des nun schon verjährten Hasses angesehen wer- den, und zugleich als der heftigste, weil hier die beiden Geschlechter entschieden und anhaltend um das Reich kämpfen (1125—1150).

Ein vierter ist Heinrichs des Löwen Abfall und Sturz (1175—1180), der den Sieg völlig für die Hohenstaufen ent- scheidet.

Den.Schluss bilden die Kämpfe des schon gebrochenen Weifenstammes unter Otto IV. gegen Philipp und Friderich H. (1198-^1212 oder 1234),

Weifen und Gibelinge. 327

Silier und Staufen als Walblinger.

Das BedUrfniss, die beiden Geschlechter die von 1076 bis 1234 an der Spitze der Kämpfenden in Deutschland standen, und eben damit die Parteien selber, durch schla- gende Namen von einander zu unterscheiden, stellte sich wohl gleich anfangs ein. Unsre neueren Geschichtschreiber brauchen schlechtweg Weifen (oder Guelfen) und Gibellinen, und zwar nicht blos wo sich's um die italischen Kämpfe handelt, in denen diese Namen unbestreitbare Geltung haben; sondern auch für die deutschen« Andre, denen der Name Gibellinen für Deutschland willkürlich scheint, setzen dafür dessen vermeintliche deutsche Form Waiblinger.

Wie viel nun jeder hier im Rechte sei, das kann blos entschieden werden , wenn man die alten Zeugnisse zu Hülfe nimm^ und ich will sie hier, so weit ich sie habe ausfindig machen können , ihrem Alter nach auf einander folgen lassen.

Das älteste hat Bischof Otto von Freisingen. Wo er von der Erwählung und Herkunft Kaiser Friderichs I. redet, be« spricht er die beiden Häuser denen dieser Fürst seiner Her* kunft nacli angehörte, mit folgenden Worten: „es haben sich bisher im römischen Reich, in den Grenzlandschaften gegen Frankreich hin, zwei Geschlechter vornehmlich be- kannt gemacht, auf der einen Seite das der Heinriche von Waiblingen, auf der andern das der Weifen von Altdorf «)*<. Otto war ein ganz naher Verwandter des Kaisers®), und hat dessen Leben zwischen 1150 und 1160 beschrieben. Nach seiner Zeit und seiner Stellung dürfen wir dem was er hier sagt, vollkommenes Vertrauen schenken. Da hienach die Gegner des Köuigthums unzweifelhaft Weifen genannt wurden, nicht Altdorfer, so müsste, wenn sein Ausdruck

*) Duae in romano orbe apud Galliae Germaniaeve 6nes fa« mosao familiae hactenus fuere, una Henricorum de Gueibelinga^ alia Guelforum de Altdorfio. De gestis Friderici II, 2.

*) Ein Sohn des österreichischen Markgrafen Liutpold, wel- chem Barbarossa's Grossmutter, die Salierin Agnes, in zweiter Ehe die Hand gereicht hatte. Otto's Tod fallt ins Jahr 1158.

328 Weifen und Gibelinge.

logisch ganz genau zu nehmen wäre, die königliehe Partei den Namen der Heinriche gehabt, das Waiblingen, als dem Altdorf entsprechend, bei Seite bleiben. Aber jene Zeit pQegte nicht mit der peinlichen Begriffsschärfe der Neueren zu verfahren, und es findet sich keine Spur, dass man die Weifengegner Heinriche genannt habe, in dem Sinn wie die Weifen selbst ihren Namen trugen.

Vielmehr ist alle Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass sie die Waiblinger hiessen. Schon den ersten der als deut- scher König einen Weifen zu bekämpfen hat, Kunrad II. (1024 1039), nennt eine gleichzeitige Nachricht den W^aib- ]ingeri<^), und das nämliche thut die Lorscher Chronik 'i). Desgleichen, sagt Gotfrid von Viterbo ein geborener Ita- liener, der aber in Deutschland aufgewachsen war, von den ersten hoheustaufischen Königen zu Staatsgeschäften gebraucht worden, und 1191 gestorben ist Kunrad sei au^ einer Stadt Namens WaibHngen gewesen, und ein ruhmvolles Kö- nigshaus stamme von dort^^j. Da ferner die Hohenstaufen durch Agnes, die Tochter Kaiser Heinrichs IV., von diesem waiblingischen Haus abstammten, mit ihm gemeinsam die heftigsten Kämpfe gegen die Weifen bestanden, mit seinen Gutern und der Köhigskrone auch den Hass der Weifen erbten, so verdient die Chronik des Klosters Ursperg vollen

l^) Cunradus de Guebelingen in regem unctus est. Strass- burger Stiftsaufzeichnungen zum Jahr 1024, bei üfstisius 2, 83. In Böhmer's Fontes (2, 97) fehlt die Stelle: hat er sie für verdäcb- tig gehalten? Die Verschiedenheit meines deutschen Ausdrucks vom Lateinischen ist nur scheinbar: noch jetzt nennen die Land- leute von Schwyz die Männer aus dem Geschlecht Ab Yberg (de Iberg) schlechtweg die Yberger.

") In Cunradum regem, quem dicunt de Weibelingen, conveuit regni universalis electio. Cod. Laur. I, S. 159. Die Nach- richt hat freilich keine bindende Glaubwürdigkeit, da diese Stelle der Lorscher Chronik, die im weiteren Verlauf Friderichs n. er« wähnt, zweihundert Jahre später geschrieben scheint.

*^) Dux erat ex villa quam rite vocant Guebelingam: Inclyta nobilitas regum generatur ab illa. Godefrldi Viterbieusis Pantheon. Bei Muratori Scriptores 7, 440, E.

Weifen und Gibelinge. 329

Glauben, wenn sie erzählt, Barbarossa habe sich der Her- kunft aus dem königlichen Stamme der Waiblinger gerühmt i'). Ob schon damals das Bedürfniss, für die Anhänger des Königthums eine Gesammtbenennung zu haben, die Namen der Waiblinger und Weifen zu Parteinamen gemacht habe, muss bei dem Mangel an Nachrichten hierüber dahingestellt bleiben; wahrscheinlich ist es jedoch nicht, weil sich sonst wohl wenigstens aus späterer Zeit irgend ein Zeugniss dar- über erhalten haben würde.

Fragt sich nun weiter welches das Waiblingen sei das im 11. und 12. Jahrhundert den Namen für die deutschen Könige hergegeben hat, so bieten sich zwei dar, beide in Schwaben, an seiner nördlichen Grenze gegen Franken hin gelegen: das eine ein kleiner Weiler am Kocher, unterhalb der ehemaligen Reichsstadt Aalen; das andre ein Städtchen an der Rems, zwei Stunden Wegs von Stuttgart. Die ein- zige Thatsache die für jenes sprechen könnte, dass es näm- lich Spuren einer Burg besitzt, tritt völlig in den Hinler- grund, wenn man dagegen zusammenstellt was zu Gunsten des zweiten vorzubringen ist. Die Geschichte des Ortes reicht noch in die römische Zeit hinauf, wie aus dem Vor- kommen zahlreicher, nicht unbedeuteitder Alterthümer und einer Heerstrasse hervorgeht i^). Die Lage auf einer gesicher-

'3) (Fridericus) gloriabatur se de regia stirpe Waiblingensium progenituii) fuisse, quos constat de duplici regia prosapia pro- cessisse, videlicet Clodovaeorum et Carolorum. Chron. Ursp. S. 216. In Christmanns Ausgabe (der Historia Friderici, Ulm 1790} S. iL Licht auf die hier beigefügte Behauptung von der hohen Herkunft der Salier fällt durch eine andere Stelle des ÜUo von Freisingen, nach welcher Kunrad n. mütterlicherseits von den Merowingern abstammte, seine Gattin Gisela dagegen ihr Geschlecht auf die Ka- rolinger zurückführte. Die Worte lauten in Otto's Annalen (VI, 28): Conradus ... ex parte malris ex probatissimorum Galliarum prin- cipum, qui . . a beato Remigio baptizati fuerant, originem trahens, uxorem, Gisilam nomine, de anliquo et gloriose Carolorum san« guine oriundam habuit. Ob sich die Sache wirklich so verhielt ist zweifelhaft, aber hier ganz gleichgültig.

> «) Stalin , Würtembergische Geschichte I. führt S. 42, No. 107 einen Altar, Anticaglien, Münzen an, S. 107 eine aufgedeckte

Allg. Zeitschrift f. Geschieht« T 1846. 22

330 Weifen und GibeUnge,

ten Anhöhe am Fluss, und zugleich den bequemsten Weg aus der wichtigen Eannstatter Gregend ins Remsthal hinüber beherrschend, macht es wahrscheinlich, dass hier eine rö- mische Burg (castrum) stand. Daraus ging wohl auch hier, wie an so vielen andern Stellen eine Burg des Mittelalters hervor, und zwar erscheint Waiblingen in der karolingischen Zeit als eine königliche Pfalz: 885 wird es als vorüberge- hender Aufenthalt Karls des Dicken , 887 als der Ort erwähnt, wo er eine Reichs Versammlung hielt*, 893 feiert Arnulf Weih- nachten, 907 weilt Ludwig IV. (das Kind) daselbst; auch nennen die Quellen Waiblingen ausdrücklich als einen der Orte wo diese Könige Recht sprachen ^^). Königliche Pfarz war es bis zum Jahr 1080, wo es Heinrich iV., am 14. Oc- tober, also am Tage vor der Schlacht an der Elster, in der Rudolf die Todes wunde empfing, dem Bischof Rüdiger von Speier schenkte ^ß).

Wie es kam dass Kunrad II. Waiblingen schon vor der Königsw'ürde, mithin nicht als königliche Pfalz sondern als Erbgut oder Lehen besass, darüber ist meines Wissens nichts bekannt; nur vermuthen lässt sich dass es aus dem Reichs- gut an die schwäbischen Herzoge gekommen sei, aus deren Erbe Gisela dasselbe' ihrem zweiten Galten, eben dem rhei- nischen Grafen und nachmaligen Kaiser Kunrad, zugebracht hätte, denn sie war eine Tochter Herzog Hermanns IL von Schwaben (t 1003) und nach dem kinderlosen Tod ihres Bruders, Herzog Hermanns IIL (11012) mit ihren ächwestern Erbin der Hausgüter i'). Dass Kunrad Waiblingen schon vor

Töpferei, S. 98 die Strasse die von Kannstatt aus über Waiblingen an deii nicht sehr entfernten Grenzwall ging.

^») Die Nachweisungen über alle diese Thatsachen s. bei Stalin 1, 260. 261. 263. 265. 341.

»•) Ebenda S, 580, vgl. 521. Sonderbarerweise zieht Gölt- ling (Nibelungen und Gibelinen, S. 24) hieraus den Schluss dass das Geschlecht nicht nach diesem Waiblingen genannt sein könne, weil Heinrich es sonst nicht weggegeben halte. So empfindsam dachte damals niemand: wie viele Geschlechter haben die fiurg veräussert nach der sie genannt werden oder wurden !

>0 I>eQ Stammbaum s. bei Stalin a. a, 0. S. 416, Die oben

Weifen und Gibelinye. 331

seiner Königs wähl besass, lüsst sich durchaus nicht bezwei- feln. Denn wenn es ihm erst mit andern königlichen Gütern zugefallen wäre , so hätte gewiss weder er noch einer seiner Nachkommen den Beinamen davon erhalten, da man wohl einen rheinischen Grafen Kunrad nach Waiblingen benennen konnte, niemand aber für den deutschen König eine so kleine Wahl treffen wird. Dunkel ist freilich und wird wohl blei- ben, sowohl wann seit der karolingischen Zeit die Pfalz in Waiblingen aufgehört hat ein königliches Eigenthum zu sein ; als auch warum Kunrad gerade nach Waiblingen benannt wurde. Hinsichtlich der letztern Frage Hesse sich vermuthen dass man den nachmaligen Kaiser durch den Beinamen des Waibling^rs von seinem gleichnamigen Vetter, Herzog Kunrad von Kärnten, habe unterscheiden wollen, und dass die Wahl des Namens von den Schwaben ausgegangen sei weil Waib- lingen vielleicht der Ort war wo Kunrad weilte, wenn er sich in diesen Gegenden aufhielt. Wollte man darauf Ge- wicht legen dass Gotfrid von Viterbo sagt, Kunrad sei „aus Waiblingen gewesen", so müsste man es^ als seinen Geburts- ort ansehn und sich die Erwerbung auf andre Weise als durch den Ehebund mit Gisela geschehen denken.

Aus den Formen unter welchen der Name von Waib- lingen an der Roms in den Urkunden auftritt, lässt sich nicht nur kein Beweis gegen sein Zusammenfallen mit dem Na- menorte der Salier ziehen, sondern sie bestätigen dasselbe vielmehr unwiderleglich. Die ältesten bekannten, aus dem 9. und 10. Jahrhundert, sind bereits- Weibilingon, Weibilingua, Wehibilingua, Waipilinga^^j, und Weibilingen, wie es im Jahr 1080 heisst'»), weicht davon kaum ab. Die Diphthon- gen Ei und Ai bezeichnen denselben Laut, höchstens in

ausgesprochene Vermuthung über die Art wie Waiblingen salisch geworden, spricht Haug aus, in seiner Untersuchung über „die älteste Grafschaft Würtemberg als Gaugrafschaft" (Tübinger Herbst- programm für 1831, S. 31, Anm. 61.).

*•) Stalin, a. a. 0. 261, a. 6 und 341, a. 1.

*") Praedium in pago Ramesdal (d. i. Remsthal) situm, Weibi lingen, in comitatu Popponis. Dümge Reg. Bad. S. 112.

22*

332 Weifen und Gibelinge.

mundartlicher Abweichung , und selbst Ehi stellt nichts an- deres vor, indem sein H keinen wirklichen Laut ausdrücken sondern nur bezeichnen soll, dass die beiden Vokale mehr als jetzt in der Aussprache getrennt wurden. Auch -ingon und 'ingen fallen zusammen; -inga, mit der Nebenform -ingua, ist entweder von dem lateinischen Schrisiber zur Anpassung an seinen Text willkürlich gewählt, oder sie ent- hält den althochdeutschen Nominativ (Accusativ) der Mehr- zahl, WeibilingÄW).

Nach einer andern Seite hin weist uns die Form, welche drei der oben angeführten Quellen anwenden: Gueibelinga

**) Ich füge hier meine Yermuthung über die Herkunft des Namens WaiblingeD bei. Das ahd. weibil bedeutet einen Amts* diener^ wie noch jetzt in der Schweiz, z. B. bei der Tagsatzung die Boten cier Lander von „Waibeln** in heraldisch gestückten Mänteln begleitet sind, und wie in einigen deutschen Staaten, z. B. in Würtemberg, beim Heer der Feld-wäbel den französischen Ser- gent vertritt. In einer ahd, Stelle (Graff, Sprachschatz 1. 651.) fin- det sich Waibel mit Schultheiss zusammengestellt, und es bestätigt dies, was Schmeller -(Bayer. WÖrterb. 4. 6.) ausspricht, dass der ältere Waibel eine bedeutendere Person gewesen sei, als unser jetziger, wie einst Grafen mehr waren als nun mancher Herzog; ferner dass dieses Abnehmen der Bedeutung, die Schmeller zu- nächst nur von dem kriegerischen Amte behauptet, auch für das friedliche angenommen werden muss. Ich vermuthe demnach für das Waibl in unsern Ortsnamen die Bedeutung eines königlichen Beamten, unter den Waiblingen (Waibilingum) setne Untergebenen, von welchen die Bewohner der Umgegend den Namen des Ortes hergenommen hätten. Dies «summt genau zu der Thatsache, dass Waiblingen von Alters her eine nicht unbedeutende königliche Pfalz war, und noch in späterer Zeit Wichtigkeit genug halte um einem vornehmen Geschlechte' den Beinamen zu geben» Dass man das Wort Waibel (im Sinne von Beamter, Verwalter) auch sonst wohl zur Ortsbezeichnung brauchte, sehen wir aus dem Namen Waibelhuob (d. i. Gut, von einem Waibel verwaltet). So biess ein Bezirk der um Welzheim her, also zwischen unsern beiden Waib- lingen, lag, und noch sehr spät ein eigenes Amt bildete (Prescher^ Limburg 2, 319. 413.). Der Name Waibel selbst kommt vermutb- lich von weben d. i. sich hin und herbewegen, was auf die ver- schiedenen Bedeutungen des Wortes und auch auf die hier ange* nommene des Gutsaufsehers ganz gut passt»

Weifen und Gibelinge. 333

(bei Otlo von Freisingen). Guebeling-en, -a (Strassburger Aufzeichnungen und Gotfrid von Yiterbo). Das E statt Ei, Ai, macht keine Schwierigkeit. Der fragliche Diphthong wird von der fränkischen Mundart als langer Vokal behandelt, entweder als ä, weshalb z. B. Lorsch (d. i. Loresheim, Lau- resheim) in der Form Laureshäm erscheint; oder als Ä, wie z. B. Heidelberg an Ort und Steile Heedelbörch lautet. Diese Ersetzung des ahd. Diphthongen durch einen langen Vokal wurde besonders gerne dann vorgenommen, wenn sich's darum handelte, lateinisch klingende Formen zu bekommen, denen allerdings, da dem lateinischen ae (d. i. ai, vergL Caesar und Kaiser) seine wahre Geltung genommen war, die Diphthongen ai und ei sehr im Weg standen. Ob nun mehr die fränkische Mundart oder das Bedürfniss lateinischen Klanges vorgewaltet habe, genug es begegnen uns auch statt Waibilingen die Formen Wablingen^i) und Webelinge ^),

Schwieriger ist die Verschiedenheit des Anlautes auszu- gleichen; Gu statt W. Ich sehe in der Anwendung des ersteren abermals einen Versuch der Schriftsteller, den deut- schen Namen in Einklang mit seinen lateinischen Umgebun- gen zu bringen. Denn das Lateinische des Mittelalters, die romanische Zunge, verfuhr überhaupt so mit anlautendem W: vadum, vastum, viare werden zu guadum (guado), gua- stum, guiare (guidare, guider); und ebenso die entlehnten deutschen Wörter: Wald, Walther, Wernher, Weif, Wide, Wilibelm zu gualdus, Gualtarius (Gaulier), Guarniero (Gar- nier), Guelfo, Guido, Guilielmus (Guglieimo, Guillaume) ^).

*>) Zu lesen Wdblingen. So die Sindelfinger Chronik.

'') Zu lesen WSbelingen. So die Compilatio chronologica bei Leibnitz, Scriptores 2, 65. Die Stelle lautet: Conradus, dictus prius- Cono de Webelinge in Suevia. Die Compilatio ist ein spätes Werk und daher bei den oben angeführten Steilen von König KunradlL weggelassen; als grammalischer Beleg aber kann sie immerhin gel- ten, da das Wöbelinge, auch wenn sie's mit Unrecht auf diesen König anwendete , doch einen Beweis für die üblich gewesene Er- setzung des Diphthongen durch einen langen Vokal abgeben würde«

^') S. Dufresne's Glossar, und Diez^ Grammatik der romani- schen Sprachen 1, 187. 293. Fälschlich behauptet Mono (Helden«

334 Weifen und Gibelinge.

Salier und Stanfen als Gibelinge.

Verfolgt man die beiden Parteinamen weiter, so findet man zwar den weifischen fortdauern, aber statt des waib- üngischen tritt mit dem 13. Jahrhundert der der Gibelinge auf, der in italischer Zunge, und auch hier nicht sogleich, die Form Gibellinen angenommen hat>^).

sage, S. 24.) vielleicht verführt durch eine Vermuthung, welche Diez S. 294. ausspricht Gueibeling passe nicht auf Waiblingen, weil es nie mit hw geschrieben worden sei, und nur hw sich bei den Romanen in gu verwandelt habe. Ich mache hiergegen gel- tend, dass von den oben angeführten deutschen Wörtern der An- laut hw sich blos für Weif wahrscheinlich machen lässt (vergl. meine Anmerkung 7.); und wer vermöchte vollends ein lateinisches hvadum u. s. w. nachzuweisen! Indessen kann freilich die altüb- liche anlautende Consonantenverbindung hw deutscher Wörter auf die Erzeugung jenes romanischen gu (d. i. wohl gw) mitgewirkt haben, und mehr will Diez in der ebenerwähnten Stelle (S. 294.) gewiss nicht behaupten, wie es aus den Beispielen hervorgeht, die er sofort folgen lässt.

^*) Vorgreifend will ich hier die Formen zusammenstellen, wie sie in den ältesten Quellen erscheinen. Die Italiener bringen optio (Partei) gibolenga, Gibolengi, und pars gibellina, Gibellini; die Deutschen Gibetingen, Gibelinge, Gibling(e); und nach späterem italischen Vorbild Gibellini, Gibilini. Ebenso lautet der Name der Gegner bei den Welschen Guelfi, Guelphi, pars guelfa; einmal Gelfi, pars gelfa; bei den Deutschen Weifen, im lateinischen Zu- sammenhang Guelfi, einmal auch, nach irrendem italischen Vor- bild, ^elfe. Dieser letztere Fehlgrifi' ist übrigens wohl sehr alt, wenigstens scheint Gelfrat, der Name des Baierherzogs im Nibe- lungenlied, Eins mit Welfhart: der Uebergang wäre vermittelt durch das altdeutsche Wort gelf (gelpf) d. i. glänzend, keck, prahlerisch, übermüthig; ungefähr wie der VValtharius den rheinischen Helden eins anhängt, indem er den Namen der Nibelungen in nebulones (Taugenichtse) verkehrt. Einen weiteren Zweig, abermals durch Entstellung, scheint der Name getrieben zu haben in der Benen- nung, die Hermann von Fritslar (Pfeiffers deutsche Mystiker 1, 168, 29. und 169, 9.) einer spanischen Stadt beilegt. Es heisst: er ginc zu deme Gelferäten, . . vir mile von deme Gelferäte. Diese Stadt muss bei S. Jago di Compostella. und vier Meilen von „sancte Do- mine" (?) gesucht werden; ohne Zweifel ist der spanische Name durch die Erinnerung an den Gelfrat des Nibelungenliedes auf ahn-

Weifen und Gibelinge. 335

Ich muslre zuerst wieder die Reihe der Zeugnisse. Das älteste mir bekannte ist das gleich anfangs erwähnte Papst Gregorys X. vom Jahr 1273.

Ungefähr gleichzeitig mit ihm schreibt die Chronik von Asti, das Werk zweier Zeitgenossen^): „nach Friderichs IL Tode spalteten sich die Lombarden in zwei Parteien, von denen die eine die kirchliche, die andere die kaiserliche heisst; seit einiger Zeit aber die eine die weifische, die an- dere die gibellinische. Den Anfang machte Verona, indem Mastinus von Scala, der tapferste der Gibellinen, alle Reichen und Grossen aus der Stadt verjagte und ihre Häuser zer- störte 2«)." Weiter wird erzählt, wie sich der Streit nsd die Vertreibung des einen oder andern Theils über Oberitalien ausgebreitet, und der Reihe nach Mantua, Cremona, Bologna, Ferrara, Modena, Parma, Brescia, Grema, Placentia, Tortona, Alessandria, Alba, Turin, Aqui, Bergamo, Asti, Genua er- griffen habe.

Kurze Zeit nach dön Verfassern der Chronik von Asti sagt Albertinus Mussatus, geboren 1261 zu Padua, in seinem Leben Kaiser Ludwigs des Baiern, zum Jahr 1328: „die Christenheit war in zwei Hälften gespalten und nur selten fiigte sichs, namentlich in unserem Italien, dass man jeman- den traf, der von der Tbeilnahme an einer der beiden Par- teien rein geblieben wäre, der sogenannten gibolengischen und der gelfischen. Denn seit Friderichs II. Zeit haben diese beiden untrennbaren Zweige oder vielmehr unheilvollen Spal-

liche Weise, entstellt, wie die Jakobsbrüder aus dem Cap Finisterre einen ,, finsteren Stern'' machten (S. Bibliothek des lii Vereins L, Georg von Ehingen, S. 18.; und Münchener gel Anz. von 1840, Nr. 55. S. 443.).

•*) Sie ist geschrieben vor 1294; Ventura, der sie überarbei- tet hat, zählte 1310 schon 60 Jahre.

'^) Sciendum est quod post obitum Frlderici Lombardi inter se divisi sunt in partes duas^ quarum una vocatur pars ecclesiae, altera vero pars iiuperii; modo vero una guelfa, altera gib eil in Primi quidem fuerunt Veronenses. Mastinus de Scala, fortissimus GibelUnorum, expulit omnes ditiores et majores de Verona et domos eorum diruit. Chron. Astense 17. (Muratori ScriptfXI. 176.)

336 Wtlfen und OibeUnge.

tungen, durch die Italien in steter Unruhe gehalten Witd^ gekeimt und gewuchert. So verabscheuten, in ihrem Wahn und Hass, fast alle, bei denen Name und Gesinnung der Giel^ fen galt, diesen Ludwig und seine Handlungen, wogegen sie dem Papst Johannes Lob spendeten; die Gibolenge aber stemmten sich hiegegen mit Worten und sonst durch jedes mögliche Mittel ^y-

Bei der innem UebereinsUmmung dieser beiden iombar^ dischen Zeugnisse kann kein Zweifei aufkommen, dass wirk- lich jene Benennungen sich in Oberitalien ausbreiteten, seit- dem der Tod Friderichs IL hier die Gewalt vernichtet hatte, welche «bis dahin den Städten eine gemeinsame Feindin und ein Hinderniss fUr innere Zwietracht gewesen war, also seit 1250. Das Zeugniss der Chronik von Asti wird auch da- durch noch sehr beachtenswerlh, dass es den seuchenähn- lichen Yerbreitungsgang der Sache schildert. Von Verona aus, das schon 150 Jahre früher als kaiserlich gesinnte Stadt erscheint 2«),- und nun mit Vertreibung der Gegner beginnt, folgt die Parteiung den Wassern, weiche dem Po zuströmen (Maniua, Gremona), überschreitet dann diesen (Bologna, Per- rara) und zieht sich sofort an ihm hinauf (Modena, Parma, Grema, Piacenza, Tortona, Alessandria, Alba, Turin, Aqui,

'^) Die Schrift des Mussatus beisst Ludovicus Bavarus, und ist zuletzt veröffentlicht von Böhmer in den Fontes reram germani- carum, wo die oben verdeutschte Stelle (1, 179.) lautet wie folgt: In duas partes secta chrislianitas erat nostra, et paucos invenisse conliogens fuerit, per banc precipue nostram Italiam, quos una ex duahus optio non inquioaverit, aut illa quam ajunt gibolenga, vel gelfa. Hec enima tempore Frlderici H. vocabula dua insepa- rabiiia germioa seu potius pestifera Schismata pullularont alque invaluerunt, que semper teuuere Italiam inquietam. Sic hoc in errore et contentione fere omnes qai Gel forum nomen animum- que servabant Ludovicum bunc detestabantur et actus, Joannem papam laude commendabant. Gibolengi yero, et sermone et quo poterant etiam opere, innitebantur e contra.

**) „Mit Hülfe seiner getreuen Bürger von Verona zog er (Heinrich IV., im Jahr 1095) aus und belagerte Malhildens Burg, das feste Nogara/* Stenzel, Geschichte Deutschlands unter den frank. Kaitsern. 1, 554;

Weifen und Gibelinge. 337

Asti), springt hinüber nach Genua; ist auf der entgegenge- setzten Seite an den Fuss der Alpen zurückgekehrt, wo sich schon früher Brescia und Bergamo angeschlossen haben. Soll- te man bei diesem Gang der Sache nicht vermuthen dürfen, dass ihre Heimat sich finden la^e, wenn man vom Po nach Verona zurückkehre, und weiterhin dem natürlichen Weg an der Etsch folge, auf dem ja die Weifen in die Lombardei hinabgestiegen sind? Mit andern Worten, dass jene Namen, wie auch schon ihr deutscher Klang muthmaassen lässt, aus Deutschland stammen, Italien sie blos entlehnt, allerdings aber zu grösserer Bedeutung ausgebildet habe?

Da wäre nun freilich zu wünschen, dass man aus Deutsch- land selbst ältere Nachrichten hätte. Allein die älteste für jetzt nachweisbare ist sogar beträchtlich später als die itali- schen die ich angeführt habe. Sie findet sich bei Konrad von Ammenhausen, der um 1340 gelebt hat und in seinem Schachbuch die Bürgerkriege des alten Roms als Kämpfe der Gibellinen und Weifen verständlich macht ^).

Wenig später, um 1380, bringt auch der österreichische Dichter Suchenwirt gelegentlich anführend die beiden Namen Gfbling(e) und Gelfen »>).

^^) Er sagt (Pfälzer Handschrift 398. El. 53, b. hier anger führt nach JMone, Heldensage 14.):

zuo einem male unfride was

under Romern, und michel hass

von Gelfen und von Gibelin; ferner ebenda:

. . men die Gibelinge d6 sach

die Gelfe slahen üs der stat. Diese erholten sich und nahmen einen Hauptmann,

^ der hiess Silla

der gewan s6 grosse macht

dass er wider die Gibelioge vaht. Neben der entstellten Form „Gelf * erscheint bei Konrad ein Schat- ten der richtigen in Gewelf (Gwelf, Guelf), wie er einen gewissen Quintus nennt.

*^) .... daz Gibjing und Gelfe im muosten manhait jehen (S.29.). D& Gibling unde Gelfen müe und arbait litten (S. 44.). Ich habe wieder nach Mone ang^uhrt.

338 Weifen und Gibelinge.

In diese Zeit fällt auch das Zeugoiss des Chronisten Jakob Twinger von Königshoven (f 1420), welcher zum Jahr 1312 erzählt, bei der Belagerung von Florenz durch Hein- rich VII. seien alle Gelfe der Stadt zu Hülfe gekommen, und dann sagt, was man sich unter Gelfen und Gibelingen zu denken habe^^).

Will es bei diesem Zeitverhäitniss deutscher und wel- scher Quellen beinahe scheinen, wir in Deutschland haben jene Namen aus Welschland entlehnt, so spricht hiege- gen ausser den schon angegebenen Gründen auch das be- stimmte Zeugniss deutscher Schriftsteller, weiche das Jahr 1140 als die Zeit nennen, wo man dieselben diesseits der Alpen zuerst gehört habe. Schlimm ist nur, dass diese Schriftsteller von der Zeit, über welche sie zeugen, so weit entfernt sind.

Dasjenige nämlich, welches als das älteste gilt, reicht nicht über das Jahr 1425 hinauf. Damals schrieb Andreas Presbyter, ein Chorherr zu Regensburg, seine bairische Chfo- nik, in welcher die Entstehung der Namen erzählt ist wie folgt: „Weif rüstete sich 1140 in der Nähe von Weinsberg zum TrefiTen wider Friderich, wobei er erschlagen ward. ^) Der Ruf mit welchem man sich in Welfs Heer zum Wider- stand und tapfern Kampf ermuthigte, war: hie Weif. Daher liess Friderich, um Welfs Krieger in Verwirrung zu bringen, sein Heer rufen: hie Gibelingen. Gibeling ist ein Dorf Aügs* burger Sprengeis, im Gebirg auf dem Herlfeld, zwischen der Burg Hochburg und der Stadt Nereshejm. In diesem Dorfe war besagter Friderich von seiner Amme gesäugt worden; und es scheint er habe durch die Wahl des Namens be- zeichnen wollen, dass er über Weif nicht durch die könig-

>') ...alle Gelfe k6ment den Florenzern ze helfe. Die heis- sent Gelfe in welschen Landen die es mit dem bdbeste halten wider den keiser; s6 sint das Gibelinge die mit cime keiser sint wider den höbest. Chronicke v. Jac. y. Königshoven. Strassb. 1698. S. 124.

*') Diese Angabe beruht auf einem Irrthum: Weif (VI) selbst entkam aus dem Treffen und starb erst 1191. Sein Gegner ist Herzog Friderich der Einäugige, Barbarossas Vater.

Weifen und Gibelinge, 339

liehe Macht oder durch das Herzogthum Schwaben zu sie- gen gedenke, sondern durch die Milch seiner Amme, d. h. durch den Beistand und die Kraft der Bauernschaft, wie er es auch gelhan hat. Die Italiener, Franzosen, Lombarden und Sicilianer aber, ^) welche den Sinn von hie Weif und hie Gibelingen nicht verstanden, verlangten Auskunft dar- über. Man bedeutete sie Weif bedeute die Päpstlichen, Gi- belingen die Kaiserlichen. Daher werden, in Folge jenes Ereignisses, bis auf diesen Tag die Anhänger des -Papstes Guelfen , die des Reiches Gibelinen genannt'' ^)

Lassen wir einstweilen die Richtigkeit der Angabe, dass die Schlacht bei Weinsberg, welcher die Sage auch noch durch die damit verknüpfte Erzählung von der Weibertreue

") Andreas hat sich unmittelbar vorher den Bund in welchem Weif mit König Konrads Feinden , Roger von Sicilien und Papst Innocenz IL stand, dahin ausgemalt dass diese beiden Fürsten den Weifen zahlreiche Hülfsvölker über die Alpen geschickt haben. Die Thatsache wird weder gemeldet, noch ist sie wahrscheinlich; der Erfinder beabsichtigte wohl, auf diese Weise begreiflich zu machen wie die Namen nach Italien gekommen seien.

'*) Die Stelle befindet sich in des Andreas Presbyter Chro- nica de principibus terrae Bavarorum S. 25 (bei Schiller Script, rer. germ. Strassburg 1702) und lautet dort: Welfo . . se contra Fridericum ad praeliandum prope Winsperg . . praeparavit, ubo Welfo interfectus est. Clamor vero exhortationis ad resistendum et fortiter pugnandum in exercitu Welfonis fuit talis: hye Weif f. Unde Fridericus ad coufusionem Welfonis praecepit clamari in exercitu suo: hye Giebelingen. Est autem Gibeling villa au- gustensis dioecesis, sila in montibus dictis Auff dem Hertfeld, infra (intra? inter?) castrum Hochburg et oppidum Neresheim, in qua villa nutrix ipsum Fridericum infantem lactaverat; quasi per hoc volens significare, quod non regali potentia vel per Duca- tum Sueviae Welfonem vellet debeliare, sed lacte nutricis suae, i. e. auxilio et potentia rusticali, sicut et fecit. Italici autem, Gal- lici, Lombardi et Siculi, non intelligentes quid esset „Hye Welff' et quid „Hye Giebelingen^', quaesiverunt sibi exponi. Quibus declaratum fuit quod Papales significarentur per Welfi', et Impe- riales per Giebelingen. Unde usque adhuc per orbem totum, ab illo eventu, papae adhaerentes vocantur Guelfi, et imperio adhae- renies vocantur Gibelini.

340 Weifen und Gibelinge.

höhere Bedeutung zu leihen gesucht hat, der Anlass zur Entstehung der fraglichen Parteinamen geworden sei, einst- weilen noch unentschieden, und werfen einen Blick auf die von Andreas beigefügte Deutung der Namen, so zeigt sich diese durchaus- unhaltbar. Geradezu lächerlich ist der Grund um dessen willen Friderich den Ort Gibelingen ei*wähit ha- ben soll. Dem stolzen Schwabenherzog fiel sicher nichts weniger ein, als auf ein Nahrungsmittel zu pochen, das nach altdeutscher Ansicht sogar dem Adel nachtheilig war. ^) Offenbar trägt hier Andreas die Ansichten des 15. Jahrhun- derts, wo durch die Städte der niedrigste Stand emporge- kommen war, auf eine frühere Zeit über, der sie gänzlich fremd waren.

Unhaltbar ist ferner die Berufung auf einen Ort Gibe- lingen ^), der ganz ins Reich der Träume gehört. Andreas ahnte den unleugbaren Zusammenhang des königUchen Hau- ses mit Waiblingen, rieth aber auf das oben erwähnte Waib- lingen am Kocher, das wenigstens in der Nähe des Hertfel- des, nördlich von demselben liegt. Es gehörte höchst wahr- scheinlich noch zjim Augsburger Sprengel, da dieser erst nordwestlich von EUwangen und Lorch an den von Würz- burg stiess« Die Angabe dass es zwischen Neresheim und Hohenburg liege, ist an der ganzen Sache noch das rich- tigste. Unter Hohenburg haben wir wohl nichts andres zu verstehen als Hohenberg im jetzigen Oberamt EUwangen, nordwestüch von der Stadt Ellwangen, denn die Wörter Berg und Burg, so wie Hohen und Hoch, wechseln in Orts- namen beinahe willkürlich. Zieht man nun von diesem Dorf

'*) Tacüus sagt von den alten Deutschen: sua quemque ma- ter uberibus alit, nee ancitlis ac notricibus delegantur. Germ. 20. Dadurch erklärt sich ein sagenhaftes Ereigniss aus der Haus« geschichte der Grafen von Bouillon. Brüder Grimm, deutsche Sa- gen n., S. 303.

**) Die Form Gibeling, die Andreas als die eigentliche zu nen^ nen scheint, ist Eins mit Gibelingen: jenes nach bairischer, dieses nach schwäbischer (unverkürzter) Ausdrucksweise. S. Schmellers Bay. Wb. 1, 81. 82.

Weifen ufid GibeUnge, 341

eine gerade Linie nach Neresheim, so lässt dieselbe jenes Waiblingen nur wenig zur Rechten, und es ist kaum ein Zweifel, dass in demselben der Ort gefunden sei den An- dreas gemeint bat. Wie kam er aber dazu den Namen des- selben in Gibelingen zu verkehren? Gewiss nur weil er fühlte dass die echte Form sich mit dem Schlachtrufe Her- zog Friderichs nicht unter Einen Hut bringen lasse. Der Uebergang von Waiblingen auf Gibelingen ward ihm wohl erleichtert durch die Erinnerung an einen andern Ort im Augsburger Sprengel , Wiblingen bei Ulm. ®')

Weniger ungenau als die Stelle bei Andreas verfahrt eine andre, von der man, obwohl sie nach ihrer jetzigen Fassung einer weit späteren Zeit angehört,* doch glauben möchte sie hege der seinen zu Grund. Sie lautet: „in jenem Treffen bei der Belagerung von Weinsberg sind nach einigen die unheilvollen Namen der Weifen und Gibeliinen entstan- den, aus dem Schlachtruf zu dem man in Welfos Heer seinen

'^) Neben diesem ältesten deutseben Deutungsversuche will ich die der Italiener nur beiläufig aufzählen, da sie von der Wahr« helt noch viel weiter abirren, und mit unsrer Untersuchung in gar keinem Zusammenhang stebn. Die einen erklären ganz me- chanisch und überaus lächerlich Guelfo aus GUErra Leonis FOr- tis (Krieg des starken Löwen) oder noch willkürlicher aus guarda- tore dl fe (Glaubeos wacht er); Gibelline aus Guldatoredi BAtagLIa (Schlachtführer) oder aus gibbifer (Bucklichter). Andre haben doch eine Ahnung von der Untrennbarkeit beider Namen, der duo in- separabilia germina des Albertinus Mussalus, indem sie 9n zwei Brüder Guelphus (Guelpho) und Gbibeliinus (Gibellus) denken; oder, aufs fernste Alterlhum zurückgehend, an heidnische Götter (daemones, falsi Dei, numina tartarea) Namens Guelfus (GualeQ und Gibelus (Gibel); oder, des deutschen Ursprungs eingedenk, an den Streit welcher zwischen zwei deutschen Edelleuten, Guelf und Grbelin, um einen Hund (Weif?) entbrannt sei; oder endlich an zwei deutsche Städte, Guelf und Gibellin. In letzlerem Namen steckt offenbar das Gibelingen das Andreas Presbyter sich aus Waiblingen und Gibeling (Gibelline) zurecht gemacht hat; die aben- teuerliche Stadt Guelf erfand man wohl, um beide Namen gleich- massig auf Wohnorte zurückführen zu können. Die fraglichen Stellen findet man bei Itlone (Heldensage S. 26. 27.) un(i Grässe (Lilerärgcschichte des Mittelalters 3, 1. S. 74).

342 Weifen und Gibelinge.

Namen wöblle; bei den Königlichen dagegen Gibiingen, ein Dorf im Sprengel von Augsburg, wo Herzog Friderich seine Kindheit verlebt halte." ^) Eine Umschreibung der Stelle die ich aus Andreas angeführt habe ist was sich in den Zu- sätzen der dunzenheimischen Handschrift zu der Chronik des Jac. Twinger findet. Hier heisst es: „Welfo ward im Treffen vor Weinsberg erstochen. Der Schlachtruf derer, die dem Papst anhiengeu war damals: hie Weif; dagegen hatte Fri- derichs Heer als Schlachtruf: hie Gibling. Derselbe war von einem Weiler hergenommen aus dem die Säug'amme Friderichs stammte, und sollte bezeichnen dass Friderich den Sieg über die Anhänger des Papstes, die Weifen, davon tragen wolle durch die Stärke, die er aus der Bauernmilch empfangen hatte. Von jenem Anlass schreiben sich die Par- teiungen her die in Italien jetzt noch fortwähren; die An- hänger des Papstes heissen noch Weifen; die des Kaisers werden Gibeilinen genannt.^' ^9)

3*) In isla Winsbergae obsidionali pugna quidam ajunt nata esse Guel forum et Gibellinorum perniciosa nomina ex tes- sera proeliari, quae in Welfonis acie ejus appellalionem usurpa- vil; apud regios vero Giblingam, villam augustensis dioecesis, in qua dux Fridericus fuit educatus ab incunabulis. Ich kenne diese Stelle blos aus der Anführung in Sattlers Geschichte von Würtemberg, Graven n., Vorrede. Was er mit den „neuesten An nales Bavar.'^ meine, wo sie lib. 21. n. 2. stehen soll, ist mir nicht bekannt. Was dieser Nachricht insbesondere einen Vorzug vor der des. Andreas Presbyter sichert, ist die Einfachheit mit welcher sie von Gibelingen als Jugendort Friderichs redet. Die Angaben des Andreas von der Bauernmilch scheinen daraus nur geistlos erweitert.

3») Welfo . . ward . , in dem slrit vor Winsberg erstochen. Und was die krei des heres die dem bäbst bigestuonden : hie Weif. Aber des heres Friderichs krei was in dem striten: hier Gibling; und wart die krei genomen von einem wiler darinn die seigamm' Friderichs was, und wolt damit bezögen, dass er durch sin sterk, die er durch die bürnmilch entpfangen het, die Weifen, die dem höbst anbiengen wolt überwinden. Därvon ist entsprun- gen dass sie noch in welschen landen partisch sint: welich dem b^bst anhangent, noch Weifen heisseut; und welche dem kaiser anhangent; G ibil in i werdent genant. Twingers Chronik, S. 424, b.

Weifen und Gibeünge. 343

Eine weitere jedoch nur gelegentliche Anfühning der beiden Namen findet sich bei einem Dichter des 15. Jahr- hunderts, bei Michael Behaim (um 1460), der von Weifen und Gebelinen spricht. **<>)

Auf die Entstehungszeit der Namen lässt sich wieder ein die Summula de Guelfis. Ihr Zeugniss gehört, äusserlich genommen, unter die späteren; wenn aber der Verfasser, seiner Quelle misstrauend, nur als Vermuthung ausspricht dass der Ursprung der Parteinamen in die Bürgerkriege zu- rückreiche die das Emporkommen der Hohenstaufen beglei- teten 41), so erinnert dies an die gemässigte Darstellung der bairischen Jahrbücher, und lässt schliessen dass auch er eine ältere Quelle, yielleicht dieselbe die dem Andreas Presbyter diente , nur mit grösserer Vorsicht benutzt habe. Ja sein Ausspruch verdient vor dem der bajrischen Jahrbücher noch den Vorzug, weil er sich gar nicht auf die unhaltbare Deu- tung des Parteinamens aus einem Ortsnamen einlässt.

Was dagegen die beiden Stellen gemeinsam haben, dass sie die Zeit angeben wo die Parteinamen aufgekommen seien, das lässt sich mit gutem Grunde nicht 'anfechten. Allerdings wird die Thalsache von keinem altern Schrift- steller berichtet. Dies scheint mir aber kein giltiger Vor- wand, ihr die Glaubwürdigkeit abzustreiten. Ein innerer Grund, welcher sie unwahrscheinlich machte, lässt sich so wie man die Deutung aus einem Ortsnamen aufgiebt, nicht geltend machen, und was das verdächtige Schweigen der Zeitgenossen betrifft, so ist es ja sehr wohl möglich, dass, so lang die Namen in Uebung waren, kein Geschichtschrei-

Ueber das Alter der dunzenbeimischen Zusätze weiss ich nichts bestimmtes anzugeben. Aber selbst wenn sie noch von Twinger selbst herrührten, waren sie jünger als das Jahr 1400, vor welchem seine Chronik zuerst unter die Leute kam.

*•) . . wie Weif und Gebelin hernach sin üfkomen, Pfal- zer Handschrift 335. 4S, a. (Nach Moae, Heldensage 14.)

*') Ego credo quod sub Heinrico superbo (f 1139), Guelfone, ejus fratre (f 1191) et Friderico duce (f 1147) nomina hec per- niciosissimae faclionis Guelforum et Gibeliinorum indita sunt. Hess, monum. guelf. 129.

344 Weifen und Gibelinge.

ber sie für wichtig genug hielt um sich mit ihnen zu be- schäftigen; wie ja gar manches erst von dem Augenblick an beachtet wird wo es abzusterben anfängt. So wie sich die bairischen Jahrbücher aussprechen ^^), scheint es, die Herkunft der Parteinamen aus den BQrgerkriegen um 1140 habe sich in mUndiicher Ueberlieferung so lang erhalten, bis ein Chronist kam dem die Sache bedeutend genug schien in die Geschichtserzähiung eingeflochten zu werden^ Man darf jener Nachricht also wobi eine geschichtliche Geltung zweiten Ranges zugestehn; darf annehmen, dass die Namen der Weifen und Gibelinge , die von einzelnen vielleicht schon längere Zeit hindurch gebraucht worden waren, bei Weiosberg zum ersten Mal in voller, man könnte sagen amtlicher Geltung auftraten. Das Hisstrauen, soll allerdings den Geschichtschreiber nie verlassen: er muss die Nach- richten einer späteren Zeit mit doppelter Sorgfalt prüfen; will er aber seinen Bau nur aus solchen errichten die von Gleichzeitigen urkundlich und ausdrücklich mitgetKeilt sind, so beraubt er sich eines unentbehrlichen Hülfsmittels.

* „Gibeling" vermeintÜGh ans „Waiblinger."

Als Ergebniss aus dem Bisherigen lässt sich einmal aufstellen, dass die Salier und Hohenstaufen von Waiblingen bei Stuttgart den Namen Waiblinger trugen, welcher viel- leicht sogar das Mittel hergab sie und ihre Anhänger den Weifen gegenüber zu bezeichnen.

Dass ferner in einer späteren Zeit der Name der Gibe- linge (Gibellinen) als Benennung ihrer Anhänger gebraucht ward, ist für Italien unzweifelhaft; für Deutschland wenig- stens wahrscheinlich.

Da er somit auf den der Waiblinger folgte, so war es verzeihlich, ja natürlich, dass man ihn von diesem herleitete. Aus den oben beigebrachten Angaben , die ihn auf einen ersonnenen Ortsnamen Gibelingen zurückführen, und dabei

f^) Ajunt nata esse nomina. S. Anm. 38. Vorausgesetzt wird dabei immer dass der spätere Schriftsteller nach einer älte- ren Quelle berichte.

Weifen und ßibeünge. 345

an Waiblingen denken, lässt sich maüimaassen, dass man schon zu Anfang des 15. Jahrhunderts jenen Zusammenhang dunkel voraussetzte. Ausgesprochen aber wurde die' Ansicht meines Wissens zuerst von Dufresne. .Er sagt in seinem Wörterbuch für mittelalterliches Latein, das zuerst im Jahre 1678 zu Paris erschienen ist: „die Gibelinen sind nach den Herzogen von Schwaben, die Guelfen nach den Weifen, den Herzogen von Baiern, benannt. Kaiser Konrad nümlich, der In der Lorscher Chronik der Waiblinger heisst, ^^) beraubte, nachdem er im Jahre 113d zur Krone gelangt war, Weif den VI. des Herzogthums Baiern, '*^) worauf Weif mit Unter- stützung Rogers von Sicilien Krieg wider ihn erhob. Dieser dauerte, wenn gleich zuweilen durch Verträge unterbrochen, fort, und erhielt zwischen beiden Häusern eine Feindschaft, welche vornehmlich über Italien Unheil brachte, wo die Na- men der gibellinischen und der weifischen Partei sich sehr verbreiteten. Also nach Konrad von Waiblingen sind die Gibelinge, später Gibelinen, benannt; nach Weif hingegen, dem Haupte des bairischen Geschlechtes, die Guelfen.^^ '")

^') Dufresne meint die oben angeführten Stellen^ Anm. 10—12., verwechselt aber Kunrad U. (1024—1039) von dem sie reden, mit Kunrad HL (1138 1152).

**) Kunrad wurde schon im Blärz 1138 gewählt und war schon im Mai desselben Jahres ziemlich allgemein anerkannt. Baiern entriss er nicht dem Weif, der überhaupt gar kein Uerzogthum besass, sondern seinem altern Bruder Heinrich dem Stolzen, oder, da dieser schon im Oclober 1139 starb, dessen unmündigem Sohne Heinrich dem Löwen.

*') Gibelini et Guelfi factiones binae . prior a Sueviae, altera a Welphis Bajoariae Ducibus nomina mutuata. Nam cum Conradus Imperator, de Weibelingen cognominatus in chronico Laurishamensi p. 73, Imperii diadema adeptus, an. il39 Welpho* jiem VI, Henrici U. Juniorls Bavariae Ducis fratrem, eodem Ducatu privasset: Welpho, Rogerii Siciliae Regis armis adjutus, in Gonra- dum bellum movit: quod, etsi non semel pactis identidem inter- venientibus sedatum, dissidiorum semina diu inter utramque fami« liam fovit, quae Italiam potissimum diu afQxere, ubi Gibellina- rum et Guelfaruni factionum nomina saepe audita.« . A Gon- rado igitur de Weibelingen Gibellingi ac deinde Gibellini: a Wel-

AII«. Zeitoekrift f. GcMkielito. Y. 1846. 23

34« W^n w»d GibOngt,

D^ Hauptoaob« n«cb el>aDso, «ur um vieles besttmmier i^^cb«a «icb um 1730 die Verfo«ser der Cbroiiik von Goti* woifa aus. Sie nenaeo Waibliogen eiae SUidi ,,im ^ehvirliW- schen Herzogibum Wirtemberg, im Remslbai, Mb beim Ne*- cluirfluss, wo, wie allgemein bekennt isi| des Geaobleebt der bobenstaufiscbeu Herzoge berstammt ^^) und der gibellu»^ sehen Parteiung ihren unbeüvollen Ursprung gegeben baL'< ^7)

Die Sicberbeit mit weicher diese Stelle auftriu, rttbrt ohne Zweifel daher dass schon damals Gfufresne's AnsiciA allgemein angenommen war. Sie ist es noch gegenwürüg so »emli'Cb, and bedarf also genauerer Prü&uig. Dass der Name der Gibeiinge ebenso unmittelbar von Waibbigen her* komme wie der der Guetfen von Weif, bat bei einer bl^M gesohicbtUcfaen Auffassungsweise viel für sieb, weil unleug«^ bar dieselbe Sache die später di» gibelingisobe biess, frUher vom waibliogischen Hause vertreten war.

Aber die grammatischen BedenklicfakeMen , welche sieh diesem angeblichen Zusammenhang entgegenstellen, si^ no* besiegbar.

Schon der Wurzelvocal macht Schwierigkeit; denn dem abd. und mhd. ei (ai) de3 fraglichen Ortsnamens entj^richt

phone verO) familiae Bavariae principe, Gaelphi appellnii enni. d^^ar. ad seriptores mediae et infimae Jatinifatis. Ueler Gibelini. ^Dem A0(heH Rogers itfi diesen Kampfan legi Dulreane, ohne Zweifel irre geleitet durch den Bericht des Andreas Pre^yler, viel ZH i^oseee Gewichl bei. Den Aoliss zu der ErinduBg des Andreas gUuhe ich in Anm. U aufgededct eu habieo.

*') Diese Behauptung entbehrt alles Grundes s der Ort war (ve« 1020?) bis 1080 m Beailze des flrän^iscben Kaiserhauses und von da an in tdem der S^sohöfe von Speier <s. oben. A. 16$ ms deren Bänden er wobi unmittelbar an Würtemherg öherging (Vgl. Ba«g, «e MUesteGrafscbaa Wiiriemberg, &3t). Für eiAeo hoben eljl^fiscbeo StaomiaU^ ist also nirgesda ftaum. Vermlasaong dem Irrthum gaben wohl die Worte des Gotfrid von V^erho, die in der U. Aum. stehen.

«0 Waiblinga ... in Ckiefiae ducatu wurtembei^ee, ki valle Beewfthal, prepe fluviom Niemm, ubi iMihenstaufierun i\mm (et) augustam Ismiliam or^mm sumsMse, et gibellioae feoliem infausta initia dedisse, notisaimam est. Gbren. Ootwvc. 3, h^

Wdfm und (Hbelinge, 847

WBiA ein Miakifciias ft oder A^ das bei einer Uebertrafjang i& vdschs Fonn den Vorzug erhalten haben würde; nim» mermehr aber ein i: ans Weibil , WAbii-, Wftbil* kann bios Gnabil-, Guebil- werden, auf keine Weise Guibil-. Das war der Grund warum sowohl Andreas Presbyter Waiblingen in Giblingen verkehrte, als auch einige neuere von den bei- den Waiblingen absehen, und einen der Orte die Wiblin« gen heissen als Grundlage des Namens betrachtet wiesen wollten. ^>) Hier steht aber entgegen dass die oben ange- führten alten Nachrichten kein Wibelinga oder Guibeiinga, sondern immer nur Waiblingen, Weibilingen, Gueibelinga, Guebelinga, als den Ort nennen, welcher den Beinamen des fränkischen Königshauses hergegeben habe.

'Wollte man sich aber auch über die Verschiedenheit des Wurzelvocals wegsetzen, so Hessen sich doch zwei an- dere Hindernisse nicht beseitigen: der Anlaut des Wortes Gibelinge und seine Endung.

Was jenen betrifilt, so mUsste, da deutsches W von wel- scher Zunge als Gu behandelt wird, und auch Waiblingen in den lateinischen Texten meistens Gueibelinga, Guebelinga helsst, der Parteinamen offenbar die Wurzel Gueb- haben. Sie lautet aber nie so, auch nicht Guib-, sondern immer Gib-. Umgekehrt ist aus Weif in welscher Zunge nicht Gelf-, sondern Guelf- geworden, und wenn jenes ausnahmsweise z. B. bei Albertinus Mussatus vorkommt, so scheint es will- kürlich, vielleicht erfunden, damit sich Gleichheit des Anlauts ergebe*, wogegen deutsche Quellen, die es annahmen, sich hiezu vielleicht durch angenommene Herleitung aus dem deutschen Worte gelf ^^) bestimmen Hessen.

Den bedeutendsten Anstoss und der eben so gut bei Waiblingen als bei Wiblingen gilt, ja sogar für Giblingen gälte wenn es eines gäbe, findet Dufresnes Erklärungsver- such an der Endsilbe. Wenn Otto den fränkischen Ednigen statt des Beinamens „von Waiblingen'' einen mehr adjecti«

^*) Entweder das bei Ulm, an welches Andreas Presbyter ge* dacht haben könnte; oder das in der Pfalz, an das Uone (Helden- sage 24) erinnert. ^*) Vgl. Anmerkung.

23

848 Weifen md Gibelinge,

vischen hätte geben wollen, so hätte er nicht sagen können ,,die Waiblingen', woraus der welschen Zunge, mit Verach- tung des Anlauts und des Wurzelvocals, vielleicht „Gibelinge, Gibeliinen" geworden wäre, sondern als einzig mögliche Form hätte sich Waiblinger dargeboten, altdeutsch Wetbilin- gftri, was auf Welsch etwa Guebelingaro, Guebelinaro lauten würde.

« ,,6ibeli]ig" vermeintlich ans ,,Ribel!uiK.*'

Den richtigen Weg zur Deutung des Namens hat«Gölt- ling geahnt, indem er an den Einfluss der [deutschen Helden- sage dachte. In seiner Beweisführung ist freilich ausser dem Grundgedanken kaum etwas Haltbares. Denn wenn er *•) behauptet Eunrad IL sei der erste Gibeling gewesen, d. h: von ihm habe man die Gegner der Weifen Gibelinge genannt, so beruht dies auf der eben widerlegten Annahme vom Zu- sammenfallen des Namens mit dem der Waiblinger den Kun- rad allerdings führte. Da nun nach Göttlings Ansicht, die ich (Anm. 16) schon berührt habe, die beiden ihm gleich- geltenden Worte Waibling und Gibling nicht von einem Orts- namen herkommen, so sucht er einen andern Ursprung und findet denselben in dem Worte Nibelung. Seine Worte lau- ten: „ich denke, es soll nun niemand wundern, wenn ich sage dass die Nibelungen die Gibelingen sind." Nach dem Zusammenhang scheint es, Göltling denke hiebei nur an ei- nen sachlichen Zusammenhang, so dass nach seiner Meinung das Nibelungenlied, in dem Streit der rheinischen Könige gegen die Hünen und gegen Dieterichs Amelunge, den Kampf schildern wolle, »der um die Zeit seiner Entstehung zwischen Gibelingen und Weifen entbrannt war. Allein das wäre ganz gegen das Wesen der Heldensage, denn diese lebt gläubig blos der Vergangenheit, und erlaubt den Zeitereig- nissen höchstens die Darstellung mit einigen Farben anders auszuschmücken ; nimmermehr aber hat sie^s auf die Gegen- wart abgesehen, so dass sie darauf ausginge, gleichsam in

•0) Ueber das Geschichtliche im Nibelungenliede. Von K. W. Göttling. Rudolstadt 1814. S. 36.

Weifen und Gihelinffe. 349

einer Art von Geheimlehre das darzustellen was eben vor aller Augen vorgeht.

Ob nun Göttling mit jenen Worten blos einen sachli- chen Zusammenhang habe bezeichnen wollen oder nicht: in einer zwei Jahre später herausgegebenen Schrift, ^^) spricht er sich so aus dass man annehmen muss er wolle wirklich den Namen Gibeling auf Nibelung zurückführen. Mit Recht behauptet er von dem alten Schwabenherzog Nebi, der ums Jahr 720 lebte , ^') er zuerst aus seinem Haus habe den Herrschern des Frankenreiches wahre Freundschaft gehalten, denn während sein Grossvater Gotfrid den Argwohn Pipins mit Grund erregte, stand er selbst mit Karl Martell auf gu- tem Fuss. ^3) Nach ihm nun, meint Göttling, seien alle ka- rolingisch (kaiserlich) gesinnten Schwaben Nebilinge genannt worden. Das lässt sich aber durchaus nicht halten. Da sich nämlich Nebi'» Namen auch unter der Form Hnabi findet, mithin das £ in demselben mit A, nicht aber mit I zusam> menhängt, so ist zwischen Nebi und Nibelung der vermu- tfaete Zusammenhang unbegründet. Noch viel willkürlicher ist es ferner wenn Göttling eine Nebenform Webi annimmt, und hienach die Einheit von Nibelungen (Nebilingen) und Waiblingern (Webilingen) behauptet; denn weder findet sich jener Herzog irgend Webi genannt, noch wechselt N. je mit W.

Einen Ableger von Göttlings unhaltbarer Yermuthung dass Nibelung mit Waiblinger, also nach der älteren Ansicht auch mit Gibeling Ein Name sei , findet man bei Mono, s^) Sein Versuch die Behauptung sprachlich zu rechtfertigen, kann aber nicht gelungen heissen. Wenn mir seine Beweis- führung klar geworden ist, so hätten die Könige fränkischen Stamms, die Salier, aus alter i^eit den Namen der Nibelunge geführt, und durch Heirathen mit dem burgundischen Ge- schlechte , zu dem allerdings Eunrads IL Gattin Gisela ge-

>') Nibelungen und Gibelinen. Von D. Karl Wilhelm Göttling, Professor am Gymnasium zu Rudolstadt. Rudolstadt 1816. S. 25. ff. ") Stalin, Wirt. Gesch. 1, 180. »») Stalin ebd. 179. •*) Heldensage, S. «6, vgl. mit S, 7— i5,

350 Weifen und GibeKnge.

bbrte, dessen Namen GibichiDge angenommen; dadurch aber ^äre die Benennung Gibelung oder Gibeling, ein MiUelding von Gibiebing und Nibelung, herbeigeführt worden. Gibe- Ung ist nun allerdings gleichbedeutend mit einem voraus- gesetzten Gibelung ^ da sich die Endsilben ing und -— ung nur mundartlich unterscheiden*, aber wo fönde sich ein Be- weis oder auch nur eine Wahi^scheinlichkett dafUr dass die Salier Nibelungen geheissen haben, und ferner dass der Name der Gibichinge, der allerdings für Günther und seine Bruder, die geschichtlichen Burgunderkönige des 5. Jahrhun- derts wahrscheinlich ist, auch bei dem späteren, ganz neu emporgekommenen burgundischen Königshaus in Uebang gewesen sei! Endlich darf man wohl behaupten, dass die Annahme einer Vermischung zweier ganz verschiedener Namen dem Geiste des Mittelalters durchaus widerspricht: es entstellte wohl Namen, und schmiedele neue nach dem Maasse der alten, aber gewiss hat es nie die Benennung^ zweier Geschlechter zusammenfliessen lassen, um ein drittes, aus beiden entsprossenes zu bezeichnen. Mono zieht zwar den Namen Maximilian herbei, den Kaiser Friderich 111. för seinen Sohn aus Maximus und Aemilius zcsammengeselzt haben soll. Aber wenn man auch über die Verschiedenheit zwischen einem Tauf- und einem weniger der Willkür un- terworfenen Geschlechtsnamen, desgleichen über die zwi- schen dem sonderbaren Friderich und den Volkssängern des 12. Jahrhunderts hinwegsehen wollte, so wäre der Be- weis doch ungültig, weil die Nachricht falsch ist Sie findet sieh zwar schon im Weisskunig und bei andern Zotgenos- sen*, ebenso hat eine Stuttgarter Steininschrift von 1502 (mn Bebenhäuser Bof) die Form Maxaemilianus , und vielleicht glaubte sogar Friderich selber daran, dass er mit jenem Na- men seinem Sohn die Ei^nscbaften des Fabsus Maximus CuncCator und die des Siegers von Pydna geweissagt babe. In Wahrheit aber ist der Name viel älter, und von einem österreichischen Landesheiligen entlehnt, der im Jahre 288 als Bischof zu Lorch den Christenglauben mit dem Tod be-

Wdfm und Gib^mge. »1

siegelt haben soll. ^) TermuUilicb stohl in dcmseibeB falos L für N, so dms der Kaiser und sein Heiliger eigentlieh Maximinian heissen sollten.

„«beling'' ais der Heltouege geiemei.

Wenn auch die Art ^ie Göttling und Mone ein Zusam- menfallen von Glbefing und Nibelung behaupten, unhaltbar gefunden worden ist, so liegt doch, wie ich schon oben ausgesprochen habe, in ihrer Ansicht ein Keim des richtigen Terständnisses , insofern sie davon ausgeht dass die Namen und Kämpfe der Heidensage mit den geschichtlichen zer- flossen seien.

Wem fiele beim Lesen des Nibelungenliedes nicht auf, dass Baiern und Sachsen , die von 1076^1150 also zur Zeit des Ursprungs der jetzt vorliegenden Nibelungensage dem salischhohenstaufischen Hause in ernstem Kampf gegenüber- standen, feindlich erscheinen*, Oeslerreich dagegen und das Rheinland, königlich gesinnte Länder, befreundetf Man kann keckfich dem Nibelungenlied gibelingische Gesinnung zu- schreiben, insofern wenigstens als die Sage die zu Grunde fiegf, in manchen Theilen, auf der Feindschaft gegen Baiem und Sachsen beruht. Es ist aber nicht das Nibelungenfied allein das in dem Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Macht Partei nimmt: ein grosser Theil der übrigen Helden- gedichte (hut es gleichfalls. Göttlings Büchlein über Nibe- lungen und Gibelinen mustert sie, gegen den Scbluss hin, in dieser Beziehung. Als gibelingisch weiss er ausser dem Nibelungenlied nur den hörnernen Sigfrid und Ecken Aus- fahrt zu nennen; weifisch sind ihm Olnit, Hug- und Wolf« dieterich, der grosse Rosengarten, Rother, Dieterichs Flucht, die Rabenschlacht, Wallher von Aquitanien, die Heimonskin- der. Es wäre verdienstlich wenn jemand eine genaue Prü*

fung dieser Frage vornähme; hier liegt sie zu weit ab. Im»

^■.■a*—

<s) Die Nachweise s. in Heinriche teuUcber Retebsgeechlcble, Leipzig 1787—1805. IV, 641. Anm. Der tJebergaog von N in L findet sich auch sonst, vgl. z. B. das golb. himiNs mit de» abd«

hiflulL (Hiffloiel), da» abd. semaltdn (von zn*sämtaen} ttit unserm sammeiiD«

352 Weifen und Gibelinge.

mer müs8te dabei festgehalten werden dass nicht alle Hel- denlieder so unterzubringen sind : die Gudrun, z. B. hat gar keine Parteifarbe. Noch viel mehr aber muss man sich vor den grenzenlosen Folgerungen hüten die Göttling aus der in Rede stehenden Thatsache zieht. Er hat allerdings Recht, wenn er in einigen Heldengedichten, wie z. B. denen vom Graal, eine christliche, in andern, z. B. im Nibelungenlied, eine heidnische Vorstellungsweise herrschend findet. Wenn er jedoch weiter annimmt, diese Verschiedenheit rühre da- her dass die Dichtungen der ersteren Art von weifisch, also kirchlich gesinnten Dichtern ausgegangen seien, die andern von Anhängern der Salier und Hohenstaufen, also unkirch- lich, heidnisch denkenden: ^^) wer möchte da noch folgen! wer die Spaltung der deutschen Welt ums Jahr 1100 sich als eine solche denken! Aus heidnischer Zeit stammen alle Dichtungen der deutschen Heldensage: wenn in einzelnen das Heidnische, in andern das Christliche vorwiegt, so rührt dies lediglich daher dass sich hei jenen der ursprüngliche Geist unter den Händen späterer Bearbeiter nicht so stark verändert hal wie bei diesen. Auch der Unterschied gibe- lingischer und weifischer Gesinnung reicht lange nicht bis an den Ursprung der deutschen Heldengedichte hinauf: er ist eine Zuthat jüngerer Geschlechter, dadurch herbeigeführt, dass die Sänger von den grossen Bewegungen der Zeit er- griffen, dieselben unbewusst in ihre Darstellung einströmen Hessen, ein Recht welches die Dichtung zu allen Zeiten geübt hat, weil sie ohne dasselbe gar nicht bestehen kann« Die Heldensage hat aber nicht blos den Einfluss der Zeitbegebenheiten erfahren, sie hat auch einen Gegenstoss ausgeübt und auf dieselben zurückgewirkt. Obwohl ur- sprünglich Göttersage, ist sie doch mit geschichtlichen Be- standtheilen in Menge durchwoben, weil beim Untergang des heidnischen Glaubens an die Götter und ihre Schicksale die schönen Gesänge nicht verloren gingen, sondern sich auf den Boden der Geschichte retteten, die Namen berühm-

*') „Weil Eifer für Welllichkeit und Heidenthum im Allgemein pen zusammenzufallen schien.'' Nibelungen und Gibelinen, S. 34.

Wolfen und Gibelinge. 853

ter Verstorbenen entlehnten. ^7) Ist nun aber damit offen- bar dass eine kindlich giaubenskröflige Zeit die Grenze zwi- schen Geschichte und Göttersage verkannte, jene auf das Gebiet dieser hineindrängte: so wäre es mehr als auffallend, wenn nicht auch sie, oder die aus ihr gewordene Helden- sage sich auf dem Boden der Geschichte mächtig bewiesen hätte. Wie der Ostgothenkönig Theodorich im Nibelungen« Hede mit Hagen, einer menschlich gewordenen Gottheit, (^>) zusammenstiess, so reihten sich umgekehrt ehemalige Götter in den Stammbaum der Könige, und auch die Behauptung wird nun nicht mehr zu kühn erscheinen, dass ein Kampf der die ganze Gegenwart erfüllte, von der Heldensage des 12. Jahrhunderts an die Stelle desjenigen gesetzt worden sei, der nach der alten Göiterlehre die .Welt in zwei feindli- che Lager theilt, an die Stelle des Kampfes zwischen Som- mer und Winter, zwischen Licht und Nacht, oder sinnbild- lich (mythisch) ausgedrückt zwischen Äsen und Jötunen (Thursen, Riesen), nach griechischer Bezeichnung zwischen olympischen Göttern und Giganten (TTtanen).

Das Dasein dieses Kampfes in den Vorstellungen der alten Germanen, sogut wie in denen der alten Griechen, ist unleug- bar. Die Ansicht der Edda hierüber, also der scandinavischen Germanen, bat am schönsten Uhland zusammengefasst. ^^) Die Jötunen stellen die Feindschaft vor gegen alles was den Him- mel mild und die Erde wohnlich macht; zurückgedrängt oder gebunden, rütteln sie unablässig an ihren Schranken oder Fesseln; auch wird es ihnen einst noch gelingen sich

*^3 Ich berühre diese Ansiebt hier blos; umständlicher findet man sie vertheidigt in meiner Geschichte des Nibelungenliedes (deutsche Vierteljahrsschrifl Nr. 22, S. 231); in meiner Einleitung zur Gudrun (Ausgabe von Vollmer, Leipzig 1845, S, XLVII) und im Anhang zu den Walachiscben M'ahrchen, die ich mit meinem Bruder Arthur herausgegeben habe (Stuttgart 1845. S. 308 ff.).

**) S. Einleitung zur Gudrun S, LI.

**) Sagenforscbungen von L. Ubiand. I. Der Mythus von Th6r nach nordischen Quellen. Stuttgart und Augsburg 1836. S. 15 ff. Vgl. hiezu W. Müller, Geschichte und System der altdeutschen Beligiop* Göttingen 1844, S. 175,

354 Welfm und Oibelmge.

frei zu machen und einen siegreiebeft Kampf 2u erkeben. ^) Im Gegeogatze zu ihnea wurden als Schöpfer, Ordner ond Erhalter der Weit die Äsen gedacht. Ihr Leben ist ein sie* ter Kampf gegen die Jötunen ; wann diese dereinst entfesselt hereinbrechen, dann werden im Untergange der Welt aooh die iäffipfenden Aseu verschlungen, und darum beisst das Ende der Dinge Ragnarök d. i. der waltenden Götter Uii» lergang. ^^ Doch erliegen sie nicht ohne furchtbaren Kampf, der vornehmlich den hereinbrechenden Göttern der Flanr« menwelt gilt, denn durch Feuer soll die Erde vergehn. ^) Aber aus dem aligemeinen Untergang steigt eine neue WeU empor, in der auch die Äsen wieder aufleben. <^)

Dass die südlichen Germanen, die alten Deutsebeii, so gut wie ihre Brüder am Sund und auf Island, von diesem Kampfe feindseliger Gew^ten gewusst und gesungen haben, dass sie namentlich ein Feuerende der Welt und der Gölter geglaubt haben, kann man freilich nicht aus unmittelbar er- haltenen Göttersagen beweisen^ weil bei uns das Heidenthum untergegangen ist, bevor die Kunst und das Bedtferfmss schriftlicher Aufzeichnung heimisch wurden, weil uns also blos noch Bruchstücke vorliegen, welche die neue chria^ liebe Bildung theils nicht überwältigt, theils in sich au^e^ ßommen hat. Das bedeutendste derselben für den vorlie- genden Zweck findet sich in dem Gedieht vom Weltgericht

'®) Diese Vorstellung fehlt im griechischen Götterglaoben, oder vielmehr sie ist dadurch verduokett dass die späteren affes was eine frühere Zeit von einem WeHkampf am Ende der Tage gemeldet zu haben scheint, auf die Kämpfe übertrugen dfe zur Begfündotig der 6»lympf$oben Herrschaft nötbig gewesen Waren. Als eine Spur des früheren Zostaddes darf wobt das Grsuen be- trachte! werden, in dem die Otympter durch die immer neu atrf- Uuchenden feindseligen Söhne der £rde so lange ZeN befangen blieben. Eutt, der grfeehfisehe Götterkrieg und die germantscbefi Sagen vom Weiluntergang sind h^h^t wabrscheinUoh von Anfang her Eine Sage.

* *) Vgl. J. Grtrom, deutsehe Mythologie , ewette Aosgahe, Göt- fingen 1844. S. 773. •*) Vgl. ebend. S. 774. 775.

••) Tgl. ebend. 8. Ttb, wo die Yermuchcmg bespAkihen whtl,

dass hier christliche Vorstellungen Wifitsrttn gewesen seien.

Wetfen und GibeUnge, S55

(MuspSli), das termutblicb aas dem achten, JedesMIs am den Anfang des neunten Jahrhunderts stammt, und ohne Zweifel in Daiern entstanden ist. Der Name Muspilli bedeu* tet Feuer, und zwar dasjenige weiches den Weltuntergang herbeiföbrt; den Inhalt bildet eine Schilderong des jüngsten Tages, welche zwar in christlicher Absicht verfasst ist, näm- lich um die Menschen zur Busse zu ermahnen, in welcher sich aber unter der Hülle von christlichen Vorstellungen mehrere heidnische ziemlich rein erhalten haben. Nameni- lich lassen die jötunischen Mächte , die als Antichrist und Satan: es lassen die Äsen, deren Haupt Streiter, Thor, als Elias aufgeführt wird, den alten Sinn deutlich durchscheinen« Noch dürftiger, zerbröckelter sind die deutschheidoischen Vorstelltingen vom WeKuntei^ng , wie sie in einzelnen Ge- genden Deutschlands noch heute leben, und wie sie z/ B. Hebel in seinem Gedichte von der Vergänglichkeit einem Baaem aus der Basler Gegend in den Mund legi; ^) auch die viel verbreiteten Weissagungen von einem leteten Kampf^^ der nach den einen auf dem WalserfeMe bei Satzburg, «B')

**) . . mit der Zit verbrennt die ganzi Welt. Ss goht e Wächter us um MitCernacht, e fremde Ma, me weiss nit wer er isch, er funkelt wie-n-'e Stern, und röefl: ^^itadbt auf wacht auf, es kommt der Tag!** drob rölbet si der Himmel, und es dunderl übcral;

der Bode scliwaukl,

der Himmei stoht im Flitz, und d'Welt im Glast.

» » *

und endti zündet's a, und brennt und brennt wo Boden isch, und niemes löscht.

Der fremde Mann den niemand kennt, der funkelt wie ein Stern und dessen Ankunft die Wett in Brand setzt, entspricht dem aftnordi^ehen Surtr, dem Anführer des Heeres aus MuspeFheim. Hier erscheint er in Gottes Aoftrag, tm Muspilli als Antichrist : je» nes nähert sich noch mehr der heidnischen Annahme von zwei ebenbürtigen Kafxypfgewalien, dieses ist sffrenger chrfsfHdi, sofera auch der Zerstörer seine Sendung nur von Gott hat,

*•) Brttder Grimm Dentselie Sagen I. S. 99: der Bfrnbaum auf dem Walserfold, Dana(Ai ein gleichnamiges GedicM ton Chami^o»

356 Weifen und GibeKnge.

nach den ändern auf dem Ochsenfeld im Oberelsass ^ Statt finden soll, gehören hieben in ihnen hat sich auch der Bei- satz erhalten dass nach beendigtem Kampf eine neue schö- nere Welt erblühen werde.

Was in grauer Vorzeit bei uns lebendig war, und zu- gleich lebendig in unsre Gegenwart hereinreicht, das kann in der Zwischenzeit nicht todt gewesen sein: die Vorstel- lung von einem grossen Eampfe feindlicher Mächte muss auch im Mittelalter die Geister beschäftigt haben. Die Hel- densage, das bedeutendste Zeugniss von einheimischer Dich- tung soweit sie hieher einschlägt, hat auch wirklich Spuren hieven. Wenn ich mich anheischig mache sie beizubringen, so muss ich nur vorausschicken, dass man nichts weiter als verdunkelte, längst nicht mehr verstandene Reste zu er- warten berechtigt ist. Denn es können sich in der Helden- sage, eben weil sie die Göttersage geschichtlich nimmt, v^e- der der heidnische Gegensatz zwischen den freundlichen und feindlichen Kräften der Schöpfung, noch der später da- rauf gebaute von Gut und Sündhaft erhalten haben: es han- delt sich in ihr lediglich um Dinge die menschlichen Krieg herbeiführen, um Besitz und Rache. Natürlich konnte auch der Blick auf eine schönere Zukunft, die aus Blut und Braüd hervorgehen soll, bei dieser Auffassung nicht fortdauern.

Die zwei bedeutendsten Dichtungen der Heldensage, die nach meiner Ansicht mehr oder weniger auf den alten Mähren von Götterkrieg und Weitende beruhen, sind Gudrun und Nibelungen. Der eigentliche Kern der Gudrun, die That- sache die sowobl im zweiten als im dritten Theile ^) den Mittelpunct bildet, ist der Kampf zweier Volksstämme: im zweiten Theile der Iren wi(ler die Friesen, im dritten der Friesen wider die Normannen. Als Ursache wird beidemal ein Jungfrauenraub angegeben; da jedoch dieser in so vielen Sagen vorherrschende Beweggrund nach den ältesten Dar-

'*) Dahin verlegt ihn Runz von Eichstetten (ums J. 1740). Seine Gesichte sind mir nur handschriflh'ch bekannt.

*0 Ueber die Einrichtung des Liedes in dieser Hinsicht vgl. meine Einleitung m iemß^lbm S. XI. XVI.

Weifen und GibeUnge. 857

atelluDgen und so auch im ersten Tfaeile der Gudrun -*. nur Einen Helden verlangt, welcüer als drachentödtender, jungfraubefreiender Perseus, S. Georg, Sigfrid^ Tristan u. s. w. immer derselbe ist, so darf man annehmen dass die Vor- stellung von einem Kampfe zweier Ydlker sich nur nach- träglich mit der ursprünglichen einfachen verknüpft habe: die Sage vom Götterkrieg beim Weltende mit der von dem Kampfe den der Sonnengott mit dem Wintergotte besteht um ihm die Bluraenjungfrau zu enireissen ^).

Die Vermählung der beiden Sagen zeigt sich auch im Nibelungenlied , nur auf merklich andere Weise. Die Ent-* ' führung und Befreiung der Jungfrau sind hier völlig in den Schatten gestellt, indem sie nur als etwas Vergangenes bei läufig erwähnt werden^ auch die von der Ermordung des Drachen tödters hängt mit dem Schlüsse, welcher eben jenen Kampf zweier Völker, der rheinischen Helden wider Hünen und Gothen, schildert, so lose zusammen, dass dieser in selbslständiger Herrlichkeit auftreten, den zweiten Theil des Gedichtes fast unentstelll in Beschlag nehmen kann. Von dem Augenblick an wo die Burgunden nach Ungarn abzie- hen, vergessen wir alles frühere: Hagen, bis dahin so has- senswerth, wird uns theuer, seine Gestalt ist nicht mehr die Nachfolgerin der jötunischen Gottheit welche den weiland Äsen Sigfrid (Balder) gemordet hat, sondern vertritt nun selbst eine der Asenmächte, untergehend im herrlichen Kampf gegen die treulosen weltverderbenden Gottheiten ^ aus der Feuerwelt. ^^) Sogar die Vorstellung vom Weltbrande hat

'*) Ich habe den Versuch, dieses als den ursprünglichen Sinn zahlreicher verwandter Sagen nachzuweisen, an mehreren Orten gemacht: in der Geschichte des Nibelungenliedes (deutsche Vier- teljahrsschrift 1843, 2. S. 63), in der Einleitung zur Gudrun (S. XXXVI.) und im Anhang zu den walachischen Mähreben (S. 310).

'*) Diese Doppelbedeutung, die sich unter Hagens Namen birgt, wird klar, wenn man bedenkt, dass dieser ursprünglich dem Retter der geraubten Jungfrau gegolten, und erst allmählig sich an( den Mörder ihres Retters und Gatten hinübergespielt hat. Das alte Verhältniss überwiegt im ersten und zweiten Tl\eile der Gudrun,

3S8 Wdflm $md QiheUuge.

sich in det NÜMkuigeiisage zu erhaliea fewussl, freüefa im<- verstiBden und nur so wie es eben anging, nadidem die Erzählung aus den Wolken der Götterweit auf den feslea Boden der Geschichte herabgestiegen war: der Brand wid^ ehen Krimhildens Mannen in den Sasdbau werfien, um die dort eingeschlossenMi Burgunden 2U verderben, ist ein Best von den Gluten des Muspilli.

Mit der geschichtlichen Auffossimg haben auch neue Na- men .fUr die beiden Mächte Fuss gefasst. Die eine trügt den der Nibelunge; ihre Gegner heissen Amelunge, denn der Held,' weicher eigentlich den Fall der Burgunden entadiesdci, Dieterich von Bern, wird König (Vogt) der Am^n^ ge« nannt. Der Name der Nibelunge ist jedoch wieder mcht ge- schichtlich, sondern noch aus der Göttersage hergenommen. Nibelunge heissen im An&ng der Sage die zwerghafien Her- i^n des Hortes, welchen Sigfirid gleichzeitig mit der Jung- frau gewinnt, unterirdische, finstre, nebelhafte . GestaltiMi, welche die Geraubte sammt ihrem Schatz in Haft gehalten haben. Zu der Zeit wo der Hort noch den Blumen- vokd Blätlerschmuck der holden Sommerzeit bezeichnete ?*), stell* ten also die Nibelunge die Unterwelt vor, in der^i Gewalt sieh die nordische Persepbone, die Blumenjungfrau, den Winter hindurch befindet Später verdichteten sie sich zu blossen Hittern eines eigentlichen Schatzes, mit diesem fällt ihr Name dem Sieger Sigfrid und seinen Mannen zu; zuletzt, wieder mit dem Horte, Sigfrids Mördern, den Burgunden von Wenns.

Streng geschichtlich ist hingegen der Name der Arne* lange, wenigstens insofern als das Königsgeschlecht der Ost- gothen nach des Volkes eigenem Glauben den Amala zum Stammvater hatte, weswegen es den Namen der Amaler (Amali) und vermulhlich auch schon den gleichbedeutenden der Amelußge, d. i. Amaia's Nachkommen, trug. Indem die Gestalt irgend eines früheren Gottes in die des grossen Theo- doricb, Dieterichs von Bern, überging, ward auch seine ganze

das neae im ersten des Nibelungenliedes. Vgl. Einleitang zar Qu drun, S. XLIII. LI.

'*) S. Gescbicbte des Nibelungenlieds; S. 236.

Weifen und QibeUnge. 359

GtnoflMfifiobafi, vermuthlieh die ehemalige der As^i, hioföri wii dem Namen der Amelunge belegt; uBd wie Theodorieli, sorgsam wadiend fttr seines Hauses unbefleckten Fortgang, in den Namen serner Toohter Amala-swinUia die alte Be- nennung verflocht, so kennt die Heidensage als den Amelun- giSB angdiörig, mithin den Nibelungen feindlich, einen Aoial riofaf einen Amal-ger, einen Amai-*olt, ein^ Amal-gart; ja Amal^ung selbst, das eigentlich Geschiechtsname ist, ersefaeint als Benennung eines einzelnen bestimmten Helden ">').

So Straten die Gewalten, die sich im heidnischen G($t* terglauben als Äsen und idtunen bekämpft haben, in der Hel- densage der christlichen Zeit fort als menschliche Helden, obwohl der firlUieren Hoheit nicht gänzlich entkleidet^ wie die« auch bei den entsprechenden Wesen der griechischen Dichtung, bei einem Jason, Perseus, Herakles und Achill, keineswegs der Fall ist. Welcher Name die guten, welcher die bösen Mächte bezeichne, 'darüber lässt sich nichts All- gemeines angeb<in: jeder Yolksstamm nahm sich, indem er die . Göttersage geschichtlich machte, die Freiheit seine Hei* den als Nachfolger der guten Götter darzust^en. Nur so konnte es dem rheinischen Nibelungenliede begegnen, dass Heiden, die den unbeimlichen Namen der Nibelunge geerbt hatten, von ihm an der Stelle der guten Gölter aufgeführt werden, und an ihnen die Gewalt der asenfeindlichen, dureh Feuer verderbenden Söhne von.Muspelheim sich erprobt. Im Südosten, in der Heimatfa der Amelunge, würde sieh das Vetrhältniss umgekehrt haben«

Die beiden Namen waren jedoch nicht die einzigen, welche man brauchte um. jenen Gegensatz zu bezeichnen. Gleichbedeutend mit den Amelungen erseheinen die Wülßnge. Wie Ameiung (Aniaiung) der Sohn oder Enkel eines Amala, so ist Wülfiog der eines Wulf (Wolf)*, denn 6v^ Sylben -ing und *ufl^ sagen gleichmässig die Herkunft aus. Dieterichs Mannen werden Wiilfinge genannt, er selber der Wölßnge

^*) Die Nachweisung der hiehergehörigen Stellen ist sehr er- leichtert durch das genaue Verzeidmiss zu W. GHmm's deutscher Heldensage,

360 Welfm und Gibelmge.

Trost, Oberitalien der Wölfinge Land. Und wie wir unter den Amelungen mehrere gefunden haben, deren Namen aus Amal gebildet sind, so finden sich unter den WUlfingen Namen mit Wolf. Vor allem ist hier Dieterichs Grossvater, nach anderen Dichtungen sein Urahn, zu nennen, Wolf-Dieterich, von dem jedoch W. Grimm mit vielem Grunde vermuthet, dass er ei« gentlich mit Di^tericb zusammenfalle 7^). Wenn* gleich daher Dieterich in der Heldensage nicht ausdrücklich ein Wölfing ge- nannt, und der Name nur seinen Mannen, an ihrer Spitze dem alten Hildebrand, gegeben wird, so darf man daraus doch nicht scbliessen, dass er nicht unter die Wölfinge gehört habe, dass unter Amelungen und Wölfingen zwei verschiedene Heldengeschlechter zu verstehen seien; vielmehr scheint es Dieterich stelle als Wolf- Dieterich denselben Wolf dar, von dem sie benannt sind. Wie ferner von dem alten gotbischen Königsnamen Amala die Personennamen Amal-rich, Amal-^lt u. s. w. gebildet sind, so heissen hier nach dem Anftthrer Wolf die Helden Wolf-hart, Wolf-win, Wolf-brand, Wolf-helm; ja sogar dem Amal-ung, das oben als Einzelname wohl auf- fallen durfte, entspricht einWol^inge, d.i. Wolfing oder Wölfing. Dass ein Held, welcher aus einetn Gotte hervorgegangen war, deii Namen Wolf trug, darf nicht im Geringsten An^ stoss erregen. J. Grimm sagt in dieser Beziehung ^3): „des Wolfes (oder Raben) Geleit weissagte Sieg. Es ist wohl nicht zufällig, dass Rabe und Wolf, Wuotans Lieblinge, Sieg und Heil vorbedeulend, hiebei vorzugsweise genannt werden. Hervor hebe ich auch, dass kein anderes Thier mit Gang zusammengefügt wird als der Wolf: Wolfgang bezeichnet einen Helden, dem der Wolf des Siegs vorangeht. Erst der heidnische Glaube verständigt uns den Sinn alter Eigennamen, die kein roher Zufall hervorbrachte. Die Serbinnen nennen einen ersehnten Sohn Yuk (Wolf): dann können ihn die Hexen nicht aufessen. Auch den Griechen und Römern war AfhtHfxog^ Lyciscus, guter Vorbedeutung.'^

'>) Heldensage S. 234. 236. 357.

**) Deutsche Mythologie, zweite Aufl. (1844) S. 1093.

Weifen und Gibelinge. 361

Wie der Name der Amelunge zuweilen durch den der Wdlfioge vertreten wird, so ist es nun ferner zwar nicht nachweisbar, aber doch im höchsten Grade wahrscheinlich, dass man für den der Nibelunge, d. h. zur Bezeichnung derer, welche von den Amelungen bekämpft wurden, den Namen Gibelinge verwendete, wonach sich die Gleichung aufstellen lässt: es verhalten sich die Gibelinge zu den Nibe- lungen, wie die Wölfinge zu den Amelungen. Leider giebt es kein deutsches Denkmal, welches die Gegner der Wölfioge geradezu Gibelinge benennte, und ich sehe mich daher gezwun- gen, die Annahme, dass dieser Name da gewesen sei, auf einem Umwege zu erhärten.

Gibeling bedeutet den Nachkommen eines Gibilo, wei- cher Name sich nicht selten findet ''^). Er ist Verkleinerung aus einem der vollständigen Mannsnamen Giba-hart (Gebhart), Giba-rich, Giba-hraban'^^), und ähnlichen. Da nun das Nie- derdeutsche nicht mit L, sondern mit E verkleinert, so muss es an der Stelle von Gibilo ^^ ein „Gibiko^^ haben, und da das Mitteldeutsche dieses K aspirirt, so muss bei ihm ein „Gibicho, Gibich ^' erscheinen. Alle diese Formen finden wir nun wirklich. Gibica in noch älterer Form, wie das An- gelsächsische sie hat, Gifica ist ein geschichtlicher £önig der Burgunden, und vermuthlich der Vater des Gundicar (Günt-her) der 435 gegen die Hunnen das Leben verloren hat. Der deutschen Heldensage gilt er, unter dem mittel- deutschen Namen Gibich, als Vater der burgundischen Kö* nige die zu Worms wohnen, und ihrer Schwester Krimhild;

''*) Z. B. Patriarcha hierosolymitanus, Pisanus natione, nomine Ghibeiinus (um 1110). Murat. Script. VII. 739. Mone (Helden- sage 13. 14.) bringt noch bei Ghibi/inus (9. Jahrb.), Gibelo, (Gipelo, Gypelö) und das weibliche Gibelina (v. 1060); endlich GebUn (14. Jahrb.) und einen hierauf beruhenden Ortsnamen Ge- belingen (von 1302), der ohne Zweifel dem Andreas Presbyter sehr willkommen gewesen wäre, vielleicht aber Geh- (aus Gab«) und nicht Geh- (aus Gib-) zu lesen ist.

