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(Richard Falckenberg Oeschichte si » » « » der neueren Philosophie HS!« s s Fünfte Auflage

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VERLAG VON VEIT & COM^.

GESCHICHTE

DER (V

NEUEREN PHILOSOPHIE

VON NIKOLAUS VON KUES BIS ZUR GEGENWART

lU GRUNi^RISS DARGESTELLT

VON

Dr. RICHARD FALCKENBERG

ORD. PROFESSOR ZU ERLANGEN

FÜNFTE VERBESSERTE UND ERGÄNZTE AUFLAGE

LEIPZIG

VERLAG VON VEIT & COMP

1905

Das Recht der Herausgabe von Übersetzungen vorbehalten.

Druck von August Pries in Leipzig

DEN HERREN PROFESSOREN

GEH. HOFRAT DR. RUDOLF EUCKEN IN JENA

UND

DR. JOHANNES VOLKELT IN LEIPZIG

IN AUFRICHTIGER VEREHRUNG UND HERZLICHER DANKBARKEIT

GEWIDMET

2001213

Vorrede zur ersten Auflage.

Seit dem Erscheinen von Eduard Zell er s Grundriß der Geschichte der griechischen Philosophie (1883)^ ist das Bedürfnis nach einer ent- sprechend knappen und zu Lehrzwecken verwendbaren Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie noch fühlbarer geworden. Ein Seitenstück zu dem Kompendium des gefeierten Gelehrten, das die Resultate seines hochgeschätzten sechsbändigen Werkes über die Philo- sophie der Griechen mit schlichter Klarheit zusammenfaßt, geben zu wollen, wäre ein vermessenes Beginnen gewesen; nur nach Seiten prak- tischer Brauchbarkeit und sorgfältiger Berücksichtigung der Bedürfnisse der Lernenden, über welche wir in regelmäßig an hiesiger Universität abgehaltenen Repetitorien uns genauer zu informieren Gelegenheit hatten, durften wir hoffen, dem Vorbilde nicht allzufern zu bleiben.

Der vorliegende Grundriß soll zur Einführung, zur Repetition und zum Ersätze für Diktate bei akademischen Vorlesungen, desgleichen zur Orientierung für den weiteren Kreis der Gebildeten dienen. Dieser vor- wiegend praktische Zweck des Buches gebot Zurückhaltung in der Gel- tendmachung persönlicher Überzeugungen und Einschränkung der be- urteilenden Reflexion zu Gunsten objektiver Darstellung; nur gelegentlich wurde ein kritischer Wink gegeben. Bei den minder bedeutenden Er- scheinungen war die Oratio obliqua des Referates nicht zu vermeiden; aber wo es irgend anging, haben wir die Philosophen selbst ihre Lehren und Gründe entwickeln lassen, nicht sowohl in wörtlichen Auszügen aus ihren Schriften, als in freier verdichtender Reproduktion der Grund- gedanken. Wenn die in der Einleitung und dem Rückblick am Schluß

' bechste Außage 1901.

VI Vorrede.

ausgesprochene prinzipielle Auffassung von den die Philosophiegeschichte lenkenden Mächten und dem Entwickelungsgange der neueren Philosophie nicht überall an den historischen Tatsachen zur Einzelbewährung ge- bracht worden ist, so erklärt sich das aus der Rücksichtnahme teils auf den Umfang, teils auf den instruktiven Zweck des Buches, So wurde insbesondere der „psychologischen" Erklärung der Systeme, als der eingänglicheren, aus pädagogischen Gründen ein breiterer Raum gegönnt, als nach unserer Meinung ihrer Bedeutung und Berechtigung entspricht. Mit Auswahl und Ausführlichkeit der Behandlung es jedem recht zu machen, ist unmöglich; möchten es nicht zu viele sein, die sich einen Leitfaden dieser Art ganz anders gedacht hätten. In der Gruppierung •der Richtungen und Schulen und der Anordnung des Inhalts der Systeme \\m jeden Preis von den vorhandenen Darstellungen abzuweichen, lag nicht in unserer Absicht, ebensowenig, die Vorteile ungenutzt zu lassen, welche dem Späterkommenden daraus erwachsen, daß ihm die hervor- ragenden Leistungen früherer Bearbeiter vorliegen. Insbesondere be- kennen wir dankbar die Förderung, welche uns die erneute Beschäftigung mit den einschlägigen Werken von Kuno Fischer, J. Ed. Erdmann, Zeller, Windelband, Überweg-Heinze, Harms, Lange, Franz Vorländer und Pünjer gebracht hat.