") So muss Gib rann US gedeutet werden, das Mone a. a. 0. beibringt» Aehnlich ist Wolfram gebildet, das ursprünglich Wolf- hrabaü hies$ (Grimm, deutsche MytboL, Ausg. v. 1844. S. 1093. Anm.).

AUg. ZtitMkxift t, 6«s«UcliU. Y. 1S4«. 24

m WOfm und 43ibeUH§0.

msF d«8 NiMun^alied «etei ^siatt Gtbicb i?«älk<ta*Ii<A Pank rat, «in wiffallender Tausch, von dem apäler* Ia der Edda, weiche die Sage von den Nibelungen aus Deutschland eni«» lehnt hat, lautet Gibich entstellt Giuki, und sie nennt auch seme Sdhoe Giukunge. Die deutschen Formen, die diesem nordtsohi^i Wort entsprechen, nämlich Gibidautig, GibiefaiBg und Gibelung, Gibeling, sind eben so si<^er da gewesisn, als ihre Wurzel Gibich: aulTallend bleibt jedoch immer, dass deutsche Denkmäler sie nicht enthalten.

Einen mittelbaren Beweis Air dte einstige Geitong des Namens Gibeltfig in der Heldensage kann man daraus neb* men, dass er wirklich als Taufn^sie gebraucht wurde: um 1160 wird ein <iibelattg von Wolfskeln bei Darmstadt ge- nannt ^6), gerade wie aus der südostgermanisohen Heldea* sage die Namen Amelung <Amelang) und Wüling (Witöi^) in den alltäglichen Gebrauch übergegangen sind ^7), luod aus ^r rheinischen ebenso Nibelung od^ Nibeimg '*^). Die Ver- eeit ^rwendete nämlich die Namest der Heldensage gern zur Benennung der Kinder. So hatte der Norsaaiinenberssog Boe- mund, der eigenitirch Marcus getauft war, den Betnamen Joemund yoh seinem Valer Robert, freilich nur im Scheree, «deswegen bekommen weil „in einem Liede beim FestmaU vom Biesen Buamimd die Rede gewesen war;^' von ihm aber ging ider Name auf viele über, die er wäbr^ad seines Auff- entbalts in Frankreidi (1106) am ^m* Taufe hob ^'9). Nach

J< II II I I— >»— In**»

»^) Nach Hone's Heldensage S. 18.

''') Die reichliche Verwendung des letzteren als Tauf- und Ge- «chleofatsnami^s , im 12. IS. 14. Jahrhfmdert ^belegt üone S. 16, Bayer. Wörlerb. 2, 690. '«) j^j^^ ^^ g 7 g

'•) Multi nobiles ad eum veniebant, eique Blies infafites eflfe- (fctont, quos ipse de sacno ibnte llbenter snsei^siebait, qt^bus etfam eagudmen siiism imponebat. Marcuis qnippe in ibapttsmate «nomi- lAitfis est, sed a patre sao, andlia in oonmie jooolari ftibula -de Snamundo gigaate, puero jocunde inpositam est. Quod intofrom poslea per totum mundum personait et innomeris in iripertICo eli- mate orfois alacriter ionotcnt Bog cntfnde nemen eoiebr« divulga- 4tim eät »in Galliis, quod antea inusitatmn erat pewa mnnftfls ecei- duis. Orderte. Vital XI. (angefahrt «ach Wilkens «esoychto ^dar

WOff», md CUbelmge. 36S

Sahitt^er iSucbteii aoch unsere näbaran Viorlabrea Uwe Tauf vamem gern bei 4&r Heldensaee, nur natürlicb bei defjenigeii die m ibr^v Zeit als die ediere galt, nämlich bei der hliä- sd>aa wetecbeo, nod ^^so üadet sieb unter Hundts« hairi$chen Adelsleuten mehr aiß £ia Pareifel, Wigules^ TrJMrao), Gabain, Gamuret, Gramofiaotz u. s. w., wehr 9ls Eiigie Jtlelusina, Sjgaun, Iselde, Herzeloy u. s. w/^

Geschichtlicher Zusammenhang zwischen WaibUngem, Cfibeüngen nnd

Nihelangen.

Ich habe nun« nachdem alle Thatsachen erörtert sind, zu erklären, wie es kam, dass die Partei, die im IL und 12. Jahrhundert vermuthiieh die waibUngische bies3.; im 13. und 14. als die gibelingische jerscheint

Da von urkundlichen Belegen fi^ diesen Uebergang die Rede nicht &ejn kann, uod auch Angaben der Zeitgenossen fehlen, so ist .man auf Jtfutbmaassungen beschränkt, welche schon dann einigen Werth ansprechen dürfen, wenn sie sich laicht als udfaaltbar nachweisen lassen. Göttling erinnert, um einen Zusammenhang zwischen der kaiserlichen Partei und dem Nibelujp^enHede zu erweisen, glücklich daran, dass der Hau|KtsUz des letzteren in derselben Gegend gedacht ward, ^au welcher der Abnherr des fränkisch -hobenstaufischen Königshauses herstammte ^^). Auch das darf nicht vergessen werden und hat bei den Erklärern des Liedes bis jetzt viel

Kreuzzuge 2>, 830.). ---Die fabula joeularis steht ohneJKweifel einer ernsten Erzählung wirklicher Begebenheiten gegenüber, und bezeich- net das fietdenlied, wie es die Sänger beim festlichen Mahle vortrugen. **) ,,Konrad, der Glbetinenkaiser, stammt von Worms* Nach den nordisebea "Sagen haust hier König Giuke und «ein Oesehlecht, <4ie Giukungen ^ibetloDgen). Dieser Giuke heisst in der deuteohen Heldensage Gibich; sein Geschlecht würden also die Gibechingen sein, die so leicht auf Gibelingen führen.^' Nibelungen und Gibe- ünen, 6. 35. Dieser Zusammetihang zwischen GibeKngen und Grakungen ist der l>este Fund im ganzen Büchlein, und von Gott* fing wohl ttur darum nicht besser ausgebeutet, weil die falsche tteinmg im Wege stand, dass Kytbeling von Walbiinger kevnme, dieses aber mit Nibelung in geheimem Zusammenhang stehe.

24*

364 Weifen und Gibetinge.

za wenig Beachtung gefunden, dass dieselbe Stadt Worin^ in den Zeiten, die um ihres grossartigen Drängens willen den Sängern der Nibelungenlieder vornehmlich im Gredächtniss waren '(1073 1150), eine ganz ausgezeichnete Bedeutung hatte. Hier, im Lande seiner Väter, fand Heinrich IV., zu Ende des Jahres 1073^ als allgemeiner Abfall ihn beinah zur Verzweiflung gebracht hatte, wo alle Städte vor dem Ver- folgten die Thore schlössen, Aufnahme und lebhaften Bei- stand an den treuen Bürgern von Worms. Gewaffnet zogen sie dem jungen Könige, der eben von schwerer Krankheit erstanden war, entgegen, damit er sich an dem Anblick ih- rer KriegsrUstung und ihrer zahlreichen wehrhaften Mann- schaft Überzeuge, was er in seiner Bedrängniss von ihnen zu hoffen habe. Willig boten sie, jeder nach Vermögen, Bei träge zu den Kosten des Krieges und schworen für ihn zu streiten, so lange sie lebten. Das hob des Königs Vertrauen. Er nahm in dieser festen, wohl versehenen Stadt, in der so viele treue tapfere Herzen für ihn schlugen, seinen könig- lichen Sitz; in ihren Mauern sammelten sich seine Getreuen um ihn, sie ward ihm für den Krieg den er sofort begann und bald mit glänzendem Glück führte, ein Waffenplatz, eine sichere Zuflucht ^^). Eine solche Begebenheit, wie sie gleich- zeitig durch Europa widerhallte und noch jetzt jedes fühlende Herz innig rührtj blieb auch den unmittelbar folgenden Jahr- hunderten sicher im lebendigsten Andenken, und dem ist es zuzuschreiben dass die rheinische Sage vom Kampf der Ni- belunge wider die Amelunge Worms als den Sitz der erstem bezeichnet. Nicht als ob nun die Sänger, gleichsam den Hörer hintergehend, sich unter dem Sigfrid welcher die Sach- sen besiegt, Heinrich den IV.; unter den Burgunden welche siegreich Baiern durchziehen, die hohenstaufiscben Brüder

*^) Stenzel, Geschichte Deutschlands unter den fränkischen Kaisern 1, 303. Diese Bedeutung des Rheinlandes in den dama- ligen Kämpfen ist auch Ursache, dass Otto von Freisiogen die west- lichen Grenzlandschaften des Reiches als Schauplatz der Zwietracht nennt (s. Anm, 8.).

Weifen und Gibelinge. 365

gedacht hätten ®3); sondern weil alle Heldensage bei ihrem Hervorgehen aus der Göttersage einer örtlichen Anknüpfung bedarf und sie da gewinnt, wo es nach den herrschenden Ansichten des Volkes von dem sie herrührt, am natürlichsten ist, an Orten die diesem Volk vorragende Wichtigkeit habiBn.

Auf ganz entsprechende Weise hat die Sage von den Amelungen oder Wölfingen ihre Heimath im Südosten Deutsch- lands, an Inn und Etsch, weil hier die Weifen in der Zeit, welche für Bildung der Heldensage von besonderem Werth ist, nämlich seit der Mitte des 11. Jahrhunderts, festen Fuss fassen.

Denken wir uns nun in die Geistesverfassung und in die äussere Lage der damaligen Träger des deutschen Volks- gesanges hinein, so werden wir ohne Mühe zugeben können, dass sie eiuestheils zu strenger Sichtung der geschichtlichen Verhältnisse weder fähig noch aufgelegt sein konnten, ande- restheils, dass für sie unendlich viel darauf ankam, ob es ihnen gelang, die Gunst der Grossen zu gewinnen. Wir werden hienach als möglich und wahrscheinlich annehmen können, dass solche, die in welfischeu Landen, an weifischen Höfen sangen, sich durch den Gleichklang der Namen Weif und Wölfing, so wie durch die gleiche Lage der Besitzungen der beiden Geschlechter, bewegen Hessen, das weifische Ge schlecht als Eines mit dem wölfingischen anzunehmen, und in ihren Liedern seine Kämpfe wider die Könige die vom Rhein her kamen, mit den alten Sagenkämpfen so zerfliessen zu lassen, dass diese gewissermaassen weissagend für jene wurden, mit ihrem Geist sich färbten, mit einem Theil ihrer Aeusserlichkeiten sich zierten. Daher zeigt sich in einzelnen Dichtungen jener Gegenden, z. B. im Waltharius, im grossen Rosengarten, der Rhein ebenso als feindliches Land, wie im

*>) Wenngleich der eine derselben, Friderich, der Vater Bar- barossa's, einäugig war wie Hagen, der im Kampfe gegen (den weifisch besungenen) Walther von Aquitanien das rechte Auge ver- loren hat. Waltharius 1393. Lateinische Gedichte des 10. und 11 Jahrh. Herausgegeben von Grimm und Scbmeller. Göttingen 1838. S. 51. vgl. die Bemerkung S. 1^5.

35§ Weifen und OibeHnge.

NifeelungenRed Baiern; daihep nahmen, wie der Baier Aven- linus (1477—1534) bezeugt, auch Ge^cbichlscbreibcr Weifen ond Wölßflge gleichbedeulend und machten den Wolf Diete- rich zum Stammvater der Weifen«*).

Indem nun die Heldensage den Weifenstamm als gleich- bedeutend mit dem der Wölfinge (Amelunge) nahm, ward unvermeidlich, dass sie deren Gegner als Gibelinge (Ni- belunge) betrachtete, und so erklärt sich, weswegen das Weifenland Baiem, wie den Saliern und Hohenstaufen, so aocb den sagenhaften Königen von Worms feindlich ist; Oesterreich dagegen, das die deutschen Könige stets be- nutzten um das unbotmässige Baiern im Schach zu halten, die Borgunden freundlich aufnimmt. Die enge Freundschaft des salischen und staufischen Hauses mit den Markgrafen von Oesterreich ist sogar im Stande gewesen der Nibelungen- sage, die ursprünglich dem Rheine gehört, an der Donau eine zweite Heimath zu geben ; ist vielleicht Anlass geworden, dass die Lieder, aus denen die Dichtung zusammengefügt ist, dort gesammelt wurden. Wie an weifischen Höfen die ver- meintlichen Ahnen des Weifenstammes, die Amelunge (Wöl- finge), gepriesen wurden, so gewiss auch am kaiserlichen und am österreichischen die Nibelunge (Gibelinge) mit ihren Gastfreunden Rüedeger und Pilgrin.

Hier führt uns nun der Gang der Untersuchung wieder auf die Waiblinger. Es konnte zwar die Ansicht, dass „Gi- beling** durch Entstellung aus „Waiblinger^^ hervorgegangen sei, nicht gutgeheissen werden ; so wenig als wenn Einer be- haupten wollte, die Wülfinge haben ihre Benennung von den Weifen. Aber wie die letztere Namenähnlichkeit beigetragen hat, ein stolzes Geschlecht von Lebenden mit einem weiland

••) „Die Welphen oder Wylphioger ist vorzeiten ein gross alt Geschlecht . . gewesen . . vod haben gar hie wollen seyn aus der Schytzen (Scytharum) Land, so man jetzt Sibenbüiigen und die Walaohey» eins Theils auch die Türckoy beisst; von Wolph Diet- rich, dem Helden vnn gar allen Teutscfaen König, wie Romerich der Abt vod andere mehr beschreiben.^* Aventins Chronik, deutsch von ihm selbst. Frankfurt 1566. S. 444.

Welfm und GibMnge. 867

göttlichen der Sage zerfliessen zu lassen, sa ist auch sacher* Kch der Name Waibiinger nicht untbätig gewesen, als die Gegner der Weifen mit den sagenhaften Gibetingen in Ver- bindung gebracht wurden. Von dem Augenblick an^ wo man sich die Weifen als Fortsetzung der Wölfinge dachte^ musste man geneigt sein, der Letzeren Gegner, die Gibelinge, mit den Waiblingem zusammenzuwerfen, ein Schritt, wel- cher durch die weitverbreitete lateinisch •> romanische Form Guebelinga bei allen oberflächlichen Beobachtern - und wo wären damals gründliche gewesen! sehr begünstigt wur- de. So kamen die alten Sagenkämpfe durch die Vermählung mit geschichtlichen zu neuer Ehre, und vielleicht liessei sich sogar ernstlich fragen, ob nicht hievon überhaupt die Auf- merksamkeit herrühre, die wir gegen Ende des 12. und im Anfang des 13. Jahrhunderts die Gebildeten der einheimi- schen Heldensage, so ziemlich im Gegensatze zu sonstigen Zeitneigungen, widmen sehen.

Obwohl aus dem Bisherigen, mit so viel Wahrscheinlich- keit als ohne Beistand von Urkunden überhaupt möglich ist, hervorgeht, dass der Geschichte die Benennung Gibeling aus der Heldensage erwachsen ist, so bleibt doch Eines noch räthselbaft. Weshalb fehlt der Name in den erhaltenen Dich- tungen der einheimischen Heldensage, während ihn die nor* dische, versteht sieb in ihrer Form als Giukung, ganz ent- schieden anwendet? Ich weiss dies nur durch eine Vermu- thung zu erklären. Sollte nicht der Parteiname nach und nach zum Schimpfnamen geworden sein, den man in anstän- diger Gesellschaft, sowie auf dem Gebiete der Dichtung mied, und durch einen andern unverfänglichen, den der Nibelun- gen, ersetzte? So können wir jetzt das Wort Pfeff, das nach seiner Entstehung aus papa (Vater) ursprünglich durchaus edel ist, einem Geistlichen nicht mehr geben, was doch vor vierhundert Jahren allgemein üblich war. Wenn volksmässige Gedichte sich begnügten, den Namen der Gibelinge selbst wegzulassen, so nahm der Ordner des Nibelungenliedes, der in höfischem Sinn arbeitete ^^), eine noch zartere Rücksicht.

*^) S. meine Gesch. des Nibelungenliedes, S. 187.

368 Weifet^ und Gibelinge.

Er mied auch den Namen, den andre Lieder dem Stamm- vater der Gibelinge stets geben: er setzte statt Gibicb (Gibel?) mit völlig willkürlicher Wahl Dankrat.

Diese Thatsachen thun jedenfalls dem Grundgedanken meiner Untersuchung keinen Eintrag; vielmehr, da der un- leugbar vorhandene Platz des Namens Gibeling in der deut- schen Heldensage wie absichlich leer gelassen ist, so muss dafür ein triftiger Grund vorhanden sein, und als solcher lässt sich wohl nur der angegebene geltend machen.

Freilich erhebt sich da sogleich wieder die Frage : wenn Gibeling, und selbst der zu Grund liegende Mannsname, we- gen eines allmählig angeflogenen Beigeschmacks vermieden wurden, warum nahm die Heldensage weifischer Lande kei- nen Anstoss an Wölfing? Möglich dass dieses durch den vorausgesetzten Zusammenhang mit dem stolzen Geschlechts- namen des weifischen Hauses einen Adel bewahrte, welchen dem Namen Gibeling die Anlehnung an ein längst in Yer gessenheit gekommenes Städtchen des Schwabenlandes nicht zu schützen vermochte. Ich traue mir hierüber kein be- stimmtes Urtheil zu: wo die Zeitgenossen selbst ein ganzes Gebiet fast absichtlich dunkel gelassen haben, da ist der Einbildungskraft ein so freier Spielraum gegeben, dass man lieber gar nicht anfängt.

Uebersicht der Ergebnisse.

Statt mit Yermuthungen die Zeit zu verlieren, will ich lieber schliessen, indem ich zusammenfasse, was aus meiner Untersuchung mit Gewissheit ^ oder doch mit hoher Wahr- scbeiolichkeit hervorgeht.

1. Die Weifen sind nach dem bedeutendsten Taufuamen des vorkämpfenden Geschlechts (Weif oder Welfo) benannt.

2. Dieser ist Verkürzung aus Weifhart.

3. Das Hauptgeschlecht der Gegner, vielleicht auch ihre Anhänger, trugen zuerst den Namen Waiblingen

4. Dieser kommt vom Städtchen Waiblingen bei Stuttgart.

5. Für Waiblinger wird später Gibelinge gebräuchlich:

Angelegenheit^ der hieiorischen Vereine. 369

zuerst in Deutschland (seit 1140?), von da aus in Italien (seit 1250).

6. Gibeling ist nicht aus Waiblinger entstanden.

7. Gibeling ist vielmehr die oberdeutsche, leider nicht nachweisbare Form für das nordische Giukung, also ur- sprünglich Name des burgundischen Eönigsgeschlechtes in der Nibelungensage.

8. Gibeling ist in die Kämpfe des Reichs dadurch her- eingezogen, dass man bei den Weifen an die Wölfinge (Ame- lunge), bei ihren Gegnern, den Waiblingern, an die Gibe- linge (Nibelunge) dachte.

9. Herbeigeführt wurde diese Gedankenverbindung da- durch, dass die Weifen im alten Lande der Wölfinge, ihre Gegner im allen Lande der Gibelinge festen Fuss hatten.

10. Unterstützt wurde sie dadurch, dass Weif an Wölfing, Waiblingen, zumal in seiner welschen Form Guebelinga, an Gibeling anklingt.

Stuttgart,- Januar 1846. Albert Schott.

Angelegenheiten der historischen Vereine.

Referate.

Der KöDigl. Sficbsische Verein für Erforschung und Erbaltung vater- ländischer AlterlhUmer.

M\i Freuden entledigen wir uns des Auftrages, über die Lei- stungen eines Vereins zu berichten, welcher seit mehr als 20 Jah- ren in reger Wirksamkeit für die Erforschung und Erhaltung va- terländischer Älterthümer im Königreich Sachsen thätig war. Die wenigen von demselben seit seinem Bestehen veröffentlichten Schriften, so wie der Umstand, dass die Thätigkeit des Vereins nicht ,über die Grenzen des heimischen Bodens sich erstreckte, mochten wohl Schuld sein, dass in den übrigen Marken unseres Vaterlandes verhältnissmässig wenig über denselben bekannt ge- worden ist. Nicht allein die Kunstschätze, welche seit Jahrhun- derten von kunstliebenden Regenten in Dresden gesammelt wur- den und dem Historiker, Antiquar und Künstler ein gleiches Inter-

870 AMgekgenheUm der histotwken VermM.

ease darbietm, sondern auch die vielen Denkmate heidnischer nad

christlicher Vorzeit, welche über Sachsens Gaue verbreitel, bisher dem gelehrten Forscher entgangen waren, machten es wünscliens- werth, die noch zerstreuten Denkmale der Vorzeit, welche für Kaufet und Wissenschaft, und besonders für die Geschichte Sach* sens von Wichtigkeit sind, der Verborgenheit zu entziehen, gegeD das Verderben zu schützen, und durch Beschreibung und Abbil- dung der Oeffentlichkeit zu übergeben. Ein solches Streben aber, sollte es zu einem günstigen Resultate führen, musste nothwendig von einem Vereine von Männern ausgehen, in welchem das gleiche Interesse für derartige Forschungen das vereinigende Element bfl- dete; die zwar sehr anerkeonenswerthen, aber bis dahin verein- zelten Bestrebungen mussten concentrirt werden, um durch Zoi» sammenwirken den Zweck zu erreichen. Mehrere hochgestellte Personen traten deshalb 1824 in Dresden zusammen, und entwar- fen die Statuten zu einem Vereine, welcher nicht nur von dem König Friedrich August genehmigt, sondern auch dadurch bedeu- tend gefördert wurde, dass demselben ein Local im firühPscben Palais (späterbin ein Saal des Zwingergebäudes) nebst einem Fond von 400 Thalern für die erste Einrichtung angewiesen ward. Der^ gestalt war dem Verein von vorn herein eine gewisse Selbststän- digkeit gegeben; er konnte, ohne auf die pecuniaren Leistungen seiner Mitglieder zu warten, sogleich seine Thatigkeit entwickeln. Am 19. Nov. 1824 fand bereits die erste Versammlung statt, in welcher man die Zwecke einer näheren Prüfung unterwarf, die Wahl von kenntnissreichen und thatigen Mitgliedern beschloss und eine Ge- schäftsordnung entwarf, welche mit den Statuten, nach dem im Januar 1825 erfolgten Abschluss der Vorarbeiten, durch den Druck zur Kenntniss des Publikums gebracht wurde. Das Statut bezeich- net $. 1 den Zweck des Vereins: „vaterländische Alterthümer zu erCorscben und zu entdecken, sie entweder selbst, oder durch Ab- bildungen zu erhallen und für die Nachkoil^men aufzubewahren.'^ §. IL den Wirkungskreis der Gesellschaft, welcher sich in geogra* phisoher Hinsicht zunächst auf das Königreich Sachsen, in histori- scher .auf die Zeit bis zu Anfang des 18. Jahrhunderts erstrecken soll. Wir müssen hierbei bemerken, dass die geographische Grenze etwas mit der historischen in Collision gerätb, da Sachsen vor dem 18. Jahrhundert eine bei weitem grössere Ausdehnung als jetzt hatte, und namentlich die für die vaterländischen Alterthümer so interessante Lausitz umfasste. Bestehen zwar auch für die gegen- wärtig nicht mehr sächsischen Gebiete besondere antiquarische Vereine, so möchte sich doch Manches für sächsische Geschichte Interessante daselbst finden , von welchem del* sächsische Verein, jds für aeine Zwecke Wichtigem, Notiat nehmen musste. Wir bat-

Angekgenheifen der hi^ioriseken Yerelm, 971

(00 gewiinseM, Porsehangen aus diesen Gegenden nloht ganz eoe» geschtossen zu sehen. Wenigstens glauben wir, dass der §. IV. „der Verein wird Verbindungen mit ausm^driigen Gesellscbafleii, die sich zu ähnlichen Zweeken gebildet haben, anknüpfen" in die ser Beziehung specieller abgefasst werden müsste. Von den übri- gen Paragraphen heben wir nur noch hervor (§. IH), dass in Dres* ' den der Sitz und Mittelpunkt des Vereins sich befindet, „doch werden auch in -andern SCadten des Landes die daselbst anwe- senden Mitglieder des Vereins in engere Verbindung zusammen- treten, um für den gemeinschafllichen Zweck wirksam zu sein." Durch diese Verzweigung des Vereins über das ganze Land ist es allein möglich, etwas Grösseres und Nützlicheres zu wirken, als sonst gewöhnlich bei localen Vereinen stattfindet. Was wir aber namentlich bei diesem Vereine vor vielen andern nehmend aner- kennen müssen, ist die Art und Weise seiner Thäligkeit. Nicht allein die Bekanntmachung und Erklärung merkwürdiger Denkmale, sondern auch die Erhaltung, Restaurirung und das Sammeln der- selben aus den Mitteln des Vereins, ist die Aufgabe, welche sich derselbe gestellt hat. Und dass in der That schon recht Erfreuli- ches In dieser Beziehung geleistet worden, beweisen die Restau- ration der Buchholzer Altarbilder, der Tumba des Mark- und Land- grafen Diezman, von Rietschel aus Cottaer Sandstein ausgeführt, der Wohlgemuth'schen Altarbilder in der Marienkirche zu Zwickau, eines altdeutschen Gemäldes zu Annaburg, einer Christusstatue aus der Kirche zu Boritz, der Glasgemälde zu Langenhennersdorf u. s. w. Der zweite Punkt, welcher sehr zu Gunsten des Vereins spricht, ist die Gemeinsamkeit in den Bestrebungen ;^lle Mitglieder, nament- lich die nicht in Dresden wohnenden, werden zur regen Thätlg- keit für die Förderung der Zwecke in Anspruch genommen, jedes Mitglied ist gleichsam verbunden, mit seinem Beitritt zum Verein, auch für denselben nach Kräften zu wirken. Möchte nun auch bei der grossen Zahl der Mitglieder, welche wohl nicht alte zu den gelehrten Forschem gehören, der Dilettantismus scheinbar sehr be- günstigt sein und das wissenschadliche Element zu verdrängen drohen, so wirkt doch die Direction des Vereins, welche sich in den Händen wissenschaftlich gebildeter Männer befindet, diesem an so manchem Vereine nagenden Wurm gewiss nach Kräften ent- gegen. — Zur Steigerung der Theilnahme theilte sich im März 1829 der Verein in zwei Sectionen für historische und artistische Untersuchungen, erstere unter Leitung des verstorbenen Hofrath Ebert, letztere unter der der Herren v. Quandt und Hartmann, wel- che in wöchentlichen, von den Versammlungen der Ausschuss-Mit^ glieder des Bauptvereins getrennten Privatversammlungen, zu de* neii auch nicht zum Verein gehörigen Personen der Zutritt ver«

372 AngekgenheUm der historischen Vereine,

stattet warde, Gegenständen aus der vaterländischen Geschichte und Kunst ihre Bestrebungen widmeten. Seit dem im Jahre 1830 erfolgten Tode EbertsJÖste sich aber die historische Sectipn wie- der auf, während die artistische erfreulich gedieh und die Restau- ration mancher der oben erwähnten Denkmale veranlasste. Im J, 1835 beschloss der Verein die Publication der Callmeyer*scben Zeichnungen der durch den Verein restaurirten Wöblgemuthschen Altarbilder zu Zwickau. Zugleich wurde ihm für seine Sammlun- gen ein neues Local im Prinzenpalais am Taschenberge angewie sen, welchem noch im J. 1840 für die Anlegung eines Museums für vaterländische, besonders kirchliche Alterthümer Räume im K. Palais im grossen Garten hinzugefügt wurden. Im Februar 1837 vereinigte sich der Verein mit dem 1834 in Dresden begründeten Vereine der sächsischen AUerthumsfreunde, und arbeitete seit der Zeit ununterbrochen für seine Zwecke fort, worüber die bis zum J. 1841 vorliegenden jährlich gedruckten Berichte Nachricht geben. Ausser diesen Protokollen wurden von dem Vereine eine An- zahl in den Versammlungen gehaltener Vorträge in zwei Heften, so wie im Auftrage des Vereins von Quandt die Beschreibung der Gemälde des Michel Wohlgemuth in der Frauenkirche zu Zwickau mit 8 lilhographirten Abbildungen der Gemälde (Dresden. Fol.) publicirt.

Das erste Heft der Mittheilungen, Dresden 1835. 8. erschienen, beginnt mit zwei Abhandlungen von Preusker über einige fn Sach- sen beGndliche Denkmale aus der germanisch -slawischen Periode. I. DerTeufelsgraben bei dem Gorisch zwischenTiefenau und Fichtenberg cu^weit Grossenhain. Es wird uns hier umständliche NacbriclTgegeben über eine der vielen in Deutsch- land sich findenden Wallgräben und Verschanzungen, welche im Munde des Volkes unter dem Namen von Teufels-Schanzen, -Grä- ben, -Mauern, von Römer- und Schweden-Schanzen bekannt sind, und in den meisten Fällen der germanisch-slawischen oder der rö- mischen Periode, selten aber der Zeit des dreissigjäbrigen Krieges angehören. Wie fast überall die Entstehung derartiger Verschan- zungen mit hübschen öfter wiederkehrenden Volkssagen, in denen der Teufel oder Riesen die Hauptrolle spielen, verknüpft ist, wird auch der Ursprung dieser sächsischen Walllinie mit einer Volks- sage in Verbindung gebracht, welche sich, wenn wir nicht irren, in einer Sage aus dem Harze und in einer andern in Baiern in Bezug auf den Pfabigraben wiederholt. Auf einer Strecke von zwei Stunden zieht sich ein 8—12 Ellen breiter, ^—5 Ellen tiefer und zu beiden Seiten mit einem 1 3 Ellen hoben Erdaufwurf befestigter Graben von der Gegend von Tiefenau, ungerähr in der Richtung; von Qsten nach Westen, bei dem Forsthause Goriscb

Angelegenhdien der hisloriichen Vereine. 373

torbei, tbeilt sich daselbst in zwei Arme, welche sich % Stande von dem Trenn ungspunkt wieder Tereinigen und so gleichsam eine befestigte Lagerstätte umschtiessen, und hört^ nachdem er auf eine Strecke die neue Landesgrenze zwischen Sachsen und Preussen gebildet hat, in der Gegend von Fichtenberg auf. Der Verf. weist zunächst die bisherigen Vermuthungen, dass dieser Graben als Ga- nal, oder zur Abhaltung eines Waldbrandes gedient habe, zurück, und erkennt in ihm einen jener Grenz- und Schutzwälle, wie die Germanen dergleichen zur Sicherung ihrer Gaue anzulegen pfleg- ten, und solche in neuerer Zeit vielfach von v. Ledebur, Wer- sehe, V. Leutsch u. a. im westlichen Deutschland jiachgewiesen worden sind. Bei den slawischen Völkern finden sich geringe Spu« ren solcher Grenzmarken, und können wir der Ansicht des Verf. für den germanischen Ursprung dieses Grenzgrabens um so eher beistimmen, zumal da sich in der Nähe desselben eine grosse An* zahl Urnengräber und Opferwälle, welche auf die germanische Vorzeit zurückgehen, gefunden haben. Ob der Graben den Sem-^ nonen zur Grenze gedient habe, müssen wir dahin gestellt sein lassen. ü. Riesensteine bei Meissen und Hain. Drei Felsblöcke (ein vierter ist zum Moreau'schen Denkmal bei Dresden verwendet worden) werden beschrieben, deren erster, 8— 10 El- len hoch und eben so lang, aber etwas schmäler, auf der oberen Fläche verschiedene regelmassige Aushöhlungen von bedeutender Länge und Breite zeigt, offenbar von Menschenhänden hervorge* bracht und zum heiligen Gebrauch bestimmt. Der zweite bedeu- tend kleinere Felsblock ist ohne jegliches Abzeichen. Auf dem dritten, auf einer zum Dorfe Diera gehöri^mi Feldmark gelegen, entdeckt man im Halbkreise um die Sleinkuppe und an den Seiten des Steins herablaufende Vertiefungen von regelmässiger Gestalt. Wie überall knüpft sich auch an diese letzteren beiden Denkmale eine Sage von zwei Riesen, welche feindselig diese Felsblöcke ge- gen einander schleuderten. Vielleicht dass diese Sage symbolisch auf das einstmal feindliche Verhältniss der Priester der verschie- denen Gottesverehrungen, nämlich auf den Streit der christlichen Priester im uralten Dorfe Zadel mit denen der Heiden im Orte Wantewitz, welcher Name vielleicht mit Swanlewit zusammen- hängt, gedeutet werden kann. Zur Vervollständigung des Schönburgischen Stammbaumes. Ein Beitrag von A. Schiffner« Der den Stöckhardt*schen Nachrichten beigegebene, bis zur Reformationszeit herabreichende Stammbaum eines der wichtigsten Dynasten-Geschlechter Sachsens, derer von Schön- burg, welcher mit urkundlicher Sicherheit bis zum J. 1182, wahr- scheinlich aber bis zur zweiten Hälfte des eilflen Jahrhunderts hin- aufreicht, wird in einer umfassenden und gründlichen Untersuchung

374 Anji^egetikeUea dar hi»ti>fi§ehm Vereine^

geprSII «nd «««rvo^ifttändigi. ÜMtenaich wird die AimenUfM wn eioen fiermami, zwucbeo UeriBami L und Hemafin den üiogereo EU «elzen, welchen der VerC. den Zwerlea oder llüilenea neesi, bereichert. Es kriU derselbe 1197 zuerst als Scbiedsricbter In ei- ner StreHsaobe des Klosters Aitzella auf» uud erscheint lill2 unter den/enigen Berren, welche eich zu Gunsten Kaisers Otio IV. hm dem Mark^vfen Dietrich dem {^drängten von Meissefi, gegenüber den V4>n diesem ernannten Bürgen, verbürgt haben. I>er Verf. scfaliessi aus diesem Factum auf die jEleidbeimmiUelbarkeit ^w^ser Sobönburgisohen Güter, da fiermann iet Mittlere als Vasall des Markgrafen nicht dessen gara&tirender Bürge hätte sein köpneo. Später tritt um 1217, 1221, 1222 und. 1224 dttser selbe Hermeßa als Graf von Sconinburc noch mehrere ilal ans lilcht. -— Die Dienkmale des germanischen Alierthufi^s in Saehsefi veji (k Klemm. Aus einer kurzen Gescbichle der Eotdeckung ^nna- nisoher AHerthümer in Sachsen entnetoen wh-, dass Agrieela «md Att»in zuerst im 16. Jahrhundert auf die der Lausitz gefundenen alterthümÜGhen Urnen aufm^ksana machen. Erat im 17« JabrhuOi- dert wurden in Sachsen, und zwar m I>resden, bei der Anlegung des italieBtechen Gartens Urnen gefunden. In neuerer Zeit erwarii» eich der Verein der sächsischen Aiterthamafreunde in Leipzig und der antiquarische Verein im Vogtlande Verdienste •um die Entdek- kung und Erk-Iarung germanischer Aitertbümer. Es folgt dar^, ähnlich wie la dem Obenbayerischen Archiv, eine ^ilebefsicbi der aitgermanischen Grabbügel, Opferpiälze, Oplerfelson, WäJie «od Verscbanzungen in Sachsen, so wie die Hauptfandorte antiker Wal- len, Urnen u. s. w. JLuch römische Ge£ässe, Schmucksacbea uimI üunzen, wahrschemnch durch Bäadler nAdh Sachsen gekemmea, finden sich in diesem Verzeichniss vor.

fleft IL Dresden 1842. Beilage L Die Altarbilder in der Siadiklrchc zu Buchh4)Iz nach ihrer reügiÖ&en Be^ deutung vcn J. Dittrich. Diese Altarbilder, derireffüchen Zeioh* üung nach zu urtbeilen von einem lücfaügen Meister, wurden von Herzog Georg dem Barligen dem von ihm 1502 zu Annaburg er- richteten Franziskaner^KJoster geschenkt und sind in neuerer Zelt durch den Verein bis auf die fehlenden Bilder des rechten Flügels restaurirt worden. Der Verf. sucht auf eine geistreiche Weise die Idee klar zu machcß, welche den Künstler bei seiner Zuswomea- Stellung der Bilder leitete, und hat zu dem Bebufe die Bilder in «drei Reiliefolgen gruppirt. Die erste bestdiend aus 5 Tafeln (1. Ma- ria mit dem Christusktnde, dabei St. Franoiscus.,^ St. Geerg^ St* €lara. 2. Maria's Aufnahme in den Bimmel. 3* IHß Gegenstück ist verloren gegangen, enthielt aber vielleicht Anna mit IhiteraMb- 4er Maria. 4. Jesaias. 5. Salomo) ist der Verherrlichung lianie&s

AngeleffeidiieiUn der hutorUeken Vtrtme. 375

gi^widoiet. Di« 2. Reibe sdgt »äf 4 Tefdo 4 männliebe und 4 weibliofae fieiiige {Bernhardio v. Sieoa, Uagdalena, Ludwig v. Tou* Jouse, Clara, AaUmius v. Padua, Elisabeth v. Thöriflgeo, die 3. Ta* fei febU). 0ie 3. fieihenfolge stellt auf 4 Tafeln 4ie 4 Gruodkigeii* den, Prudentia, Temperaetia, Justitia cmd Fortitudo durch die hel^ ligen Barbara, Bonaventura, Margarita und Cbrisiopfaorus repiüsesH tirt dar, zwischen denen sich das Messopfer mit den Wundern nod die Darstellung des Kindes Jesu mi Tempel und der weiesa* gendeSimeon befindet -^Beilage Q. Bericht aber ein Maiiu» Script auf Pergament, ein zum Gebrauch der Breslauer Bischöfe besti minies Alissale u. s. -w. von J. Dittrich, Die» ses Ifis8a)e, dessen Ef^tehuog, nach der Form der Schrift cnd den verzierten initialen zu urtheüen, in die zweite Hälfte des 14. oder in den Aalang des 15. iahrhanderts fällt, war, wie «os dem l^dS vom Bischof Johann von Breslau ergänzten Täelblatte zu er- sehen, zum Gebrauch der Breslauer Bischöfe bestimmt Einer frö* Jieren Zeit dürlte das Manuscript ^obi aus dem Grunde nicht an- ^ehdren, da es die Mess^i vom Trinilatis- und Frohnleichnamsfest «ollhält, welche um 6\q Mitte des 14. Jahrhunderts erst allgemein in Gebrauch kamen. Uebrigens ist dieses Manuscript, welches in die Sammhmg des Vereins übergegangen ist, durchaus von keinem 'valerländiseben Interesse für Sachsen; der Bericht darüber hätte de^alh wohl anderwärts einen geeigneteren Platz gef4]nden. Beilage III. Bemerkungen über das Mäntelchen mit ara» ihisclier Inschrift und Arabesken aus der Stadtkirche zn Penig vom Herrn Graf von Munster. A. d. Engl, äbers. von Schier, In einer interessanten Abhandlung wird die Be- stimmung dieses Mänteüchens von golddurchwebtem Steif, in wel- ches der Titel „SoHan Moazzam, der geelH*te Snltan^^ mehrfach ein- gewebt ist, jsäher beleuchtet. Derartige Prachtgewäuder, Taraz ge- -nannl, worden nach Ibn Gbaldun von den orientalischen Herrschern ihren iBofleoten als Ebrengesobeoik verliehen , ein «ohon im höch- sten Alterthnm bei den orienlalischen Völkern vorkommender Ge- ibranch, der sich durch ^^ Sassaniden fortpflanzte, auf die arsbi- -schen Dynastien Überging und sich bis auf den heoligen Tag noch im Gi^ienl erhalten hat. Vielleicht, dass zur Zeit der KreuzzUge dieses 'Mäntelchen nach Europa gekommen ist. Beilage iV. DeT Tod'tentanz zu Dresden. Versuch einer Zosammen- »tellnng alier bisher darüber gedruckten Nachrichten, v«n Ch. 'Hohlfeldi. Beilage VI. B. Nachrichten über den Todtentanz zuDresden, MiUheilungen aus demlCirchen- tind Stadtarchive von J. Tb. Erbstein. Von den drei in fiaehsen befindlichen Todtentänzen zu Leipzig, Annahurg und Drjisden , vt^ird der (letztere htslorisch beschrieben. Es schmüellte

876 AngetegenhtUen der hiitorischen Vereine.

einst derselbe das von Georg dem Bärtigen in Dresden erbaute Herzog Georgenschloss (ISdi-^dT), wurde aber, als 1701 das Scbloss zum grossen Tbeil abbrannte, bei dem Umbau desselben entfernt und von August dem Starken 1721 der Kirche zu Alt-Dresden ge- schenkt. Dort wurde er an der Aussenseite der Schwiebbogen der Befriedigungsmauer des Kirchhofes angebracht und bei dem Umbau der Kirche im J. 1733, wo auch der Kirchhof verlegt wurde, nach dem neuen Kirchhof geschafft, woselbst er sich gegenwärtig, durch zweckmässige Eidrichtungen gegen den Witterungseinfluss geschützt, noch befindet. Es wäre wünschenswerth, endlich einmal eine ganz genaue Zeichnung dieses Denkmals zu .erhalten, da we- der die vorliegende noch die älteren Abbildungen in Weck's Be- schreibung Dresdens und in der 1705 erschienenen „Beschrei- bung des sogenannten Todten-Tantzes u. s. w." allen Ansprüchen genUgen. Auch würde eine artistische Beleuchtung des Denkmals sicherlich von grossem Interesse sein. Beilage V. Johann Maria Nosseni. Biographische Skizze von Ch. Hohlfeldti» Nosseni, am 5. Mai 1545 zu Lugano geboren, trat 1575 bei August L als Baumeister in Dienst und blieb unter den Regenten Christian I.^, IL und Georg I. bis zu seinem 1620 erfolgten Tode in dieser Stel- lung. Von ihm ist die von Herzog Heinrich dem Frommen am Dom zu Freiberg angelegte landesfürstliohe Begräbnisscapelle, so wie der Hanptaltar in der Sophienkirche, welchen er für die Ghur- fürstin Sophie, Wittwe Christian I., arbeitete. Ein besonderes Ver- dienst erwarb sich Nosseni dadurch, dass er seine sammtlichen Arbeiten aus sächsischem Marmor herstellte. Einige gesammelte Nachrichten über das Leben dieses Künstlers hat Hr. W. Schäfer noch hinzugefügt. Beilage VL Nachricht über das im Jahre 1840 wieder aufgefundene, sogenannte Zittauer Hungertuch von 1472, von Pescheck. Dieses 90 Quadratel- len grosse, in 90 Felder getheilte Temperabiid, welches zum An- denken an eine grosse Hungersnoth zur Zeit des Hussitenkrieges vom J. 1472—1672 jedesmal in der Passionszeit in der St. Johan- niskirche zu Zittau aufgestellt, später aber abgenommen wurde, ist in neuester Zeit unversehrt in der Rathbausbibliothek wieder auf- gefunden worden. Aehnliche Hungertücher (pannum famelicum) kommen zu Rufach im Elsass um 1347 und zu Augsburg um 1491 vor. Beilage VH. enthält mehre Briefe des Herzogs Johann Friedrich des Mittleren und seiner Gemahlin Elisabeth an Mag. Am- brosius Rothen, Pfarrherrn zu Geithain, von 1568; Beilage VUI., zwei Beiträge zur Kunstgeschichte Sachsens, im 17. Jahrhundert. Ausser diesen beiden Heften liegt uns ein Sendschreiben des Vereins an die Freunde kirchlicher Alterlhümer im Königreich Sach- sen vor (Dresden 1840. M. 4 iithogr. Blättern), in weichem in ei-

Angelegenheiten der historischen Vereine. 377

tiem höchst ausführlicheD und von vieler Sachkenntniss zeugen- den Schema alle die Punkte aufgestellt werden , welche bei der Beurtheilung kirchlicher Altcrthümer zu berücksichtigen sind. Die Hauptpunkte sind: A. Andeutungen über die Grenzen der kirchli- chen Alterthujnskunde. B. Baustyle. C. Sculptur und überhaupt plastische Darstellung. D. Malerei und zeichnende Künste. E. Das Innere der Kirchen. F. Graphische Denkmäler, Monogramme, Stein- metz-Zeichen, Wappen u. s. w. G. Gegenstände, welche zu dem Cultus dienen. W. Koner.

Notizen.

Der Verein in Trier.

Als wir im Januarheft das Verzeichniss von 70 Vereinen mit- theilten, ahnten wir wohl, dass noch mancher übersehen sein dürfte; Wirklich ist uns seitdem die Kunde von zwei dort nicht aufge- fürten Vereinen zugegangen, lieber den einen, zu Coesfeld, fflld wir noch nicht hinlänglich unterrichtet und werden später auf ihn zurückkommen. Der andere: „DieGesellschaft für nütz- liche Forschungen zu Trier'S ist noch dazu einer der älte- sten, gegründet 1802, anerkannt 1805. Sein Zweck ist freilich der Landeskunde im weitesten Sinne des Worts gewidmet; doch haben auch andere unter den bist. Vereinen sich einen so weiten Ge- sichtskreis gesteckt. Die Aufgabe der Gesellschaft besteht gemäss den Statuten darin, den Regierungsbezirk Trier „in naturwissen- schaftlicher, historisch - antiquarischer und statistischer Hinsicht immer vollständiger kennen zu lernen und die Vermehrung seiner Erwerbsquellen * zu befördern ", Die Gesellschaft ist im Besitze einer naturhistorischeu , einer Antiquitäten- und einer Münzsamm- lung. So viel wir wissen enthält sie sich eigener Publicationen, regt aber zu solchen wissenschaftlichen Arbeiten an, welche ihren Zwecken entsprechen, und unterstützt dieselben durch ihre Mittel, ihre Verbindungen und Forschungen.

Bremen obne Verein. Wenn unter den vorhandenen bist. Vereinen etliche überflus? si[g wären: so folgt daraus noch nicht, dass ihrer zu viele seien, dass nicht hier und da die Bildung eines neuen auch jetzt noch sehr wünschenswerth , ja ein wahrhaftes Bedürfniss sein könnte. Von unsern vier freien Städten besitzen Frankfurt, Hamburg und Lübeck ihre eigenen Vereine, von denen wahrlich keiner zu den überflüssigen gehört: sie alle erfüüen ihre Aufgaben zu wesentli- chem Nutzen für die Wissenschaft, für die historische Selbsterkennt-

Allg. ZeitMkrift f. Gefcbichte. T. 1846. 25

378 Angelegenheiten der historischei^ Vereine*

niss Deutsohlands. Nur Bremen also ist surückgebliebeo; gride bier aber IriU nun der Fall eines wahrhaften Bedürfnisses ein. Worauf es bei der Bildung eines Vereines ankäme, liegt nahe genug. Hamburg und Lübeck besitzen nun ihr Urkandenbuch. ,pWann wird Bremen," ruft Hr. Prof. Wurm (s, d. vorige Heft 4, Zeitschrift, S. 207.) aus, „dem Vorgang der Schwesterstädie fol* gen und seine archivalischen Schatze, die es dem Einzelnen so freundlich öffnet, durch eine ähnliche Sammlung, unter filHwirkaog vereinter Kräfte, der gemeinnützigen Oeffentlichkeit übergeben?'* Möchte dieser Ruf, in den wir mit voller Ueberzeugung einstim- men, zugleich eine rechlzeilige und erfolgreiche Mahnung sein, und Bremen die Frage durch die einleitende That beantworten!

AnerbieleD.

Der Voigtländiscbe Alteithumsverein zu Uobenleuben besitzt noch Vorräthe derjenigen Sehriflen, welche er während seines 20jäbrigen Bestehens herausgegeben bat. Er ist gern bereit, hie* von Exemplare an diejenige» Geschichts- und Aiterlbumsvei unentgeltlich abzugeben, welche dieselben zu besilzen wüoschl Hierauf bezügliche Anträge werden entweder portofrei oder aof dem Wege des Buchhandels durch die Bockeimannschc ifofbuch* liandlung in Scbleiz erbeten.

Pfeisaufgaben. Der Ausschuss des historischen Vereins für Niedersachsen ia Haiuiover hat Tür das iahr 1846 zwei Preisaufgaben gestellt: 1) ver« langt derselbe eine politjsch-statisiische Schilderung der Verfassung und Verwaltung eines Amtes oder Geriebtsbczirkes eines der ehe* mais von geistlichen tandesberrn regierten Landestbeile des Kö- nigreichs Hannover, nämlitb eioes ehemals hiideshei mischen , os« nabrückischen, mainzisch-eichsfeidischen oder münsterisch-meppeu- schen Gebietes, wie solche um das Jahr ISOO war. Es wird hierbei eine tbunliefast umfassende Schilderung der Verfassung des Bezirks und seiner allseitigen Verwaltung durch die Adoitnistrativ* behörden und Beamten desselben, in Hinsicht auf Jurisdiktion, auf Polizei-, Steuer- und Domanialweseii etc., sodann der Verfassung und Verwaltung der Landgemeinden gewünscht, und wird der Werth der Arbeit vorzugsweise nach der Reicbfaalügkeit d^ Mtt- theilungen geschätzt werden. 2) eine Darstellung der Formatioii, Thaten und Schicksale eines der nachfolgenden Corps, nämlich etU- weder eines der FeJdbalaülons von 1813 (natürlich mit Einschhiss des Kielmanseggischeo JägereorpsX oder eines der drei oeuformir- ten Cavallerieregimenter, oder einer der beiden iSia orga&lsirfceo Fussbatterien, oder endlich eines der Land wehrbataillons , welch«

Allgemeine Literaturberichie. 3'79

Tbell an den Kri^gsereignissen genommen haben. Die DarsteHung hat die bei der Formalion obwallenden Verhältnisse, mit Eiosehlass der eifiscblägigen Proklamationen, Regierungsausschreiben, Gene ralordres u. dgl., sodann die etwaige Theiinahme an den Kriegser- eignissen möglichst ausführlieb zu behandeln. Auch eine Schilde- rung des damaligen Geistes im Volke und Beere, so wie nähere Angaben über die in den einzelnen Corps herrschende Disciplin werden sehr willkommen sein. Die Preise bestehen in ein^r goldenen, zehn Dukaten schweren Medaille und in einer sHbernen, doch kann ihre Zahl je nach den Umständen auch verdoppelt wer- den. Die Arbeiten sind an den Director des Vereins bis zum 31. December d. J. einzusenden, mit einem versiegelten Couvert, das den Namen und Wohnort des Verfassers enthält und auf der Aus- seoseite mit demselben Motto versehen ist, wie die Arbeit selbst. Die Preisvcrtheiiung findet in der Generalversammlung am 24. Fe« bruar 1847 staU.

Beitrittserklärungen der Vereine.

0 Unserm Unternehmen sind ferner beigetreten: iO) Der Verein für Gesch. u. Aiterthumskunde Westfalens zu Münster und Pader« born. 11) Die numismatische Geseilschaft zu Bertin. 12) Der Voigtländische alterthumsforschende Verein in Hohenieuben. 13) Die KönigL Gesellschaft für Nordische Aiterthumskunde in Kopen- hagen« 14) Der bist. Verein von und für Oberbayern in München. 15) Der Verein für Hamburgische Geschichte. 16) Die Gesellschaft für Pommersche Geschichte u. Aiterthumskunde in Stettin. 17) Der archäologische Verein zu Roltvtreil am Neckar. 18) Der Henneber- gische alterthumsforschende Verein in Meiningen. März 1S46,

AUgfemeine lAteTatuvheTlehte.

Alterthum.

Real-EncycIopä<iie der classischen Alteribumswissenschaft in alphabe- tischer Ordnung. Von Geh. Hofraih Ch. F, Bahr in Heidelberg; Prof» A, Baumstark in Freiburg; Prof. W. A. Becker in Leipzig; Prof. C, Cless in Stuttgart; Geb. Baih, ComUiur Friedr. Creuzer in Heidelberg; Conrector A. Forbiger in Leipzig; Prof. F. D. Gerlach in Basel; Director G. F. Gro- tefend und Dr. C. L. Grotefend in Hannover; Dr. A. Haakh in Stuttgart; Diac. und Schulinsp. W. Heigelin in Stuttgart; Geh, HofraUi, Ritter Friedr. Jacobs in Gotha; Rector C. Erafft in Biberach; Dr. J. H. Krause in Hallo; Prof. Metzger in Schönlhal ; Prof. K. W. Müller in Bern ; Prof. L. OeUinger in Freibarg; Dr. L. Preller In Jena; Prof. W. Rein in Eisenacb; Prof« O.

25*

380 Allgemeine Literaturberichte,

L. F. Tafel, Dr. W, S. Teuff«! und Prof. Ch. Walz in TüblnKen ; Prof. A. Wester- mann In Leipzig; Prof. A. W. Winkelmann in ZUricb; Dr. A. Witzscbel in Eiaenacb; Ministerialrath C. Zell in Garlsnibe, und dem Herausgeber Au-^ guat Panly, Professor in Stuttgart. Bis jetzt 58 Lieferungen ä 80 Seiten (zu 36 Xr. oder ^ Thlr.), oder drei Bünde (I entbaltend A und B, 4S24 S. U. enlh. C und D, 4337 S. III. entb. E, P, G, H. 4 572 S.) und von Band IV. S. 4 480 entb. J bis Julius Cäsar, Stuttgart, J. B. Metzler'scbe Buch- handlung« 4 837 4 845. Lexicon-8.

Indem wir das vorstehende Werk in diesen Blättern zur An- zeige, bringen, müssen wir vor Allem dies bevorworten, dass es nicht unsere Absiebt isl^ auf den Plan desselben uns des Näheren einzulassen. Th'eils ist dies schon in anderen Blättern geschehen (besonders verweisen wir in dieser Beziehung auf die ersten Num- mern des Juliheftes der N. Jenaer Literaturzeilung), theils ist das Werk schon zu alt und zu bekannt, als dass eine solche Bespre- chung nicht als Ueberfluss erscheinen müsste. Auch sind wir überzeugt, dass von den vielen Wünschen, welche bei dem Werke unbefriedigt bleiben, die meisten wegen der Eigenlhümlichkeii der Unternehmung als einer alphabeti.sch angelegten, von einer Met^ heit von Bearbeitern herrührenden und alimählig erscheinenden nahezu unerfüllbar sind wenigstens bei einer erstmaligen Heraus- gabe, andere der rastlosen Thätigkeit des Herausgebers und Verle- gers in immer steigendem Grade zu befriedigen gelingen wird. Dahin rechnen wir namentlich die verhältnissmäsige Langsamkeit des Yorrückens, das Unbequeme mancher Einrichtungen. Wer wird z. B. Notizen über das Meer, die Winde, das Erdbeben u. A. unter Geographia suchen? Und falls ihn der Zufall darauf führte, wer wird das Gewünschte sobald finden in dem absatzlosen viele Seiten langen Artikel? Aber nicht solche Dinge sind es, bei wel* eben wir verweilen wollen, sondern wir betrachten das Werk ge* mäss der Tendenz dieser Zeitschrift vom historischen Standpunkte, wir fragen: was leistet es für die Geschichte? Hiebei müssen wir es gleich als einen Hauptvorzug und ein besonderes Verdienst des Werkes hervorheben, dass es das Alterthum in seiner Totalität zur Erscheinung und Darstellung bringt. Zwar geschieht dies der Natur der Sache nach nur bruchstückweise, ohne dass die einzelnen Steine so zugehauen sind, wie es sein müsste, wenn sie bestimmt wären, an einander gefügt zu werden, um ein gegliedertes, archi- tektonisch vollendetes Ganzes zu bilden; aber auch so kann es Nie- mandem schwer fallen, aus dem reichlich gebotenen Material ein überschauliches Bild sich zusammenzusetzen. Genug, dass der Hi- storiker, der nicht alle Seiten des antiken Wesens und Lebens mit gleicher Gründlichkeit und Ausführlichkeit in den Bereich seiner Studien zu ziehen im Stande ist und doch der Resultate der For-

Allgemeine Literat urberichte: 381

schung für seine Zwecke bedarf, hier in einer gewissen Vollstän« digkeit alles dasjenige beisammentrifft, was er braucht, und wo er nicht unmittelbar befriedigt werden sollte, doch wenigstens einen Wegweiser mitbekommt für seine weitere Forschung. Freilich jene Vollständigkeit lässt in mehr als einer Hinsicht noch Vieles zu wün- schen übrig. Einmal fehlen viele Artikel, welche man billig hier erwarten sollte. Wir wollen nicht wiederholen, was schon in der N. Jenaer Literaturzeitung in dieser Beziehung namhaft gemacht ist, sondern diesmal blos folgende Artikel als fehlend hervorhe- ben: Ambrosius, ava7Qag)ruf,Anastasius, Anatolius,Anthemius, Aquae- ductus (wobei auf Roma, Topographie verwiesen ist, als ob es nur in Rom Wasserleitungen gegeben hätte), Arethas, Artaxares (Stamm- vater der Sasaniden unter Alexander Severus), Avares (nicht Aviri, wie fälschlich angegeben ist. vgl. Coripp. laod. Justin, min.praef. 4. Avarum gens, vgl. I, 154, m, 233. 260. 271. 280. 321. 341,- im Sin- gularis Avar, ibid. IQ, 258. 270; die blosse Verweisung auf den Art. Aorsi ist nicht mehr als eine Uebergehung); B^siliscus, Belisarius, bellum (Bestimmung des Begriffs im Gegensatz zu tumultus; Kriegs- recht), Briltia insula (Procop. Golh. IV, 20), Bulgari; Camelus (das so gut als Elephantus da sein sollte; ebenso fehlen Artikel über Pferde-, Bienen- und Tauben-Zucht), Gausidicus, Ghersius (die Ver- weisung auf den Art. Epici ist Irüglich, da kein solcher gegeben wurde), Ghronici,. Cibaria (auf welche wie auf Gongiarium und fru- mentaria largitio Bd. I, S. 493 verwiesen wurde, ohne dass aber einer dieser Artikel wirklich geliefert wurdet, commeatus, Gosroes (der mit Juslinian gleichzeitige grosse Perserkönig), Greditor (Glau- bigerordnung), Cubicularius, Cursus publicus (Geschichte des Post- wesens im Alterthura), Gyprianus, Damophilus (Bistoriker) , Oani (welche „grosse Nation'* Hr. Pauly wir wissen nicht, ob etwa aus schleswig-holsteinischen Sympathien vollständig übergangen hat, was sicherlich der Verbreitung seines Werkes im Reiche Dänemark Ein- trag thun wird), decanus, dedicatio templi (vgl. Plin. Epist. X, 58 f.), &rifioiy(j)yoLy diadema, diverbium, domesticus, öoqv^oqoq, Evagrius, Eudoxia (worauf beiArcadius verwiesen war), Eunuchi, Eustathius aus Epiphania, Exarchus, Exedra, Exuviae, Expositi, Fides pu- blica, Funda, Fundatores, Gauti, Germanus (Vetter des Justinian und unter diesem eine bedeutende Rolle spielend), graphium, Hae- retici (rechtliche Stellung derselben), Hierapolis (wobei auf die Nach- träge verwiesen jst, aber vergeblich), hieratische Poesie und Kunst, Uqtlov (worauf unter dxaqxal verwiesen war), txtcrta und Ixeniq, Bonoriatae, Bypatius, inauris, induciae u. a. Ein Theil dieser Artikel ist wohl absichtlich ausgelassen, z. B. Belisarius, Baeretici ; aber wir halten die Grundsätze, nach denen solche Auslassungen erfolgt sind, nicht für die richtigen, es scheint uns vielmehr, dass ein

382 Allgemeine Literaturberickte.

Grdndmangel dieses Werkes der sei, dass es ein vorzugsweise philologisches anstatt ein liistoriscbes (wenn auch natürlich mit Bescfaräokung auf eine bestimmte Zeit), dass es eine Realencyclo- p'adie der Alterthumswissenschaft ist, anstatt des Älterthums, und zwar der Alterthumswissenschaft in der Weise und dem Umfange, wie sie eben gerade derzeit steht. Diesen Mangel erkennen wir einmal in den Grenzen, welche das Werk sich gesteckt oder we- nigstens zu stecken gesucht hat, sodann in der Behandlungswcise und den Gesichtspunkten. Was das Erste betrifil, so erklärt das Vorwort S. VI: ,,Die Epoche, mit welcher wir das classische AI- lertbum für abgeschlossen betrachten, ist der Untergang des abend- ländischen Kaiserthums, wiewohl es namentlich in der Literatur- und Rechts - Geschichte nicht immer vermieden werden kann und darf, auch spätere mit der classischen Zeit in Beziehung stehende Erscheinungen zu berühren. Auch sind es nur die beiden dassi- schen Völker, deren Leben, Schaffen und Leiden den Stoff für unsere Darstellungen bieten. Aegyptisches, Orientalisches, Nordi- sches u. A. kommt in Betrachtung, so weit es durch das Aledium griechischer oder römischer Anschauung auf uns gekommen isf Wir finden beide Beschränkungen, sowohl die in Bezug auf die Zeit als die in Bezug auf den Raum und die Nationalität unwissenschaftlich und zugleich unausführbar. So gut als Belisarius musste conse- quenterweise z. B. auch Justinianus fehlen, was doch wohl Jeder- mann für einen wesentlichen Mangel halten würde und die Dar- stellung des Aegyptischen, Asiatischen, Germanischen müsste sich ^uf das beschränken, was uns von den classischen (denn eigentlich wäre sogar die Benutzung der nachclassischen ausgeschlossen) Schriftstellern darüber berichtet ist. Da aber das Römische doch nicht auf Rom wird beschränkt werden wollen, sondern das ganze römische Reich umfasst, so ergiebt sich schon hieraus die Verpfliohlung auch andere als die beiden classischen Völker in den Kreis der Betrachtung zu ziehen. Und zwar dürfen diese nicht blos so und in so weit behandelt werden, wie es durch die griechischen und rö- mischen Quellen bedingt ist, sondern die zu gebende Darstellui>g muss das Ergebniss aller für den Gegenstand überhaupt zugang- Heben Quellen sein, der einzelne Artikel muss seinen Gegenstand, so weit als der Raum gestattet, erschöpfen, dieser mag nun Aegyp« -ten oder Rom, Indien oder Hellas angehören, er muss Alles ent- halten, was in Bezug auf ihn innerhalb der Grenzen des Alterthums fällt* Wie verkehrt wäre es z. B. die das Jüdische betreffenden Artikel auszuarbeiten ohne Rücksicht auf das alte Testament, von Indien zu reden, ohne die Ergebnisse der neueren Forschungen zu berühren! Aber so ist jener Grundsatz wohl von Anfang an nicht verstanden gewesen, obwohl eine solche Deutung den Wor-

Allgemeine Liieraiurberickte. 383

im eoUpräeht; überbaupt isi die Praxis zum Glück viel wentgcr fingherzig als die Theorie und das Programm. Wie wir btenaeh das Alterthum in seiner ganzen Ausdehnung, alles was in den Rahmen dieser Zeit fällt, als den Gegenstand und Inhalt eines wirk- iicb der Wissenschaft genügenden Sammelwerkes dieser Art allein anerkennen können» so sebeint uns auch der Zelt nach keine en- gere Grenze möglich als einerseits der Mythus, die vorgeschicbt- liche Zeit, andererseits das Mittelalter 5 jede andere Abgrenzung ist willkürlich und nachlheilig, zumeist aber der Abschluss mit dem Untergang des abendländischen Reiches. Die Ostgothen haben das abendländische Reich nicht vernichtet, wie es nachher die Longo- barden thaten, sie haben es nur besetzt, die vorgefundenen Ein- richtungen aber im Wesentlichen alle fortbestehen lassen und Theoderich betrachtete sich factisch als weströmiscben Kaiser; man kann daher eigentlich von einem Untergange des abendländischen Reichs durch die Ostgothen gar nicht reden, der Untergang trat erst mit dem Untergänge der Ostgothen und der Eroberung durcii dieLon- gobardcn ein und da erst hatte man den Grenzstern des Altert^ioms wenigstens in Bezog auf Italien -^ zu setzen, so dass der von Bcllsar u»d Narses in Italien geführte Krieg noch durchaus hieber geborte. Und wie kant) man bei Romulus Augostutus aufhören, als ob das östliche Reich mit untergegangen wäre! Entweder muss man gegen alle Vernunft schon mit der Tbeiiung des Reichs im J. 3d5 aufhören oder beide Reiche bis zu ihrem Untergange verfolgen, den tistlieben Theil, das byzantinische Reich, wenigstens bis ins Mittelalter hinein, vi^iewohl das was in der germanischen und romanischen Geschichte Mittelalter heisst und von einem neuen Principe «ausgebt und einen neuen Charakter hat, in der byssati- niscben Geschichte sich von dem Früheren nicht abhebi, sondern eine gleichartige, nor abwärts gehende Bewegung ist. Das Ab« scbliessen mit Romulus AugustuJus ist eine traditionetie Spielercfi, om die römische Geschichte mit demselben Namen zu endigen^ mit welchem sie beginnt; einen historischen, somit wissensehafitt- eben Wertb hat sie nicht und auch Hr. Zompt bat daher sehr Un- recht getbon, seine Annales dem alten Schlendrian gemäss mit dem J. 476 zu scbliessen und so vor den bedeutungsvollen Ereignissen des folgenden Jahrhunderts, vor der Regierung Justinians namentlich und vor einem Hfistoriker wie Procoptus die Thüre zuzuschlagen. Wir meinen nicht, dass man auch die spateste Geschichte »och mH derselben Ausführltchkelt behandeln solle wie die frühere ent- wicklungsreicfae , aber ^e SteHe müssen wir doch gönnen den Leiden der Spätlinge so gut wie den Thaten der Vorzeit; wie ge* raumig dieselbe sei, das hängt dann ab von der historischen Be- deutsamkeit des Einzeti^en. Wir sind öberhaupl gegen solches

384 Allgemeine Literaturberichte,

Stricbeziehen über die WeK hio, das nur auf dem Papiere erträg- lich aussiebt, in der Wirklichkeit aber total unpraktisch und un- brauchbar ist; die Grenze zwischen dem Alterthum und dem Mit- telalter ist eine in den verschiedenen Ländern durchaus verschie- dene. Spaniens Mittelalter beginnt mit dem Einfall der Mauren, das des byzantinischen Reichs mit der Eroberung Constantinopels, das von Italien mit dem Einfall der Longobarden. Diesen natür- lichen Grenzen muss der Historiker nachgehen, anstatt willkürlich selbst welche zu ziehen. Die nachtheiligen Folgen eines solchen Unterfangens stellt besonders lebhaft das gegenwärtige Werk dar mit seinen zahllosen Inconsequenzen und Ungleichheiten. Ware an seine Spitze der Grundsatz gestellt worden, das Alterthum bis an sein allseitiges vollständiges Ende zu verfolgen, so hätte alles ir- gend Bedeutsame nothwendig seine Stelle gefunden, das Unbedeu- tende aber auszuscheiden und wegzulassen wäre eine ebenso leichte als unerlässliche Arbeit gewesen; nun aber da ein Grund- satz vorausgeschickt ist, der seine Unbrauchbarkeit unzählige Male beweist und somit sich selbst aufhebt, bekommt die Anlage und das Verfahren ein Ansehen, als wäre es planlos und grundsatzlos. Dies in Bezug auf die Wissenschafllichkeit der Abgrenzung. Aber auch in der Durchführung wünschten wir vielfach die wissenschaft- lichen, also hier die historischen Gesichtspunkte strenger feslge- hallen. Wir wollen nicht von Kleinigkeiten der Anordnung reden, wie, dass Byzanlium unter Conslantinopolis abgehandelt ist, ob- wohl ja die Stadt schon vor der Uebersiedlung des Hofes bestand und obwohl es Niemandem einfällt, von constantinopolitanischer Geschichte und constanlinopolitanischen Schriftstellern zu sprechen, sondern von byzantinischen, vielmehr was wir in vielep Artikeln vermissen, ist eine wahrhaft historische weitsichtige Auffassung und Behandlung des Stoffes. Am sichtbarsten tritt dieses der Na- tur der Sache nach bei denjenigen Artikeln hervor, welche dem Gebiet der Geschichte im engeren Sinn angehören, aber nicht min- der auch bei einem grossen Theile der mythologischen Artikel,- nur die Arbeilen von L. Georgi in Calw (z. B. Horus, Isis) machen davon eine rühmliche Ausnahme und unter den historischen allen- falls einzelne von Dr. Haakh, wie Hadrianus, während vom blos philologischen Gesichtspunkt aus die meisten als genügend erschei- nen können. Aber die beiden genannten Fächer haben in dem Werk^ auch eine gar zu. mannigfaltige Besetzung und Vertretung; das Mythologische lieferte Anfangs alles Heigelin und neben ihm Haakh das die ägyptische Religion Betreffende; je ernstlicher aber das Unternehmen nach Wissenschaftlichkeit und selbstständigem Werthe rang, um so lebhafter wurde das Bedürfniss gefühlt, be- deutendere Artikel an Männer von bewährter Forschung zu über-

Allgemeine Literaiurberichte, 385

tragen und so trat Preller ein mit Artikeln wie Delphi, Dionysias, Dodona, Eleusinia, Fatum, Heroes u. A., L. Geörgi mit seinen mu- sterhaften Arbeiten, Metzger mit dejn sorgsam gearbeiteten, aber an Bündigkeit und an Klarheit der Gesichtspunkte noch der Verbesse- rung rähigen Artikeln Divinatio (worin nur die politische und recht- liche Stellung dieser Institution nicht entsprechend behandelt ist), Hercules, Hieroglyphen u. a. Aber gerade bei der Mythologie wäre mehr als anderswo Einheit der Bearbeitung wünschenswerth, ob- wohl wir uns nicht verbergen können, dass bei dieser Wissen- schaft weder die Grundbegriffe schon so fest stehen, und noch Tiel weniger das Material schon so vollständig beisammen oder gar gesichtet ist, dass es möglich wäre, in einem Werke dieser Ar^ schon jetzt den Anforderungen der strengen Wissenschaft in die- ser Beziehung zu genügen. Eine Theilung der Arbeit ist dagegen bei der politischen Geschichte ihres grossen Umfanges wegen durch- aus geboten, und sie ist hier in der Weise vollzogen, dass Krafft das Griechische und Karthagische, nur ausnahmsweise (wie bei Cornelia gens und Julius Cäsar) auch Römisches hat, Haakh das Römische in seinem ganzen Umfange. Aber auch so noch ist der Stoff viel zu gross, als dass er zu bewältigen wäre, wenn man nicht seit vielen Jahren eigens zu diesem Zwecke umfassende Vor- arbeiten gemacht hat. Daher treffen wir zwar bei der griechischen Geschichte weniger Abwechslung als wünschenswerth wäre, bei der römischen aber mehr als zweckhiässig ist; namentlich die Kai- sergeschichte, von vornherein ganz vernachlässigt, wurde bald von Krafft (z. B. Aetius, Alaricus), bald von Rämelin (Domitianus, Galba und andere nicht ganz auf der Höhe der Forschung stehende Ar- tikel), bald von Metzger (Constantinus und Constantius, vorzugs- weise aus secundären Quellen gearbeitet), meist aber und am be* sten wenn auch nicht am präcisesten- von Haakh (z. B. Germani- cus, Hadrianus, Heliogabalus und viele andere) geliefert; doch kön- nen wir für die nächste Zukunft wenigstens Einheit der Bearbei- tung und quellenmässige Darstellung dieser zweiten Hälfte der rö- mischen Geschichte verbürgen, indem der Unterzeichnete selbst die Artikel aus der Kaisergeschichte zur Bearbeitung übernommen und bereits mit Julianus, Justinianus und Juslinus begonnen hat* Zu den anerkannt vorzuglichsten Artikeln des ganzen Werkes ge- hören die von Rein aus der römischen Staats- und Rechts- Ge- schichte, die an Vollständigkeit, Kürze und Klarheit Nichts zu wün- schen übrig lassen; nur das erlauben wir uns als Wunsch auszu- sprechen, dass Hr. Rein auch das Verwaltungswesen, die Polizei besonders und die Finanzverwaltung genauer und umfassender be- rücksichtigen möchte, wie z. B. bei incendium nicht blos die recht- lichen Bestimmungen über Brandstiftung aufzuführen waren, son-

386 AUgeineine JAteraturberid^te.

dern auch die Vorslcbtsmaassregeln gegen Entstehung von Feuers« brüDsten und die Mittel, entstandene zu dampfen, worüber besoa- ders Plin. Epist X, 42 interessante Notizen enthalt. Die geogra- phischen Artikel waren in den drei ersten Banden so getheilt, dass C. L. Grotefend die aussereurop'äischen Localitäten und Völker be- handelte, Pauiy die europäisclien. Des Ersleren Arbeiten dieser Art sind namentlich auch auf umfassende Benutzung der späteren byzantinischen Literatur gebaut, wozu bei Pauly's Antheil weniger Aufforderung war, wiewohl z. B. für Beneventum die wichtigste Stelle Procop. bell. Goth. I, 15 ist; aber auch Grotefend hätte zu Berytus, Chersonesus thracica, Cos, aus Agathias noch viele we- sentliche Bereicherungen schöpfen können. Vom vierten Bande an ist Forbiger an Grotefends Stelle getreten und hat in den Arti- keln Jerusalem und India ein relchhalliges Material ausgeschüttei; -doch ist er dabei vielleicht darin, dass er S. 84 ff. sehr ausführ- lich den jetzigen Zustand von Jerusalem beschreibt, weiter gegan- gen als die Gesetze und Grenzen des vorliegenden Werkes erlau- ben. S. 63 hat ihn das Streben möglichst viel Stoff in einen mög- lichst kleinen Raum zusammenzudrängen zu einer Periode von nicht weniger als 30 Zeilen (die Zelle zu 50—60 Buchstaben) ge- führt, wogegen Krause*s Styl das Maass erlaubter Weitschweifigkeit einigemale zu überschreiten scheint, wenn z. B. in dem auch sonst unerträglich stylisirten Artikel Harpastum in 12 Zeilen fünfmal die Wendung „dieses Spiel'' wiederkehrt. Trotz der Weitläufigkeit aber, womit er den von ihm schon in mehreren Schriften umfas- send genug dargestellten Gegenstand, die alte Agonistik, auch hier wieder ausführt, kommt doch niemals die Rede auf die byzantini- sche Zeit, obwohl gradein dieser bekanntlich derCircus der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens, die Quelle vieler politischen Bewegungen und Einrichtungen war. Neben den Genannten hat ausser dem älteren Grotefend (Argonautae, Iguvium, Italia) besonders Baumstark eine Anzahl geographischer Artikel aller Art beigesteuert, z. B. Galii, Geographia, Germania, Gothi, Heruli, Hunni, Hyperborei und viele andere; wirmüssten aber der Wahrheit ungetreu werden^ wenn wir sie als sorgfältig gearbeitet bezeichnen wolllcn. Dem Artikel Gotht z. B. fehlt es gänzlich an klarer Abgrenzung der verschie- denen gothischen Stämme gegen einander, besonders der wech- selnden Verhältnisse zwischen Ost- und West-Gothen, an einer vollständigen und übersichtlichen Verfolgung ihrer Züge, so dass sogar der Niederlassung der Westgolhen in Spaniel mit keinem Worte gedacht und für die Geschichte der Ostgothen m Italien weder Procopius noch Agathias benutzt ist. Ebenso tumultuariscfa ist der Artikel ^ruli gearbeitet; voa „Züchtigungen'S welche die Merul^ durch Justioian erlitten hätten, ist Nichts bekannt, vielmehr

Allgemeine Literatttrherichte. 387

suchte er sie beim Anfang seiner Regierung zu gewinnen (Procop. Golh. n, p. 204. Bonn) und wegen ihres Abfalls (nicht ,,Vertrei- bung'*) von dem durch Justinian ihnen gesetzten Fürsten Svartuas wollte zwar Just, sie züchtigen, aber eben um dieses nicht zu erleiden zogen sie zu den Gepiden (ib. 15 extr.). Besonders nachlassig ist aber der Art. Hunni,. wo z. B. in der Aufzählung der hunnischen Stämme die Ephlhaliter (Procop. Pers. I,. 3 ff. Agalh. IV, 27. Me- nand, Prot. p. 295 f. 354. Bonn), Burugunder und Ultigurer (Agath. V. 11), Onogurer (Ib. HI, 5), Viltorer (ib. H, 13) u. a. fehlen und die merkwürdig falsche Behauptung aufgestellt ist: „wenn die Schriflsteller des Mittelalters immer noch von Hunnen sprechen, so hat man darunter nur ihnen unbekannte aus dem Nordosten kommende Horden zu verstehen", und gleich darauf (was zugleich einen Begriff von der Anordnung und Stylisirung dieses Artikels •geben kann): „wenn die byzantinischen Schriftsteller noch bis ins siebente Jahrhundert Hunnen erwähnen, so hat man lediglich fast nur (sie) an hunnische Soldkrieger der Römer und Perser oder an hunnische Begleiter der germanischen Kriegszuge zu den- ken." Allerdings fiel bald nach Attila*s Tode sein grosses Reich auseinander und die Hunnen treten seitdem nicht mehr als Gan- zes auf, sondern nur als einzelne oft sich unter einander selbst bekriegende Stamme. Aber auch so waren sie noch mächtig ge- nug, um lange (besonders unter Justinian) der Schrecken des grie- chisch-römischen Reiches zu sein. Procop. unterscheidet (Anecd. ly, p. 108 Bonn) sie* ausdrücklich von den Slawen und Anten und berichtet, dass sie unter Justinian fast alljährlich mörderische und räuberische Eiiirälle in IHyrien und Thrakien und noch tiefer herein gemacht haben. Auch auf die Literaturgeschichte erstreckt sich Hrn. Baumstarkes universelle Thätigkeit. Unter seinen Artikeln die- ser Art gehört wohl Exodium zu den mangelhaftesten. Ist dabei, wie bei seinen meisten, schon das sichtbare Bestreben, den Artikel möglichst zu dehnen, sehr unangenehm, indem dadurch z. B. Wie- derholungen in Menge veranlasst werden (vgl. ' z. B. S. 361 : „bei der grossen Vorliebe für burlesken Witz und Scherz ein hervor- stechender Zug im Charakter des römischen und überhaupt des italischen Volkes" mit Bähr's Art. Alellanae Bd. I, S. 894: „die natürliche [angeborene] Vorliebe des Römers für das grotesk-ko- mische, für Wort- und Geberden -Spiel, die einen Grundzug des italienischen Charakters überhaupt bildet'*), so ist der Artikel noch dazu durch die ganz falsche Deutung der classischen Stelle Liv. Vn, 2 vollkommen unbrauchbar. Hr. Baumstark folgt der Ansicht, dass die exodia mit den Atellanen identisch seien. Dies ist aber schon wegen der Ausdrücke Atellanicum exodium (Sueton Tiber. 45), Atellanarum exodia u.dgl. unmöglich, da sonst dieses hiessc: exo*

388 Allgemeine Liieraturberichte,

dium exodii; auch wird es durch die einzig mögliche Erklärung der Worte des Livius widerlegt. Nach Livius war der Verlauf die* ser: uachdem (durch Livius Andronicus)kunstinässige Dramen immer mehr in Aufnahme gekommen und dadurch die nationalen rohen Farcen von der Bühne verdrängt waren, hielt sich das so unbe- friedigt bleibende Volksbewusslsein dadurch schadlos, dass das junge Volk die kunstmässigen Stücke den Schauspiejern von Hand- werk überliess, selbst aber nun unter sich die alten Saturaspasse aufführte, welche im Verlauf der Zeit (postea, Livius) den Namen exodia erhielten und sich am liebsten (nämlich lieber als an die kunstmässigen von Schauspielern aufgeführten Dramen, während in den Atellanen die romana Juventus auftrat) an die Atellanen- stücke anschlössen (die von Aischefski aufgenommene Lesart con- servata statt conserta ist wegen des subjectiven polissimum sprach- lich unmöglich), weil diese Art von Dramen (Livius braucht den- selben Ausdruck fabellae von den Atellanen wie von den Stücken des Livius Andronicus) dem Geiste und Tone der exodia homoge- ner war und daher ihn eher hervorrief. Man kann zwar auch annehmen, dass conserta dies enthalten, dass die exodia allmählig in die Atellanen übergegangen, dass sie wegen ihrer Gleichartig, keit mannigfach mit ihnen verbunden und vielleicht sogar ver- wechselt worden seien, nur aber muss man dies als Schluss des Verlaufes setzen. Bahr's Angaben über diese Verhältnisse (in sei- ner röm< Literaturgeschichte) sind viel vorsicluiger und richtiger. Auch bei dem gegenwärtigen Werke ist Bahr vorzugsweise tbätig nnd theill demselben die Urtheile mit, welche ihm in literarischer Hinsicht seine Stellung gewährt. .Der Unterzeichnete erlaubt sich von einzelnen Artikeln desselben Gelegenheit zu einigen Bemer- kungen und Einwendungen zu nehmen. Von Agathias ist gesagt, dass er sich „als Advokat so sehr auszeichnete, dass er den Bei- namen Scholasticus erhielt." Dass er sich als Advokat aus- gezeichnet habe, wird nirgends angegeben, wohl aber sagt Aga- thias selbst von sich (m, 1, p. 138 Bonn), dass er nur mit Wider- willen und um seines Unterhaltes willen diesem Geschäfte nach- gehe $ der Beiname Scholasticus beweist weiter gar nichts, als dass er Advokat war, nicht aber dass er sich als solcher auszeichnete; denn ebenso gut bewiese z. B. jeder Professortitel, dass der In- haber ein ausgezeichneter Professor sei| auch ist es nicht rich- tig, dass Agathias eine Sammlung von kleineren griechischen Ge- dichten „der fünf oder sechs ersten Jahrhunderte^' veranstaltet habe, statt dessen es vielmehr beissen sollte: des (fünften oder?) sechsten Jahrhunderts, da Agathias nach seiner eigenen (praef. p. 6) und Suidas' Angabe die Epigramme seiner Zeilgenossen sam- melte. Endlich schliesst sich Agathias* Geschichte nicht blos „ge*

Allgemeine Literaturberichie. 3S9

wissermaassen'S sondern ganz aasdrücklich an Proeopios an und siebt nicht blos „in Manchem", sondern in Allem der des Procop. nach. Bd. U, S. 219 ist es ein Missversl'ändniss, wenn Beindorfs Ansicht über Horat. Sat. n, 4 so dargestellt wird, als glaube er an* ter Catius den Mäcenas verslanden; er meint vielmehr, der in die* ser Satire erwähnte Anonymus sei Mäcenas. Bei Ennius ist Bd; m, S. 143 angegeben, seine Vaterstadt Rudia sei in Campanien, sie ist aber vielmehr in Calabrien. Das Gedicht desselben auf Scipio wird ibid. S. 144 für ein Epos erklärt^ w^ahrend es „von neueren Gelehrten mit Unrecht bald für ein Drama, bald gar für eine Sa- tura angesehen worden ist. Denn die Saturae, welche dem En- nius beigelegt werden, waren wahrscheinlich anderen Inhalts und hatten eine andere Zusammensetzung." Wir können die neuerdings »von Lerscb, K. Fr. Hermann und F. D. Gerlach vertbeidigte An- nahme, dass es wirklich eine Satura war, nicht für so absurd hal- ten, keinesfalls aber scheint sie durch das beigebrachte Denn wi- derlegt; denn dass die Saturae anderen Inhalts waren, sollte ge« rade erst bewiesen werden, wird sich aber bei der Dürftigkeit der Ueberreste niemals beweisen lassen. Auch der Asotus oder vieU mehr Sota des Ennius wird gewöhnlich für eine Satura gehalten, nicht aber, wie Hr. Bahr annimmt, für ein Drama. Die Ansicht, dass Julianus Antecessor derselbe sei, der in der Pfälzer Hand.- Schrift der griechischen Anthologie als Scholasticus bezeichnet wird, dürfte Bd. IV, S. 416 mit grösserer Sicherheit als blos mit „viel- leicht" aufgestellt werden, da Scholasticus bekanntlich im späte- ren Sprachgebrauch nichts wesentlich Anderes bedeutet, als Ante- cessor auch, nämlich einen Rechtsgelehrlen, jenes nur eine Ueber- setzung von diesem ist.

Wir schiiessen diese Bemerkungen mit dem Wunsche und der Ueberzeuguug, dass das Unternehmen auch fernerhin seinen guten Fort- gang haben und durch immer grössere Wissenschafllichkeit, welche die praktische Brauchbarkeit zur unmittelbaren Folge hat, des Ver- trauens und der Theilnahme des Publikums immer würdiger wer* den möge.

Tübingen, im März 1845. Dr. W. TeuflFel.

Nachwort. Anfangs Mai 1845 starb der bisherige Herausge- ber der Real-£ncyclopädie; die Redaction übernahmen Prof. Walz und Dr. Teuffei. Sie haben sich verpflichtet, das Werk rascher seinem Schlüsse zuzuführen. Und wirklich sind vom Mai bis Oc- tober vier Doppellieferungen (57 64) fertig geworden, welche von bedeutenderen Artikeln folgende enthalten: Julü von Rrafft, Junii von Teuffei, Juno von Georgi und F. Wieseler, Juppiter von Prel- ler, Jus von Rein, Justinianus und Justinus von Teuffei, Juvenlii, Laelii und Lartil von Haakh, Lais von Teuffei, Lamischer Krieg von

%90 Allgemeine LUeraturbericMe.

Krafft, Laocoon von. Preller, Laodioea von Cless, Lares vdo Prel« 1er 9 Largitio von Rein, Latium von Forbiger, LccUca und Leclu» von Teuffei, Legaius von Baumstark und Rein, Legio von Grolei- fend, Lex (eine Aufzäbiung aämmUicher römischen GeseUe, S. 951 1007) von Rein, Liber Pater von Preller. In der äusseren Einrich- tung findet sich auf die Bequemlichkeit 4es Gebrauchs etwas mehr Rücksicht genommen; auch ein Streben nach kürzerer Fassung des Ausdrucks ist nicht zu verkennen.

Zar RecbtferUgang der AecbUieit des erhaltenen Briefwechsels cwN sehen Cicero und II. Brutus. Von Of, K. Fr. Hermano. Erste a. zweH« AMbelluDg. Göttiagen, Dietrich'scbe Buchhaiidl. 4845. 44 cmd lOt S. 4. Erschöpfende Beweismittel; Tonstalt's Angriffe allseits mit Nachdruck zurückgewiesen; Erfolg: die Wahrscheinlichkeit der Aechtheii bis zur Probabilit'at gesteigert. Grössere Kürze, bei der- < gleichen Deductionen, erschiene wohl wünschenswerlh; doch kä- men wir in Verlegenheit, soUten wir Bestimmtes als überflüssig be- zeichnen.

ChrisUaDQS Walz de reügione Romanoram anUqaissima. Parlicula I. Tabingae, Fiies, 4S45. S4 s. 4. Gelegenheitschrift; handelt von den pelasgischen und altitalischen Gülten, dem Phallusdienst, den Menschenopfern , den Diis roajoribus. Pellegrino*s und Pfund's Schriften, wie es scheint, nicht benutzt.

Das Königreich Hellas.

Der hellenische Naliooalcongress zu Athen in den Jahren 4 843 und 4844. Nach der Originalausgabe der Congressverhandlungen im Auszug bearbeitet und mit geschichtlichen Notizen, Actenstücken u. s. w. beglei- tet von Alex« Clarus Heinze, Oberstlieulenant der Artillerie k la Suite des kgl. griech. Heeres und Ritter des Erlöserordens. Leipzig, Gust. Mayer. 4 845. XXYl u. 408 S. 8.

Die Septemberrevolution in Alben überraschte die Europäische Welt, minder die Diplomatie. Eine freie politische Verfassung war der griechischen Nation tractatenmässig verheissen worden; der Zeitpunkt der Erfüllung ward aber immer mehr ins Unbestimmte hinausgeschoben und schien endlich nie eintreten zu sollen. Dazu kam der nationale Groll gegen den Einfluss des deutschen Ele- mentes, dessen äusserste Beschränkung die Politik gebot, und des- sen Ausdehnung die Regierung in dem Lichte einer Fremdherr- schaft erscheinen Hess. Nicht weniger nahm die öffentliche Mei- nung an den diplomalischen Einwirkungen derjenigen Mächte, wel* eben das junge Könjgthum sein Dasein verdankte, ein Aergerniss» Vor allem aber war es der Nalionalcharakter der Griechen , deren Freiheilsdrang, durch den langjährigen Befreiungskrieg nach allen

Ailgemeine LiteraturbericMe. 391

S^ten hin ang^egt und genährt, hi ungestümen Zadcangen und in dem Ausdruck der Presse sich häufig Luft machte^ wetcber, wiewohl von Aitersher die Wurzel eines wuchernd emporranken- den Partetgetriebes, doch allen Reizen des Absolutismus beharrlich abgewandt, einer freien Rethätigung seiner selbst unwiderstehlich zustrebte und eben in diesem Streben den zahlreichen Parleinüan- een einen gemeinsamen Mittelpunkt lieh^ also wenigstens nach Ei- »^ Seite hin, der Regierung gegenüber, eine gemeinsame Rich- tung anwies. Diese Goincidenz der Parteiinteressen ist es denn auch, welche nicht nur den siegreichen Ausgang der Revolution an sich^ sondern auch den Umstand erklärlich macht, dass dieser Anfang ein so rascher, unblutiger und friedlicher war. Wider« stand war unmöglich; denn es war keiner der widerstehen wollte, und ct^n Hofe blieb keine Wahl. Nach der Revolution brach al- lerdings der Parteigeist hervor, doch keineswegs in dem anarchi- schen Sinne, wie seiner Zeit manche Zeitungsnachrichten uns glau- ben machen wollten. Den Beweis liefert H.'s Werk zur Genüge. Es ist in der That bewunderungswürdig, mit welcher Ausdauer, eifri ger Hingebung und patriotischer Eintracht im Allgemeinen das Na- tionalwerk der Verfassung durch die 241 Repräsentanten vollendet ward. Der Congress wahrte vom 8. (20.) November 1843 bis zum 18. (30.) März 1844; in keiner der 73 Sitzungen blieben im Durch- schnitt mehr als 10 ^^ 20 Mitglieder aus, und sämmtHche Beschlüsse gingen mit einer höchst bedeut^den Majorität durch. Die Debat- ten leitete, an der Stelle des 105jährigen Präsidenten Notare *)« meist Mavrokordatos als Vicepräsident mit grosser Sicherheit und Gewandtheit. Ueberhaupi kam es deutlich zu Tage , dass es den heuligen Griechen keineswegs, wie die Gegner der freien Entwick- lung so gern vorgaben, an jener politischen Bildung gebricht, weU che die Völker befähigt, mi der Leitung ihrer eigenen Geschicke Theil zu nehmeu. Die Bedingungen dieser politischen Bildung, welche vielleicbt keinem einzigen europäischen Volke mehr abge- hen, und welche vornehmlich in der Kenntniss des Staates, seiner inuern Aufgaben und seiner Stellung nach aussen bestehen, wer« den überall nur von d«ncn in Abrede gestellt , weiche die Allge- walt der Beamtenherrsehaft um jeden Preis, also auch unter dem wohlfeilen Vorwando der sogenannten Volksunmündigkeit zu ret- ten bedacht sind. Dass die Griechen ihr eigenes Land besser kann- ten als die Fremdlinge welche es überschwemmten, liegt auf der

*) Durch ihn wurden ein fUr die ßescbicbtsforschung höclHU wksb- tiger Umstand die Acten des Nationalcongresses zu Pronia (1832) ge- rettet, langer aJs 4 0 -Jahre heimlich bewahrt und nunmclir dem gegen- witrtigoii Coogress überantwortet.

392 Atigemeine lAteraturberichte.

Hand; dass sie dessen geschichtliche Steliang besser begriffen als ihre diplomatischen Regierer, ward vor allem im Congresse selber klar. Griechenland erkennt seinen Beruf in der Vermittlung der abendlandischen mit der morgenländischen Welt,- es will die letztere einer höheren Entwicklung, einer ed- leren Bildung zugänglich machen. Man kann nicht schöner sich darüber aussprechen, als Kolettis in seiner begeisterten Rede über die Börgerrechtsfrage, welche er zuerst wieder aus dem Bereiche der Animosität und Engherzigkeit in das richtige Geleise zurück- tersetzte. „Seiner geographischen Lage nach, sagte er, ist Hellas als der Mittelpunkt Europas zu erachten ; mit seiner Rechten reicht es bis zum Occident, mit seiner Linken umfasst und verbindet es den Orient. Es scheint, es lag in der Vorberbestimmung von Hei« las, einst bei seinem Untergange den Occident, und jetzt bei sei- ner Wiedergeburt den Orient zu erleuchten. Wir sind es, die je- nes gepriesene Hellas bewohnen; es ist an uns dem Orient eine edlere Bildung zu . gewähren." Ueberhaupt begegnen wir nicht wenigen Beispielen politischer Beredtsamkeit und parlamentarischer Gewandtheit; auch Mavrokordalos, Metaxas, Zographos, Trikoupis u. A. offenbarten Talente, die jeder parlamentarischen Stellung ge- wachsen sind und dem constilutionellen Werke einen guten Fort- gang verbürgen. In das Abgeordnetenwahlgesetz schien sich eine ähnliche Engherzigkeit einschleichen zu wollen wie in die Bürger- rechtsfrage; der erste Entwurf war auf die mittelbare Wahl basirt; nach der herrlichen Rede des Trikoupis entschied sich aber der Congress fast mit Stimmeneinhelligkeit für die unmittelbare Wahl Ebenso ist es ihm vorzüglich zu verdanken, dass der 12jährige Aufenthalt in Griechenland als Erforderniss zur Abgeordnetenbefä- higung, wenn auch nicht auf 5 Jahre wie er selbst beantragte, doch nach einem Amendement des A. Lontos auf 6 Jahre und unter fer- neren erleichternden Modalitäten herabgesetzt wurde« Er nahm im Verlaufe seiner Argumentation namentlich Nordamerika zum Mu- ster. „Mit Ausnahme der entehrenden Negersklaverei, sagte er, ei- nes Makels, der unseligerweise noch nicht aus allen seinen Pro- vinzen verbannt werden konnte, steht jener grosse Staat als die gütige Mutter des gesammten Menschengeschlechts da, weil sie Al- len ohne Ausnahme, jeder Nation, jeder Religion und jeder Zunge ihre mütterlichen Arme öffnet. ... Ist e^ zulässig, dass der aus- serhalb unserer Grenzen geborne Grieche, während er in Amerika nur 7 Jahre von dem Augenblicke seiner Ansessigmachung bedarf tim allgemeiner Gesetzgeber in jenem fremden Lande zu werden, in Griechenland, seinem gemeinsamen Vaterlande, 12 Jahre zur Er- langung desselben Vorrechts bedürfen soll?... Wenn wir die Wablsphären wie nötbig ist erweitern, so schaffen wir nicht nur

Allgemeine LiieraturbericlUe^ 393

HAseriii Yaterlande den grössten Nutzen , sondern ehren uns aiicb selbst und beweiseo dadurch, dass, wenn auch unsere Grenzen beschrimkt sind [die aE^emeine Klage der Griechen, von der auch der Redner, wtewob) beschwichtigend, ausging], doch keineswegs weder unser Geist noch unser Herz einer gleichen Beengung er- liegt.*^ Patriottsoius, redlicher WiHe und eine bewunderangswcirdige Mässigong leiteten gleich sehr dies d^t nimmer verkannt werden den Congress und den König, und diese Eintracht in devk bedenklich^ sten Ifomenten der Krise, wo der geringste Grad Ton Leidenschaft oder Eigenwillen Alles hätte aufs Spiel setzen müssen, verbürgen aiid> für die Zukunft, die in dem Geleise des von beiden Seiten berathenen und sanctionirten Staatsgrundgesetaes einherscfareiten wird, eiuen ruhigen Gang der Entwicklung. Muss die Arbeit des Bni. H. diese Ueberzeugung in jedem Leser erwecken, so mag ihm dies die beste Anerkennong und der schönste Lohn seiner Ifübe sein. Es ist wahr, wir haben keine geschichtKche Darstel- lung des Congresses, sondern nur die protokollarischen Auszüge ül»er seine WHrksamkeit vor uns; deeh wo so ungetrübter treten ons die Gedanken und die Thi^en entgegen. Und wenn also auch der Congress in dem Verf. nicht seinen Geschicblsehreiber gefun- den, so sind dessen Mitglieder doch nicht minder wie die deut- sehen Geschichtsforscher und P<^tiker ihm dafür Dank schuldig, dass er die Queltenberichte über der Ersteren Th'atigkeit den Letz- term in einer Weise zugänglich gemacht, die, wenn sie auch öfters noch zu detailreioh erscheint, immerhin ein lebendiges Bild bedeutsamer Ereignisse und Strebungen vorführt. „Dem geschichtsforscfa enden Deutschland eine zusammenhangende Uebersicht der Verhandlun- gen zu verschaffen'^ das war des Verf.'s ausdrücklicher Zweck, und diesen bat er um so sicherer erreicht, je entschiedener er steh jedes sobjecüven Urtheits und jedes wilFkürilchen Einschieb-' sels entbleit. Das Staatsgrundgesetz, welches die Frucht der Sep- temberrevotution war, fo^ naturgemäss im Allgemeinen den con- stttutionette» Principien dm Gegenwart, die nicht blos auf dieses oder jeses Volk anwendbar sind, sondern auf alle Völker, welche der gegenwartig höchsten Cnlturstufe anzugehören den Anspruch oder die Fähigkeit haben. Diese Principien werden sich freilich ebenso naturgemäss in ihrer Anwendung jederzeit je nach der Be- sonderheit der geschichtlichen Vergangenheit und des nationalen Charakters verschiedenartig gestalten müssen ; dass dies aber auch in dem griechischen Staatsgrundgesetze geschehen, eine nationale Krbung in demselben nicht zu verkennen sei, springt deutlich und zuweilen sogar vielleicht zu grell in die Augen. ^ Zu jenen attgemein güHigen Principjen rechnen wir, neben dem Grundsatze der Reprä^^ation^ aus dem da» ganze Gesetz hervorging, die

Allg. Zeittcl&rift f. Geschiebte. T. 1846. 26

894 AÜgemeitte Literaturberichte.

DalduDg und den Schulz, welche Art. 1. jedweder Religion ver- heissl; die vollständige Freiheit der Presse mit der Art. 10 nicht nur ein förmliches Verbot der Censur, soudern selbst deriournal- cautionen verbindet; die Unverletzbarkeit des Briefgeheimnisses, die der Art. 14 ausspricht; die Ungültigkeit geheimer Artikel eines Vertrages, sobald sie die öffentlichen paralysiren (Art. 26); der Grundsatz dass die Abgeordneten die Nation als Ganzes und nicht allein den Landestheil oder Bezirk vertreten, von dem sie gewählt werden (Art. 60); die Verantwortlichkeit der Hinister (Art. 82 ff.); die Unabsetzbarkeit der Richter ohne richterliches Erkenntnis» (Art. 87); die Oeffentlichkeit der Gerichte (Art. 90); die Beibehal- tung des Geschwornensystems (Art. 92), auch bei politischen Ver- brechen und Pressvergehen (Art. 93). In einzelnen Richtungen geht der constitutionelle Drang allerdings scheinbar über die ge- wöhnliche Linie hinaus. Der Art. 33 spricht dem König die Be- fngniss ab, Adelstitel und Rangauszeichnungen zu bewilligen, noch dergleichen von fremden Staaten an hellenische Bürger verliehene anzuerkennen; doch ist diese Bestimmung ebenso sehr in der hel- lenischen Nationalität und ihrer Vergangenheit begründet, wie in der Nordamerikanischen Demokratie. Der Art. 64 setzt fest, dass Abgeordnete, die zu besoldeten Staatsämtern ernannt werden, eo ipso ihrer Functionen als Abgeordnete verlustig gehen, und nur erst, wofern sie zum zweiten Male gewählt werden, in dieselben wiederum eintreten. Andrerseits offenbart sich aber auch wieder eine Mässigung und Vorsicht, die da die meiste Ehre bringt, wo nichts am Gegentheile bindern kann. Nirgends wird die Souver'ä* nität dem Volke zugesprochen; vielmehr erkennt Art. 25 den Kö- nig unbedingt als das souveräne Oberhaupt des Staates an. Nach dem Entwurf des Verfassungsausschusses sollte die Institution des Senates eigentlich nur ein Experiment auf 10 Jahre sein, und wäh- rend der Kammersitzuogsperiode im Jahre 1853 die gesetzgebende Gewalt das ganze den Senat betreffende Capitel und alle übrigen darauf bezüglichen VerfassungsbesUmmungen einer Revision un> terwerfen. Augenscheinlich wollte man sich hierdurch die Thür offen erhalten, um nöthigen Falls das Institut im demokratischen Sinne zu reformiren. Allein der Congress entsagte dem Misstrauen, hob die provisorischen Bestimmungen auf, entschied sich für die Er- nennung der Senatoren durch den König auf Lebenszeit (Art. 70) und unterstellte nur die Befähigungen zur Senatorwürde nach Ab- lauf von 15 Jahren einer Revision (Art. 72). Dass die englische und französische Diplomatie von Einfluss auf die Gestaltung der Constitution war, geht schon aus einer Vergleichung derselben mit der Note des Grafen Aberdeen vom 29. Nov. 1843 hervor, welche die Grundzuge der zu errichtenden Verfassung skizzirt und unter

Allgemeine Literaturberichte, 395

der Firma eines n^neigonniitzigen Rathes'' empfiehll; mit ihr stirom- len die Rathscbläge Guizot's vollkommen übereio. Der Congress nahm sie auch als solche, als „Rathschl'age aufrichtiger Freunde*' an, wie die lebhafte Rede desPetzaiis zeigt (S. 190), welche in der Frage über das Zweikammersystem augenscheinlich den Ausschlag gab. Das grösste Verdienst gebührt aber unfehlbar eben der Be- sonnenheit des Gongresses selbst und der entgegenkommenden Wilirährigkeit des Königs, welcher die bedenklichsten Fragen in einer unerhört kurzen Zeit, die Gegenbemerkungen über den Ver- fassungsentwurf in einigen Tagen, und seine schliessliche Entschei- dung innerhalb einer einzigen Stunde erledigte. Nicht ohne Grund durfte Grivas ausrufen: „So haben denn die Griechen für sich selbst ein grosses Werk in kurzem Zeitraum vollendet !**

Adolf Schmidt.

Frankreich und Deutschland.

Frankreichs Einfluss auf, und Beziehungen zu Deutschland, seit der Reformation bis zur ersten französischen Staatsum'wälzung. (1647 4789.) Von S. Sugenheim. Bd. 1. Stuttgart, Hallberger'sche Buchhandlung. 4846. Ö69 s. 8. Ohne einleitendes Räsonnement geht der Verf. gleich in medias res ein mit der allerdings haltbaren Behauptung, seit dem Weitstreit Franz I. und Karls I. von Spanien um die deutsche Krone beginne FrankreicUP bleibende und bedeutsame Einwirkung auf die Gestaltung der Dinge im heiligen römischen Reiche; nur hatte sie wohl aus dem allgemeinen Charakter der neuern Jahrhunr derte abgeleitet werden dürfen, der die continuirliche Wechsel- wirkung der europäischen Staaten überhaupt in steigendem Alaasse zur Bedingung und Folge hat, und in dessen Atmosphäre allein die Bildung sogenannter Staatensysleme und präponderirender Gross- mächte möglich war. Das Ganze ist auf umfassende Quellenstu- dien gestützt, denen freilich neuerdings (z. B. durch Bergh) wie- der manche frische dem Verf., wie es scheint, noch nicht zugäng- liche Nahrung geboten ward. Wir hätten aber erwartet, dass nun wirklich der französische Einfluss vor unsern Augen bis ins Ein- zelnste secirt, auseinander gelegt, zum steten und alleinigen Fa- den der Darstellung gemacht werde.. Es ist jedoch mehr eine von allen Seiten gicichmässig bebandelte Geschichte des continen- talen West- und Mitteleuropa, nur mit möglichster Beschränkung des Gesichtskreises auf die Grenzen, innerhalb deren sich die fran- zösischen und die deutschen Interessen bewegen; die bedingen- den Einflüsse der ersteren auf die letzteren bilden also allerdings ein Ingredienz der Darstellung, aber nicht eigentlich, wie der Titel vermuthen lasst, ihren Ausgangspunkt oder ihren ausschliesslich leitenden Gesichtspunkt* Eine concentrirte und concise Geschichte

26*

396 Allgemeine LUeraiurberieMe.

dieses Einflusses an sieb, mil VerkaUpfong Ihrer EinzeiaiomeDle durch scharf und allgemein gehauene üebergange, wäre freilich ein schwieriges und doch vielleicht missiiches, ein mit Entsagua* gen (durch Nichtbenutzung mancher erschöpfenden Studien) verbui^ denes und doch vielleicht nicht dankbares Unternehmen gewesen; und so dürfen wir die Arbeit auch in der vorliegenden umfassen- deren Gestalt, wenngleich diese die Durchsicht auf den eigeutlichea Kern verhüllt und erschwert, wohl unbedingt anerkennen. Der 1. Band reicht bis auf den Tod Heinrichs IV., in 8 Kapiteln : i) bis 1534 (S. 64). 2) bis 1547 (S. il4). 3) bis 1555 (S. 208). 4) bis 1562 (S. 274). 5) bis 1572 (S. 340). 6) bis 1595 (S. 435). 7) bis 1606 (S. 488). 8) bis 1610. So fällt denn der Inhalt fast ganz der Reformationsperiode anheim, der wir später, und mit ihr daher auch dem vorliegenden Buche, eine tiefer eingehende Kritik zuzu- wenden gedenken. Jedenfalls gehört es zu den bedeutenderen und anspruchsvolleren Erscheinungen der jüngsten Zeit auf historischem Gebiete.

Preussen.

F. A. Yossberg, Geschichte der Preussisohen MüDzen imd Siegel von frühester Zeit bis zum Ende der Herrschaft des Deutschen Ordens.. Berlin bei G. Fincke. 4S43. 4. 20 Tafeln. S. V46.

Der Hr. Verf. bat durch das vorlie|fcnde Werk auf die histo- rische Wichtigkeit der künstlerischen Denkmäler, namentlich aber der Siegel und Münzen aufmerksam gemacht; sein Buch bitdet daher gewissermaassen eine Ergänzung zu Vo igt's Geschichte Preussens während der Ordensherrschaft.

Hr. V. giebt zuerst eine Uebersicht und Kritik der Literatur der Proussischen Münzkunde. Zwar ist die Zahl der Werke, wei- che dieselbe behandelt haben, nicht unbedeutend; leider konnte je«- doch von ihren Nachrichten Hr. Y. nur wenige gebrauchen, da solche meistentheils auf Unrichtigkeiten b&ruhten.

Darauf betrachtet der Hr. Verf. kurz die politische Geschichte Preussens während der Ordenszeit, wobei stets auf die Archäolo- gie des Ordens, wie des Landes, namentlich auf die fifünzen und Siegel Rücksicht genommen ist. Besonders interessant und beleh- rend ist §. 5, welcher über die Kleidung und Bewaffnung der Rit- terbrüder handelt. Daran seh liesst sich die Untersuchung der al- ten Preussischen Siegel, des Ordens und seiner Beamten (des Hochmeisters, Landmeisters, Vice -Landmeisters, Deutschmeisters, Grosscomthurs, Obermarschalls u. s. w.), der Bischöfe, Ordensvoig- teien, Comthureien und Städte. Diese Siegel, welche zum Tbeil mit grosser Kunstfertigkeit gearbeitet sind, finden sich auf den bei«-

Attgemeine Literaturberichie, 997

gegebaoMH Kopfertafeln treu and sauber dargestelll*). Sie tiad zttm TheH sehen ans dem dreizehnten Jahrhundert: einige derOr- denssiegei wurden sogar bereits im Morgenlande benutzt. Dabin gehört namentlich die Balle des Ordenskapitels auf Taf. I. No. 4. Im Uorgenlande, wo die grössere Einwirkung der Sonne die Be- Siegelung von Urkunden in Wachs nicht duldete, drückte man dieses Siegel in Blei ab. Im kalten Preussen hingegen bediente man sich der bequemeren und gewöhnlichen Masse, des Wachses, und fin- den wir von nun an solche ursprüngliche zu Bleiebdrucken gefer- tigte Siegel mit dem Namen ,,bulla cerea" bezeichnet. Den Sekret- siegeln derjenigen Hochmeister, von welchen noch keine Siegel vor- handen sind, ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Auf diesen Sie» geln, im Gegensatz zu den grossen Siegeln der Hochmeister, auf welchen die Maria mit dem Kinde dargestellt ist, erscheint stets das Wappen des Ordens: das mit dem Jerusalemer Kreuz bedeckte Ordenskreuz, worauf in einem Schildchen der von Kaiser Frie drich n. an Hermann von Saiza verliehene Reichsadler. Unter den mitgetheillen Siegeln erscheint auf dem Dietriches von Altenborg (1335-^1341) zum ersten Male dieses Wappen. Die Siegel der- jenigen Hochmeister, von denen Münzen vorhanden sind, finden wir stets letzteren vorangestellt. Bis auf Martin Trnchsess von Wetzhausen (f 14S9) führen sie sämmtlich, nur durch geringe Ne* benzierrathen unterschieden, das so eben beschriebene Wappen. Auf dem secretum Johann's von Tiefen erblicken (1489—1497) wir aber das Jeriisalemer Kreuz stett in Krücken, in Lilien auslaufend. Man hat dies auf die Verleihung eines Lilienkreuzes durch König Ludwig den Heiligen von Frankreich an den Orden beziehen wol* len. Allein eine solche Verleihung laset sich nicht durch histori- sche Zeugnisse belegen, und ist sicherlich das Lilienkreuz auf dem erwähnten Siegel nur durch eine Unkenntniss des Slempelschnei- ders entstanden. Nur die beiden letzten Hochmeister in Preussen, beide fürstlichen Geschlechtes, führten in ihren Siegeln, und zwar in den Winkeln des grossen Kreuzes, ihre FamÜienwappen; auch bei ihnen erscheint aus demselben Grunde wie bei Johann von Tiefen, stett des Jerusalemer Kreuzes ein Lilienkreuz.

Nach einigen Untersuchungen über Gewicht, Münzfuss, Münz- recht und die fremden in Preussen während des Mittelalters cour- sirenden Münzen, werden die Preussischen Münzen selbst be- handelt, und zwar zuerst die irrigen Meinungen Früherer, nament«

*) Ein Irrlhum ist bei der Darstellung des Siegels der Sladl Biscbor- stein, Taf. XVKI, No. 70^ vorgefallen. Dies Siegel muss so gestellt wer« den, dass der Bischofsstab aufrecht stehend, hingegen der Schild gelehnt •rscheint. In der AbbUdiuig ist dies mngekelirt der Fafl,

698 Allgemeine Literaturberickie.

lioh des faselDden Mönches Grünau widerlegt Paranf folgt die Beschreibung von 105 Braktealen, von denen jedoch No« 1. mit dem Gepräge eines Bewaffneten, welcher den mit dem Ordens- kreuz geschmückten Sohiid vor sich hält, wahrscheinlich nicht in Preussen, sondern in einer Deutschen Ordenskomtburei, vielleicht in Werben geschlagen ist. No. 30. 31 und 32 gehören wegen ihres schlechten Gehaltes, so wie auch wegen ihrer Vorstellung, welche mit dem Stadtwappen von Reval übereinstimmt, dieser Stadt an ; ebenso ist No. 48 von schlechtem Gehalt und mit einem gestrahlten Rande versehen, nach« Liefland zu verweisen, dagegen No. 44, worauf das, was Hr. V. für einen Kahn ansieht, und auf die Stadt Memel beziehen möchte, ein Halbmond ist, wahrschein- lich nach Halle in Sachsen. Richtig hat Hr. V. No. 105 dem Her- zoge Wratislaw von Pommerellen (Danzig) zugeschrieben. Diese Münze zeigt innerhalb einer von Thürmen flankirten Yerscbanzung einen Bewaffneten , daneben D V X , auf der Yerscbanzung VRATIZ. Einige Münzfreunde wollen diesen Pfennig nach Sohle- sien verweisen, und erklären das VRATIZ durch Yratizlavia, Bres- lau, was jedoch durchaus nicht zulässig ist, da zum Titel Dux of- fenbar ein Name gehören muss, ferner auch auf den alten Mün- zen dieser Gegend niemals die Münzstätten, wohi aber die Namen der Münzberren, ihrer Schutzpatrone u. s. w. vorkommen.

Den Brakteaten folgen die zweiseitigen, bis auf die Halbscbo- ter und Vicrcben, fast sammtlich mit den Namen der Hochmeister versehenen Münzen, von denen Hr. V. auf das Sorgfältigste alle Hauptverschiedenheiten in den auf den Münzen selbst vorkommen- den eigenthümlichen Scbriflzeichen mitgetbeilt hat. Ihre Zahl ist sehr bedeutend: sie belauft sich, mit den erwähnten Brakteaten, auf beinah 1300 Exemplare, welche sich grösstentbeils in Berliner Sammlungen befinden. Die Hauptschwierigkeit der Bestimmung dieser Münzen lag namentlich in den Zahlenbezeichnungen ihrer Urheber, welche auf anscheinend widersinnige Weise von den Hochmeistern sich selbst zugelegt wurden. Hrn. V. gebührt das grosse Verdienst, diese Probleme auf klare und geschickte Weise gelöst zu haben. Er bat nachgewiesen, wie die mit Gonradus pri- mus bezeichneten Münzen keinem früheren Conrad, als dem von Rothenstein angehören, wie hingegen die mit Henricus primus be- zeichneten Schillinge nach Styl und Gehalt unter die Hochmeister Heinrich von Plauen (1410—1413) und Heinrich Reuss von Plauen, welcher, nachdem er längere Zeit des Ordens Statthalter gewesen war, nur wenige Monate das Hochmeisteramt verwaltete, und am 2ten Januar 1470 starb, vertheilt werden müssen, u. s. w.

Die ältesten mit Namen versehenen Schillinge Hess Meister Win rieh von Knigrode, der io^ ^^^^^ 1352 zur Regierung kam,

Allgemeine Literaturberichte. 399

sehlageo ; mit Ausüahme CoDrad*s IL von WaHenrod, seines unmit* telbaren Nachfolgers, hat man solche Münzen von allen späteren Hochmeistern. Sie führen auf der einen Seite das vollständige Ordens- wappen, auf der R. S. das einfache Ordenskreuz im Schilde. Hoch- meister Albrecht von Brandenburg veränderte diesen Typus der R. S. dabin , dass er auf ihr sein Familienwappen darstellen Hess. Auch Hess er zuerst Itfünzen mit Jahreszahlen prägen, welche von 151^ bis 1525 vorhanden sind. Bis auf Hochmeister Johann von Tiefen wurden nur Schillinge geschlagen. Dieser begann die Prägung von Groschen, welche drei Schillinge galten, und wur- den letztere von den Hochmeislern fortan nicht mehr ausgemünzt. Dagegen Hess Albrecht wahrend der Kriege mit den Polen Notb- münzen zu sechszehn Groschen, acht Groschen, endlich auch Dukaten, Doppeldukaten und Thaler schlagen, welche sämmtlich zu den grössten Seltenheiten gehören. Ein älterer, eben- falls äusserst seltener Dukaten exislirt von Heinrich von Plauen. Von Hochmeister Albrecht kennt man auch einige schöne Denkmün z'en.

Bei JQdem Hochmeister finden wir seine Münzgeschichte nach alten Urkunden abgehandelt, unter welchen das Tresslerbuch, worin sich merkwürdige münzhistorische Notizen aus den Zeilen der Hochmeister Conrad HI., Ulrich und Heinrich von Plauen vor- finden, eine besondere Erwähnung verdient. Einige der interes« santesten Stellen desselben tbeilt Hr. V. wörtlich mit.

Von grossem Interesse für den Historiker sind die mit Fleiss zusammengestellten Angaben über die Kosten der Lebens- und verschiedenen anderen Bedürfnisse in Preussen zur Ordenszeit (M- 55 und 113), so wie namentlich die tabellarische Uebersicht von den zur Ordenszeit in Prq^ssen geprägten Münzen mit An- gabe ihres Gewichtes, Gehaltes und Werthes.

Möge uns Hr. V., welcher auch durch andere Schriften (Mün- zen und Siegel der Städte Danzig, Elbing und Thorn, so wie der Herzöge von Pommerellen, Münzgeschichte Preussens unter König Sigismund von Polen, in Köhne's Zeitschrift für Münz-, Siegel- und Wappenkunde, Band I, Münzgeschicbte Danzigs während seiner Belagerung durch König Stephan von Polen im Jahre 1577, eben- daselbst Bd. n, und Münzgeschicbte Elbings, ebendaselbst Bd. IV) seine gründlichen Kenntnisse in der Preussischen Münzgeschichte bewährt hat, mit einem numismatischen Werke über die spatere Zeit, namentlich die Geschichte der Herzöge Albrecht und Albrecht Friedrich, bald beschenken. B. Köhne.

Niederlande.

Gedenkstukkim tot opheldering der Nedorlandsclre Geschledenis, opge- zameld uit do archiven te Ryssel, en opgezag vao hei goavernemeal nit-

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400 Allgemeine Liierüturberickie.

0tg«T«n «Aor Um. L. Pk C. tm Ab» B«vK DteL LeMea^ J. Lucii«* manB, itilk vifL 368 s. 8. _ Ueber den ersten Tbeil s. ZIsckr. Bd. IV. S. 567 ff. Dar vorliegende eDtbält von der Correspondanoe de Marguerita d' Antriebe, gouvernanle des Pays-bas, avee ses amis, sor lea affaires ^ies Pays-bas de 1506 -~ 1528 den ersten Abschoitt bis 1511. Die Correspondenr, aus den Arcbiven vchi Lille ent»OD»- meo, und von der nur ein geringer Theil scbon bekannt war, om- fasst in diesem erst«i Abschnitt 161 Nummern, vom Herausgeber woM commenlirt; neben Margaretbe selbst treten hier die bedentend- sten in die Zeitereignisse verflocblenen und io sie eingreüeoden Persönlichkeiten theils als Brief&leHer tbeils als Bertcbterstatter uns entgegen.- Die Gescbicfate gewinnt dadurch bedeutend an Liebl; um so erfreuUeber ist die Aussicht, in der aweiten AbtbeHung, welche noch in diesem Jahre erscheinen soll, einen historischefi Ueberblick über die Zeiten der Regentschall nach den DaleA die- ser Correspondenz vom Berausgeber selbst zu erhallen.

Algier.

Der Kampf <tor Franzosen in llgerien, Biae hJs«. SkkBae> mch den bi- tten vorbaüdeaen QueNea entworfen von O. L. Wolff. Leipz. Tent^ner f 848. S43 s. 8. iei den jetzigen Ereignissen in der Golenie den deut- schen Zeitungslesern wohl zu empfehlen; hier können sie sieh ei- nigermaassen orientiren, und das thitt noth. Haben doch selbst üe Franzosen gezeigt, dass sie Land und Volk noch immer niehl ken- nen» sonst würden sie nicht den unbezwingliehen Proteus, mil den» sie ringen, so eft bezwungen geglaubt haben und seine Kraft noch foriwührend naiver Weise nach der Kopfzahl seiner jeweiligen Be- gleiter messe». Abdul Kader ist mehr als Individuum, ist Ausdruck einer Totalität, Symptom einer CuKurstufe, Kopf und Berz einer Völkerhydra. Abdul Kader lebt fort, auch wenn er getödtet wird, so lange nicht der Inhalt dieser Totalität gezähmt, die rohe Natur- kraft dieser Gulturstufe abgeschliffen, der Leib der Hydra seiner ergänzenden Triebräbigkeit beraubt ist. Nicht der Krieg atso führt zum Ziel, sondern allein die Civilisirung. Durch jenen kann hoch- stena nur der persMiche Abdul Kader d. h. das momentane Sym- ptom, der sttfSUige Ausdruck, der Kopf beseitigt werden, dessen Wunde deia neuen gebiert. Damit ist freilich nicht gesagt , dass der Krieg nicht notbwendig wäre; nvr ist er nicht das Wesent- Kehste, seine Brfolge allein bürgen für nichts. Gelehrten An- sprüchen genügt die Arbeit nicht, will das auch nicht; sie ist eine Ferienarbeit des Verf. (in Jena), im Allgemeinen ein Auszug freilich kein „nackter** aus einigen französischen Werken, vor ziigüch aus Galiberi Darstellung und Disposition ist klar gehalten; die Einleitung behandelt die Vorgeschichte bis auf die Türkenherr*

Allgemeine Literalurberichie. 401

Schaft (wobei unsere gelehrten deutschen Hülfsmittel nicht benutzt sind); die Zeit des Kampfes der Franzosen ist, besonders mit Rück- sicht auf die verschiedenen Gouvernements, in 8 Abschnitten bis zum Jahre 1844 fortgeführt. Die politische Bedeutung der Occu- pation ist wohl richtig aufgefasst, doch geht sie in eine höhere cul- turhistorische auf und unter; und überdies müssen wir eine Poli- tik nicht „schlau" nennen, deren Widerspiel Thorheit wäre.

Chronologie.

Die Chronologie in ihren) ganzen Umfange mit vorzüglicher RUcksich auf ihre Anwendung in der Astronomie, Weltgeschichte und Urkundenlehre von Wilhelm Matzka. Wien. 4844.

Wir haben in dieser Ztschr. (I. 467.) bereits Gelegenfieit gehabt, über ein Buch zu. referiren , das mit der Zusage dem unmittel- baren praktischen Bedürfniss der Historiker in chronologischer Beziehung vollständigst Genüge zu leisten, auftrat und sich uns als unzureichend erwiesen hat; das vorliegende Werk macht die- sen Anspruch nicht, hätte aber auch nichts weniger als Ursache ihn zu erheben. Des Verfassers Streben ist vornehmlich darauf gerichtet, vermittelst der höhern Arithmetik die Verhältnisse chro- nologischer Daten in Formeln zu fixiren und somit die Reduction derselben, wie er behauptet, zu vereinfachen. Durch einen Blick in das Buch wird man leicht gewahr, in welchem Verstände diese Vereinfachung zu nehmen sei. Die durchweg rein mathematische Haltung desselben setzt Leser voraus, die nicht allein die Summe alg^ebraischer Kenntnisse sich angeeignet liaben, sondern auch die Mühe nicht scheuen, durch den Dornenpfad seiner vornhingestell- ten Vorbegriffe sich durchzuwinden, welche die Theorie der Zahlen enthalten und nach des Verfassern Ausspruch füglich als Anhang der ausführlicheren Lehrbücher der Algebra dienen könn- ten. Leider sind wir nicht im Stande, das „intellectuelle Vergnü- gen^* in der Aufstellung und Auflösung von Gleichungen und Un- gleichungen auf dem Gebiete der unbestimmten Analytik, das der Verf. beachtet und anerkannt wissen will, mitzuempfinden; wäh- rend wir andererseits über den Nutzen, den die im Buche unter- nommene Anwendung der höhern Arithmetik für Chronologen von Fach haben mag, uns hier vom Standpunkt des Historikers mit ei- nem Urtheii bescheiden müssen.

Näher berührt uns Herrn Matzka's Vorschlag zu einer xat* icoxn'^ historischen Zeitrechnung, über deren sofortige Ein- führung in den bürgerlichen Verkehr er zwar selber einigen Zwei- fel nicht unterdrücken kann, von der er jedoch die Hoffnung hegt, sie werde sich zunächst in der astronomischen und historischen Wissenschaft Geltung verscbaffeo. Mit der Voraussetzung, dass

Allg. Zeltschrm f. Geschieht« V. 1846. 27

402 MiiceUe,

dem Gesehichtsforsclier (und Aslronomen) eine wobl geregelte, dem Lauf der Gesiime so nah als möglich entsprechende Zeitrechnung höchst wünschenswerth sei, beginnend entwickelt er seine um- wälzenden Entwürfe, von denen der Tag (den er auch gern in 20 Stunden, diese wiederum in 100 Minuten getheilt haben möchte) nur deshalb unbelrolTen bleibt, weil die sonst nothwendige Besei- tigung der vorhandenen unzähligen und kostspieligen Uhren ihm doch etwas hypothetisch erscheint. Auch die siebentägige Woche lässt er wegen ihrer Bedeutungslosigkeit für Geschichte und Astro- nomie bestehen; das Jahr hingegen soll nunmehr mit dem Früh- lingsäquinoctium seinen Anfang nehmen und zwar zwölf Monate be- halten, aber die bisherigen Namen der letztern sollen fallen und dafür eine einfache Zählung: Erstner, Zweitner etc. oder auch Erst- roand, Zweitmand etc. eintreten. Wir lassen die weiteren Neue- rungen unerwähnt, die in Bezug auf die Dauer der einzelnen Mo- nate, wie auf die Schalttage, dem Verfasser belieben, heben nur noch hervor, dass er den Beginn seiner „historischen Aera*' an die von Chinesen, Indiern und Ghaldaem beobachtete totale Mond - finsterniss am 19. März 721 vor Chr. 2^ Stunde vor Mitternacht anknüpft und sprechen schliesslich die Ueberzeugung aus,' dass, wenn Herr Hatzka Historiker gewesen wäre, er sich selber seinen Vorschlag unzweifelhaft nicht gemacht hätte. Philipp Jaffe.

Geschichte des Osterfestes seit der Kalenderrerormation. Von P. Pi- per, a. o. Prof. der Tbeol. a. d. Univ. zu Berlin. Berlin, Lüderitz, 4845.

83 s. 8. Sehr geschickt und umsichtig; dient zur Beleuchtung der wider das Osterdatum des genannten Jahres erhobenen Zwei- fel; erklärt beiläußg die von Matzka ,,ausgedachte sogenannte hi- storische Zeitrechnung" ebenfalls für „unpraktisch/'

Miseelleii.

La clef des chiffres

dans kl Correspondance in^dite de Henri IV. avec Maurice le Savant,

par Mr. de Bommel.*)

a bcde fgh i Imnopqrs tuxy 31 26 27 28 32 29 30 33 12 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

25 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 49 50 51 52 54

^7 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 72 «5 74 75 76 77

80 81 82 85 83 84 ^^ 86

*) Wir rerdanlcen diese MittheiiuDg Herrn von llommcl selbst. Den Scbliissel xnr Bnteifferang der Correspondenz bat Herr ran der Kcmp, Verfasser einer Bio-

Miscelle. 403

7 8 10 15 17 18 19 24 25 30 34 38 39 40 41 42 44 45 non je in 1^ le le? lettre leur ma nie mo mon moins na ne no ny

46 47 48 51 52 53 54 55 56 59 60 61 65 66 67 68 69 oolre non nous oui on pa paix pays pour pro pre quan'd que quelque

70 71 72 73 74 77 82 83 85 86 89 96 99 qui qu'il quoy ra re roy rompre? sa se Saxe »ubjects ta

30 10 31 33 34 36 40 42 45 46 48 49 52 10 54 58 cour imperiale con ca car dans don da di do de di^te de doc Espagnols

TEmpire

59 61 62 62 10 64 69 68 70 71 73 76 81 84 85 91 eslat eulx en Empire point faire eile faict Als fort forces fa g^oöral

92 96 99

troupes Hollande guerre

12 19 26 28 31 33 35 37 40

Bouillon Gomte Gonsell Pape Empereur Roi d'Es- Roi d'Angle- rArchiduc

pagne terre

43 45 515253 55596263

l'Electear Brandenbourg Brunswick provinces l'administrateur Prince Palatin unies de Strasbourg

64 6568 7172737478

Marquis Protestant affaire Allemagne alliance allids Ambas- Angle- argent

sadeur terre

79 83 84 86 88 95 98 arm6e avoir au afln aux päys-bas

te grand Hongrie tra tue troubles tion tant tous tout ve va Tille votre 4^ ces doux figures signiflent qu'il faut doubler la lettre präcedente.

^ ^^^ ^^^^ figures montrent que le nombre qui pr6cede ne signifle rian.

Probe der Entzifferung: Corresp. ined. etc. p. 170 175.

Le Roi au.Landgrave (4 604). et de Taudientier Werilken (liser Vereyken) et faut croire, puisque ils se sont rdsolus de boir la honte d'aller ainsy demander la paix ä leurs ennemis en leur pays, que la ne- cessit^ qui les presse est trös grande et qu'ils accorderont telles con- ditions que le Boy d'Angleterre voudra tirer d'eulx: de quoy j'estime quo le dit Roy, mon bon fr^re, ne perdra l'occasion ä mon avis de profiter pour lui et ses amis« Nous arons et entretenons toujours ensemble trös-

grapfaie des Prinzen Morlz von Oranien, entdeckt und ihn nebst der nacirolgenden Probe some einigen anderen entzifferten Stellen dareb U^rrn Orocn v. Prinsterer dem Einsender znsteilen lassen. Red.

404 Mücelle.

bonne et fraternelle intelligence , m'ayant de nouveau asseurö qu'il aura efgart en faiaaot la dite paix de ne pröjuditier ä notro antienne et mo- derne alliance> ny mesmos aux Etats des Pays Bas, chose que je juge aisez difflcile. Je vous donneray etc.

La Tille d'Ostende Ce bonheur arrivant aux Archiducs avecq

la dlte paix d'Angleterre aydera graudement ä r elever la reputation de leurs affaires priDCipalement s'lls en usent comme ils doivent« Mais ce- pendant que telles choses se demennent, les Princes Interesses en la grandeor de la Ifaison d'Autriche non seulement s'endorment, mais ancuns d'eulx fönt tout le.rebours de ce qu'ils devroient faire 'pour se fortifler et munir contre la prosperitö et grandear d'icellecy. Entre tout il me semble que mon cousin FEleclenr Palatin s'oublie et mesconte grau- dement, quand suirant les conseils trop passion^s du Duc de fiouillon il me donne occasion de me defler de son amlliö. Ses pr^decesseurs ont souvent esprouvö la slnceritö de celle de mes ancestres en leur necessit6, comme je recogools avoir faict la leur et particuli6rement celle du dict Electeur. Gela m'avoit aussi rendu tr6s-alTectionn6 ä le recognoitre et m'en revencher ainsy que je Vous dicts, quand Vous passates par icy. Mais depuis il s'est laissö tellement persuader du Duc de Bouillon et s-'est monströ si partial pour luy qu'il n'a faict difficultö de recommender sa cause ä mes propres sujets et depuis lui confier la nourrissure de son Als aisnö son principal höritier, saus m'en avoir donnö avis, dont veri- tablement j'ay estö aussy marry qu'esmerveillö , chose qui est advenue contre mon esperance et le devoir de notre antienne amitid et bonne voisinance, de quoy les communs ennemis de la cause publicqüe sauront bien s'advantager. fllais ce sont des fruits des conseils et in- ductions du dit Duc de Bouillon, lesquels ne sont moins domageables ä ses propres amis qu'ils seront d la fin Ä luy mesme. II a fait courrer le bruict que j'ay oubliö et pardonnö ses crimes, combien qu'il ne se seit tais point en devoir de me donner occasion de le Caire. Ifon Cousin, je ne me plaincts pas de la conduite et des döportemens du dit Duc de Bouillon, car je s^ay que son instinct naturel ne lui permet de cheminer par autre voye, mais je suis marry de la creance que le dit Duc . . d'aucuns autres Princes d'Allemagne ont donn^ base SO 46 74 S4 -fl- 35 S8 78, lesquels sont du tout band^s si non en aparence au moins en isffect contre mes voIont6s et le bien de mon pays. Pour tout cela je ne laisseray d'aymer et favoriser mes bons amis et alli^s et de leur souhaiter toute felicit^, mais je sauray aussi tr6s bien remarquer et faire teils distinction qu*il convient de ceulx qui seront tels en veriiö davec les autres. L'on dit, que le dit Duc de Bouillon a raportö d'Allemagne une marque en forme d'e rose qu'il porte cousue sur le cost6 gauche de son pourpoinct, pour signe d'une ailiance qu'il publle avoir contract^e avec aucuns des dits Princes d'Allemagne , laquelle Ton dict mais ä se tendre jusques ä la defensive contre moy maismes, advenant que je vou- lusse faire proc6der contre luy par la voye de justice ou par celle des armes« Luy-maime veut que Ton le croye ainsy. Mais tout cela ne me fera cbanger de conseil ny destourner du droict et öqui table cbemin, que j'ay suivy jusques ä präsent en son faict, me prometant que la ve^ rite et la candeur de laquelle je proc^de, estouferont A la.fin la ii des artiflces que l'on y oppose. La raison et la justice auront tousjours aussy plus de pouvoir sur luy que la considöratlon de raraitiö, ny de l'apuy de ceulx qui favoriseront contre moy une cause injuste.

Der Kaiser Julianus und seine Beurtheiler«

So entgegengesetzte Auffassungen und Beurtheilungen kann keine andere historische Persönlichkeit erfahren haben wie Kaiser Julianus, von den Christen benannt der AbtrUn* nige, von Männern seiner Partei mit dem Beinamen des Grossen verherrlicht, *) den er auch mindestens eben so sehr verdient wie Constantinus sein Vorfahre nach Geschlecht und Thron. Am schroffsten sind die Gegensätze neuerdings hervorgetreten unter seinen französischen Beurtheilern. Wäh- rend Montaigne ihn un homme rare et un grand homme nennt und Voltaire erklärt, Julian sei le second des hommes pour ne pas dire le premier, und darin, dass man Julians Namen ohne das Beiwort des Abtrünnigen ausspreche, peut- &ive le plus grand effort de Tesprit humain erkennt, *♦) meint dagegen Jondot: T^pitfaete d'Apostat peignant Phom- me tout entier, forme en quelque sorte, en un seul mot, le sommaire de sa vie. Woher diese Divergenz der Ansichten? Sind die Handlungen Julians einer so entgegengesetzten Auf- fassung fähig, unsere Quellen so dürftig und widersprechend? Nichts von all dem ist in Wahrheit der Fall) nur ein wenig historische Kritik darf man anwenden, nur ein wenig in die damaligen Verhältnisse sich hineindenken, so wird man über die Glaubwürdigkeit der Quellen und Über Julians Handlun- gen keinen Augenblick im Zweifel sein. Nur Parteileiden* Schaft ist es was diesen Theil der Geschichte so sehr ge- trübt, was die Auffassungsweise Julians zu einer Art von

*) Zosim. V, 2y vgl. Eunap. Max. p. 51. 56. Boissonade. **) In demselben Geiste ist die Defense du paganisme par Tem« pereur Julien par M. le Marquis d'Argens, Chambeilan dQ S. M. le Roi de Prusse. Berlin 1764. 1767. 1769. 2 Bde. gehalten.

AWg, Zeitschrift f. Geschichte. Y. 1846. 28

406 Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler.

Glaubensbekennlniss gemacht hat. Doch veriheilt sich hiebei die Schuld sehr ungleich: Die Partei des Julian selbst, die heidnische, oder, wie wir sie, dem damaligen Sprachgebrauch gemässs *) nennen werden, die hellenistische und Alle wel- che in der späteren Zeit Sympathie für sie hegten, hat den einzigen Voltaire ausgenommen niemals sich mit sol- cher Einseitigkeit und Leidenschaftlichkeit ausgesprochen, wie dies von der entgegenstehenden geschehen ist. Die hellenistischen Schriftsteller, welche über Julian sich geäus- sert haben, haben sämmtlich unter christlichen Fürsten ge- schrieben: schon dieser Umstand musste ihrem Parteieifer Zügel anlegen, wenn es ihnen auch möglich gewesen wäre, sich dem Einfluss der sie umgebenden geistigen Atmosphäre zu entziehen. Wir finden daher gleich bei dem wichtigsten Historiographen des Julianus, bei Ammianus Marcellinus, eine grosse Unparteilichkeit. Er vertheilt Licht und Schat- ten, Lob und Tadel mit Gerechtigkeit; ja wenn seine Dar- stellung jeden nicht allzu Befangenen nothwendjg gewinnen, wenn sie den Eindruck hinterlassen muss, dass Julian ein durchaus ehrenhafter und bedeutender Mensch war, so ge- schieht dies fast gegen den Willen des Schriftstellers, der niemals mit solcher Entschiedenheit rühmt und bewundert, wie er einige Maie, und zwar nicht einmal immer mit un- zweifelhaftem Rechte, rügt und anklagt.**) Dies entspricht genau seiner religiösen Stellung: auch hierin ist er ein Mit- telding zwischen Christ und Hellenist, doch so, dass sich die Wage etwas mehr auf die erste Seite neigt. Sein Aberglau- ben, seine Wundersucht ist Nichts was der einen oder der andern religiösen Partei ausschliesslich eigenthümlich wäre, sondern es ist ein gemeinsamer Zug der ganzen damaligen Zeit; dagegen sein Vorsehungsglaube, wenn er auch viel- fach in hellenistischen Formen sich bewegt, ***) hat doch

*) Die Bezeichnung „Heiden" ist schon deswegen nicht pas- send, weil sie Hellenisten und Polytheisten zusammenwirft, welche man damals wohl unterschied, vgl. Procop, Anecd. 11.

') XXII. 9, 12. XXV. 4, 20 f. vgl. mit Liban. I, 511. Zos. ffl. 11, 10.

') Vgl, XXIH. 5, 5.

Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler. 407

etwas so Resignirendes, Ergebenes wie es innerhalb des Hellenismus kaum möglich war. Eutropius sodann, gleich- falls ein Zeitgenosse des Juiianus und, wie Ammian, ein Ge- fährte desselben bei seinem parihischen Feldzug, wägt in seiner freilich sehr kurzen Uebersicht über die römische Geschichte mit derselben Unparteilichkeit, Anerkennung und Missbilligung ab und desavouirt, wie Ammian, mit besonde- rem Nachdruck das was Julian den Christen gegenüber ge- than hat, aber ohne darum die Wahrheit zu verletzen. Eu- napius und Zosimus sprechen unverholen ihre aufrichtige Bewunderung für den edlen Kaiser aus, aber Animosität ge- gen das Christenlhum , Verdrehung der wahren Facta zu Gunsten Julians und Erdichtung unwahrer wird man ihnen nicht nachweisen können. Dies kann man sogar dem ent- schiedensten Parteigänger Julians, dem Rhetor Libanius, nicht vorwerfen. Zwar ist von den acht Schriften desselben, welche sich auf Julian beziehen, nur eine einzige unter ei- nem christlichen Kaiser verfasst, diejenige, worin er alles Unglück was das römische Reich seitdem betroffen, davon ableitet, dass man den Mord des Julianus durch Ghristen- hand zu rächen unterlassen habe; die übrigen alle sind ent- weder unter Julians Regierung verfasst und an diesen selbst gerichtet, oder unmittelbar nach dessen Tode geschrieben, wo zwar Julians Leib begraben war, aber sein Geist, sein Gedächtniss noch fortwirkte und seine Feinde scheu und schüchtern machte und seinen Freunden Muth einflösste* Nichtsdestoweniger ist seine Parteilichkeit noch recht er- träglich. Zwar darf man nie vergessen , dass ein Rhetpr spricht, nicht ein Historiker, und vollends von den an Julian selbst gerichteten Reden wird Niemand es anders erwarten, •als dass der Redner sich ganz auf des Angeredeten Stand- punkt stellt,. der ja ohnehin auch der seinige war, und dass er Thatsachen von zweifelhafter Beurtheilung übergeht, be- mäntelt oder nur von Einer Seite bespricht; auch wird man es nicht auffallend finden, dass er weitverbreiteten Gerüch- ten, welche auf die Christen ein nachtheiliges Licht werfen, Glauben schenkt und darauf eine Reihe vc^ Schlussfolgerun-

28*

408 Der Kaiser Julian und seine Beuriheiler.

gen baut. Aber wo zeigt sich in seinen Schriften diese sy- stematische, malitiöse Herabsetzung, Verdächtigung und Yer- läumdung der Christen, wie sie die Chorführer unter diesen alsbald gegen die Hellenisten angewendet haben? Wo treibt ihn diß Liebe für seinen Helden und Freund und für ihre gemeinsame Sache zu Aeusserungeu eines unedlen Hasses? Natürlich, er kann Julians Feinde, die auch die seinigen sind, nicht lieben, er hasst sie sogar, aber die Schranken der Menschlichkeit Überschreitet er niemals. Mehr durch seine Liebe als durch seinen Hass zeigt er die Partei an, Air welche er sich entschieden; und seine Liebe ist nicht die tobsüchtige, um sich schlagende, welche Jedem die Faust ins Gesicht setzt, der nicht ihren Gegenstand für einen Ausbund aller Vortrefflichkeit hält, sondern es ist die stille, tiefe, auf gegenseitiger Achtung und Uebereinstimroung be- ruhende, die keinen Wechsel kennt, die sieb als unerlösch- liches warmes Interesse durch das ganze Leben hinzieht. Dies beweist nicht nur Libanius' schon erwähnte Rede an Theodosius in Betreff der Ermordung Julians, sondern besonders auch seine Gedächtnissrede auf den Letztem, Auch dies ist eine Rede, aber das verräth sich fast nur in der etwas peinlichen Vermeidung der Nennung von Eigenna- men, welche mit dieser Stilgattung nicht vereinbar schien; von dem Gespreizten, Uebertriebenen, Gesuchten, was sonst die Reden aus dieser Zeit charakterisirt, ist in dieser mög- lichst wenig zu entdecken. Und dann hält sich hier der Redner sehr nahe an die Wahrheit, er tadelt zwar Nichts, aber er übertreibt auch nicht das Wahre, lobt und recht«- fertigt nicht, als wo er es mit voller üeberzeugung ihun kann, wie bei Julians Verbrennung seiner Flotte,*) und begnügt sich bei Maassregeln wie die Hinrichtung des ürsulus, *♦) sie in das mildere Licht zu rücken; über die ganze Darstel- lung ist eine Wärme verbreitet, welche den wohlthuendsten Eindruck hervorbringt. Blicken wir nun aber auf die ent- gegengesetzte Seite, betrachten wir die christlichen Schrift-

*) Reden I, GlO^Reiske. **) Ebend. 1, 573.

Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler. 401)

steller und ihre Darstellung und Beurtheilung Julians, so finden wir hier den Charakter der Parteilichkeit auf eine schreiende Weise ausgeprägt. Die altchristlichen Historiker sind überhaupt keine Historiker, sie haben kein historisches Interesse, sondern nur ein praktisches, apologetisches. Naiv spricht dies z. B. Evagrius aus indem er in der Vorrede zu seiner Kirchengeschichte an der des Eusebius als Hauptvorzug dies rühmt, dass sie so schön darauf angelegt sei, Anders- denkende für das Christenthum zu gewinnen. *) Aber nicht blos überhaupt für das Christenthum suchten die Historiker durch ihre Darstellung zu werben, sondern jede christliche Partei noch insbesondere für sich selbst. Der alhanasianisch gesinnte Historiker suchte zu beweisen, dass seine Ansicht von jeher die der Kirche gewesen sei, dass das Leben der Führer, wie die Schicksale der ganzen Partei unwidersprech- lieh die Wahrheit ihrer Lehre bezeuge und die entgegenge- setzte Ansicht nur von schlechten, Gott und den Menschen verhassten Personen vertreten sei; derArianer aber bewies ganz dasselbe auf demselben Wege von seiner Partei. Die siegreichen Athanasianer haben die Gegenpartei nicht zum Worte kommen lassen; nur die Darstellungen von Athana- sianern sind auf uns gekommen, und von der entgegenge- setzten Partei besitzen wir nur einen Auszug des Werkes von Philostorgius , gemacht durch den Athanasianer Photius, der die einzelnen Mittheilungen regelmässig mit den Worten einleitet: der gottlose Philostorgius sagt. Natürlich hat sich Photius' orthodoxe Feder gesträubt, die treffendsten, gegrün- detsten und daher schmerzhaftesten Bemerkungen des Aria- ners abzuschreiben; so ungenügend aber sein Auszug ist, so enthält er doch noch immer des Interessanten genug. Für unsern Zweck heben wir nur dies Eine hervor, dass die Ermordung des arianischen Bischofs von Alexandria, Georgius, welche die alhanasianischen Schriftsteller halb und halb dem Julian ins Gewissen schieben, Philostorgius (VH., 2) geradezu dem Athanasius Schuld giebt, welcher den Bischofs-

hr>

*) Vgl. Schlosser, üniversalhist. üebers. HI, 3, S. 130 f.

410 Der Kaiser Julian und seine Beurt heiler,

sitz selbst wieder einzunehmen gewünscht habe. So gewiss dies eine Unwahrheit ist, so kann uns doch dieses Beispiel die Art der damaligen Geschichtschreibung veranschaulichen und uns darauf vorbereiten, was wir Über einen gemeinsa- men Feind, wie Julian, von dieser Seite für Schilderungen zu erwarten haben, wenn die Christen unter einander auf diese Weise sich behandein.

Aber die höchste Erwartung, die man in dieser Bezie- hung hegen kann, wird noch übertroffen durch Gregor von Nazianz, den Ersten unter den Christen, welcher sich über Jujian hat vernehmen lassen. Zwei Reden hat er nach dessen Tode auf ihn gehalten, welche er Schandsäulenreden betitelt hat; Julian wollte er damit an den Pranger stellen, für ewig ihn brandmarken, und auf lange hinein ist es ihm auch wirklich gelungen, lange hat die lärmende Partei- sucht die Stimme der Wahrheit übertönt und mit gewalt- ihätigem Fusse die reine stille Quelle gehemmt; aber auf ewig nicht, ewig ist nur die Wahrheit und überlebt und überwindet alle Parteien. Indem er Julian eine Schandsäule aufbaute aus Verläumdungen und die Ritzen verkittete mit religiösem oder vielmehr hierarchischem Fanatismus, hat sich Gregor sein eigen Denkmal errichtet. Ein bewährter Forscher, Schlosser, sagt (in seinem Archiv I, S. 267.*): „Dass Gregor nach Julians Tode Schimpf- und Schandreden

*) Damit vergleiche man desselben ürlheil in seiner universal- histor. üebers.in, 2, S. 337 f., wo erGregor so charaklerisirl; „Ein Mann, den man Kirchenvater nennt, weil er reich ist an salbungs- vollen Redensarten, an blindem Glauben und süsslicher Sophislik." Und 3, S. 142: „Die beiden Reden gegen Julian, welche G. nach des Kaisers Tode ausarbeitete, beweisen die traurige Wirkung des religiösen Fanalismus besser als irgend ein anderes Aktenstück jener Zeit. G. erlaubt sich nicht nur die gröbsten und unschick- lichsten Schmähungen, er frohlockt nicht allein über Julians Tod, er macht nicht allein alle seine Tugenden zu Laslern, sondern er geht hämisch .seine ganze Lebensgeschichte durch, um zur Er- bauung der Gläubigen zu beweisen, dass ein Ungläubiger noth- wendig auch ein Nichtswürdiger sein müsse."

Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler. 411

auf ihn hält , Über seinen Tod laut jubelt, dass er ihm kör- perliche Gebrechen vorwirft, alle seine Fehler übertreibt und alle seine Tugenden zu Lastern macht, dass er ganz keck offenbar lügt und verläumdet, wird man gewiss von dem Gründer eines frommen Unlerrichtssystems, das die von Ju- lian beschützten und empfohlenen Wissenschaften verdrängen oder ersetzen sollte, nicht ahnen. Dennoch ist es leider nur zu wahr und sein Freund und Genosse Basilius sucht ihn durch seine Predigten kräftig zu unterstützen oder we- nigstens Gregorys Schimpfreden zu verbreiten und anzuprei- sen, empfiehlt sie den christlichen Studirenden und kann nicht Worte genug finden, ihren ästhetischen Werth zu prei- sen. Er selbst hat auf ähnliche Weise gegen Julian geredet und Baronius, so wie die Benedictiner, die Gregorys Werke herausgegeben haben, rühmen es als das grösste Verdienst des heiligen Mannes, dass durch diese nach Julians Tode (als dieser selbst sich nicht mehr vertheidigen konnte und Freunde ihn nicht mehr vertheidigen durften) gehaltenen Reden seinem Andenken ein ewiges Brandmal aufgedrückt sei." Wer diese Reden aus eigener Anschauung kennt, der weiss, dass dieses Urtheil keine Ueberlreibung ist. Nicht nur ist es stehend, dass Julian ein Unsinniger und Gottloser, ein Meuchler und Apostat genannt wird, ♦) sondern Gregor stellt auch alle Handlungen desselben, selbst solche welche mit der Religion entfernt nichts zu thun haben, wie seinen Partherzug **) auf die giftigste Weise dar und bürdet ihm auf die keckste Weise die grüssten Verbrechen auf. So soll Julian den Constantius haben vergiften lassen, ***) und dass er Alles was unter seiner Regierung die lange gedrückten Hellenisten gegen die Christen verübten, angestiftet hat, f) versteht sich von selbst. Gregor ist Sophist und des So- phisten Geschäft ist ff) die Geschichte nach Bedürfniss zu

*) Vgl. z. B. 94 C. **) p. 115 f.

*•*) p. 68 B. Dazu bemerkl Schlosser, ünivers.-üebers. HI, 2. S. 33S: „solche Vcrl'aumdung, ein so feines und so sanftes Ver- klagen ist ärger als Mord!''

+) z. B. p. 88 A. +t) Vgl. Sokrates K. G. ffl, 23, p. 161 C.

412 Der Kaiser Julian und seine Beurtkeiler.

drehen, die Facta zu Übertreiben, oder auch zu verkleinern, wie es der Zweck verlangt; zugleich ist Gregor herrschsüch- tiger Priester, der es dem Kaiser nimmermehr verzeihen kann, dass er dem Klerus seine Vorrechte genommen; man wird es daher erklärlich finden, aber verzeihlich durchaus nicht, dass er die Geschichte Julians auf eine solche Weise behandelt hat, dass man sich auf keine einzige seiner An- gaben mit Sicherheit verlassen kann. Aber wie soll man es erklären, geschweige denn entschuldigen, wenn dieser christ- liche Bischof, dieser kanonisirte Kirchenvater, der seine Rede Gott als Dankopfer darbringen will, heiliger und reiner als das Opfer eines unvernünftigen Geschöpfes, *) mit sichtba- rem Behagen die grässlichen Grausamkeiten, welche vom hellenistischen Pöbel zu Arethusa an dem Christen Marku« verübt worden seien, auf seine Weise beschreibt, und dann hinzusetzt: dieser Markus sei einer von denen gewesen, welche dem Julian in seiner Kindheit das Leben gerettet (ein Datum, das aber sehr unzuverlässig ist), „wofür al- lein wohl er dies mit Recht erlitten hat und noch Aergeres verdient hätte, indem er unwissentlich ein so grosses Uebcl für -die ganze Welt gerettet hat." **) Man beurtheile hienach, was dieser Mann, wenn er Julians Macht und Richtung ge- habt hätte, gegen die Christen getlian haben würde ***) und bedenke, was dagegen Julian gethan hat, welcher so fest wie Gregor überzeugt war, die wahre Religion zu besitzen. Und dann dieser Heroismus, womit der Bischof auf den tod- ten Löwen loshaut, dieser Mulh, womit er ihn ins Gesicht einen Einfältigen und Gottlosen nennt, der von hohen Din- gen Nichts verstehe, f) einen Verfolger wie Herodes, einen

*) p. 50 C. **) Man muss die Stelle im Originale lesen; vmqovjdxf^ fiövov S^xafwg zavza anacx^ xul nXsfw nqoanu&iiv äl^tog ^v ön xaxov jocovTO rg olxov^ivri ndat] cw^wv iXdv&uve, p. 90 D.

*•*) Doch ist anzuerkennen, dass Gregor nach Julians Tode als die Christen wieder Sieger waren, vor Gewalllhäligkeilen ge- gen die Hellenisten warnte.

f ) p. 76 A. Gerade dasselbe halle übrigens vorher Julian von den Christen gesagt. Ep. 52. p. 102 Heylcr.

Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler. 413

Verrillher wie Judas (nur mit dem Unterschiede, dass er sich nicht wie dieser aus Reue erhenkt habe), einen Chri- stusmörder wie Pilatus, einen Gottesfeind wie die Juden*, *) diese edle Freimüthigkeit , womit er in sein Grab hinein- schreit: ,,was ist dir eingefallen, du Allerunersätllichster und Allerleichlfertigster, dass du die Christen der Wissenschaft berauben wolltest?"! Zwar zu Julians Lebzeiten hat er ge- schwiegen, desto kühner aber wird er nachdem das Feuer dieser Augen erloschen ist und ein christlicher und ortho- doxer Kaiser sich auf den Thron gesetzt hat. Jetzt hebt er sein Haupt stolz empor und schleudert seine Giftpfeile nach dem Gefallenen. Nichts Gutes erkennt er an ihm an; alles was so aussah, war blosse Verstellung, und mit einer un- glaublichen Dreistigkeit lügt und leugnet er selbst da, wo die Wahrheit aller Welt bekannt w^ar. So sind alle Ge- schichtschreiber Julians von Bewunderung erfüllt von Julians Keuschheit: Ammian sagt, nach dem Tode seiner Frau habe nicht einmal sein Kammerdiener in dieser Beziehung das Geringste zu munkeln gewusst, Libanius rühmt, er sei kälter gewesen als Hippolyt, und Mamertin, dass sein Bett reiner war als das einer Vestaün. Gregor aber behauptet, Julian habe mit Huren gezecht ! **) Und in dieser Weise ist seine ganze Darstellung gehalten. Je tiefer aber der Schatten ist, der auf Julian fällt, in desto hellerem Lichte strahlt das Bild seines Vorgängers, des Constantius. Denn er war ein gar gottesfürchtiger Herr: er hat Gregor zum Bischof ge- macht. ***) Dafür wird aber auch von ihm gesagt, dass er alle Regenten vor ihm an Einsicht und Klugheit übertrof- fen, f) und nur weil Julian gefühlt habe, dass er im Guten seinen Vorgänger nicht überbieten könnte, habe er sich entschlossen, im Schlechten, in der Gottlosigkeit mit ihm zu wetteifern, ft) Zwar habe Constantius die Orthodoxen ein

*) p. 76, C. D.

**) p. 121 C. Eine Behauptung, welche um so dreister ist, als gerade die Keuschheit die schwächste Seite der christlichen Kleriker war. Vgl. Schlosser, üuiversalhist. üebers. HI, 2, S. 318 f. *) p. 65 C. f) p, 65 A, f t) p. 65 A,

•*»^

414 Der Kaiser Julian und seine Beuriheikr.

klein wenig verfolgt, aber es sei nur geschehen, um sie zur Eintracht zu ermahnen; *) nur einen einzigen unklugen und unfrommen Schritt habe Constantius gethan, den nämlich dass er Julian seinen Nachfolger werden Hess, **) d. h. dass er ihn nicht auch umgebracht hat Ueberhaupt wurde es bei den Kirchenschriftstellern Sitte, Constantius auf alle Weise zu rühmen, was er einzig und allein dem Umstände zu danken hat, dass Julian sein Nachfolger war; denn wäre der Athanasianer Jovian unmittelbar auf ihn gefolgt, so hätte es gar nicht gefehlt, dass Constantius der Arianer, welcher Athanasius und andere Bischöfe seines Glaubens verbannt hat, mehr als ein Jahrtausend lang als ein grausamer Tyrann, ein ungläubiger Verfolger des göttlichen Wortes, als ein Christusfeind u. s. f. von den orthodoxen Schriftstellern ver? schrieen worden wäre} auch über seine sonstigen Grausam^ keiten, z. B. die Ermordung aller seiner Verwandten^ hätte man dann nicht so die Augen zugedrückt, wie es jetzt' ge- schehen ist. Theodoret z. B. fällt ***) über ihn das milde Urtheil: wenn er auch verblendet von seinen Lenkern, den Ausdruck Homousios f ) nicht angenommen habe, so habe er doch dem Sinne nach denselben aufrichtig bekannt! Der- selbe Kirchengeschichtschreiber schliesst sein drittes Buch mit den Worten: „ich will mit dem Jubel über den Tod des Tyrannen (Julian) mein Buch beschliessen; denn ich halte es nicht für erlaubt, die gotlesfürcbtige Regierung (des Jo- vian) an die gottlose Despotie (des Julian) anzuknüpfen/^ Es genüge dies zu seiner Charakteristik, um so mehr als seine Arbeit, wenigstens in dieser Partie wenig Eigenthüm- liebes hat. Wie jener benutzt auch Sozomenus sehr stark seine Vorgänger Gregor und den sogleich zu erwähnenden Sokrates; indessen theilt er auch manche wichtige Docu- mente mit, namentlich Briefe Julians, von denen wir ohne ihn Nichts wüssten. Was er bei seinen Glaubensgenossen

•) p. 64 C. **) p. 63. ***) K. G. m, 3, p. 126 D.

f) Von Christus gebraucht: gleichen Wesens mit Gott, das Schiboleth der Athanasianer, dagegen das der Arianer: er sei ho- moiousios, d, h. ähnlichen Wesens.

Der Kaiser Julian und seine Beuriheiler, 415

und Vorgäogern findet, ist für ihn Geschichte, und so wird was Gregor als Declamator erfunden und übertrieben, durch den Mund der Historiker 'als Wahrheit auf die Nachwelt gebracht. Was die geistige Befähigung des Schriftstellers betrifft, so ist er, wie seine ganze Zeit im höchsten Grade abergläu-* bisch; Wunder und Prodigien werden in Menge und in der abenteuerlichsten Gestalt erzählt und mit Sorgfalt ausgedeu- tet. So berichtet er z. B. *) nach Gregors Vorgang, Julian habe einst in den Eingeweiden eines Opferthiers ein Kreuz erblickt *, ein andermal, **) das vom Blutfluss geheilte Weib habe aus Dankbarkeit Christo eine Statue gesetzt (von der man übrigens, wie Philostorgius Yll, 3. naiv erzählt, nicht einmal mehr gewiss wusste, ob sie Christus vorstelle), an deren Fuss ein Kraut gewachsen sei, das alle Krankheiten geheilt habe; wie Julian an die Stelle dieses Bildes sein ei- genes habe setzen lassen, sei dieses alsbald vom Blitze ge- troffen worden. Auch weiss er von einem Baume, der sich vor Christus auf seiner Flucht nach Aegypten geneigt habe und dafün. mit der Kraft beschenkt worden sei, dass jeder Zweig, jedes Blatt oder Stück Rinde von demselben, einem Kranken aufgelegt, ihn gesund mache. Besonders viele Wunder aber veranlasste, nach den Kirchengesohichtschre ibern Julians Versuch, den Tempel zu Jerusalem wieder aufzubauen. Die Ej^e bebte damals, am Himmel stand ein leuchtendes Kreuz gezeichnet und dieselbe Figur glänzte auf einmal wunder« barer Weise auf den Kleidern aller Anwesenden, und anderes Derartige, was bei Gregor p. 112 f. Sozom. V, 22, Theodoret p. 143 A. und Philostorgius VII, 9 zu finden ist. Uebrigens wirft auf das Misslingen jenes Wiederaufbaues einiges zwei« deutige Licht der von Gregor verschwiegene, von dem red- lichen Sokrates ***) aber bemerkte Umstand, dass das Fehl- schlagen des Versuchs von dem damaligen Bischof von Je- rusalem, Cyrill, vorausgesagt worden war. Diesen allge- meinen Wunderglauben also theilt Sozomenus in extremer Weise und ein grosser Theil seiner Geschichte besteht aus

*) K. G. V, 2, p. 482 A. vgl. 1, p. 480 D, *•) V, 21. **•) m, 20.

416 Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler.

solchen Mährchen. Wie es aber mit seinen sittlichen Begrif- fen sich verhalte, davon mag sein Urtbeii über das Gerücht, dass Julian von einem Christen gemordet worden sei, eine Probe abgeben. Er sagt nämlich *) : „vielleicht ist dies auch wahr; denn es ist gar nicht unmöglich, dass einem Soldaten einfiel, dass von den Hellenen und Jedermann **) bis auf den heutigen Tag die Tyrannenmörder gepriesen werden als Solche, die sich für die allgemeine Freiheit geopfert ha- ben. Kaum wenigstens dürfte man einen tadeln, der für Gott und seine Religion eine mannhafte Thal verübf Selbst Tillemont findet diese Aeusserung auffallend, und Bleterie giebt zu bedenken, dass Sozomenus kein eigentlicher Kirchen- vater, also keine Autorität sei, meint auch, derselbe müsse mehr das heidnische Alterthum studirt haben, als die Moral des Evangeliums und den wahrhaft christlichen Geist. Dies ist aber in mehrfacher Beziehung unrichtig; denn es ist nicht bekannt, dass die Jesuiten, welche dieselbe Theorie erneuerten, sie gerade durch eifriges Studium des Alterthums gewonnen haben und noch weniger merkt man Sozomenus etwas Derartiges an. Sodann hatte jener Grundsatz jeden falls eine ganz andere Bedeutung in dem Leben der Heüe- nen: und einen Tyrannen, d. h. einen Herrscher, der sich ohne den Willen des Volkes und diesem zum Trotze auf den Thron geschwungen hatte und dessen Regierung das ganze Volk drückte ohne dass dieses aber offenen Aufstand wagen konnte, nur einen solchen war zu ermorden gestat- tet, weil er sich selbst ausserhalb der Gesetze gestellt hatte, nimmermehr aber einen legitimen Fürsten, der bei der gros- sen Majorität seines Volkes so beliebt war wie Julian. End- lich aber ist nicht zuzugeben, dass Sozomenus mit dieser seiner Aeusserung so vereinzelt dasteht, wie Manche glau- ben machen möchten; denn alle diejenigen Christen, welche eine so ungemessene Freude bezeugten über Julians gewalt- samen Tod, waren sie nicht der Gesinnung nach Fürsten- mörder? Und die Kirchenväter, welche in diese Freude

*) VI, 2. p. 517 D. **j lldvug ävd^qiami, fii^Qi^ vvv.

Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler. 417

einstimmten oder sie belobten, machten sie sich nicht des- selben Verbrechens schuldig? Welcher Unterschied ist zwi sehen dem heih'gen Gregor, der denjenigen verwünscht, wel- cher Julian das Leben gerettet, und Sozomenus, der dessen Ermordung vertheidigt? Und thut nicht dasselbe auch Theo- doret wenn er sagt: *) „es mag ein Mensch oder ein £ngel gewesen sein, der ihm das Schwert in die Brust gestossen hat, jedenfalls war der Thäter ein Diener des göttlichen Willens.** ? Man meine also nur nicht, jenes unsittliche Urtheil als einen individuellen Fehler des Sozomenus dar- stellen zu können; nur besonders plump hat er den Man-^el an sittlichem Gefühl und den Ueberfluss an Fanatismus den damals so Viele theilten, ausgesprochen. Der seiner Ge- sinnung nach achtungswürdigste unter den alten Kirchenge- schichtschreibern ist Sokrates; er hat wenigstens den gu- ten Willen die Wahrheit zu sagen, wenn er sich auch nicht ganz von der unter den Christen traditionellen Ansicht über Julian loszumachen weiss. So sagt er am Anfange seines dritten Buchs: „Da ich jetzt von dem berühmten *♦) Kaiser Julianus in Kürze zu reden habe, muss ich diejenigen, wel- che denselben näher kennen, bitten, keinen glänzenden Schmuck der Rede von mir zu erwarten, dergleichen nöthig wäre, um hinter einem solchen Gegenstände nicht zurück- zubleiben." (Mit diesem Schmucke kann aber auch decla- matorische Polemik im Stil des Gregor gemeint sein.) Am besten lernt man seinen Werth kennen wenn man ihn mit Gregor vergleicht, zu dem er sich verhält wie ein gewöhn- licher Mensch mit seinem gesunden Urtheil zu einem hohlen Phrasenmacher und blinden Fanatiker; z. B, von Julians Entlassung des sehr kostspieligen und drückenden unge- heuren Hofstaates behauptet Gregor ***) mit gewohnter Keckheit, der Grund sei gewesen, weil der Hof an Constan- tius und Christus anhänglich gewesen sei, und einen Theil des Personals habe Julian hinrichten lassen; Sokrates aber weiss nur von einer Entlassung und tadelt f) die Maassregel

*) in, 25. **) iXXoyffiov otvi^dg. ***) p. 75A. i) lü; 1, p. 139 A.

418 Der Kaiser JuUan und seine BeurtheUer.

nicht mit Unrecht als unpolitisch, weil nach den Begriffen des Orients der Herrscher mit einem gewissen Glanz auf- treten müsse. Je werthvoller daher Sokrates in dem ist^ was er giebt, um so mehr ist zu bedauern, dass er fast nur die das Christenthum berührende Seite von Julians Leben und Thsltigkeit genauer behandelt.

Ehe wir nun die altchristlichen Beurtheiler Julians ver- lassen, wollen wir noch mit einigen Worten seiner Wider- leger aus dieser Zeit gedenken. Julian hat nämlich nach dem Vorgang des Celsus, Porphyrius und Hierokles eine eigene Schrift gegen das Christenthum geschrieben. Die langen Nächte des letzten Winters seines Lebens, welchen er in Anliochia zubrachte*), verwandte Julian darauf, eine Kritik der christlichen Lehre zu schreiben, und während seines Partherfeldzugs scheint er das Werk fortgesetzt zu haben**), wohl ohne es ganz zur Vollendung zu bringen. Je genauer Julian in Folge vieljähriger Theilnahme das Christenthum kannte, je treffender sein Urtheil war sobald nicht seine mystischen Ideen trübend hereinspielten, je wichtiger in psychologischer wie in historischer und dogmatischer Bezie- hung dieses Werk sein müsste, um so mehr müssen wir beklagen, dass nicht Mehres davon auf uns gekommen ist. Anfangs nämlich bemühte man sich zwar, mit gleichen Waffen den Gegner zu bekämpfen: Apollinaris und Cyrill „wider- legten^' Julians Schrift und des Letzteren Selbstgewissheit verdanken wir eine Reihe sehr ansehnlicher Bruchstücke aus dem Werke. Bald aber fand man es viel kürzer und bequemer, die ungelegene Schrift dadurch zu widerlegen, dass man sie verbot und vernichtete. Der jüngere Theodo- sius gab eine Verordnung, welche später von Jusiinian wieder aufgefrischt wurde, wonach alle und jede Schriften gegen das Christenthum, welche Porphyrius oder wer es sonst sein möge verfasst habe, wo man sie auffinde, dem Feuer überantwortet werden sollen***). Aus den von Cyrill

*) Liban. Reden I, 581, 18 Reiske, vgl Julian, Ep. 36.

•*) Vgl. Bieronym. Ep. 84. ***) L. 3. Cod. de Summa Irin.

Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler. 419

uns erhaltenen Resten sehen wir, wie wenig es durchgängig richtig ist was Sokrates*) als Eigenthümlichkeit der Schrift angiebt, dass sie mit Witz und Spott das Christenthum ab- zufertigen suche. Im Gegentheil ist ihre Wichtigkeit des- wegen besonders gross, weil sich Julian von allen früheren literarischen Gegnern des Christenthums dadurch wesentlich unterscheidet, dass er aus langer Erfahrung die christlichen Quellen und Lehren genauer kannte, wovon diese Schrift allenthalben Beweise liefert. Es sind nicht mehr die alten ausgetretenen Vorwürfe von coenae Thyesteae, Oedipodei concubitus, welche den Christen gemacht werden merk- würdigerweise werfen nunmehr die Christen ganz dasselbe umgekehrt den Hellenisten vor**) , sondern der Feind greift jetzt den Mittelpunkt an, bestürmt das Feldherrnzelt: die Lehre von der Gottheit Christi ist es vornämlich, welche Julian auf exegetischem Wege wie durch das Mitlei der de- ductio ad absurdum zu bestreiten sucht, und wobei er manchen wunden Fleck aufdeckt. Und wenn Julian den Standpunkt der reinen Vernunft festzuhalten vermöchte, wenn er sich nicht immer wieder durch Einmischung neuplatoni- scher Transcendenz selbst das Spiel verdürbe, so würde er noch viel häufiger mit den Resultaten der neueren Kritik zusamraentreflfen, als es ohnehin der Fall ist.

Indem wir aber nun zu den Darstellern und Beurlheilern Julians aus der neueren Zeit übergehen, stellen wir, schon wegen der näheren Anschliessung an das Vorhergehende, dann weil sie lange Zeit allein das Wort geführt haben, billigerweise die Theologen voran, wozu wir auch alle die französischen Abbö^s der früheren Zeit rechnen. Wir halten uns dabei nicht streng an die Zeitordnung, sondern theilen ein nach Farben und Ansichten, ohne aber im Geringsten auf Vollständigkeit Anspruch machen zu wollen.

Zuerst die Theologen im classischen Stil, welche in die Fusstapfen Gregors von Nazianz treten. Unter diesen ist

•) m, 23, vgl. p. 162 A. **) Vgl. z. B. Sokr. HI, 13, p. 152. Thcodorel. HI, 26 f. Gregor. Naz. or. IV, p 121 C.

420 Der Kaiser JuUan und seine Beurtheiler.

ohne Zweifer seinem Vorbilde am nächsten gekommen der auch sonst in der Geschichte der Historiographie mehr be- rüchtigte als berühmte Baron ins, der von ganzen Haufen Märtyrern unter Julian spricht und es Jovian zum Vorwurf macht, dass er seinen Vorgänger Julian auf glänzende Weise habe beerdigen lassen, da derselbe doch nichts Besseres verdient hätte, als auf den Schindanger geworfen zu werden*). Merkwürdige Schicksale hatte Julian unter den Händen von Lamothe-le Vayer. Dieser hatte eine Schrift de ia vertu des payens geschrieben, worin er Julians Vorzüge nach Ge- bühr anerkannt und ihn den Ersten unter den Kaisem ge- nannt hatte. Dies erregte aber unter den Fanatikern seiner Zeit einen ungeheuren Sturm, in Folge dessen Lamothe in einer zweiten Auflage Alles zurücknahm und die Erklärung abgab: si j'ai loue ce maudit apostat, c'est que le diable tout mescbant qu41 est, ne laisse pas que d'avoir quelque chose de bon. Aber einer seiner Nachfolger, Jondot, der unter der Restauration ein zwei Bände starkes Werk über Julian schrieb, eine blosse Schmähschrift, voll des wider- lichsten Fanatismus, ohne anderen Werth als den einer Cu- riosität begnügte sich nicht einmal damit, indem er an dem Teufel entfernt nici;it quelque chose de bon anerkennen kann. Von Julians Schrift gegen das Ghristenthum behauptet er, sie enthalte presqu'en germe tout le „dictionnaire philo- sophique". Dass die Beurtheiler dieser Art in der neueren Zeit selten werden, dass es ein Ausnahmsfall ist, wenn wieder einmal ein recht saftig fanatisches Urlheil in die über- raschte Welt hineinplumpt, liegt in der ganzen Entwicklungs- geschichte der neueren Zeit; aber eben so sehr liegt es in der Natur der Sache, dass die derartigen Urtbeile alle ein- ander ausserordentlich ähnlich sehen^ und wir wenden uns daher gleich zu einer anderen Art von theologischen Be- urtheilern, zu denen, welche im Anfang überaus freundlich und süss sprechen und alles mögliche Gute anerkennen, mit

*) Denn dies ist ohne Zweifel der Sinn seines Ausdrucks: vir ne cacspicia qvidem sepultura dignus.

Der KaUer Julian und seine Beurtheiler. 421

einem Male aber überaus ernst werden, ihr Gesiebt in Falten legen und ein dumpfes, drohendes, oder auch ein wehmü- thig seufzendes Aber, Aber! anstimmen, und durch den Nachsatz alle Einräumungen des Vordersatzes über den Haufen werfen. Diese Gattung ist sehr zahlreich, wir be- gnügen uns aber einige besonders interessante Exemplare vorzuzeigen. Schon in der altchristlichen Zeit kommen der- gleichen vor, welche es einerseits mit ihrem Wahrheitssinn nicht vereinigen konnten, über Julian geradezu den Stab zu brechen, denen andererseits aber ihr Vorurlheil nicht er- laubte, demjenigen, der gegen ihre Kirche sich unfreundlich bezeigt hatte, unbefangene, rückhaltslose Anerkennung zu zollen. So urtheilt Augustinus*): apostatae Juliani egre- giam indolem decepit amore dominandi sacrilega et de- lestanda curiositas. Dies kann man sehr häufig bei den chrisllrchen Schriftstellern lesen, dass das Motiv von Julians „Abfall*^ Herrschsucht gewesen sei; aber es ist durchaus irrig. Im Gegentheile war es ja gerade höchst unpolitisch, dass Julian seine persönlichen Sympathieen so sehr vor- andrängle; hätte er die Christen unterstützt, die Hellenisten aber geduldet, oder umgekehrt, so halte er zwar weniger warme Freunde gehabt, aber auch keine Feinde; auch hat er ja vielmehr gerade in der Zeit, wo er herrschsüchtige Gedanken etwa hegen konnte, den Schein der ChrisUichkeit angenommen, oder, wie Libanius**) es boshaft ausdrückt, die Eselshaut über seine Löwcnglieder gezogen. Mit unbe- dingterer Anerkennung spricht sich der christliche Dichter Prudentius***) über Julian aus, indem er unter Anderem Folgendes von ihm aussagt:

Ductor forlissimus armis,

Conditor et legum celeberrimus, ore manuqve, Consullor patriae, sed non consultor habendae Reliigionis, amans tercentum millia Divum, Perfidus ille Deo, qvamvis non perfidus orbi.

•) de civ. D. V, 21. *•) Reden I, 528 Reiske. •••) ApoUi. V. 449 ff.

XUg. Zeitschria f. Geaekiehte. V. 1816. 29

422 Der Kaker Julia» und seme BeurtheUer.

So wenig unventimmi durch Julian's religiöse Richlang haben sich die Späteren selten ausgesprochen. In Spanheim's Vor- rede zu seiner Ausgabe von Julian's Schriften, in Bieterie's Buch über diesen Kaiser langweilt dieses ewige Sichver- wahren gegen Bewunderung des Apostaten, dieses unauf- hörliche Achselzucken, dieses jedem Lob in unerträglicher Monotonie nachhinkende: „aber freilich war er ein Apostat!^' Noch unausstehlicher ist aber das regelmässige Berichtigen der Worte Julians. Z. B. kann Spanheim nicht anführen dass Julian sage, er habe in Gallien nur einen einzigen Sciaven als Mitwisser seiner frommen Verehrung der Götter gehabt,^ ohne sogleich hinzuzusetzen: oder vielmehr seiner schänd- lichen Versündigung gegen den einzigen wahren Gott*). Bin besonders naives und lehrreiches Beispiel dieser Art ist der Verfasser des grossen Werks über die römische Kaiser* geschichte, Tille mont. Dieses Werk enthält eine Überaus fleissige und gründliche Zusammenstellung einer ausseror- dentlichen Menge von Daten, aber ohne alle Verarbeitung und historische Kritik (ausser in ganz untergeordneten Punk- ten). Denn wie vertrüge sich diese mit dem pflichtschul- digen Respect vor dem Saint Gregoire de Nazianze? Und Tillemont ist ein so eifriger, orthodoxer Katholik, dass er nicht nur gegen die Gegner des Ghristenthums, sondern auch gegen die Häretiker die entschiedenste Eingenommen- heit beweist, und die Ausbrüche eines hässlichen Fanatismus sind das Einzige, was er von Raisonnement seiner Notizen- sammlung beigefügt hat. Merkwürdig ist, wie sich dieser Fanatismus mit jeder Auflage gesteigert hat, was um so mehr in die Augen springt, weil er die späteren Zusätze immer selbst durch eckige Klammern ausgezeichnet hat. So heisst es**) von der Magie: Tinclination qu'avoit d^jä Julien pour cette science [diabolique]; anderswo *♦♦): il demanda h sa Minerve de perdre plutot la vie que d'estre obligö d'aller

•) erga Deos pietatis, ut ille ait, immo foedissimae in

unum verum Deum impielalis. **) IV, 8, 491 der Ausgabe von 1723. ***) IV, S. 497.

Der Kaiser JuUan und seine Beurtheiler. 423

k la Cour. [Mais sa Minerve avoit aussi peu le pouvoir de l'asstster que de se tirer eile mesme des feux de Penfer.] Oder*) von Julian: les Images de ce [miserable] priuce. Auch folgende Bemerkung kam erst spater hinzu**): Dieu suscita contre Julien Tesprit de S. Gregoire de Nazianze qui dans la chaleur que luy donnoit la grace encore toute nou- velie de son sacerdoce, anima tout ce qu'il avoit d'esprit et d'öloquence, pour representer k la posteritö par des couleurs aussi vives que naturelles le vöritable portrait de ce monstre de l'impiötö. Dies verdiente freilich eher einen Platz unter der vorigen Rubrik; dagegen enthält eine unver- gleichlich schlagende Darstellung des zvsreiten Standpunktes das nachstehende schon in der früheren Auflage enthaltene Gesammturtheil über Julian *♦♦): Quoy qu'on dise de ceprince, son apostasie seule et la persöcution qu'il faisoit (??) aux Chretiens, suffisoient pour effacer des qualitöz en- core plus avantageuses que toutes cejles qu'on luy peut attribuer.

Ist diese Gattung von Fanatikern ausgestorben? Wird sie jemals aussterben? War nicht ganz dasselbe, um hun- dert anderer Fälle nicht zu gedenken, erst vor wenigen Wochen an dem Grabe eines Ehrenmannes in Köln zu ver- nehmen? Als Mensch und als Bürger, an Geist, Herz und Charakter sei Hoffmeister untadelig, ja musterhaft gewesen, aber, aber nicht kirchlich, und dieser eine Mangel werfe einen Makel auf sein ganzes Leben, den alle seine Vorzüge nicht, auszulöschen im Stande seienl Der Mund, der diese Anklage ausgesprochen, hat eben damit zugleich die bered- teste, glänzendste Rechtfertigung des Verstorbenen gegeben. Denn wo dies der Geist der Kirche ist, wo solche Ansichten gepredigt werden, wo sie selbst auf den Ruheplatz der Todten sich eindrängen, da muss ja wohl ein religiöses Ge- müth und ein heller Geist abgestossen werden und die re- ligiöse Anregung die er in der Kirche nicht findet, sich selbst auf anderem Wege zu verschaffen suchen.

•) IV, S. 560. *•) IV, 561 f. •**) IV. S. 554.

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424 Der Kaiser JuUan und seine Beurtheikr.