Was uns bewog, die vorliegende Arbeit in Angriff zu nehmen, war die Wahrnehmung, daß ein Lehrbuch der Geschichte der neueren Philo- sophie fehle, das, reichhaltiger, gründlicher und präziser als die kleinen Abrisse von Schwegler und Genossen, etwa die Mitte hielte zwischen der eleganten, jedoch ausführlicheren Darstellung Windelbands und dem soliden, aber mit seiner Spaltung des Textes in Paragraphen und Noten und der Unterbrechung desselben durch seitenlange Aufzählungen von Büchertiteln etwas trockenen Grundriß Überwegs. Während der erstere auf Literaturangaben gänzlich verzichtet, der letztere ihrer, wenigstens für Unterrichtszwecke, gar zu viele bringt und J. B. Meyers Leitfaden (1882) sich überhaupt auf bio- und bibliographische Notizen beschränkt, haben wir, mit möglichster Schonung der fortlaufenden Darstellung, im Text oder in den Anmerkungen außer den Hauptwerken der Philosophen ■einige von den Schriften über dieselben angeführt. Die leitenden Ge- sichtspunkte bei der Auswahl der Literatur, daß nur die wertvolleren und die als Lektüre für den Studierenden geeigneten Arbeiten aufzu- nehmen, außerdem aber die neuesten Erscheinungen tunlichst zu berück- sichtigen seien, werden kaum Tadel zu befürchten haben. Daß manche uns unbekannte Schrift der Erwähnung würdig gewesen wäre, soll nicht bestritten werden.

Vorwort. vii

Die auf Anregung der Verlagsbuchhandlung im Anhang beigefügte Erläuterung einer Anzahl philosophischer Termini, welche sich fast ganz auf fremdsprachliche Ausdrücke beschränkt und die Bezeich- nungen für die durchgehenden Richtungen bevorzugt, wurde nach Möglichkeit so eingerichtet, daß sie zugleich als Sachregister benutzt werden kann.

Jena, 2^. Dezember 1885.

Vorwort zur zweiten Auflage.

Von den Veränderungen und Zusätzen der neuen Auflage entfällt die Mehrzahl auf das erste und die beiden letzten Kapitel; von der all- gemeinen Haltung der Darstellung abzugehen, fand ich keine Veran- lassung. Mit aufrichtigem Danke gedenke ich der Anregungen, die mir sowohl die öffentlichen Besprechungen als auch privatim geäußerte Wünsche gewährten. Gelegentlich traf es sich, daß widersprechende Forderungen sich begegneten so wurde auf der einen Seite Erwei- terung, auf der anderen Kürzung der Abschnitte über den deutschen Idealismus, insbesondere über Hegel, befürwortet ; da war ich denn freilich außer stände, beiden zu entsprechen. Unter den Rezensionen war mir die von B. Erdmann im ersten Bande des Archivs für Geschichte der Philosophie, unter den brieflichen Verbesserungsvorschlägen die von H. Heußler von besonderem Werte. Da fremde Augen gewöhnlich schärfer sehen, so w^äre es mir sehr willkommen, wenn mein Wunsch, diesen Grundriß immer nützlicher zu gestalten, auch ferner durch Rat- schläge aus dem Leserkreise unterstützt würde. Sie werden, falls dem Buche die Gunst der Lehrer und der Lernenden erhalten bleibt, ge- wissenhaft berücksichtigt werden.