Unier den Theologen der neuesten Zeit hat Wiggers vom christlichen Standpunkt aus eine unverholene Abneigung gegen Julian ausgesprochen, indem er sich*) wörtlich also vernehmen lösst: „Die Affeetation, mit welcher Julian stets von sich redet und seine guten Gesinnungen preiset, die erborgten Phrasen, die hämische, mehr als Voltairesche Art, mit welcher er von dem Stifter des Ghristenihums spricht, verrathen etwas Unlauteres in ihm und es geht Einem bei der näheren (??) Bekanntschaft mit dem Julian wie mit manchen lebenden Menschen, in deren Gegenwart man sich nicht wohl fühlt und in deren Nähe Einem unheimisch zu Muthe wird'S Wer ein so reizbares Nervensystem hat, dem kann man keinen bessern Rath geben, als die Nähe solcher Menschen und noch vielmehr solcher Schriftsteller zu meiden, und sich einen Gegenstand zu suchen, bei welchem ihm „heimischer zu Muthe wird''; die Wissenschaft kann dabei nur gewinnen. ^Julian hat gewiss Hrn. Wiggers nicht aufge- sucht, sich ihm nicht aufgedrängt; so möge auch Hr. Wiggers sich Julian, dem „unheimlichen^' Julian nicht aufdrängen. Uebrigens sollte, wer nur etwa in einer lateinischen üeber- setzung die Überall angeführten Hauptbeweisstellen für einen einzelnen Zweck nachgelesen haben kann, nicht die Miene annehmen, als hätte er die „nähere Bekanntschaft" des Ju- lian gemacht und durch sein apodiktisches Absprechen das Publikum irre zu führen suchen. Die fragliche Abhandlung enthält Nichts als eine ordinäre altpragmatische Entwicklung der Gründe warum Julian „abtrünnig" geworden sei, wobei ganz unwesentliche Punkte, wie die Persönlichkeit seiner christlichen Lehrer, das Betragen des Constantius gegen ihn und seine Familie u. dgl., welchem Allem zum Trotze er doch vielmehr bis in sein zwanzigstes Jahr beim Christen- thume blieb, zur Hauptsache gemacht werden; dann wird mit Prätension die ganz illusorische, unrichtige und nichts- sagende Unterscheidung vorgetragen, dass Julian Anfangs nur ein Verfolger des Christenthums, nachher aber auch

*) Zeilschr. für histor. Theologie, J. 1837, S. Ii7.

Der Kaiser Julian und seine Beuriheiler. 425

der Christen gewesen sei; Neander habe „zu günstig" über Julian geurtheilt und andere Trivialitäten. Namentlich aber wird ein von seinem Urheber längst wieder desavouirtes Urtheil Schlosser's aufgewärmt und als die „rechte Mitte^^ haltend bezeichnet, worin der Vorwurf der YerstelluDg die Hauptrolle spielt. Keinen Vorwurf sollte man aber mit mehr Behutsamkeit aussprechen, als eben diesen. Nur wenn man auf die unzweideutigste Weise von der wahren Gesinnung eines Mannes unterrichtet ist, hat man ein Recht dazu. Wo- her kennen aber jene Ankläger Julians wahre Gesinnung? Aus den Angaben der christlichen Schriftsteller. Weil dem Bilde Julians, welches sich aus diesen ergiebt, dessen eigene Worte nicht entsprechen (so wenig als die Berichte unpar- teiischer Schriftsteller), die Glaubwürdigkeit jener Schrift- steller aber Hrn. Wiggers feststand , so mussten Julians Worte als eitel Trug und Verstellung erscheinen. Bei Anderen mag sich hinter diesen Vorwurf das Unbehagen darüber ver- stecken, dass ihre vorgefasste Ansicht durch den klaren In- halt von Julians Schriften so wenig bestätigt wird. Wem aber die aufgedrungene Maske der Ghristlichkeit so zuwider war wie unserm Julian, wer sie in dem ersten Momente, wo der Druck der Verhältnisse nachliess, wo er frei athmete, mit solcher Hast und Leidenschaft abwarf*) , den kann am letzten der Vorwurf der Verstellung mit Recht treffen. Einen Schwätzer mag man ihn nennen, aber ein Heuchler war er nicht.

Einen bedeutenden Anlauf zu einer unparteiischen Be- urtheilung Julians nahm der wegen seiner Sympathie Tür alles Häretische so vielfach gescholtene berühmte Verfasser der „Kirchen- und Ketzer-Historie", der Mystiker Gottfr.

*) Vgl, Gregor v. Naz. or. III, p. 70 A: „kaum war er im Be- sitz der Kaiserwürde, als er offen seine Gottlosigkeit bekannte, als schämte er sich einmal ein Christ gewesen zu sein oder als zürnte er darob den Christen '^ Dazu s Gibbon IV, S. 89 der Wiener Uebers. Ep. 12. schreibt Julian einem Freunde: „dann sprechen wir einander ohne die höfische Verstellung", von der er also kein Freund gewesen sein moss.

426 Der Kaiser Julian und seine BeurlheUer.

Arnold. Aber sein Vorgang halte bei der rationalistischen Partei unter den Theologen gerade die entgegengesetzte Wir- kung. Die Rationalisten waren in Verlegenheit, ob sie, als Gegner der beschränkten Orthodoxie, den von den Ortho* doxen geschmähten Julian in Schutz nehmen ^ oder ob sie, als Gegner des Pietismus, den von einem Pietisten gerühm* ten Julian schmähen sollten; und bei den Meisten siegte der nähere persönliche Hass gegen den Pietismus und sie schmäh- ten auf Julian, wobei sie zugleich den Vortheil hatten, als besonders eifrige Christen zu erscheinen. Das Gefühl des ungeheuren Unrechts, welches seit vielen Jahrhunderten von den entgegengesetztesten Seiten auf einen edlen Menschen und wohlmeinenden, tüchtigen Fürsten gehäuft worden war, war es gewiss, was Neander zu der Milde der Beurthei- lung stimmte, weiche er in seiner Monographie über Julian (vom Jahre 1812) bewiesen hat. Damals gab er sich noch ganz seinem weichen Gemüthe hin, war noch nicht durch Erscheinungen, mit denen er geistig nicht fertig zu werden wusste, in seinen heutigen Fanatismus gegen alles Nicht* christliche hineingetrieben*) Dadurch wird seine Schrift allezeit einen menschlichen Werth behalten, wei^n man auch ihre wissenschaftliche Bedeutung nicht eben so hoch stellen kann. Das Ueberlragen seiner eigenen Gemüthlichkeit in die historischen Erscheinungen die er darzustellen hat, welches in seinen späteren Schriften immer stärker und störender wurde, tritt schon in der Abhandlung über Julian hervor und bringt in des Helden Bild einen Zug von Weichheit, welcher in diesem Grade keinesfalls vorhanden war. So behauptet er, es habe den Julian von Kind auf „nach oben^^ gezo|;en, weil er sich nämlich der Strahlen der Sonne und des Schimmers der Sterne mit jugendlicher ahnungsvoller Träumerei erfreute, und legt unverhältnissmässiges Gewicht auf Ereignisse im Leben des Julian, wie die Ermordung seines Halbbruders Galius, welche zwar sein Misstrauen und seinen Zorn gegen Gonstantius erregt haben, aber diese

*) Bier möchte ein Fragezeichen an der Stelle sein. Red.

Der Kaiser Julian und seine Beurtheikr, 427

weitgehenden gemütblichen Nachklänge nicht hatten, die Neander ihnen zuschreibt.

Vermöge seiner vielseitig anregbaren, dilettantischen Weise, welche ihn von dem Volke der verknöcherten Theo- logen wesentlich unterscheiden und ihm den Ruhm eines mit der ^Gegenwart Fortgeschrittenen erwerben soll, hat der neueste Kircbenhistoriker, Karl Hase, Julian mit einer ge- wissen Liebe bebandelt. Er braucht den Ausdruck: „die Reihe der Schmähschriften gegen ihn beginnt Gregor von Nazlanz^% und nennt Julian „neben Athanasius den grössten Mann seines Jahrhunderts'^. Und allerdings mag Atbanasius an Geist und ausdauernder Willenskraft dem Julian eben- bürtig sein, doch wird dem Letzteren an Eigenschaften des Gemüths der Vorzug gebühren. Julians welthistorische Stel- lung bezeichnet Hase mit einem elegischen Worte, das auf ein Dictum des Atbanasius anspielt*): er sei „wie eine Wolke vorübergegangen*^ Vielmehr ein Gewitter war er, erfrischend die Gesunden und zittern machend die Schwächlinge, wie ein Bütz**) bat er die dumpfe, trübe Atmosphäre durch- zückt, und wäre er nicht inmitten seiner Siegerlaufbahn vom Schicksal niedergestreckt worden, so wäre er noch ein Segen geworden für das Christentbum: er hätte es heraus- gezogen aus dem Strome der Verweltlicbung und es wieder zu sich selbst gebracht, er hätte es genöthigt, wieder ganz und rein das zu werden, was es von Anfang war, Re- ligion.

Verlassen wir die theologischen Beurtbeiler und wenden wir uns zu den Historikern von Fach, so können hier nur Gibbon und Schlosser in Betracht kommen. Vielleicht in keinem Theile seines grossen Werkes bat Gibbon so viele Seiten seiner Weltanschauung blosgelegt wie in dem Ab- schnitte über Julian***). Wir sehen hier einerseits den klaren Denker, den kühlen, aufgeklärten Mann, der über dem theologischen Gezanke steht, es durchschaut und be-

*) Sokr. m, 14. Sozom. V, 15, p. 500 B. Tbeodoret. DDE, 9. ♦*) Vgl. Liban. Reden I, S. 618. 625 Reiske. ***) Besonders im vierten Bande.

428 Der Kauer Julian und s^ne BeurtheUer.

lächelt, andererseils den Politiker, der eine positive Religion als ein Staatsbedilrfniss betrachtet und in der christlichen diejenige erkennt, welche wegen mannichfacher YorzUge am geeignetsten sei und dem Zwecke am besten entspreche, daher auch festgehalten und unterstützt werden müsse. Seine eigene Religion ist die sogenannte natürliche, ist die Moral. Mit schlecht verhehltem Spotte redet er an vielen Stellen von angeblichen Wundern} so bemerkt er*) in Bezug auf die Erzählung des Gregor, dass der Theil des christlichen Mo- numentes, welches Julian in Gemeinschaft mit seinem Bruder in seiner Jugend errichtete, beharrlich von der Erde abge- schüttelt worden sei, während Gallus' Antheil stehen blieb : „Solch ein parteiisches Erdbeben, bezeugt von vielen leben- den Zuschauern, würde eines der hellesten Wunder in der Kirchengeschichte bilden'^. Zu einem anderen**) bemerkt er ironisch: „der Leser wird nach dem Maasse seines Glau- bens diese tiefe Frage entscheiden" und ein andermal***) macht er die schalkhafte Anmerkung, dass sehr wenig ge- fehlt hätte, so wäre Julian Bischof, vielleicht Heiliger ge- worden. Einen „theologischen Philosophen" pennt erf) einen „sonderbaren Centaur" und ärgert sich darüber, dass in Julians Zeit die Philosophen, die Priester der Aufklärung, die abergläubische Leichtgläubigkeit des Menschengeschlechts betrügen halfen. Das Christenthum ist ihm „ein theologi- sches System, welches das geheimnissvolle Wesen der Gott- heit erklärt und die grenzenlose Aussicht in unsichtbare und künftige Welten eröirncl"ft); und von Julians „theologi- schem System'* erkennt erfff) an, dass es „die erhabenen und wichtigen Grundsätze der natürlichen Religion enthalten zu haben** scheine. Wenn aber in beiden die natürliche Religion enthalten ist, und andererseits in beiden zugleich viel Aberglaube, so kann der Deist keinen rechten Grund zu dem auffallenden Schritte eines Religionswechsels er-

*) Bd. 4, S. 72, Anm. 8 der Leipziger Uebersetzung.

*•) IV, 84, Anm. 24. ***) IV, 72, Anm. 7. i) IV, 90, Anm. 31.

it) IV, S. 73. itt) IV. S. 79.

Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler. 429

kennen, und er nennt es daher*) einen „sonderbaren Wider- spruch'% dass Julian „das heilsame Joch des Evangeliums verachtete, während er auf Jupiters und Apolls Altären ein freiwilliges Opfer seiner Vernunft darbrachte'* (nämlich statt eines unfreiwilligen auf dem Altare des christlichen Gottes, ein Widerspruch der sich von selbst löst). Er gesteht zu**), dass das einzige Drangsal, welches Julian den Christen auf- erlegte, darin bestand, dass er sie „der Macht beraubte, ihre Mitunterthanen zu quälen, die sie mit dem gehässigen Namen Götzendiener und Ketzer brandmarkten ^^ Anderer- seils aber spricht er am Schlüsse seiner Erörterung***) von „Julians schlauem System, wodurch er die Wirkungen von Verfolgung zu erlangen hoffte ohne das Strafbare oder Ta- delnswerthe derselben auf sich zu laden". Und worin soll diese schlaue Politik bestehen? Darin vomämlich, dass er den Christen gebot, die unter der vorigen Regierung von ihnen zerstörten hellenischen Tempel wiederherzustellen, dass er dem christlichen Klerus seine Privilegien nahm, dass er Hellenisten vorzugsweise die Staatsämter übertrug und der- gleichen f). Aber hätten unter seiner Regierung die Helle- nisten christliche Kirchen zerstört, so wären jene ohne Zweifel, und mit Recht, da es noch dieselbe Generation war, von den christlichen Kaisern zum Ersätze des widerrechtlich Verdorbenen angehalten worden. Und was das Zweite be- trifft, so kann man nur vom Standpunkt des abstracten Po- litikers aus es „hinterlistig" finden, wenn Julian „die Christen aller der zeitlichen Ehren und Würden berauben wollte, welche sie in den Augen der Welt ansehnlich machtenff)". Denn entweder beruhte der Werth ,des Christenthums vor- zugsweise oder allein auf diesen äusseren Stützen, dann hatte der hellenistische Kaiser nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, diese Stützen wegzuziehen; oder ruhte das Cbristenlhum auf noch ganz anderen Säulen, dann ist nichts Hinterlistiges an Julians Verfahren, dem man doch nicht zu-

♦) IV, S. 76. •*) IV, S. 93. •♦*) IV, S. 151. f) IV, S* 127 f.

ff) IV, s. tu.

430 Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler.

iDuthen kann, dass er seinen Gegnern die Mittel ihm zu schaden und entgegenzuwirken selbst hätte in die Hände geben sollen. Wir sehen , unser Historiker weiss von seiner Politik die temporären und nationalen Bestandtheile nicht wegzubringen, und er hat es noch nicht weit gebracht in der Kunst, sich in gewesene Zustände hineinzuversetzen und sie mit ihrem Maasse zu messen; es fehlt ihm an reiner hi* storischer Objectivität und seine Unbefangenheit und Unpar* teilichkeit geht nur so weit, als seine persönliche Indifferenz; eine principielle ist sie nicht.

Mit Ansprüchen dieser Art dürfen wir an Sehlosser's Meisterwerk *) nun freilich gar nicht herantreten, wenn wir uns

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dessen erfreuen wollen. Derehrwürdige hochverdiente Veteran der deutschen Historiographie wird selbst entfernt nicht darauf Anspruch machen, ein historischer Künstler zu sein, wird viel* leicht sogar die Zumuthung der Objectivität von sich weisen« Schlosser^s grosse Vorzüge liegen auf einer ganz andern Seite. Die Geschmeidigkeit des Geistes, welche in^ jeden Stoff sich ver* senkt, mit Liebe ihn umfasst, ihn in sich wiedererzeugt und ein treues Abbild davon zur Welt bringt, kurz der weibh'che Theil der Functionen des Historikers, ist nicht seine Sache; er ist durch und durch Mann, ein gesunder, körniger, sogar eckiger Mann. Seine Charakteristik der historischen Erschei- nungen bildet sich dadurch, dass er mit seiner festgeschios- senen, undurchdringlichen Persönlichkeit an sie herantritt und sie an ihr sich brechen lässt, dass er sich mit ihnen misst, dass er ihre Abweichungen von seinem Wesen her* vorkehrt. Alle seine Charakteristik ist Kritik , ist fieurthei- lung nicht Darstellung. So erreichen wir zweierlei, dass wir ein Bild von der geschichtlichen Gestalt bekommen und dass wir zugleich über sie hinausgeführt werden. Das Vor- walten der zweiten Seite macht, dass der Eindruck der

*) Ulliversalhistorische Uebersicht der Geschichte der alten Welt und ihrer Cuilur. Die zweite und dritte Ablbeiiung des dritten Xheiles (III, 2. 3) kommt für unseren Zweck vorzugsweise in Be- tracht.

Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler, 431

Sefalosser^schen Darstellung nicht sowohl ein veranschauli- chender, versinnlichender ist, sondern ein anregenderi er- frischender, kräftigender, so zu sagen versittlichender. Gei- stige Freiheit und sittliche Kraft ist es, was man aus seiner Geschichte schöpft. Von einer solchen Methode sind aber andrerseits Mängel unzertrennlich. Einmal erhalten wir von den historischen Erscheinungen weder ein vollständiges, noch ein reines Bild. Mit sich selbst schon fertig, ist er mit dem ihm entgegcQtretenden Stoffe zu schnell im Reinen; er lässt ihn gar nicht recht an sich herankommen, er betrachtet ihn immer aus einer gewissen Entfernung, er schreibt seine Ge- schichte wie aus der Erinnerung, nicht aus der Anschauung. Kaum dass ein Ereigniss oder ein Charakter angefangen hat, sich zu expliciren, so unterbricht er ihn schon, weiss schon genug, weiss es schon besser, und schiebt ihn bei Seite. Es kann daher nicht fehlen, dass sich nicht nur Verstösse im Einzelnen*) genug finden, sondern auch die ganze Auf- fassung an einer gewissen Einseitigkeit leidet. Züge und leiten, welche auf seine Individualität weder einen anziehen- den noch einen abstossenden Eindruck machen, welche ihn nicht afficiren, ihn nicht auf sich aufmerksam machen, blei- ben von ihm in der Regel unbeachtet, weil ihm die Hinge- bung des ruhigen Beobachters abgeht. Sodann ist der Stand- punkt, auf welchen wir von Schlosser über die einzelne Er- scheinung hinaus gehoben werden, zwar ein sehr hoher, aber nicht der für jetzt höchste, nicht der was man mit ei- nem missbrauchten Worte den absoluten nennt. Der Maass-

*) m, 2, S. 323. nennt er z. B. Julian's Gemahlin Helena, eine Tochter der Eusebia, der Gemahlin des Constanlius. Dies scheint ein unbedeutender Irrlhum, ist es aber nicht, weil er mit so vie- lem zusammenhängt; denn ausdrücklich sagt Julian in seinem Send- schreiben an die Alhener, dass Constantius seine Kinderlosigkeit als eine Strafe des Himmels für seinen Verwandtenmord betrach- tete; erst nach dem Tode des Constantius gebar Eusebia eine Toch- ter, die später Kaiserin wurde, und der Helena Geburten hat Eu- sebia selbst alle vergeblich gemacht. Die Aeusserung über den Schaden, welchen die Kirchenversammlungen dem Postwosen brin- gen, ist von Ammiau, nicht, wie S. 397 gesagt wird> von Julian.

432 Der Kauer Julian und seine Beurtkeiler.

Stab, welcher angelegt wird, ist der eines hellen Kopfes, eines tüchtigen Charakters, dem Wahrheit und Recht über Alles gilt^ aber es ist der nur eines Kopfes, nur eines Charakters, einer einzelnen, endlichen Persönlichkeit, bei wel- cher daher die Helle des Kopfes wie die Reinheit des Cha- rakters ihre Grenze hat, jene die der zeitlichen Geistesent- Wicklung, diese die der persönlichen Stimmung und Neigung, welche wider Wissen und Willen einen Einfluss ausübt. Schlosser's geistige Entwicklung gehört dem vorigen Jahr- hundert an, ein Urtheil bei dem wir uns vor Allem ver- wahren müssen, als wollten wir etwas tadelnd oder spot- tend Gemeintes sagen, nur etwas Historisches möchten wir damit aussprechen. Dies zeigt sich am deutlichsten in sei- ner theologischen Richtung: er gehört der alten Schule an, welche Alles was sie hinten streicht, vornen wieder zusetzt, welche an der Entwicklungsgeschichte des Christenthums die freieste Kritik übt, aber nur um das Urchnstenthum mit einer Zuversicht und einer Umständlichkeit zu preisen, als wäre sie selbst bei Entwerfung des „Planes" zugegen gewe- sen, weil sie das, was sie selbst unter dem Christenthume versteht, der Geschichte zum Trotz als das ursprünglich Be- absichtigte und Gewesene darstellt. Alle diese Vorzüge und Mängel Hessen sich der Reihe nach mit leichter Mühe an Schlosser's Beurtheilung des Julian, welchem er beson- dere Aufmerksamkeit gewidmet hat, nachweisen; wir begnü- gen uns aber mit einigen Andeutungen. Julians Stellung zu seiner Zeit und zum Christenthum insbesondere ist von Nie- mand mit so schlagender Wahrheit beurtheilt worden, wie von Schlosser. Einerseits schmiegte sich, sagt Schlosser*), Julian dem Geiste seiner Zeit allzusehr an, andererseits wi- dersetzte er sich ihm auf eine vergebliche Weise. Das Erste, indem er (in seinem Briefe an Themistius) ein betrachtendes Leben für höher ansah als ein thäiiges**), indem er, der über die christlichen Grübeleien spottete, sich selbst einer

•) ni, 3, S. 49. **) III, 3, S. 64-

Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler, 483

ebenso abstrusen Mystik hingab, indem er die oberflächliche, aber prunkende und politisch kluge Art der Christen, dem Pauperismus zu begegnen , nachzuahmen suchte '*'). Das Zweite, indem er sich dem Christenthum im Ganzen wider- setzte, das nun einmal vom Zeitgeist begünstigt war *'^). Die- ses Widerstreben war ganz unnöthig, indem diejenigen Ele- mente des Hellenismus, welche die Zeit noch festhalten wollte, von dem Ghristenthume aufgenommen waren ***), und zwar in einer besseren, angemesseneren Gestalt f ). Daher musste sein Widerstand auch ganz vergeblich sein: das Christen- thum gab das was er wollte in zeitgemässer Form und hatte eine feste äussere Stellung, die der Hellenismus verloren hatte; das Christenthum war Volksreligion, was Julian^s Hel- lenismus, dieses Gebräu aus Poesie, Philosophie und Aber- glauben, niemals werden konnte ff), was auch der ursprüng- liche reine Hellenismus so wenig wieder werden konnte, als man heutzutage die geistliche Zucht des Mittelalters oder die strenge Glaubenslehre der Reformatoren wieder einzuführen vermöchte ff t). Schlosser nennt es daher geradezu eine Lä- cherlichkeit, dass Julian den Merkur statt des Gottes der Christen anbetete *f) und spricht von Julian's Aberglauben als der „lächerlichen Seite seines Charakters, die seine Feind- schaft gegen das Christenthum fruchtlos und albern machte*'*ff), welches Letztere insofern nicht richtig ist, als mit der „natürli- chen Religion" in jener Zeit noch viel weniger anzukommen gewesen wäre. Schlosser leitet diesen Missgriff davon ab, dass Julian ein „Pedant" *f ff ) war, ein „Büchergelehrter, demalle Kenntniss des wirklichen Lebens mangelte" **f ), während er demselben gleich darauf**f f ) „tiefe Einsichten in das mensch- liche Leben" zuschreibt. Schlosser meint **fff), das rechte Verfahren wäre gewesen, dass Julian sich bemüht hätte, den Zeitgeist zu leiten; er hätte das Christenthum als Ganzes

*) m, 2, S. 388-391. **) m, 2, S. 341. -) ffl, '2. S. 408. f) III, 3, S. 58. ff) III, 2, S. 342. ff f) III, 2, S. 411. *f) ÜI, 2, S. 321. *f f) m, 2, S. 336. •f ff) ffl, 2, S. 317. ^^f) ffl, 2,8.341. **tf) ffl, 2, S. 345. »»ff f) ffl, 2, S. 341.

434 Der Kaiier Jukan und seine Beuriheiler.

anerkennen und annehmen und nur von den Ausartungen es reinigen sollen. „Die chrislliche Geistlichkeit, die zänki- schen Gelehrten, die abergläubischen Pfaffen, die spitzfindi- gen und eigensinnigen Dogmaliker, welche die göttliche Lehre ihres Meisters prahlend zu einer menschlichen Wissenschaft ausbilden wollten, und die Welt mit ihrem Geschrei über lächerliche Glaubensbestimmungen erfüllten, hätte er im- mer entfernen mögen, aber nur nicht dafür armselige Sophi- sten, leere Schwätzer, schmeichelnde Rhetoren begünstigen sollen.'**) In Aeusserungen dieser Art culminirt die Eigen- thümlichkeit von Schlosser's Geschichtsbehandlung. Aber wie kann'^man einem Menschen zumuthen, das Gegentheil von Dem zu thun, wozu ihn seine Natur und seine Entwicklung treibt, was er thun muss! Julian hätte den Zeilgeist leiten sollen. War es nicht eben dies, was er wollte? Der Zeit- geist war auf Mystik, auf Grüblerei gerichtet: er nahm ihn auf, aber er wollte ihn von der Bahn, welche nach seiner Ansicht dem Staat nur Verderben brachte, von der christli- chen weg und auf die hellenische lenken. Nicht Theologen und nicht Sophisten hätte Julian begünstigen sollen. Wen also denn? Nicht wahr, die verständigen Männer , welche hinaus sind über dogmatische Leerheiten, welche das Wesen der Religion ins Handeln, ins Leben setzen, mit Einem Worte, Männer wie Schlosser? Aber solche fehlten eben gerade in jener Zeit; Julian hatte nur die W^ahl zwischen Theologen und Sophisten oder vielmehr zwischen theologischen und philosophischen Sophisten und er entschied sich für die Letz- tern« Dieses Hofmeistern der Geschichte, diese Zudringlich- keiten gegen die Vergangenheit, dieses Schelten derselben weil sie nicht Gegenwart ist, nicht den Anforderungen des Historikers Genüge thut, bildet die Schattenseite vonficblos« ser^s Behandlungsweise. Zugleich ist an ihm ein gewisser Pessimismus, ein hypochondrisches Misstrauen bemerklich, welches Heuchelei und Verstellung wittert, wo kein genügen- der Grund dazu vorhanden ist, wo es nur für den, der die

*) ffl, 2, 8. 342.

Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler. 435

menscfaiiche Natur halb verachten gelernt bat, unwabrschein- tich ist, dass unter diesen Umsttfnden dies die wahre Ge- sinnung war. So bei Julian's Weigerung, die Augustuswürde aus der Hand der Soldaten anzunehmen *), eine Weige- rung, die doch durch die Unabsehbarkeit der Folgen eines solchen Schrittes hinlänglich motivirt war, um so mehr, da Julian doch bestimmte Aussicht hatte, mit der Zeit auf legi- time Weise auf den Thron zu gelangen. Diese Verstimmung gegen die Menschheit macht sich**) in der Aeusserung Luft, dass der Mensch überall zum Verderben wende was Gott zum Segen verliehen habe, z. B. die Religion, den Patriotis- mus. Wie, den Patriotismus hat Gott verliehen? die Reli gion hat Gott verliehen? Quellen sie nicht von selbst her- vor aus der tiefsten Menschenbrust? Patriotismus ist Liebe zum Vaterland, Religion ist Liebe zu Gott, wie kann man aber Liebe verleihen? Aber dieselbe Unklarheit in religiö- sen Dingen treffen wir bei dem sonst so durchaus klaren Manne allenthalben. „Julian verlachte die christlichen Ein- richtungen, durch welche die Lehre der Liebe und der Sitt- lichkeit dem rohen und schamlosen Volke angenehm und annehmlich gemacht werde# sollte." *♦*) Was sind das für Einrichtungen? Wenn sie Julian verlacht hat, so sind es nicht die Mittel der Armenpflege, die er vielmehr nachahmen wollte, sondern der christliche Gultus und die christliche

Glaubenslehre. Diese sind die süsse, dem Gaumen desVol-

#

kes angeme^ene Hülle, in welcher nach dem „Plan" Christi dem Volke die demselben bitter schmeckende Pille der christ- lichen Moral in den Leib gebracht werden soll! Charakte- ristisch ist auch die Art, wie Schlosser Julian's Schrift gegen das Christenthum kritisirt f ). ^, Julian gab dem Wunder- glauben im Christenthum eine Bedeutung, die er nicht hat." Für wen nicht hat? Für die jetzige Zeit? Können wir es nur auch von dieser in ihrer ganzen Ausdehnung behaupten? Wie viel weniger, dass er für die damalige Zeit nicht hohe

•) in, 2, S. 335. -) m, 2, 8, 381. **•) HI, 2, S. 336. f) IE, 3| S. 76.

486 Det Kaiier JuUan und seine Beurtheiler.

Bedeutung gehabt babel ,,Julian vergleicht Plato's Theorie mit der mosaischen Erzählung (Über den Weltanfang); er verwechselt also gleich jüdische Poesie und christliche Reli- gion.'^ Nun kann man aber aus jeder beliebigen Dogmatik ersehen, dass die mosaische Schöpfungsgeschichte ein Artikel des christlichen Glaubens ist und auch zu Julian^s Zeit war sie CS, und dieser hatte also vollkommen Recht mit seinem Ver- fahreu; denn man darf das Ghrislenthum, wie jede geschicht- liche Erscheinung, nur auffassen wie es geschichtlich ist; an seine Stelle ein erträumtes Ideal zu setzen, ist eines Histori- kers unwürdig.

WUssten wir nicht, dass Schlosser's Vorzüge diese Män- gel weit überstrahlen und dass diese selbst nicht einmal seine Mängel sind, sondern die der Zeit, in welche die Gon- solidirung seiner Geistesbildung fiel, und wären wir nicht überzeugt, dass der Mann, der die Eitelkeit und Empfind- lichkeit der Gelehrten so unzählige Male gegeisselt und ver- lacht hat, unmöglich diese Schwäche selbst theilen kann, so hätten wir es niemals gewagt, so offen unsere Ansicht über Schlosser auszusprechen. Was wollen wir aber mit diesem Allem? Zeigen möchten wir, zunähst dass Juiian's Geschichte weder von Seiten der religiösen Parteien, noch auf dein Standpunkt des Subjeclivismus eine unbefangene, richtige Auffassung erfahren hat; für den Weiterblickenden aber wird dieses Eine Beispiel nur ein Beleg der allgemeinen Wahrheit sein, dass die wahre Geschichlschreibung von einem Prin- cipe ausgehen muss, von welchem die genannten Richtungen, wenn auch in verschiedenem Grade, doch alle entfernt sind. Diese Geschichtsauffassung ist die speculative? Ja oder Nein, je nachdem man diesen Begriff bestimmt. Meint man jene Geschichtsdarstellung, w^elche die laut und verständlich und eindringlich tönende Sprache der Geschichte übersetzen zu müssen glaubt in kahle, unverständliche weil verstand- lose Phrasen, welche den Gestalten der Vergangenheit das warme Lebensblul ablässt, damit sie eher mit ihnen zurecht- komme, welche mit komischem Ernste sich anstellt, als wüsste sie aus eigenen Mitteln die inneren Zusammenhänge der

Der Kaiser Julian und seine Beurtheiler. 43?

Weltgeschichte aufzusagen wie das Alphabet^ uxid die Pro- phetin spielt bei Ereignissen, welche nur der sich nicht wegdenken kann, welcher das Ende der ganzen Kette in der Hand hat, versteht man dies unter der speculativen Ge- schichtsbehandlung, dann nein und abermal nein ! Aber die Bezeichnung ist überhaupt veraltet, abgeschmackt und un* passend. Die Speculation hat Nichts zu schaffen mit der Geschichte; das absolute Sein und das absolute Nichts, das Sichmitsichselbstvermitteln und Sichselzen als Andres seiner, das sind ihre Gegenstände und die möge sie unbeneidet be* halten, die Geschichte kann solche Sächelchen nicht brau- chen, sie will nicht speculativ, sondern geschichtlich behandelt sein. Denke man sich etwa die deutsche Geschichte speculativ behandelt y so wird man die ganze Unangemessenheit dieses Standpunktes empfinden. Zweierlei ist es besonders, wo* durch sich diese Methode als unbrauchbar darstellt; das eine betrifft den Inhalt, das andere die Form. So regelmäs- sig, dass es nur in der Methode selbst begründet sein kann, begeht diese Geschichtsbehandlung den Fehler, die logischen Kategorien unmittelbar zu identificiren mit den concreten ge- schichtlichen Ereignissen und Verhältnissen, die doch unter zeitlichen Bedingungen entstehen und sich entwickeln. So ist in der Logik allerdings das* letzte Glied in einer Reihe von Urtheileo das reichste, höchste, weil es die vorhergehen- den in sich enthsTit; in der Geschichte aber ist das anders. Die .Geschichte hat kein logisches Fortschreiten in gerader Linie, sondern sie macht tausenderlei Krümmungen und grosse Umwege, macht oft einen Stillstand, oft auch sehr** bedeutende und lang nachwirkende Rückschritte, da bei der ^ fast regelmässigen grossen UnvoUkommenheit der staatlichen Verhältnisse oft der Wille eines Einzigen eine lange vorbe- reitete Entwicklung verzögert und verdirbt. Diese Dinge vornehm zu ignoriren ist lächerlich und bestraft sich immer von selbst. Was sodann die Form betrifft, so hat die soge- nannte speculative Methode unverantwortlich sich dadurch versündigt, dass sie muthwillig die Gemeinschaft mit dem gewöhnlichen Bewusslsein abbrach und sich geberdete, als

Allg. Zeitnebrift f. Geschichte. Y. 1846. 30

438 Der KaUer Mkm und täne BeurtkeUer.

biete sie etwas ganz Neaes von aUem bisher Dagewesenen qualitativ Unterschiedenes und nur für Eingeweihte Erreich- bares. Wenn man so sich abschliesst, wenn man die Kluft zwischen dem gründlicher Gebildeten und der Masse nur zu erweitern bemüht ist, so hat man kein Hecht, Über Mangel an Theilnabme sich zu beklagen. Zwar sind beide Mängel sehr im Abnehmen begriffen, aber das abstracto Denken hat so sehr den Geist und die Sprache verdorben, dass man gar nicht mehr fühlt, wo und wann man unpraktisch und unpopulär ist. Die historische Unschuld aber, der Sinn, der sich vorurtheilslos in eine Erscheinung versenkt, um sie aus sich selbst zu verstehen und erst wenn dieses geschehen ist, sich wieder über sie erhebt, zu einem Standpunkt un- befangener Beurtheilung aufschwingt, dieser scheint Tür jetzt unwiederbringlich verloren. Und doch besteht eben darin die Aufgabe des Historikers und die Eigenthümlichkeit der rekk hisiorischen Methode. Die Geschichte hat zum Gegen- stände das was gewesen, was der unmittelbaren Gegenwart des Geistes entrückt ist, was er ruhig sitzend nicht errei* eben kann. Er muss sich daher aufmachen, muss sich Jos-* reissen von dem gewohnten Kreise, muss sich orientiren in dem neuen Lande und seine Sprache lernen. Diese Ent- sagung und diese Arbeit ist das Erste was die Geschichte fordert. ' Sodann aber folgt daraus dass man es mit Gewe- senem zu Ihun hat, 'das Weitere, dass mah es mit Uninter- essirtbeit, ohne Liebe und Hass zu betrachten habe. Nur was ist, was ich umfassen kann, kann ich lieben, nur was

•ich erreichen kann, kann ich hassen. Die Arme auszubrei-

* ten nach dem was nicht mehr ist oder die Faust zu baUen nach dem Untergegangenen ist gleich kindisch und lächer- lich. Zu dem was nur für den Geist noch vorhanden ist, was in dem reinen Aether des Gedankens sich bewegt, kön- nen die kleinen Gefühle, kann Zuneigung oder Abneigung

, nicht hinaufreichen; nur die ewige, von keiner Zufälligkeit abhäfigige, inteliectuelle Liebe erhält Zutritt in die himmli- schen Räume, die Liebe des Geistes zum Geist und um des Geistes willen« Diese Art von Liebe verhütet, dass dieUninteres-

Pwo, über den Charakter etc. 439

sirtheit nie zur Interesselosigkeit werde, sie lässt die Wärme nie zur Kühle, die Freiheit und Unbefangenheit nie zur Härte und UnbilKgkeit werden. Ist es aber nur innerhalb einer be- stimmten Richtung möglich, diesen Anforderungen, welche die Greschichte selbst macht, zu genügen ? Ferne sei von uns, dies zu behaupten, es ist vielmehr der Standpunkt, auf welchen die ganze neuere Geschichte hinlenkt, indem sie sich loszu- arbeiten sucht von den Fesseln der Vergangenheit und nach einer selbstständigen Stellung ihr gegenüber ringt; es ist die Geschichtsanschauung^ deren Princip schon Spinoza m leuch- tenden Worten ausgesprochen hat (res humanas non amare, non odtsse, sed intelligere!), für deren Durchführung aber erst die Kritik der Gegenwart den Weg gebrochen hat. Berlin, im Sommer 1844.

Dr. W. Teuf fei aus Tübingen.

PIIV0 fk1»ei* den CliarakAer ttnfd die Besfim- itfaiisr '^^ ^hrlMlicIien Hanptnatioiten des THUtelaU^na^^ itMmlieh de^ Italiener, Deiit-

sclien und Franzosen;

ans einer Wiener Handschrift taSt etlichen Anmerkungen herausgegeben

Dr. Frledrleli KM^fttm.

Uie Handschrift der Hofbibliothek zu Wien, Cod. hlilt. prof. Nr. 900. f. 21., enthalt neben anderm unter dem Titel: ne- tto ia seculi auctore Pavone'^ merkwürdige Z^ithfi' irachtungen eines sonst unbekannten Gelehrten. Ei^ schrieb, wie da$ 21. Blatt beweist, um 1280, mitftin in Einern kritischen Wendepunkt, als das bisher ttfoerwiegende Reich der Dentsohen die nach aussen gehende Herrsöhaft äH- mähKg aufgab, unter Rudolf dem Habsburger die scht^tfn« kenden xind zersplitterten Innenverhältnisse ertfä^tt^b' ordnete, «rfs Frankrerch unter Philipp IH. durch Einsäe- hung grösserer Lehen, z. B. der Grafschaften Totilotrse und Chartres, und den VolbAig der vortreflPKehen Saz-

30*

440 PaeOj über den Charakter und die Bestimmung der

Zungen Ludwigs IX. (des Heiligen), grössere Einheit, be- reits auf Eoslen des deutseh-reichsständischen Burgund, und festeren Rechtsbestand durch Zügelung der hohen Lehenträger gewann, als in Italien die Gemeinden trotz einzelner Gebrechen und blutiger Parteiungen aufblUheten und im Norden neben den kleinern FUrstenstaaten ent- schiedenes Uebergewicht erhielten, als die Militärmonar- chie Karls von Anjou im Süden der Catastrophe durch das Blutbad der Sicilianischen Vesper raschen Schrittes entgegenging, als endlich die kirchliche oder päpstliche Macht den uro die Mitte des Jahrhunderts gewonnenen Hö- hepunkt verliess, durch Zügellosigkeit im Ablass- und Steuerwesen, Widerspruch der theoretischen Ansprüche zur thatsächlichen Erscheinung (Praxis) dem bald unter Bonifacius VIIL (seit 1294) eintretenden, für die Hierarchie unglücklichen ConQict mit der weltlichen Macht, nament- lich Philipp's IV. oder des Schönen von Frankreich, ent- gegenreifte. In solcher Lage fällte jener Unbekannte sein politisch - historisches Urtheil über die Natur und Be- stimmung der erwähnten damaligen Hauptvölker. Es lautet also :

Regnum Romanonun. (f. 21.) Memorandum est, quod fides christiana i. e. ecclesia ro- mana summa est humani generis et ideo per caeteram ejus mutationem consideratur principaliter niulatio saeculorum. Gaeierum respublica ecciesiae romanae residet in Europa, principaliter tamen in Romanorum regno et Francorum. Quae regna in tres partes dividuntur h. e. in Italiam, Teu- toniam et in Galliam. Nam pater et filius et spiritus san- etus unus Dens ita disposuit, ut sacerdotium, regnum et Studium una esset ecclesia. Cäm ergo fides Christi his tribus regalur principatibus, sacerdotio, regno et studio et sacerdotium fidem (sedem?) teneat in Italia et regnum eandem teneri imperet in Teutonia et Studium ipsam te- nendam doceat in Gallia, manifestum est quod in his tribus provinciis principalibus residet res publica fidei christianae. Has autem provincias tres incolunt naliones diversis disttn«

christlichen Hauptnationen des Mittelalters etc. 441

ctae moribus, morum autem quidam sunt boni, quidam mall, quidam medii i. e. ad utrumlibet versatibiles. *) Mores *medii apud Italicos sunt amor habendi, apud Teutonicos amor dominandi, apud Gallicos amor sciendi; quaeiibet tamen harum gentium habere, domi- nari et scire secundum plus et minus desiderat. Boni mores (seil, apud Italicos) sunt hl: sobrietas, taciturni- tas, longanimitas, prudentia et quidam alii, apud Teu- tonicos magnanimitas, liberalitas, malis resistere et miserari miseri et quidam alii, apud Gallicos justilia, temperantia, concordia, urbanitas et multi alii. Mali vero mores apud Italicos sunt hi: avaritia, tenacitas, invidia, simultas et mulli alii; **) apud Teutonicos cru- <lelitas, rapacitas, inurbanitas, discordia et multi alii;***) apud Gallicos superbia, luxuria, clamor,

*) Diese Ansicht entspringt aus Aristoteles, welcher bekannt- lich die Sittentugenden {äfitaZ ij&txaC) als die Mitte zwischen dem zu viel und zu wenig, dem Ueberfluss und Mangel, als das richtige Maass zwischen den äussersten Richtungen (Extremen) darstellt. ^yMecÖTijg ug äqa lailv ^ äginfj Cioxaimx/t yc oSca tov fiiifov,^^ Aristoteles Ethic. Nicom. II, 4.

**) VgU Güntherus Ligurinus n. 131. sqq. ed. Dung6. „Gens astuta, sagax, prudens, induslria, sollers, Provida consilio, legum jurisque perita; Gorpore, mente Valens, animo vigil, ore vcnusto, Membrorum levitate vigcns, patiensque laboris, Promta maau, sermone fluens, avidissima laudis Invigilans opibus, sludiose parla reservans Libertatis anjans, pro qua nee tristia rerum Damna, nee extremam gaudet exhorrescere mortem. Quoslibet ex humili vulgo (quod Gallia foedum Judicat) accingi gladio concedit equestri," Gfr. Otto Fris. de geslis Frider. L I. n, c. 13.

•**) „Nee enim ralionis ordine regi, aut miseratione deflecti, aut religione terreri Theutonica novit insania, quam et innatus furor exagUat et rapacitas stimulal.'' Hugo Falcandus, Hist. SIcula ap. Muratori, script. rerum Ilal. VII. p. 253. „Gens dura et saxea." Ib. „Vaelibi fons celebris et praeclari nominis Arethusa» quac ad hanc devoluta es miseriam, ut quae poetarum solebas carmina modulari, nunc Theutonicorum ebrietatem mitiges.'^ Ib<

442 Pavo, über den Charakter und die Bestimmung der

garrulitas, inconstantia, se ipsos amare ei omnes despicere. •)

F. 80. Quaelibet harum gentium in tres ordin^ pria* cipales dividitur, in ordinem popuii, in ordinem miliiiaa et in ordinem cleri. Quiiibet autem ordo se conformai suae genti, quaelibet autem gens suis utitur moribus; mores vero sunt a4ii conformes popularibus, alii miUtaribus, aüi clero, u( amor habendi, avaritia et invidia populo, amor dominandi, rapacitas et discordia miiitiae, amor sciendi, superbia ei luxuria clero. Ei propier hoc m Italia regnat populus, cui clenis ei miliiia lllius terrae in avaritia ei invidia se conformant, in Teutonia regnat mi- litia, cui populus et clerus terrae in discordia et rapacitate conformaiur; in Gallia regnat clerus, cui militia et popu- lus illius terrae in superbia ei luxuria se conformant. Ex praediciis patet, quod gens gallicorum et ordo clericorum in fflorum aequalitate sunt conformes.

Darauf fUhrt der Verfasser den Gedanken aus, dass die politische Stellung der Hauptnationen ihren charakte- ristischen , volksthümlichen Eigenschaften entsprechen, die Reichsherrschaft namentlich den Deutschen, die päpstliche ObeHeitung den Italienern angeboren müsse. „Sufficit igitur, heisst es weiter, f. 35, uteligatur ad papatum Romanus velltalicus clericus, qui rejecta avaritia et invidia firmus Sit in fide, fo^tis in opere, fervens in caritate, sicut Petrus et ad regnum Germanus miles generosus, magnanimus et prudens, sicut fuit Carolus. Has enim tres virtutes haec dictio rex in idiomate teutonico exprimit, cum dicitur cunig, idem generosus vel audax, vel sciens^nec est dubium, quin

p. 253. „Tedescbi lurchi.« Dante XVU. 21. infero. „Gens ferrea Alemannorum.^' ,,Alemanm furiosi" elc. Gregor IX. in den Aniial. Wormal. (Böhmer fontes rerum Genn. U, 177.)

*) „Franci juxta naturam nominis magnae quidem sunt tituto vivacikaiis insignes, sed, nisi rigido fraenentur dominio, inter ali- arum gentium torbas sunt justo aequius feroces.*' Guibert p. 483. bei Bougars, gesla Dei per Francos t. L

J

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ckristlieken Hauptnationen des Mittelalters etc. 443

Carolus fuisset Teutonicus, licet ipse super Gallos regnaverü. Ipse enim lingua matema teutonica mensibus et diebus nomina imposuit et etiam fere omnia nomina regum Franciae inveniuntur teutonica, ut Dagobert, Sigebert, Pipin etc."

Historiich^staatf rechtliche inmerkuig fiher die Ansprflcbe mid Berechtigimgen der genannten Hanptnat&onen im Hittelalter.

Der Verfasser, dessen deutsche Abkunft vor allem aus der philologischen Schlussbemerkung hervorgehen mischte, stehet auf der Warte der theocratischen Weltaosicht. Die christliche Einheit, in der römisch-katholischen Kirchan- gemeinschaft niedergelegt, ist der Ausgangspunct, Euro- pa die für Wirksamkeit bestimmte Kreisperipherie, Rom das Centrum, die Dreieinigkeit des Priesterthums, des Reichs und der^Wissenschaft, d. h. zunächst der Theologie, das zwar gelheilte, jedoch in der Glaubens- einheit wieder verbundene Organ der schaffenden und er- haltenden Lebenskraft, das Gleichgewicht dieser drei nach eben so vielen HauptvöJkern ausgedrückten Potenzen die Bedingung des christlichen Friedens und der christ- lichen Ehre. In -der That zeigt diese Art der theocra- tischen Lebens- und Weltphilosophie gegenüber ihren frü- hern Lehren und Ansprüchen einen bedeutenden Wechsel. Denn der von den grossen Kirchenfürsten des dreizehnten Jahrhunderts, Innocenz HI., Gregor IX., Innocenz IV.^ verkündete und gehandhabte Fund amentalsatz lautete ganz anders. „Christus, war sein Inhalt, hat in dem apostoli- schen Stuhle nicht nur eine priesteriiche, sondern auch königliche Monarchie begründet. Ihr ist die himmlische und irdische Machtfülle übertragen, ihr schwört der römi- sche Kaiser Treue und Unterwürfigkeit, auf ihren Wink ziehet und schwingt er das weltliche Schwert." Miss- brauch des Sieges über die letzten Hohenstaufen, deren kirchenrechtlicbe Opposition trotz des Unglücks nicht aus- starb, Ueppigkeit und Herrschsucht, Umtriebe der fran- zösischen, von den päpstlichen Vasallen in Neapel und Sicilien geleiteten Partei, Zwietracht der Cardinäle, un-

444 Pavoj über dm Charakter und die Bestimmung der

bändige Fehden der italienischen Weifen und Gibellinen, weiche die Namen der Kirche und des ReicBs als Aus- hängeschild gebrauchten, sittlicher Verfall des Clerus diese und verwandte Umstände ermässigten den dictator- ähnlichen Eifer des heiligen Stuhls. Seine Sprache wurde versöhnlicher, sein staatsrechtlicher Anspruch, wenn auch in den HauptbezUgen ungeändert, beliebte mildere Formen, Furcht und Hoffnung sassen an der Yorsteherschaft und brachten, abhängig von den Begebenheiten, Widerspruch, Schwanken in die Politik der Curie. Hatte z. B. Nico- laus in., müde des anmasslichen , geizigen Lehenmannes, im Geheimen die Erhebung der Sicilianer wider Karl 1. von Anjou begünstigt, so handelte Martin IV. nicht wie ein Papst, sondern wie ein geborner Franzose; er sprach den Bann aus über die Empörer und den neuen König der- selben, Peter I. von Aragonien. Fortan starb am römi- schen Hofe eine französische Partei, auf Neapel und Frankreich gestützt, nie ganz aus; ihr entgegen wirkten italienische, deutsche und anderweitige Rücksichten; Würde, Eintracht, Plan entwichen aus dem GardinaJcoUe- gium; umsonst hatte ihm und der gesammten Wahlcorpora- tion Papst Gregor X., die Folgen vorschauend, auf der KirchenversammluDg zu Lyon (1274) eine strenge Abge- schlossenheit zu geben getrachtet; *) man vollzog den Be scbiuss nicht, traf halbe Maassregeln. Wo Gesinnung und Geist fehlen, da helfen überdies keine Vorschriften und Reg- lemente. So stand denn nach dem Tode Nicolaus IV. (1292) der heilige Stuhl drei Jahre lang unbesetzt; die Car- dinäle und Parteien haderten mit einander, wählten endlich um ein geschmeidiges Werkzeug zu haben, angeblich aber nach göttlichem Wink, den gutmütbigen Schwärmer und Einsiedler, Peter de Murrhone, als Cölestin V. zum

*) „Forma electioDis papalis cliam ibi (Lugduoi) clare exülit dif6nila, ut errores circa eam in postcmm toilerentur.^' Johan- nes Victoriensis 11, 3. p. 307. bei Böhmer, Fontes rerum Ger- manicarum. t. I.

christHchen Haupinationen des Mittelalters etc. 445

Apostelfürslen. *) Dieser diente etliche Monate lang (Juli bis Dec. 1294) den ehrgeizigen und selbstsüchtigen Gardinä- len als Puppe, dankte sodann, scheinbar freiwillig, ab. Sein Nachfolger, Bonifacius VIII., besass bei ziemlich schlechten Sitten das Vollgefühl päpstlicher Machtvollkommenheit, konnte aber im Gonflict mit dem schlauen und gewaltthätigen Fran- zosenkönig Philipp dem Schönen, und bei schon geänder- tem Zeitgeist die Höhe der eingenommenen Stellung nicht behaupten. Sein kläglicher Fall eweckte geringes Beileid} ohne Geräusch und nachhaltige Bewegung wurde der hei- lige Stuhl, welchen der Franzose Glemens V. einnahm (seit 1305)**) von Rom gen Avignon verlegt, der Papst in ein Werkzeug des von dem neuen Protector wider die Hierarchie und das deutsche Reich entfalteten Politik umgewandelt. Italien hörte sofort auf, Hauptsitz und er- ster Schauplatz der kirchlichen Dinge zu sein, Frankreich aber besass für die neue Rolle weder Fä- higkeit noch Willen*, alles schwankte und wurde unge- wiss; man sehnte sich zurück nach Italien und Rom; Stolz, Ueppigkeit und Selbstsucht der neuen Schirm- herrn griffen schädlicher in die kirchliche Vorsteherschaft ein denn die Democratie und die Gewinnsucht der Italiener: Frankrieichs Sitten ertrugen das Papstthum nicht; der allerchristlichste König wurde der Kerker- meister des Apostelfürsten und die Quelle eines Aerger- nisses, welches die gesammte Ghristenheit traf und erschütterte. Dass diese Wendung kam, davon lag zum Theil der

*) Quo (Nicoiao) moriuo vaeavit sedes aposlolica propter dis- cordiaai cardinalium plus quam tribus annis.

Et tandem idem cardinales, ut credilur nutu diviuo, Concor- daverunt in quendam virum rectum et religiosum qui electus Ce- lestinus est vocatus/^ Eberhardus Altahensis bei Böhmer II, 536.

**) Transtulit curiam suam priruus in Burdegalim ultra montes, quam ecclesiam ipse prius gubernabat. Invitatus cnim fuit a rege Francie, qui omnem sibi honorem promittens perFranciam in suo dominio exhibendum, eo quod Itali et Romani raro summis ponti- ficibu9 adbeserini plena fide.^' Job. Victor. III, 6. p. 349.

446 Paeo, über den Charakter und die Bestimmung der

Grund in dem raschen Verfall des an die Deutschen bis- her geknüpften römischen Reichs oder des weltlichen Proteclorats der christlich-katholischen Glaubens- macht. Herkommen, militärische Sitten des in der Bil- dung vielfach hinter Italien und Frankreich zurückgeblie- benen Volkes, sprachen fiir das kaiserliche Herrschaft s- princip der alten Zeit, Zwietracht und Zerrissenheit der Hauptlande, AbsonderungsgelUste der Fürsten, kirch- lich-religiöser Hader, Aufstreben der städtischen, den Adel und die Fürsten bekämpfenden Democratie und ihrer Bündnisse, diese Umstände schwächten haupt- sächlich den Goncentrationspunkt und kündigten eine neue, in mancher Rücksicht reichere Entwicklung an. Dafür wirkten selbst die damaligen Schwächen und Ei- genheiten der Nation, die Raub« und Rauflust, in tau* sendfach gestalteten Fehden siditbar, der rauhe, derbe Auf- tritt, für das jetzt aufgezogene Gewebe der Diplomatie nicht geeignet, und das eckige, schneidende Benehmen ge- gen die Fremden, deren Sprachen, Sitten und Lebensan- schauungen theils verachtet, theils von der Eitelkeit und Ge- winnsucht, z. B. bei der Wahl Richard^s von Gornwaitis, durch die Grossen ausgebeutet wurden. Dazu trat seit dem Untergange der Hohenstaufen ein innerliches, religiös- kirchliches Schwanken; man fühlte die Leere mancher Formeln und Ueberiieferungen und trachtete, nicht befähigt für dialectische Spitzfindigkeiten, durch ein mystisch- populäres Benehmen den entdeckten Riss auszufüllen. Grübler und Glaubensprediger traten auf und fanden ein zahlreiches, gespanntes Publicum; der alte Militärgeist erschlaffte, feinere, oft aber auch verweichlichende Richtun- gen machten sich geltend; die bisher erstrebte, häufig ge- wonnene Wellherrschaft zerbröckelte und entschlüpfte; Mystik und Democratie wurden ihre stärksten, gefähr- lichsten Feinde; über 60,000 Menschen horchten unter freiem Himmel den Predigten des Regensburger Minoritenmönches Barthold "^X ein geistlicher Hunger, begleitet von vielfa- *) Hermannus AUahensis ad a. 1250, bei Böhmer II, 507*

christlichen Hauptnationefi des MUtekUiers etc. 447

cfaem, leiblichem Elend, zeigte die bisherige Oede des YolksuDterrichts; dafür konnte die sonst lebendige und schöpferische Dichtkunst keinen Ersatz geben. Ueberdies stockte auch sie in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahr- hunderts; der Adel versank in die fiilfaere Bohi^ü ; Fehden und Wegelagerungen bildeten seine Hauptkraft und nöthig- ten den Bürger zu schirmenden Bündnissen. Diese und die Städte blühe ten rasch auf, indess der Herrenstand ähnliche Vereine für seinen Nutzen entgegenstellte, und die grösseren Fürsten mit Erfolg nach der Landeshoheit strebten. Dem König« und Kaiserthum aber entwichen die Mittel, den erstarkenden Gegensatz des democrati- schen und aristoctatischen Princips auszugleichen und zu meistern; es zog sich also auf häuslich-dynastische Grundlagen zurück, nur selten, wie Heinrich VU. der Luxemburger, über diese bescheidene Linie hinausschrei- tend und der alten Weltherrschaft jenseit des Gebirges eingedenk. Italien, Burgund, Stücke Lothringens gingen alimählig verloren; Ober«Alemannien trat als freie Eid- genossenschaft thatsächlich in ein fast unabhängiges Verhalt- niss ein, der süddeutsche Städtebund kämpfte mit an- fangs schwankendem, darnach unglücklichem Ausgang für das- selbe Ziel, im Nordosten schaltete die Hansa; innerhalb fünfzig bis sechzig Jahren (1330 1390) wurden beinahe alle Städte democratisirt; ein technisch-bürgerliches Leben, von gleichartigen Sitten begleitet, errang die Vor- hand; die Dictatur der Deutschen hörte auf; Künste, Wissenschaften, Verkehr und Gewerblichkeit traten als die Factoren des neuen, lockern Föderalismus her- vor, welcher Lehenrepubiiken und Lehenmonarchien durch das schwache Band der Hauskönige d. h. der auf dynastisch -territoriale Dinge apgewiesenen Beichs- oberhäupter nothdürflig einigte. So ging es fort bis zum Scbiuss des Mittelalters, welches mit der Osmanischen Einbürgerung in Europa endigt.

Dass die deutsche Beichsidee diesen Gang nahm und von dem früher beobachteten Grundgesetz der natio-

448 Paeo, über den Charakter und die Be9Ümmung der

nalen, unabhängigen Abgeschlossenheit sich schrittlings entfernte, erhellt aus unbezweifelten Thatsachen. Nach dem Tode Friedrichs II. nämlich gebot die Kirche oder der Papst, welcher bereits bei früheren Wendepunkten des gros- sen Staatsprocesses ähnliche Ansprüche erhoben und durch- geführt hatte, den Wahlfürsten, einen tauglichen, wohlge- sinnten König zu ernennen*). Sofort erkoren jene, unein- gedenk der vaterländischen Ehre, die Einen den König Alphons von Gastilien, die Andern den englischen Prin- zen Richard von Gornwallis (1257). Beide Factionen ge- horchten der schändlichsten Geldbestechung; Ränke, Gewalt, Raub und Mord, hauseten straflos; der Einzelne sorgte für sich, das Unrecht für Alle; selbst Gonradin wurde theil- weise durch Arglist und Verrath der Reichsfürsten in den Kerker, auf das Schaffet gebracht. Unabhängiger von Rom gestaltete sich zwar die Wahl Rudolfs von Habsburg, aber auch ihm geboten Brauch und Klugheit, die Bestäti- gung (confirmatio) durch Gregor X. zu erbitten**) und dafür Italien preiszugeben. Der freilich zwiespältig erkorne KönigAlbrecht 1. sandte für die päpstliche Genehmigung eine feierliche Botschaft gen Rom (1302). Stolz antwortete Bonifacius VIII: „Du hast getödtet (den König AdolQ und Besitz genommen." Traurig kehrten die Deutschen zurück ♦♦♦). Geschmeidiger war Glemens V.; durch frü- here Unterhandlungen gewonnen, bestätigte er die Wahl des ritterlichen , später betrogenen Luxemburgers Heinrich (1308) f). Dieses Markten und Handeln in Betreff der hoch-

*) „A. 1256 vacante regno summus pontifex mandat eleclori- bus, ut virum idoneum eligant, qui iura ecclesiae defendal, iudi- cium et iusticiam exerceat, et regni gubernacula provide possideat. Darnach weiter: Sicque regnum collidebalur, habitisque regibus et quasi non regibus caicabalur." J oh. Victor. I, 5. p. 289.

**) „Dominum Rudolfum electum per principes Alemannie in Romanorum regem, et electionem de ipso factam confirmavit.'* (a. 1274) Eberhardus Altahensis bei Böhmer 11, p. 529.

*•*) Johannes Victor. III, 4. p. 344. „Nuncii cum tristitiasunt reversi."

t) ;}Qui (Clemens) quoniam ejus (Henrici) aliqualiter notitiam

christlichen Hauptnationen des Mittelalters etc. 449

slen Nationalrechte dauerte so lange, bis endlich unter Ludwig dem Baier der Frankfurter Reichstag zur ur- sprünglichen Grundlage einlenkte. „Der einhellig oder durch Stimmenmehrheit von den Ghurfürsten ge- wählte römische König oder Kaiser, lautete der Be schluss, bedarf der Bestätigung von Seiten des apo- stolischen Stuhls durchaus nicht" (133$ 8. Au- gust).*) Für den Vollzug des altdeutschen Reichs- und Rechtsverhältnisses fehlten jedoch in der Zukunft nur zu oft Kraft und Eintracht; die doctrinelle Ansicht blieb im Allgemeinen gültig und beständig, die thatsächliche Wirklichkeit aber widerstrebte vielfach und zeugte für den Zerbröcklungsprocess des an Deutschland geknüpf- ten Kaiserthums oder christlich-weltlichen Protectorats.

Auch für Frankreich als das drille Hauptland der Christenheit trat seit dem Ende des dreizehnten Jabrhun* derts allmählig eine Umwandelung hervor. Es gab die clerikal- wissenschaftlich - künstlerische Hauptseite gemach auf und rückte bei dem Wachsthum der Grenzen, bei gesteigerter Einheit und Geschäfsordnung theil- weise in den leer gewordenen Kreis Deutschlands ein, drängte an den Marken Burgund's, Lothringen^s, Flan- dern's mit wachsendem Bewusstsein der militärisch-po- litischen Kräfte vor, strebte nach Concentration, wäh- rend diese Deutschland gegen steigenden Föderalismus der fürstlichen und freistädtischen Territorien austauschte.

Bis zu diesem Wendepunkte hin, welchen Pavo voraus- sieht, ist Frankreich die Niederlage und der Hauptsitz des Wissens, der theologisch-speculatlven Gelehrsamkeit gewesen. Seit dem Anfang des zwölften Jahrhunderts gab dafür vor allem die gemach aus freivsilliger Association

faabuit, electionem approbavit, et confirmatum ad coronam inoperil invitavil." Job. Victor. IV, 1. p. 360.

*) „plenariam habet polestatem, nee Papae sive sedis Apo- sloHcae aut aticuius alterius approbatione, confirmatione, auctoritate indiget vel consensu.'* S. Den Reichsabschied bei Oertel, Staats- grundgeselze des deutschen Reichs. S. 48. §. 3 und 4.

450 Paito, über den Charakter und die Bestimmung der

der Lehrenden und Lernenden gewordene Universi- jtÄt Paris den Ton an. Hier erwarben Fremcje undEinhei- miscbe, besonders unter der milden und anregenden Regie rungLudwig's IX. oder des Heiligen, literarischenRuhm und verbreiteten ihre speculativ-theologische Wirksani- keil in verschiedenen Schulen und Gegensätzen Über Theile Deutscniand's, lialien's. England's, durch die den Aristoteles und mannichfaltlge Naturwissenschaft pfle- genden Araber mit Spanien und dem Orient verbunden. Der ernste, nüchterne Sinn des Nordfranzosen, die ei- serne, von der geistlich-religiösen Mönchs«* und Laienas- cetik auf wissenschaftliche Forschungen übergehei^de Ausdauer, die thatkräftigeBeihülfe mancher für das Schöne und Wahre empfänglichen Regierungen, die den Geist und das Gemüth spannende Idee der Kreuzzüge, der concur- rirende Wetteifer mit dem poetisch«phantasiereichen Süden, diese Umstände gaben den Franzosen imzwölf- ten und dreizehnten Jahrhundert die Hegemonie der ho- hem christlichen Wissenschaft und machten Paris zum Hauptquartier derselben. Denn während Abälard (st. 1142), Wilhelm von Couches (st. 1150), Guilbert de la Porree (Torretanus. st. 1154), Petrus Lombardus (st. 1164) nun die rationalistischdialectische Theologie tiefer begrün- deten, setzten ihr Bernhard vop Clairvaux (st. 1153) und die mystisch-speculative Schule von St. Victor, den Deutschen Hugo an der Spitze (st. 1141), einen zügelnden, dogmatisch-dialectischenDamm entgegen. Selbst in die Poesie griff die ernste, oft spitzfindige Bewegung ein, wie, andere Beispiele zu übergehen, die Lehrgedichte des tiefsin- nigen Omons (um 1265) beweisen. Sein in der Volksspra- che geschriebenes Weltbild ist offenbar auf einen grössera Leserkreis berechnet; es verbindet Sagen mit abstracten Wahrheiten, einzelne ausschweifende, ketzerische Lehren mit wirklichem Aberglauben, und entblödet sich in dem stolzen Selbstgefühl nicht, Paris und Athen zu vergleichen*). Auch

') S. F. C. Schlosser, Vincent von Beauvais. n, 172.

christlichen Haupitmiianen des Miitelaliers eic, 451

der vierfache Spiegel (speculum quadruples) des Domi- nikaners Vincent von Beauvais (st. um 1264), eine Art philosophischer Encyklopädie aller Wissenschaften, zeugt für den Umfang und die Tiefe der wissenschaftlichen Theilnahme, welche den Glerus und Adel, die Städte und den Hof ergriffen hatte. Selbst Frauen, wie schon Abä- lard*$ Helo^ise beweist, scheueten den Kampf der dialec- tisch-theologischen Bewegung nicht, und die vielen vor- trefflichen Schulen in Paris, Rheims, Laon, Poitiers, Or- leans, SHz derfiumanis.ten, Mans^ Angers, Chartres, S. Denys u. s. w., Sorgten für nie ausgehende Nahrung des Geistes. Ausgezeichnete Fremde, wie der Deutsche Albert (st. 1280), die Italiener Thomas d'A*quino (st. 1274) und Bonaventura (st. 1274), die Engländer Johannes Dnns (Scotus st. 1308) und Roger Bacon (st. 1294) befruchteten meistens in Frankreich die Wurzel ihres wissenschaftlichen Lebensbaumes und gewannen mehr oder weniger Ruf durch Auftritt in der Pariser Hochschule. EineUqzahl vonHand- und Lehrbüchern (Summen), durch Abschreiber und Buch- händler der Universität vervielfacht und ausgebreitet, un- terhielt den literarischen Verkehr und eröffnete für die Wissenschaften einen wachsenden Geschäfts- und Nah- rungszweig. Gleichzeitig blübete besonders im Süden die poetische Nationaliiteratur seit dem Anfang des zwölften Jahrhunderts auf und erzeugte bis zum Ende der unglück- lichen Albigenserkriege (um 1230) einen ununterbroche- nen Wettgesang provenzalischer Helden- und Minnelieder. Sie verknüpften poetisch Deutschland und Italien, Spa- nien und Frankreich, gleichwie wissenschaftlich die theologisch-philosophische Speculation ohne klares Bewusst- sein demselben Ziele entgegenstrebte. In den Sitten der höhern Stände bildeten Glanz- und Prunksucht, vornehmer, den gelehrten und künstlerischen Klassen nur zuoflbe^voh- nender Ton, Mangel an Gleichheitsgefühl, selbstgefällige Red- Seligkeit den Schatten des öffentlichen Wesens, Züge, wie sie mit Grund der Verfasser des publicistischen Aufsatzes, Pavo, hervorhebt. Um den Ausgaiig des dreizehnten und

452 Pavo, über den Charakter etc.

den Anfang des vierzehnten Jahrhunderts trat für Frank- reich allmählig ein umgestaltender Wendepunkt hervor; statt der territorialen Zerstücklung wurde Goncentra- tion zu Gunsten der Krongeviralt, statt des wissenschaft- lich-künstlerischen Lebens eine practisch-admini- strative Richtung erstrebt und auch vielfach auf Kosten der bisherigen treibenden Hebel bewerkstelligt, so weit das über- haupt im Bereich des Mittelalters möglich erscheint. Also fand die schon unter Philipp August (st. 1223) häu6ger gewordene Einziehung der durch Tod, Acht und Kriegsgiück erledigten Lehen grundsätzlichen (systematischen) Spiel- raum, gewann die unter Ludwig IX. (st. 1270) geordnete Rechtspflege zu (Tunsten des königlichen Oberhofes grössere Ausdehnung in den Gebieten der zwieträchtigen und eigensüchtigen Lehenherrn, bekamen unter Philipp IV. oder dem Schönen (st. 1315) das Ansehen und die Macht der Monarchie neue Kräfte, indem man hier den Sitz der gebrochenen Hierarchie nach Avignon verlegte (s. 1309), dort durch eigene und päpstliche Gewalt den Tempel- herrenorden aufhob und die Erbschaft desselben antrat (1311), endlich in Lothringen, Burgund und an den flan- drischen Grenzen auf Kosten Deutschlands etliche für die Zukunft berechnete Marksteine errichtete, überhaupt nichts verabsäumte, um die Feudalaristocratie zu bre- chen und den Gesammtstaat bei wachsender Kronmacht nach innen und aussen hin zu verstärken. Dieses auf übrigens zeitgemässe Goncentra lion gerichtete, consequente Streben der französischen Regierung unterbrach zwar der hundert drei und zwanzigjährige Nationalkrieg mit Engl and (1337 1460), aber die leitenden Grundsätze traten bei dem glücklichen Ausgang des erschöpfenden Kampfes mit frischer Kraft hervor. Am Wende- und Scheidepunkt des Mittelal- ters*aufgestellt, konnte Ludwig XL grösstentheils das Werk der Väter vollenden, den Bau einer starken; sämmtliche Lande und Körp'^rschaften Frankreichs umfassenden Monar- chie, welche in der Art früheren Entwicklungen der Nation unbekannt war (1461 -^ 1483.). Demgemäss wandelten sich

Gegen Albert Schotts Weifen und Gibelinge. 453

auch die Sitten und geistigen Tendenzen um; jene wur- den rauh militärisch, in den höhern Kreisen abgeschliffe- ner, diese practisch-poiitisch, wie denn die theologische Speculation sank, Geschichts- und Staatswissenschaf- ten stiegen.

C^egen Albei*« fScliotts ITelfen u. Oibellngre.*)

In unsrer litera(ur gehn bei heilem tag gespenster, die gebannt werden und dennoch wieder zu erscheinen versu- chen, eh sie endlich hinab sinken, so hatte Eccard den üb- len gedanken, in Reinhart und Isengrin stecke satire auf einen alten dux Reginarius und comes Isanricus; nachdem dieser fund eine weüe sich umgetriebea hatte, wurde er von Mone noch weit bestimmter aufgegriffen und das alte gedieht bis ins einzelne muste halsbrechende anwendung auf die ge- schichte erleiden. Ein anderes beispiel liefert der in Italien zuerst ausgegangne und dort gewöhnlich unverstandne oder abenteuerlich gedeutete parteiname der Guelfen und Gibel- linen, den man in Deutschland mit recht nach Otto von Freisingen (de gest. Frid. 2, 2) auslegte, bis in unsern tagen die beschäftigung mit altdeutscher poesie auf abwege leitete. Göttling bekam den einfall, weil Conrad der Gibelline aus Worms stamme, wo die heldensage könig Gibich hausen, lasse, so sei von Gibechingen zu Gibelingen kein sprung, folglich seien die Nibelungen wahrhafte Gibellinen, und kraft dieser entdeckung wurden nun sämtliche gedichte unsers mittelalters gemustert, um in ihnen entweder guelfische oder gibellinische färbe aufzuweisen. Der verehrte mann, glaube ich, wird diese Jugendsünde sich längst haben gereuen las- sen; wenn wir die alten dichter unbefangen lesen, lernen wir bald, dass sie den inhalt der ihnen zugebrachten werke für eine Wahrheit achteten, an dein sie ihre darstellungsgabe

*) Im vorigen Heft S. 317 ff. Red.

Allg. Zeitschrift f. Geschicli^e. V. 1846. 3 j[

454 e^gen Albert SchottM^ Weifen tsnd OibeUnge.

vereuehen dürften, den sie nie mit absicbl veränderten. Sie gaben höBschen Stoffen, die der feinen weit mebr zusag- ten, als die lang unter dem volk gesungnen, den Vorzug und streuten auch anspielungen auf die Zeitgeschichte ein} nie aber verrUckten sie den gang und das wesen der fabel, die in höherem alterthum entprungen war, durch einmischung politischer Vorstellungen aus ihrer eignen zeit Da sich nun zeigen lässt, dass den deutschen dichtem und geschicht- schreibern des zwölften, dreizehnten Jahrhunderts der ge- gensatz zwischen Weifen und Gibellinen in italienischer schärfe unbekannt war, so besteht, meines erachtens, zwi- schen Nibelungen und Gibellinen auch nicht der geringste Zusammenhang.

Gleichwol ist eine solche annähme schon vor zehn jafa- ren von Hone, und neuerdings von Schott wieder hervor- geholt worden. Bei jenem kann man immer lernen, auch wenn ihm beizupflichten unmöglich ist, weil seine behaup- tungen jederzeit aus reichem und fleissigem quellenstudium bervorgehn; ich finde nicht dass Schott neues material zu-' bringt, er schöpft es aus Ducange, Mone, Stalin, und ergeht sich in combinationen.

Ueber die Weifen kann eigentlich kein streit sein. Das althochdeutsche huelf bedeutet catulus, catellus, und wird bald männlich mit dem pl. huelfä oder huelß, bald neutral mit dem pl. huelfir gebraucht; die meisten denkmäler tilgen aber schon die anlautende aspirata, und setzen weif. Das F in diesem wort ist ein solches, welches gothischem, nor- dischem und sächsischem P entspricht, die altnordische form lautet hvelpr, dän. schwed. hvalp, die altsächsische huelp (Falkos trad. corb. 360. 406 haben Huelp, 98. 106 Weif)) die angelsächsische hvelp; in der sächsischen chronik (Scheiter 86) steht Henrik dat welp im reim auf gelp (ahd. gelO, bekannt ist die schlacht am Welpes holt (Pertz 5, 8. 113), mhd. Wolfes holz. Für die golhische spräche mut- masse ich entweder hvalps pl. hvalpeis oder hvalp pl. hval- piza. Beides jene aspiration und das F = P zeigen an, dass das wort ganz unverwandt sei mit wolf lupus, dessen P

Gegen Albert Schoiii Weifen und eibeUnge. 455

auch in den übrigen sprachen bleibt, golb. vulfs, ags. volf, altn. üifr.

Der aus huelf entnommne eigenname lautet gleichfalls Huelf oder Weif, aits. Huelp (wie die falkischen stellen wei- sen), doch daneben gilt Huelfo. Die geschichtschreiber schwanken, bei Lambert lese ich nur Weif (Perlz 7, 179. 227. 234. 243. 250. 255. 262)^, bei Bernoldus Weif (Pertz 7, 429. 439. 445 447, in der letzten stelle eraso o), dann Welfo (7, 452. 453. 461. 465) und in der flexion Welfoni (7, 444. 449. 456) Welfonem (7, 456) Welfone (7, 463), es scheint dass der Schreiber anfangs die starke, hernach die schwache form setzte, wenn man nicht zwei verschiedne Schreiber vermuten darf. Aber auch Berthold bat Weif (7, 275. 283. 296) mit der lat. Qoxion Weiß (7, 298) Welfo (295. 300) Welfum (299. 302) neben dem nom. Welfo (312. 316. 319) gen. Wel- fonis (319). Bei Ekkehanl begegnet- zwar der lat. gen. Welpi comitis (8, 171) und einmal die seltsame Schreibung Waiulfus (8,221) statt Welfus, doch gewöhnlich steht Welefo (8, 200. 205. 208. 209) mit dem gen. V^elfonis (220) dat. Welefone (202). Der annalisU Saxo hat Weif (8, 698) oder Welphus (694. 736), aber wiederum Welpho (710. 721. 728. 731), flectiert Wel- phonis (785) Welphonem (735) , einmal (754) scheint sogar rwischen Welfus und Welfo unterschieden, doch wird 763 beidemal Welfo geschrieben. Bei Bruno findet sich Walph Welph Walpho (7, 864), bei Marianus Scolus Walp (7, 561). Die mhd. dichter ziehen Weif vor, es genüge an einer stelle aus Willehalm 381, 27, wo Wolfram dem Aropattn wünscht:

nu müeze im als Weife,

der Tüwingen enraht,

gelingen aller stner mäht:

sd scheit er dannen ftne sige.

alsus ich sin mit wünsche phlige, d. h. er müsse geschlagen werden gleich dem Weif vor Tü^ hingen im jähr 1164.

Ich habe von diesen formen umständlichen bescheid ge- geben, um Schotts ansieht abzulehnen, nach welcher Welfo ein Svoika v7i0xoQi(frnc6v sei, entsprungen aus Welfhardus,

31*

456 Gegen Albert Schotts Weifen und Gibelinge.

welches freilich in Eckehardi IV casus S. Galli (Pertz 2, 87) und auch anderwärts (Pertz 5, 146) angetroffen wird; nun ist es wahr, dass dergleichen diminuiiva für zusammen ge- setzte eigennamen vorkommen, z. b. Alle fUr Adalgts, Benno für Bernhart, gewöhnlich mit starker syncope des ersten Iheils, nur selten bleibt dieser unverletzt, wie in Ghuono für Ghuonrät; Welfo aber ist nichts als schwache form und aus weif geleitet wie Hagano aus hagan, ja es ist gezeigt worden, dass Weif als eigenname daneben gelte, und die sage fordert hier solche einfachheit, so dass Weifhart nur erweiterung sein kann, die sich einige erzähler gestatteten.

Diese sage steigt nun sicher in hohes alterthum auf, in weit höheres, als die zeit des Altorfer und Ravensburger Warin, auf den sie bloss angewandt wurde; ich zweifle kaum, dass sie schon bei den Sueven zur Römerzeit um- gieng, und sie allein erklärt uns den unvertilglichen volk- witz von den blinden Schwaben und Hessen (da auch die Chatten suevisches Stamms sind), der sich auf einen blind- gebornen Stammhelden Huelf gründet, weil die jungen mu- tiger thiere, nicht bloss der hunde, sondern auch der iöwen, baren, wölfe sämtlich huelfir, weifer hiessen, bedeutsam aber selbst Wuotan der gott blind genannt wird, altn. Odinn Helblindi. * Dieser mythus , welcher die anfangs verhüllte, noch unsichtige Jugend des beiden hernach desto leuchten- der vortreten lässt, wandelte sich später in ausgesetzte kin- der, denen weife untergeschoben werden, um, und auf sol- chem wege können frühe schon, weil auch die jungen wölfe blind liegen, catuli und lupuli, dem begrif und ausdruck nach verwechselt worden sein, jenes Helblindi war zugleich eines Wolfes name. Alle diese Verhältnisse hat meine mythologie in der hauptsache bereits s. 346 angedeutet, und es ist be- sonders merkwürdig, dass auch Eticho, ein in der weifi- schen genealogie wiederkehrender name, hund zu bedeuten scheint, was auszuführen hier nicht der ort ist. Das spätere wiederkehren dieser eigennamen verschlägt nichts, festzuhalten ist, dass die sage von den Weifen echt schwäbisch sei} „ein Weif von Swäben<< sagt noch Tanhäuscr MS. 2, 64 a.

Gegen Alberi Schotts Weifen und Gibelinge. 457

Desto ungefüger scheint ein gegensatz der Weifen zu den gleichfalls schwäbischen vollends unmythischen Gibelli- nen, von welchem unser dreizehntes Jahrhundert sich noch nichts träumen lässt.

Einem gleichzeitigen, kundigen, wahrheitsliebenden ge- Schichtschreiber, wie Otto von Freisingen ist, will Mono s. 24, absichtliche entstellung aufbürden: „Übel oder wol^' 'habe er das angebliche Gibeling „in Weiblingen verdrehen wollen." Ottos meinung wird recht behalten.

Schott zählt s. 329. 330 zwei Weiblingen oder Wiblin- gen auf, die gemeint sein können, er hätte sie, und noch ein drittes pfalzisches bei Pertz 7, 109 besprochen finden mögen, aus dem Ortsnamen Weiblingen bildete sich der Stammname Weiblinger (wie aus Tübingen Tübinger, aus Tirol Tiroler, aus Stauf Staufer, es ist undeutsch zu schrei- ben Staufen); man will einwenden, dass aus dem heerruf Weiblingen, Wiblingcn das ital. Gibellini nicht entspringen könne, weil die Guelfi von dem geschlecht der Weifen heissen, die gegenpartei also nicht von dem orte heissen dürfe; wer die geschichto der „krte" des mittelalters kennt, weiss, dass gerade die meisten von dem hauplort der streitenden entnommen sind : Iper und Arraz Wh. 437, 14, Provts 437, 11, Nanzei 437, 14, Cordes 401, 29, Narbön 437, 18 (vgl. Trist. 18883); zuweilen von dem land: Brabanl Wh. 329, 7, ThasmÄ und Thabronit Parz.739, 24; am seltensten von dem heerführer, wie hier Weif; so viel ich weiss nie von dem namen der streiten- den selbst, die ja den krt auszurufen hatten, man wird nie- mals Weiblinger, nur Weiblingen (dativ des orts) gerufen hafaipn, und erst die Italiener konnten, ohne deutsches Sprach- gefühl, ein persönliches Gibeliini, Ghibellini den Guelfi zur Seite setzen. Schon aus diesem grund ist ein deutsches Weibelinge oder Weibelunge in der form von Nibelunge un- statthaft. £in andres hindernis soll der diphthong £1 ma- eben, der nicht in ital. I übertreten könne; allein dies EI schwankt in dem andern Ortsnamen selbst in I, und es ist für die unsichre ausspräche hier gleichviel, von welchem der drei örter die partei heisse; das italienische ohr mochte

458 Gegen Albert Schotts Weifen und GibeUnge.

wirklich Wiblingen haben rufen hören. Drittens behauptet inan, das deutsche W müsse zu welschem GV, nicht zu blossem G oder GH werden; das ist falsch, davon abgesehn, dass sich auch Guibellini geschrieben findet und umgekehrt

Gelfi statt Gueifi, so stösst man auch auf giffare fdr guißare

*

(sB wiifare), gaggio franz. gage aus guadium^ vadium, Ghi- berto für Guiberto, und aus deutschem Warinus wird roma- nisch Guarino, Guerin und Garin.

Alles dies, wie gesagt, hat nicht die leiseste gemein- Schaft mit den Nibelungen. Nun stellt Schott, noch weiter gehend als Götlling, auf: die Nibclunge sind die nordischen Giukftngar; wie diese aus Giuki, müssen Gibechinge aus Gi- beche geleitet werden, Gibecbe wird aber mit andrer gleich- bedeutiger ableitung Gibele geheissen haben, von welchem Gibelunge herstammen^ Gibelunge sind folglich was Gibe- chinge und Nibelunge. Es lautet nicht uneben, wenn es wahr wäre.

Die Niflüngar und Giukfingar fliessen allerdings zusam- men, seit Siegfried nach Worms gekommen war und in Giu- kis geschlecht geheiratet hatte; nach seinem tod fällt der Nibelunge hört an sie, und als dessen herrn heissen sie Nif- l&ngar; auch im deutschen epos geht die benennung Nibe- lunge auf die ßurgunde über. Allein die deutsche dichtung und sage, so weit wir sie kennen, obschon Gibeche als bur- gundischen Stammvater aufführend, nennt niemals die Bur- gunde Gibechinge, ebenso wenig die aus deutscher quelle geflossne Vilkinasaga, welche nicht einmal Giuki kennt, son- dern dafür mit deutlichem misgrif Aldrian setzt. Man kann einräumen, dass die diminutiva ilo (gramra. 3, 666) deöen auf - icho zur seite stehn, ahd. Kipicho = Kipilo sein dürfte, aber alle hochdeutschen quellen, bis zur lex Burgund. auf- wärts kennen bloss Kipicho, Gibeche, Gibica und dieser in- dividuelle ausdruck ist der wirkliche. Damit fällt Gibilo und ein daraus herrührendes Gibelunge.

Jetzt bleibt noch eine einzige ausflucht. Der name Gi- belungus, Gibilinus, Gipelo sei in altdeutschen denkmälern, iheilweise schon aus früherer zeit, als in welcher jene par^

Gegen Albert Schotts Weifen und Gibelinge, 459

teinamen sich erheben, vorhanden; Mone hat 19. 14 bei- spiele aufgewiesen, und für rheinisch burgundisohe namen erklärt; die nibeluugischen Gibelungen seien demnach Rhein* länder, keine Schwaben, und Schwaben läuft gefahr dem staufischen geschlechte zum trotz seinen anspnich auf die benennung Gibelline einzubüssen. Mit geringer belesenheit hätten diese beispiele sich können vermehren lassen. Gibe* linus, im jähr 1107 erzbischof zu Arles, wurde 11 10 dritter Patriarch von Jerusalem (Pertz 8, 483.) Unter den kerlingi^ sehen beiden streitet ein Gibeltn, Gybelln Wh. 374, 3. 415» 27. 430, 18; er aber soll uns aufschluss gewähren. In ei- nem merkwürdigen lat. bruchstUck, das aus älteren kerlingi- sehen liedern, als wir sonst Übrig haben, abstammt, heissl derselbe held Wibelinus (Pertz 5, 709, 47), folglich ist das G hier romanisch, aus deutschem W entsprungen, wie Gy- bert, Gyborc aus Wigbert Wigburc, worin eine bestattgung des vorhin behaupteten Übertritts des W in G liegt. Damit ist plötzlich gegen jede zurilckführung von Gibelung auf die deutsche wurzel gib- in Gibeche entschieden, Gibelung konnte aber aus romanischem land in die Rheingegend gelangen, das übrige Deutschland scheint ihn kaum zu kennen. Ob den Italieneni auch früher der name Ghibelinus bekannt war, ob er die bildung von Ghibellini aus dem heerruf Wiblingen er- leichterte, lasse ich dahingestellt, und ebenso wenig liegt mir hier auf, in die wurzel des namens Wibilinus zu dringen.

Ich darf zum schluss noch fragen: wenn der parteiname Gibelinc das dreizehnte jahrh. hindurch in Deutschland gang- bar gewesen wäre und seine ersonnene berührung mit den Nibelungen irgend grund gehabt hätte, wie wäre erklärbar, dass die rührigen und auch politisch bewegten dichter jener zeit ein solches Verhältnis bei zahllosem anlass unberührt lassen konnten? es ist keine spur davon vorhanden. Erst im vierzehnten jahrh. drangen die welschen parteinamen ein (Otto von Freisingen nennt bloss die famosae famiiiae, una Henricorum de Gueibelinga, alia Guelforum de Altdorfio), das älteste beispiel scheint im Lohengrin s. 88 enthalten, wo es vom pabst beisst:

460 Gegefi Albert Schotts Weifen und GibeUnge.

den keiser er bat helfe,

und wolt er kernen, im hülfen Gibel unde Gelfe, hier sind die Gibellinen sogar in Gibele gekürzt. Andere stellen aus Conrad von Ammenhausen hat Mone s. 14 an- gezogen.

Dass in den dichtungen der einheimischen heldensage der parteiname mangle, will Schott s. 367 durch die Vermu- tung erklären, er sei schimpflich, spöttisch, unanständig ge- worden (Mone s. 24 meint dasselbe); das wäre welfischge- sinnten sängem sogar willkommen gewesen. . Wenn ein höfischer ordner des Nibelungenliedes Dankrftt für Gibeche setze, sei das „noch zartere rücksicht/^ Alles mass über- schreitet aber diese statt der nothwendigen beweise gründe aus der luft greifende critik, wenn sie s. 364 ernst- lich hinstellt, der aufnähme Heinrich des vierten im jähr 1073 zu Worms sei zuzuschreiben, dass die rheinische sage vom kämpf der Nibelunge wider die Amelunge diese Stadt als den sitz der ersteren bezeichnet. Ist denn nicht schon in dem hier von Schott selbst angeführten Waltharius des zehnten jahrh. Worms der Nibelunge königssitz? und jene traurige zeit des eiiflen hätte auf das edle epos so einzu- wirken vermocht?

Es thut mir leid dies urtheilen zu müssen, warum aber legt Albert Schott solche unreife arbeiten vor, oder die ih- rer anläge nach gar nicht reifen können? Seine thätigkeit und sein streben achte ich, er »hat neulich walachische mär- chen herausgegeben, ein schätzbares geschenk, die hinzuge- fügten anmerkungen engen sich aber in die (auch hier s. 357. 358 umgehende) Vorstellung von sommer und winter der- gestalt ein, dass der gesichtspunct ganz einseitig und abge- sperrt erscheint. Zu Vollmers Gudrun ist von ihm eine An- leitung geschrieben worden, die manchem das Studium der alten poesie und der mythen zugleich verleiden könnte.

Jac. Grimm.

Angelegenheiten der historischen Vereine. 461

Angelegenheiten der historisclien Vereine.

Referate.

Syslemalisches Repertorium über die Schriften sSmmtlicber histori- scher Gesellschaften Deutschlands, Auf Veranlassung des historischen Vereins für das Grossherzogthum Hessen. Bearbeitet von Dr. Ph. A. P. Walther, Sekretair an der Grossherzogl. Hofbibliolhek in Darmstadt, Biblio- thekar Sr. Königl. Hoheit des Erbgrossherzogs von Hessen, ordentliches Mitglied und d. Z. zweiter Sekretair des historischen Vereins das. Darm- stadt, 4845. Verlag der Hofbuchhandlung von G. Jonghaus.

Den alten Streit, den Kritik und Dankbarkeit mit einander fuhren, haben wir bei der Betrachtung des vorliegenden Buches wiederum recht lebhaft empfunden. Denn hat man einmal er- kannt, dass die Geschichte des deutschen Volkes nur dann erst in einem reichen und einheitlichen Bilde aufgefasst werden kann, wenn emsige auch das Kleinste und Unscheinbarste nicht ver^ schmähende Forschung in allen Territorial- und Lokalgeschichten vorhergegangen ist, lebt man ferner der Uebcrzeugung, dass die Bistoriographie der heutigen Zeit dem Irrthum, durch abstrakte Verallgemeinerung der Thatsachen oder durch eine sich selber auf ein gewisses Maass herkömmlicher Mischungen beschränkende Schönfärberei die Anerkennung ihres wissenschaftlichen und künst- lerischen Anspruchs sichern zu wollen, entronnen , gerade in der treuen Bewahrung des Individuellen, und in der Hingebung an die FüHe des Ereignisses ihre vorzüglichsten Mittel, auf Geist und 6e- müth der Nation zu wirken besitzt, dass aber auch das entschied dene Talent auf diesem Wege der glücklichen über den reichsten Stoff frei verfügenden Auswahl bedarf wie wird man sich nicht freuen, in diesem Repertorium die Nachweisung der mannigfaltig- sten und wichtigsten Materialien für fast jedes Gebiet der vater- ländischen Vorzeit, die sich, biisher auf eine fast unübersehbare Weise zerstreuten, so bequem und in guter Ordnung beisammen und damit einen erfolgreichen Schritt zur Erreichung sowohl der nationalen als der allgemeinen Zwecke der historischen Wissen- schaft gethan zu sehen. Lange wussten die an den deutschen Geschichtsstudien Theilnehmenden , wie viele zum Theii bedeu- tende wissenschaftliche Kräfte das Vereinswesen erwecke und be- schäftige, wie auch hier, wie bei so vielem Guten, was heute den geistigen Gesammtbesitz der deutschen Nation ausmacht, noch die Antriebe, welche die Zeiten der Knechtschaft und der Befreiung *)

*) Denn auf diese Zeiten, und auf die Gefühle der Ehrfurcht vor der grossen Vergangenheit des deutschen Volkes, die sie erweckt haben, muss maa doch die historischen Gesellschaften und somit die Literatur, deren

462 AngetegeiAeUm der hütorischm Vereine.

gegeben haben, fortwirken; man musste nur beklagen, dass die Nation auch hier ihres eignen fteichtbume kaum inue werde, und befürchten , dass eine an so vielen Punkten fruchtbare Thätigkeit, wenn sie langer das Bewusstsein ihrer Einheit entbehre, und sich der Wunsch nach Verständigung über das gemeinsame Ziel nicht zu rechter Zeit in ihren einzelnen Kreisen rege, sich immer mehr zersplittern, in der Bemühung um Unbedeutendes, in der Ver- senkung in Quisquilienkram untergehn könnte. Soll man es da nicht als ein freudiges, in unsern deutschen Verhältnissen leider noch immer seltenes Ereigniss begrüssen, dass einer dieser Ver- eine heraustritt, um mit bedeutenden Kosten und Mübwaltungea Etwas für Alle zu thun, dass einer sich dazu versteht, die saure Arbeit des Registrators für alle andern zu übernehmen, Kräfte, die er für seine nächsten Zwecke ohne Zweifel nutzbar machea könnte, im Dienste des gesammten Vaterlandes verwendet? Eine Registratur nenne ich unser Buch; in eine solche pflegt man sich nur zu begeben, wenn man eines bestimmten Schriftstückes be^ darf; Wer würde viele tausend Actentitel durchlesen wollen? Und doch ist die Leetüre eines solchen stummen Buches (in Zeiten-, wie die jetzigen, wo uns die Phrase tödtet, ohnehin eine wilU kommene Abwechselung) in vieler Hinsicht anregend und beleh- rend. Nicht allein, dass die nun so erleichterte Uebersicht über das Verhältniss, in welchem die verschiedenen Gebiete der deut- schen Geschichte und Alterthumsforschung aufgesucht und ange« baut werden, belehrende Schlüsse über das, was zu thun und was zu vermeiden ist (wir kommen weiter unten darauf zurück) gestattet: schon die geographische VertheUung dieser Vereine giebt

Erträge das Repertorium nachweist, zurückführen. Herr Wahher spricht freilich von der mehr ,,als 4 00jährigen schriftstellerischen Gesellschafts» Tbtttigkeit Deutschlands in den historischen Disciplinen"; allein sieht man den Caialog seiner Quellen durch, so reichen doch nur die Schriften der Akademieen oder der ihnen. y<gf^vj^len für alle Gebiete der Wissenschaft wirkenden Socletäten, z. B. die Abhandlungen der Berliner und Müochener Akademie, der Güttinger Societät, die Acta Academiae Theodoro-Palstinae, die Acta socielatis Jablonovianae, die Acta Academiae electoralls Moguntinae, die Abhandlungen der böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Prag, bis ins vorige Jahrhundert zurück. Von Gesellschaften, die einen den neuen Vereinen wenn gleich nicht völlig entsprechenden, doch im Allge* meinen ähnlichen Charakter haben, möchte allein die oberlausitziscbe Ge> Seilschaft zur Beförderung der Natur- und Geschichtskunde ein gleiches Alter haben. Wir wollen, indem wir den Zeitraum des Bestehens und der Wirksamkeit der Vereine in dem Sinne, in welchem wir sie beson- ders betrachten, so erbeblich beschränken , dem Verdienste unserer Samm- lung, die auch jene älteren Materialien herbeiziehen musste, nicht zu nahe treten; die Bedeutung der Vereine selbst wird unseres Brachtens dadurch erhöht, dass wir sie mit den grössten Thatsachen unserer Geschichte im Zusammenhange sehen.

Angelegenheiten der historischen Vereine, 468

zu allerlei Betrachtungen Anlass; sie lasst uns bald förderiicfae Tbeiinahme der Regierungen, wie z. fi. der bayrischen an der Gründung der neun Vereine in den verschiedenen Landschaften, und der Leitung derselben zu gemeinsamen Zielen anerkennen, bald das historische luteresse, welches sich an uralte landschafV liehe Verbände, wenn diese auch lange schon ihre gesonderte Existenz verloren haben und in grössere Ganze aufgenommen sind, knüpft, wie z. B. in den Gesellschaften der Altmark und Oberlausitz, verfolgen, bald überrascht sie durch die Gleichartig- keit geschichtlicher Anschauungen und Studien, die sich in neu gebildeten, aus sehr verschiedenartigen Bestandibeilen erwachsenen politischen Ganzen , wie z. p. in dem heutigen preussischen West- falen, namentlich in den aus allen Theilen der Provinz gleich* massig bereicherten sieben Bänden des Archivs für Geschichte und Alterlhumskuude, zeigt Man wird an die vieljährigen, oft ein ganzes Leben ausfüllenden, von einem wohl erkennbaren Plane geleiteten Bemühungen verdienter, und doch nur wenig genannter Uänner erinnert, wie z. B. an den trefflichen Wigand, der unter ernsten Lebensschicksalen bis in sein hohes Alter die Vorliebe für diese Studien bewahrt, und nachdem er so lange die Kräfte West* falens concentrirt, nun auch seinem neuen Wohnorte, Wetzlar, einen Namen in dieser Vereinsliteratur erworben hat, an den un« ermüdlichen Förstemann, an Lisch in Schwerin. Ganz eigenthüm- liehen Thatlgkeilen begegnet man, wie der des Herrn Mooyer, eines Privatmannes zu Minden (wenn wir recht unterrichtet sind), der, auf die Erläuterung der für Chronologie und Genealogie gleich wichtigen Necrologien geführt, sich immer bei derjenigen Gesellschaft einstellt, in deren Bereich das gerade von ihm ge- wählte Todtenbuch fällt, so im Westfälischen Archiv die Necrolo« gien der Klöster Möllenbeck, Hainsberg, und Engern (s. Nr. 414c. und 514b. 6295. 6304), im Niedersächsischen Archiv die des Hochstifls Hildes heim, des Benediktinerklosters St. Mi* chaelis zu Hildesheim, und das Diptychon Bremense (514* 1857. 5614.), in den Berichten der Leipziger deutschen Gesell- schaft die des Klosters auf dem Petersberge bei Erfurt (Nr. 6197a.) erläutert, in den Thüringisch -Sächsischen Mitthei« lungen dreimal sein Scherflein für das besonders werthvolle Galen* darium Merseburgense (3549. 6225. 26.) beiträgt. Dann Gnden wir oft unerwartet in diesen lokalen Beschäftigungen auch die Führer unserer allgemeinen deutschen Geschichtswissenschaft; wer weiss viel, dass Böhmer im zweiten Bande des Grossherzoglich Hessischen Archivs „verbesserte Lesarten zu Bischof Burchards Wormser Dienstrechte^^ (Nr. 794.) gegeben, dass das Kurhes- sische und Westfälische Archiv eine Reihe von Forschungen Jacob

464 Angelegenheiien der kisiorischeB Verdne.

Grimms über sprachliche Dinge (z. B. über den Namen West- falen Nr. 1273.) enthalten, dass Perlz bereits in seiner neuen Heimath im 6ten Bande der Jahrbücher der Berlinischen Gesell- schaft für deutsche Sprache und Alterthumskunde Mittheilungen aus einer niederdeutschen Handschrift des Reisebuchs zum hei- ligen Lande von Rudolf von Suchen (566 a.) gemacht hat. In der bunten Reihe von Leistungen, die an uns vorübergehen, erscheint neben dem Nächsten, dem Orte Angemessensten , auch das Fernste und Entlegenste; wer suchte in der Steiermärkischen Zeitschrift einen Aufsatz von v. Prokesch* Osten über das Labyrinth von Greta (Nr. 2251b.)?

Aber, wie wir dies vorausgeschickt, über alle den belehrenden und erfreulichen Eindrucken, die Uns schon die erste Durchsicht des (überdies recht angenehm gedruckten) Repertoriums verschafft, über alle dem Nutzen, den ein fernerer Gebrauch desselben ver- spricht, dürfen wir doch das Geschäft der Kritik nicht versäumen. Der Werth eines solchen Unternehmens richtet sich nach seiner Vollständigkeit und nach den Principien, die der Anordnung zu Grunde liegen. Vollständigkeit aber um von dieser zuerst zu reden hängt wieder von der richtigen , durch den wohl ver- standenen Zweck der Arbeit geleiteten Auswahl ab; denn gerade da sie absolut kaum jemals recht zu erreichen ist, wird es um so wichtiger, sowohl das zu Viel als das zu Wenig zu vermeiden. In beider Hinsicht haben wir mit dem Verfasser zu rechten. (In- erspriesslich und über den Beruf der Arbeit hinausgehend erscheint nämlich, dass er aus den Schriften der Akademieen namentlich (denn die Aussonderung des der klassischen Welt Angehörigen, das sich abgesehen von Rubriken, wie Germania Romana, in den historischen Zeitschriften fände, konnte in der Hinweisung auf den entlegenen Fundort noch ein Verdienst haben) auch alle die den klassischen Sprachen und Literaturen, $owie der alten Geschichte angehörigen Abhandlungen aufgenommen hat. Vereinzelt stehen sie hier in einer fremden Umgebung, in der sie Niemand sucht; denn wer erwartet die Abhandlungen zur Geschichte der Philo- sophie von Wendt und Boulerweck (pag. 49) in diesen Rubriken, oder wen störte es nichts wenn in der Abtheilung für Geschichte einzelner Familien und Personen, pag. 217 zwischen „einige Nach- richten über das Leben und die Amtsführung des vormaligen Bür- germeisters der Altstadt Hannover, Consistorial-Raths August Wil- helm Alemann" und „eine Nachricht von Tob. Aleutner kais. gekrönten Poeten und Pastors zu Friedersdorf Leben und Schrif- ten", Buttmanns Abhandlung von den Aleuaden fällt. Ueber- flüssig ist ferner die Aufnahme der in den Monumentis Germaniae gedruckten Scriptores (dann auch der Notizen über Gapitularien

Angelegenheiten der historischen Vereine. 465

und Kaisergesetze, die sieh pag. 342 finden); denn unter den Quellenschriften der deutschen Geschichte sind gerade die, die schon diesen sicheren Hafen gefunden haben, am leichtesten zu erreichen, und dies ganze literarische Gebiet erwartet in dem der Vollendung immer mehr entgegenreifenden Direktorium (von den Arbeiten der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde leicht eine der wichtigsten) $eine eigene Registratur, die dann jede andere für die bis jetzt nicht in den Monumenten befindlichen Scriptores noch eher willkommene Aushülfe entbehrlich machen wird; hier in die Rubrik für „bestimmte einzelne historische Bücher" nach ihrer alphabetischen Ordnung eingereiht, stehen diese Schriften doch nicht am rechten Orte und ihre Nachweisuog behält den Charakter des Gelegentlichen und Fragmentarischen* Für das nun, was ich (und gewiss Viele mit mir) unserer Samm- lung gern erlassen hätte, würde ich eine freilich viel bedeutendere Gegenrechnung stellen können. Der Verfasser hat sich zwei Gren- zen gesteckt, eine räumliche, indem er sich rein „auf das den deutschen Bund bildende Deutschland" beschränken wollte, und eine sachliche, durch die er alle Zeitschriften und Sammlungen, die von Einzelnen herausgegeben sind oder vermischte Beiträge von Einzel* nen enthalten, ausschliesst. Die erste hat er doch selbst nicht aufrecht erhalten können, indem er Preussens deutsche, aber nicht zum Bunde gehörige Lande betrat, und die königliche deutsche Gesell- schaft zu Königsberg in seinen Kreis zog. Ich weiss nicht, ob er unter diesen Umständen nicht einen Schritt weiter gehn, die ehrenwerthe Thätigkeit der deutschen Ostseeprovinzen Russlands, der deutschen Schweiz berücksichtigen musste; es hätte, darin wird Jedermann mit der Entschuldigung, mit der er diesem Vor- wurf gleich von vorn herein zu begegnen sucht, einverstanden sein, dies die Arbeit bedeutend grösser und in vielem Betracht schwieriger gemacht aber auch um Vieles nützlicher. Doch lassen sich diese im Verhältniss zu dem eingeschlossenen Terrain immer kleinen Räume, die nun aussen liegen bleiben, noch eher übersehen; bedenklicher gewiss, wenn durch die aufgestellten Kriterien Vieles, was mit dem Aufgenommenen dem Local, der Art der Entstehung und andern wesentlichen Bedingungen nach zusammengehört, abgeschnitten wird. Und in der That, indem der Verfasser streng seiner Regel folgt, nur die Schriften der Ge- sellschaften zu verzeichnen, hier so sorgfältig ist, dass er auch die Arbeiten Einzelner, wenn sie sich nur auf dem Titel als im Auftrage einer Gesellschaft gemacht oder einer solchen darge- bracht ankündigen, wie z. B. die Schriften von Quandt und Preus- ker^ die kleineren Denkschriften des märkischen Vereins, Zeuss's unter dem Namen der Pfälzer Gesellschaft erschienene Ausgabe

466 Anffelegenheiten der hisioriicken Vereine.

dar Tradittones Wizeburgenses aofnimmi, geräth er gerade in jene Gefahr. Denn, wahrend Vieles, was dem Namen nach einer Ge- sellschaft angehört, in Wahrheit das Werk Einzelner ist (die Ge* Seilschaft für altere deutsche Geschichtstiunde bestand gerade so lange, als nichts bedeutendes von ihr ausging; seil ihr Name auf trefflichen, unvergessllchen Werken prangt, exislirt sie in der That nicht mehr)^ bilden sich dagegen um Einzelne her, und durch ihre literarischen Unternehmungen angeregt, gleichsam unsichtbare Gesellschaften, die in freierer Weise und deshalb oft erfolgreicher als die äusserlich constituirten , dasselbe Ziel mit diesen erstreben, ihre Arbeiten dergestalt ergänzen, dass man, wollte man sie un- berücksichtigt lassen, eine nur unvollständige Ansicht von den wissenschaftlichen Bemühungen eines Zeitalters und ein nicht aus- reichendes Material für die einzelnen Gebiete und Aufgaben er- halten würde. So hat, um ein Beispiel anzuführen, Ledebnrs Ar« chiv für Geschichte des preussiscben Staates, auf einen ziemlich regelmässigen Kreis von Mitarbeitern in den verschiedenen Pro- vinzen gestützt, für eine Reibe von Jahren fast die Bedeutung einer allgemein- preussiscben Gesellschafts -Zeitschrift. Der Kun- dige weiss, dass man es eben so oft aufschlagen muss, als irgend eine der in dem Repertorium aufgenommenen Zeitschriften, und er wird es daher ungern vermissen. Ost- und Westpreussen haben seit einem Jahrhundert eine Reihe solcher Organe gehabt, wie das Erläuterte Preussen, die Acta Borussica, die preussiscben Sammlungen und Lieferungen , die Beiträge für die Kunde Preussens, die preussiscben Provinzialblatter*), die das Repertorium in Folge

*) Ich darf wohl binzulUgen, dass diese letzteren seit dem Beginn dieses Jabres von einer förralicli organisirten Geselischafl herausgegeben werden, unier dem Titel: Neue Preussiscbe Provinzial-Blälter. Zum Besten der Anstalt zur Rettung verwahrloseter Kinder im Namen der Allerthums- Gesellschan Prussia herausgegeben von Dr. A. Hagen, Professor, Dr. MeckeU bürg, Stadibibliothekar. Band I (XXXV). Königsberg, 4SA6. Das erste Heft enthält nächst dem ersten Jahresbericht der Geselischafl (die von den geschichtlichen Anregungen der Säcularfeier der Universität ausgegangen, sich die „Auffindung und Bewahrung^ die Erklärung und Verbreitung vater- ländischer Denkmäler der Provinz'' zur Aufgabe wählt, und derselben zu- nächst durch allmonatliche Versammlungen für Vorträge und freie Discussion, und durch Anlegung einer Sammlung von Alterthümern und Kunstwerken nachkommen will, vom Oberpräsidium für den letztern Zweck für jetzt eine kleine Summe mit der erfreulichen Zusicherung einer späteren Unter- stützung erhallen hat) eine Reihe von Aufsätzen und Mittheilungen, unter denen für Volkssage und Sitte die Darstellung der preussiscben Erntege- brfiuche von Herrn Assessor Reusch, für Geschichte der darcb Herrn Dr. Meckelburg begonnene Abdruck der Chronik des Johannes Freyberg, alt* städtischen Rathsherrn in der Zeit der Reformation, die wichtigsten, der Bericht über die höhere Kunstschule in Königsberg und über die Arbeiten ihrer Leiter das für die Zukunft Verheisslichste ist.

Angelegenheiten der hiitarischen Vereine. 467

seifies Princips s'ämmtlich ausschliesseo mass, obwohl die nüchste Verwandtschafl ihres zum Theil sehr werthvoUen Inhalts mit allen seioen Quellen zu Tage liegt. So wäre es \vohl besser gewesen, an der einen Stelle die Grenzen enger zusammenzuziehen, an der anderen Überdieseiben liinauszuschreiten, überhaupt mit der Strenge der Regel eine gewisse Beweglichkeit in der Praxis, wie sie der Zweck der Arbeit in der That gebietet, zu verknöpfen -^ wenn man dann nicht vielleicht zu weit vom Mittelpunkt fortgeführt, auch hier wieder hatte erfahren müssen dass das Bessere der grösste Feind des Guten ist.

Bei der Anordnung des gesammten Materials mussten be sonders zwei Gesichtspunkte vorherrschen: einmal nämlich, dass es gilt, Arbeiten aus der lokalen Umgebung, in der sie entstanden sind, in diejenige sachliche Gemeinschaft, in der sie zu allgemei- nem Zwecke fruchtbar werden können, zu versetzen, dann aber auch die Nothwendigkeit, dasjenige, was der Zeit und dem Räume nach zusammengehört, und was der Zufall oft weil auseinander- geweht hat, in eine Rubrik zu vereinigen. So müssen die Abihei- lungen so gewählt sein, dass sie (bei möglichster Vermeidung von Wiederholungen) den Stoff nach beiden Rücksichten zusammen- stellen, und dass, wo die eine vorwalten muss, die andere doch nicht vernachlässigt wird. Im Ganzen und Grossen hat der Yer« fasser mehr, als seine nicht streng logische Gliederung der Haupt- ond Unterabtheilungen und die meist nicht günstig gewählten Ueberschriften auf den ersten Blick zeigen , diesen Tendenzen ent« sprochen. Die sechs ersten Abschnille sind unter dem vornehm« sten, dem sachlich -allgemeinen Gesichtspunkte angelegt, der sie- bente, welcher die Ueberschrift „Zur Kenntniss und Ge- schichte einzelner Länder und ihrer Theile'* führt, nach dem zweiten. Von jenen führt der erste unter dem Titel: Lite- ratur und Kunst uns in zehn Unterabtheilungen durch die Li- terar- und Kunstgeschichte in ihrem weitesten Umfang, wo dann die Geschichte des Buchdrucks und des Bücherwesens, der ein- zelnen Kunstzweige, z. B. der Baukunst, der bildenden und zeich- nenden Künste , die Gelehrten- und Kunstgeschichte im Allgemeinen sowohl, als die bestimmter Perioden, Gegenden und Völker, die Geschichte der Literatur der einzelnen Wissenschaften (wobei na- türlich die Geschichte der historischen Literatur an ' Abhandlungen zur kritischen Prüfung und an Versuchen der Herausgabe ein- zelner Quellenschriften die reichste Ernte zu halten hat), die Be- richte über die Thätigkeit der Gesellschaften zur Beförderung der Wissenschaft, Kunst und Literatur, über Bibliotheken, Archive und Museen, über die für deutsch - geschichtliche Studien gerade

468 AngelegenheUen der historischen Vereine.

so wichtigen and ergiebigen Reisen, die Geschichte der Universi* täten, Gymnasien und anderer Bildungsanstallen in ihren Bereich fallen. Ein zweiter Abschnitt konnte mit den sparh'chen Ertragen, aaf die sein Gebiet, die Sprachenkunde, in dieser Sammlung beschränkt ist, auf wenigen Seilen fertig werden, um dem dritten inhaltreicheren meiir Raum zu verstatten, der unter dem Titel Geschichte und ihre Hiilfswissenschaften in 8 Unterabthei- longen Geographie und Topographie, Chronologie, Epigraphik, Ge- nealogie, Heraldik und Sphragistik, Diplomatik, Numismatik, Ar- chäologie, Ethnographie und Statistik absoWirt, und in einer neun- ten — Geschichte überschrieben nächst demjenigen was von der Geschichte einzelner Völker und Volksstämme, einzelner Län- der und ihrer Theile, einzelnerstände, Gorporatiouen und Gesell- schaften nicht schon anderswo seine Stelle findet, vorzüglich die wichtigen Rubrikeil der „Biographie bestimmter Gegenden, Bio- graphie mehrerer Personen'' der „Geschichte einzelner Familien und Personen*' (welche letztere auch schon die Notizen über die in allen diesen Zeitschriften zerstreuten Urkunden nach dem Namen ihrer Aussteller geordnet aufnehmen musste) umfassL Die vierte, fünfte und sechste Hauptabtheilung haben es mit dem Religion- und Kirchen-, dem Rechts* und Staats-, dem Müitair- und Kriegs- wesen zu thun, und rechtfertigen leicht ihre innere Gliederung. In allen diesen Abschnitten ist die Reihefolge, wo sie keinem anderen Principe folgen kann, oder die Annahme einer solchen die leichtere Uebersicht gefährden würde ^ ohne einen schnell be- merkbaren Nutzen zu gewähren, alphabetisch; wo abor irgend von dem Lokal ein Eintheiiungsgrund hergenommen werden kann, ist immer die alphabetische Aufzählung der Anordnung nach Lan- dern und Territorien untergeordnet. Bei der Geschichte der histo- rischen Literatur folgen so „Geschichte und Literatur dex deutschen Geschichte" (A. IV. 1. c. y. ö, e.) im Allgemeinen, „der einzelnen deutschen Staaten'* (diese nach ihrer alphabetischen Ordnung), der „sonstigen Staaten" auf einander; in dem Abschnitte von den „Ueberresten früherer Jahrhunderte und ihrer Auffindung in einzelnen Gegenden" wieder die deutschen Bundesstaaten nach alphabetischer Ordnung. Auch wo nicht schon das Inbaltsverzeich- niss diese Rücksicht bemerklich macht, z. B. gleich pag. 1—3 in dem Abschnitt: zur Geschichte der. Buchdruckerkunst im Allge- meinen und in einzelnen Ländern und deren Theilen, p. 3 5: zur Gesammtlileratur- und Gelehrtengeschichte bestimmter Ge- genden u. s. w. ist sie beobachtet worden. Nun helfen ausser den sehr fleissigen Autoren- und Materienregistern, die bei vielfachem Gebrauch und bei absichtlicher Prüfung uns fast nie im Stich ge-

Angelegenheiten der historischen Vereine. 469

lassen haben*) auch die zweckmässigen Recapilulationen und

Verweisungen der schnellen Uebersicht nach. Zu den lelztern giebt besonders der siebente Abschnitt, welcher auch denselben Weg durch die deutschen Staaten zu den andern europäischen Reichen hin nimmt, um (XLV— XLVII) mit Asien, Afrika und Amerika abzuschliessen, Anlass. Einige Rubriken der ersten Unter- abtheilung, Deulschland im Allgemeinen (wie Heraldik, Diplomatik etc., Beligions- und Kirchenwesen, Rechtswesen und Staatsverhättnisse Deutschlands, pag. 388) sind nur für diesen Zweck da; in der „Geschichte Deutschlands und mehrerer Länder desselben. Deut- sche Kaiser" (6. I. 10) sind alle Nummern, unter denen in der Rubrik der Biographieen die Kaiser vorgekommen sind, recapitulirt; am Anfang der Sammlungen für jeden einzelnen Staat (so pag. 387 bei Hannover, pag. 462 besonders ausführlich bei Mekleuburg) ist auf die Nummern, in denen seines Namens, seiner Wappen und Münzen, Alterthümer, seiner Liierargeschichte, Sprachdialekte, seines Staats- und Kirchenrechls , der Lebensschicksale seiner Für- sten bereits gedacht ist, hingewiesen. Auch in anderen Abschnit- ten begegnen wir solchen fleissigen Nachweisungen)* ich will nur an die über Protestantismus und Reformation in den einzelnen Territorien (pag. 326), und an die „Einzelne Rechtsgegenslände" (pag. 365) erinnern, die alphabetisch (von Adel bis Zinsen) Alles, was in den vorhergehenden Rubriken des gesammten Abschnittes oder auch an anderen Orten vorgekommen, hier noch einmal zu- sammenfasst. Auch Fehler in der Anordnung konnten durch solche Verweisungen wieder gut gemacht werden (vgl. z. B. Nr. 2789 90 pag. 216, am unrechten Orte mit der Verweisung auf Nr. 238 und 239).

Denn, dass es an diesen nicht fehlt, wird keinem auffallen, der mit den Schwierigkeiten des Geschäfts vertraut ist, der erwägt, wie auch die grösste Kenntniss des Einzelnen kaum ausreichen würde, um für jede Notiz die Stelle, an der sie sich am fruchtbarsten einfügt, zu finden. Vieles hat ohnehin mehrfache Beziehungen; man kann fragen, ob v. Uammer's Erklärung der persischen Cy- linder und gegrabenen Steine im Joanneum zu Grätz (Nr. 1088 pag. 77) nach dem Gegenstand der Alterthümer, oder wie der Ver- fasser gethan, nach dem Ort der Aufbewahrung zu registriren ist; ob eine Abhandlung von Schulz: Waren germanische oder slawische

*) Auch Druckfehler slören nicht allzuhäuQg. Unter denen, die der Verf. nicht verbessert hat, bemerke ich, dass aus der von Agius und Rückert gefeierten Hathumoda (s. Nr. S45 pag. 49) eine Haikomoda, und aus unserm altberUhmten Kasten zu Neu- Angermünde, aus dem Otto IV mit dem Pfeil das Geld nahm, um sich aus Magdeburgiscber Gefangen* Schaft zu lösen (Nr. 6419) ein ganzes Kloster geworden ist.

Allj^. Zeitschrift f. Geschichte. V. 1846. 32

470 Angelegenheiten der historischen Vereine,

Völker Ureinwohner der beiden Lausitzen? Nefost einer kritischen Würdigung der Quellen über die älteste Landesgeschichte", wegen des 2ten Theiies, wie hier geschehen (Nr. 223 pag. 17), zu der Geschichte und Literatur der Geschichte einzelner deutschen Staa- ten, oder zu der Geschichte einzelner Volksstämme zu stellen ist; ob die Literatur der Hermannsschlacht in die Rubrik F. IV. (Ein- zelne Schlachten) oder, wofür wir uns entscheiden würden, zu G. l, 2. (die Römer in Deutschland) gehört, ob nicht Manches, was in der sehr dankenswerthen Rubrik: Erklärung einzelner Namen und Worte, vorkommt, z. B. Förstemanns Bemerkung über Idisi Nr. 1242 pag/ 92 nicht dahin gehört, wo von den Namen in anti- quarischer Hinsicht, namentlich von dem Einfluss der Gottheitea auf die Ortsnamen die Rede ist (Nr. 2941 u. ff.). Manche Fehler verschuldet Flüchtigkeit. So wenn die Rubrik A. IV. 1. c. (Be* stimmte einzelne historische Bücher) pag. 18 Nr. 236 mit den Abbat es monasterii Augiensis eröffnet wird, wo nach Augia hätte geordnet werden nassen, ebendas. Nr. 351 Klempin^s Biogra- phieen des Bischofs Otto und deren Verfasser nicht unter O, sondern zwischen Bernoldus und Benno. erscheinen; wie denn auch die Notae historicae codicibus Sangallensibus adjectae und die historischen Notizen eines pegauischen Mönchs (Nr. 517 und 518) nicht zu N, der über de successoribns S. Hildulfi in Mediano monasterio nicht zu S. gestellt werden durfte. Offen- bar ist Frischs explicatio tituli Hormesta qui Orosii libro inscriptus inveuitur von Nr. 763 in die Literaturgeschichte einzelner histo- rischer Bücher zu versetzen, und eben dahin gehören die Auf- sätze Nr. 3096 3304 und 3247 über Fredegar, Jemandes und Liut- prand, die hfer bei der Geschichte einzelner Familien und PeN sonen stehen, von denen auch der zweite in Nr. 474 seinen Ge- nossen, vielleicht seinen Doppelgänger findet. Spittlers berühmte Abhandlung de origine et iocrementis urbium Germaniae (Nr. 4998) war nicht bei der Ethnographie und Statistik, sondern bei der (ie- schichte einzelner Stande oder bei dem Staats- und Recbtswesen einzutragen, und zwei Aufsätze über das Todaustreiben dei den Slawen (2437 a. pag. 187) gehören gewiss nicht unter die Begrab- niss- und Grabalterthümer.

Ueberdies hat alle Anordnung nach dem Lokal noch die Schwie- rigkeit, dass der Verfasser (wie ja auch die Verwaltungen deutscher Bibliotheken für das Fach der deutschen Geschichte jetzt meist diesem Princip, obwohl mit den Mängeln desselben nicht unbe- kannt, zu folgen pflegen) die heutige politische Ciutheilung zu Grunde legen müsste. Dadurch kommen natürlich viele Dinge gar nicht an ihre rechte Stelle; Aufsätze, die zusammengehören werden, wenn nicht genauere Sachkunde den leitenden Faden fest-

Angelegenheiten der historischefi Vereine. 471

b)iU, von einander gerissen, so wenn No. 4581 Stadelmann's „Ur- sprung der ehemaligen burggräflich -nürnbergischen Lehen in Oesterreich'^ eine Untersuchung, die lediglich die Origines des preussischen Königshauses betrifft, pag. 352. l)ei den Hechtever- bäUnissen Bayerns, dagegen No. 4651. pag. 358. Holle's Abhandlung über die brandenburgischen Lehen in Oesterreich, die dasselbe Thema behandelt, bei Preussen erscheinL Die Gefahr wird ver- mehrt, wenn der Verfasser an seinem eigenen Princip wiederum irre wird, wie seine Rubriken: Ehemalige Grafschaft Henneberg (G. IX), VoiglUnd, „Sachsen** uud „Thüringen im Allgemeinen" (ebendas. XXIIL XXXL XXXU.) zeigen, und diese Abweichungen nun doch nicht bei der Vertheilung des Stoffes rechtfertigt; wenn^ umlrrthUmer, wie die Nennung Kärnlhens unter den polnischen und ungarischen Provinzen des österreichischen Kaiserstaats (pag. 482.) nicht zu hoch anzurechnen, die Niederlausitz zwischen den preussischen Provinzen Brandenburg pag. 480 (ihrer eigentlichen' Stelle) Sachsen pag. 496. (bei der dann sogar das der Neumark seit beinahe vier Jahrhunderten incorporirle Cottbus erscheint) und dem Königreich Sachsen (pag. 514) ohne allen erkennbaren Grund für die Wahl der einzelnen Stelle, hin und her geworfen wird.

Doch soll es uns hier nicht darauf ankommen, den Catalog von Fehlern und Versehen, wie sie allen bibliographischen Arbei» ten eigen zu sein pQegen, für unser Repertorium zu entwerfen. Wir haben vielmehr noch eine Bemerkung über die Arbeiten der Vereine selbst auf dem Herzen. Augenscheinlich überzeugt näm- lich diese Uebersichi über ihre Thatigkeit wieder davon, worüber schon oft, und auch in dieser Zeitschrift geklagt worden ist, dass in ihren Berichten das zufällig Gelernte, das ohne Muhe Gewon- nene, das vereinzelt, ohne Kennlniss von dem Zusammenhange, in dem es zu Grösserem und Allgemeinerem etwa steht, Vorgelra» gene bei weitem überwiegt. Wer will die Ausgrabungen ganz und gar verwerfen? wer nicht zugeben, dass planmässige, von historischen Studien in den schriftlichen Denkmalern unterstützte Nacbsuchungen der Art von grossem Werth für die Geschichte der Wanderungen der Völker, für die Erkenntniss der Succession der re* ligiösen Vorstellungen sein können? Aber ist es die Einsicht von dieser Bedeutung der Sache, die so viele redende Zeugnisse der Vergangenheit rings um uns her vernachlässigt, um immer wieder den Erdboden nach Schätzen zu durchwühlen aus vermoder- tem Gebein das Leben der Vorwelt zu weissagen! Wie viele von den Abhandlungen der Rubrik „Ueberreste früherer Jahrhun* derte und ihre Auffindung'', die aliein 40 Seiten umfasst, mögen auch nur geringen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen! man- chen spricht schon der blosse Titel ihr Urtheil, wie wenn Dorow,

32*

472 Ängelegenkeiten der historischen Vereine.

der Erleber über ein „altes Grab eines Heerführers unter Attila entdeckt bei Merseburg den 16. April 1750 (No. 2048)" berichtet. Nein, ohne Zweifel hat diese Rubrik des Repertoriums deshalb die meisten Nummern, weil ihr Thema einer ungebildeten, durch wissenschaftliche Motive nicht gezügelten Phantasie (denn man wird doch das unsichere, noch dazu oft sinnlos genug angewandte Ai- phabet der Stein- und Eisonzeitalter u. s. f. nicht als einen wah- ren Anhalt ansehen) den meisten Spielraum gewährt, weil sich hier, ohne viel mühsame Vorbereitung, gleich an dem ersten be- sten Stück, das einem in die Hände geräth, bequem quacksalbern lasst. Denn, das man sich gern mit der Ausbeutung dessen, was gerade der Zufall in die Nähe geführt hat, begnügt, zeigen auch die zahlreichen Beschreibungen einzelner Münzfunde (pag. HO 114) der Taufsteine und Glocken, u. a.

Dagegen wie bettelarm sind meist diejenigen Fächer, die aus- zufüllen längere Aufmerksamkeit, sinnvolles Verweilen bei dem Ein- zelnen der Erscheinungen, um in ihrer Mannigfaltigkeit die Regel zu finden, nüthig ist, für die das Material nicht mit Schaufel und Spaten gesucht werden kann, noch auch zufällig beim Umpflügen der Felder, beim Chausseebau zu Tage kommt, sondern erst aus jahrelangen Bemühungen des forschenden Geistes erwächst! Wie wenig haben die Vereine bisher der Erforschung der Lokaldialekte genügt, wie gering ist die Ausbeute für Kennlniss der Wohnung, der Sitte, der Feste der Vergangenheit; die Sammlung mittelal- terlicher Inschriften ist noch in ihren Anfängen; sie sowohl als die Geschichte der Baukunst muss von lokalen Forschungen das Meiste erwarten. Auch für genaue topographische Arbeiten im histori- schen Interesse (wie sie den bayerischen Vereinen mit Recht von oben her als Aufgabe gestellt worden sind), so dass namentlich über die Identität alter, und neuer Namen dabei entschieden wird^ alle wüsten Marken, Burg- und Kirchruinen u. a. verzeichnet wer- den, geschieht von den Vereinen lange nicht genug. Folgen wir dann dem Repertorium zu den Gebieten des Rechts und der Poh- tik; wie viele Lücken sind auch da: bei der Geschichte der Stände kommt wohl häufiger der Adef, sehr selten aber der Bauernstand vor; und doch weiss mau, wie mangelhaft unsere Kenntniss von den Verhältnissen desselben, wie wichtig eine Geschichte der nie- deren Klassen in Deutschland, eine gerechte Würdigung ihrer Lage in den verschiedenen Zeitaltern wäre; Fragen, die damit zusam- menhangen, wie über die Geschichte des Steuerwesens (s. pag. 339— 340) und deren genügende Lösung nur aus genauer Beob* achtung kleinerer Kreise erfolgen kann, werden nur selten ins Auge gefasst, und auch die Rubrik vom „Gerichts und Prozesswesen*' (s, pag. 348) wäre noch viel dürftiger ausgefallen, wenn sie nicht

Angelegenheiten der historischen Vereine, 473

am Vebmgericbt, diesem Cabinetsstück der mitlelalterlicben Studien eine Materie hatte, die für gelegentliche Notizen immer willlcom- menen Anlass bietet. S. Hirsch.

Anfrage.

Möchte nicht jemand, der sich mit des Vincenlius bellovacen- sis speculum historiale näher befasst bat, aus diesem reichhaltigen, schwer zu benutzenden ' Schriftsteller ein genaues rcgister über alles was er für die geschichte und literalur des millelalters ent- hält, entwerfen und für diese Zeitschrift miltheilen? wo er seine quellen nennt tnüsten sie mit augegeben werden. J. Grimm.

R^clamation *). Monsieur,

Dans un des derniers num^ros de votre savant recueil, vous passez en revue les travaux des soci^tös historiques de TAIlemagne, vous rendez compte des Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst**), et vous citez parliculi^rement, dans le troisi^me cabier, la notice de M. T^chevin Usener sur le chä- teau et la famille de Reiffenberg. Cette notice est fort curieuse et annonce beaucoup de connaissance, cependant quand on traite de rhistoire du foyer domestique, tout le savoir ne sufßt pas, en Tabsence de certains documents que les biblioth^ques ni les autres d6p6ts publics ne peuvent fournir. II y a donc d'in^vilables la- cunes dans le memoire de M Usener, et j'en appelle ä votre im- partialite ainsi qu'ä votre amour du vrai pour retablir des faits que ces omissions laissent dans l'ombre.

M. Usener semble croire que Tancienne maison de Reiffenberg, qui devait son nom au gothique manoir dont les ruines sont situees aujourd^hui ä quatre Heues de Francfort, s'est Steinte ie 23 mars 1686 h la mort de Philippe -Louis de Reiffenberg, coadjuteur de r^lecteur de Tr^ves, et qui laissa lous ses biens k sa soeur Marie- Jeanne-Walburge, öpouse de Jean Lothaire, comte de Bossenheim.

C'est que r^side l'erreur.

La maison de Reiffenberg, depuis qu'elle a ^t6 connue, jusqu'ä präsent, s'esl divis^e en cinq branches, toutes issues du mSme Ironc, et que je reprösenle avec mes deux Gls.

*) Wir stehen um so weniger an, dies an uns ergangene Scbreiben bier einzuschalien, als es zugleicb und zumal durcb seinen Scbluss den Antheil belb^tigl, den unser Vereiosunternehmen scbon jetzt im Auslande gefunden. Red.

*) Im Februarbeft (Bd. V.) S. 4 79 ff. Red.

•*t

474 Angelegenheiten der hi$ton$chen Vereine.

La premi^re branche fioit en 1596.

La deaii^me en sortit vera 1400 et finit en 1686.

La troisi^me sortil aussi de ia premi^re vers 1340 et flait en 1745.

La quatriöme sortil de la troisiöiue et s'öteignit eu 1764.

En6n la cinqui6me sortit de la secoDde vers 14S0 et subsiste en ma personne.

Pbilippe-Louis dont je viens de parier, appartenait k la deu- xl^me branche et descendait de Walther de KeifiTenberg dont la ligoe 8*6teignit en 1596 avec Marsilius de Reiffenberg, qui ^pousa, en 1576, Marguerite Vogtin von Hunoldslein. Son fröre Eberhard ölait dec^d^ en 1570 sans postöritä.

La troisiöme branche avait pour chef Cuno qtli öpousa Elisa* belh von Stein an der Lahn, et qui dtait fils d'un aulre Cuno et de Calherine d'Erlenbach; ce Cuno ötait de la premiöre branche et, parconsöquent, un des anc6tres de Philippe- Louis qui, par parenthese, portait un Idoibel dans ses armes, slgne certain qu'il ne proccdait pas de la branche primitive.

La troidieme branche finit en 1745 par la mort Ae Philippe- Fr^d^ric, qui avait öpouse 1«- Marie -Elisabeth, Boosin von Wal- deck; 20* Marie Frangoise von Hoheneck.

A la quatriöme branche appartenait le celöbre Fredöric de Reiffenberg, Tami du Landgrave de Hesse, Philippe-Ie-Magnanime; iequel servit en Angleterre, en Allemagne et en France et faillit ^tre appet^ aux Pays-Bas. Par un acte date d'Olm le 17aoüt 1548, Frödöric fut mis par Charles -quint au ban de l'empire avec le Rhingrave et d'autres personnages distingu^s. Mais il fut compris nominalement dans le traite de Passau, conclu le 2 aoüt 1552 et ratifiö par l'cmpereur le 24 du möme mois. Ce personnage, sur Iequel je possede des docunients curieux, est un des caractöres originaux de PÄIIemagne du XVI. siöcle et rappeile k bien des ^gards ä son parent Franck von Siekingen et ä Goelz von Ber- lichingen, mais avec plus de talent politique.

La quatrieme branche sortait de Jean de ReiflTenberg, fils de Cuno de ReifTeuberg, de la (rolsiöme branche, et de Liebmuth de Stein. Elle s'6teignit en 1764 par le d^cös de Fröd^ric de Reiffen- berg, qui, quoique fils unique d'Anselme-Fr6d6ric-Antoioe baron de Reiffenbcrg et de Marie -Anne von Eltz, entra fort jeune chez les j^suiles it fit profession. Mort seulement ligö de 27 ans 11 a laisse plusieurs ouvrages qui prouvent qu'il aurait pu s'elever ä un des premiers rangs paimi les ^rudils; uotamment une histoire en latin et in folio de sa societ6 dans la province du Rbin, histoire restee inachevee.

Jean Philippe de Reiffenberg ayeul de ce jesuite, etait co- seigaeur hypothecaire du cbateau de Reiffenberg, preuve quo sa

Aflgeitieine Literaturberichte. 475

branohe $6 confondait avec celle de Philippe- Louis donl semhle $*occuper uniquement M. Usener. Ce Jean Philippe cultivait les leUres avec siicc^s; on a de lui des Antiquitates Sayoeoses et des Dotes sur Thistoire de Treves du Jesuite Brower.

Fred^ric de ReiffeDberg dont j'ai publie plusieurs chansons allemandes, et qui apr^s avoir epouso Glaire-Anne von Wersabe, SQourut en 1642, ötait grand-p^re de ce Jean Philippe.

La cinqui^me et derniere brauche, dile de Butgenbach, re- connait pour auteur Jacob de Reiffenberg fiis d'£m6ric, flis lui- m^me d'un autre Emeric et de Marguerite de Garben. Ges deux Em^ic ^taient de la seconde branche ou les anc^tres directs de Philippe-Louis, plusieurs fois cite. Jacob se retira dans le Luxem- bourg, ä la suite d'une quereile, et s'y unit le 6 octobre avant rannte 1524 ä Beatrix de Lierneux, d'une famiile noble du pays. II y a fait souche et celte branche qui s'est seule continuöe^ est chef du nom et des armes de la famiile. Au mois de mars 1772 le fr^re ain^ de mon p^re, le Gomte Pierre -Philippe -Joseph de Reiffenberg, qui r6clamait la seigneurie d'Engers, prouva deyant la cour electorale de Treves la connexion des cinq branches.

Tels sont, Monsieur, les fails dans leur exactitude et comme les restiluent les temoignages les plus authentiques. S'ils n'otfrent qu'un inter^t pour ainsi dire individuel, vous m'excusez de les avoir mis sous vos yeux, puisqu'ils se rattachent ä des recherches qui ont obtenu vos öloges. J'ose espörer que ces reclifications trouveront place dans votre Journal Je saisis cette occasion, Monsieur, pour vous faire hommage des derniers bulletins de la commission royale d'histoire de Belgique et pour vous demander la permission de vous adresser k Tavenir ses publications. La Belgique est une soeur de TAllemagne et a quelques droits ä sa Sympathie. Veuillez etc.

Baron de Reiffenberg, Membre correspondant de TAcad^mie de Berlin , secretaire de la Gommission royale d^histoire, conservateur de la bibliotheque du Royaume etc. Bruxelles, le 14 Mars 1846.

Allgfeinelne lilteraturberichte.

Mittelalter.

DiSGoars pröliminalre tur le moyen age. Extrait du tome VII de rbtotoire uaiverselle, par C6sar Caniu. Paris, Firmln Didot, 4 845. 59 S. 8.

Dass vom historischen wie vom philosophischen Standpunkt

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476 AUgetneine Literaturberichte.

aus die Unierecheidoog eines MiUelalters in der bisherigen Ent- wicklung der geschichtlichen Menschheit nicht zu rechtfeftigeu sei, dass sich bisher nur Ein grosser Gegensatz, der der antiken und der modernen Weltbildung hervorgearbeitet habe, dass das soge- nannte Mittelalter nur als Einleitung und die sogenannte Neuzeit nur als noch unbeendigte Fortsetzung eines und desselben Gliedes, des zweiten in der Weltentwicklung, betrachtet werden dürfe, ist nachgrade ziemlich allgemein anerkannt; aber einen verjährten Brauch ausrotten erecheint überall zu schwierig, zu gewagt, als dass man nicht lieber dem Herkömmlichen sich fügen und noch immerfort in der Universalgeschichte ebenso bereitwillig ein Mittel- alter 6guriren lassen sollte, wie man innerhalb unsers Planeten- systems immer noch trotz der bessern Erkenntniss die Sonne auf- gehen lässt. Und so fügt sich denn auch Herr Cantu der her- gebrachten Unterscheidung, wiewohl er sie ebenfalls als eine durch- aus willkürliche mit Recht angreift. Nicht wenige Mühe giebt sich derselbe, jene Jahrhunderte wieder zu Ehren zu bringen. Das ist nun freilich, wenigstens bei uns Deutschen, kaum noch hie und da nöthig; doch müssen wir die Schilderung der verschol- lenen Auffassungsweisen des Mittelalters als einer Zeit der Barbarei für vortrefflich erachten; sie ist voll scharfer Ironie, eine Per- sifflage der Oberflächlichkeit. Im Uebrigen vereinigt der Verfasser philosophischen und historischen Sinn, grosse Gelehrsamkeit und umfassende wenn auch nicht immer erschöpfende Quellenkenntniss. Die Idee der Civilisation liegt als die zu lösende Aufgabe der Ge- schichte seiner ganzen Auffassung zu Grunde. Um die Gegensätze der Freiheit und der Knect]\tschaft, der Einheit und der Zersplitte- rung, bewegt sich ihm die Entwicklung der neuern Jahrhunderte, und es kommt ihm darauf an, die Wurzeln derselben in den mitt- leren zu suchen. Für den Grundquell des öffentlichen Lebens be- trachtet er mit Recht im Miltelaller das Gefühl, in der Neuzeit die Reflexion 5 und schon ans diesen unzweideutigen Symptomen er- kennt man eben, dass jenes nur die jugendliche, diese die männ- liche Bethätigung einer und derselben Entwicklungsstufe, der christ- lichen Weltbildung darstellt, die sich in sich zwar gliedert, aber dem heidnischen Alterlhum gegenüber als ein untheilbares Ganzes, als eine höhere im Selbslprocess begriffene Einheit sich gellend macht. Trefflich ist des Verf. Charakteristik der Klosterchroniken (p. 3 sqq.): Les phenora^nes physiques, les changemenls de saison, les cometes, les dclipses, les pr^sages, c'est ce quMls n'oublieut Jamals. D'un prince qui n'enrichit pas leur monasl^re, ils diront: // nejit ricH. Ils voient dans les circonstances les plus minimes Intervention immödiate de la divinitä, ce qui les dispense d'en rechercher les causes naturelles. . . . Si vous demandez pourquoi

Allgemeine Literalurberichte. 477

fut si sabit le triomphe des Normands en Aiigleterre, Henri de

Huntington VOUS röpond: per/ecH dominator Deus de gente Anglorum quod diu- cogiiaverat. Der Literatur über das Mittelalter ist ein sehr reichhaltiger Ueberblick gewidmet, nach den Leistungen der ver- schiedenen Völker und nach sachlichen Gesichtspunkten gruppirt; freilich fehlt es nicht an einzelnen Verstössen , wie wir denn einen solchen schon beiläufig früher gerügt (s. S. 291); dagegen ist so- wohl dieser wie alle übrigen Abschnitte durch eine Menge von geistreichen Bemerkungen und Urtheilen gehoben, die auf den Leser zugleich anziehend und anregend wirken.

Gedichte des mittelalters auf könig Friedrich den Staufer und aus seiner so wie der nächstfolgenden zeit. Von Jacob Grimm. Vorgelesen in der akademie der Wissenschaften am 24. April 4 843. Berlin, 4 844. Wllb. Besser. 4 46 S. 4.

So gewiss die weltbewegende Regierung Friedrich des Ersten auf das gesammte Leben des zwölften Jahrhunderts maassgebend eingewirkt hat, so sicher ist von ihr auch die eben zu kunstreicher Stufe emporblühende Poesie nicht ohne bedeutsame Förderung berührt worden. Erwähnen wir aus der Fülle zuströmender Er- innerungen nur die schroffen Wechselfälle der Lombardischen Kriege , Mailands erschütternden Niedergang und des Kaisers Miss- geschick bei Legnano, Heinrich des Löwen riesenhafte Erhebung und unerhörten Sturz, die gewaltsame alle Geister in Gährung versetzende Kirchentrennung mit ihrer versöhnlichen Endschaft zu Venedig, Friedrichs heiligen Kriegszug nach dem Morgenlande und seinen unvermuthetcn Tod,^ nicht zu gedenken der prunkvollen Reichstage, auf denen er Kronen gab und nahm wieviel begei- sternder Inhalt für sangbegabte Zungen! Aufmunterung aber. Ge- hör und Belohnung ist von Friedrich zweifelsohne wie den Ge- schichtschreibern, so auch den Dichtern nicht vorenthalten wor- den, die jederzeit^ an Höfen vorzugsweise, es verstanden haben, das Grosse grösser, das Trübe fröhlich und der Zukunft vorgrei- fend das Ersehnte in naher Gewissheit erscheinen zu lassen.

Hätte aus der Menge von Liedern und Gedichten, die während der fast vierzigjährigen Reichsführung Friedrichs an seinem Hofe erschollen sind , nur ein verhältnissmassig kleiner Theil sich er- halten, nicht allein vereinzelte Begebenheiten würden daraus der historischen Wahrnehmung in helleren und abgestufteren Formen entgegentreten, sondern auch der Anschauung ganzer Lebensrich- tungen, zumal der heiteren, geselligen, für die in ernsten Zeit- büchern entweder kein Raum oder keine Gelegenheit sich darbot, wäre in ihnen ein weites Feld erschlossen gewesen. Je unge- zwungener jene Dichter mit ihrer wechselnden Umgebung zusam- menhingen, je unbefangener der weiche Liederstoff von der Aussen-

478 Allgemeine LUeraturberickie.

weit seine Eindrücke entgegennahm, um so unmittelbarere und frischere Erkenntniss würden diese Erzeugnisse gewahrt haben. Wir ermessen an Grimm's unschätzbarer Veröffentlichung deo Werth solcher Aufbewahrungen und nehmen bei einem Ueberblick des Erübrigten mit desto herberer Empfindung wahr, wie zer- störend auf diesem Gebiete die Zeit sich vergangen hat

Der kostbaren Ueberbleibsel hat Grimm acht an der Zahl aus einer Göttinger Handschrift und zwei, bereits von Reiffenberg im bulletin de Tacad^mie royale de Bruxelles nach einem Stabloer Codex mitgethcilte, gesammelt. Auszüge aus der schon von Docen benutzten Münchner, so wie aus einer zu Venedig befindlichen Handschrift und aus Wrigbt's Ausgabe des Walter Mapes vervoll- standigen den Vorrath, um uns einen bisher völlig unbekannten fahrenden Sänger der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts kennen zu lehren, der, ein Deutscher von Geburt, längere Zeit zu Erzbischof Rainald von Cöln, Friedrichs vertrautestem Rathgeber und GrehUfen, in engem Verhältniss gelebt und in lateinischen Versen Kaiser und Erzbischof mehrfach gefeiert hat

Die Person des Dichters betreffend überlasst sich Grimm einer ausführlichen Untersuchung, die jedoch, trotz der auf jedem Schritte zu Tage tretenden Gediegenheit, in Bezug auf den Namen desselben zu keinem abschliessenden Ergebniss geleitet werden konnte, wiewohl neben den Titeln: archipoeta und primas auch die Benennungen: Walter und Nicolaus nicht ganz unberechtigt Geltung in Anspruch nehmen. Ueber die Unsicherheit, seines Namens tröstet ans aber hinlänglich die Unantastbarkeit seiner wahrhaften Dichter- natur, deren Hervorbringungen zu entwenden und dem englischen Walter llapes unterzuschieben, entweder dem letztem selbst oder einem seiner nachlebenden Landsleute so lange geglückt war, bis Grimra der Rechte des Deutschen sich siegreich angenommen und uns in ihm einen Dichter heimgebracht hat, den wir uns wohl nicht entwinden lassen werden. Ein leicht Gemüth, dem das Leben stets von der rosigsten Seite fassbar ist, beweglich, ruhelos und, wie der Sänger selbst sich schildert, aus einem flüchtigen Element geschaffen, einem Blatte gleich, mit dem die Winde spielen. Er schweift durch Deutschland, Italien, Frankreich, allen Kümmernissen feind, der Liebe ergeben, dem Spiele und dem Wein. Man muss aber vor Allem seine Dichterbeichte (poetae confessio) gelesen haben, um die Vereinigung unverwüstlicher Laune und schalkhaf- ten Witzes mit nie versagender Handhabung des Reims und treff- lichster Bemeisterung der in seinem Munde aller Steifheit gänzlich entfremdeten lateinischen Formen gebührend bewundern zu können. Das Gepräge vollendeter Meisterschaft entbehren so wenig, wie die munteren, auch die ernsteren zu Friedrich und Rainald in näherem

Allgemeine Literaturberichte. 479

VerbältDisse stehenden Gedichte, welche letzteren ihres geschicht- lichen Inhaltes wegen an diesem Orte unsere Theilnahme auch zu* nächst angehen.

Sollen jedoch die historischen Züge, die der Dichter seinen Liedern verwebt oder auch als Anlass zu Grunde legt, nicht blos zu befriedigender Erläuterung der sie einschliessenden Dichtungen dienen, sondern auch^ auf die Vorgänge zurückgewandt, denen sie entnommen sind, diesen hinwieder eine zuverlässige Beleuch- tung gewähren, so muss sich die möglichgenaueste Feststellung ihrer Abfassungszeit unleugbar als das vornehmste Erforderniss zu erkennen geben. Nicht leicht möchte der Kundige in Abrede stellen, dass unter Umständen selbst aus dem geringfügigsten Fehl- tritt in dieser Beziehung statt des dabei verlornen Aufschlusses über die mit den Anspielungen in wirklichem Zusammenhange stehenden Dinge, sogar auch den anderen irrig herbeigezogenen eine unglückliche Trübung entstehen kann.

Demnach sehen wir den Herausgeber bemüht, die Entstehungs- zeit besonders der wichtigern ersten zehn Gedichte ausfindig zu machen, wobei er durch Festhaltung der Rainalden beigelegten Titel: archicancellarius*) und electus Coioniae, und Berücksichtigung einiger anderen Bewandnisse zu dem unbestreitbaren Schlüsse ge- langt, dass die genannten Gedichte zum grössten Theile in den Jahren 1162 bis 1165 geschrieben sein müssen. Er kehrt sich dar- auf zur Betrachtung der einzelnen Stücke, von denen einige uns ebenfalls zu Bemerkungen Veranlassung geben.

Grimm's Erörterung des zweiten Gedichts stellt zur Genüge fest, dass dasselbe nicht, wie man dem ersten Anscheine nach urtheilen möchte, an Friedrich selbst, sondern an Rainald gerichtet und demselben während eines mit Festlichkeiten unterhaltenen Aufenthalles in Vienne behändigt oder vorgetragen worden ist. Ueber den hierbei in Betracht kommenden Zeitpunkt findet er sich indess nicht ins Klare und scheint nur mit der Uinweisung, dass Rainald den Kaiser sowohl 1157 als 1162 nach Burgund begleitet habe, die Vermulbung zu verknöpfen, der in Vienne Rainalden bereitete Festtag könne dem letztgenannten Jahre angehören.

Einen nähern Ansatzpunkt aufgefunden zu haben, möchte mir zur Freude gereichen, sofern der nachfolgenden Zusammenstellung die Beislimmung des berühmten Herausgebers zu Theil würde.

Unter den Briefen des Erzbischofs Thomas Becket von Ganter- bury**) ist in dem Schreiben eines ungenannten Boten folgende

*) Als Kanzler begegnet mir Rainald zum ersten Mal am lOlon Mai 4156, Orig. Guolf. IIJ. 463 465, als Erzkanzler zum ersten Mal am 4 9len October 4 459, Lami dellc. erudit UI. 4B8. **) ed. Lupus p. 8 il.

480 Allgemeine Literaturberichte,

Stelle zu lesen: Cancellarius Imperatoris veniens Yiennam archiepiscopos quamplures convocavit, primoque milites ad opus Imperatoris ab eis quaesivit. Postmodum de receptione Gui- doDis Cremensis, quem Imperator receperat, instantissime sin- gulos coDvenit. Ibi spe et desiderio suo privatus est. Quidam enim eorum ipsum Guidonem coram eo excommunicare parali fuerunt etc. Hinreichend bekannt ist nun, dass der erwähnte Guido von Crema der zweite, auf unmittelbaren Betrieb Rainalds von Cöln im April 1164 gegen Alexander IQ. unter dem Namen Paschalis III. erhobene Gegenpapst gewesen ist; und indem hier- aus schon für das Verweilen Rainalds zu Vienne nach einer Seite hin eine Zeitgrenze ersichtlich ist, gewinnen wir durch den Hin- zutritt anderer unverwerflicher Zeugnisse ein noch bestimmteres Resultat. Rainald selbst berichtet in einem 1164 ausgefertigten Briefe aus Italien an die cölnische Geistlichkeit: Nos siquidem, quia sus- pecta nobis est via per inimicos vestros et nostros, iter nostrum per Burgundiam ac Galliam usque ad vos disposuimus, praesen- temque nuncium a Vercellensi civitate n Idus Junii (12. Juni) praemisimus, eo die versus Taurinum et versus alpes monlis Cy- nisii— celerrime procedentes*). Ferner macht Papst Alexander lEL am SOsten Juli 1164 dem» König Ludwig VII von Frankreich diese Mitlheilung**): a quodam abbate, qui de partibus Burgundiae venit, satis evidentem cerlitudinem obtinuimus, quod cum ab R. quondam Gaucellario F. dicti Imperatoris***) complures ope- rarii iam fuissent condncti et de ipsius mandato in confinio regni tui, sicut dicitur, operari coepissent , comes Forensis eosdem operarios audacter de loco ejecit, und fügt hinzu, dass Rainald zum Ausbau jener, wie es scheint, zwischen Lyon und Feurs auf der französisch -burgundischen Grenze belegenen, Befestigung viel Geld zurückgelassen habe. Reihen wir hieran noch die Nachricht des Godcfr. Monach. bei Freher I, dass Rainald aus Italien heim- kehrend am 24sten Juli 1164 (in vigilia beati Jacobi) in Cöln ein-

*) Der Brief befindet sich bei Miraeus 11. p. M 84 aber ganz irrig zum Jahre H78 gesetzt, da Rainald bereits 4 4 Jahre todt war. Dieser erwähnt in dem Schreiben, dass er die Reliquien der heiligen drei Könige, die ihm Friedrich nach Mailands Zerstörung schenl^lo, mit sich führe; dass Rainald aber diese Reliquien im Jahre 4 4 64 nach Cöln gel)racht hat, be- richten sowohl Godefrid. Monach,, wie die Annal. Aquenses bei Quix.

**) Duchesne Rer. Fr. Scr. IV. 624—6*22: Datum Senonis 111. Kai. August; Da Alexander III. nach seiner Vita bei Muratori Scr. III. 455 und 456 vom 4. October 4 4 63 bis 4 April 4 4 65 seinen ununterbrochenen Auf- enthalt zu Bens hatte, so kann kein Zweifel aufkommen, dass dieser Brief 4 464 geschrieben ist.

***) Alexander nennt seinen Gegner Friedrich : den sogenannten Kaiser und Rainald: den weiland Kanzler. '^

Allgemeine lAteraturberichte. 481

getroffen sei , so ergiebt sich eDdiich für die ganze Reise desselben durch Burgund, wie für seinen Aufenthalt in Vienne der Zeitraum zwischen dem 12ten Juni und dem 24sten Juli 1164.

Diese Zeitbestimmung nebst einer nähern Beachtung der zu- erst angeführten Briefsleiic wirkt sofort erklärend auf einige Ags- drücke des Gedichtes. Der Sänger lasst nämlich in Betreff der An- kunft Rainalds in Vienne die Herolde bekannt machen: advenire virum bonum, patrem pacis et patronum und nennt ihn auch im weitern Verlauf des Gedichtes: Pacis auctor, ultor litis. Nach jenem Schreiben bestand Rainald zu Vienne auf Anerkennung Paschalis des IIL; auf den erhobenen Widerspruch aber hat er gewiss mit scharfer Rüge geantwortet. Das Urtheil über dieses Betreiben musste nun natürlich bei jeder der beiden Parteien voll- kommen anders lauten und während Rainald alexandrinischer Seits mit dem Titel: auclor et Caput turbationis*) bedacht wurde, durfte er den Befreundeten in seinen Bestrebungen für Paschalis nur als auctor pacis, als ultor litis (hier sicherlich gleichbedeutend mit scbismatis) erscheinen.

Nicht wenig Antheil erweckend tritt uns das siebente Gedicht vornehmlich deshalb entgegen, weil die schmeichelhaften Eigen- schaften, die der Dichter an seinem Gönner Rainald hervorkehrt, meislenlheils in der von Otto Morena (Murat. Scr. VL 1117.) ent- worfenen Abschilderung desselben Bestätigung empfangen und der Vers: Ulixe facundior, tulliane loqueris, an den Ausspruch Caf- faro's (Annal. Genueus. Murat. VL 279.) gehalten: ,. Raynaldo sanctae Goloniensis ecclesiae electo et Ilalici Regni Archicancel- lario , cui sensus et fama Cicero nis per singula sequuntur vestigia", es unzweifelhaft machen, dass Rainald ziemlich allgemein für den Cicero seiner Zeit gegolten hat. Dies Loblied war übri- gens, wie aus den Worten: hodie coram sanctis omnibus. Dom sanclorum omnium colitor celebritas sich leicht entnehmen lässt, zum Allerheiligenfeste, dem Isten November und zwar ent- weder 1162 oder 1163 gefertigt**).

Dem neunten Gedichte, das der Verherrlichung Friedrichs nach der Einnahme Mailands gewidmet ist, wenden wir uns aller- dings mit überwiegender Vorliebe zu, weil hier sowohl eine nicht gemeine poetische Kraft mit dem erhabenen Stoffe edel wetteifernd sich hervorthut, als weil sich in dem Liede die geschichtlichen Be-

*), Alexander an Heinrich von Rheims, Sens 6, Juli 4 4 64; Marlene Coli. II. 74 0. **) Die genannten Jahre ergeben sich durch Berücksichtigung der Worte: Adhuc starent raenia Mediolanensium ; electum Golonie und: Archicancellarie, welcher Tiiel Rainalden nur auf italienischem Boden gebührte, auf dem er sich in der letzten Hälfte des Jahres 4 464 nicht befand.

482 AUgememe Weraturberichte.

ziebungeo des Augenblicks, in welchem es entstanden ist, getreu- lich wiederspiegelu.

Nach einigen begrüssenden Versen, in denen Friedrich als mundi dominus, als Princeps terrae principum angeredet wird, schreitet der Dichter mit der gelungenen Wendung, dass Gross und Klein wegen des ihnen ertheilten Schutzes als Schuldner .des Kaisers anzusehen wäre, zu der in ihrer Art gewiss unühertreff* liehen Strophe:

Deut fruges agricole, pisces piscatores,

auceps volatilia, feras veuatores,

nos poete pauperes, opum contemptores

scribendo cesareos canimus honores. Von dieser Einleitung richtet er sich mit Verschmähung heid- nischer Gottheiten am Beistand an Christus, durch dessen Gnade der Kaiser erhoben worden und nun das römische Reich zu sei- nem alten Glänze hinaufführe. Denn, fährt er fort, durch fahr- lässige Könige haben Widerwärtigkeiten im Reiche gewuchert^ seien die Lombarden und vor allen Mailand in Widerspänstigkeit

gerathen:

De tributo cesaris nemo cogitabat, omnes erant cesares, nemo censum dahat, civitas Ambro sii velut Troja stabat, deos parum, homines minus formidabat. Da sei Friedrich wie ein wilder Löwe aufgestanden und iüdess Pavia und Novara treuergeben sich gefügt, habe Mailand am Wider- spruch festgehalten; gleichwohl möge Friedrich nunm^ die Milde walten lassen, indem:

Mediolanensium lante sunt ruiue, quod in urbe media modo regnant spine. An preisende Ausführungen über die herrlichen Thaten dieses maiJändischen Krieges , „deren erschöpfende Beschreibung die Ae- neide in Schatten stellen würde^S scbliesst er endlich mit der Schil- derung, welche Wirkung von dem ruhmvollen Ausgang des Kampfes auf alle Weit sich erstreckt: der griechische Kaiser zittere unent- schlossen und dem Normannenkönige stehe der Untergang bevor. Der Hinblick auf Griechenland trifid ebenso die anderweitig bezeugte Wahrheit, wie der auf das normannisch -sicilische Reich mit den Plänen, die Friedrich unmittelbar nach Mailands Erobe- rung gefasst hat, im Einklang ist. Johann von Salisbury schreibt*) im Jahre 1166 unverkennbar mit dem Gedanken an den Untergang der Lombardenhauptstadl: Nonne Theutonicus Tyrannus nominis sui fama nuper orbem perculerat et fere subegerat regna vicina;

') Epist. S. Thomae ed. Lupus p. 230 37.

Allgemeine Literaturberichte. 483

etiam Imperium Graecorum terrore coocnsserat, ut magis de-, ditionem quam confoederationem legatiooibus missis videretur of- ferre , und bereits am 6len April 1162, also nur einen Monat nach Mailands Fall vertrug sich Friedrich mit den Pisanern*) über eine in's Werk zu richtende vivam guerram supra regem Guil- lelmum.

Wir schliessen unsere Besprechung hier, weit entfernt den ganzen reichen Inhalt der Gedichte, die der gewinnbietenden Be- trachtung noch viel Gelegenheit gestatten, oder gar alle in dem Buche niedergelegten Forschungen und äusserst lehrreichen neben- hergehenden Aussprüche Grimms selbst nur in flüchtiger Andeu- tung vorgeführt zu haben. Der Freund der Geschichte wie der Poesie wird sich ohnehin den eignen £inbiick in das vortrefifliche Buch nicht versagen wollen. *

-— Nachträglich stosse ich, während vorstehende Anzeige sich bereits in den Händen des Setzers befindet, zu meiner grossen Ueber- raschung auf folgendes von Roger de Boveden (Savile Rerum An- glicarum Scriptores) p. 379b. aufbewahrte Gedicht, das Grimm entgangen zu sein scheint, und wegen seines nahen Bezuges zu Friedrich einer ungeschmälerten Mittheilung würdig ist. Es lautet:

Planctu super itinere renas Jenualem.

Graves nobis admodum dies effluxere, Qui lapillis candidis digni non fuere. Nam luctus materiam mala praebuere, Quae sanctam Jerusalem constat sustinere.

Quis enim non doleat tot sanctorum caedes. Tot sacras (für sacratas?) Domino profanatas aedes, Captivatos principes et subversas sedes, Devolutos nobiles ad servorum pedes.

Sed haec non effugient oculos videntis, Videns videt Dominus nostrae mala gentis Et audivit gemitum plebis innocentis, Et Caput conterere descendit serpentis.

Suscitavit igitur Deus Hebraeorum Ghristianos principes et robur eorum, Vindicare scilicet sanguinem sanctorum, Subvenire filiis mortificatorum.

Procedunt cum millibus multis armatorum Illustris rex Angliae atque rex Francorum.

*) Dal Borgo Racc. d. dipl. Pisani p. 3S 39.

484 AUgemrine Literaturberichte.

Est videre gloria agmen senatorum(?)

Armisiustitiae et cultoribus (am Rande: al. cultibus) Deorum*).

Est nudire gratius, fidei amicuin, Romani imperii caput, Fredericmn, Debellantem iugiter crucis inimicum, Ut reformet palriam stalum in antiquum.

Tendunt cruce praevia versus orientem, Atque secum contrahunt totum occidentem, Lingua, ritu, moribus, cuitu differentem Producunt exercitum^ sed ßde ferventem.

Ut victores redeant, imploremus Deum, Ut toliant de medio terrae Cananaeum, Ingressi Jerusalem pellant Jebusaeum, Christianae gloriae portantes tropbaeum.

Ich weise nur darauf hin, dass das Gedicht offenbar Juni. Juli 1190 geschrieben ist, während die Könige Richard Löwen- berz von England und Philipp August von Frankreich ihren Kreuz- zug begannen und Friedrich des I. Tod (10. Juni 1190) in Europa noch nicht bekannt war. Merkwürdig genug ist es auch, dass uns dasselbe von einem englischen Schriftsteller erhalten worden. Wie viel Licht wird vielleicht schon dieser Umstand auf. das räthselhafle Verhältniss unseres Archipoela zu Walter Map zu werfen vermögend seini Philipp Jaffö.

De litterarnm studio apud Italos primis medii aevi saeculis scripsit Gailielmus Giesebrecht. Accedant nouDulla Alphani carmina vel emcndata vel ioedita. Berolini 4 845 in libr. R. Gärtner. 4.

Nicht immer bestimmt der Forscher seinen Stoff, viel häufiger ist es der Stoff, durch welchen der Forscher bestimmt und gelei- tet wird. Kaum der erste Schritt, den er bei der Wahl des Stof- fes thul, ist das Ergebniss eines freien Entschlusses, schon der zweite gehört ihm nicht mehr an, er folgt den oft verschlungenen Pfaden, die sich auf dem eben betretenen Boden vor ihm aufthun, und ihn mitunter auf einen ganz anderen Punkt hinleiten, als er erwarten durfte. Der Gegenstand ist es, der die reine und auf- richtige Forschung beherrscht,* wie er selbst die verschiedenen Stadien der Entwicklung durchlaufen hat, so legt er sich noch ein- mal in seine einzelne Elementen auseinander, und zieht den Forscher von Stufe zu Stufe nach sich; was dem betrachtenden Auge in der Ferne nur in den grössten und allgemeinsten Umris-

*) Soll der Vers vielleicht lauten: „Cum arinis insiitiue et cultibus Deorum"?

Allgemeine Literaturberichte, 485

sen als ein geschlossenes Ganze erschien, als eine grosse Frage die zu beantworten sei, das setzt sich bei näherer Betrachtung in eine Menge von untergeordneten Fragen um, die aber nicht nur untergeordnete sind, weil sie alle in nächster Beziehung zur Haupt- frage stehen, und darum nicht weniger gebieterisch eine Antwort erheischen. Eine solche Nebenfrage ist es, welche der Verf. der vorliegenden Abhandlung besprochen hat; unmittelbar aus seinem Stoffe selbst erhob sie sich ihm, als er während eines längern Aufenllialtes in Italien umfassendere Studien für eine der wichtig- sten Fragen machte, die das Mittelaller bewegt haben, für die Ge- schichte des Investiturstreites. Dass er die Resultate jener For- schungen besonders zusamn^enstellte, dass er es gerade in dieser Form that, hat andererseits seinen Grund in der persönlichen Stel- lung des Verf.; als Getegenheitsschrift, als Schulprogramm ist die Abhandlung erschienen. Es verdient daher sicher doppelte Aner- kennung, dass der Verf. die Gescliichle des Studiums der antiken Literatur in Italien während dej» 6 11. Jahrhunderts als ein voll- ständiges Ganze hinzustellen wusste, dass er auf dem kärglich zugemes- senen Räume ein sehr anschauliches und klares Bild davon geben konnte; er hat nicht blos einer persönlichen Pflicht Genüge ge- than, sondern auch die Sache selbst wesentlich gefördert und die gewonnenen Resultate, zu denen Gelehrsamkeit und Scharfsinn das Ihre beigetragen haben, können nur den Wunsch hervorrufen, dass es dem Verf. bald verstatlet sein möge, sie in einem allge- meineren Zusammenhange darzustellen.

Den Kern der Abhandlung, um den sich die übrigen Theile der Untersuchung gruppiren, bilden einige lateinische Gedichte des Alphanus, jenes Erzbischofes von Salerno (1058—1085), der in engster Verbindung mit Friedrich von Lothringen und Desiderios von Montecassino, den nachherigen Päpsten Stephan IX. und Vic- tor in. (wie dies der Verf. p. 33 trefflich ausgeführt hat) zu den eifrigsten und entschiedensten Vorkämpfern der Gregorianischen Re- formen gehörte, ohne deswegen jenem finstern, mönchischen Ri- gorismus zu verfallen, der sonst den Streitern dieser Seite eigen zu sein pflegte. Vielmehr ist es für seinen Charakter höchst be- zeichnend, dass er gerade mit seiner streng kirchlichen Richtung eine entschiedene Vorliebe für classische Studien verband, die sich in den verschlungenen Rhythmen seiner Hymnen und poetischen Episteln, in den häufigen Anklängen an lateinische Dichter, an Horaz, Ovid, Virgil, deutlich genug kund gfebt. Man kann es nicht leugnen, was auch die philologische Kritik gegen seine Gedichte einwenden möge, seine Distichen erinnern an den glücklichen Fall Ovidischer Verse; eine dem Allerthume verwandte Ader durchzuckte den kirchlich- hierarchischen Sinn dieses Mannes. Zwei anscheinend durchaus

Allg. Z«it8ohrift f. Gesehiclite. Y. 1846. 33

486 Allgemeine Literaturberichte.

entgegengesetzte Richtungen berühren sich in Alphan: er reprä- sentirt jenen Wendepunkt, auf dem die VorHebe für classische Er innerungen, wie sie bis dahin in Italien lebendig gewesen waren, in die Ascetik des strengen theologischen Ernstes überging, welcher das europäische Abendland seil der Mitte des Uten Jahrhunderts zu beherrschen an6ng. Charakteristisch ist es, dass Alphan in seinem Gedichte an Hildebrand sagen konnte (p. 43): Quicquid et llarius prius, Quodque Julius egerunt Maxime nece militum, Voce tu modJca facis. Das alte republikanische Rom mit seinen Impera- toren und Legionen, das neue hierarchische mit seinen Päpsten und Bannstrahlen, beides wird ihm unmiltelbar eins, die neue Welt- herrschaft ist ihm nur eine Fortsetzung der alten. Nächst einigen Fragmenten theilt der Verf. p. 42 ff. folgende Gedichte des Alphan mit: Ad Hildebrandum archidiaconum Romanum, ad Theoduinum monachum Gasincnsem, die epitaphia Stephani cardinalis, Bernardi Praenestini und Guodelrici Beneventani archiepiscopi , von de- nen das zweite, über hundert Verse lang, und das letzte noch ungedruckt waren; die andern finden sich bereits bei fiaronius und Ughelli, aber freilich in einem kaum lesbaren Abdrucke. Aus den Handschriften, die er zu Montecassino selbst verglichen, giebt der Verf. den gereinigten Text, den er mit erklärenden Noten be- gleitet hat, in welchen sich aus der Vergleichung mit andern gleich- zeitigen Schriftstellern, namentlich mit Amatus, nicht selten über- raschende Resultate ergeben, pem Abschnitte über Alphanas geht unmittelbar ein anderer voran p. 25 S6, der einen Abriss der gelehrten Studien auf Montecassino enthält, zu dessen Bewoh- nern auch Alphan seit 1056 gehörte. Wie jene Reihe bedeutender Männer, die uns hier genannt werden, hat auch er sein Talent dem heiligen Benedictus geweiht: Paulus Diaconus, Hildericus, Erchem- pert, Desiderius, Amatus und Andere gehen mit ihren Studien und Bestrebungen hier an uns vorüber. Diesem besondern Theile end- lich hat der Verf. als Einleitung eine allgemeine. Charakteristik der classischen Studien in Italien während des 6. bis 11. Jahrhunderts vorangeschickt, deren wir zuletzt gedenken, weil sie, wie die Ge- dichte des Alphanus für den Verf. der nächste Ausgangspunkt wa- ren, die letzten Resultate der Forschung am vollsten giebt; dage^ gen musste es bei der Anordnung des Stoffes allerdings rathsa- mer erscheinen, vom Allgemeinen zum Einzelnen hinabzusteigen. Es ist keine Frage, dass gerade dieser erste Abschnitt der wich- tigste der ganzen Abhandlung ist. Als den Mittelpunkt dieser ein- leitenden Untersuchungen kann man sogleich das eigenthümliche Ergebniss bezeichnen, dass während bei den übrigen abendländi- schen Völkern die Geistlichkeit als alleinige Hüterin der Schätze des classischen Alterthums erseheint, in Italien sich diese auch in

Allgemeine Literaturberichfe, 487

den Händen der Laien finden, und beinahe überwiegend finden. Auch hierin sprechen sich Deutschlands und Italiens Eigenihüm* liebkeiten aus. Dort dienen die ciassischen Studien der Kirche, sie werden christianisirt, hier stellen sie sich der Theologie, der Kirche entgegen, sie tragenr heidnische Reminiscenzen in sich, und führen zu einer eigen thümlich phantastischen Häresie, in der sich die antiken Dichter zu verführerischen Dämonen gestalten, wie bei jenem Vilgardus, von dem Glaber Rodulph erzählt, ßis auf die Anfänge der germanischen Staaten in Italien geht der Verf. zurück. In einseitiger Grossartigkeit tritt uns hier Gregor der Grosse eutge* gen im Kampfe gegen die Reste des gelehrten Heidenthums; ihm scheint es Entweihung die Fülle christlicher Offenbarungen, die ManifestaMonen des heiligen Geistes in die Fesseln Donatischer Re- geln zu schlagen. Die christliche Innerlichkeit kann sich dem pla- stisch gestaltenden Principe der antiken Welt nicht schärfer ent- gegensetzen. £ine weitere Folge dieser Richtung ist es, wenn in den nächsten Jahrhunderten Unwissenheit und Barbarei unter der Geistlichkeit, namentlich unter der Römischen Ueberhand nehmen, während es doch nicht an Zeugnissen von Grammatikern undRhetoren fehlt, welche als Lehrer der liberalen Wissenschaften erscheinen. Die Päpste Eugen IL und Leo IV. sprechen den Verfall dieser Stu- dien unter den Geistlichen in ihren Canonen geradezu aus, und treffend zeigt hier der Verf., dass ^ie so oft angeführte Constitu- tion Lothars vom J. 825 sich rein auf theologische Schulen beziehe, also in keiner Weise jene Canones widerlegen könne. Zwar fehlt es nicht an Kathedrai- und Klosterschulen, aber sie treten zurück gegen eine dritte Art des Unterrichts, deren Rather gedenkt, apud quemlibet sapientem conversati et litteris eruditi sunt (p. 14). Es sind Privallehrer, die auf eigene Hand Cursen der Grammatik und Rhetorik halten, es sind jene philosophi, deren öfter gedacht wird. Sie lehren gegen ein Honorar und sind keineswegs nothwendig Geistliche, vielmehr scheint die Mehrzahl dem Laienstande ange- hört zu haben; einfach als magistri oder scholastici erscheinen sie in den Urkunden ;l)at einer eine geistliche Weihe erhalten, so wird sie sorgfältig angemerkt. Petrus Damiani und Lanfranc gehörten zu ihnen, bevor sie der Welt entsagten; erst zu Bec lernt der letzte Christo mehr gehorchen als dem Donat. Doch es war nur unsere Absicht auf die Hauptpunkte hinzuweisen, nicht auf das Einzelne einzugehen. Dennoch können wir es uns nicht ver- sagen, schliesslich noch auf einen Mann hinzuweisen, der neben Liudprand eine passende Stelle gefunden hätte, um zu zeigen, wie auch Geistliche von dieser antiken Richtung ergriffen werden konn- ten. Es ist Gunzo, Presbyter von Novara, der das eigenthümliche Schicksal hatte, vor Otto L von den St. Galler Mönchen vollstän-

33*

488 Allgemeine Literaturberichte.

dig y^rklagl zu werden, weil er iii einem lateinischen Gespräche mit ihnen denAccusaliv rälschlich statt des Ablativ gebraucht habe. Diesem Umstände verdanken wir eine höchst interessante Probe mitlelaltriger Philologie, Gunzo's Brief an die Reicbenauer Mönche (bei Blart. et Durand), worin er eine grosse Anzahl von Stellen aus Glassischen Autoren gesammelt hat, um zu zeigen, dass Casus- vertauschungen bei diesen durchaus nichts Ungewöhnliches gewe- sen seien. Dass auch er noch eine Ahnung von der Eigenthüm- lichkeit des antiken Geistes bewahrte, zeigt die Trockenheit, womit er die dichterischen Versuche seiner Zeitgenossen für Bänkels'än- gereien erklärt im Vergleiche mit der anliken Poesie. Endlich noch eine Bemerkung. Der Verf. hat seine Abhandlung Ludovico Tosti, dem bekannten Geschichtschreiber von Montecassino gewidmet* Ein deutscher Geschichtsforscher ist es, der dem Mönche von Montecassino einen Beitrag zur Literargeschichte seines Klosters übersendet. Auch darin liegt ein historisches Moment.

Rudolf Köpke.

Die Entdeckiing von Aroerika darcb die Islander im 40ten und 4 4ten Jahrhundert. Von K. H. Hermes. Dr. der Philosophie, ehemalig. Doc. der Gesch. und Statistik a. d. Univ. zu München. Braunschweig, Fr. Tieweg u. Sohn. 4844. 4 34 S. 8.

Lange hat unsere Literatur sich mit einer dunklen Kunde, mil zweifeibaflen Spuren von jener Thatsache begnügen müssen; man {

kam über die kurze Notiz bei Adam von Bremen selten hinaus. Da erschienen endlich im J. 1837 Rafn's Antiquitates Americanae^ herausgegeben durch die Gesellschaft für Nordische Alterthums- kunde in Kopenhagen, und erregten durch ihre unwiderleglichen und erschöpfenden Beweismittel eine so grosse Aufmerksamkeit» dass man sich alsbald iu allen Ländern beeilte, die Resultate der* selben auf dem Wege der Uebersetzung und Deberarbeitung sich anzueignen. Sehr rasch hintereinander erschienen die frauzösir sehen Bearbeitungen von Rafn selbst (memoire sur la d^couverte de l'Amerique au dixi^me si^cle) zu Kopenhagen und von Mar- mier zu Paris; die englischen zu New- York, zu Boston von Smith und zu London von ebendemselben und von Beamish; die deut- schen von Mohnike zu Stralsund und von Wilhelmi zu Heidelberg; ferner eine russische zu Petersburg, eine niederländische von Hettema zu Leeuwarden, eine polnische von Trojanski zu Krakau^ zwei spanische von Vargas (ciudadano de Venezuela) zu Caracas und von Pidal zu Madrid, eine italienische von Graberg da Nemsö zu Pisa, eine dänische zu Kopenhagen und eine ungarische von Toth zu Pesth. Alle diese Bearbeitungen, mit Ausnahme der Smith- j

sehen zu London, sind Hrn. Hermes unbekannt geblieben; auch j

jenes m^moirq von Rafn, welches nunmehr in zweiter vermehrter

Allgemeine Literaturberichie. 489

Ausgabe (1843) voriie^^l und, während fast alle übrigen Erschei- nungen allerdings nur als Compilationen und Uebersetzungen sich darstellen, seinerseits zum Theil ein Supplement zu den Antiqq. Amer. bildet. Diese Nichtkenntniss desselben von Seiten des Hrn. Hermes ist daher um so mehr zu bedauern, als andern Falls man- cher jetzt klaffende Widerspruch der Ausgleichung naher gekom- men sein würde. Wenn z. B. Hr. Hermes, mit fiezug auf Smith, am Schlüsse sagt: „Ja, man ist so weit gegangen, in dem Mauer- werk einer solide gebauten, jedoch in Abgang gekommenen hol- iändischen Windmühle in der Nähe von Newport, die Reste von Leifsbudir nachzuweisen'^, so würden ihn die genauen Deductionen und bildlichen Darstellungen in dem Memoire, wenn auch vielleicht nicht andern Sinnes gemacht, doch mindestens zu einem gründli- cheren Erwägen genöthigt haben. Eine kurze spöltiscbe Abferti- gung ist grade bei einem zweifelhaften Thema am allerwenigsten angewandt; und für mehr als zweifelhaft wollen wir allerdings die Frage nicht gelten lassen, wiewohl Rafn geneigt ist, nach Verglei- cbung mit andern nordischen Bauten, jenes Mauerwerk als Reste eines zu einer Kirche oder einem Kloster gehörigen Baptisteriums der Normannen zu betrachten, dessen Bau in die Zeit desAufent^ haltes von Bischof Erich zu fallen scheine. Weit verlässlicher und ein unwiderlegliches Zeugniss von der Anwesenheit der Norman- nen ist freilich das Runendenkmal am Taunton river in Massachu* setts. Die schrifüicfaen Quellen gewinnen dadurch eine interes- sante Bestätigung, obwohl sie auch ohnedies im Wesentlichen als hinränglich beglaubigt erscheinen. Sie zu prüfen ist Hrn. Hermes Zweck; die Antiqq. bilden daher die fast ausschliessliche Grund- lage seiner Darstellung; die Hauptresultate derselben bleiben uner- schüttert; nur in Einzelheilen führt die deutsche Kritik zu abwei- chenden Ergebnissen. Namentlich, und mit Recht, will Hermes den Sögur in den Cod. membran. No. 544 u. 557 bei weitem nicht den gleichen Werth beilegen wie den Bruchstücken im Cod. Fla* teyensis, und nicht sowohl jene als vielmehr diese aus den eige- nen Aufzeichnungen des Tborfinn Karlsefni ableiten, die daselbst auch in der That ausdrücklich angeführt werden, nicht aber in den Sögur, welche sich überdies durch Verwechselungen, Erweiterung gen und Ausschmückungen als spätere Bearbeitungen der ursprüng- lichen einfacheren Darstellung verrathen. Rafn hält es übrigens für höchst wahrscheinlich, dass der Bischof Thorlak Runolfson (geb. 1085), ein Nachkomme Karlsefni's, zuerst die Nachrichten über die Entdeckungsreisen seiner Vorfahren gesammelt habe (Memoire p. 15. 51). Die vorliegende Arbeit ist nun schon der dritte Ver- such, die merkwürdigen und wichtigen Ergebnisse der isländi- schen Quellen unmittelbar auf deutschen Boden zu verpflanzen»

490 Allgemeine Liieralurberichte,

um so auffailetlder und schoiachwürdiger ist es, dass unsere Band- bücherliteratur sich noch immer nicht aus ihrem bequemen Schlen- drian aufrütteln lasst. Es wäre wohl endlich nachgrade Zeit, dass man in den Lehrbüchern der allgemeinen und der mittleren Geschichte einen Abschnitt üher die Normannen zu lesen bekäme, der nicht nur Yon ihren Thaten und Eroberungen in Prankreich, England und Italien, sondern auch von ihren Entdeckungen und Niederlas- sungen auf Island seit etwa 850, in Grönland seit 982 und in Nord- amerika (Helluland, Markiand, Vinland) seit 986, von den Fahrten und Schicksalen eines Erich des Rothen , eines Biarn , Leif , Tbor- wald, Thorstein, Thorfinn U.A., ob auch nur summarisch Auskunft gäbe. Wenn nicht einmal so durchaus neue, reiche und interes- sante Resultate der Geschichtsforschung ohne Weiteres Eingang in die verallgemeinernde Literatur Gnden: was soll man dann bei den minder glänzenden erwarten dürfen? Und doch ist jegliches, auch das geringste, der Aufnahme werth. Leider aber geht es in der Wissenschaft nicht anders wie im Leben zu: man bleibt viel zu gern auf dem alten Fleck gemächlich sitzen, als dass man sich mit dem Aufstehn beeilen sollte, wenn es darauf ankommt, nach einem neuen zu wandern ; man will wohl gut sein, aber nicht bes- ser werden, weil das mit Mühen und Opfern, mit einem Ueber- winden des eigenen Standpunktes verknüpft ist. Denn allerdings ist jeder Gomparativ die Negation des Positivs, sowie umgekehrt jede Negation den Gomparativ des Positiven involvirt.

Geschichte des hamburgischen Schul- und Unterrichtswesens im Mit- telalter von Eduard Heyer, Dr. Collaborator am Jobanneura zu Hamburg. Hamburg bei Meissner. 4 843.

Die Entwickelung der wissenschaftlichen Th'ätigkeit im Mittel- alter ging überall in Deutschland einen ähnlichen Gang; die geist- lichen Einflüsse waren überall mächtig j die Institutionen städtischer Verhältnisse gewannen auf ähnliche Weise, doch erst später Ein- fluss. In so fern möchte man die Darstellung von wissenschaftli- chen und Unlerrichtsverhältnissen dieser Zeit in speciellen Landes- theilen für weniger erspriesslich halten können und auch für mehr schwierig, weil auf der einen Seite dem Leser die Aussicht auf die gesammte deutsche Entwickelung durch das Specielle versperrt und auf der anderen der Autor durch die Nolhwendigkeit von Rück- blicken auf das Gesammte gehindert wird. Indem der Leser nicht weisS; was er dem speciellen Landeslheil und was dem Gesamm- ten zuschreiben soll^ weiss der Autor oft genug nicht die Bahn zu gehen, die zwischen dem bekannten und nothwendigen Aligemei* nen und dem von ihm gewählten Speciellen hindurchführt. Es hat nicht immer das Specielle eigenthümliche Jilomenle genug, um da- durch eben auf eine specielle Geschichte Anspruch machen zu

Allgemeine Literaturberichie. 491

können, wenn nicht eben diese Arbeiten nur als Hülfsmittel für denjenigen dienen sollen, der die Gesammtheit der historischen Entwickelung darstellen und aus der Gesammtheit das Einzelne charaklerisiren will.

Das genannte Buch ist mit grossem Fleiss gearbeitet und durch Hinzufiigung von 89 Urkunden, die den Raum des Buches von p. 193—452 einnehmen und theiis zum erstenmalo theils nur cor- rigirl gedruckt worden, werthvoll und interessant. Die Geschichte des hamburg. Unterrichts selbst (1 182) behandelt zuerst die äl- testen deutschen Klosterschulen (p. 1—8), die hamburg. Domschule, das Marianum (8 33), den Scholasticus, den Rector Scholarum und die Locaten (Behelfer und Pedelle aus den Schülern selbst), die beiden Lecturen (nebst einem Verzeichniss der Lectores primarii und secundarii), die ältesten deutschen Stadtschulen, die hambur- gische Nicolaischule, die anderen hamburgischen Schulen, die Bant- schow'schen Streitigkeiten und die Reformation. Der Verf. fühlt an mehr wie einer Stelle die Schwierigkeit etwas specielles eben als specielles darzustellen, da es so viele Analogien hat, und er sucht daher durch seine Einschaltungen über deutsche Schulen über- haupt dem zu begegnen, wenn dies auch, wie sich von selbst ver- steht, hier nicht auf vollständige und genug gründliche Weise ge- schehen kann. Was über die ältesten Klosterschulen gesagt und so bekannt ist, dass ein literarischer Nachweis unnöthig, ja unwis- senschaftlich erscheint, ist aus Trithemius geschöpft; ^ei den an- dern Citaten muss man sich wundern, dass die Ausgabe des Leib- nitz u. A. den Monumenten vorgezogen wird. Zuletzt folgt ein Verzeichniss lateinischer und deutscher Wörter, die nicht im Du Gange, im brem. Niedersächs. Wörterbuch und Richey's Idioticon Hamburg, stehen sollen, von denen jedoch eine Menge als sehr bekannt und errathbar hätten weggelassen werden können, wie z.B. abilis für habilis, advocatus der Voigt, aliqualis, allemannicus, bassus (niedrig), blancus (weiss), bullatus, burggravius, burgima- gister, capsa, cellarium (wie bekannt ist aer cellarius der Keller- meister), ciphus (Becher), circumspectus für umsichtig (bekannter Titel z.< B. der siebenbürg. Deutschen in den Urkunden), furcula (Gabel), guerra Krieg (nichts bekannter als dies), heremum für ere- mum (das h wird ja so häufig weggelassen und zugesetzt), hinc- inde (das Lieblingswort von Nithard). Ebenso waren unnöthig das componirte in für im und umgekehrt imposterum für inposterum, inportunus für importunus, karitas für Caritas, laycus für laicus, legittimus, maliciae, mansus, marcbio (!), mediare , medietas etc., so dass man beinahe vermuthen dürfte, es habe der Verf. nicht grade viele mittelalterliche Schriften gelesen, da ihm gar Vieles noch neu erscheint, was doch nicht mehr erwähnt werden darf. Besser ist die Auswahl bei den deutschen Wörtern getroffen, ob- schon auch da zu bekannte sind.

Urkunden zur Geschichte des Bisthums Breslau im Mittelalter, her- ausgegeben von Gustav Adolph Stenzol. Breslau, im Verlage bei Josef Max u. Comp. 4 845. CU u. 402 S. 4.

Hiermit erhalten wir die schätzbaren Urkunden, auf deren bal- diges Erscheinen ihr Herausgeber selbst im III. Bde. dieser Ztschr. S. 157 hinwies. Die „Nachricht über eine für die Kirchengeschichte zunächst Schlesiens wichtige Handschrift*S welche er daselbst gab (S. 152—169), führt genugsam (und deshalb enthalten wir uns des

492 AUgememe Literaturberichte.

«

Näheren) auf deu Staudpunkt hin, von dem aus der grosse Werth der ganzen vorh'egenden Sammlung erhellt. Diese ist K. J. Nitzsch gewidmet. Der Hauplgesichtspunkt bei der Auswahl war das Ver- hällniss der Kirche Schlesiens zum Staate oder doch zum äussern Leben; die Urkunden sind Iheils aus den Originalen in den Ar- chiven des Breslauer Domcapitels, der Provinz Schlesien und der Stadt Breslau entlehnt, iheils aus dem Hanptcupi^ilbuche des Docn- capiteU dem sog. schwarzen Buche, theils aus jener erst neuer- dings wieder aufgefundenen merkwürdigen Handschrift der Rhe- digerischen Bibliothek, deren Kern der Streit zwischen Bischof Thomas II. und Herzog Heinrich IV., von 1284 1287, bildet. In Summa sind es 316 Urkunden, welche von 1226 bis 1584 reichen; bei jeder ist kurz der Inhalt sowie die Quelle angegeben, das Ein- zelne aber in den Noten commentirt. Ausserordentlich dankens- werth ist die Einleitung, welche auf das Genaueste den Zusam- menhang aller mitgetheilten Urkunden nachweist und dergestalt das Ergebniss dessen, was durch sie für die Erweiterung der Ge- schichtskunde gewonnen worden, bestimmt und anschaulich dar- legt. Eine solche Durcharbeitung des frisch erworbenen Materials sollte keinem Urkundenbuche fehlen; freilich ist das jederzeit der schwierigere Theil der Aufgabe, aber auch zu ihrer Lösung von vornherein Niemand befähigter als der Herausgeber selbst. Herr Stenzel hat das hier angewandte zweckmassige Verfahren auch frü- her schon beobachtet, namentlich bei der vor länger als 12 Jahren herausgegebenen Urkundensaoimlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Einführung deutscher Kolonisten und Rechte in Schlesien und der Oberlausilz. Diese letztere führen wir um so lieber hier an, als gerade sie zu den mühevollsten und zugleich verdienstlichsten Werken der Art gehört, aber in dem früher von uns mitgetheilten Aufsatze: „Ueber die neueren Urkundensamm- lungen zur deutschen Geschichte'^ (Bd. lU. S. 485 ff.) keine Stelle fand, wiewohl sie in neuerer Zeit den ersten bedeutsamen Bethä- tigungen der archivalischen Forschung auf dem Gebiete des deul* sehen Mittelalters, und damit auch den Impulsen zu analoger Thä- tigkeit unbedenklich beizuzählen ist. Das Erscheinen der vorlie- genden Sammlung hat ihrer Natur nach nur mit Unterstützung der Staatsbehörden und unter mannigfachen Opfern des Herausgebers selbst bewerkstelligt werden können; doch da dieser bei seiner Arbeit nicht nur eigentliche Gelehrte, sondern überhaupt die wis- senschaftlich gebildeten Freunde der Geschichte, und nicht Schle- sien allein, sondern auch andere Länder im Auge hatte: so lässt sich erwarten dass ihr, wie die Anerkennung, so auch die Theil- nahme von keiner Seite entgehen werde. Die Reichhaltigkeit der gewonnenen Ergebnisse, die in einen merkwürdigen Kreis des geschichtlichen Lebens nun einen tieferen Einblick gestatten, können wir nur andeuten, nicht zergliedern.

Dissertationen.

Meyer: de theoiiscae poeseos vei'boium consunaniia flnali, iiide a pri- niis ejus vestigiis iisquc ad medium XIII. saeculura. 4845. ßorolini, typis Gusfavi Schade, 56 S. 8.

Oauer: de Carole Marlello. 4846. Beroi. typ. G. Schade. 72 S. 8.

Frese: de Binhardi vIta et scriptis specimen. 4 8*6. Berol.^ typ. Hum- t>lol el Comp. 39 S. 8.

Die liandesvevfassuiis: In Kuvhevsen«

Im Vergleich mit dea Staatsgrundgesetzen der übrigen

deutschen Staaten.

Zweiter Artikel (vgl. S. 105 tt.). Fttrst und Yolk, Hinister nnd St&nde.

„Uie Regierungsform bleibt, so wie bisher, monar- „chisch, und es bestehet dabei eine landständische „Verfassung/^ Das ist der Inhalt des §. 2. der kurhes- sischen Verfassungs-Urkunde vom S.Januar 1831; was aber ist seine Bedeutung?

Das Verhältuiss, das zwischen dem Landgrafeh zu Hes- sen und den kurhessischen Landen obwaltete, war das ei- nes deutschen Reichsstandes zu einem Territorium, in wel- chem Stände von Prälaten, Rittern und Städten bestanden, die als ein Corpus das Land, dem FUrsten gegenüber, zu verpflichten sich ermächtigt hielten (Pfeiffer Gesch. der landst. Verf. in Eurhessen p. 130, 191). Das deutsche Reich lösete sich im Jahre 1806 auf und dadurch erlangte der mit der Kurwürde bekleidete Landgraf die Souverainetät, verliess aber bald darauf das von französischen Truppen besetzte Land, aus welchem mit Ausnahme des zum Grossherzogthum Frankfurt übergehenden Fürstenthums Hanau, im Verein mit anderen Gebieten das Königreich Westphalen gebildet wurde, das im Jahre 1813 die gegen Frankreich verbündeten Mächte eroberten. Der Kaiser von Oestreich schloss für sich und seine Verbündeten am 2. Decbr. mit dem Kurfürsten von Hessen einen Vertrag, wonach dieser in denjenigen Theil seiner Besitzungen wieder eintreten sollte, welcher mit dem Königreich Westphalen vereinigt gewesen war, sich aber verpflichtete, die Stände seines Landes wieder in die Insti-

Allg. Zeitocbrift f. OcMkickt«. T. 184«. 34

494 Die Landeseerfassung in Kurhesien.

tutionen und Privilegien einzusetzen, die sie 1805 genossen (Martens nouveau recueil t. I. p. 651). So kehrte der Kur- fürst nach Hessen zurllck, verkündigte dem Volke am 12ten Decbr. 1813, dass durch die siegreichen Waffen der gegen Frankreich verbündeten Mächte die Fesseln seiner Untertha- nen gebrochen, der Besitz seiner gewaltsam entrissenen Staaten ihm wieder eingeräumt und durch feierliche Trac- taten gesichert sei, sprach sich zugleich darüber aus, wie er Bürgschaft dafür habe, dass seine Unterthanen gern un- ter seine Führung zurückkehrten, ertheilte am 29. August 1814 eine ausdrückliche Zusicheruug über die Fortdauer der kurhessischen Landstände und verordnete am 27. Decbr. 1814 eine Zusammenberufung derselben (unter Hinzuziehung Ton Deputtrten des Bauernstandes), die er nicht länger aus- setzen wolle, so gewiss sich auch erwarten lasse, dass die Beschlüsse des in Wien begonnenen Gongresses auf die in- neren Verhältnisse der deutschen Staaten und 'insbesondere auf die landsiändische Verfassung von bedeutendem Einflüsse sein würden.

In der Rede, mit welcher der Kurfürst diesen Landtag am 1. März 1815 eröffnete, erklärte derselbe, es werde ihm eine grosse Beruhigung gewähren, wenn die Resultate der Versammlung dahin führten, das Glück und Wohl seiner treuen Unterthanen für immer 4urch feste und unumstöss- fiche Bestimmungen dauerhaft zu gründen und zu sichern. Der Erbmarschall als Präsident der Stände dankte namens derselben för den vom Kurfürsten erklärten Vorsatz, mit al- len wohRhätigen Instituten und Verfassungen auch die stän- dische Repräsentation wieder herzustellen. Die Stände selbst aber erklärten am 11. März 1815, das allgemeinste und zu- verlässigste Mittel zur Befriedigung des Wohls des Staates im Ganzen und in allen seinen Theilen sei unbezweifelt <}ie Festsetzung einer den Forderungen der Vernunft und den Erfahrungen der Zeit entsprechenden Landesconstitulion und i3etzten voraus, dass die Bestimmung einer das ganze Vater- land umfassenden, auf ein Hefatiges Repräsentativsystem ge- gründeten und gehörig organisirten> auch mit einer zu dem

JDm Landes^erfoimmg in KurhesMm 495

beabsichtigten Zwedte genUgencko Concurrenz versehenen landständiscben Verfassung, den Absichten des Landesheirn entspreche, weshalb es von dessen Willen abhänge, den Ständen den Entwurf zu einer künftigen LandesconsUtution zur Prüfung vorzulegen, oder ob sie es seien die den Vor* zug gemessen sollten, den Entwurf zur landesherrlichen Ge- nehmigung vorzulegen. Als ihre Grundsätze, deren Vorle«* gung und Ausbedingung »e allen anderen Verhandlungen vorausgehen lassen miissten, entwickelten dabei die Stände, es sei ein schädliches, von dem staatsrechtlichen Grundsatze, dass das Beste des Landes das wahre Beste des Regenten seif sich entfernendes Voruriheil, Regent und Stände, als Re* Präsentanten des Volkes, fitr zwei einander entgegengesetzte und gegen einander wirkende Parteien anzusehen, indem vielmehr Beide ein Ganzes, die Repräsentation des Staates, büdelen, die, wie Haupt und Glieder, mit einander in der unzertrennlichsten Verbindung ständen; woraus folge, dass beide nach einem und demselben Ziele, der Erreichung des Staatszweckes, zu streben, auf einem und demselben Wege in Ergreifung und Ausführung der zur Erreichung dieses gemeinschaflUchen Zieles führenden Mittel mit einander ver- eint zu wandein bestimmt seien, und dass zu dem Ende nicht ausschliesslich von Seiten des Regenten und der namens desselben regierenden Behörden, Mos nach deren Einsichten und Richtungen, vielmehr auch daneben von Seiten des Volkes und der Regierten, also mit Zuziehung ihrer Einsichten und Erfahrungen, zu wirken 8^. In einer Erwiederung vom 18. März 1815 nannte die KurfürsÜicfae Landtagscommission dieses eine Darstellung al- ter Grundsätze dkber das Verhältniss zwischen Fürsten und Ständen, mit der Erklärung, dass es noch zu (rUh sei, sich mit Airfassung einer Landesconstitution auf eine vollständige und genugthuende Art zu befassen, weil sich voraussehen lasse, dass die Grundsätze durch die Beschlüsse des wiener Gongresses festgesetzt werden würden. Am 10. Juni 1815 bestanden die Stände wiederholt auf Bestimmung der GnuMÜinien zu einer neuen Constitution ; die landesherrliehen

34

496 Die Landesverfassung in Kurhessen*

Commissare entgegneten nochmals, dass die Stände dieser Sache noch Anstand geben sollten, bis sie durch den wie- ner Gongress bestimmt sein würde, versprachen .^ber in dem Landtagsabschiede ausdrücklich zu versehen, dass für Kur- hessen die liberalste Constitution festgesetzt und Stände, so- bald die Resultate der deutschen Constitution erschienen seien, wieder zusammenberufen werden sollten. Als auf dem wiener Congresse die deutsche Bundesacte vom 8. Juni 1815 festgestellt war, nach deren 13tem Artikel in allen Bundes- staaten eine landständische Verfassung Statt finden solJ, baten die Stände neuerdings am 28. Juni 1815, da die bis- herige Schwierigkeit durch die erschienene Bundesacte, die keiner Landesconstitution vorgreife, gänzlich entfernt sei, das Land mit den in den früheren Verhandlungen bemerkten Grundlinien einer solchen höchst nöthigen Verfassung zu be- glücken. Mit dem Bemerken, dass dieser Gegenstand bis zur Wiedereröffnung des Landtags verschoben bleiben und alsdann näher erörtert werden solle, wurde letzterer am 30. Juni 1815 bis auf weitere Verordnung prorogirt. Die Stände trennten sich, indem sie das Bedauern aasspracben, die Aussicht zu einer neuen, auf liberalen Grundsätzen ge- bauten Constitution, die das Vaterland hätte hoffen dürfen, auf unbestimmte Zeit hinausgesetzt zu sehen, mit der Zuver- sicht, dass es dem Regenten gefallen werde, sie bald zu versammeln und eine neue Verfassung unter ihrer Mitwir- kung eintreten zu lassen.

Am 15. Februar 1816 wurde der Landtag wieder eröff- net und folgenden Tages legte ein Ständemitglied den ihm 2u einer confidentiellen Mittheilung an die Ständeversamm- lung vom landesherrlichen Commissar zugefertigten Entwurf einer künftigen Landesconstitution vor, der an seiner Spitze die Worte trug: „die Regierungsform ist monarchisch", vvo- gegen die Stände nichts erinnerten. Natürlich war dieser Fassung wie gewöhnlich einer jeden welche in der Er- SBähluügsform von einem Staatsgrundgesetze aufgenommen wird, die Bedeutung zu unierstellen, dass eine Thatsache nicht blos anerkannt, sondern auch zu einem staatsgründge-

Die Landesverfassung in Kurhessen. 497

setzlichen Princip erhoben werde. Es hat also durcb jene Fassung eines Theils ausgedrückt werden sollen, dass die Regierungsform bereits die monarchische sei, andern Theils aber, dass diese Eigenschaft zur grundgesetzlichen erklärt werde. Das, als jener Entwurf nicht zum Grundgesetz er- hoben wurde, im Jahre 1817 erlassene Haus- und Staatsge- setz wählte, indem es die Worte gebrauchte: „die Regie- rungsform bleibt so wie bisher monarchisch'^ ^^^ ^i^^ ^^' dere Redaction, ohne dass dadurch der Sache nach etwas Verschiedenes beabsichtigt sein kann, wovon die Ursache gerade in der demselben mangelnden Eigenschaft eines Staatsgrundgesetzes zu suchen sein mag. Man wird geglaubt haben, durch diese Redaction etwas für die Zukunft Rleiben- des und Unveränderliches bestimmt und so vermieden zu haben, dass nicht jenes einfache Gesetz auf die für jedes gewöhnliche Gesetz übliche Weise verändert werden könne, obwohl ein solcher Zweck dadurch doch nicht würde er- reicht worden sein. Da das Haus- und Staatsgesetz noch die Worte hinzufügt: „und besteht dabei eine ständische Verfassung^', so ist damals schon vom Regenten die in einer solchen nothwendig liegende Beschränkung der monarchi- schen Regierungsform anerkannt worden.

Die landesherrliche Proposition zu einem Staatsgrund- gesetz vom 7. Octbr. 1830 §. 2. stimmt mit dem §. 2. des Haus- und Staatsgesetzes von 1817 wörtlich überein. Der Verfassungsentwurf II schob noch das Wörtchen „es" vor dem Worte „bestehet" ein, was ohne besondere Bedeutung war, und verwandelte das Wort „ständische" in die Benen- nung „landständische." So ist es durch sämmtliche Verfas- sungsentwürfe hindurch geblieben. Diese Veränderung wird auf der Terminologie der neueren Zeit beruhen, wonach eine ständische Verfassung eine solche sein soll, welche nur die Vertretung einzelner Stände auf dem Landtage kenne, während eine landständische Verfassung die eigentliche Vertretung des Volkes bezeichne, das Repräsentativsystem welches Jordan (V. d. L. v. 1832 p. 2220 b.) das schönste Bild der Givilisation und der Fortschritte der Cultur nennt

498 Die Landest^erfoisung in Kurh^sm.

oder, wie sich das OberappellatioDsgericfai als Staatsge«*

richtsbof ausdrückt (Verb. d. Landi. v. 1834 BeiL LXL p. 3), die monarchisch-co n 8 ti tu tionelle Verfassung. Die Propo- sition vom 7. Oclober 1830 mussie freilich die Verfassueg, welche dadurch gegründet werden sollte, eine ständische nennen, weil hiernach an ein solches Repräsentati?system gar nicht zu denken war, da nach §. 14. 15 und 16 nur die Prälaten nebst dem Adel, die Stadträthe und die Ortsvor* Steher der Landgemeinden vertreten werden seilten, die Ab- stimmung nach Curien als Regel vorgeschrieben war und die Bestimmung des Gonstitutionsentwurfs von 1816 Gap. 3. §. 1, fehlte, wonach, mit Aufhebung besonderer Repräsentationen der Prälaten, Ritterschaft, Städte und Bauern, die aus die- sen Glassen gewählten Landesdeputirten zusammen derge- stalt die Stände ausmachen sollten, dass jeder Landesdepu« tirte die Unterthanen ohne Unterschied des Standes reprä^ sentire. Man konnte aber in jenem Sinne die Verfassung nioht mehr eine ständische nennen, -*-* ein Ausdruck, dessen sich übrigens die badische Verfassungsurkunde §. 6. bedient wenn die Wahlen der Abgeordneten 4xuf die im §. 63. der kurhessischen Verfassungsurkunde enthaltene Wei^ Statt finden und die Abstimmungen von den einzelnen Mitgliedem nach g. 67 ohne Rücksicht auf Verschiedenheit der Stände geschehen sollten. Blit Rücksicht hierauf musste man also die Verfassung, dem neueren Sprachgebrauch gemäss, eine landsländische nennen. Diese Veränderung in der Bezeich- nung derselben beweiset aber umgekehrt, dass durch die Verfassung wirklich ein Repräsentativsystem habe gegründet werden sollen oder dass, wie der Givilsenat des Oberge« richts zu Gassei im Jahre 1839 sich ausgesprochen hat, „un- „sere vaterländische Verfassung auf dem Grundsatze der un- „unterbrochenen Repräsentation des Landes durch seine „Vertreter beruht, die zunächst zwar von der Ständever- ,,sammlung ausgeht, bei dem Aufhören der Wirksamkeit der ,46tztem aber durch den permanenten Ausschuss fortgesetzt „wird." Zwar wurde, als die Stellvertreter der Standederrn und die Abgeordneten der ehemaligen Reichsritterschaft ein

ie Landesi^erfassmg in Kurhessen. 499

Separaivotum gegen das Gesetz über die gleichförmige Ord- nung der Verbältnisse der Israeliten einlegen wollten, in der Ständeversammlung von einem Mitgliede, dem BevoUmäcbtig- ten einer apanagirten Linie des Eurbauses, geäussert (Y. d. L. v. 1832 p. 2220 b.), ein eigentliches Repräsentativsystem, wobin man allerdings strebe, liege nirgends in der Verfas- sung; allein jenes Mitglied schöpfte, nacb seiner weiteren Erklärung, den Grund dieser Ansicht daraus, dass es sehe, wie jeder Stand in der Ständeversammluog seine einzelnen Rechte vertheidige. Dies war aber nur ein Vorwurf gegen die betreffenden Mitglieder. Wenn dieselben davon ausge- hen sollten, nur ihren besonderen Vortheil, oder den des Standes dem sie angehören, in der Ständeversammlung zu verfolgen und dagegen die Rechte des Volkes, zu dessen Vertretung sie berufen sind, ausser Acht zu lassen oder gar das Interesse desselben durch ihre Abstimmung zu beein* trächtigen: so folgt daraus nur, dass sie die ihnen gewor- dene Aufgabe nicht begriffen haben oder gar ihren Pflichten wissentlich zuwider handeln« Keineswegs würde aber aus einer solchen Erscheinung deducirt werden können, das«( die VerfassuDgsurkunde das Repräsentalivsystem nicht ge- wollt, sondern die Vertretung der Standesinteressen den Landtagsmitgliedern vorgeschrieben habe.

Eine im Jahre 1832 erschienene (Cass. ailg. Zeit^ Beibl. No. 11. p. 45) Parallele zwischen dem alten und neuen StaatSr rechte Kurhessens hält mit dem Repräsentativsystem die naoh §. 76 der VerfassuDgsurkunde zulässigen Curlat- und Be- zirksslimmen für unverträglich. Aliein es ist schon von Pfeiffer dagegen erwiedert (Cass. allg. Zeit. 1832 p. 73), dass die dort vorkommende Separatstimme eines Standes oder Be- zirks durchaus ohne Einfluss auf die Beschlussnahme der Ständeversammlung sei, vielmehr nur neben dem ständischen Beschlüsse der Staatsregierung zu etwaiger Berücksichtigung mitgethcilt werde, wie sie ja auch, wenn die Betheiligten sich unmittelbar dahin wendeten, würde eintreten können. Sehr richtig drückte sich ein von der Ritterschaft gewählter Landtagsabgeordneter über die Bestimmung im §. 76 der

500 Die Landesterfoisung in Kwke$$m.

Verfassungsurkunde aus, wenn er (der auch am Land- tage von 1830 Theil nahm) äusserte, sie solle einen weite- ren Erfolg nicht haben als den: dem betreffenden Stande oder Bezirke sei es Überlassen nicht, ein Gesetz wegen Statt gehabter Beschränkung von Rechten zu verwerfen, son- dern — die Staatsregierung darauf aufmerksam zu machen, dass ein Recht verletzt sei; und wenn er femer in Bezie- hung auf einen concreten Fall sagte, die Staalsregierüng werde durch die Standesstimme nur darauf aufmerksam ge macht, diejenige Entschädigung zu leisten, welche ver^ fassungsmässig dem (in seinen Rechten verletzten) Stande zukomme (V. d. L. v. 1832 p. 2220 c). Ebenso wenig streitet gegen das Repräsentativsystem die Wahl eines Theils der Landtagsmitglieder nach Ständen, statt nach der Yolks- zahl, da ja selbst in England, wo gewiss jenes System stets vorherrschte, nicht blos das Oberbaus aus erblichen Mitglie- dern besteht, sondern auch, zumal vor den jüngsten Refor- men, bei der Wahl einzelner Mitglieder des Unterhauses die Yolkszahl nicht berücksichtigt wurde. Die Mit-Initiative bei der Gesetzgebung, deren Mangel auf Seite der Stände man eben- falls gegen das Repräsentativsystem angeführt hat, fehlt aber nach §. 97 der Verfassungsurkunde denselben keineswegs.

Wenn insbesondere, um zu zeigen dass der Verfassungs- urkunde kein Repräsentativsystem zum Grunde liege, auf §. 10 und die danach nicht hinsichtlich aller Hoheitsrechte durchgeführte Theilung der Staatsgewalt hingewiesen wird (Cass. allg. Zeit. 1832. BeibK No. 11. p. 45): so muss vor al- lem der Sinn dieses Artikels erforscht werden , der über- haupt in sehr enger Verbindung mit §. 2 steht.

Jene Bestimmung*) fand sich weder in dem Gonstitu- tionsentwurf von 1816, noch in der Proposition vom 7, Oc- tober 1830. In dem Verfassungsentwurfe 11 kam dieselbe

*) In dem Abschnitte: „Von dem Landesfürslen und den Glie- dern des Fürsienhauses", lautend: „§. 10. der Kurfürst ist das Oberhaupt des Staates , vereinigt in sich alle Rechte der Slaatsge- walt, und übt sie auf verfassungsmässige Weise aus. Seine Per- son ist heilig und unverletzlich."

Die Landewerfassung in Kurhessen. 501

zuerst als §. 9 vor und lautete : ),der Kurfürst ist das Ober- haupt des Staates, vereinigt in sich alle Rechte der Staats- gewalt und Übt sie unter den durch die Verfassung festge- setzten Bestimmungen aus.<< Die Ständeversammlung be-^ schloss anfangs statt dieser Schlussdausel die Worte: „und übt sie nach den in der Verfassung enthaltenen Bestimmun- gen aus^^ zu setzen. Doch wurde schon für den §. 9 des von der Ständeversammlung ausgegangenen Verfassungsent- wurfs III die in der Verfassungsurkunde §. 10 gebrauchte Fassung gewählt. In sämmtlichen Verfassungsentwürfen war noch hinzugefügt: „Seine Person ist heilig und unverletzlich.^^ Diese ganze Bestimmung verdankt demnach ihren Ursprung lediglich der Ständeversammlung, muss daher auch vorzugs- weise in dem Sinne erklärt werden, welchen die letztere damit hat können verbinden wollen.

Durch den §. 2 und den §. 10 der Verfassungsurkunde wird nun augenscheinlich ein und dasselbe ausgedrückt; im ersteren wird die Regierungsweise nach ihrer Form beschrie- ben, im letzteren durch die Bezeichnung des Subjects. Mo- narchische Regierungsform neben landständischer Verfassung ist nichts Anderes, als Ausübung aller im Staatsoberhaupte vereinigten Rechte der Staatsgewalt auf verfassungsmässige Weise. Dass diese Ausübung auf verfassungsmässige Weise identisch mit einer Ausübung nach den in der Verfassung enthaltenen Bestimmungen, mithin der §. 10 der Verfassungsurkunde blos eine veränderte Redac- tion für den ursprünglichen Beschluss der Ständeversamm- lung zu §. 9 des Verfassungsentwurfs II sei, ergiebt sich un- widerleglich daraus, dass die Ständeversammlung selbst jene Veränderung vornahm, ohne dass sie ihr in einem der späteren Verfassungsentwürfe Seitens der Staatsregierung vorgeschlagen wäre. Die Ausübung nach den in der Verfassung enthaltenen Bestimmungen kann aber nur bedeuten: eine Ausübung der Staatsgewalt unter den in der Verfassung ausgesprochenen Beschränkungen der- selben. Da nun diese Beschränkung in einer Mit- wirkung der Ständeversammlung bei einzelnen

502 Die LandeieerfoBiung in Kurhessm.

Regierungshandlungen besteht, so ist allerdings eine Theilung der Staatsgewalt begründet*), mitbin auch dieses in der Parallele zwischen dem alten und neuen Staats- rechte Kurhessens desiderirte Griterium des Repräsentativ- systems vorhanden; hierbei kommt es nicht darauf an, ob die gemeinschaflliche Theilnahme des Staatsoberhauptes und der Stände an der Ausübung der Staatsgewalt auf beiden Seiten gleich vertheilt sei, oder ob hinsichtlich einzelner in der Staatsgewalt liegenden Rechte die eine Seite ein Ueber- gewicht vor der andern geltend machen könne, oder ob ein- zelne solcher Rechte, z. B. die Executivgewalt, einer Seite allein zugewiesen seien; sondern nur darauf, dass nicht eine Seite ausschliesslich und unbeschränkt sämmtliche Rechte der Staatsgewalt auszuüben hat, vielmehr eben eine Gemeinschaftlichkeit dabei eintritt. Eine solche, im Artikel 57 der wiener Schlussacte vom 15. Mai 1820 ausdrücklich als mit dem Grundbegriffe der fürstlichen Souverainetät ver- einbarlich anerkannte **) Theilung der Gewalt steht auch kei-

*) Die während des Jahres 1834 in Gabinetsconferenzen zu Wien zusammengetretenen Bevollmächtigten der Fürsten und freien Städte Deutschlands sollen im Art. I. ihres Schlussprotokolls zu der Vereinbarang gelangt sein, dass jede auf eine Theilung der Staatsgewalt abzielende Behauptung unvereinbar mit dem Staats- recht der im deutschen Bunde vereinigten Staaten sei und bei kei- ner deutschen Verfassung in Anwendung kommea könne, zugleich aber auch anerkannt haben, dass das Staatsoberhaupt durch eine landständische Verfassung, ohne das Grundprincip des deutschen Bandes zu verletzen, in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden könne; dies aber ist gerade eine Theilung der Staatsgewalt oder die Ausübung der im Staatsoberhaupte vereinigten Staatsgewalt in Gemeinschaft mit An- dern bei einzelnen Handlungen.

•*) Der in der 22sten Sitzung der Bundesversammlung von 1832 gefasste Beschluss Artikel I, welcher weiter gehende Petitio- nen der Landstände für verwerflich erklärt, kann in Hessen, wo derselbe durch Verordnung vom 18. Juli 1832 bekannt gemacht wurde, deshalb keine Anwendung finden, weil hier der politische und staatsrechtliche Zustand schon vorher durch die Verfassungs- urkunde seine Regelung gefunden bat und an eine Petition um Aenderang derselben wohl nicht gedacht werden wird.

Die Ländest>erfas$ung in Swrhesie». 503

neswegs mit der im §. 2 der Terfassungsurkunde vorge- schriebenen monarchischen Regierungsform im Wider- spruche.

Versieht matf nämlich unter einer Monarchie diejenige Regierungsform, weiche dem Volke alle politischen 'Rechte abschneidet und dem Einzelnen nur Sicherheit der Per^ son und des Eigenthums gewährt: dann freilich sind alle Staaten, in denen Landstände bestehen weiche eine gros- sere Wirksamkeit äussern als die ist, einen Rath zu ge- ben der nicht beachtet zu werden braucht, für Republiken zu halten; dann frdiich ist auch die kurhessische Regie* rungsform eine republikanische, weil sie dem Volke eine Theilnahme an der Regierungsgewalt einräumt und die kur- hessische Verfassungsurkunde schliesst dann, gleich so man- cher andern, einen Widerspruch in sich, wenn sie die da- durch begründete Regierungsform eine monarchische nennt. Rezieht man aber die monarchische Regierungsform auf die- jenigen Staaten, in denen die Leitung der Staatsgeschäfte einer einzigen physischen mit Majestät bekleideten d. h. mit Heiligkeit umgebenen und mit Unverletzbarkeit begabten Person anvertraut ist: dann schliesst dieselbe das Repräsen- tativsystem keineswegs aus. Es braucht dabei nicht unter- sucht zu werden, ob die Rechte des Staatsoberhauptes gött- lichen Ursprungs, ob sie angeborne Familienvorzüge sind, oder ob sie auf einer Uebertragung von Seiten des Volkes beruhen; denn diese Frage vermag gar keine practischen Folgen nach sich zu ziehen, so lange das Staatsoberhaupt wegen seiner Handlungen ohne Verantwortlichkeit bleibt. Erst wenn dasselbe diese wegen der Regentenhandlungen zu übernehmen hätte, würde eine Volkssou veraine tat Wir- kungen an den Tag legen, welche sich wesentlich von der heutigen Ausdehnung des Repräsentativsystems unterschei- den und den Charakter der constitutionellen Monarchie durch- aus verändern würden. Als der Grundpfeiler der letztern muss das Frincip von der Heiligkeit und Unverletzbarkeit de$ Regenten betrachtet werden, womit freilich unzertrenn- lich die Lehre voa der Verantwortlichkeit der Minister und

504 Bk Landeseerfoiiung in Kurkessen.

Übrigen Staatsbeamten verbunden ist, mit der es auch bei Berathung der Verfassungsurkunde fortwährend in Verbin- dung gebracht wurde.

Wenn gleich in der Monarchie einem Einzigen, dem Staatsoberhaupte, die Leitung aller Staatsgeschäfte oder^ wie das Gesetz über die Hitregentschaft des Kurprinzen vom 30. Septbr. 1831 §. 2 sich ausdrückt, „die Besorgung aller Regierungsgeschäfte'^ vindicirt werden muss, so ist daraus nicht zu folgern, dass dasselbe bei dieser Leitung lediglich die Willkür zur Richtschnur zu nehmen habe. Beschränkung der Willkür durch sachgemässe Rücksichten heben keines wegs den Charakter der monarchischen Regierungsform auf. Zu den Rechten der Staatsgewalt gehört unstreitig auch die Justizhoheit, und doch findet niemand eine SchmäleruDg des monarchischen Princips darin, dass die Gerechtigkeitspflege nur durch Richter geübt werden darf, welche vom Staats- oberhaupte unabhängig sind, weil allgemein anerkannt wird, dass Gabinetsjustiz keinen unparteiischen Rechtsspruch zu gewähren vermöge. Eben so wenig wird man eine Krän- kung des monarchischen Princips darin erblicken, dass nach den in Deutschland verbreiteten Ideen ein Staatsbeamter nur durch Urtheil und Recht seines Amtes entsetzt werden kann.

Das monarchische Princip bleibt also unangetastet, wenn die' Willkür des Staatsoberhauptes Beschränkungen unter- worfen wird, welche nothwendig sind, um den Zweck des Staates zu erreichen. Dieser besteht in der Zufriedenheit des Volkes. Nie wird das Staatsoberhaupt die Gewalt so ausüben wollen, dass sie das Volk zur Unzufriedenheit stimmt. Damit aber zu erkennen ist, in welchem Sinne die Regie- rung zu leiten sei, um die Zufriedenheit des Volkes herbei- zuführen, hat dieses selbst sich durch seine Vertreter über die Regierungsweise zu äussern, durch welche es seine Zu- friedenheit, die doch nur auf subjectiven Ansichten beruhen kann, bedingt glaubt. Das ist das Repräsentativsystem, wel- ches die kurhessischen Landstände schon im Jahre 18i5 als nothwendige Grundlage einer Landesconstitution bezeichne- ten j es ist das Mittel, vermöge dessen das Staatsoberhaupt

Die LandestiBrfanung in KurheuetL 505

die Wege zu erforschen vermag, die bei der Leitang der Staaisgeschäfte einzuschlagen sind, um die Zufriedenheit des Volkes zu begründen und dadurch den Zweck des Staates zu erfüllen. Sobald aber die Stimme des Volkes, die sich durch seine Vertreter kund giebt, vom Staatsoberhaupte bei dessen positiver oder negativer Thätigkeit beachtet v^erdea muss, ist eine Theilung der Staatsgewalt zwischen dem Staats- oberhaupte und dem Volke vorhanden, weil es nun nicht mehr unbedingt von dem guten Willen des ersteren abhängt, bei der Leitung der Staatsgeschäfle sich an die Rücksichten zu binden, welche erforderlich sind um die Zufriedenheit des Volkes herzustellen. Je weniger die Stimme des Volkes unbeachtet gelassen werden kann, desto grösser sind seine politischen Rechte, die Theilnahme an der Regierungsgewalt; und je mehr dessen Stimme sich Geltung zu verschaffen weiss, desto freier ist es und unabhängiger. Der höchste Gipfel der Volksfreiheit ist erreicht, wenn die Regierung nach den Grundsätzen geleitet wird, welche von den Ver*« tretern des Volkes fiir diejenigen erklärt sind, von denen die Zufriedenheit des Volkes abhängt.

Dieser höchste Grad der Volksfreiheit ist aber nothwen- dig, um einerseits das monarchische Princip zu befestigen, andrerseits dessen Uebergang in Despotie oder in diejenige Regierungsform zu verhüten, nach welcher das in einer phy** sischen Person bestehende Staatsoberhaupt bei der Leitung der Staatsgeschäfte ganz unbeschränkt ist, lediglich den Ein- gebungen seiner Willkür folgen darf. Rechtlich ist kein Un- terschied dabei, ob diese unbeschränkte Befugniss benutzt wird um das Volk zu tyrannisiren, oder ob sie wegen wei- ser Anwendung zu ihren Erfolgen Wohlstand und Glükselig- keit des Staates zählen kann*, denn dies hängt immer nur von der zufälligen Individualität des Staatsoberhauptes ab. Sobald die Regierungsgrundsätze durch welche die beharr- lich ausgesprochene Meinung des Volks seine Zufriedenheit bedingt hält, von den verantwortlichen Organen des Staats- oberhauptes hintangesetzt werden, dürAe die Regierungsform als in eine despotische ausgeartet anzusehen sein, es mag

506 Di$ Lmide$0€rfiMmtg m KnriM$m.

die YeriiMaDguirka&de lauten, wie sie we9e; denn der Er* folg hai dann bewiesmi, dass die Bepräsentation nur ein Sfiiel ist. Sobald dagegen der Wille des Volkes sich gegen die entschiedene Abneigung der Regierung Geltung zu ver«* schaffen weiss, bat das democratische Priocip ein Ueberge- wichi erlangt In der stfitigen Harmonie zwischen der Re- gierung und dem Volke besteht die RepHlseniativmonardiie. Diese ist versdiwnnden, sobald jene Harmonie gestttrt wird, die um so enger und inniger sein muss, je häufiger naeh der Verfassung die Mitwirkung des Volkes bei Ausübung der Staatsgewalt Statt finden soll. Wo die Staatsgewalt zwischen xwei Körpern getheilt ist, da ist es nicht blos dem gedeih- lichen Erfolge der Öffentlichen Angelegenheiten naditheilig, da wird bald langsamer, bald rascher der Staat selbst un- rettbar seinem Untergange zugeführt, wenn die zwei Körper sich einander bekämpfen, statt gemeinschaftlich nach der Erreichung des ihnen vorgesteckten Zieles zu streben. Bei dem Zerfall des Staatsverbandes aus solcher Ursadie kann niemand so grosse Verluste erleiden, als ein erb lieh es Staatsoberhaupt.

Wer wird aber bei einem Gonflicte der beiden an der Staatsgewalt Theil nehmenden Körper nachgeben? £s ist hier nicht die Rede davon, was die Organe des Staatsober- hauptes und was die Vertreter des Volkes thun sollen, um einem solchen Gonflicte vorzubeugen; nicht die Rede davon, ob es Pflicht eines jeden Landstandes sei, einen concilia-- torisehen Weg zu gehn, weil das Wohl des Vaterlandes immer durch die Zeitumstände bedingt sei und diese eine vermittelnde Auskunft ralhaam erscheinen lassen. £s handelt jetzt sich nur davon, wie ein Conflict geschlichtet werden soll, wenn er eingetreten ist.

Der einzige Zweck, weshalb in einer Monarchie das Volk in seinen Vertretern überhaupt befragt wird, ist, zu erfahren, welche Regieningsgrundsätze dasselbe nöthig hält, um seine Zufriedenheit begründet zu sehn. Wenn eine Re* gierung diesen Zweck nicht anerkennt, so erklärt sie zu* gleich» dass üß in Wahrheit keine Volksrepräsentation wiH

ie Landesterfanwig in Kurh$i$m. 607

und steh ia Opposition mil der Yerfiassung setzt, ah derta EJemeni eine Volksvertretung erseheint. Ob Jemand sich zu- frieden fühle, hängt ganz von dessen subjeeiiven Ansichten ab; ein Anderer vermag darüber nieht za urtheilen. Das NSmliohe tritt bei einem Volice ein. Sobald man also die Idee verlässt, das Volk mit dem Staatsoberhaupte zu iden- tifioiren und blos in dem letzteren das erstere zu erkennen, muss man zugeben, dass nur das Volk wissen kann, bei der Anv^endung welcher Grundsätze es sich zufrieden fiihlea w«rde. Nirgends aber wird es einen Regenten geben, welcher die Mittel; das Volk zufrieden zu maehen, kennt und doch^ statt sie zu benutzen, die entgegengesetzten Mittel anwendet. Eine Siändeversammlung ist allerdings nicht das Volk selbst, sondern vertritt nur dasselbe. Das Staatsoberhaupt kann daher in einem einzelnen Falle zweifelhaft sein, ob die Ständeversammlung auch wirklich die allgemeine Meinung des Volkes ausgesprochen habe. Jede Verfassung wird aber Millel darbieten, das Staatsoberhaupt über seinen Zweifel aufzuklären und demselben die wahre Meinung des Volkes, durch einen wiederholten Ausspruch desselben, an den Tag zu legen 3 sollte indessen eine Verfassung solche Mittel nicht darbieten, so kann auch bei dem Staatsoberhaupte der er- wähnte Zweifel gar nicht entstehn, weil dann gesetzlich die erste Erklärung der Ständeversammlung für die wahre Meinung des Volkes gehalten werden muss. Man kann nicht einwenden, es habe die Erfahrung bewiesen, dass die Stän- deversammlungen nicht die öflfentliche Meinung reprä^entirten, indem häufig das Volk selbst, wenigstens seine grössere Mehrheit, ganz anders denke, als die Mitglieder der ver- schiedenen von demselben gewählten Ständeversammlungen. Wo dies der Fall ist, liegt der Fehler immer an der Vor- schrift über die Zusammensetzung der Ständeversammlungen und an dem Wahlmodus. Männer der Regierung dtlr£en am wenigsten diese Behauptung unternehmen, denn wenn sie es thäten, so trifft sie der Vorwurf, dass sie nicht eine Ver- änderung der Repräsentation und der Wahlari auf legalem Wege einzuleiten suchen, was um so mehr ihre Pflicht ist,

508 Die Landaverfa$$ung m Eurheasen*

als von einem Volke, dessen Meinung nicht durch die ver- fassungsmässigen Stände repräsentirt wird, eine solche Ver- änderung nur auf dem beklagenswerlhen Wege der Revo* lution erreicht zu v^erden vermöchte. Es muss demnach, so lange eine gewisse Repräsentations- und Wahlart verfassungs* massig besieht, die durch die gesetzlichen Vertreter des Volkes ausgesprochene Meinung über die, die Zufriedenheit des letztern begründenden Regierungsgrundsätze, für die Meinung des Volkes selbst gehalten werden. Sobald sich darüber das Staatsoberhaupt Gewissheit verschafft hat, wird es seinen Organen auftragen, jene Grundsätze zur Anwen- dung zu bringen oder, wenn dieselben Bedenken haben auf diesem Wege zu wandeln, zu seinen Organen Männer wäh- len, welche den Willen des Staatsoberhauptes auszuführen bereit sind. Mau hat dies wohl als eine gefährliche Omni- potenz der Kammern geschildert, aber letztere beruht nicht bei den Personen der Kammern, sondern auf der ioheren Nothwendigkeit, die Bedürfnisse des Volkes zu berücksich- tigen, über welche die'ses nach der Verfassung sich nicht haufenweise Mann für Mann aussprechen darf, noch mittelst beliebig sich bildender Clubs und Vereine wie sie bei mangelnder Volksvertretung Überall auftauchen und, sobald sie äusseren Zusammenhang gewinnen, die bedenklichste Er- scheinung für eine Staatsverwaltung sind ^, sondern eben nur durch -die Stände Versammlung, welche sicher als der mindest gefährliche Weg sich darstellt.

Sollte nun aber das Staatsoberhaupt, ungeachtet es durch die Vertreter des Volkes erfahren hat, was dieses zu seiner Zufriedenheit für nölhig erachtet, dennoch bewogen werden, einem im entgegengesetzten Sinne gesteUten Bath seiner Or- gane Gehör zu geben, so wird damit ein Verfahren einge- schlagen, welches unvermeidlich entweder zur Democratie oder zur Despotie führen muss. Beide Begierungsformen heben die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Staatsober- hauptes auf und diese Folge dürften also die Orgaue des Staatsoberhauptes zu verantworten haben, die demselben, wenn sie selbst nicht ein Abgehn von ihrer Ansicht mit

ie Landewerfauung in Kurhesten, S09

ihrem Gewissen vereinigen zu können glauben, nicht ge- rathen haben an ihrer Stelle solche Männer zu erwählen, welche das Staatsoberhaupt nicht verhindern werden, die Staatsgeschäfte nach den von dem Volke gebilligten Regie- rungsgrundsätzen zu leiten. Dass es unmöglich ist, die Hei- ligkeit des Regenten aufrecht zu erhallen, wenn dessen Or- gane sich bleibend in eine Opposition mit dem beharrlich ausgesprochenen Willen des Volkes setzen, beweiset die Doctrin die einst ein Journalist dem kurhessischen Ministe- rium unterstellte (Cass. allg. Zeit. 1832 ReibL Nr. 31. p. 1.). Wenn Über das letztere geäussert wurde: es hat keine Nei- gung sich die Lehre aufheften zu lassen, dass die Majorität der Ständeversammlung den Impuls gebe nach welchem das Ministerium regieren mUs3e, oder dass die Stände berech- tigt seien , diejenigen Gesetze welche ihrer pfliehtmässigen Ueberzeugung nach für das Wohl des Landes unumgänglich nöthig wären, „von dem Ministerium d. h. von dem Landes- herrn ^' zu erzwingen, wobei eine einmalige Appellation an das Volk mittelst Auflösung der Ständeversammlung zwar erlaubt sei, was aber die zweite beschliesse, das sei als der Wille des Volkes zu betrachten, welchem das Ministerium also der Landesherr Folge leisten müsse: so ist dadurch klar an den Tag gelegt, wie der Journalist diese dem kurhessi- scben Ministerium untergeschobene Ansicht nur damit zu rechtfertigen vermpchte, dass er das Ministerium an die Stelle des Landesherrn setzte, die erhabene WUrde des letz- tem, der doch auch über dem Ministerium stehen muss, als auf dieses übergegangen betrachtete, folglich diesem auch die Eigenschaften des Regenten beilegte, und dadurch die Heiligkeit verkannte, die von der Person des Landes- fürsten unzertrennlich ist. Ja es lässt derselbe alsbald einen unmittelbaren Angriff auf die Heiligkeit des Regenten folgen, indem er anführt, man habe zwar. während des Landtags von 1832 nicht ausdrücklich das Princip aufgestellt, dass die Stände das Recht hätten, „Seine Hoheit den Kurprinzen (das Staatsoberhaupt) zu zwingen^' die Gesetze, so zu ^anctioniren , wie sie die Stände beschlossen hätten, aber

Allg. Zeitsclirift f. GeschicLte. V. 1846. 35

510 Die Landtiterfammg m tüu^eaen.

man habe diese Genehmi^ng so «»atifhörlieli sollicitirt u^ so fest auf dem befanden, was man bescklossen, das» ein« ausgleichende üebereinkunft unmöglich geworden sei. Da nun in der That während des Landtags von 1832 manche Gesetze sanctionirt worden sind, so Kegt in dieser durch die Redaciion der Zeitung freilich alsbald widerle^n (ibid, p. 2.) Aeusserung nichts Anderes, als dass.der R«geBt a deren Sanciionirung nicht durch eine ausgleichende Ueb$r<- einkunft, sondern durch Zwang bewogen sei; wer aber Zwang gegen den Regenten ftlr möglich hält, muss die Bailif^eit desselben aufgegeben haben. Zu solchen, in Frankrweh dwch die Gesetzgebung hart vi6rpönten, EiBmi^hungen der Person des Regenten in die Schutzreden des Mmsteriums führt es, wenn man dem letzteren den Roth giebt, die nad „pflicUmässiger üeberzeugung** ausgesprochene Meinung der Volksvertreter hintanzusetzen. Merkwürdig Meibi hierbei nur der ümsland, dass jene Lehre von der Unwillfi*ri^€it eines Mmisteriuffis, die Voiksstimme zu beachten, srffest wenn sie sich mehrlacfa in dem nämltclMi Sinne geäussert hat, m einem Artikel gepredigt wurde, welcher oflteiibar, «ach Auf- lösung einer Ständeversammtung , an die WsMmänner 'ge- richtet war, denen der Journalist zuruft (Cass. allg. Ze^ 1832. p. 1762.): in die Hdnde dieser Wablmänner ist in dfe- sem Augenblicke viel gelegt. Man kann wohl fragen , was in ihre Hände Grosses gelegt isein sollte , wenn es nicht die Entscheidung des Zweifels wäre, in welehc^m sieb das Staats- oberhaupt Über die wahre Stimmung des Voikes befundoB haben mag; und wo^hl kann man fragen, was denn Erheb- liches auf diesen AussfHruch der WaUmänner ankommt^ wenn sich darüber die Organe des Staatsoberbaflptes doc^ fainaussetzien wollen und können.

Es würde in der That unerklärlich sein, wie man bei dem Landtage von 1832 nur den Gedankep an die Anwen^ düng eines Zwanges gegen den Regenten hat voraussetzen können, wenn man nicht annehmen müsste, dass ein S€4cher in dem oft und laut ausgesprochenen Wunsche der StÄttde erblickt worden wäre, die zur Verbesserung des gesellschafl-

Die Landei€>erfus9ung in Kurhessen. SU

liehen Zustandes im Staate durch die Yerfassungsurkunde rerheisseneQ Institutionen verwirklicht zu «eben, wodurch 4ie Stände Versammlung allerdings hin und wieder verhindert gein mochte, sich streng an die Bahn zu halten, auf welcher tinter gewöhnlichen Verhältnissen die Volksvertreter meist die i^össten Erfolge zn erreichen im Stande sein wer- den, indem sie sich nämlich, ohne positiv handelnd aufzu- treten, nur negativ verhalten, nur ein Veto gegen diejenigen, ihrer Mitwirkung bedürfenden, Maassregeln der Regierung einlegeii, von xienen »e eine Förderung der Volkszufrieden- heit Bfcbt erwarten.

Der Oberappellationsrath Bender glaubte (Cass. allg. Zeit. 1832. Beibl. Nr. 8. p. 33.), dass von der monarchischen Re- gierungsform eine gewisse Selbstständigkeit der regierenden Gewalt unzertrennlich sei und hielt es deshalb für die Auf- gabe des Ministeriums, die öflFentliche Meinung zwar zu ach- ten, keineswegs jedotsh der Mehrheit, und wäre sie die Mehrheit des verfassungsmässigen Organes der öffentlichen Meinung, blind zu gehorchen (ibid. pag. 34.). Sofern die Stände verfassun^mässig blos zu einem Rathgeben berech- tigt sind, wird die öffentliche Meinung hinlänglich geachtet, felis sie angehört wird; da aber den Ständen verfassungs- mässig in grösserer Ausdehnung Rechte eingeräumt sind, da sie wie durch einen, wenn nicht von jenem Schrift- steller selbst herrührenden, doch in dessen Geiste geschrie- benen Artikel (Cass. allg. Zeit. 1832. p. 802.) zugegeben ist in einem gewissen Umfange einen Theil der Regierung bil- den, so ist schwer zu erkennen , wie man ihre Meinung in der That achtet, wenn man ihr nicht folgt oder doch nicht das in der eignen Person liegende Hinderniss, ihr zu folgen, beseitigt. Soll •etwa darin die Selbstständigkeit der regie- renden Gewalt bei einer monarchischen Regierungsform lie- gen, dass das Staatsoberhaupt ^e Grundsätze, welche noth- wendig sind vm die Zufriedenheit des Volkes zu begründen, nicht befolgen darf, weil sie als solche von der öffentlichen Meinung anerkannt sind? Jener Schriftsteller äussert, als er das Verhffltaiss der Völker zu ihren Fürsten mit der Ehe

35*

512 Die Landesverfasmng in Kurhessen.

vergleicht, dass wie ein gewisses Gefühl für Anstand und Schicklichkeit, das Bedürfniss gegenseitiger Liebe und Treue, neben dem geschriebenen Recht einen gewissen Lebenstakt ausbilde , mit dessen Hülfe Personen , welche sich gegenseitig ihre Tage auf alle Weise verbittern können , viele Jahre hin- durch in friedlicher Ruhe zusammenleben; so auch mit dem Gesetz, also mit der Verfassung,^ noch nicht alles getban sei, die Hauptaufgabe vielmehr darin bestehe, sie durch Liebe und Treue in das Leben überzuleiten (Cass. allg. Zeit. 1832« Beibl. Nr. 5. p. 21.). Wenn nun, um bei diesem Gleichniss zu bleiben, ein- Ehegatte sich von den Mitteln überzeugt hat, durch welche der andere Gatte ^wahrhafte Zufriedenheit zu . erlangen glaubt, verliert er von seiner Selbstständigkeit, indem er zur Erreichung dieses Zweckes jener Mittel sich bedient^ obgleich er nach geschriebenem Rechte dazu nicht verpflichtet wäre? So wenig dies der Fall sein wird, €ben so wenig wird bei einer monarchischen Regierungs- form die Selbstständigkeit der regierenden Gewalt beeia- trächtigt, wenn sie die Grundsätze beobachtet, deren An- wendung die Meinung des Volkes zu seiner Zufriedenheit nöthig erachtet, selbst wenn die Verfassung dieses nicht aus* drücklich vorgeschrieben hat. Denn „mit Gonsequenzen re- giert man nun einmal die Welt nicht ^' sagt der angeführte Schriftsteller. Wenn man, wie derselbe sich ausdrückt (Gass. allg. Zeit. 1832. Beibl. Nr. 8. p. 34.), dahin arbeiten wHl, dass die Empfindungen und Vorstellungen, welche den Völ- kern deutschen Stammes zu allen Zeiten eigen waren und die Grundlagen unseres früheren Staatsrechtes bildeten, dass die Begriffe von persönlicher Anhänglichkeit und Unterthanen- treue nicht als veraltete Reste eines barbarischen Feudalis- mus betrachtet, vielmehr auch unter den neuen Formen sorgsam gepflegt und erhalten und nicht durch Ideen ver- drängt werden, welche an sich betrachtet allerdings keine subversive Tendenz haben, aber von Umständen begünstigt eine solche leicht annehmen und mit Kraft verfolgen wenn man Vertrauen des Volkes zu den Absichten einer Regierung erwerbeä wenn man zu diesen Zwecken die

Landesverfassung in Kurhessen. 613

Verfassung mit Liebe und Treue in das Leben überleiten will : dann darf man nicht Vertreter des Volkes berufen um sie über die Mittel zu hören, durch welche das Volk seine Zufriedenheit bedingt glaubt, und doch „mit starrer Einseitigkeit^^ die entgegengesetzten Mittel zur Anwendung zu bringen. Besser wäre es, alle Volksvertretung und mit ihr die Verfassung aufzuheben. Denn auch in der Despotie kann das Staatsoberhaupt sich Liebe und Anhänglichkeit seiner Unterthanen erwerben, und zwar durch mancherlei Mittel erwerben; bei einer monarchischen Regierungsform mit landsländischer Verfassung ist dies nur möglich durch Achtung vor dem Nationalwillen. Man sage nicht, dass dies sor in Frankreich oder England der Fall sein möge, aber nicht in einem mittleren deutschen Bundesstaate; denn bei aller Verschiedenheit der Staatsverhältnisse muss der näm- liche Grundsatz auch die nämliche Stimmung in dem Herzen der Menschen hervorrufen, die auf gleicher Stufe der Bil- dung Stefan, wenn sie gleich bei dem einen Volke rascher und kräftiger sich äussert als bei dem anderen. Und wer wollte behaupten, dass die Bevölkerung eines deutschen Bundesstaates in der Bildung den Engländern und Franzosen nachstände? Glaubt der mebrangefdhrte Schriftsteller (Gass. allg. Zeit. 1832. Beibl. Nr. 8. p. 33.), dass das Maass der In- telligenzen ganz verschieden sei, welches ein englisches Parlament, eine französische Deputirtenkammer und eine deutsche Stände Versammlung aufzuweisen habe: so ist davon kein Schluss auf die Intelligenz des Volkes zu machen, son* dern die Ursache weshalb deutsche Ständeversammlungen weniger Intelligenzen aufzuweisen haben, liegt nur in der Beschränkung des Volkes bei den Wahlen, welche zu sehr an andere Bedingungen als die Intelligenz gebunden sind, auch wohl in dem Bestreben der Regierung die Intelligenzen aus der Ständeversammlung zu verbannen.

Es kann Zugegeben werden, dass nach diesen Ansichten eine' eigentliche Ministerherrschaft oder eine Beamtenaristo« oratio , eine wahre Büreaucrailie , nicht aufkommen kann oder sich nicht zu halten vermag; aber in dieser ist auch der

514 Di^ Ltmiewtrfatmig m lbit^l/fi§m

ärgste Feind des monarchisclien Priocips zu erkenaeiiy wejj sie das Volk vea dem Staatsoberhaupie abweodig macbil, üch zwischen beide drängt und die Liebe des Volkes zn seinem Fürsten, den einzigen Schutz desselben bei Zeitea der Noth, im Keime erstickt. Das Volk ist die natUriiehste Stütze der monarchischen Regierungsfoinii es kann dersel«- ben nur dann geföbriich werden , wenn es sieht, dass man die Büttel kennt seine Zufriedenheit zu bereiten, und sie doch nicht anwendet. Hehr als jeder Andere wird demnMh dem monarchischen Princip in Wahrheit derjenige huldigen» welcher in $. 2. und S* 10. der kurhessischen Vertassungs- uriLunde den Grundsatz erkennt, dass dem Kurfürsten ab Staatsoberhaupie die Leitung aller Staatsgeschäfte zukommt dass derselbe aber dabei, in den Fällen welche die Mit- wirkung der Ständeversammlung erheischen, diejen^en Maass- regeln anwendet, von denen er durch die Landstände die Ueberzeugung erlangt hat, das Volk halte sie zur flerstellung seiner Zufriedenheit für nothwendig und dass durch die Verantwortlichkeit seiner Organe für die Anwendung solcher Maassregeln die Heiligkeit und Unverletzlichkeit seiner Per* son befestigt ist.

Als der Minister des Innern beschiddigt wurde, durch Aufhebung des Bekrutirungsgesetzes vom 10. Juli 1832 mit- telst eines Ministerialrescripts eine Verfassungsverletzung be- gangen zu haben, wurde in der Anklageschrift erwähnt, dieser Charakter komme der von demselben erlassenen Ver- fügung noch in der besonderen Beziehung zu, dass hier von einem Ministervorstande auf eigne Hand und in eignem Na- men ein Act der Staatsgewalt ausgeübt worden sei, welche doch nach $. 10. der Verfassungsurkunde nur dem Staats^ oberhaupte selbst zukomme; worüber der Staatsgerichts- hof sich jedoch in seinem Erkenntnisse gar nicht geäussert hat, da er nur aussprach, dass die von dem Minister an die betreffenden Verwaltungsbeh(}rden ergangene Verfügung kei- nen Act enthalte, durch welchen ein Gesetz überall als* auf- gehoben oder abgeändert betrachtet werden könnte (Verh. d. Landt, von 1835. Beil. LXL' p. 12.). Während bei dieser

Die TäMdesverfoisung in Murkeaen^ 515

Gelegenbeil die Stände die Handlung eines Ministers als einen Eingriff in die Rechte des Monarchen bezeichnet und mm Schutz der letzteren die Einwirkung des Staätsgerichts- hofes angerufen hatten, ward in einer durch jenen Minister contrasjgnirten landesherrlichen Verkündigung vom 25. März 1833 , welche den Unterthanen die Gründe der vom Landen berrn unter Anordnung neuer Wahlen verfugten Auflösung der Ständeversammlung öffentlich darlegen sollte, das mo« narcbische Princip als in seinem innersten Wesen verletzt dargestellt, deshalb weil die Ständeversammlung, um die dem bleibenden Ausschusse in Gemässheit der Yerfassungs- Urkunde $.102. zu ertheilende Instruction zu berathen, ins- besondere auch mittelst solcher demselben den Auftrag zur Erbebung einer Anklage bei dem Staatsgerichtshofe gegen den betreffenden Minister wegen behaupteter Verfassungs- Verletzungen zu ertheilen, geheime Sitzungen, weiche nach g. 19. der Geschäftsordnung sogar bei verschlossenen ThUren zulässig sind, gehalten habe, ohne davon die landesherr* liehen Commlssare in Kenntniss zu setzen; hierdurch habe sie sich dem, einen wesentlichen Bestandtheil der Staats- regierung bildenden Oberaufsichtsrechte des Regenten ent- zogen, welchem keine Gesellschaft und keine Corporation im Staate, am wenigsten eine politische mit so ausgedehnten Rechten wie die Ständeversammlung sich entziehen könne. Dass aber in Wahrheit das monarchische Princip nicht in seinem innersten Wesen durch das Abhalten landständischer Sitzungen ohne Gegenwart und Kenntniss landesherrlicher Commlssare verletzt sein kann, möchte sich genügend dar*- aus ergeben, dass in gar manchen deutschen Ländern mit monarchischer Regiorungsform die Sitzungen der Stände, wie es auch in Hessen vor der Verfassungsurkunde von 1931 herkömmlich war, grundgesetzlich ohne Theilnahme und Kunde landesherrlicher Commlssare abgehalten zu werden pflegen. Auch kann ein Recht des Reigenten oder der Staats- regiemng zur Oberaufsicht über die Sländeversammlung, in dem Sinne wie über Privatgesellschaften und Privatcorpo- rationeu; durchaus nicht gedacht werden, da vielmehr ge-

516 Die Ländesterfoiiung in Eurhissm.

rade die Stände wesentlich den Beruf haben, das Verfahren der vom Regenten Behufs der Staatsverwaltung gewählten Organe höheren oder niederen Ranges zu beaufsichtigen und auf diese Weise denselben zu unterstützen; wie ja denn auch eine solche Aufsicht auf Mängel und Missbräuche in der Landesverwallung, mit dem Rechte die Versetzung der dabei schuldigen Staatsdiener in den Anklagestand zu for* dem, als ein Minimum landständischer Befugnisse von den deutschen Fürsten, den Kurfürsten von Hessen an der Spitze, auf dem wiener Gongresse bezeichnet wurde (Klüber öffentL Recht $. 293.)« Nach $. 89. der kurhessischen Verfassungs- urkunde sind die Landstände im Allgemeinen berufen, die verfassungsmässigen Rechte des Landes gellend zu machen; dies ist nur den Organen des Regenten, gegenüber denkbar, da die Landstände gar nicht als dem letzteren selbst gegen- überstehend gedacht werden können. Berufen die Rechte des Landes, die mit denen des Regenten identisch sind, gegen dessen Organe, zuletzt mittelst gerichtlicher Verfol- gung, geltend zu machen, können sie eben deshalb nicht der Aufsicht des Regenten unterworfen sein, da dieser die- selbe doch ebenfalls nur durch die nämlichen Organe aus« zuüben im Stande wäre, die von den Landständen contro* lirt werden sollen.

Die bayersche Verfassungsurkunde enthält (Art. L $. 2* Art. IL §. 1.) die Bestimmungen: für das gan:se Königreioh besteht eine allgemeine in zwei Kammern abgetheilte. Stän- deversammlung; der König ist das Oberhaupt des Staates^ vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie unter den von ihm gegebenen in der gegenwärtigen Ver- fassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen aus; seine Per- son ist heilig und unverletzlich. Damit stimmt auch die Verfassungsurkunde für das Grossherzogthum Hessen J. 4., so wie die Sachsen- Coburg rsaalfeldiscbe $. 3. Überein. Hier mangelt also die ausdrückliche Vorschrift das$ die Re- gierungsform monarchisch sei, aber sie ist allerdings in den übrigen Bestimmungen enthalten, da das Wesen der Monar- chie darin besteht, dass das Staatsoberhaupt eine physische.

ie Landeseerfanung in Kurhesim. S17

Person ist, mit Majestät bekleidet, und dass alle Zweige der Staatsgewalt bei ihm sich vereinigen. Ebenso fehlt in der bayerschen Verfassungsurkunde die ausdrilcklicbe Bestim- mung, dass daneben eine ständische oder landständische Verfassung bestehe; allein auch diese Vorschrift liegt, ob- wohl am bayerschen Landtage im Jahre 1840 von Seiten des Ministeriums gezeigt wurde, dass bei Entwerfung der Ver« fassuDgsurkunde die vom Landesherrn gebilligte Absicht vor- gewaltet habe, das System der Repräsentation fallen zu lassen und das der Staude durchzuführen, nicht allein in der Anordnung einer Ständeversammlung, sondern auch in der VerTüguDg, dass das Oberhaupt des Staates die Rechte der Staatsgewalt unter den in der Verfassungsurkunde festf gesetzten Bestimmungen auszuüben hat, indem hierin die von der Verfassung gebotene Beschränkung des Königs in der Ausübung der Staatsgewalt durch Landstände enthalten ist. Wenn aber hinzugefügt wird, dass diese beschränktere Ausübung der Staatsgewalt vom Könige unter den von ihm gegebenen Bestimmungen der Verfassungsurkunde Statt finden solle, wodurch die Oötroyirung der letzteren sehr schärf bezeichnet wird, so zeigt sich hier eine wesentliche Verschiedenheit von der pactirten kurhessischen, indem es nach jener Fassung vorzugsweise von dem Könige abhängen wird, die von ihm gegebenen Bestimmungen zu inter* pretiren, während der §. 10. der kurhessischen Verfassungs- urkunde nicht blos die fraglichen Worte nicht enthält, auch nicht enthalten konnte, sondern sogar seine ganze Entstehung der Ständeversammlung verdankt. Abgesehn von diesem be- deutungsvollen Unterschiede stimmt die bayersche Verfassungs- uAuude mit dem kurhessischen Verfassungsentwurfe IL im §.9. desselben fast wörtlich überein. Dem letzteren schliesst sich die badische Verfassungsurkunde $. 5. genau an. Der $. 6. derselben hat die Erwähnung der monarchischen Regie- rungsform für überflüssig gehalten, indem er einfach lautet: das Grossherzogthum hat eine ständische Verfassung ob- wohl man in seiner Repräsentation nicht eine Vertretung ein- zelner Stände, sondern nur die des Volkes zu erkennen ver-

918 Dm lAmiuwrfmmmg in MurkesietL

mag. Eine mil dem $. 2. der kurbesstschen Verfassongsurkttnde correspondirende Bestimmung fehlt in der wÜrtembergisGheii gänilich , doch kommt deren $, 4. mit dem $. 9. des kurhes- sischen Verfassungsentwurfes IL überein, ausser dass der König das Haupt, nicht das Oberhaupt des Staates genannt wird.

Sehr angemessen drückt sich das saohsen-meiningensche Grundgesetz $. 3. 5. 102. hinsichtlich der Bezeichnung einer durch die Volksreprdsentation beschränkten monarchischen Hegierungsform aus, wenn es sagt: der Herzog ist erblicher Landesherr oder Oberhaupt des Staates, in seiner Hand vereinigen sich alle Zweige der Staatsgewalt. Das ge* sammte Herzogthum hat eine gemeinschaftliche laaAitii&che Tertesug, bestimmt, durch das Erforderniss ihrer Mit<» Wirkung zu den näher bezeichneten Regierungshand« lungen in der Staatsverwaltung Festigkeit und Stetigkeit erhalten zu helfen, sowie eine grössere Sicherheit des all* * gemeinen Rechtszustandes zu gewähren. Der Landesherr selbst ist Über alle persönliche Verantwortung erhaben. Alle Regierungshandlungen müssen jedoch unter per- sönlicher Verantwortlichkeit eines Staatsbeamten geschehn. -^ Zweckmässiger konnte die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Regenten nicht beschrieben werden, indem sie zugleich in die nothwendige Verbindung mit der Verantwortlichkeit seiner Organe gebracht wurde.

Das sachsen-altenburgische Grundgesetz hat sich darin gefallen, die Festsetzung der monarchischen Regierungsform in den verschiedensten Ausdrücken zu wiederholen, wobei es selbst in den isinzelnen Sätzen Tautologie nicht gescheut hat. Dasselbe bestimmt nämlich: der Herzog ist als souve- rainer Landesherr das Oberhaupt des Staates, vereinigt in sich die gesammte, ungetheilte Staatsgewalt und übt sie unter ' den in der Verfassungsurkunde festgesetzten Besttm« muDgen aus. Seine Person ist heilig und unverletz- lich (S. 4.). Nur von dem Herzoge als Staatsoberhaupt oder mit seiner Zustimmung und in seinem Namen werden die verfassungsmässig gegebenen Gesetze bekannt ge- macht. Der Herzog steht an der Spitze der ganzen

]ßi0 lam4e9t>miauM»g m Kuth€$Mia, Ü19

Staatsverwaltung und vertritt d^i Staat in aUeusemen Verhältnissen gegen andere Staaten. Alle Geriehtsbar* keit und alle Polizeigewalt wird im Namen des Her- ings ausgeübt und unter seiner landesherrlichen Ober- aufsicht verwaltet Vom Herzog allein können Steuern und Landesabgaben ausgeschrieben werden. Dem Herzog slehl die ausschliessende Verfügung über das Militair zu (%* 5. 6. 7. 9. 10.). Der Landesherr selbst ist im Lande über alle persönliche Verantwortlichkeit für seine Regierungs«* handlungen erhaben. Er übt dieselben unter Verantwoifi* lichkeit seines Ministers ($. 36.). Dem Landesherrn, dessen Person heilig und unverletzlich ist und welcher die gesammte Staatsgewalt in sich vereinigt^ ist jeder Unterthan Treue, Ehrfurcht und Gehorsam schuldig ($.71.). Die Landstände sind dajs verfassungsmässige Organ der Ge« sammtheit der Staatsbürger und Unterthanen in dem grund- gesetzlichen Verhältniss zur Staatsregierung ($. 162.). -^ Das Sachsen - Weimar- eisenacbsche Grundgesetz erwähnt die Re- gierungsform gar nicht, sondern erklärt blos^ dem badiscfaea entsprechend, $. 1.: in dem Grossherzogthum besteht eine landständiscbe Verfassung.

Der 3. der Verfassungsurkunde fUr das Königreich Sachsen ist ganz der §. 2. der kurhessischen, und der $. 4. der erstem stimmt mit dem $i des kurhessischen Verfas- sungsentwurfs n. Ubereip, ausser dass dort dem Könige die Bezeichnung des souverainen Staatsoberhauptes gegeben wird. Eben so ist der $. 10« der kurhessischen Verfassungs- Urkunde mit einer geringfügigen Redactionsveränderung in das hannoversche Grundgesetz von 1833 (J. 6".) und in die braunschweigische Landschaftsordnung ($. 3.) übergegangen, nur dass letztere noch dem Landesfürsten das Prädicat: sou- verain beilegt und beide, ähnlich dem Sachsen -alienburgi« sehen Grundgesetze, das hannoversche im $. 7 10., das braunschweigische Grundgesetz im §. 5. 7. 8. 9. 10. 11. 191. nochmals hervorheben, dass die einzelnen Bestandtheile der Staatsgewalt bei dem Staatsoberhaupte sich vereinigen. Diese beiden Grundgesetze, das hannoversche S* 9*} ^^s braun-

520 Dmlsche Eiiioriker der Gegenwart

schweigiscbe §. 2., erwähnen auch dass die Regierungsform die erblich monarchische sei, ohne daneben das Bestehen einer landsiändischen Verfassung besonders auszudrücken.

Einen ganz eignen Ideengang hat die Einleitung des Pa- tents ittr das Herzogthum Nassau vom 2ten September 1814 genommen, indem darin der Hei*zog erklärt, dass er die nach dem Rathschlusse der göttlichen Vorsehung ihm anver* traute Hegierungswirksamkeit durch verschiedene Einrich- tungen sich selbst beschränkt habe und dass er nun, da seine Unterthanen ihr Recht auf eine selbstständige und ehrenhafte Stellung unter den verwandten Stämmen des deutschen Volkes im künftigen deutschen Staaten vereine sich befestigt hätten, sich bewogen finde, die Anerkennung dieses Rechts durch die dauerhafte Begründung einer eigen- thümlichen Verfassung noch mehr ihnen allenthalben zu ver- sichern*, dass er eine Gewährleistung für Alles, was wegea Einführung einer Verfassung schon geschehn oder noch er- forderlich sei, in der Errichtung von Landständen gefunden zu haben glaube, denen er die Bewahrung der Grundlagen der Verfassung und die weitere Ausbildung derselben über- trage und dabei hoffe, solche gegen den Wechsel aller Dinge, welchem gesetzliche Einrichtungen in rein monarchischen Staalsformen mehr wie anderwärts unterworfen sind, nach Möglichkeit auf dieser Seite sicher gestellt zu haben. Also Landstände, um durch das conseryative Princip derselben das in der rein monarchischen Staatsform enthaltene System der Bewegung zu paralysirenl

CasseL C. W. Wippermann.

Deafoche Historiker der €iegenwart.

Briefe an den Herausgeber,

Als wir vor Jahren zuerst den Plan einer historischen Zeit- schrift besprachen, war ich immer der Meinung dass sie wesentlich kritisch sein müsse ; nicht auf eine einzelne Unter-

Deutsche Hütoriker der Gegentoart. 521

•SuchuDg oder Abhandlung mehr oder weniger käme es an, sondern auf eine möglichst entschiedene Geltendmachung wissenschaftlicher Grundsätze den vielen dilettantischen leicht- fertigen Arbeiten auf historischem Gebiete gegenüber, so wie auf eine, nicht einseitige und parteiische, sondern mannig- faltige und lebendige Erörterung der Grundsätze welche bei jeder Geschichtsforschung und Geschichtschreibung in Be- tracht kommen« Es schien mir noth wendig damit eine Wür- digung der geltenden Ansichten, eine Beurtheilung der ein- zelnen hervorragenden Persönlichkeiten, unter Umständen ein Bekämpfen Air falsch erkannter Richtungen und Tenden- zen auf dem Gebiete der Historiographie zu verbinden. Und ich dachte wohl selbst besonders in diesem Sinn an der Zeitschrift Theii zu nehmen, und hatte auch den Gedanken nicht aufgegeben, als du nun manches Jahr später als wir dachten die Zeitschrift ins Leben riefst, nicht in allem mit mir einverstanden, doch in den wesentlichen Punkten so weit dass ich mich mit Freuden dem Unternehmen apschloss.

Nun haben aber die schätzenswerthen Abhandlungen der Zeitschrift es zum grossen Theile viel mehr mit der Ge- schichte selbst als mit der Geschichtschreibung, mehr mit Aufhellung und Darstellung einzelner Begebenheiten als mit der kritischen Würdigung deutscher oder fremder Leistungen auf dem Felde der Geschichte zu thun gehabt, und es will scheinen als nähme der neue Jahrgang noch entschiedener diesen Charakter an; nicht eigentlich nach deinem Wunsche ich weiss es, sondern weil nun in den friedfertigen Tagen da wir leben wenige die rechte Lust haben sich zum kriti- schen Kampfe zu rüsten und jeder es vorzieht selbst nach Kräften im Grossen oder Kleinen die Geschichte zu fördern und wo möglich weiter zu führen.

Doch hat unser Freund Köpke einen erfreulichen Anfang gemacht in ebenso anziehender als ernster Weise die Lei- stungen der neueren Zeit auf einem viel betretenen Gebiete deutscher Geschichte zu beleuchten, und er hat gerade hier Anlass gefunden im Namen der historischen Wissenschaft Einspruch zu erheben gegen Verirrungen patriotischer oder

922 Bm^icke Hkioriker der Gegentoart.

r^ligiöfler Meiguogen , die nicht am wenigsien in unserer Zelt die lautere Wahrheit der Geschichte zu tr&ben drohen.

Mich hat der Aufsatz an frühere Pläne lebhaft erinnert. Doch ist er nicht der nächste Anlass gewesen diese nun doch »odi theüweiee wenigstens zur Ausfilhrung zu bringen. Sondern dazu hat mich jene Einladung zur TersamiBlong deutscher Hiatorflcer und Juristen gereizt, welche du mit andern hast ergehen lassen, und welche bud, ^ir hoffen e$, die Freunde deutschen Altertbums und deutscher Gegenwi^t aus Nord und Süd vereinigen soll, mögen sie auf kirchlidiem und politisdiem Gebiete auch noch so getrennt, ja feindlich sieh gegenüber stehen.

Da schien es mir der Mühe wertfa sich umzusehen und zu fragen, wer denn alles dorthin kommen und welche Hich- tungen vertreten sein können, und besonders die eigent- lichen Historiker fasse ich ins Auge, und zunächst die deren Namen nicht schon unter der Einladung stehen. Es sind doch noch viele fkbrig und Männer sehr verschiedener Ten- denz, aus dem Norden des Vaterlandes und Slkddeutsehe.

So zu trennen hast du mir zunächst selbst Aniass ge- geben, da du jüngst besonders noch die Mitwirkung der süddeutschen Historiker für die Zeitschrift wllnschen zu müssen glaubtest. Gewiss, sagte idi mir, sie stehen von uns Norddeutschen weit genug ab, und eine VermÜtelung zwischen beiden mag aus manchen Gründen wünscbenswerffa erscheinen. Aber ob eine Verständigung so leicht sein wird?

Die Frage ist so im allgemeinen sebwerlich zur Ent- scheidung zu bringen. Denn gar mannigfach scheidet sich nun wieder die Reihe derer die dem einen und dem andern Theile angehören, und während sie nach Schulen oder nach Ansichten gruppenweise sidh darstellen, finden allerdings auch der Uebergänge viele statt, und manchen wüsste man weder dem Norden noch dem Süden zuzurechnen. Doch scheint mir ein Hauptuntersohied vor afUen andern ins Auge zu fallen: Die norddeutschen Historiker sind gelehrter, ob- jectiver, durchgängig von dem Streben nach einer unbefeai- genen Auffassung der hisforischen Wahrheit erfüllt, wMir^lnd

DetUmAe But^riker Ar Gegtnumi. 523

4ie ^Geschichldohreiber des Südeos mehr die Gegenwart im Auge babeo und »oh ihrer Einwirkung auf die Aufiassung uud Beurthellimg der histeriscfaen Eulwickelung nicht eaxi- scbtegen können. Freilich sondern, wenn wir also scheiden wallen, Bi^thold und Leo, um anderer zu gesehweigen, sich auf das entschiedenste von den Laadsleuten ab, während Männer wie Stalin o. a. an Gelehrsamkeit und UnbefaBgen- heit Ton keinem andern üb^troffen werden»

Dann aber eri^heint mir die südliche flälfie deutscbar üisteriker unter ^efa doch ungleichartiger als man es von den »orddeulscbea sagen kann. YieU^cbt dass weil wir mitten unter ibsen leben die Gruppen sich hier nicht so scharf sondern wollesi*, n-ur in den entfernteren. Vaasen treten die Unterschiede deutlicher hervor. Auch darf mau hoffen dass man »»befangener urtbeilt^ wo keine persönlichen he- fUfarongen stattfinden. YieUeicfat auch scUrfer. Allein es scheint mir auch wichtiger das Einseitige und Tadelnswertfae herv^zttheben als das worin sieh alle j^nig finden.

i>aram magst du mir gestatten heute bei den Forschem und Freunden deutscher Geschichte im SUden zu verweilen, dass ich sage, wie sie und ihre Strebungen mir ersobeinen. Vielleicht dass eine Antwort von dort uns Norddentsche einer gleichen Betrachtung würdig achtet Bei der Versamm- lung zu Frankfort, odfsr in einem andern Jahr wie ich hoffe m unserer Nachbarstadt Lübeck, mt(^en wir da^Dn sehen, wie wir das persdnliche Bild mit dem der Schriften in Eia^ klang bringen, und mögen zur Verständigung, wo geirrt und falsch geurtheilt worden ist, bereitwillig die Hand bieten.

In Ifeidelb^g zunächst sind in akademischer Wirksam- keit Mtlnfuer verbunden, der verschiedensten Herkunft uzid Art, und die doch in Wichtigem übereinzustimmen und zu- sammensEUg^^reii scheinen, die älieren Schlosser und Kor- 4Um, die jüngeren Gervinus, Hagen und Säusser. Bei einigea wird m^ nicht mit Unrecht von Scblosserscher Schule spre- <^en dUtfen; denn selbst die Nachläss%keiten und Unschön- heiten des Styls haben sie von dem Meistor angenommen, 4ier Meinung dass aUes auf den Inhalt usd den Sinn, auf

524 Oeuljoke Ei$ioriker der Gegemoari.

die Form aber wenig oder gar nichts ankomme. An unab- hängigem ehrlichem Charakter wetteifern sie mit einander und sind dem kräftigen Fortschritt mit vollem Herzen hinge- geben. In Kortttm, der ziemlich für sich unter den Histori- kern Deutschlands dasteht, waltet ein fast republicanischer Sinn, der mit Vorliebe sich eben danach auch seine Arbeiten wählt, und der es liebt mit derbem nachdrücklichem Wort seine Ansicht geltend zu machen. Vielleicht darf man ihn in gewissem Sinn zu den Nachfolgern Johannes Müllers rech* nen, dessen Schule sonst im Süden Deutschlands und selbst in seinem Vaterlande gänzlich ausgestorben zu sein scheiaL Nach den fernen Küsten der Nordsee ist der begeisterte An- hänger desselben von Hormayr verschlagen worden, der viel- leicht trotz der aristokratischen Herkunft mehr mit Eortilm gemein hat als beide zugeben möchten. Auch den alten von Gagern müsste man hier anreihen. Man freut sich be- sonders wenn sie Erlebtes schildern und lässt sich auch die Breite und das Blumige und zugleich Fragmentarische der Darstellung gefallen; sie gehören aber mehr oder weniger einer Bildungszeit an die nun bereits vorübergegangen isL Dasselbe darf man wohl am wenigsten von Schlosser sagen, dem Ostfriesen, der nun seit langen Jahren gerade im Süden Deutschlands aufs Bedeutendste gewirkt hat, während wir Norddeutschen uns weder mit der Auffassung noch mit der Darstellung in den Schlosserschen Büchern befreunden kön- nen. Dieses Schwarzsehen aUer Dinge und Zustände, diese fast absichtliche Herabsetzung jeder grossen Persönlichkeit weil sie nicht wie Schlosser denkt und handelt, dieses völlige Verkennen der Eigenthümlichkeit verschiedener Zeiten und Länder liegt doch sehr weit ab von den V^egen der wahren Geschichte. Der unnachsichtige Hass gegen alles Schlechte und Gemeine, die Entschiedenheit der überall durchspre- chenden Ueberzeugung flösst die höchste Achtung vor dem Charakter des Mannes ein; allein Gesinnung magfit nicht allein den vollendeten Historiker, und die grosse Gelehrsam- keit thut es auch nicht, die hier wohl oft gerühmt worden ist, aber doch mehr als ein fleissiges Lesen von Quellen

Deutsche Ektoriker der Gegemoari. 9tS

denn als ein wahrhaft sorgfältiges und kritisches Verarbeiten derselben erscheint. Solche Mängel und doch solche Wir^ kung, wird man sagen. Die Wirkung liegt in der geistigen Kraft des Mannes, die Mängel liegen theils in dem einseitigen Sinn, theils in der fast absichtlichen Vernachlässigung der Durcharbeitung des Stoffs. Unmittelbar für deutsche 6e* schichte hat Schlosser wenig gethan, und ich hätte von ihm schweigen können, und wäre so dem vielleicht laut werden- den Vorwurf anmasslichen Urtheils über den gefeierten Mann entgangen. Doch ist seine Stellung eine zu bedeutende in der historischen Literatur und auch seine Einwirkung auf die Betrachtung deutscher Geschichte eine zu einflussreiche als dass ich ihm ganz hätte aus dem Wege gehen können. Auch fühle ich dass ich und die Freunde uns in so entschiedenem Gegensatz gegen Schlossersche Geschichtsbehandlung befinden dass es fast als eine Pflicht erscheint den eingenommenen schon manchmal angegrifi'enen Standpunkt zu vertheidigen.

Weit überlegen an Geist und wahrhaft historischem Sinn ist Gervinus, doch theilt er eine grosse Einseitigkeit, die mir den Heidelbergern im allgemeinen eigen zu sein scheint und die doch wohl auf Schlossersche Anregungen zurück-» geführt werden muss. Ich meine das mangelnde Verstand* niss für die unermessliche Bedeutung des Christenthums, Überhaupt das Zurücktreten des religiösen Elementes in der Geschichte. Nirgends liegt es stärker zu Tage als in der Historik von Gervinus, wo er in allem Ernste die Epoche der neuen Geschichte in dem Auftreten des Sokrates, in den Erweiterungen des historischen Schauplatzes durch die Eroberungen Alexander's findet, unbekümmert um die völlige Umgestaltung welche die Welt vornehmlich durch das Chris- tenthum, sodann durch das Auftreten der Germanen und das Eindringen der christlichen Lehre in die germanische Welt erhalten hat. Auch die Geschichte der poetischen National -Literatur der Deutschen liefert von solcher Ansicht mannigfache Belege. Eben ganz und gar nicht mittelaltrig ist der Sinn von Gervinus , und auch das Verständniss der Zeit geht ihm doch in manchen Beziehungen ab; während

Allg. ZeiUehrift f. Gvicbiekto. T. 1S4«, 86

Bt6 Dmt§eke HiMiorUter der Oeg^nma^k

er ^K>rlrefllioh ist wo er die Bewegimgen der neueren 2^ IQ ihrem Reichlbum und in ihrer MannigMUgkeifc schildere

Aber mein Schreiben würde kein Ende finden, wollte ich auch nur in allgemeiner Weise tkber Auffassung und Ansicht des Einzehien urtheilen. Das mag anderen Briefen irerbehaiten bleiben. Hier genüge es zu bemerken , dass auch Karl Hagen den GoUegen, von denen er besonders durch die klare und aogenehme Form seiner Arbeiten sieh so wesentlich unterscheidet, in diesor Beaiebung nahe m stehen scheint. Sein interessantes Buch Hber die Refon» matioaszeit bietet dazu die schlagendsten Belege, und wenA du vergönnst, will ich zunächst at^sfüfarifcher gerade davon qftrechen. Denn offenbar ist das Wesen der Reformatioii völlig verkannt und eine Ansicht durchgeführt worden welche wie mich dünkt auch den Widersprach des Historikers airf das entschiedenste herausfordert.

Hliusser ist nach früheren unglücklichen oder minder bedeutenden Arbeiten mit der ausführlichen Geschichte der Rheinischen Pfalz hervorgetreten, ein Buch an dem Fleiss med eine lesbare Darstellung gerühmt werden mms and daa man gerne den bessern FroviaoialgesdHchten zur Seite steilen wird) wenn es gleich zu den höbern Stufen gescbicbt^hef Forschung und Darst^ing sich nicht erhebt. Erw&hnen umss ich es hauptsäehlieb, weil es schon jener so genanaten l^elUnisehen Ansicht angehürt, welche eine andere Classe alAddeutseker Historiker recht eigentlich eharakterisirt, am Würteiabei^r vornahmlieh und die anderswo ihnen sich an- aehliessen. Man sröchte sie die Historiker dee Zollvereins^ Uattes und der AUgenmnea Zehung nennen, mit denen sie innerlicb und änsserliefe nahe ausammenb^en. j^eiin etee IMuUriolische deutsehe Gesinnung ist sehr an ihnen zu loben, nur dass sie einen einseitigen Charakter an mh trigt: tde sie die Gegenwart ganz und gar nach besonderen Interessen bawttieilt, so ist sie gegen manc^ Seile der Vergangenhett wahrhaft ungerecht. Alles Gewicht wird auf die £itthei« dea deutschan Keichs gelegt« Aber so nothwendig und erf^euli<^ ea sm mag dem particularistiacfaen Interesse der Deolscben

Bmitidke Historiker der G^ehiMirf* 8tT

ein allgemeiDes eiil^^en cu stellen und dies mit aller Kraft and Energie in dem Qewoge der Meinungen geltend zu machen, so wenig kann man es doch gut heissen^ wenn nur den Re- präsentanten der deutschen Einheit, den Kaisern nämlich^ alle Vorliebe zugewandt und alles Recht zugeschrieben, den Entwickelungen dagegen der Stämme und FörstenthÜmer nur Ungunst und hartes Urtheil gezeigt wird. Es geht das^ wie bekannt ist, so weit dass um des willen l^elbst die Glaubenserneuerung des 16ten Jahrhunderts manchen Tadel erfährt und dass insonderheit jeder Kampf für die Religion von dem Standpunkt der kaiserlichen Holpolitiker aiis für Rebellion und Hochverrath erklärt wird. Diese Ansicht nennt man selbst wohl ghibellinisch; wie mich dünkt ein wenig passendes Wort, da die grossen staüfischen Kaiser Yon nichts weiter entfernt waren als ein Königsrecht in Anspruch zu nehmen welches die Fürsten als ihre Unterlhanen im eigent-» liehen Sinne des Wortes erscheinen Hess. Höchstens Hein rieh VI. hat es gethan, und den wird man nicht für das Muster eines Deutschen Königs ausgeben Wollen. Sonst ist es seit den Zeiten der fränkischen Kaiser entschieden^ dass das Reich aus der Vereinigung von Kaiser und Fürsten be- stehe und dass der Kaiser nichts sei als das Haupt der letzteren, die einzeln wohl durch die Belehnung von jenem ihre Würde und ihr Recht empfangen, in ihrer Gesamdathelt aber die wichtigsten Befugnisse neben ja fast gegen den Kaiser auszuüben haben. In den Urkunden Friedrkhs 11^ in der Goldenen Bulle ist das Recht der Fürsten so aner- kannt wie nur irgend möglich und nöthig war, und im ISten oder gär im 16ten und 17ten Jahrh. von ihnen 9is den zu Geliorsaia Verpflichteten zu sprechen, Verräth völlige Ur- kunde dealseben Staatsrechts. Man dhiss sagen , das deut^- sehe Königtbum ist in dem Kaiserthum auf-^ und unterge»- gangen« Gerade indem durch die Verbindung mit dem Kwerthum jenes an ideeller Grösse gewann, hat es den Bedeü einer eigentlich köatgltehen Herrschaft verlassen, und hat die Fürsten zu Landesherrn, die Fürstenthümer zu sou^ veraiften Staaten werden lassen. Ja nicht einmal bedauerii

36*

S28 Deuisehe Histor^ter der Gegenwßrt

kann man die steigende fürstliche Macht; denn seit dem I8ten Jahrhundert zieht sich das Leben der Nation in die Territorien der Fürsten und in die Städte zurück , jede wahr- haft grosse deutsche Bewegung findet nur hier, nicht bei dem Kaiser, Förderung und Stütze^ und seit die Habsburger die Krone tragen, haben sie sie wohl vor Schimpf und Er- niedrigung bewahrt, allein kaiserliches Recht immer nur zu ihrem Ncftzen in Anspruch genommen, ohne irgendwo des Reichs Vortheil ernstlich zu bedenken. Köpke hat in glei* chem Sinne neulich gegen Gfrörer und andere die Fürsten des 17ten Jahrhunderts in Schutz genommen. Hier genügt es im allgemeinen diese Ansicht gewürdigt zu haben, ohne dass ich darauf eingehe zu zeigen wie die Schriften der Ein- zelnen sich darzu verhalten. Fast alle arbeiten sie mehr für das grosse Publicum als für die Wissenschaft, und 'schon deshalb ist weniger Anlass hier von ihnen zu sprechen. In manchen Beziehungen verwandt, aber weniger einseitig und nicht ohne eigenthümliche Bedeutung ist die Anschauung deutscher Geschichte welche Bensen in seinem Buche „Deu^ch- land und die Geschichte^' geltend gemacht hat und in weiteren Arbeilen durchzuführen gedenkt. Vielleicht möchte ich Anlass haben darauf ein anderes Mal ausführlicher zurückzukommen. An den Grenzen des deutschen Vaterlandes einsam und für sich lebend hat Wirth noch einmal den Versuch gewagt, die deutsche Geschichte vollständig zu schreiben und ist mit dem grossen Werke bald glücklich zu Ende gekommen. Ich gestehe, dass ich nur den ersten Band gekauft und gelesen habe, aber gewiss verdient das Buch hier an dieser Stelle genannt zu werden. Guter Wille, emsiger Fleiss und deut- sche Gesinnjuog sind aller Orten zu erkennen. Aber zu wun- derlichen Uebertreibungen ist die letzte ausgeartet, nicht wie bei Luden zur blinden Bewunderung dessen was die Deutschen gewesen sind, sondern vielmehr zur höchsten Un- zufriedenheit darüber, dass sie so wenig den Ansprüchen und Wünschen des Verfassers genügen. Die ganze Arbeit hat zudem etwas autodidaktisches an sich, und wenn der Weg den der Autor eingeschlagen, ihn auch mitunter zu

Deutsche Historiker der Gegenwart, 529

neuen und überraschenden Aussichten führt, so bringt er ihn doch öfter in die Irre, während ganz gebahnte Stras- sen nicht ferne vorbeigehen. Das Dunkel der deutschen Ur- geschichte ist im ganzen eben nicht lichter durch diese Dar- stellung Igeworden, sondern neue Verwirrung ist zur alten hinzugekommen. In den späteren Abschnitten aber sinkt die Darstellung häußg unter das Gewöhnlichsie hinab, sie steht in keinem Verhältniss zu den Auseinandersetzungen der ersten Capitel, und ist farblos und matt, wenn nicht eine Persönlichkeit auftritt, welche wie Carl der Grosse den Zorn und Unwillen des Mannes deutscher Freiheit erregt.

Es freut bei dieser Rundschau überall fast vaterländi* scher Gesinnung zu begegnen. Nur das Mehr oder Minder, die besondere Anwendung und Aeusserung derselben un- terscheiden die Einzelnen, ja sie dienen recht eigentlich, um hier die verschiedenen Gruppen zu sondern. Von den pro- testantischen Freunden des deutschen Reichs auch noch in der späteren Zeit seiner Existenz, die wir vorhin zusammen stellten, führt die Retrachlung wie von selbst zu den Män- nern hin, welche mit Vorliebe bei seinen mittelaltrigen Zu- ständen verweilen und diesen Thätigkeit und Liebe in glei- chem Maasse zuzuwenden geneigt sind. Auch andere, na- mentlich auch wir Norddeutschen sind vielfach mit dem Mittelalter beschäftigt, und freuen uns seines Reichthums an lebendigen Erzeugnissen seines tiefen innigen Sinnes. Wenn wir aber besonders die älteren Zeilen und im deutschen Reich die Jahre des Glanzes und der Hoheit ins Auge fas- sen, so ist es den Süddeutschen die ich hier meine eigen, mit Vorliebe bei den späteren Zeiten zu verweilen, jenen Jahren, wo das Kaiserthum schon gesunken war und das Papstthum von der Höhe seiner Macht ringshin alles beschat- tete; — denn ich wenigstens kann nicht zustimmen, wenn man meint, es habe gestrahlt und mit seinem Glänze die Welt erleuchtet, die Völker beglückt. Jene Männer haben wie wenige ein Herz für die Grösse deutscher Entwicklung im städtischen Leben, Kunst, Poesie und auf anderen Gcr- bieten der Literatur, sie ehren auch den Kaiser als das

SM tkuUehe Hüioriker dw Gegenwart.

Haupt des Ganzen und freuen sich maneher grossen Thal; aber ihre Sympathien sind doch mehr bei den geistlichem Fürsten, bei der Kirche, bei dem Papste selbst j und sie flih- len oder sie sagen es nicht, wie dieser Deutschland behandelt hat, wenig um des Reichs Interessen bemüht, sondern bald mit den Fürsten gegen den Kaiser, dann mit diesem gegen jene verbunden, je wie es der Kirche Vortheil zu erheischen schien. Es reichen sich Protestanten und Katholiken auf dieseon Wege die Hand, und zwischen beiden zu trennen habe ich um so weniger Anlass, da nicht die Gonfession von heute, sondern die historische Beurtheilung einer weit zurückliegen- den Vergangenheit hier in Betracht kommt« Wie damit der Stand- punkt in der Gegenwart und das Urtbeil über Ereignisse und Zustände derselben zusammenhangt, mögen andere würdigen. An Hurter's Innocenz III. schliesst sich Kopp^s grosses Werk über die Wiederherstellung und den Verfall des römi- schen Reichs. Zu oft ist jenes besprochen worden, als dass M reizen könnte, hier davon zu handeln. Doch scheue ich mich nicht auszusprechen, dass ich niemals dem grossen Lobe habe beipQichten können, welches dem Buche gezollt worden ist. Vor blosser Gelehrsamkeit habe ich nicht sol- chen Respect, dass ich um deswillen das Buch so sehr be- wundern könnte, und ich habe mich hinlänglich mit dem- selben beschäftigt, um zu wissen, dass es der feineren Kri- tik doch gröfistentheils entbehrt. Die Form aber ist der Art, dass man zweifeln muss, ob viele, das Buch vollständig ge- lesen haben, wenn sie denn nicht angezogen worden sind von dem kirchlichen Eifer des Mannes, der den Katholiken doppelt wohl thun musste, so lange Hurter sich einen Pro- testanten nannte. -^ Massiger und besonnener tritt Kopp uns entgegen in dem Werke mehrjährigen gründlichsten Fleisses; aber ich weiss nicht, ob diese Massigkeit, das Streben nach vollkommener Objectivität oder blos die Eigenthümlichkeit des Styles Schuld ist, dass selbst dem mitstrebenden For- scher das Lesen der inhaltsreichen und in jeder einzelnen Stelle belehrenden Arbeit eine wahre Last wird. Kein Ruhepunkt, keine zusammenfassende Uebersicht, keine Olio*

0ecf(#ete Sisioriker der Gegenwart 131

deruDg des Stoffs ^ sondern EintfelheUeo und immmr Einzel* Jieiten, die doch wahrlich üoch keine Geschichte machen^ Hier trägt die Erzählung noch besonders einen, ich mdchto sagen, zubilligen Charakter an sich^ da nicht das Einleine angeführt wird als Beleg einer aligemeineren Richtung oder Strebung, sondern eben nur als Thatsache für sich', da aus- serdem mit fast ängstlicher Genauigkeit jede Urkunde be- rücksichtigt und ihr Inhalt selbst als historische Begebenhaii in Anspruch genommen wird, wo es nun nicht fehlen kann, dass jede neue oder dem Verf. später zugänglich gewordene Urkundensammlung so reiche Ergänzungen bringt, dass im- mer wieder solche Einschaltungen nöthig werden, wie sie am Ende des Bandes gegeben sind, die uns zugleich recht deuüioh zeigen^ wie der Verfasser gearbeitet hat.

Doch nicht diese auf Form und Darstellung eingehende Beurtheilung ist hier am Platze, wenigstens nur in so weit 0h auch darin etwas Gemeinsames wenigstens der beiden genannten Historiker und einiger, die ich noch nennen werde, gefunden werden kann. Mit Kopp möchte ich eher rechten über den Titel des Buchs ^ da er offenbar aus einer Ansicht hervorgegangen ist, wie sie besonders diesen Männern ^x f en ists Eine Wiederherstellung des deutschen Reichs habe Rudolf von Habsburg zu Stande gebracht ^ wird uns in älte- rer \md neuerer Zeit gesagt. Es ist gewiss, er machte der völligen Verwirrung und Auflösung der letzten Jahre ein Ende^ die durch den Hass der Papste gegen die Staufer und den Egoismus der geistlichen Fürsten herbeigeführt war^ er verkündete Landfrieden und^ zog wie ein wackerer Ritters^ mann aus, um die widerstrebenden Grafen und Fürsten ztt bekämpfen« Allein ich kanu nicht finden, dass es ein Zei- chen von Grötoe und Macht eines Königs ist^ wenn er per^ sönlieh die Raubburgen des Adels belagern und zerstören muss. Im Uebrigen hat kein König mehr als Rudolf die Macht der Fürsten gesteigert: die WiUebriefe der Ghurlür- flteu hat er eingeführt, den einzelnen gleich bei der Wahl bedeuteüde Rechte und Vorthetle zugesichert» was ^»äter Att so argem Misabraucb Aiüass gab. Er bat den auswärti-

582 Deutsche Bieioriker der Gegenwart

gen Fürsten gegenüber nicht die alte Stellang des Kaisers behauptet, die Rechte des Reichs in Italien preisgegeben, das Katserthum ganz und gar von dem Papste abhängig ge- macht, er hat daher auch kein deutsches Königthum begrün- det, sondern nur fUr die Grösse seines Hauses Sorge getra- gen. Dass er anders hätte handeln können, bin ich nicht gemeint zu sagen, auch nicht die persönliche Tüchtigkeit des wackern Mannes anzufechten) aber zu den grossen Männern kann ich ihn in keiner Weise rechnen, und von einer Wie- derherstellung des römischen Reichs weiss ich nicht zu spre- chen, wenn man nicht gerade das Zurücktreten des Königs von allen frühem Ansprüchen und das Anerkennen der fürstlichen und besonders der churfürstlichen Macht als ei- ner zur Theilnahme an der Reichsregierung berechtigten dafür ausgeben will. Die späteren Ordnungen, Formen, aber auch die Schwäche und Auflösung des Reichs beruhten we- sentlich auf der Art und Weise, wie Rudolf sein Königthum auffasste, und nur wer diesen Zustand und den steigenden Ein- fluss des Papstes für glücklich und wohlthätig ansieht, kann in Rudolf von Habsburg und seinem Sohne Albrecht seine Helden finden.

Mit Albrecht ist die Sache allerdings noch wesentlich anders als mit Rudolf, und es würde hier zu weit führen, wollte ich die neuerdings eben von Kopp und dann von Lichnowski und Böhmer versuchte Ehrenrettung desselben hier belexichten. Böhmer gehört aber ganz und gar der Richtung an, die ich hier bezeichnet habe, und seine treff- lichen, fortwährend an Ausdehnung und Inhalt wachsenden Regesten enthalten von seiner Anschauung und Gesinnung die sprechendsten Zeugnisse. Es ist ihm das jüngst in häss- lieber Weise vorgeworfen worden. Niemand hat wahrlich ein Recht es zu tadeln, dass er in den auf gründlichstem Studium der Zeit beruhenden Arbeiten auch sein Urtbeil über den Charakter der Personen und die Bedeutung der That- sachen niederlegt. Aber wünschen kann man freilich , d^ss seine Gesinnung eine ja ich wage zu sagen deutschere sein niöfie, die wie dem Jammer im Innern und der Schwäche nach

Deutsche Historiker der Oegemöart. 538

aussen, so auch der Abhängigkeit von Rom den Protest des deutschen Herzens entgegenstellte, und die auch heutzutage lieber den deutschen Brüdern im Norden als den Römlingen diesseits und jenseits der Alpen die Hand reichte. Gerade je mehr ich Böhmer's edle und liebenswürdige Natur kenne, desto inniger möchte ich hofiPen , dass es so sei oder werde. Aber leider muss man hinzusetzen, dass die Aussicht dazu eine geringe ist, und mit Schmerz habe ich gesehen, wie er in dem letzten Band der Regesten nun auch fast von aller Verbindung mit der Gesellschaft für ältere deutsche Ge- schichtskunde, die ihm so Grosses verdankt, sich lossagt, und das was wir Mitarbeiter gerade für ihn, den unermüdlichen Sammler und rechten Würdiger der Urkundeu. mit doppeltem Eifer gesammelt haben, als ein ihm Fremdes anführt.

Verwandt der Richtung, die ich zuletzt bezeichnet habe, sind die österreichischen Historiker fast alle, so verschieden sie unter sich an Gelehrsamkeit und andern Eigenschaften sein mögen. Auch zeichnet die meisten eine edle Mässigung dus, besonders Chmel und Mailath, die man, jenen für das Mittelalter, diesen für die Neuere Zeit, als die beiden her- vorragenden Repräsentanten hinstellen kann. Was die For- schung ihnen, verdankt, ist allgemein bekannt; an den Bü- chern kann man wohl vieles anders wünschen, doch ver- letzen Auffassung und Urtheil fast niemals, weil sie auf Ueber- zeugung beruhen und aus der Stellung im conservativen Staate und in der katholischen Kirche, deren Dienst mehrere der fleissigsten Geschichtsforscher ana||ören, ausser Chmel auch Stülz, Pritz und andere, mit Notnwendigkeit hervorge- hen. — Absichtsvoller und anspruchsvoller war der Fürst von Lichnowski, doch sein bändereiches Werk ist zu unbe- deutend um lange dabei zu verweilen.

Es erübrigt eine letzte Richtung zu erwähnen, welche ich nicht anders als die ultramontane zu nennen vermag und wel- che ihren Mittelpunkt in München hat. Sie ist zu bekannt und hat in den historisch-politischen Blättern zu oft und zu ent- schieden ihr Glaubensbekenntniss gegeben, als dass es nö- thig wäre, sie genauer zu bezeichnen. Als ihren Wortführer

584 DmfUeh0 HktorUar d^r Gegmmati.

auf dem Gebiete eigentlicher Historie mag man Höfler be- trachten, der den glücklichen Glauben hat, nicht blos vieles zu wissen, sondern recht eigentlich zum Reformator deut- scher Geschichtswissenschaft berufen zu sein. Da schilt er nun freilioh sehr, dass wir Norddeutschen so gar nicht seine Verdienste zu würdigen wissen , und besonders deinen Freund hat er in Verdacht daran Schuld zu sein, da er ein- mal so unglücklich war, seine Unkenntniss aller* Paiäogra- phie und seine totale Unfähigkeit zur Behandlung alter Hand- schriften nachweisen zu müssen. Ich habe seitdem absicht- lich vermieden, jemals wieder des Herrn Prof. fiöfler öffent- lich zu erwähnen; allein icb würde es doch für eine grabe Vernachlässigung halten, wollte ich seiner hier gar nicht ge- denken. Auch bin ich gar nicht gemeint, sein«i Arbeiten jedes allgemeinere Interesse abzusprechen. Gerade dass sie auch die ältere Zeit des deutschen Reichs vom streng kirch- lichen Standpunkt aus bebandeln, erscheint nützlich, und so wenig Hoffnung zur Verständigung mit so unbedingter Be^ wunderung Roms auch vorhanden ist, so mag man doch wohl darauf eingeben zu beleuchten, wie nun hier mit deut- scher Geschichte umgegangen wird. Und dazu habe ich, wie du erinnerst, schon früher Neigung gehabt, und will nun in diesen Briefen darauf zurückkommen. Da wird denn Gelegenheit genug sein, von dem Friedrieb IL zu sprechen, einem Buch, das viel Neues und auch Lehrreiches gesagt hat, das aber zugleich von der unbedingtesten Einseitigk^t und Befangenheit, im nicht andere Worte zu gebrauchen, Zeugniss giebt. Gott wolle uns vor einer Reformation der deutschen Geschichte in solcbem Geiste bewahren! Und wer Kraft und Liebe zum dentschen Vaterlande hat, wird nicht umbin können, wenn er auch friedliebend und guier Eintracht wohlgeneigt ist, solche Versuche zu bekämpfen und abzuwehren so weit er vermag. Und wenn man Ar- beiten zur Seite lassen darf, wie die Boost und Riffel und andere über die Neuere Zeit, deren Segnungen wir alle eak- pfinden, zu Tage fördern: so darf man doch nicht zugeben, dass unser schönes Mitlelatter YOtt einer Gesinnung in Be»

Leheuibei^eibung des Sr^bisekcfs An$gtif. 585

schlag genommen und entstetli werde, die alles eher als eine deutsche ist, und die sich nicht breit machen soll wo es gilt Deutschlands Vergangenheit zu feiern, seine Gegenwart zu herathen.

Kiel, den 25. März 1846. G. Waitz,

Lebensbefichreibang des Brzbischofa Aiiflgar, kriUsob bearbeitet yob Georg Heinricb Klippel, Dr. ( auch unter dem Titel: Bistoriacbe For- scbungen und DarsieUuogen. Zweiter Band.) Brewen, 4845. 8. XVI u. S56 Seiten.

Die Wirksamkeit des h. Ansgars, des grossen Apostels des Nordens, der durch Gebart und Klostergelübde den Franken, durch seine früheren Jahre dem Kloster Neu-Corvey, durch seine spatere Stellung dem deutschen Norden, durch seine Missionsrei- sen dem nördlichen Europa angehört, ist so umfangsreich und so erfolgreich gewesen, dass sein Leben mit den vielen unmittelbar an dasselbe sich knüpfenden allgemeinen historischen Beziehungen yon den Forschern vieler Völker untersucht und beschrieben ist. Eine treffliche Vorarbeit liegt in dessen Biographie durch den flandrischen Rimbert, Ansgar's Freund und Nachfolger im Erzbis- thume. Auf dieser Grundlage und mit Hülfe der Erläuterungen, welche verschiedene Geschichtsforscher, jeder zunächst für sein Vaterland, geliefert haben, liesse sich eine sehr lehrreiche Darstel- lung der Zeit Ansgars liefern. Verzichtet man auf eine grössere Arbeit, und beschrankt sich, so weit möglich, auf die persönlichen Beziehungen Ansgars, so werden wir auch. diese gern empfangen, wenn sie mit Scharfsinn und gewissenhafter Sorgfalt alle über jenen uns überlieferten Nachrichten prüfet, dieselben auf die letzte Quelle zurückfuhrt und mit gleichzeitigen Nachrichten über die vorliegenden Begebenheiten und Verhältnisse verbindet. Es kön- nen durch umsichtige Behandlung Monographien dieser Art für die allgemeine Geschichtsforschung höchst lehrreich werden, selbst wenn sie nicht einen universalhistorischen Gegenstand, wie das Leben des Ansgars ein solcher ist, betreffen.

Wenn der Verfasser des vorliegenden Werkes daher auf eine Schilderung der Zeiten Ansgars verzichtet, der damaligen Zustände der christlichen Religion, so wie der kirchlichen Gelehrsamkeit. 80 wie andererseits des Heidenthums, dessen Vertilgung Ansgars Tagewerk und Heldenthat war, wenn die Zeitgenossen, mit wel- chen vereint er wirkte, nur kurz genannt werden, wenn geogra- phische Erläuterungen über den Umfang seines Erzbisthums durch- aus fehlen , sogar die über Ansgars Reisen auf die nothdürftigsten Andeutungen beschränkt sind, wenn die Hülfe aller dieser Brdrte- pQDgen vermisst wird, so sind wir berechtigt, von einem neuen

SS6 Ld^e»$be$ckreUHmg de$ ErMsehofw Ansgar.

Biographeo eine kritiseheUnlersiicbuDg über die Haoptpaokte seines LebeoB za erwarteo. Diese ist ans denn hier auch schon auf dem Titelblatte verheissen und wir dürfen um so mehr verlangen, diese Yerheissung erfilllt zu sehen, da der Verfasser wegen kritischer Versuche im Gebiete norddeutscher Geschichte bisweilen genannt ist und derselbe gegen die bekannten Ansichten der Göttinger So- cietät der Wissenschaften für seine Arbeit über das Chronicon Corbeiense von einer andern achtbaren Gesellschaft einen Ehren* preis erhalten bat. Die Annahme von der Authenticit'at dieser Chro- nik hat grossen Einfluss auf diese Biographie des h. Ansgars ge- habt und es ist daher nicht leicht über letztere zu sprechen, ohne jene Frage zu berühren, zumal da Hr. Klippel auf seine Preisschrift sich stützt Wir werden jedoch versuchen, so weit uns möglieb, vorzüglich solche Punkte herauszuheben, wo es auf jene Chronik, von deren Authenticilat der Unterzeichnete nicht überzeugt worden ist, weniger ankommt.

Einer kritischen Arbeit über Ansgars Leben mösste vor allem eine Untersuchung über dessen Biographie, welche Rimberts Namen trägt, vorangehen. Eine solche besitzen wir, ungeachtet der treff- lichen Ausgabe seines Werkes in Langebecks Scriptores rerum Danicarum« noch nicht, weil^ auf Dahlmann*s Ausgabe in den deutschen GeschicJ^tsquellen jenes Chronicon Corveiense sehr verderblich ein- gewirkt hat, vor allem in ^en chronologischen Nachweisungen. Von diesen, so wie dem Verhältnisse der Vita zu einigen Urkunden wird noch später die Rede sein* Hier ist zunächst zu bemerken, dass die Biographie des Ansgar zwei Verfasser hat, den Nach- folger Rimbert und einen ungenannten Schüler des ersteren, wie in der Vita Rimberti cap. 9 berichtet wird. Aus dem Um- stände, dass Letzterer nicht genannt wird, lasst sich muthmassen, dass er gleichfalls der Biograph Rimberts war, und aus jener den mittelalterlichen Schriftstellern, zur Qual der Nachwelt, eigenthüm- lichen übergrossen Bescheidenheit sich weder zu dem einen, noch zu dem anderen Werke bekannt hat. Nur durch diese Annahme der Identität des Mitverfassers des einen und des Autors des letz- teren Werkes, wird die Dürftigkeit des letztern einigermaassen erklär- lich, da ein anderer doch schwerlich alle über seinen Helden in der Biographie Ansgars zufällig erwähnten Umstände über dessen Leben vor Erlangung des Erzbisthums weggelassen hätte.

Höchst wahrscheinlich ist es mir daher, dass der Biograph und Erzbischof Rimbert derselbe Rimbert ist, welchen Ansgar als einen Bischof nach Schweden sandte. Dieser Rimbert wird als dänischer Abstammung bezeichnet, was der Nachricht, dass der Erzbiscbof von) Ansgar als Knabe zu Turholt angenommen sei, nicht zu wider- sprechen scheint, da an diesem Orte, dessen alte Kirche uns schon

LebensbeichrHbung des Er^bischofs An$gar. S37

für das Jahr 631 bezeugt wird (Anoales Gandens. h. a.) Dänen und Slaven im Ghristenthum von Corbier Geistlichen unterrichtet wur« den, wie die Vita Anskarii zwei Mal dankbar erzählt, cap. 15 u. 36. Des Aufenthaltes des Erzbischofs Rimbert in Schweden ge- denkt auch seine Biographie. Der Ausdruck der Vita Anskarii, dass jener Bischof Rimbert den Schweden bisher ungehindert die Sacramente administrirt habe, dürfte gegen seine Identität mit dem Erzbischofe nicht entscheiden, da dieses Bisthum ohne Dotation, lediglich das Amt eines Missionars war und also nicht gleich nach der Erwählung Rimberts zum Erzbischofe von Hamburg wieder be« setzt sein mag.

Wichtiger erscheint uns die Frage, wo die Vita Anskarii ge- schrieben ist, ob in Bremen, Hamburg, oder irgend einem andern Kloster? Cap. 1 u. 5 sagen die Verfasser, dass sie bei Ansgar gelebt haben (cap. 1. qualiter apud nos vixerit cap. 6. nobis quae apud nos gesta sunt notare cupientibus), letztere Stelle erläu- tert: in his parlibus, videlicet Saxbniae. Zu einer näheren Be- stimmung müsste, wie es scheint, die wiederholt vorkommende Ortsbestimmung: jenseits der Elbe führen. Doch findet sich die- ser Ausdruck gebraucht, nicht in Bezug auf den Standpunkt des Schreibers, sondern auf denjenigen des Gegenstandes der Erzäh- lung. Cap. 8. der Kaiser giefot dem Heriold ein Lehn ultra Albiam. Dieses wird ziemlich aligemein von Rustringen im Süden der Elbe verstanden, wenn gleich nicht unterlassen worden ein jedoch völ- lig unbekanntes Lehn in Nordalbingen aufzusuchen (s. Dahlmann, Gesch. von Dänemark Th. E S. 39). Dagegen deutet man Cap. 13: „locus ultra Albiam, qui dicilur Welanao^S welchen der Erzbischof Ebo vom Kaiser Ludwig erhielt, um dort auf der Reise nach Dä- nemark zu verweilen, auf Weilnatu, jetzt Münsterdorf in Holstein. Im Cap. 12 wird jener Ausdruck wiederholt von dem nordelbi- schen Theil der hamburger Diöcese gebraucht, wo wir ihn aus der dort zum Grunde liegenden Urkunde des Kaiser Ludwig her- leiten müssen. Ebenso ist Cap. 22 von denselben nordelbischen Gegenden die Rede, welche der Bischof von Verden als eiiien ul- tra Albiam gelegenen Theil seiner Diöcese in Anspruch nimmt. Entscheidender dürfte Cap. 15 sein: Rimbert habe Kinder von Dä- nen und Slaven: „quosdam-hic secum retinuit", andere nach Tur- holt geschickt; „fuerunt cum eo hie magistri", nämlich aus Alt- Corbie. Das letztere hie scheint mir auf Turholt zu deuten, so wie auch Cap. 21, wo Dahlmann denselben Ausdruck auf Hamburg bezieht. Doch das erstere hie kann nur auf diese Stadt bezogen werden, deren Zerstörung erst in folgenden Capileln berichtet wird. Da sie aber in den kurz vorhergehenden Capiteln nicht genannt ist, so konnte der Biograph sich des Ausdrucks nur bedienen.

S88 Ldfmt^eichfMmg de$ ErMwd^fi Amgar.

Irsna er Mlbst dort 0obri#b. An Bremen» wo wir den Brzlrieehof RIhm beri suchen, kann tu jener Zeit nicht gedacht werden. Wena also Cap. 33 berichtet wird, der aus Schweden heimkehrende Erimberl sei „apod nos" verweilend, erkrankt und gestorben, so muss dieses Ton Hamburg verstanden werden. Dieser Ort war also im JiAriB 839^40 nicbt ganz zerstört» wie er denn schon 845 die Nordmaii* nen zu einer Plünderung anlocken konnte, wenn er gieidi zum Sitze des Erzbisthoms zu unsicher erschien und zu Rimberts Zeiten, wie eineUrkunde v.J. 888 bestätigt, daselbst das Münz- und MaTktreebt wegen der häufigen Ueberfälle der Heiden nicht ausgeübt werden konnte» Zu den Zeiten des älteren Horich (f 854) waren jedooh noch Dänen nach Hamburg oder Dorstadt gekommen » um sich taufen zu lassen, Cap. %K, Auf Hamburg scheint auch mir der Ort (lam hinc quam ex Dorstade) zu deuten, aus welchem die Kaufleute aus Sachsen (gentis buius homines, negotiatores) nach Schleswig ohne Besorgniss ziehen konnten, nachdem Ansgar dmrl 848-*54 viele Dänen getauft hatte. Wir können demnach die Verfaaser der Vita Anskarii nur in dem Kloster zu Hamburg eo* eben und zw«* bald nach Ansgars Tode,

Onter den für die Geschichte Ansgars von Hrn« Klippel angOi- führten, fUr dieselbe jedoch häufig ganz wertblosen Quellen muss es auffallen, die kurzen, aber wertbvollen Pasti Corbeienses au vermissen, deren Glaubwürdigkeit unbestritten ist umI die wen^sletis als Zeitweis«r höchst wichtig sind. Bei Dr. Alb. Crantz wird dm» wichtige Prädicat des Domdechanten übersehen und eben so we-^ nig erwähnt, dass ihm die Urkunden der hamburgischbremiscbeii Kirchen zum Theile wenigstens zu Gebote gestanden« Binirrthum ist es, dem Dr. ReuterdabI zwei Geschichten der schwedtscben Kirche zuzuschreiben. Die Biographie des Ansgar, welcher der Uebersetzer Mayerhoff im 1837 jenen Titel gegeben hat, ist le«- digiich das von Reuterdahl selbst so benannte „Leben des Anega* rius", welches derselbe seiner erst 1838 erschienenen Swenska kyr^ kans bistoria wörtlich einverleibt bat.

Der Standpunkt des Verfassers verräth sich schon auf den er« sten Seiten, wo er von dem Namen des h. Ansgars spricht. Er sucht diesen Namen nicht nur in einigen bamburgischen Ortebe^ Zeichnungen: Schaartbor, Scbaarmarkl und Schaarsteinweg u.a. bei denen längst nachgewiesen ist, dass sie ihren Namen dem Ufer, Schaar, engl Shore*), an dem sie lagen, oder vielmehr mittelbar

*) Dieses selteae Wort kommt Im hamburg. Schiffrechte v. J. 4S70 Art. si in der Form: dat Scbor, 4 497 P. 35 in derjenigen: dat Schar vor. Angelsächstsch : Score, schwedisch: Slcaer. Es bedeutet ein elngi^ •cbaluenee; •iogerisMDM Ufer, also aa«b eessan BucmeD, wie wir es den

der dort Megeneii) Im J. 1372 neu erbauten Gapeie der h. Marit thom Sebare, verdanken, sondern wiederholt sogar ganz «rtislbefl^ dass ein holsteinisches Dorf Willescharen (in alten Urkunden Wilde- seare) einst Villa Anscharii geheissen habe, ohne uns freiKcb den Beweis au liefern, dass die holsteinischen Bauern einst Istefoisoh gesprochen hätten. Ueber die Schreibart des Namens selbst sol- len wir durch die Erklärung des Hrn. Kl. beruhigt werden, dass ihm Ansgarius die richtigste Form scheint. Der Biograph hatld diese Ansicht durch die Entwicklung des sehr beaohtungswerthen Namens begründen sollen« Die erste Sylbe Ans entspricht be« kanntlich dem angel^chsischen Os, Gottheit (gleichwie Gans, nord« gAs, ags. gos); die zweite ist das g^r, nord. geir, ags. giM*, Speefi Zu den vielen von Graff im aUhocbdeutscben Sprachsch&tise be^' reits angefahrtem, mit Ans zusammengesetzten Namen, sind noch Osdag, Osferth, Osithe, Oslac, Osmod, Osred, Osulf, Ansgard, Ans» gis, Anskytel, Oslaf, Ansrik, Oswig nebst den entsprechenden For- men' hinsuzuTugen. Den Namen Anscarius finden wir auch bei den llarkgrsfen von ^Spoleto und denen von Ivrea*), also vor* muthlich k»goberdiBohen Ursprungs. Bei den Angelsaehsen mus^ diesem Namen mit unabweislioher Spraohriohtigkeit entsprechen Os^ g^, weiches auch, obgleich seilen vorkommt (Kemble Cod. dipl^ Angiosax.n, 4^.). Wir können hier die Bemerkung nicht unterdrdcken, wie ia diesem Namen eine Anklagegegen Maopherson auftritt, welcher dem in ii&t Schlacht hei Gahre gefallenen Sohne Ossians diesea Namen feeihet. In den ältesten irischen Nachrichten über diese Behlacht, namentlich bei Tigemach, kommt jener Name nicht vor. Wenn er aber in jöngern gaiisohen oder irischen Handschriften vor^ kommt, so ist nachzuforschen, ob er nicht als der eines sächsi- schen öder dänischen Kriegers erscheint, deren SpraOhstamme er ooverkennbat angehört. Ein wooderhcbes Spiel der Geschichte ist es gewMs zu nennen, dass die Liebhaberei des vermekilen neuett Carokis Magnus zu Paris für den Pseudopoeten dem Monarchen den bedeutsamen germanischen Namen verliehen» welchen die Von- aehung berufen hat» dasselbe Land, welchem ^w h. Ansgar zuerst die Se^ungen des Christenlhui^ aus der carolingischen Pflanz^ Stadt brachte, zu einer neuen Höhe altgemeiner BHdung und ge«- metnsamer Reohtsgleiohheit zu erheben.

Die Erzählung beginnt mit der vom Verf. als „sichere Uebeh-

lieferung** bezeiehnelett Angabe des Geburtstages Ansgars, nämlich

i- -

KU Hambarg von d«m eigentlichen filnoenbafen gebraucht finden. Ton Schar sind noch abgeleitet die Ortsnamen: Schar*hörn-deich-relhe u. a.

*) Bin SebdiacoBfis AaseaHud kommt S59 zu Langres Vor. PerizLegg. 7. 1. 404. lo der Mortaandle ffadeC steh im eflften Jahrhuaderi die Forai Anschanis (GoliecUon des Gartulaires de France, T. lU. pag. 437,439. 469.)

SM Lebembeiekrmlmng de$ ErMichofM Am§ar.

dei 8. Stplember. Diese UeberliefeniDg beruht jedoch nur auf eioer YeriDUtboDg Langebecks, welcbdon es entgangen war, dass Geburtstage ans jenen Zeiten seilen bekannt sind und, wie es scheint» Ton der Kirche nie feierlich begangen wurden. Der fragliche Tag ist, wie Reuterdahl nach dem ausdrücklichen Zeugnisse des Liber da* tious EU Lund bereits bemerkt hat, derjenige derEIcTation, womit auch die Notiz in der alten Abdinghofer HS. der Vita S. Willehadi, Anskarit et Rimberti (Codex Vicelinl) bei Pertz llonum.T.IL pag. 379 wirklich übereinstimmt.

Dem Erzbischofe von Göln, welchen das Chronicon Corbeiense Hildebald nennt, giebt der Verf. ohne Bedenken den richtigen Namen Hadebald. Zur Entschuldigung dieses Fehlers desChron. Corbelen, wird auf denselben Fehler in Waldo's metrischer Vlla Anskarii*) hingewiesen. Doch gerade diese Hinweisung fuhrt zu der Bemerkung, dass jene Chronik hier mit Waldo auch in den Worten übereinstimmt: navis . . Rex elegit ipsa vehi.

Eine erheblichere Lücke in der vorliegenden kritischen Arbeit müssen wir in der Darstellung der Gründung des Klosters Rames- loh bemerken. Recensent liat schon in seinem hamburgischen Ur> kundenbuche im J. 1842 nachgewiesen, dass die beiden Urkunden, nämlich des Königs Ludwig des Deutschen v. J. 842 und des Pap- stes Nicolaus L V. J. 864, welche von der Stiftung dieses Klosters und allein von der durch Rirobert nicht erwähnten Flucht Ansgars nach Ramesloh reden, bedeutende Stellen aus anderen Urkaoden und besonders aus Rimberts Leben des Ansgar enthalten. Diese Uebereinstimmung ist so gross, dass auch Hr. Kl. sich veranlasst sah, in seiner Abhandlung über das Chronicon Corbeiense 1843 S. 77 folgd. dieselbe, rücksicbtlich der päpstlichen Bulle, als ihm „erst neulich aufgestossen'*, ohne jedoch dabei das ähnliche Ver^ hältniss der gedachten kaiserlichen Urkunde zu berücksichtigen, hervorzuheben, ohne auch der von mir gemachten Bemerkung zu gedenken. Hehrere dieser bei Rimbert und in beiden gedachten Urkunden wörtlich gleichlautenden Sätze handeln jedoch von ganz verschiedenen Gegenständen. Es finden sich z. B. mehrere auf einander folgende Sätze beinahe acht Zeilen eines Quartoban* des von den Verhandlungen zu Worms (857) mit dem Cölner Erz- bischof Günther über die Vereinigung der Hamburger und Bremer Kirchen, beinahe wörtlich ebenso in jenen beiden Urkunden über die Verbandlungen mit dem Verdener Bischof Waldgar zu Worms 842 über die Abtretung von Ramesloh an Ansgars Diöcese» An-

*) Diese Namensform anstatt der üblichen Gaaldo habe ich gesucht za rechtfertigen in der Zeitschrift des Vereins lUr Hamburg. Geschieht«, Bd. II. S. 349,

Lebensbeschreibung des Eri&bischofs Ansgar. 541

dere grosse Stellen beider Urkunden stimmen wieder wörtlich mit anderen älteren päpstlichen Urkunden verschiedenen Inhalts. Es würde einen Blödsinnigen verrathen^ wollte man leugnen, dass entweder Rimbert und die Urkunden von einander abhängig, oder beide einer gemeinschaftlichen dritten Quelle entlehnt sind. Da nun Hr. K. die Unabhängigkeit beider Quellen von einander be- hauptet, so hätte seine conservative Kritik sich damit zu beschäf- tigen gehabt, eine solche gemeinschaftliche Quelle nachzuweisen, um so mehr da ihm mein hamburgisches Urkundeubuch wohl be- kannt war, aus welchem er alle auf Ansgar bezüglichen Urkunden als Anhang zu seiner Schrift abzudrucken beliebt hat, doch hat er hier die Anmerkungen, welche dem ächten Kritiker den Standpunkt an- weisen sollen, nicht mit abgedruckt und zu berücksichtigen über- all nicht verstanden. Er würde sonst vielleicht darauf hingewie- sen haben, dass jenen Urkunden, so. wie den Phrasen der Vita Anskarii ein Bericht Ansgars über die Niederlassung zu Ramesloh zum Grunde gelegen haben könne. Doch in diesem Falle, wie wollte man es erklären, dass Rimbert in der Vita von der Stiftung zu Ra- mesloh und der Schenkung derlkia nichts erwähnt, die einzelnen Sätze aus den Urkunden aber zum Theil bei ganz anderer Veran- lassung in seiner Erzählung verwendet, Rimbert, bei welchem wir ähnliche Plagiate nicht kennen, und der andrerseits, als Nachfolger Ansgars, das grösste Interesse hatte, das Andenken an die Stif- tung der hamburgischen Klöster in der Verdener Diöcese aus den ihm vorliegenden Urkunden zu erhalten. Rimbert giebl dagegen eine Nachricht, welche sich schwer mit Ansprüchen Ansgars auf Ra- mesloh vereinigen lässt, dass nämlich der Bischof von Verden Wald- gar so weit davon entfernt war, jenem einen Theil seiner Diöcese abzutreten, dass er sich vielmehr aueh Hamburg hätte zusprechen lassen, was er jedoch später zurückerstatten musste. Es ist also wahrscheinlicher, dass die Urkunden, von denen die König Ludwigs des Deutst^hen ein falsches Regierungsjahr bringt und Stellen aus einer alten päpstlichen, so wie aus einer andern kaiserlichen Ur- kunde enthält, und die des Papstes Nicolaus ähnliche Kriterien der Unächtheit*) besitzt, beide bald nach der Zeit Rimberts abgefasst

*) Unter diesen ist besonders noch hervorzuheben, dass Rimbert Cap, 23 bei der Vereinigung der hamburgiscben und bremischen Diöce- sen sich der Worte bedient: „Qua de causa postmodum in Uuormatia ci vi- tale positis duobus regibus, Hludowico scilicet et Hloihario". Diese Worte werden mit ziemlicher Wahrscheinlichlceit auf eine im Jahre 857 stattge- lündene Zusammenkunft des Königs Ludwig des Deutschen und seines Brudersohnes, des Jüngern Lothar, seit 855 Septbr. Königs von Bipuarien oder Lotbringen, bezogen, wenngleich die bekannte Zusammenkunft beider Könige im Februar 857 zu Goblenz staltfand und Hlothar zu der Zelt, wo Ludwig den Hoftag zu Worms hielt, nach St. Quintin gegangen war

AUg. ZeitMkrift t GescUebto. T. 1846. 37

542 Lebensbeschreibung des Erzbischofs Ansgar.

und von etnem scbwerfälligen Stylisten ans jenen Urkunden and der Vita Anskarii zusammengesteill sind. Da jedoch das Alter des Klosters zu Ramcsloh und dessen Verbaltniss zum Hamburger Erzbisthom durch viele unverdachlige Urkunden seit dem Jahre 937 wohl begründet erscheint, so möchte die hier vorliegende Ur- kundenfabrication nur beabsichtigt haben, fehlende schriftliche Be- weisurkunden für die im Wesentlichen unbestrittenen Verhältnisse und vielleicht nur eine grössere Ausdehnung oder Bestimmtheit der Immunitäten des Klosters Raroesloh zu begründen, nämlich eine buchstäblich übereinstimmende mit denen des Klosters Turholz, wie sie die Urkunde für das Erzbisthum Hamburg v. J. 831 auf- zählt. Die Ungeschicklichkeit, mit welcher die Vita Anskarii hiezu benutzt ist, möchte kaum ihres Gleichen in der Geschiebte der Diplomatik haben.

Eines argen Mangels an Kritik macht sich unser kritischer Be- arbeiter in Wiederholung mancher Angaben über die von Ansgar gestifteten Klöster schuldig. Von Ramesloh erzählt er, dass Ans- gar dasselbe auf eigene Kosten weiter ausgebauet und dort ein sorgfältig gepflegtes Seminar errichtet habe, um in demsel- ben aufgekaufte dänische und slavische Knaben für die nordische Mission erziehen zu lassen. Wenn Hr. K. beides als möglich oder wahrscheinlich bezeichnet hätte, so liesse sich dagegen nichts einwenden, als eben die Wahrscheinlichkeit, dass das Kloster Ra- mesloh erst nach Ansgars und Rimberts Zeiten seine selbsisl'äa- dige Begründung erhalten habe, doch für kritische Geschieh tsfor* schung wollen wir uns dergleichen nicht aufdringen lassen. Die

Ganz dieselben Worte finden sich wieder in der püpsdichen Urkonde über Ramesloh auf die desfalsige Yerbandlung mit dem Biscbofe Waldgar von Verden angewandt, doch mit dem Zusätze: „Presentibus arcbiepiscopis Ebone Remensi, Hetli Treverensi et Otgario Hemensi.'^ ErzbiscboT Ebo war aber ischon im Jabre 854 verstorben, kann also auf einer Zusammen- kunft, weiche nach dem September 855 gehalten ist, nicht zugegen ge- wesen sein. Die Urkunde König Ludwig des Deutschen v. J. 842 Juni 8. > über Bamesloh drüci^t sich ähnlich wie diese Bulle aus, doch mit einem verfänglichen Zusätze: „Postmodum vero Wormatiae habito generali con- veniu in nostra nostrique fratris, Hlotharii sciiicet regis, presentia, pre- sentibus arcbiepiscopis Ebone Remensi etc/' Der Verfasser dieser Urkunde hat also von Ludwigs Bruder, dem Kaiser Lotbar gesprochen. Wir wissen aber, dass diese beiden Brüder im Jabre 64S sich nicbt gesehen haben, son- dern erst im August des folgenden Jahres zu Verdun zusammentrafen. Klippel gedenkt freilich eines vom Kaiser Lothar und Könige Ludwig 844 zu Worms gehaltenen Reichsconventes , wobei er sich auf das Ghrooicon Albericl h. a. bezieht. Doch nicht allein, dass dieser bekannte Compilator von dem Aufenthalte Kaiser Lothars zu Worms im Jahre 840 spricht, so ist überall nicht von einer Zusammenkunft desselben mit König Ludwig, sondern lediglich von der Wiedereinsetzung des Ebo in das firzblsttram Rheims wfihrend der Streitigkeiten der Brttder die Rede.

Lebensbeschreibung des Erabischofs Ansgar. 543

Vita Anskarii erzählt aber Äeboliches von dem Kloster zu Turholt. Durchaus irrig ist aber die Angabe, dass Ausgar zu ßremen einen Verein von zwölf Geistlichen, welche wie Domherrn sich kleide- ten, aber ganz als Mönche nach der Benedicliner- Regel lebten, das S. Ansgaril Kloster gestiftet habe. Man dürfte sich nicht we- nig verwundern, dass Ansgar einem Kloster seinen eigenen Na- men gegeben, oder dass, wenn er demselben den eines Schulz- patrones verlieh, dieser dem Kloster später sollte genommen und gegen den Ansgars eingetauscht sein. Adam von Bremen, dessen Worte dafür angeführt werden, sagt uns, dass Ansgar, wenn nicht auf Missionen beschäftigt, für die Klöster seiner Diöcese Sorge getra- gen habe. Er benennt dieselben: den von Hamburg nach Rames- loh verlegten Convent, den der Domherrn zu Bremen und den der Nonnen zu Bassum. Dass die Domherrn der Bremer Cathedrale strenge und sogar mit Mönchen gemeinschaftlich lebten, bis Erzbi- schof Unwan die canonische Regel feststellte, ist anderweitig aus Adam von Bremen bekannt. Die Stiftung Ansgars zu Bremen aber war lediglich das von Rimbert und Adam von. Bremen vielfach erwähnte Hospital. Dass diese Stiftung Ansgars für zwölf Arme erst im Jahre 1187 durch den Erzbischof Hartwig II. zu einem Stifte von zwölf Domherrn erweitert wurde, besagt die in unserm hamburgischen Urkundenbuche in dem Originallaute abgedruckte erz bischöfliche Stiftungsurkunde unwiderleglich, welche dem Hrn. K. entgangen zu sein scheint, da er nur eine seitdem bekannt ge- machte deutsche Uebersetzung derselben anführt.

Zur Würdigung der vorliegenden Arbeit in geographischer Beziehung mag erwähnt werden, dass S. 56 der Handelsort With- Jaud an der Mündung der Mosel genannt wird; ein Ort welchen die Quellen Withia an der Mündung der Maas nennen.

Bei den vielen augenscheinlichen Mängeln des vorliegenden Werkes könnte das Bestreben unparteiischer Würdigung dennoch ein erhebliches Verdienst in demselben vermuthen, nämlich die chronologische Anordnung des Stoffes, welche da in Rimberts Biographie keine Jahreszahlen angegeben sind, schon häufig der Gegenstand gründlicher Untersuchungen geworden ist* Unser Ver- fasser folgt nun darin durchaus dem Chronicon Corveiense, was diejenigen billigen werden, welche demselben einigen Werth bei- legen. Doch werden auch diese sich vergeblich darnach umsehen, wie die grossen Widersprüche des Zeitgenossen Rimbert mit der apocryphischen Chronik beseitigt sein dürften. Die Nachricht der letztem über das Jahr der Zerstörung Hamburgs 837 wird nicht besser begründet. Es wird nicht erklärt, wie Ansgars Sendung nach Schweden durch das Ghron. Corveiense ins Jahr 840 gesetzt werden kann, da doch Hr* K. S. 60 des Bischofs Gautbert Abreise

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544 Lebensbeschreibung des Er%b%schofs Ansgar.

nach Schweden in das Jahr 834 setzt , nach dessen Rückkefar aus Schweden (s. daselbst z. J. 837) dieses Land beinahe sieben Jahre, wie Rimbert sehr bestimmt sagt (Septem fere annis, ein Aasdrack, welchen Hr. Kl. S. 74 für schwankend und unbestimmt ausgeben will), ohne geistlichen Hirten gewesen war, also in so fern die vorhergehenden Jahreszahlen richtig sind, bis zu dem Jahre 844. Die Angabe des Chron. Corveiense z. J. 860, dass in diesem Jabre König Ludwig das bremer Bisthum mit der hamburger Diöcese vereinigt und dem Ansgar gegeben habe, während die ßuUe des Papstes Nicolaus v. J. 858 dieses als bereits auf den Antrag jenes Königes geschehen anführt, wird dadurch erläutert, dass im J, 860 dieser die päpstliche Bulle bekannt gemacht habe. Dass die an den Erzbischof Ansgar gerichtete Bulle eines solchen Publications- patentes bedurfte, hätte jedoch wohl eine Nachweisung verlangt. Die zweite Missionsreise Ansgars nach Schweden setzt das Chron. Corveiense in das Jahr 861, während wir aus Rimbert wissen, dass Ansgar jedenfalls vor des dänischen Königs, des älteren Horich Tode, also vor dem Jahre 854 von derselben heimge- kehrt war; auch vor dem Tode des Gautbert oder Gosbrecht, Bischofs von Osnabrück, welcher vor 860 sich ereignete (s. die Urkunde bei Moser Geschichte von Osnabrück Tb. L). Die Irr- thämer in diesen chronologischen Daten, welche bisher nur theil- weise von unsern verdienten Kritikern hervorgehoben sind, könn- ten allein genügen den Unwerth des Chron. Corv. für die vorlie- gende Periode darzulegen. Man wird jedoch noch fragen, wie der Verfasser desselben zu diesen Angaben gelangte? Der belesene Mann hat sie entweder aus den ihm zu Gebote stehenden Nach- richten combinirt, oder aus alteren Corveyer Schriften abgeschrie- ben. Da nun letzlere immer noch werthvoil sein, in irgend jetzt verlorenen chronologischen Notizen bestehen könnten, so schien die Nachforschung nach denselben unerlässlicb. Diese hat sich über Erwarten belohnt. Denn es findet sich, dass alle die Jahres- zahlen des Cbronicon Corv. über das Leben Ansgars mit geringen gleich anzuführenden Zusätzen und Berichtigungen aus den Mar- ginalzahlen der Claudii Arrhenii (Oernbjelm) Breviarium vitae Anscharii et excerpta Chronologica entnommen sind, welche dieser seiner Ausgabe von Rimberls und Waldos Biographien des Ansgar, unter dem Titel: S. Anscharii Vita gemina. Holmiae 1677. 4to, bei- gefügt hat. Die Ausnahmen finden sich a. 862 wo das Chron. Corv. drei Neu -Corveyer Mönche nach Schweden ziehen lässt und 865, dem Todesjahre Ansgars, welches Arrhenius, der seine Geburt I in das Jahr 805 setzt, gegen die ältere Ansicht des Baronius und

Lambek, und unbekannt mit der Bulle des Papstes Nicolaus für den Erzbischof Rimbert vom Jahre 869, ins Jahr 869 verlegt

Lebensbeschreibung des Erzbischofs Ansgar, 545

Letzterer Umstand widerlegt den Einwand , dass Oernhjelm das . Chron. Gorv. bereits gekannt habe, der überall stets sorgfältig seino Beweisstellen anführt, aber keine Corveyer Quellen kennt. Ans Arrhenius hat nun das Chron. Corveiense entnommen das Jahr 827 für die Absendung des Ansgar und des Autbert nach Dänemark. Obgleich von diesem Jahre ausgehend, hat Oernhjelm den zweijäh- rigen Aufenthalt jener beiden Missionare in Schweden in die Jahre 829 und 830 und Autberts Tod in Neu-Corvey in das Jahr 831 ge. setzt; das Chron. Corveiense lässt ihn anscheinend consequenter im Jahr 830 zurückkehren. 831 ist bei Arrhenius und im Chron. Corv. das Jahr für die erste Missionsreise Ansgars nach Schweden. Ich bemerke hiebei, dass die Nachricht des letzteren: ,,4jislemarus jterum ablegatus est ad regem Herialdum'^ von dessen früherer Sendung nichts bekannt ist, aus dem der Rimbertischen Erzäh- lung entsprechenden „interim'' des Arrhenius entstanden sein dürfte. Das Jahr 834 nimmt Arrhenius consequent 35 Jahre Tor dem von ihm angenommenen Todesjahre des Ansgar 869 an, als das der Errichtung des Erzbisthums. Eben so das Chron. Corv. ob es gleich das Todesjahr 865 angrebt und daher die Errichtung des Erzbisthums auf 831 zu setzen hätte und zu 834 nur die Ausfer- tigung einer Dotationsurkunde, welche vorzüglich schon dem Adam von Bremen nur die Schenkung der Zelle zu Turholt zu beabsich- tigen schien. In das Jahr 835 wird von Arrhenius und dem Chron. Corveiense die Sendung des Grafen Gerold an den Papst Gregor IV. gesetzt; man sieht nicht, warum nicht spätestens 834, in dessen Maimonate jene Urkunde bestätigt ist, oder früher nach der beschlos« senen Errichtung. Für die von Rimbert gedachte Zerstörung Ham- burgs hatte Lambek, unter Benutzung einer Stelle der Annales Metenses (Ruodolfi Fuldensis), das Jahr 845 angewiesen. Oern- hjelm, ohne seine Gründe anzugeben, erklärt zum Jahr 836: Hoc etiam anno, ut videtur, vel circiter, piratae Hamburgum exurunt. Freilich erklärt er sich in^seiner 1689 gedruckten Historia Suevo- rum ecclesiastica für das Jahr 840, doch das Cbronicon Corveiense, das „circiter^' benutzend, entnimmt aus jener Aeusserung das Jahr 837, um für die seit dem Jahre 834 angefangenen Kirchenbauten einige Zeit zu gewinnen. Zum Jahr 840 erzählt das Chron. Corv. dass Ansgar den Ardgar nach Schweden gesandt habe. Oernhjelm berichtet, wie Rimbert erzähle, dass Schweden nach Gaulberts % Vertreibung , welche ungefähr gleichzeitig mit der Zerstörung Ham- burgs sich ereignete, sieben Jahre ohne Priester gewesen und giebt dazu am Rande die Zahlen „An. 837 et seqq. sex**. Gleich darauf folgt auf dem nächsten Blatte die Marginalzahl ann. 840 zu den Worten: „Dum decurrunt Septem illi anni, quibus Siftciacaruit Presbyteris, Anundus* rex Sueorum pulsus regno exulabat apud

546 Lebetiibeschreibung des Enbischofs Ansgar,

Danos". Daher hat also das Chron. Corv. diese Jahrzafil 840 auf Ardgara Mission, für welche die Marginalzahl 843 bei OerDhjelm zurallig fehlt, angewendet. Das Jahr 842 findet sich nicht bei Oern- hjelm , doch ist es in Uebereinstimmung mit dessen ErzähluDg und der Urkunde über die dort im Chron. Corv. erwähnte Stiftung voo Ramesloh. Die auffallende Jahreszahl 860 Tür die Vereinigong der hamburger und bremer Diöcese ist ans Oemhjelms Vita gemina, welcher, wie man aus seiner Historla ecclesiastica pag. 44 ersieht, die desfaisige Bulle des Papstes Nicolaus v. J. 858 dem Jahre 864 zuschreibt. Das Jahr 861 für die zweite Reise Ansgars nach Schwe- den ist eben so aus Oernbjelm, welcher ihn mit Briefen des dä- nischen Königes Erich I. (Horich des Aeltem) dahin reisen lässt^ ohne zu beachten , was seitdem namentlich Langebek in Beziehung auf diese Reise gethan halte, dass derselbe bereits im Jahre 854 ver- storben war.

Wer diese Uebereinstimmung der augenscheinlich irrigen Jah- resangaben im Chron. Coi-v. und in Oemhjelms Vita gemioa in ihrem Zusammenhange sieht und würdigen kann, wird nicht ver- kennen wollen, dass jenes durch diese irre geführt ist. Diese Thatsache ist für die Autorschaft des Chronicon Corveiense. von nicht geringer Bedeutung, da aus ihr folgt, dass es neuer als das Jahr 1677 und ein absichtlicher Betrug sein muss, nicht etwa die harmlose Compilation eines Corveyer Geistlichen aus dem zwölften oder dem nächstfolgenden Jahrhunderte. Der chronologische Aufsalz des Oernhjelm ist 1706 von J. A. Fabricius in seiner Ausgabe desP.Lambecii Origines Hamburgenses p. 2dsq. abgedruckt Aus den Angaben des letzleren kann der Verfasser des Chronici Corveiensis das richtige Todesjahr des Ansgar 865 entnommen haben. Herr Klippel Th. I. S. 130. 141. führt den Arrhenius selbst an, namentlich zur Bestätigung der Jahreszahl 861 für die zweite Missionsreise nach Schweden; die genaue Üebereinstimmuog und den engen Zusammenhang desselben wit dem Chronicon Corvei* ense haben er und andere bisher nicht erwogen.

Wir wollen es uns nicht versagen diesen Anlass zu benutzeo, unsere eigene Ansicht über die so viel verhandelte Chronologie der Lebensjahre Ansgars zu geben, da wir mit der besten der- selben , der von Langebek in seinen Rerum Danicaruiit Scriptores T. L dargelegten nicht ganz übereinstimmen und leider auch Dabi- mann in seiner Ausgabe der Rimberlischen Vita S. Anskani durch das Chronicon Corveiense irre geleitet war, und ob er gleich seit- dem in der Geschichte Dänemarks sein Votum gegen dasselbe abgab, dort zur Prüfung und näheren Bestimmung der Chronologie Lange- beks sich^icht v.eranlasst finden konnte.

Geburts* und Todesjahr Ansgars 801 ui>d 865 Febr. 2 stehen

Lebensbeschreibung des ErMschofs Ansgar, 547

aus Rimberts Angabe , so wie aus den Fastis corbeiensibus, dem liber fralrum mortuorum Fuldensium u. a. fest. Die Geschichte der nordischen Mission beginnt mit der von Ebo, Erzbischof von Rheims, im Jahre 822 oder 823 begonnenen; über eine nach letzterem Jahre von ihm unternommene fehlt der Beweis. Für jene sind die Annales Xantenses ad an. 823 nicht zu übersehen, welche melden dass Willerich, der bremische Bischof, den Ebo begleitet habe. Zu den Wahrscheinlichkeitsgrönden für eine spätere Reise könnte die dem. Ebo vom Papste Bugenius ertheilte Bulle angeführt wer- den. Wir müssen Rimbert, dem Freunde und Nachfolger Ansgars glauben, dass das Erzbislhum Hamburg volle 33 Jahre vor dessen im October des Jahres 864 erfolgten letzten Erkrankung gegründet ist, also gegen oder im Jahre 831. Adam von Bremen bezeichnet ausdrücklich das Jahr 832 (Cod. Vindob.) und das 18te Regierungs- jahr Kaiser Ludwig des Frommen, welches am 27. Januar 832 en- digte, sowie das 43ste Jahr des Bischofes Willerich von Bremen, weiches am 9. November 831 begann. Die Errichtung des Erzbis- thumes Hamburg fällt also auf Weihnachten 831 nach unserer Zählung, oder 832, wenn man nach alter Weise das Jahr mit Weihnachten beginnt. Doch trete ich der Bemerkung des treff- liehen Langebek bei, dass vor der eben gedachten Reichsversamm« lung (conventus imperii, welche er jedoch willkürlich und ungenau schon in den Juni 831 setzt^ die von Rimbert Cap. 12 gleichfalls erwähnte Versammlung der deutschen Bischöfe (Synodus) stattge* funden, wo die Errichtung des Erzbisthums Hamburg beschlossen ward. Der Anfang des Bisthums lasst sich also vom Jahre 831, so wie vom Anfange des Jal^res 832 datiren. Die erste Missionsreise Ansgars nach Dänemark war die Folge der im Juni des Jahres 826 vollzogenen Taufe des Königs Harald. Noch in demselben Jahre (nicht erst 827) begleitete er den König durch Friesland in seine Heimath, dessen Rückkehr die Annales Einhardi a. 826 bestimmt feststellen. Ich bemerke hier, dass unter dem Bischöfe Rinfrid, welcher im Chron. Corvefense a. 830 angeführt ist, den Schaumann für einen unerhörten Bischof von Dorstadt, Klippel aber nicht näher zu bezeichnen weiss, der siebente Bischof von Utrecht zu verstehen ist, welchen Johannes de Beka u. a. in die Jahre 815 36 setzen. So hat Klippel nicht einmal verstanden diesen nicht ungeschickten Einfall des Chronicon Corv. zu benutzen. Sein Begleiter Aulbert kehrte nach zweijährigem Aufenthalte in Dänemark zurück und starb in Neu-Corvey Ostern 829. Ansgar ward wegen der unterdessen aus Schweden eingetroffenen Ge- sandten — vermuthlich einer der legationes de aliis longinquis terris, welche im August 829 zum Hoftage nach Worms kamen, deren die letzten Zeilen der Annales Einhardi gedenken, zum Kaiser

548 Lebensbeschreibung des Er^bischofs Ansgar,

berufen und mit der Mission nach diesem Lande beauftragl. Ein und ein halbes Jahr verweilte hier Ansgar (Rimbert c. 12), kehrte also im Jahr 831 heim: zu Ende dieses Jahres war er beim Kaiser Ludwig zu Aachen, welcher kurz vorher zu Thionville den Frieden mit den Dänen bekräftigend , ihn zum Erzbischof von Hamburg er- nannte. Gautbert (Gosbrechl), der Neffe des damals noch einfluss- reichen Ebo, Erzbischofes von Rheims, ward nach Schweden ge- sandt, vermuthlich im Jahr 835, wo man ihn im Februar am Reichslage zu Diedenhoven zu finden glaubt (Eckhart Bist. Franc. Oriental. T. II. pag. 2b2.). Die Zerstörung Hamburgs, von welcher Rimbert spricht und welche Adam von Bremen ins letzte Jahr Kaiser Ludwig des Frommen (f 840 Juni 20) setzt, «wird diesem Jahre angehören. Eine Steile des Nithard Histor. J. IV. c. -3 ist irrig auf eine Zerstörung Hamburgs durch die Nordmannen im J. 842 (oder wie bei Klippel 845) gedeutet worden. Die dort ge- nannten Orte, zu denen die Normannen an der französischen Küste hinüberselzten, Hamwig und Nordhunwig, sind nicht Ham- burg und Norden, sondern wie ich bereits an anderm Orte nach- gewiesen habe, Soulhampton (vergl. Vita WillibaJdi in Actis St Ord. Benedict. Saec. III." pars 2. p. 371) und Norwich. Von dem irrig angegebenen Jahre 837 ist schon oben gesprochen: 845 sprechen die Annales Ruodolfi Fuld. nur von einer nicht unbc- slraflen Plünderung des Cabtelles Hamburg.

Ob nun die Herstellung des Erzbisthums Hamburg durch die mit Verden getroffene Regulirung bereits im Jahre 848 geschehen, wie Wedekmd annahm, möchte ich nicht entscheiden; wahrschein- licher ist es mir, da Rimbert sagt, dass die Abtretung der Stadt Hamburg an die Verdener Diöcese einige Zeil bestanden habe, dass die Ruckgabe nicht lange vor der Bulle des Papstes Nicolaus vom Jahre 858 zu Stande kam und also die Herstellung des mit Bremen vereinten Erzbisthums Hamburg als eine mittelbare Folge der zweiten Schwedischen Missionsreise anzusehen sein dürfte. Diese zweite Reise Ansgars nach Schweden müss in die Jahre 848-50 fallen. Nachdem Gaulbert zur Zeit der Zerstörung Hamburgs aus Schweden vertrieben und dieses Land beinahe sieben Jahre ohne Geistlichen geblieben war, ward etwa 846 Ardgar dahin gesandt. Ansgar war im October 847 auf dem Reichstage zu Mainz. Er er- hieU m diesem Jahre das seit Bischof Leuderichs Tod erneuerte Bisthum Bremen*), wie Adam von Bremen berichtet, 16 Jahre

Th r*^ Q '"l'^' Leuderich war, wie Ich schon im hamburger ürkundenbuch R«aii„n;. H "'f l^''*'''®"' '"" ^- ^*^ ^"8« 2*. verstorben, im sechsten

ter8rirri7"'''^''w!,'''"^'^*^^'^ ^^- ^- "«^^ ''^ Tode seines Va; ters), mcht 847, wie Wedekind und |ch selbst, durch des Adam von

Lebembeschreibung des Erzbischofs Ansgar, 549

nachdem er Hamburg erhalten und 18 Jahre vor seinem Tode. Seiner Einführung zu Bremen im neunten Jahre König Ludwig des Deutschen , d. h. im neunten nach dem Tode Ludwig des Frommen denn so zählt Adam von Bremen also nach 84S Juni 20, wird von demselben ausdrücklich gedacht.

Nachdem Ansgar das Bisthum Bremen erhalten hatte, besuchte er wiederholt den König Horich, auch mit Aufträgen des Königs Ludwig, welcher 845 zu Paderborn und 848 zu Anfang October zu Mainz Gesandtschaften der Nordmannen und Slaven empfangen und die gegenseitigen Verhältnisse geordnet hatte. Horich war da- mals alleiniger Herr der Dänen (Rimbert c. 24), also vor dem Jahre 850, in welchem er gezwungen wurde, das Reich mit seinen bei- den Neffen zu theilen (Prudent. Trecens. a. 850). Da Ansgar aber dem Erzbischofe von Rheims, \yelcher im Jahre 851 März 20 (s. Eck hart Hist. Franc. Orient. T. H. p. 386) starb, noch von den auf dieser Missionsreise erduldeten Leiden Bericht erstaltete (Rimbert c. 34), so lässt sich die Zeit derselben genau bestimmen. Vermuth- lich also 849. Vor dieses Königs in der Schlacht im Jahre 854 er- folgtem Tode trat Ansgar seine zweite Missionsreise nach Schwe- den an. Bei seiner Heimkehr liess er dort den Erimbert, welcher zur Zeit des Todes des Dänenkönigs Horich des Aeltern in Schwe- den war. Jenem folgte in dieser Mission Ansfrid, welcher nach etwas langer als drei Jahren, den Tod des Bischof Gauzbert von Osnabrück*) vernehmend, heimkehrte und zu Hamburg verstarb. Da jener Gauzbert bereits im J. 860 einen Nachfolger im Bischof Egibert halte, so fällt Ansfrids Tod in die Jahre 858-59.

Um die zweite Reise Ansgars nach Schweden dem Chronicon Gorveiense entsprechend in ein späteres Jahr zu verlegen, haben Wedekind und demnächst Schaumann behauptet, dass in Rimberts Vita S. Anskarii die Capitel 31—32 unmittelbar auf Cap. 24, sowie Gap. 33 auf Gap. 30 folgen müssen. Dass Waldo und Adam von Bremen ihre Uebertragungen aus Rimbert in derselben Reihefolgo geben, wird bei dieser Behauptung nicht berücksichtigt, obgleich Klippel sehr häufig auf den Versificalor Waldo, welcher nichts Neues über Ansgar beibringt, Bezug nimmt. Der einzige Grund, welchen Wedekind dafür einst vorgebracht hat in einer von Klippe-

Bremen verworrene und zuweilen falsche Zählen irre geleitet, angenoms men. Seines Vorgängers Wilierik Tod wird mit den Inoaies Gorbeiense- in das Jahr 838 Mai 4. zu setzen sein, was der Angabe über seine 50l jöhrige Regierung seit 789 Nov. 9. nahe genug kommt.

*) Gautbert, Gosbert erscheint unter den sSchsIscben Bischöfen im J, 854 auf dem Reichstage zu Mainz, wo aber Ansgar fehlt (Pertz Leg. P. I). 853 wird er als alt und schwach geschildert (Urkunde bei Moser Os- nabrück. Geschichte Th. I).

550 Lebensbeschreibung des ErAbischofs Ansgar.

Th. I. S. 6 angerührten, sehr emphatischen Erklärung über die Aechtheit des Chronicon Corveiense, besteht darin: „Dass schon das ,,Cap. 2B (rectius 25) ausdrücklich des neuen Verhältnisses mit ,,Horicb dem Sohn erwähne (Rex, sicuti et pater eius fecerat), ^»mithin dieses Gapitel nothwendig dem Cap. 32 nachstehen muss.*' Da der ältere Ilorich im J. 854 erschlagen war, so muss also jene Reise später erfolgt sein. Gewiss scheint dieser Beweis sehr bän- dig. Doch wird es gewiss manchem unserer Leser schwer zu glauben, dass Wedekind, nach allen seinen Bemühungen um jene Chronik und um die Geschichte der vorliegenden Zeit, in den ar- gen Irrthum hat fallen können, auf die Könige von Dänemark zu beziehen, was Rimbert vom König Ludwig dem Deutschen und dessen Vater Kaiser Ludwig dem Frommen berichtet hat. Herrn Klippel scheint Wedekinds Irrthum nicht entgangen zu sein^ vi^e* Digstens wiederholt er ihn nicht; wohl aber eignet er die ganze, wesentlich darauf begründete Umstellung der Vita Anskarii sich an^ ohne Wedekind die Ehre oder Schuld davon zu geben.

Hr. Klippel hat eine, uns wenigstens neue Erläuterung zu Ans- gars Leben gegeben, indem er den Reginar, welchem König Karl der Kahle die von dem Erzbischofe schmerzlich entbehrte Zelle Turholt ertheilt, mit dem derzeitigen^ so benannten Bischof von Amiens identificirt. Es lasst sich für diese Erklärung anführen, dass jener Reginar als „den Mönchen zu Corbie, deren Abtei im Bisthum Amiens lag, wohlbekannt'' von Rimbert tadelnd bezeichnet wird. Doch vertragt sich mit dieser Annahme schwerlich der ver- werfende Ton, in welchem von diesem Reginar, ohne Bezeichnung desselben als Bischof, von Rimbert gesprochen wird, noch weni- ger der von demselben erzählte Traum Ansgars, in welchem Re- ginar diesen mishandelte. Ein solcher Bischof würde vielleicht ' noch mehr und in ernsterer Weise getadelt sein.

Ich möchte daher diesen Reginar lieber in einem der Laien suchen, an welche, wie Prudentius von Tröyes z. J. 859 berichtet, Karl der Kahle Klöster übertrug, was bei dieser kleinen Zelle eines Bischofs der ihm abgeneigten Sachsen in einer den Ueberfällen der Nordmannen häufig ausgesetzten, des Schutzes kräftiger Hand bedürftigen Gegend sogar rathlich erscheinen konnte. Die Graf- schaften des Reginar im nördlichen Frankreich aber werden in ei- nem Capitular v. J. 853 (Pertz Legum T.L p. 426) angeführt, viel- leicht desselben Grafen, welcher im J. 876 in der Schlacht bei An- dernach (Hincmar Rhemensis h. a.) gefallen ist.

Bei Erwähnung der literarischen Arbeiten Ansgars wird auch des demselben zugeschriebenen &. g. Diarii über seine Missionsreisc ge- dacht und die Richtigkeil der desfalsigen Nachricht, wie schon von anderen geschehen, bezweifelt. Es sei dieselbe „so unbestimmt und

Lebensbeschreibung des Erzbischofs Ansgar. 551

aflgemeiD) dass darauf gar nicht zu bauen ist'% sagt Hr. Kl., ohne jedoch die Quelle zu benennen. Diese lautet nun aber bestimmt und speciell genug: Anno 1215 donavit nobis Balthasar Rummer S. Ansgarii Manuale in quo sancti^ins labores in septentrione iuxta annos et dies studiose notati sunt breviler: Tymo postea id Romam misisse dicitur. Wenn wir aber hinzufügen, dass die verschwie- gene Quelle die Annales Corbeienses in Leibnitz SS. rer. ßrunswic» P. n. pag. 310 . . sind, so wird man begreifen, weshalb der Advo« cat des Chronicon Corveiense nicht an dergleichen Corveyer Quel- len erinnern mag.

Hr. Kl. giebt denn auch die Nachricht über die von dem Uo* terzeichneten geschehene WiederaufGndung der Pigmenta Anskarii in einem alten, im Besitze des Senator Culeman zu Hannover be- findlichen Druck*) und druckt diese Schrift in den Beilagen sei- nes Buches ab. Wir müssen annehmen, dass es ihm unbekannt war, dass ein Abdruck von uns längst vorbereitet war, oder dass er diesen nicht berücksichtigen wollte. Auf eine Untersuchung über die Aechtheit oder Entstehung hat er sich nicht eingelassen» Wie aber sein Abdruck ausgefallen ist, wie er den alten Druck ge- lesen haben mag, ergiebt eine Vergleichung mit dem Abdrucke in der Zeitschrift des Vereines für hamburgische Geschichte Th. E, wornach Herrn Klippels Text auf etwa zwanzig Seiten über hun- dert Stellen enthält, in welchen er den alten Druck falsch gelesen oder aufgelöset hat. Wir geben folgende zur Probe: Ps. 6. suspi- cis statt suscipis. Ps. 7. Scurator für Scrutator. Ps. 11. conscen- dere für condescendere. Pd. 12 u. 34. exaltatione für exultatione. Ps. 15. ovibus für omnibus. Ps. 30. placitu für planctu. Ps. 46. Deus für Omncs. Ps. 53. pectore confidentes für protectione con- fidentem. Ps. 63. vivuntur für nituntur. Ps. 78. veneretur für ve- nerunt und so fort. Nur eines sei noch hervorgehoben aus der OracioJeronyroi: Deusunus insubalternus.. tua laus, tua gloria^ für Deus unus in substantia (rinus, tibi laus, tibi gloria.

Doch genug dieses traurigen Geschäftes. Nur mit Widerwil len haben wir uns demselben unterzogen. Doch scheint es uns wegen des grossen Nachtheils, welchen das Chronicon Corbeiense gerade den gewissenhaftesten Forschern gebracht hat, des Verlu stes edler Zeit und Kräfte, welche dessen Enthüllung verlangt hat, durchaus Pflicht, die fernen Beweise darzulegen, wie gross derlrr- thum war, in welchen der wackere Wedekind durch dessen Pu-

*) Einer kUrzUch vom Herrn Senator Culeman gewordenen genilligen MiUhellung zufolge stammt dieser Druck nebst mebreren anderen, in dem- selben Bande be&ndlictien, aus den Roslocker Druckerpressen der BrüJer vom gemeinsamen Leben.

552 Angelegenheiten der historischen Vereine.

bliciruDg und Vertheidigung verfiel, und mit welcher Art von Kri- tik und Gelehrsamkeit der Kampf für die Aechtheit desselben fort< gesetzt ist. J. M. Lappenberg.

Angelegenheiten der historischen Vereine.

Die Numismatische Gesellschaft zu Berlin.

In unsrer Zeit, in welcher sich im Interesse der Wissenschaft die verschiedenartigsten Vereine gebildet haben, hielt man es auch für zweckdienlich, zur Belebung des Interesses für Forschungen auf dem Gesammtgebiete der Numismatik Gesellschaften zu be- gründen. In England und Belgien waren zur Verfolgung dieser Zwecke Vereine von tüchtigen Männern zusammengetreten und hatten in dem letzten Decennium durch Herausgabe in jeder Be* Ziehung gediegener numismatischer Zeitschriften Tüchtiges geleistet. In Frankreich wurde ebenfalls eine numismatische Zeitschrift ge« gründet, welche von zwei ausgezeichneten Numismatikern redigirt und durch Beiträge der grössten Gelehrten Frankreichs bereichert, der Mittelpunkt numismatischer Forschungen für Frankreich wurde. Da durfte Deutschland auch nicht zurückbleiben. Zwei numisma- tische Zeitungen erblickten das Licht der Welt, die eine in Han- nover , welche schon nach wenigen Jahren ihres Bestehens wieder einging, die andere in Thüringen, welche sich in ihrem rein vege> tativen Zustande wohl noch einige Zeit zu erhalten vermag. In Berlin endlich wurde von Hrn. B. Köbne im J. 1841 die Heraus- gabe einer Zeitschrift begonnen, welche Forschungen auf dem Ge- biete der Münzkunde und Sphragistik in sich vereinigen sollte. Zugleich veranlasste Hr. B. Köhne zu Ende des J. 1843, wie wir annehmen dürfen aus rein wissenschafllichem Interesse, die Bil- dung eines numismatischen Vereins für Berlin, dessen Zweck, wie es das Statut besagt, gegenseitige Belehrung und Unterhaltung im Fache der Münzkunde sein sollte. Dieser so abgefasste Partigraph des Statuts begegnet allerdings so manchem Vorwurf, welchen man dem Vereine mit Recht machen dürfte; denn da es nur auf gelegentliche Belehrung und Unterhaltung abgesehen zu sein scheint, nicht aber auf ein gemeinsames thätiges Forschen, auf ein Vor« wärtsstreben in der Wissenschaft und auf Anregung zur eigenen Production, so beschränkte sich in der. letzten Zeit, gleich als ob auf dem grossen Gebiete der Numismatik der Stoff erschöpft wäre oder die Mitglieder ihre Kräfte in dem ersten Jahre des Bestehens' des Vereins durch ihre Leistungen erschöpft hätten, die Thätigkeit der Vereinsmitglieder nur auf gelegentlich hingeworfene Mitthei-

Angelegenheiten der historischen Vereine, 653

langen oder hatte, wie es sich in der neuesten Zeit bei der Mehr- zahl herausgestellt, einem gänzlichen Indifferentismus Platz gemacht. Ein trauriges Bild eines numismatischen Vereins für eine Stadt wie Berlin, in der sich so tüchtige Numismatiker, so bedeutende öffent- liche und Privatsammlungen befinden, eines Vereins, der in dem ersten Jahre seines Bestehens so jugendlich kräftig blüht und schon im zweiten sein müdes Haupt neigt.

Wir gestehen allerdings, dass die Erhaltung eines numisma- tischen Vereins, soll das rein wissenschaftliche Element in dem- selben das leitende sein, selbst in einer grossen Stadt mit Schwie- rigkeiten mannigfacher Art verknüpft sein mag. Die Numismatik war ja von jeher das Feld, auf welchem die Laien sich gern herum- tummelten, und gewappnet mit dem Metall ihrer Münzschränka eine Lanze mit Rittern der Wissenschaft zu brechen wagten. Der blosse Münzsammler galt früher und gilt leider heut zu Tage bei der grossen Menge häufig für einen Münzkenner, das Anhäufen Averthvoller Münzschätze, welche allerdings für die Nachwelt oft von der höchsten Wichtigkeit geworden sind, für numismatische Gelehrsamkeit. Jahrhunderte lang konnte sich die Numismatik nicht von einer dilettantischen Behandlungsweise trennen. Die äusserliche Anordnung der Münzen nach ihrer Grösse, ihrem Me- talle, das Zusammenstellen der römischen Kaiser-Portraits und die Beziehungen, in welchen die Kaiser-, Consular- und Familiamünzen zur Geschichte standen, war mit geringen Ausnahmen die einzige Richtung, in welcher die Numismatiker jener Zeit ihre Thätigkeit entfalteten. Erst in der Zeit des allgemeinen Wiedererwachens der Wissenschaften'^ wurde die Numismatik allmählig von jenen un- würdigen Fesseln des Dilettantismus befreit und durch Eckhel und dessen Schüler endlich derselben in der Reihe der Wissenschaften die ihr gebührende Stelle angewiesen. Dass aber gegenwärtig dennoch eine so grosse Anzahl von Dilettanten dieses Feld, häufig zum Nachtheil der Wissenschaft, zu cultiviren pfiegt, liegt nicht in dem gegenwartigen Standpunkte der Numismatik, sondern viel- mehr in der allgemeinen Liebhaberei unserer Zeit für die Denk- male früherer Perioden, in der Leichtigkeit, sich den Besitz der- selben für sein Geld zu verschaffen, mitunter auch in dem gelehr- ten Anstrich, welchen die Beschäftigung mit den Monumenten der -Vm*zeit dem Laien verleiht. Die genauere Kenntniss der antiken Münzen, des unstreitig fruchtbarsten Theils der Numismatik, ist freilich für diese Herren derjenige Kreis der Wissenschaft, welcher ihnen so zu sagen gänzlich verschlossen ist, indem die vielseitigen Bezüge , in welchen jene Münzen zur Geschichte , Geographie, Ar- «cbäologie, Mythologie, Kunst u. s. w. stehen, tiefere und umfas- sendere Studien erheischen, als diese bei den fast nur auf Ge-

554 Angelegenheiten der hütorischen Vereine.

schichte bezüglichen Münzen des lliltelalters oder der neuero Zek erforderlicb sind. Da nun freilich die Zahl der Numismatilcer von Fach der der llönzliebhaber gegenüber nur gering ist, so ist es natürlich, dass ein Verein, weicher zur Förderung numisma- Uscher Kenntnisse sich gebildet, eine bei weitem überwiegende Zahl von Münzliebhabern unter seinen Mitgliedern zahlt. Eine der- artige Gesellschaft aber, eben weil sie Personen in sich vereint, die den verschiedensten Lebensverhältnissen angehören und in Bezug auf die Münzkunde mit durchaus ungleichen Kenntnissen ausgerüstet erscheinen, bedarf deshalb auch durchaus einer ener- gischen Leitung. Männer, die durch ihre Leistungen auf dem Gebiete der Numismatik ausgezeichnet sind, die das Gesammtge- biet dieser Wissenschaft erfasst haben und von ihrem Standpunkte aus dasselbe vollkommen beherrschen, müssen sich dieser müh- samen Leitung so heterogener Elemente unterziehen, Sie müsseo die neuesten Erscheinungen in der Wissenschaft zur Keontniss- nähme des Vereins bringen und anregend und belebend auf öie Th'ätigkeit der Mitglieder einwirken. Wie weit der sehr ehren- werthe Vorstand des Berliner Vereins djese Ansprüche erfüllt hat, in wie weit die mannigfachen Klagen vieler eifrigen Vereinsmit- glieder, welche in der neuesten Zeit über die mehr und mehr zu- nehmende Theilnahmlosigkeit.und Lauheit in den Bestrebungen des Vereins laut geworden sind, gerechtfertigt werden können, wollen wir hier nicht näher untersuchen. Wir wollen vielmehr nur den Wunsch aussprechen, dass die Thätigkeit des Vereins für die Zukunft eine geregeltere und für die Wissenschaft erspriess- liebere als in dem letztvergangenen Jahre sein möge. Unterzeich- neter, welcher selbst die Ehre hat diesem Vereine anzugehören, hat es gewagt, ohne Furcht mit seiner Meinung anzustosseo, die Mängel desselben anzudeuten; er that es rein im Interesse der Geseilschaft und der Wissenschaft, zu deren Förderung jene zu- sammengetreten ist; seine Worte haben nicht den Zweck zu ent- muthigen, sondern nur den, auf die Bestrebungen des Vereins anregend einzuwirken.

Die Thäljgkeit des Vereins bestand bisher tbeils in einzelnen Mittheilungen aus dem Gebiet der Münz- und Gemmenkunde, so- wie der Heraldik, und im Vorzeigen sowohl einzelner, nameotlicb neuerer Münzen und Medaillen , als auch ganzer Abtheilungeo ^ Mittelalter oder dem Alterthum angehörender Münzen, tbeüs )0 grösseren Vorträgen über die obengenannten Discipiinen. Um zQ- vörderst von den Miltheilungen ersterer Art zu sprechen, so waren es namentlich die reichhaltigen Münzsammlungen zweier Vereinsmitgiieder, des Hrn. v. Rauch und Hrn. Cappa, jene dareh ihre antiken Münzen, diese durch ihre mittelaltrigen ood neoenf

Angelegenheiten der historischen Vereine. 555

vorzüglich durch eine grosse Anzahl wohlerbaltener Bracteaten «ausgezeichnet, welche in einer Auswahl der trefflichsten Exemplare der Gesellschaft vorgelegt wurden. Ferner veranlasste der von Hrn. J. Friediänder pubh'cirte Münzfund von Obrzycko mannigfache Discussionen über polnische Münzen, an welchen die Privatsamm- lung des Fürsten Radziwiil besonders reichhaltig ist und die durch ihren Besitzer bereitwillig mitgelheilt wurden. Nicht minder ver- dient die grosse Auswahl von Münzen und Medaillen der neuesten Zeit, zu denen, wir dürfen wohl sagen die schönstei^Slempel von mehreren der Vereinsmilglieder selbst angefertigt worden sind, er- wähnt zu werdei). Für die Gemmen- und Siegelkunde endlich zeigten sich die Herren Tölken und Vossberg, ersterer durch Pu- blication mehrerer bisher noch wenig gekannter Gemmen des Kö- nigl. Museums zu Berlin, letzterer durch Vorzeigung und Erklä- rung sehr gelungener Abdrücke deutscher Städte- und Kaisersiegel besonders thatig.

Von grösseren Vorträgen können wir liier nur diejenigen er- wähnen, welche in die Zeitschrift für Münzwissenschaft überge- gangen sind. Wir heben unter diesen zuerst eine Abhandlung des Hrn. Tölken hervor „üeber die Darstellung der Vorsehung und der Ewigkeit (Providentia und Aeternitas) auf rö- mischen Münzen'^ (Köhne's Zeitschr. Jahrg. 1844), zwei bildliche Darstellungen abstractcr Begriffe, wie solche in späterer römischer Zeit häufig als Gegenstand künstlerischer Darstellungen gedient haben, aber von Hirt, Miliin, Winckelmann und Müller mit Still- schweigen übergangen worden sind. Der Name der Providentia erscheint zuerst auf Münzen^ welche Augustus nach dem Tode Caesars, und Tiberius nach dem des Augustus prägen liess, als Umschrift um einen Altar; desgleichen auf Münzen des Galba und Vitellius. Providentia selbst als Göttin dargestellt begegnet uns zu- erst auf einer Münze des Titus, später häufiger auf denen des Trajan, M. Aurelius, Lucius Verus u. a. m., theils mit, theils ohne Namen. Sie erscheint stets als hehre Gestalt in langen Gewändern; Scepter, W^eltkugel und Füllhorn sind ihr als Attribute zugetheilt. Die personificirte Aeternitas erblicken wir, wie aus der Umschrift erhellt, zuerst auf einer Münze des Vespasian unter der Gestalt "^einer vor einem brennenden Altar stehenden verhüllten Frau, in den Händen das strahlende Bild der Sonne und der Luna haltend, eine Vorstellung, welche sich zuerst auf einer Münze des Titus wiederholt, sowie in ähnlicher Weise, jedoch ohne Altar, auf Mün- zen des Trajan, Hadrian u. a. m. Nicht selten führt die Aeternitas die der Providentia und der Tyche zuertheilten Attribute. Schliess* lieh giebt der Verf. ein genaues Verzeichuiss sämmtlicber mit dem . Bilde der Providentia und Aeternitas bezeichneter Münzen.

556 Angelegenheiten der hütorischen Vereine.

Wir 8ch1iessen hieran eine Abhandlung desselben Verf., welche unter dem Titel: ,,Iris die Götterbotin'' von der numisinati- sehen Gesellschaft als Programm zur Feier des Eckbel- Festes im Januar 1845 herausgegeben wurde. Eine jugendliche, weibliche Gestalt mit Scbmetterlingsflügeln , in den Händen den ungeflügelteü Caduceus, Aebren und Mohnköpfe haltend, welche wir auf einem geschnittenen Steine der Königl. Sammlung zu Berlin erblickeD, wird von Hrn. Tölken als Iris die Götterbotin aufgefasst. Mit grosser Genauigkeit werden zuerst alle. Stellen Homers und Hesiods angeführt, in denen Iris bald als Botin des Zeus, bald als die der Hera auftritt, von ihnen auf die Erde, in die Tiefe des Wassers und zum Hades zur Verkündigung göttlicher Befehle entsandt. Wie Hermes der Götterbote, ist sie die göttliche Bolin. Der Caduceas in ihrer Hand wäre somit durch ihr Amt motivirt, wenngleich die- ses Attribut ihr von den "Schriftstellern der Alten nicht zuertbeilt wird. Mobnköpfe und Aehren scheint der Künstler der Göitia deshalb in die Hand gegeben zu haben, um dieselbe als Todes- botin, als Bringerin eines sanften Todes für Frauen, zu charakte- risiren. Nur die Schmetterlingsflügel erscheinen uns für eine Iris etwas befremdend. Jedenfalls haben wir es hier mit einer jener vielen pantheistischen Darstellungen zu thun, wie dieselben sich so häufig in der späteren römischen Kunst vorfinden, in welcher die verschiedenartigsten , den älteren griechischen Göttern gänzlich fremden Attribute, einer Gottheit angeheftet werden. Auch berech- tigen Yirgils Worte: Ergo Iris croceis per coelum roscida pennis. Mille trahens varios adverso sole colores^' noch keinesweges zu der Annahme, dass die Kunst die bunten Federn der Iris in die Schmetterlingsflügel der Psyche umgewandelt habe. Virgil, der durchaus auf Homerische Vorstellungen eingeht, kennt Iris nur als die Homerische mit mächtigen Schwingen versehene Göttin. In dieser Aufifassungs weise erkannte auch Hr. Gerhard in jenen mäch- tig geflügelten Jungfrauen mit dem Caduceus in der Hand, auf mehreren Vasen des Königl. Museums zu Berlin , jene altgriecbische Iris, die Genossin des Hermes. Wir müssen annehmen, dass die Grundidee in vorliegender Darstellung die einer Psyche ist, welche als Eidplon vor Sterbenden dahinschwebend mehrfach erscbeiot, dass ihr der Caduceus, Aehren und Mohnköpfe von den spätere» Künstlern beigegeben wurden, um sie, wie Hermes schon bei Ho- mer als göttlicher Todesbote und Todtengeleiter aufgefasst wurde, als eine ähnliche Todesbotin zu charakterisiren, dass wir es also weniger hier mit einer Iris als Götterbolin, als vielmehr mit einer Psyche, der göttlichen Todesbotin zu thun haben.

B. Köhne, die Römischen auf die Deutschen und Sar- maten bezüglichep Münzen (Jahrg. 1843, 1644 der Zeitscbr.)»

Angelegenheiten der historiscken Vereine, 557

ütT Verf., welcher diese Abhandlang in einem Auszuge der Gesell- scbaft millbeille, giebt nns eine Schilderung der seit dem ersten Auftreten der Cimbern und Teutonen Jahrhunderte lang fortdauern- den Kämpfe der Römer mit ihren Nachbarvölkern germanischer Abkunft, und knüpft an dieselbe eine grosse Anzahl römischer Kaisermönzen , welche in ihrem Gepräge das Andenken an die Siege der Römer über jene Völker verherrlichen. Die Reihe be- ginnt mit einer Anzahl Münzen, welche Claudius zum Andenken an die Grossthaten seines Vaters, Drusus des Aelteren schlagen Ifess. Die beiden darauf folgenden beziehen sich auf die Wieder- gewinnung der in der Teutoburger Schlacht schmählich verloren gegangenen Legionsadler durch Germanicus. Der Verf. lässt darauf in einer langen, von einem ausführlichen Commentar begleiteten Reihe die von den Kaisern auf ihre Siege über ihre nordischen Nachbarn geprägten Medaillen folgen, welche in manchen Fällen nur einer lächerlichen Ostentation der Kaiser ihre Entstehung ver- danken. Mit Constanlin 11. schliesst diese Reihe ab, indem die auf späteren Münzen vorkommenden Worte: Triumphator Gentium Barbarorum, sich nicht speciell auf die Kämpfe der Römer mit obengedachten Völkerschaften beziehen.

Einen nicht minderen Beifall als der ebenerwähnten Arbeit, dürfen wir der mühsamen, von tiefem kritischen Scharfblick zeu- genden Arbeit der Herrn Pinder und J. Friedländer y^Ueberdie Münzen des Justinian^* (Savigny's Zeitschr. f. Rechtsw. Bd. XII. H. 1.) zollen, welche in einem Auszuge von Hrn. Pinder der hu- mismat. Gesellschaft mitgetheilt wurde. Wir heben Folgendes her- vor: Während die Kaiser vor Constantin d. Gr. nur die Jahrzahl ihrer tribunitia potestas auf Münzen zu setzen pflegten, hörte um die Mitte des 4ten Jahrhunderts diese Sitte gänzlich auf. Erst mit dem 12ten Regierungsjahre des Justinian wurde zuerst die Zahl der Re- gierungsjahre des Kaisers auf die Münzen geprägt. Zugleich wurde die Aversseile der Münzen, auf welchen bisher der Kaiser in krie- gerischer Tracht dargestellt worden war, dahin verändert, dass der Kaiser statt des kriegerischen Schmuckes den Reichsapfel er- hielt. Der Verf. lässt darauf einige Bemerkungen über die damals gangbaren Gold-, Silber- und Kupfermünzen, über ihre Einlhei- lung in Solidi, semisses und trimisses folgen, und entscheidet sich l>ei der mannigfach versuchten Erklärung der Münzinschrift CONOB für deren Zusammensetzung aus CONstantinopoli und dem grie- chischen Zahlzeichen OB für die Zahl 72, da seit Valentinians I. Zeit 72 Solidt ein Pfund Goldes ausmachen^ so dass GONOB die GoDstantinopoiitanische Währung des 72 Guldenfusses ausdrücken würde. Den Baupttheil der Arbeit aber bildet die reichhaltige und

A\}g. sklM^rift t 6«sdüe]»««.T. 1846. 38

558 Allgemeine Liieraturberichte»

nach den besten Originalen angeferligle Beschreibung der Münz^a Justinians, auf welche hier näher einzugehen der Raum verbietet Einige kleinere Arbeilen als: die Darstellung des Stand- bildes der Athene Cbalkioekos zu Lacedaemon, durch zwei Münzen erklärt (Jahrg. 1S45 von Köhne^s Zeilschr.), in welcher der Unterzeichnete mit Hülfe einer Münze von Lacedae- mon und einer anderen von Melos die Restauration einer Statue der Athene Cbalkioekos versucht hat; ferner: die Beschreibung eines Viltorinos, des einzigen in der von Kaiser Friedrich IL zur Bezwingung Parma's geschlagenen Blönze, eine recht hübsche Monographie von Hrn. Köhne; der etwas sehr oberflächliche Be- richt desselben Verf. über die Münzsammlungen Italiens (Zeitschr. f. Münzk. 1845)^ sowie ^dessen gar nicht der Münz-, Sie- gel- oder .Wappenkunde angehörige Abhandlung über den Feld- herrnstab des Kardinals Ascanio Maria Sforza (ebendas. 1845) wollen wir hiermit nur erwähnen und schliesslich den Wunsch aussprechen^ dass die Zeitschrift des Hrn. Köhne für die Zukunft, wo sie sich weniger mit den in der numismatischen Gesellschaft gehaltenen Vorträgen rekrutiren kann, durch Beiträge tüchtiger Gelehrter einen würdigeren Standpunkt einnehmen möchte, als das erste Heft des J. 1846 verspricht. W. Koner.

Beitrittserklärungen der Vereine.

Unserm Unternehmen sind neuerdings beigetrieten: 19) Der bistor. Verein von ünterfranken und Aschaffenburg zu VV^ürzburg. 20) Die Schleswig- Holstein- Lauenburgische Gesellschaft für die Sammlung und Erhaltung vaterländischer Allerthümer in Kiel. 21) Die Society d'bistoire de la Suisse romande zu Lausanne.

Allg^emeine liiteratarberichte«

Jüdische Geschichte und Literatur.

4. Die religiöse Poesie ^er Juden in Spanien. Von Dr, Michael Sachs. Berlin, Veit et Comp. 4 845. 8. 347 S.

2. Zur Geschichte und Literatur. Von Dr. Zunz. 1, Band. Berlin, Veit et Comp. 4 845. 8. 607 S.

Die grosse Nation, in deren Schoosse zuerst der Geist, der in der Natur und Geschichte lebt, zu seiner Erkenntniss gekom- men, deren Gesetzbuch vor allen andern das „Buch der Bu- cher*' geworden ist, die aus diesem Gesetzbuche die Völker der Welt belehrt und gebändigt hat, ist des Geistes nicht verlustig und diesem Buche nicht treulos gevirorden, auch als die politische Form ihres Lebens in Trümmer brach unter dem Sturuf der Ver-

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Allgemeine Literaturberichte, 559

h'ältnisse. Sie bat in die Zerstreuung, in die Verbannung mitge- nommen diesen Geist und dieses Buch und von beiden riss sie weder Tod noch Leid noch Ueberredung; sie hat aus diesen bei- den immer von Neuem geschöpft den Mulh der Erhallung und Meinung und dieses geistige Leben niedergelegt in tausend Wer- ken eigenthümlicher Färbung. Die originale Kraft, die in ihr wohnte und die sie zum ewigen Dasein kräftigte, hat umwogt und umstürmt von Feinden und Leiden für den Geist eine neue von dem Zaun des nationalen Gesetzes umfriedigte Welt geschaffen und die Ge« schichte des menschlichen Geistes und seiner Produkte hat, wenn sie eindringt in die immer noch neuen Elemente jüdischer Anstren- gung-und Anschauung, da einen bedeutungsvollen neuen Paragra- phen zu begii^nen, wo sie die noch unbeschriebenen zu bezeich- nen und beschreiben gedenkt.

Die jüdische Literatur, die seit beinahe zwei Jahrtausenden aus dem ewigen Geiste der Bibel herausgewachsen ist, die Volks- und Seelenleben mit der nur ihr eigenen Treue wiederspiegelte, die bis auf die jüngste Zeit sich anschliessend und anschmiegend an alle die verschiedenen geistigen Neigungen der Nationen, unter denen sie sich weiter entfaltete, gleichwohl den originalen an Ge- setz und Nationalleben sich anspinnenden Charakter bewahrt hat^ die im Mittelalter, wo aller geistige Schwung ermattete und erblich, einen auf allein jüdisch -nationale Sitte und Glauben begründeten Entwicklungsgang genommen und da einen höchst lebendigen, in gewissen Grenzen geschlossenen, aber höchst feinen und thätigen Geist gebildet hat, die selbst mitten in ihren Auswüchsen einem eigenen höchst bemerkenswerthen Zuge folgte ist gross und gewaltig, ist verpallisardirt durch eigene Sprache und Terminologie und verschlossen für den, der ausserhalb der Kenntniss jüdischen Lebens stehen zu können vermeint und unverständlich für den, der christliches Vorurtheil und mittelalterliche Geringschätzung als Schlüssel für ihre Lektüre mitbringt.

In gewissen Beziehungen war diese jüdische Literatur einst den Christen besser als den Juden bekannt. Das 17. und noch das 18. Jahrhundert sind erfüllt von Männern, die einen eisernen Fleiss und nicht geringe Sprachkenntnisse für die Erforschung jü- discher Literaturerzeugnisse mitbrachten. In derselben Zeit, in der über die Heiligkeit des jüdischen Alterthums von Christen gekämpft ward, Christen es angriffen und christliche Orthodoxen es verthei- digten, waren es christliche Gelehrte, die mit unendlicher Anstren- gung jüdische Schriften studirten und für Werth und Nutzen rab- binischer Arbeiten stritten. Plantavitius, Buxtorf, Bartolocci, viele Andere, vor Allen aber Job. Christian Wolf erwarben Ruhm und Verdienst; des Letzteren bibliotheca hebraea (1715—33) übertrifft

38*

560 Allgemeine Uieraiurberichie.

des Fabriciw BibKolfwiken an Fleiss und Belesenheit und madil aUes von Cbrislen geschriebene Ihm Vorhergehende überflössig.

Heut ist das ein Anderes. Auch die wissenschaftliche Anschaa- ung jüdischer Literatur haben die Juden zu begreifen und zu be- arbeiten begonnen und mit ungleich grösserem Erfolge. Etwas früher als Leopold Ranke seine Kritik der neueren Gescbichlschrel- her herausgab (1824), schrieb Leopold Zunz seine ausgezeicbnele Biographie des R. Salomo Jlzchaki, in der schon alle die neueren Mittel einer historischen Kritik angewendet sind und R. Salomo Jehuda Rapoport entwickelte in der biographischen ScbilderaDg grosser Manner der Nation ausserordentlichen Scharfsinn ondCom- binationstalent. Das Werk des Ersteren „die goltesdiensllicheo Vorträge der Juden", das 1832 erschienen ist, aber erst seit weni- gen Jahren etwas berücksichtigt wird, enthält in der Fülle geisti- gen Elementes, das ays einer Bibliothek von nie mit System ge- lesenen und verstandenen Büchern hervortritt, die BeantwortuDg aller der unnülzen und inhumanen Fragen, die Staatsmänner und Literaten über jüdische Verhältnisse und Ansprüche aufstellen; dar- aus hat der Berichterstatter in der Deputirtenkammer die Vergao- genheit der Juden zu lernen; daraus zu lernen, wie was anm jüdischen Gegenwart schmutziges, unedles, unfreies klebt, dicW aus der Originalquelle der Heimath, sondern der Kloake des Belo- tismus, des Zwanges und der Erniedrigung floss; daraus der Gelebrle und Geschicbtschreiber, der um Neues zu finden an Amerikas Ge Stade und in des Vatikans Tiefen sich begiebt, zu lernen, wie er die Bedeutung einer der geistigsten Nationen der Erde, öie trotz des Fluches, den das eigene Kind, das Christenthum über sie ao^ gesprochen, von diesem Fluche frei den inner» Kern bewahrt m erbalten hat. wie er die Geschichte seiner Nachbarn, Gespielen un Banquiers vernachlässigt, ignorirt und nie zu vergessen ein Re gehabt hat. Und das alles aus diesem einen Buche, das seit Jahren erschienen ist! Aber die jüdische Literatur braucht no eine Reihe so gearbeiteter, so geschriei)ener Bücher, bevor stejo^ nns liegt und in ihrem Werthe von Freund und Feind ««^"^^'^ wird! Und seit 13 Jahren lebt und wogt es unter den jüdisch^ Freunden dieser Literatur. In Italien, in Frankreich, in Bete'«'»' ' Galizien, vor allem bei uns sucht man und >arbeitet, sotiel kann und Müsse hat vor dem erdrückenden LebensbedüriD Und täglich erscheinen neue Erzeugnisse grossartiger Studien täglich mehrt sich die Zahl der Fleissigen und Studirendenj ^»«^^ deutsche Muse wächst die jüdische Wissenschaft ohne Mäcena »

es ist endlich an der Zeit, dass die christliche Welt w|«^^^fJ^' wache aus dem 50jährigen Schlummer, in dem sie sieb üö^f f" scbes Wissen gewiegt hat, dass sie, und mehr verlangt mao nie

Allgemeine Literaturberichte, 561

das gewähre, was in dem freien Reiche der Wissenschaft dem spe cielisten, minutiösesten Elemente gebührt, Anerkennung, Berück- sichtigung und Gleichstellung in Bezug auf Lehre und Lecture. Bernard de Rossi war der Letzte /der für jüdische Literatur ge- sammelt und recht eigentlich gearbeitet hat. Aber auch ein gros- ser Theil der Juden hat noch nicht hinreichendes Interesse für ihre Wissenschaft. Sie wissen nichts von ihr und fürchten doch den ausgesprochenen Tadel nationaler Bestrebungen; sie kennen sie nicht und sehen in ihr eine Trennung von der übrigen Weit. Sie sind leider noch voll von dem seichten Rationalismus, von dem unausstehlichen Raisonnement noch nicht lang vergangener Zeiten, sie haben noch nicht ganz reif für wissenschaftliche Arbeiten keine Achtung und keine Hülfe für diese; nur für diese haben „die Vor* lesungen über die Aufgabe des Judenthums'S die Hr. Dr. Stern im^ Winter 1845 gehalten hat, den Werth und den Einfluss erhalten können; aber grade zum Unterrichte für diese, zur Rettung dieser von böser geringschätzender Meinung von Aussen her, zur Yer« theidigung dieser Halbwissenden und Waffenlosen hat die jüdische Wissenschaft zu arbeiten und zu wirken. Das Wissen allein wird die Aufgabe lösen, die Schäden im Judenthume zu heilen, das Wissen allein, verbreitet und aufgenommen in Saft und Blut wird den Zwiespalt der Zeiten und Nationen ausgleichen; nur wissend und selbstbewusst, gewissenhaft gegen Vorfahren und Zeitgenossen wird die Nation erlangen, was erlangt werden kann und muss, was aber nicht im Sturm eines Abends, sondern in Mühen und Sorgen, nach Jahren aber sicher erlangt wird.

Die Wissenschaft gleicht immer dem Meere, das zu trennen scheint, aber mehr als Alles verbindet. .

Die Erscheinung obengenannter zwei Bücher haben diese jü« discho Wissenschaft wieder um ein gutes Stück fortgerückt. Beide treten mit dem Anspruch auf, auch von der christlichen Weit ge- lesen und gewürdigt zu werden; sie haben zu diesem Anspruch nicht allein das gemeingültige Recht des Individuums, sondern die grossartige Anlage beider, die Neuheit des Stoffes, den sie in sich tragen, die edele Form, in die beide diesen Stoff gekleidet, macht dieses Recht zu einem ausserordentlichen; sie wollen wenigstens im Geiste die Emancipation der Wissenschaft erobern; aber sie sind der Eroberung gewiss, wenn eben nur Leser zum Erobern da sein werden; wenn eben erst die Anerkennung gewonnen ist, dann wird es auch der Beifall sein.

Die Poesie der Juden ist schon einmal von einem Christen vor das grössere Pubükum geführt worden j Franz Delitzsch hat es versucht, für sie ein grösseres Blaass an Anerkennung zu sichern; diejenigen ; welche es gelesen, haben sicher am Stoffe fester ge-

562 Allgemeine Literaturberichte.

hangen, als der fromme Verfasser, den ein pietistischer Reuescbaoer überlief, so profanen Dingen Zeit und Anstrengungen gewidmet zu haben und dem eine hypercbristelnde Coquetterie doch nicht die im Innern seines Wesens schlummernde Liebe zur Dichlaog seiner Vorfahren verhüllen konnte. Das Buch von Sachs*) be- scbäfligt sich nur mit der Poesie der Juden in Spanien. Er holt aber weiter aus. Mit seltener Kraft und Fülle der Darstellaog giebt er den Entwicklungsgang des Judenthums seit der Tempelzerslö- rung durch Tttus an; in dem Kanon der Bibel ruhen für jede Phase dieser Entwicklung die Keime; zwei Elemente in diesem Kanon, ein stabiles und unverrückbares, das Gesetz und ^in be- wegtes, flüssiges, die Poesie geben auch der Entwickelung den Maassstab und Charakter. Die Bedürfnisse von Ort und Zeit, die Veränderungen in den jüdischen Verhältnissen hallen eine Bot- wickelung nothwendig gemacht; sie geschah mit fest an dem Bo- den des fiibelkanons hangender Ausdauer; sie wuchs aus diesem Boden allein in die freien Lüfle^ neuer bedingter Momente; das Gesetzliche im Pentaleuch ward der ewige Samen für den Bau dec religiös-juristischen Gedankens; das Poetische, das Flüssige io Psalmen und Propheten der Quell eines unendlichen Segenslro- mes, in* dem Geist und Gemüth des Israeliten sich spiegeln. DiesB Entwickelung geschah oder mussle auf legitime Weise geschehen; im Samen mussle alles gelegen haben, was die Zukunft baute; aus dem Quell musste alles geflossen sein, was den poetischen Geist der spätem Zeit durchströmte. Nur Deutung, Entwickelung, Er- klärung wollle die spätere Zeit sich zusprechen; sie resignirte auf das eigentliche Wesen der Produclion usd producirle lägüch; sie legte nur das was ihr Eigenstes, Geist, in das Recipirle hin- ein und verzichtete auf den Ruhm der Selbstständigkeit für den der Treye. Halacha und Hagada, Gesetz und Sage, wie sie sich im Laufe der Zeit zu unendlicher Fülle erhoben, wollen nur der Ab- druck früherer Absicht sein, wollen nur der Ausdruck der so laßg bewahrten Tradition sein; ihr einziges Streben ist, nicht neu son- dern eben alt zu sein; ihr einzriger Charakter nur die Form, d'ß , Hülle eines alten Gedankens und Willens zu sein.

Die Werke, in denen diese Entwickelung niedergelegt ist, sind für das Gesetz der Talmud, für die Hagada der Midrasch.

Die eigentliche Geschichte und Beschaffenheit dieser Werke kann hier in diesem kurzen Bericht nicht gegeben werden; wir verweisen auf das Buch selbst und auf seine vorzüglichste Grund- lage, die Forschungen von Zunz.

*) Ich verweise über Näheres auf meine grössere Recension dieses Buches in Frankeis Zeitschrift für religiöse Interessen. April-, W«l' """ Janiheft 4S46.

Allgemeine Literaiurberichte. 563

Nachdem Sachs dieses entwickelt und beiläufig die Meinungen sowohl derer widerlegt, die einen iMangel des Unsterblichkeitsglau- bens in der Bibel rügen*), als auch die der modern -rationalisti- schen jüdischen Schriftsteller, die der talmudiseh-midrasohischen Auf- fassung ein Unversländniss des eigentlichen Wortsinnes der Dtbel zulrauen,*auf das treffendste zurückweist, geht er in §. n. auf das We- sen der Giabete , der eigentlichen religiösen Poesie über. Stehende Gebete kannte die Schrift nicht. Freier Wahl War das Gebet anheim- gestellt. Erst ^Is die volksthümlichen Zeiten vorüber und das Reli- giöse das einzige Vaterland und Band der überall Verbannten wird, formulirt sich das Gebet zu gesetzlichen Normen. Die Lyrik der Psalmen ist sicher nicht aus dem Genie eines Einzelnen, sondern aus. dem Genius des Volksgeisles hervorgegangen. Das Gesang- buch der Synagoge nennt er es mit Köster. Darauf stellt er die Gebete zusammen, die sich schon im Talmud, der um das Jahr 600 abgeschlossen ward, wieder finden. Er folgt hier den For- schungen von Rapoport und Zunz, aber wie in allem hat seine Benutzung etwas midraschisches an sichj er giebt nur der For schung Vorhergehendes wieder, aber in dem "Wie des Recipirteu liegt eine neue Produktion. Auch nach dem talmudischen ZeitaU ter fasst noan unablässig Gebete ab. Peitana von noi^jiiig nannte man die Dichter; sie waren Sänger und Vorbeter zugleich; sie schöpften aus der midraschischen Dichtung der Hagada und ihre Phantasie umschlang jede Sage und fasste sie zum Gebet, die Piu- tim, das sind die Dichtungen der Peitana's, sind versificirte und künstliche Midraschim; sie brächten heimisch in der Sage,, durch ihre Gebete diese Sag« in aller Mundj die Eigenthümlichkeit der Form, in der si^ erscheinen, ist einzig in ihrer Art. Plötzlich, ohne dass man eigentlich wüsste woher, erscheinen diese Gedichte in einer ganz merkwürdigen Form; dergr^össte Kunstaufwand scheint an sie verschwendet; Akrostichen und Namenverschlin^ungen und die Versbildung nach den Alphabeten erscheint auf die mannig- fachste Weise, ohne dass diese- geschickteste und geschmückteste alier Künsteleien, die je auf poetischem Boden geschafi*en sind, dem Inhalt grossen Abbruch thäte. Die Dichtungen des Ersten dieser Peitanim, Elasar Kalir, dessen Vaterland und Namen selbst noch ein Problem sind, sind mächtig und furchtbar; dunkel und grossartig treten sie auf, den originalen Geist an der Stirne und Nachahmer nach sich ziehend wie Sand am Meere. Die Kalirischea Dichtungen haben in Deutschland und Frankreich vorzüglich Ver-

*) Auch Hegel. Dass Leibnitz schon die rechte Ansicht davon hatte, eine Stelle, die von Sachs nicht citirt ist, haDe ich in der Frankerschen Zeitschrift angegeben. S. 452.

564 Allgemeine LUeraturberichte^

ebrer gefunden. Spanien bat siob unter arabiscbem Einflüsse selbstständiger entwickelt *).

Spanien war (Sachs §. 3.) nach der Eroberung durch die Art- ber für die Juden ein glUclcliches Land geworden. Arabische Wis- senschaft und Poesie ward von ihnen aufgenouamen ; nameotiidi die aristotelische Philosophie fand unter Juden die eifrigsten Bea^ beiter und Forscher. Diese philosophischen Studien haben eioeo unbedingten EinQuss auf die Poesien der Juden gehabt. Wie elDst in Syrien Gnosis und Dichtung verschoiolz, so hier Philosophie und Poesie. Aus diesem Grunde versucht es der Verf. im Allge* meinen die Einflüsse des griechisch arabischen Geistes auf die Denkkraft der Juden darzustellen. Das Buch „der Glaubens- uad Sillenlehren'^ Emunoth wedeoth von R. Saadia b. Joseph aus Fayua (892 ^942) betrachtet er genauer. „Fast alle Denker jener Rich- tung, fasst er zusammen, waren auch Dichter und keiner von deo bedeutenden Dichtern jener Schule war der philosophischen Bil- dung uutheilhaftig."

Dann endlich $. 4. geht er auf die Dichter selbst ein, die er als die bedeutendsten btlrach(end dem Publikum im deutschen Ge- wände vorführt. Er unterscheidet dabei eine ältere und eine jäo- gere Synagogaipoesie. AU Vertreter der alleren nennt er R. Sa- lomo b. Jebudah Gabirol (in Saragossa um 1035 geboren, in Ocak gestorben). Mit diesem liebenswürdigen Dichter, dessen Meister- werk „die Königskrone'* Keter Malchuth er in deuUchen Versen wiedergiebt, beschäftigt er sich vor Allem; die philosophische Dich« tungsweise erläutert er durch Parallelen und Nachwelse aus den griechischen Autoren und späteren Auffassungen ^ allerdings so müssen die Dichter des Mittelalters behandelt wer^deo, namentlich die dieser Gattung. Es sind gelehrte Abhandlungen im poeüscbeo Gewände, die sie uns vorlegen; der Herausgeber hat diese Gelehr- samkeit aus 'dem Gewände herauszufühlen und anzudeuten v^r* standen. Ferner R. Josef ibn Stanas ihn Abitur bekannt seinerSchick« sale wegen unter Alhakem H. von Cordova. Endlich R. Isaai hfifl Jehudah ibn Giat aus Lucena, einem von Juden sehr bevölkerlco Orte, der nach Almakkari zum Sprengel Cordova's gehörte.

flevor er zu den jüngeren Meistern, die aber die grössern P' worden sind, übergehl, nennt er noch R. Becbai ben Josef ben Bakodah den Verfasser des philosophischen Volksbuches „von den Herzenspflichlen/*

Wenn er die älteren obengenannten als Dichter charaklcrfsirt hatte, bei denen Inhalt mehr als die Form galt und die begeistert und gelragen allein vom Gedanken nicht immer das rechte Ge*

*] Uebor meine VermothungeD von Kalir und den Vaterland der ^i^ Um verweise ich auf Frankers Zeitschrift S. 454 ff.

Allgemeine Literaturberichte, 565

wand fanden» in das sie ihn hüllten, so sind es die Koryphäen jüdischer Poesie, die er nun nennt, die die jüngere Synagogalpoe* sie bilden und in denen eine Kunstverschmelzung des sinnigsten Inhaltes mit der geschmeidigsten Form zu bewundern ist. -Alte sind sie wissend und von forschendem Geiste belebt; in allen tritt Gelehrsamkeit nur als die Unterlage eines in den glänzendsten Farben der Phantasie funkelnden Geistes hervor; Frömmigkeit und Hoffnung, unerschütterliches Gottesvertrauen und Sehnsucht spre- chen ihre Dichtungen aus; freilich braucht man um sie ganz zu geniessen, ein freies mildes Herz und eine frische nachfühlende Phantasie. Aber für Andere, als die diese himmlischen Gaben be* sitzen, ist keine Dichtung. Empfunden wird das Gedichtete nur von denen, die die Poesie in der Seele tragen, fi. Mose ben Ja- kob ihn Esra ist „von einer wahrhaft staunenswerthen Vielseitig- keit und einem unerschöpflichen Reichlhume/' R. Jehuda hallewi, der berühmte Verfasser des Buches Cusari, wird von dem poeti- schen Literarhistoriker Alcharisi also gerühmt: „Das Lied, das der Levit Jebudah gesungen ist als Prachtdiadem um der Ge* meinde Haupt geschlungen als Perlenschnur hält es ihren Hals umrungen Er des Sangestempels Saul' und Schaft wei- lend in den Hallen der Wissenschaft der Gewaltige, der Lie- desspeerschwinger, der die Riesen des Gesanges hingestreckt, ihr Sieger und Bezwinger.'^ etc. R. Abraham ben Meir ihn Esra der berühmte Exeget, Grammatiker, Philosoph, der als solcher den Christen schon mehr als Einer der andern Juden bekannt ist, ist auch ein geistreicher, gewandter, anmuthsvoller Dichter. Zu diesen fügt er noch einen Dichter Joab und R. Mose b. Nachman aus Gerona. In dem Letzten einem berühmten Commentator hat das kabbalistische Element durchgebrochen. Auf die Philosophie folgte immer das Mysterium. Auf den die Ketten lösenden, immer die sie wieder schlingenden. Das Schlusswort spricht von der Form der Poesie, ihrer Sprache und Rhythmen. Was er, hingerissen vom Gedanken der Dichter, dort nicht angegeben, die Mannigfaltigkeit nnd das Wesen der Form, das schliesst er in dieses Schlusswort ein. Dieser Abhandlung geht die Auswahl der Gedichte selbst voran; bis auf das Keter Malchuth die Königskrone, das in freien Reimen bearbeitet ist, sind die künstlichen Versmasse der Dichter auf das reinste und schönste nachgeahmt. Man erkennt den dichterischen Geist in diesem Nachfühlen des poetischen Schmelzes, der auf den Gedichten liegt und den Redner in dieser übergrossen Fülle von Worten und Blumen, in dieser ausserordentlichen Gewandtheit in Wendungen und Formen. Für Beispiele haben wir keinen Raum, wir bitten den Leser, sich das Buch selbst anzusehen; dafür dass es ihn anspreche, leisten wir gerne Bürgschaft.

56ü Allgemeine LiieralurbericMe,

Das zweite Buch ist eine neue Arbeit yon Zunz. Seit seinen 1837 erschienenen „Namen der Juden**, die aber eigentlich nur eine gelehrte Gelegenheitsschrift sind, halte der gelehrteste Israelit in jüdischer Wissenschaft nichts Grösseres ve r offen th'cht. Mit die- sem Buche hat er unter den Bergmassen seiner gesammelten Ma< teralien ein wenig aufzuräumen angefangen. Mit demjenigen, was er gegeben f hatte die breite Studienmanier vergangener Zeiten mehrere Folianten gefüllt. Er giebt ein massig starkes Buch, aber voll echt deutschen Pleisses und belebt von dem kernigen in We- nigem Alles sagenden Geiste, der sich wie bei nicht Vielen unse- rer Zeitgenossen in einem taciteiscben Style wiederspiegelt. Er war der Erste gewesen, der die Denkmale jüdischen Geisfes mit der Vielseitigkeit echter Bildung zu lesen verstanden hat; in die- sem Talent liegt der eigentliche Zauber seiner Bücher; wie ein Argus schaut er jedes Buch durch hundert Augen an; die verschie- denen Zwecke geizt er aus Allem und Jedem für seine Diarien heraus. Die gotlesdienstlichen Vorträge waren das erste grossar- tige Produkt dieser eine jüdische Wissenschaft schaffenden Stu- dienmauier; die jüdische Zeitgenossenschaft wusste kaum vom Vor- handensein so vieler Dokumente ihrer Ahnen, als Einer von ih- nen sie schon in dem Gewände echt germanischer Wissenschaft für sie zu benutzen verstanden hatte. Während die Meisten noch mit den Elementen rangen, in denen die Anfänge aller Wissen* schaftlichkeit verborgen liegen, war er bis in die letzten Stadien der Vollendung vorgedrungen und grade in diesem Sprunge von Anfang bis Ende liegt das Bathsel beantwortet, warum dieses Buch so wenig Anerkennung und Verbreitung gefunden. Der Stoff nicht nur in dieser Benutzung sondern auch in der Kunst der Verarbei- tung war zu neu geworden; die Leser konnten über die Massen von Voraussetzungen nicht hinaus, die der Verf. für sich schweir gend überwunden hatte. Zunz halte sein Buch für sich und die Zukunft geschrieben; diejenigen, die es geniessen sollten, mussten auf einer breiten Basis entweder von allgemeiner gelehrter Bildung oder von jüdischem Wissen stehen. Dass es jetzt gewürdigt ist, zeigt doch die schnellen Schritte, die er Einzelne nachzugehen ge- lehrt hat; in die populäre Kenntniss wird und kann es aber in dieser Form nie eingehen; es giebt keine Population, von der die grössere Menge voll von hiezu nölhigen Voraussetzungen wäre. Dieses zweite Buch ist zwar kein von einem Geiste belebter Kör- per; es besteht aber aus losgerissenen Erzslufen eines unendlichen Pleisses; es sind einzelne Abhandlungen, in denen die verschie- densten Themen jüdischer Geschichte und Literatur bearbeitet sind': auch von ihnen inuss man sagen, dass sie einen Leserkreis verlan-

Allgemeine Literaturberichie. 567

gen, wie er noch nicht sehr zahlreich vorhanden ist, dass sie von einem Standpunkt aus geschrieben sind, der eine weite Land- schaft von Wissen hinler sich liegen sieht, zu der' noch die mei- sten gar nicht gedrungen sind, dass sie die jüdische Wissenschaft wie eine behandeln, an der schon tausend Hände vorher thalig ge- wesen, während eben diese noch erwartet werden, dass sie ge- schrieben sind, als wenn der Verf. eine enorme Gelehrsamkeit auf- bieten müsste, um etwas Neues zu sagen, während doch so Vie- les, so Grosses, so. Wichtiges noch den Meisten neu ist, während «s ihm freilich wie ein längst Abgemachtes vorlag. Die Aufgabe seiner Zeitgenossen und Nachkommen wird sein die Lücke, die er eben zwischen dem Anfang des Wissens und seinen Arbeiten gelas- sen hat, auszufüllen; es ist ihm wie vielen Docenten und Rednern gegangen; er hat sich zum Maassstabseiner Arbeit genommen und nicht die Welt -der Zuhörer uhd Leser. Es ist wahr, die specia- len Studien gehen immer der allgemeinen Anschauung voraus; wir haben die glänzendsten Monographien in deutscher Geschichte aber keine deutsche Geschichte, wie sie auf diesen Monographien er- baut sein sollte; wir haben eine Legion Arbeiten und Studien in griechischer Allerthumskundö, aber weder eine griechische Ge- schichte noch Literargeschichte, wie sie verlangt und gebraucht wird. So ist es in der orientalischen Welt, so ist es überall; die hinzutretenden Jünger dürfen nicht eher ins Wasser gehen, bevor sie schwimmen gelernt haben; sie dürfen nicht anfangen zu ler- nen, sondern zu studiren; sie können nicht von aussen hinein, sondern nur von innen heraus kriechen; es giebt zwar keinen Weg- weiser, aber sie sollen ihn Andern zeigen und man hat zwar we- nig Zeit, weil unendlich viel zu lernen ist, aber man kann eben nicht mehr ersparen, als die, welche vor uns gearbeitet haben; wir haben weitere Wege und grössere Hindernisse, aber nur ebensoviel Zeit; die bibliographischen Riesenwerke unter den jun« gen Armen sollen wir die Riesenschritte, die im Geiste die alleren Geister gemacht haben, nachmachen. So beginnt auch die Litera- tur jüdischer Wissenschaft. Auf unendliche Fragen giebt nur der mündliche, nicht der schriftliche Zunz Antwort; seine Arbeiten sind End-Resultate, wir wollen Strassen, auf denen man zu ihnen gelangt, seine Abhandlungen sind Hafen, aber wir sind noch gar nicht auf dem Meere. Wenn er nicht selbst Rechnung legte, wer könnte ihn in Allem controlliren? Ein Paar. Wer übersieht selbst diese Rechnung? wer fühlt aus diesen zahllosen einfach hingestell- ten Notizen, wer aus der mit wenigen Worten gegebenen Charak- leristik das heraus, was nothwendig ist? Nur wenige. Es war daher ein günstiges Geschick, dass in den beiden Erzeugnissen dieses Jahres sich das Ergänzende zusammenfand. Sachs mit sei-

568 Allgemeine Literaturberichte.

ner glänzenden und neu schaffenden Auffassung war der gültigste Dolmetscher für alte Forschungen Zunzens und Rapoports,' der be- redteste Reise besch reiber für die von Zunz gezeichnete Landkarte. In dem Einen ist das Schaffen, in dem Andern Darstellen Natur. In der Art, wie sie beide dieser Natur folgen, sind Beide edel; nur mit dem Wissen von Sachs kann man Forschungen von Zunz in die tausendfarbigen Tuschkasten der Redekunst bringen; nur mit der Sachkenntniss und detn Gefühle des jungen Mannes kann man das von dem Senior angedeutete zu einem prächtigen Bilde herausmalen und vorstellen. Die Ar beiten Zunzens in diesem zwei- ten Buche müssen auf den Lücken füllenden Darsteller, auf den das zwischen ihnen verborgene Rand findenden Künstler warten, bevor sie das glückliche Schicksal einer allgemeinen Ausbeulung erreichen. Wir werden hier nur mit wenigen Worten den Inhalt der Abhandlungen angeben. Das Resultat aller ist, dass die christ- liche Welt nur einen Blick in dasselbe zu Ihun braucht, um Ach- tung vor solchen Bestrebungen, Ehrfurcht vor dem so lange ver« achteten jüdischen Geiste, um Liebe zu einer neuen Welt voo nicht gekannten Dingen zu gewinnen. Das Alterlhum und sein Ge* Schichtschreiber werden ihnen der Emancipation würdig scheinen« Wir bitten die Kenner des christlichen Mittelalters nur aus diesem Buche Vergleiche darüber anstellen zu wollen, welche Nation mehr als die Juden gethan hat, mehr dem Geist geweiht war, mehr für Sittlichkeit und Bildung der Zeit bestrebt und gesinnt war. Die 1. Abhandlung, „die jüdische Literatur" wird ihnen kurz sa- gen, was Christen, edle und grosse Männern zum Theil, für Fleiss und Mühe in früherer Zeit, was von Unwissenheit und auch Böswilligkeit die Gelehrten des 19. Jahrhunderts besessen haben« Die zweite Abhandlung, ein Meisterstück von Fleiss und SammeU talent, „zur Literatur des jüdischen Mittelalters in^ Frankreich und Deutschland" stellt ihnen eine Reihe von Glossatoren (Tosafisten), Exegeten (Commentatoren), Grammatikern (Punktatoren), Sittenleh- rern vor, von denen wir gern wissen möchten, welche Nation in wenigen Jahrhunderten mehr und grössere gehabt. An Zahl und zeitgemassem Wissen möchten sie wohl keiner weichen; auf die Auszüge aus den Sittenlehren wagen wir die Vorurtheilsvollen gern hinzuweisen; Zunz hat diesmal die Stelle Eisenmengers übernom- men; was er von Hirt anführt (pag. 123)*), möchte da Manchem ent- fallen, wie human er auch gegen seine jüdischen Zeitgenossen ge- worden ist. Die 6.. Abtheilung, die Charakteristik, ist eine Art Ar-

*) „Kaom hätte man in damaligen Zeilen solche Sittenlehren von Christen erwarten sollen, als dieser Jude seinen Glaubensgenossen hißr vorgeschrieben und hlnlerlassen hat.'^

Allgemeine Literaturberichte, 369

cbäologie des jüdischen Mittelalters, die den Leistungen eines Grimm ebenbürtig wird; wir wissen nicht, was wir ausheben sol- len und das Ausgehobene können wir nicht kürzer geben. Mögen die Leser dieses das Buch selbst lesen ; was Archäologie ist, scheint doch bekannt genug. In ihm ist sogar den Abschreibern von Co- dices ein Denkmal errichtet worden j er nennt gegen 100. Die aber in neuester Zeit, die jüdische Forschungen ohne sie zu nennen benutzt haben, hat er nicht aufgenommen. Er spricht blos vom Mittelalter. Die 3. Abhandlung enthält Bibliographisches:

1. Datenbestimmungen; es sind Berichtigungen und Deutungen von Jabrzahlen, die für jüdische Literaturgeschichte wichtig, aber missverstanden sind.

2. Sammlungen und Verzeichnisse. Ueber Bibliotheken und Ka- taloge wird hier gehandelt.

3. Drucker und Drucke von Manlua von 1476—1662.

4. Druckereien in Prag.

5. Annalen hebräischer Typographie von Prag von 1513 1657, Die Bibliographien haben noch wenig von dem hier enthaltenen. Ebert und Brunei haben das Jüdische immer christlich behandelt. Die 4. Abhandlung, „das Gedachtniss der Gerechten*^ enthält die Zusammenstellung der Formeln, deren man bei den Juden sich im Angedenken an die Todten bediente. Er giebt zuerst die allge- meinen Redensarten des Segens und Grusses; dann diejenigen, io denen man der Todten gedachte; dann stellt er die Meinungen zu- sammen, wie Juden über die Seligkeit von Juden und NichtJuden dachten. Ein sehr lehrreicher Aufsatz für alle, welche sich mit der Seligkeit der Juden hier und jenseits beschäftigen. Dann folgen jüdische Grabsteine und ihre Wichtigkeit für die Kennlniss jüdischer Genealogien. Dann die Formeln, die auf den Grabstei- nen stehen; die Literatur der Abbreviaturen und Verbesserungen von Dingen, an die die germanische Gelehrsamkeit für jüdische Elemente nicht gedacht hat. Es ist nicht möglich, die Hasse des in diesem Aufsatz Gegebenen nur irgend kurz anzugeben; ich weiss nur das catonische „ceterum censeo*' librum esse legendum. Der 5. Aufsatz behandeli die jüdischen Dichter der Provence. Von denen in Spanien war oben die Rede. Er giebt hier nur Namen. Ein Späterer wird auch sie lebendig machen. An jüdische Trou- badours kann ein Moderner freilich nur lächelnd denken. Aber auch mehr Herz als in H. Heine ei^istirt, haben sie besessen. Der 6. Aufsatz ist die Geschichte der Juden in Sicilien nach Giovanni und den jüdischen Quellen. Für diejenigen, die von jüdischer Ge- schichte noch nichts Rechtes wissen, diene vor Allem, dass Zunz 51 enge Seiten über Juden in Sicilien schreibt. Der letzte Auf- satz über Münzkunde muss jeden Historiker und Numismattker in-

570 Allgemeine Liieraturberichte,

teressiren. Nachträge und Verzeichnisse der Codd. folgen. Einen Index dazu hat mein Bruder Dr. David Cassel hinz ugefügt und so wären wir mit dem Buche fertig, rascher, als der Verf. es vollen- det, wir es gelesen und die christlichen Wissenden ein Endchen Zeit und Sinn für diesen neuen Gang im Bergwerke des Wissens gewonnen haben werden.

3. Neuere Geschichte der Israeliten von 4845 4845. Mit Nachtragen ond Berlchtlgungeo zur filteren Geschichte von Dr. J. If. Jost. £rste Ab- theilung. Deutsche Staaten. Berlin, 4 846. Schlesinger.- 8. 385 S.

Einst war die Theologie die Grundlage, auf der sich die jü- dische Geschichte für üearbeiter und Leser erhob. Nicht blos für die. Christen, und es genügt hier Prideaux und Basuage zu nennen, sondern auch für die Juden, die sich des historischen Stoffes zur Darstellung annahmen, war das Religiöse allein gültiges Moment Ben Verga, R. Gedalia, Sacuto am Ende des 15. Jahrhunderts, hatten eben nur für die theologische oder religiös «nationale Seite der Geschichtschreibung Sinn. David Gans schrieb zwar eine Chronik nach dem Muster seiner Zeit; Spangenberg, Gollius nennt er zwar seine Quellen und er kennt auch den Gedanken der qua- tuor summa imperia, über die noch sein Zeitgenosse Sleidanus ge- schrieben, aber das ist eben nur der zweite Tbeil seines Werkes; im ersten folgt er ganz dem literarisch -religiösen Zuge, dem die früheren gefolgt sind und der sich mit Aufzählung der Namen und auch der Schriften der grossen Männer der Nation begnügt, im achtzehnten Jahrhundert ist es der erstaunlich fleissige R. Jechiel Reilbron in Minsk, der auf diese Weise Geschichte und Literatur- geschichte in einander schmolz. Für das Bedürfniss des Volkes hat R. Menachem Balievi besser als alle früheren 'das historische Moment, wenn auch am religiösen hängend, zu bewahren gewusst. Die Zeiten, in denen durch die Theologie die Weltgeschichte angesehen ward, sind vorüber. Politik und Recht treten an ihre. Stelle. Die jüdischen Geschichtschreiber konnten nicht mehr Got- tesgelehrte sondern mussten Jurisprudentes sein. Die eigenthüm- liche Stellung der Juden zu den Christen um sie her gab die Ver- anlassung. Als das achtzehnte Jahrhundert nichts mehr glauben wollte, verwarf es zwar auch das alte Testament, aber es will die Juden eben deshalb, frei und emancipirt wissen. Schon Locke und Bolingbroke hatten das ausgesprochen. Da man diese Emancipalion nicht geben konnte oder wollte, so musste dem entgegnet werden, I aber nicht mehr durch theologische, sondern durch staatsökono-

' mische Gründe, und so' entstand die grosse Literatur, die auf

\ staatsrechtlichen Elementen basirt die Möglichkeit einer Emanci-

pation der Juden seit^Dohms Buch über die bürgerliche Verbes- serung der Juden bespricht. Auf ähnlicher Basis aber immer noch

Allgemeine Liferaturberichie. 571

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mit theologischen Gründen verschwistert war die Aufnahme der Juden in England möglich geworden: würde Menasseh ben Israel sein Wort gelöst und die Geschichte seiner Nation geschrieben haben, wir hatten in ihr die Mischung theologisch -politischer An- sichten, nach denen schon damals das Verhältniss der Juden in England gemessen ward , deutlich gabren gesehen. Die Wellen der Revolution und der sie erzeugenden Ideen hatten sich schon an den Köpfen deutscher Philosophen und völlig an dem heiligen Bunde gebrochen. Die Theologie rang wieder nat^h lang verlorener Geltung. Die echte solide Wissenschaft war wieder zu Ehren ge- kommen und den Juden machte man, als etwas was nothwendig zusammenzugehören schien, das kaum in den Stürmen der Be- wegung und Noth Errungene streitig. Hier griff der Staat zu der juristischen und staalswissenschaftlichen Frage über die Möglichkeit jüdischer Freiheit und an das Jahr 1815 knüpfen sich dann zahl- lose Streitschriften für und gegen eine Berechtigung, die an sich zu natürlich ist, als dass eben nicht der Sophismus allein und der böse Wille Gründe gegen sie zu finden und aufzustellen im Stande sein sollte. Es begann also ein neuer Kampf; es bemühten sich die jüdischen Apologeten vergeblich, weil es unmöglich ist, den Sophismus zu vernichten; er war nur da um hinter gewissen und ungewissen Gründen das Nein zu verbergen, was auf alles Dispu- tiren und Petitioniren erfolgen musste. Was die Juden von Rech- ten der Humanität etc. sprachen, halten die Verweigerer schon vorher gewusst und es hat etwas komisches zu glauben, dass ein Jahrhundert, das stolz darauf ist freier als die Griechen zu sein, weil es keinen Helolismus anerkennt und so viele Menschen unter seinen Söhnen zählte, über die Bedeutung der Humanität belehrt werden müsste; man wollte nicht und will nicht und darin iist Alles eHthalten, was der Gegner sagen und der Freund bedau- ern kann. Einen bösen Willen, der sich auf böses Vorurtheil stützt, konnte man nicht überzeugen und wenn die ganze Juden- beit, um das Möglichste zu thun, auf einmal zum Schusler- handwerk, so ehrenvoll es ist, sich bekehrt hätte. In die Zeit dieses Kampfes fällt die Abfassung des grossen Geschichtswerkes von Jost, das in 9 Bänden die Historie der Juden von den Macca- bäern bis 1815 darstellt. Es ist hier weder Ort noch Zeit ein nä- heres Urtheil über dieses Werk zu fällen. Es hat die Mängel seiner Zeit und es ist sein grösster Fehler, was sehr richtig ein christ- lieber Autor von ihm gesagt hat: „Die Onpartydigheid die de Scbryyer zieh ten plicht haft gesleld is zoo groot dat men wel eens twyfell of men het Werk van een Joodschen Schryver leest". Auch über das i^ue Buch, das oben genannt ward, kann hier keine eingehende Meinung dargestellt werden. Es umfasst die

572 Attgemtine Literaiurberiehte,

RecbtsTerb'äKnisse der Jaden in sammlllchen deatgcben Staaten, ^\e sie sieb bis auf den beatigen, Tag entwickelt baben, bespricht ziemlich ausnJhHich diese Entwicklang und scbliesst, obschon ein besonderer Abschnitt für die Culturgeschicbte der Nation noch be- sonders versprochen ist, lokale Notizen über einzelne Notabilitäten derselben, als die fiinflüsse der Recblszuslände auf die Juden niebt minder bezeichnend, daran an. Bei der Zahl der deutschen Staaten wäre hier auch nur das kijirzeste Resam6 zu weitläufig, besonders, da in den^ grössern Staaten wieder besondere Gerechtsame in den verschiedenen Provinzen beliebt sind. Der Verfasser blieb aach hier bei seiner Unpartbeilichkeitstbeorie stehen, doch freut man sich sehr den Eindruck der Zeit auch hier kennen gelernt zu haben, Jost hat seine neunbändige Geschichte geschrieben als ein Zeitge- nosse Friedländers und der jüdischen Aufklärer, die mit begel* schem Christenlhnm kokelttrten ; er schrieb sie als Mensch, der je weiter er die nationale Hölle wegwarf, desto tiefer und würdiger seine Nation zu schildern glaubte; er gehörte zu den Wissenden, die der Mode nicht zu widerstehen im Standewaren, das jüdische Alterthum als etwas unförmliches und unchristliches zu verstecken und mit scheelem Auge anzusehen; diese Zeit glich wirklich der, wo die heimlichen Juden in Spanien in Kellern und unterirdischen Ge- mächern am jüdischen Ritus vom täglichen öffentlichen Zwange sich erholten. So schwelgten auch sie, weil sie noch dasJödiscbe kannten, versteckt in den Reizen alterlhümlichen Wissens, aber das Licht des Tages, das nur die christliche Sonne bescbien, durfte in diese heimlichen Genüsse nicht fallen. Beute ist das doch An- ders. Jost schreibt als Jude für Juden und Christen; Wissenschaft und Nation algefuhl ist wieder zur Geltung gelangt. Man schämt sich nicht mehr Jude zu sein und ein jüdisches Alterthum zu bä- hen, und man fängt an dieses Alterthum, and das ist der grösste Sieg den Zunz erfochten hat, dieses AUerthum mit den Augen zu betrachten, mit denen man griechisches, römisches und ägyplt- sches ansieht. Selbst die modernen Aufklärer sind von den Alten unterschieden; sie klären auf, weil sie nichts wissen und verach- ten nur eben das Nichtgekannle. So werden die Zeiten immer besser und der nächste Band der Jost'schen Geschichte wird uns bei der Darstellung der slavisch -jüdischen Rechtsverhältnisse wohl das Erfreuliche bringen, dass von der krakauer Revolution die Freiheit der Juden übrig geblieben sei. Man wird nicht umhin können, das Beispiel des Bey*s von Tunis nachzuahmen.

Selig Cassel.

Ueber die RabbinerversammluDg des Jahres 4 650. Eine histor. Ab- handluDg von Selig Gassei. Berlin, fiacbb, des BerI.*Lesekabioe(s , 4845. 8. 55 S.

Allgemeine LiteraturbericMe, 573

Ungarn und Siebenbürgen»

Historisch* genealogisch -geograpbiscber Atlas zur Ueberslcht der Ge- schichte des ungarischen Reichs und seiner Nebenländer von Joseph Be- deus von Scharberg, königl siebenbürg. Hofrath und Oberlandescommissaire. Hermannsiadt 4 845. Fol. Druck und Verlag der von Hochmeistcrschen Crben (Theodor Steinhaussen). £rste Lieferung.

Mit Recbl macht der Verfasser die Kenntniss der vaterländi- schen Geschichte zu einem Kriterium allgemeiner Bildung; niemals mehr als heut ist den. Völkern genaues Wissen von ihren Vor- fahren und dem Leben dieser in politischer und ethischer Bezie- faimg oothwendig; weil eben alle Gegenwart auf den Pfeilern des Vergangenen ruht muss für die Beurtheiler dieser die Kenntniss der früheren Dinge durchaus aHein Basis* werden; erst das Wie des Entstandenseins erklärt das Bestehen.

Die Zahl der Werke aber, aus denen jedermann lernen und schöpfen, aus denen jeder die Lücken des Gedächtnisses ausfüllen kann, ist, wenn mit Geschmack und etwas Strenge gesucht wird, bei uns gering, in Ungarn und Siebenbürgen natürlich noch unbe- deutender. Erst die Generalversammlung des Vereins für sieben- bürgiscbe Landeskunde hat den fühlbaren Mangel einer vaterlän- dischen Geschichte ausgesprochen und sucht sie durch einen aus- gestellten Preis für deren Bearbeitung hervorzurufen; ein Tabel- lenwerk, aus dem man eine Uebersicht über die Gliederung und Verbindung des gesammten Ungarischen Reichs gewinnt, hat noch nicht existirt.

Bedeus von Scharberg hat von jeher für die Verallgemeinerung historischer Kenntnisse in seinem Lande zu wirken gesucht; er will das Gewusste in eine Sphäre zusammenbringen, wo es jeder leicht übersehen und sich zu eigen machen kann; auch in seiner „Verfassung des Grossfürsten thums Siebenbürgen^* ist klare An- scbatilichkeit und lexikalische Zusammenstellung sein eigentlicher Plan; dasselbe spricht er io seiner als Vereinsvorsteher bei der Generalversammlung von 1844 gehaltenen Rede aus (Vereinsalbum p. 2^ etc.) und ganz dieser populären Kenntniss ist das grosse Werk gewidmet, von dem jetzt die erste Lieferung vorliegt. Das ganze Werk wird in drei Tbeile zerfallen, von denen der erste „di? Vorzeit oder Geschichte der Ungarn und ihres beutigen Va- terlandes bis zur Ankunft daselbst, also 500 vor Chr. bis 900 nach Cbr/S der zweite Theil „die Geschichte Ungarns, Siebenbürgens und der Nebenländer von 901 1800"*, der dritte „den Schauplatz der Gestiebte der Ungarn oder den Zustand Ungarns, Siebenbür- fieos und der Nebenländer von der Herrschaft der Römer bis zur jetzigen Zeit, van 200 -- 1800'' darstellen wird* Die Nebenländer werden in weiterer Bezeicboung verstanden und daher TabeUen

Allg. ZMUchrift r. 0«tchiekto. T. 184«. 39

574 Allgemeine Literatnrberichte,

über die Geschichte Oesterreichs, Böhmens, Polens, des deutschcD, byzantinischen und osmanischen Reichs binzagerügf. Gewissen Landern wie Neapel und Venedig nebst andern ist nur für die Zeit näherer Berührung mit Ungarn das Recht einer Tabelle zuge- standen worden. Während der erste Theil nur 3 Tafeln und eioe Karte enthalten wird, sind 14 chronologisch-synchronistische Tabel- len, 15 Geschlechtstafeln ungarischer Herzoge und Könige und 4 siebenbürgischer Fürsten für den zweiten und 8 Karlen für den drit- ten bestimmt. Hiezu kommen Zugaben, wie bei dem zweiten die Abbildung der ungarischen Krone, beim dritten die Beschreibung aller Wappen der ungarischen Lander und Provinzen von einst und heute.

Die erste Lieferung enthält aus dem ersten Theile die zweite Tafel, die die Geschichte jener Völker, mit welchen die Ungarn bei ihrer Einwanderung nach Europa in Berührung kamen und die dritte Tafel, die die Geschichte der Ungarn vor 900 und die Meinungen über ihren Ursprung zusammenstellt; aus dem dritten Theil ist die erste Karte gegeben, welche den Zustand der Länder, in denen sich die Ungarn niederliessen, um 200 n. Chr. beschreibt.

Ein Urtheil über den Werth dieser Tabellen mag erst später bei besserem Ueberblick über Jdas Ganze oder einen grösseren Theil gestattet sein; für jetzt genüge diese Anzeige, die das Werk allen Freunden ungarischer Geschichten zur Beachtung empfiehlt.

Magazin für Geschichte und Literatur und alle Denk- und Merkwür- digkeiten Siebenbürgens. Im Verein mit mehreren Vaterlaudsfreunden herausgegeben von Anton Kurz. 1. Band. 4. 2. Heft. Kronstadt 4844. Joh. Gott. 3. Heft. 4 845.

Der Herausgeber dieses Magazins ist derselbe, von dessen „Nachlese auf dem Felde ungarischer und siebenbürgischer Ge- schichte'^ wir schon früher ein Wort gesagt (Zeitschrift Bd. 2. pag. 375) und dessen Schreiben über historische Thätigkeit in Sieben bürgen als Nachtrag zu unserem Aufsatze (Bd. 3. p. 94) mitgetheilt worden ist

Er gedenkt in so fern eine Lücke in siebenbürgischer Wissen Schaft auszufüllen, als er sein Werk der Geschichte und Literatur allein widmet, während das Vereinsarchiv die gesammte Landes- kunde zu ihrem Objecto wählte. In der That mag das auch%on erspriesslichem Nutzen sein können und an eine feindliche Con- currenz mit jenem ist gewiss nicht zu denken; eben so richtig, als der Gedanke des genannten Vereins ist, die gesammte Landes- kunde durch ihre Schriften zu fördern, ebenso gut ist es, wenn so viel ändere gelehrte Productionskraft ausser demselben im Lande exiistirt, um der Geschichte allein eine fortlaufende Reihe von Auf- sätzen zu widmen. Der Verf« IsX zur Herausgabe des Magazins

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Allgemeine Literaturierichte» 575

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von Herrn Grafen Jos. Kemöny aufgefordert worden, etwas, was er zwar nicht in der Einleitung dazu, aber in dem Schreiben an Prof. Schmidt aussprach (Zeitschrift 3. p. 96) und aus Mittheilungen die- ses gelehrten und fleissigen Mannes bestehen zum grössten Theile die bis jetzt erschienenen Hefte.

Wir können nun nicht verhehlen, dass das ganze Werk, bei aller Verdienstlichkeit, die die Thatsache für sich in Anspruch neh- men kann, noch immer den Stempel einer wissenschaftlichen Un- reife, eines Mangels an echter historischer Durchbildung und An- schauung trägt; namentlich muss das von dem Vorworte des Re- dacteurs gellen. Er spricht z. B. von der Rührigkeit, die im For- schen und Produciren in Deutschland herrscht und nennt dabei als Beispiele die Zeilschrift für deutsches Allerthum von Haupt, Kruse's Werk über die liefiändischen Alterthümer, die Jahrbücher von Bülau, die Zeitschrift von Schmidt, den Verein für Alterthums- kunde in Ulm und (!!!) die Geschichte der europäischen Staaten von Heeren und Uckert, Erscheinungen, von denen man eher ver- muthen möchte, dass sie, was die ungemein genaue Angabe der Verleger bestätigt, der Verf« nur aus buchhändlerischen Anzeigen in der allgemeinen Augsburger Zeitung, die er citirt, und nicht aus eigener Lektüre kenne. Hätte er nur die Schmidt'sche Zeitschrift etwas genauer gelesen, so würde er nicht Einen Verein, son- dern aus Klüpfel's Aufsatz (Bd. 1. p. 519 etc.) das Dasein von mehr als 44 Vereinen entdeckt haben; es wäre aber gewiss trau- rig, wenn obige genannten Bücher die alleinigen Zeugnisse deut- schen Fleisses wären und wir müssen schon Herrn Kurz bitten, sich etwas mehr mit der historischen Literatur Deutschlands be- kannt zu machen oder nur an dieMonumenta Germaniae zu den- ken. Aber sogar, was er von siebenbürgischer Literatur angiebt, die seit den letzten Decennien des 18. Jahrhunderts erschienen sei, ist weder genügend noch charakteristisch genug dargestellt. Die Kenntniss der hier genannten Erzeugnisse hätte wenigstens von den Lesern einer gelehrten Zeitschrift vorausgesetzt werden sollen» zumal wenn es eben nur die bekanntesten Büchertitel sind, die hier an ganz unpassendem Orte genannt werden. Gegen den Ver- ein äussert sich wie versleckt auch eine gewisse Bitterkeit in dem- jenigen, was von ihm gesagt wird; es scheint mir beinahe, als ob auf feindlichem Gefilde zwei Lager aufgeschlagen seien, deren Heere sich wenigstens beobachten. Der alte] Streit zwischen Deutschen und Nichtdeutschen in Siebenbürgen scheint auf die Gelehrten übergegangen zu sein. Das eine Lager bildet der Ver- ein, wie die ganze deutsche Genossenschaft aus Männern beste- hend, die der Arbeit des Lebensberufs nur einige Stündchen für die Müsse entziehen können; das andere Graf Job. Kem6ny, wie

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576 Allgemeine Literalurberichie.

ein ungarischer liagnal in ongehaarem bequemen Besitze von Ma^ terialien, aus denen nur geschöpft zu werden braucht, wenn das freilich auch zuweilen ohne Maass und Tact geschieht. Hier Einer, aber ein Mächtiger, dort Viele, aber vom Leben mehr in Anspruch genommene. Unser Kurz freilich, der das Organ des Herrn Gra- fen Kemöny geworden ist, ist ein Deutscher j es haben Deutsche zu- allen Zeiten bei allen Parteien friedlichen und kriegerischen gedient. Was Herr Kurz von dem Mangel an Verlegern und Käu* fem der Bücher in Siebenbürgen sagt, kann und wird gewiss rich- tig sein; dass er aber von den deutschen Gelehrten, die sich für Siebenburgen interessiren, verlangt, sie sollten dieses Interesse bald bezahlen und eine Reciprocitat in dem Bücherkauf zwiscbeo Deutschland und Siebenbürgen will, ist etwas anspruchsvoll. „Denn lange genug haben wir uns von seinem Büchermarkte versorgt,*' sagt er von Deutschland. Das war nothwendig und ist es im- mer noch; Deutschland hat nicht Geld genug, seine Erzeugnisse zu kaufen; eine Uterarische Dankbarkeit dafür, dass die Colonie von dem Mutterlande gelernt hat und noch lernt, ist, wenn sie verlang! wird, komisch, wenn sie da ist, für die Colonie ein Glück. Sol- len Eltern für majorenne Kinder ewig sorgen? Nur bei Unfähigen und Missgestalteten ist das eine dauernde Pflicht»

Folgende Aufsätze sind im Magazin enthalten: 1. Offenes Be- kenntniss meiner Ansichten über das Schreiben einer Geschichte Siebenbürgens vom Grafen Kemeny. Die deutschen Aufsätze des gelehrten Grafen leiden an Formmängeln, die die Lektüre unange- nehm machen; zuerst die gesuchte klassische Gelehrsamkeit, die nach veralteter Weise mit lateinischen Citaten prunkt und Ovid und Seneca etc. an sicher ungehöriger Stelle auftischt, dann ein gewis- ser Wortüberfluss bei Dingen, die sich von selbst verstehen und an die amoenilates llterariae vergangener Jahrhunderte erinnern, wo die gelehrten Autoren eben in Form und Inhalt sich es schlaf- rockmässig bequem machten ; ebenso ein Herbeiziehen allgemeinen Wissens, das, wie schätzbar auch, doch meist hier unnöthig ist. Es stehen auf den 14 Seilen gewiss eben so viele unnütze deutsche und lateinische Citate, z. B. p. 1. vita brevis ars longa, p. 3. sie abit bistoria in lougas errorum generationes sagt Huber- tus Languetus, p. 5. non in verba magistri jurare sed scripta ru- minare decet historiographum sagt Gronovius; p.8. et quis veritatem in poeta requirat sagt Mabillon , p. 13. vera sunt non debent dici; incidit in Scillam qui vult vitare Gharibdim etc. In der Sache selbst trifft er das Rechte und dringt auf Kritik und Quellenstudium. Bei den Mustern aber, die er giebt, scheint es, als ob er die kri- tischen Werke über mittelalterliche Quellen, die in Deutschland er- schienen, gar nicht kennte; selbst da er sich mit Paulus Jovios

Attgettmne LiieratUrberichte. 577

(der immer ung/Mum Paulo Glovk> beisai) bescbäfüfti^ isi itMU 4er io* teressanto Aufsatz von Ranke nichi 2u Gesicht gekoiuiDeD uod über das Abscbreiben des einen Autors vom andern, aite bisto* riograpbiscbe Sitle, die kein Plagiat beabsichtigt, erstaunt er wie über etwas Unerhörtes. P. E, MUUer's Kritiken über Saiu» werden als Muster empfohlen and Saxo selbst, oUne dass man weiss« wie so gerade er bieher kommt^ erhält eine viel zu hohe Stelle über alle andern Chronisten des Mittelalters. So arg ist das nicht und Keineny tbot Niobtgekannten Unrecht. Kritische Arbeiten über Autoren wie Jovius kosten Mühe, aber man mnss davon nicht re- den, denn es versteht sich von selbst. Auch wusste Eder, dass Siinigianas den Giovio beoutzt hatte, den er an mehreren Stellen vertbeidigt (ss. rer. Trans. I. p. 11* 241 etc.). Somogyi^s Scbrift ist nur eine Parteischrift für Zapolya gegen Oesireich und nur in so fern bat sie grossem Werth. Was er von dem Zweifel über W. Bethlen's Werk sagt, das man den Polen Vengiersky und Grondzky zuschreibt, so ist das schon bekannt, cf. Haner ss. saec. XVn. p. 348. Wallasky Consp. p. 217. not. d< Ungarisches Maga- zin 1. p. 68 etc» Aus der handschriftliche» Vergleichung des Grondzky'schen Werkes mit Bethlen^s bistoria scheint allein das Rälbsel gelöst werden zu können | wahrscheinlich stehen die Po- len in dem Verhältnisse von Secreiarien zum Daten liefernden und aufmunternden Herren; dass Betblen es ganz und gar verfasst, ist erst später gesagt worden; gewiss hat weder dieser ein Plagiai begangen, noch isl ein genügeiKler Grund für diese Vermulhung; es ist »ichts seltenes im 16. und 17. Jahrhundert, dass die gros- sen Herren aus ihren Daten und unter ihrem Namen ein Buch schreiben Hessen, das freilich ebenso gut dann dem Schreiber ge- hörte. 2. Michael Cserei voff Nagy-Ajtap. Ein biographischer Ent- wurf von Anton Kurz, Hier kommen folgende Phrasen tör:. „der von der Geschichte verkafmxt« Beldi Pid." (p. 19.) „Es war also, wie man sieh auszudrücken pflegt, ein ganzer Mann ein Cha- rakter würde Göthe sagen .*^ ^. Ein Bruchstück über Johann Mi- chael Brutus uihI über den Werth seiner ungarisch- siebenbürgt- schen Geschichte vom Grafen Job. Kem^ny. 4. Die Stiftuc^n deis Auslandes für die dort studirende Jugend Ungarns und Siebenbür- gens vom Grafen Joseph Kem^ny. 5.^ Das älteste Sladtsiegel von Kronstadt von n— . Das zweite Heft enthalt: 1. Ueber das in der Diplomatik des Auslandes und Ungarns mit Inbegriff Siebenbürgeas erscheinende älteste Linnenpapier. Vom Grafen Josepb Kem4i»y« Eine päpstliche Bulle Eugens Vi. an die ungarische Königin und- eine Urkunde des Kolosmonostorer Convents, in Siebenbürgen, beide vom Jahr 1439, bevorwortet von Anton Kurz. 3. Die ältesten Papiermühlen des Auslandes, Ungarns und Siebenbürgens und die PapieraeicbeA

578 Miioetten.

der beiden leUteren aas gleiohzeitigen ürlninden erwiesen and insbe- sondere der Stadt Kronstadt gewidmet von Graf Joseph Kemeny. 4. Zur Geschichte des Hermannstädter Gymnasioms im Jahr 1713. Von Anton Kurz. 5. Archivarische Nebenarbeiten vom Grafen Jo- seph Kemeny. 6. Reflexionen über den Aufsatz: das älteste Stadt- siegel von Kronstadt. Das 3. Heft enthält: 1. Deber J. K. Schallers Umrisse und kritische Studien etc. vom Grafen Jos. fiem^ny. 2^ Ueber die Entstehungszeit der ungarischen Komitate in Siebenbür- gen vom Grafen Joseph Kemeny. 3. Das rothe Büchel der Stadt Hermannstadt mitgetheilt von Anton Kurz. 4. Einiges aus Sigmund Szenlkiralyi's ungarischem Werk: der siebenbürgische Bergbau mitgetheilt von Georg Binder. 5. Jahresrechnung des Johann Waida, Bürgermeisters von Hermannstadt für das Jahr 1593. Aas dem Original mitgetheilt von Kurz. 6. Diplomatischer Beitrag zur Ge- schichte der Gefangenschaft des Johann Hunyad. Vom Grafen Jos. Kemeny.

So viel schätzbares in den Bestrebungen des Grafen Kemeny liegt, dessen ausserordentlichen Reichthum an Urkunden und Ma- nuscripten seine Studien unterstützen und der wie nur irgend ein Wissenschaftsfreund seine Müsse den Musen allein widmet, so sehr muss doch auch die Form, in der diese Studien an das Tageslicht treten, berücksichtigt werden. Nicht pretiös gesucht, nicht mit un- nöthiger Gelehrsamkeit überladen, sondern in einfachem passen- den Gewände erscheine die Forschung, die auf allgemeiner Kennt- niss und auf specieller Durchdringung des Individuellen beruht.

Selig Gassei.

HlseeUeii«

Die Biblical Review und die gescbichtspbilosophische An- sicht in England. Von der Zeitschrift „The biblical review and congregational magazine'' (8. London, Jackson and Walford) sind uns die drei er- sten Monatshefte des laufenden Jahrganges zugekommen, mit wel- chem eine Veränderung der Redaction eingetreten ist Der Pro- spect der neuen Herausgeber hält den frühem Standpunkt im We- sentlichen fest: der Charakter der Zeitschrift soll in Uebereinstim- mung sein „with a scriptural congregalionalism"; der Inhalt vor- zugsweise theologisch, doch nicht ausschliesslich, dergestalt dass auch die bürgerliche Geschichte, Philologie und Alterthümer, die Künste, die Natur-, Denk- und Moral Wissenschaft, überhaupt jegli- cher Zweig des Wissens, wodurch die theologische Wahrheit auf- geklärt werden kann, dabei Berücksichtigung finden wird. Diesen Absichten entspricht denn auch der Inhalt der vorliegenden Hefte«

Miacelleni - 579

Auf rein tbeologlsohem Grebiete bewegen sich a. A. die Aufsätze yjlgnatius, die Literargeschichte seiner Briefe**; „Professor Ewald über Hieb 19, 25—27'*; Strauss' Leben Jesu*'; ,,die Scliöpfung. Eine Kritilc über Genesis 1, 1. 2'*; „die syrischen Briefe des Ignatius''; „eine neue Erklärung von: Römer 8, 18 ^25"; „über die Kornäh- ren in Pharaos Traum*'; „Versetzungen in den prophetischen Bü- chern"; „über die Abfassungszeit der Apolcalypse*'; „Paulus in Je- rusalem"; „exegetische Bemerkungen über Lucas 17, 20. 21"; „die Kirche nach den Definitionen der Kirchen." Von sehr grossem Interesse ist die im Januarheft vollständig mitgetheilte Gorrespon- denz zwischen Bunsen und Gladstone über das Episcopat (re- specting the German church and the Jerusalem hishopric). Je- dem Hefte ist ausser den grösseren Recensionen ein „monthly di- gest of religious intelligence** und „critical notices and lists of new books" beigefügt. Dem Gebiete der Alterthümer gehört eine aus dem 1. Bande unserer Zeitschrift (1844) entlehnte Miscelle über die neueren Entdeckungen in Niniveh an. Das eigentlich historische Gebiet ist durch verschiedene Aufsätze und Kritiken vertreten z. B. über Darius, über Clinton's Fasti Romani, zwei Artikel über Oliver Crom well, über die Böhmische Reformation. Für unsere Zeit- schrift nehmen zwei Artikel im Januar- und im Märzheft, betitelt „der göttliche Plan" und „Winke über das Studium des göttlichen Pla- nes", um deswillen die meiste Aufmerksamkeit in Anspruch, weil sie die geschichtsphilosophischen Ideen darlegen, welche gegenwär- tig in England nach Geltung ringen. Ein unbedingter Vorzug der- selben ist, dass sie an einen weit umfassenderen und darum auch höheren Standpunkt anknüpfen, als die welche in Deutschland und Frankreich geläufig sind ; nicht der Mensch und die Erde, sondern der Gottesbegriff und das gesammte Weltall ist ihr unmittelbares Object; der Mensch, der meist, weil die grossartigen Wirkungen seines Geistes und seiner Macht ihn rings umgeben, nur allzu leicht sich überschätzt und Zweck wie Mittel des göttlichen Processes in der Menschheit selbst zu erblicken wähnt, wird in die winzigen Grenzen seines Werthes und seiner Kraft zurückgewie- sen. Es kann in der That keine Philosophie der Geschichte der Menschheit geben, die nicht von einer Philosophie des, Universums getragen wird und sich bescheidet ein Theil derselben zu sein, statt sich anmasslich an die Stelle des Ganzen zu setzen. Dagegen nehmen wir einen doppelten Mangel wahr. Einmal sind dem Verf. jener Artikel, und gewiss den Engländern iiberhaupt, die geschichtsphi- losophischen Theorien sowohl der Franzosen wie der Deutschen nur höchst unvollständig und oberflächlich bekannt. Zwar wer- den auf der einei^Seite Montesquieu, Goudorcet und Guizot, auf der andern Leibnuz, Lessing, Herder, Kant und Scbelling genannt;

580 MitceUm.

aber beim Mangel alles tieferen Eiogebena bleibt die nähere Kennt' nisa derselben zweifelhaft, und überdies vermissen wir auf beiden Seiten gerade für die neuesten Zeiten nicht unbedeutende Namen, wie dort z. B. Lamennais, hier Pichte, Hegel und Czieskowsky. Zweitens aber treten die Umrisse dieser Ideen und dies ist zu- nächst eine Folge des umfassenden Standpunktes selbst nicht aus der Aligemeinheit des Begriflflichen in die Weit der concreten Erscheinungen heraus. Diese Unbestimmtheit bedingt nothwendig die Folge, dass man in den Grundideen über die Zwecke Gottes und der Menschheit mit dem Verf. vollkommen einverstanden sein und doch in der philosophischen Auffassung nicht nur der einzelnen Erscheinungen, sondern der ganzen Gradation des geschichtlichen Processes zu durchaus abweichenden Resultaten gelangen kann. Um wie viel mehr, wenn diese Grundgedanken selbst dem Zweifel zugänglich sindl Ohne indess zu untersuchen, inwieweit der Verf. durch sie der philosophischen Kritik Blossen zeigt oder nicht, wollea wir uns auf eine möglichst kurze Darlegung ihres Inhaltes beschrän- ken. Der Verf geht davon aus, es sei eine ursprüngliche Neigung des Geistes, nach dem letzten Ende der Dinge zu forschen« Das Woher und Wohin seien die beiden Punkte, zwischen denen der menschliche Geist beständig bin und her schwanke; er wolle zur ersteu Ursache der Dinge auf-, und zu ihrem Ende hinabsteigeD. Zuzugeben ist, dass eine erste Ursache ein letztes Ziel bedinge; nicht minder, dass die Gottheit die erste Ursache sei. Auf A\e Be- griffsbestimmung der Gottheit kommt aber unendlich viel an, und es muss daher als ein philosophischer Sprung betrachtet werdoa, wenn der Verf. in diesem Punkte von vornherein die theologvscb christliche Basis der philosophischen substituirt, es als ausgemacht und eingeräumt annimmt, dass die erste Ursache der Gott der Bibel sei, und sich deshalb jedes Beweises begiebt. Was ist nun aber der Endzweck Gottes im Universum? Gott selbst, seine eigene Herrlichkeit und eben deshalb zugleich auch das Wohlsem des von ihm geschaffenen Universums, dergestalt dass der Ursprung aller Dinge auch deren Ende ist, oder das Unendliche das Ende des End- lichen. Unter Herrlichkeit Gottes versteht der Verf. dessen Allmacht (sufficiency) für gewisse Handlungen oder Wirkungen; doch un- terscheidet er zwischen der subjectiven und objectiven Herrlich« keit, welche letztere nothwendig die erstere voraussetze, lene ist die unendliclie sich selbstgenügende Erhabenheit, diese dAe Betb»- tigung derselben, wodurch eben die Altmacht für Erzeugung ge« wisser Wirkungen, für Erreichung gewisser Zwecke erwiesea werde. Ist, heisst es weiter, die Herrlichkeit Gottes, das Wohlsein des Universums involvirend, das höchste Ziel der Schöpfung: so folgt daraus, dass Gott diesem Ziele nach einCTi Plane zustret^t.

Miicellen. 581

das8 wir \xm also mitten in einem progressiven allumfassenden, universalen und regelmässigen EntwicklungsSchema befinden. Nun fragt es sich aber, ob in der Geschiebte der menschlichen Angele- genheiten Spuren von dem Vorhandensein eines solchen Planes wahrnehmbar sind. Diese Frage bejaht der Verf., wiewohl er die grossen Schwierigkeiten des Versuches ihn zu zeichnen einräumt; daher sei zwar die Erkenntniss semer Umrisse von allen philoso* phischen Geistern der neuern Zeit erstrebt worden, jedoch ohne dass dies Streben zu übereinstimmenden Resultaten geführt hätte. Dies veranlasst ihn zu einem kurzen und freilich sehr mangelhaft ten Rückblick auf die bisherigen Versuche, dessen Schlussergeb- niss die Ueberzeugung ist, nur die Bibel gewähre die unfehlbaren Mittel zur Lösung des grossen Räthsels, zur Aufhellung des göttli- chen Planes; sie weise nicht die Facta, aber das Princip ihres innern Zusammenhanges und das Ziel des Ganzen nach, so dass man nur die richtigen Abschnitte und die zusammenhängenden Theiie zu entdecken habe; ein durchaus vollständiges Ganze könne freilich in der Geschichte der Menschheit selbst niemals entdeckt werden, bis dass die Geschichte durch eine letzte Katastrophe be- schlossen sei; kein menschlicher Scharfsinn könne die Totalität der Entwicklung anticipiren. Da indessen der Bau des Tempels der ewigen Herrlichkeit Gottes, dessen Errichtung eben als das Zid des grossen Künstlers sich dai^stellt, seit dem ersten Stadium der Weltgeschichte, wo nur das Fundament gelegt und daher noch kein Drtbeil über die ungeheueren Proportionen möglich war, schrittweise durch alle Zeitaller und in jedem Momente vorgerückt ist: so könne nunmehr, obgleich das Gesims noch nicht auf die Säulen gesetzt, das Gebäude noch nicht mit dem Gipfel gekrönt sei, dennoch wohl der allgemeine Riss des Baues begri£Pen und eine Idee über seine Beendigung gefasst werden. Eine solche Idee trägt aber der Verf. so wenig vor, als er jenen allgemeinen Riss skizzirt. Das Einzige was er darüber sagt ist dies : In der Periode von der Sündfluth bis auf Christus seien die Dinge in constanter Abhängigkeit von einander, nichts isolirt, überall Folge und Fortschritt, aUes in harmonischem Process. Aus dem jüdischen Leben, untrennbar mit ihm zusammenhängend, entwickle sich das Christ- tiche, nicht als eine Unterbrechung des Ganges der Begebenhei- ten, sondern als dessen Fortsetzung; Judenthum und Christenthum seien beide nur Theiie eines höchsten Ganzen. So sei die Gegen wart mit der Vergangenheit verbunden, beide aber wieder mit der Zukunft, mit dem Ende der Zeit. Jeder Schritt in dem Weltpro- cess, bemerkt er ferner (und wem könnten hierbei die Anklänge aa die deutsche Historiosophie entgehen!), erhält den Collectivcharak* ter aller früheren Stadien, fügt den ihm eigenthümlicheo hinzu,

582 Miscellen.

und Termaoht das Oanze in dieser neuen Modification dem nach« folgenden Stadiam. Dann aber kehrt er zu der begrifflichen Er- läuterung des göttlichen Planes zurück. Diesen zerlegt er in drei Tbeile: Zweck, Methode und Gründe derselben. Der Zweck um- fasst Alles: die Reiche der Natur, den Menschen, die Religion, die Geschichte; deshalb stehen auch alle diese Momente in gegen- seitigen Beziehungen. Die Methode construirt alles dergestalt, dass es nach bestimmten Gesetzen thätig ist und dass, da die Ver- wirklichung des Planes eine successive ist, ein stufen massig es Fortschreiten stattfindet,* zugleich folgt daraus die stete Ab- hängigkeit von Gott als dem Eigner des Planes. Die Grunde der Methode liegen darin, dass der Mensch nicht vermögen würde die Gradationen der Vorsehung zu erkennen, wenn es nicht Ge- setze für jene Beziehungen, jenes Fortschreiten und jene Abhän- gigkeit gäbe. Denn da die göttliche Methode die ursprüngliche Menschennatur als ein freies Agens anerkennt, das dahin neigt, seine Abhängigkeit von Gott und von jeglichem Sein rings umher aus dem Gesicht zu verlieren, sich ausserhalb der Harmonie mit der Natur, mit sich selbst und mit Gott zu versetzen in wel- cher Neigung eben die Sünde besteht ~: so macht es die Hoheit Got- tes sowohl wie die Glückseligkeit des Geschöpfes nothwendig, dass die unmittelbare Wirkung aller Processe, durch die der Mensch in dieser Welt hindurcbgeführt wird, die ist, ihm seine Abhängigkeit fühlbar zu machen. Die Freiheit seines Wesens bedingt aber, dass er die Ueberzeugung von dieser Abhängigkeit durch freiwillige Be- trachtung und persönliche Erfahrung erlange. Jede Nation, jede Familie, jedes Individuum nimmt eine ihm eigenthümliche Stellung im Weltplan ein; jedes Zeitalter hat seine besondere Mission, die durch die Einflüsse der Vergangenheit bedingt, wiederum ihre ei- genen Einflüsse mit dem Strom der späteren Geschichte vermischt. Aus dem Fortschreiten des Planes folgt, dass dessen Verzögerun« gen nur scheinbare sind und dass es ein Zeitmaass für jegliche historische Krisis giebt, sowohl wie für jene wundervolle An- kunft, welche die Geschiebte der Welt in zwei T heile getheilt hat (Wir erinnern hier an Eisenhart, der die Geschichte in 3000 Jahren vor und in genau ebenso vielen nach Chr. sich bewegen lässt; s. unsere Zeitschr. Bd. IV. S. 561). Die Aufgabe ist überall den Fortschritt nachzuweisen, die Principien ans Licht zu kehren welche das Ziel von Anfang an generalisirt haben, zu zeigen in wie fern bewusst oder unbewusst die verschiedenen Nationen und hervorragenden Individuen diesem Ziel entsprachen, und wie der Mensch, nach den eitlen Versuchen sich unabhängig zu isoliren und darauf sich selbst zu helfen, auch nachdem er mit den objec- tiveh Mitteln der Hülfe versehen worden es offenbar werden lässt,

Miscellen. 583

dass sogar diese ihm nur h^lfen^ wenn er vom Geiste Gottes geleitet wird« Daher gebt der Irrthum so oft der Wahrheit vorauf; denn kein Volk kann sprungweise den Höhepunkt erreichen, sondern muss durch die vermittelnden Stadien hindurch, um zU ihm zu ge- langen. Endlich sei zu untersuchen, ob und welche Stadien des Processes noch zu durchlaufen bleiben, um uns eine Vermuthung über den Abstand von dem Endziel zu bilden. Das Unbehagliche ist, dass der Verf. selbst diese Untersuchung nicht anstellt, über- haupt auf die Lösung jener zahlreichen Aufgaben in gar keiner Weise näher eingeht. Er schliesst mit der Warnung, nicht die Neuheit der Wahrheit vorzuziehen; die Entdeckung einer neuen wesentlichen Wahrheit sei nicht mehr zu erwarten, sondern nur neue Anschauungsweisen alter Wahrheiten, neue Gombinationen derselben, und neue Erläuterungen des ganzen Systemes der Wahr heit; organische Zusätze zu diesem System könnten nur unmittel- bar vom Himmel kommen. Doch warnt er auch davor, was der ei- genen Anschauungsweise nicht entspricht, sofort als blosse Specu- lation ganz und gar zu verwerfen, indem er daran erinnert, dass fast jede Wahrheit welche jetzt dem Menschen so geläuGg ist, als ob er sie mit auf die Welt gebracht, einst mit Indignation oder mit Spott sei aufgenommen worden. Dies die Aufstellungen des Verf., die bei der Verbreitung verwandter Ideen in England sich in wesentlichen Momenten an die Aussprüche und Entwicklungen anderer englischer Denker anzulehnen vermögen und daher na- mentlich mehrfach durch die Autorität von Butler, Edwards, Ar- nold, Miller und Hetherington unterstützt werden. Abgesehen da- von, dass sie offenbar an einer zu grossen Allgemeinheit leiden und vor lauter Abstractionen nicht zur Betrachtung des Goncreten gelangen, müssen wir besonders auch den aufgestellten Begriff der Herrlichkeit Gottes als einen höchst unbestimmten und zweideuti- gen bezeichnen. Warum, kann man fragen, begnügt sich Gott nicht mit seiner subjectiven Herrlichkeit? wozu bedurfte es der objectiven, der Bethätigung seiner Erhabenheit? wozu der Menschheit und der Geschichte? Ist einmal die Menschheit da, so muss allerdings ihr Dasein und ihre Geschichte einen Zweck haben, und da Gott sich nicht einen Zweck setzen kann, der un- erreichbar ist, so muss auch der Zweck der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich erreicht werden, mithin der Process der letz- tern die Verwirklichung eines Gedankens oder einer Absicht oder eines Planes sein. Die Nothwendigkeit dieses Gedankens ist also durch das Dasein der Menschheit bedingt, allein die Nothwendig- keit des Daseins der Menschheit wird durch den Begriff der Herr- lichkeit Gottes an sich noch keineswegs begründet. Ad. S.

Inhaltavenelehnl«««

Seit«

Ueber die Versammlung der französischen Notalieln im Jahre

17^, von Leopold Ranke i

Ein Blick in die altere preussische Geschichte, mit Bezug auf die ständische Entwicklung. Nach drei ungedruckten Chro- niken. Von Dr. Max. Toppen 45

Angelegenheiten der historischen Vereine. Einleitung. Vom

Herausgeber , 94

Verzeichniss der historischen Vereine und Gesellschaften

Deutschlands und der Nachbarstaaten 100

Miscelle: Ausschloss vom Abendmahl und Obrenbeichte .... 103

Nachwort des Herausgebers 104

Die Landesverfassung in Kurhessen. Im Vergleich mit den Staatsgrundgesetzen der übrigen deutschen Staaten. Erster

Artikel. Von C. W. Wippermaun 105

Blacpherson's Ossian. Von P. F. Stuhr 172

Angelegenheiten der historischen Vereine 179

Arcbiv rur Frankfuri« Oescbichte und Kunst. Drittes Heft. Reo

von Klüpfel 179

Mittheilungen, Neue, aus dem Gebiet der historisch-antiquari- schen Forschungen. Herausgegeben von d. ThUring. sächs. Verein f. Erforsch, des vaterlttnd. Alterthums. Reo. von K 1 ü p fe I 181 Jabrbtkcher des Vereins von AKerthumsfreunden im Rheinlande, 185 L er seh, L. , Niederländisches Jahrbuch für Geschichte und

Kunst. Rec. von v. Sybel 185

Archiv des Vereins fUr siebenbUrgische LandesiLunde. Rec. von

Selig Cassel , 191

Literarischer Verein: Berichtigung 199

Reformen der hessischen Vereine 199

Beitrittserklfirungen der Vereine 200

Eine deutsche Colonie und deren Abfall. Vom Prof. Wurm 201 Antiquit6$ de Bei -Air, pr^s Lausanne, de Nordendorf, pr^s Augsbourg et de Leus, dans le d^partement da Pas-de-Ca-

lais. Von Fröd. Troyon 272

Angelegenheiten der historischen Vereine 285

Der Geschichtsfreund. Uitiheilungen des historischen Vereins der fünf Orte Lucern, Uri, Schwyz, Unter walden und Zug.

L Band. Rec. von Philipp Jaff6 285

Die antiquarische Gesellschaft in Zürich: Meyer, H., Die Bracteaten der Schweiz. Nebst Beiträgen zur Kennlnlss der schweizerischen MUnzrechte während des

Mittelalters. Rec. von Schmidt 288

Kemitniss des Auslandes von den bist. Vereisea in DeiiUcldaDd 291 Literaturbericbte. Deutschland.

Löher, Franz, FUrsten und Städte zur Zeit der Hohenstaufen 292 Jürgens, K., Luther von seiner Geburt bis zum Ablassstreite 29S Miscelle: Gustav Adolf. Erinnerung am Todestage Luthers . , . 294 EioladvBg an die Germanisten zu einer Gelehrten-Versamm«

long in Frankfurt a. M 29€

Ueber die Geschichte d^ neuesten Zeit, vom Wiener Gon- gress bis auf unsere Tage. Von Dr. Carl Hagen. Erster Artikel Einleitung 297