Für diejenigen, welche über zu große Fülle des Stoffes klagen, be- merke ich, daß sich durch Überspringung von Kap. i, 5 (Abschnitt I 3). f), 8, 12, 15 und 16 leicht Abhilfe schaffen läßt.

Erlangen, 11. Juni 1892.

Vorwort.

Vorwort zur dritten Auflage.

Die neue Auflage unterscheidet sich von den früheren durch zahl- reiche Vermehrungen und Änderungen, die, wie ich hoffe, die Brauch- barkeit des Grundrisses zu erhöhen dienen, wenn ich auch nicht erwarten darf, durch solche nachbessernde Arbeit das beseitigt zu haben, was etwa in der Grundanlage diesem oder jenem Beurteiler als mangelhaft erscheint. Ich muß daher wünschen, daß dem Buche die freundliche Nachsicht, die ihm bisher gewährt worden, auch, ferner erhalten bleibe. Es war mir erfreulich, von der Erweiterung Nutzen ziehen zu dürfen, die der Ab- schnitt über englische und amerikanische Philosophie im 15. Kapitel in der von Herrn A. C. Armstrong, Professor an der Wesleyan University in Middletown (Conn.), veranstalteten englischen Übersetzung des Grund- risses (New York 1893, Henry Holt and Comp.) erfahren hat.

Die "Widmung, die ich diesmal beizufügen wage, soll der Ausdruck inniger Dankbarkeit sein für die reiche Förderung, die ich von jenen beiden teviren Lehrern und Freunden empfangen habe. Sie führt mir zu Gemüte, wie groß meine Dankesschuld gegen sie ist und wie klein der Teil, den ich damit abtrage.

Erlangen, 2. Februar 1898.

Vorwort zur vierten und fünften Auflage.

Da die neue Auflage der vorhergehenden schneller gefolgt ist, als die dritte der zweiten, durfte ich mich diesmal im wesentlichen auf die Vornahme von Ergänzungen beschränken. Durch freundliche Ratschläge haben mich namentlich die Herren Grotenfelt in Helsingfors und Arm- strong zu Dank verpflichtet. Eine knappe Zusammenfassung der Haupt- punkte des zweiten Teiles bietet mein „Hilfsbuch zur Geschichte der Philosophie seit Kant" (1899). Denen, die mir bei Anfertigung der Register und bei der Korrektur ihre freundliche Hilfe geliehen, insbe- sondere Herrn Dr. W. Heim, spreche ich auch hier meinen herzlichen Dank aus.

Oberstdorf, 18. August 1901.

München, 7. Oktober 1904. R. F.

Inhalt.

Seite

Einleitung i

Erstes Kapitel.

Die Übergangszeit: Von Nikolaus Cusanus bis Descartes 17

1. Nikolaus Cusanus i8

2. Wiedererweckung und Bestreitung der antiken Philosophie 24

3. Die italienische Naturphilosophie 29

4. Politik und Rechtsphilosophie 35

5. Die französische Skepsis 43

6. Die deutsche Mystik 45

7. Die Begründung der modernen Physik 50

8. Die englische Philosophie bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts ... 55

Bacos Vorgänger 55

Baco 56

Hobbes 63

Herbert von Cherbury 70

Empirismus und Rationalismus 71

Der philosophische Charakter der Engländer, Franzosen und Deutschen ... 72

Erster Teil. Von Descartes bis Kant.

Zweites Kapitel. Descartes 76

1. Die Prinzipien 78

2. Die Natur 85

3. Der Mensch 89

D ritt es Kapitel.

Ergänzung und Umbildung der eartesianisehen Philosophie

in den Niederlanden und in Frankreich ...... 94

Der Okkasionalismus : Geulincx 97

Spinoza loi

1. Substanz, Attribut, Modus 109

2. Anthropologie: die Erkenntnis und die Leidenschaften 116

3. Praktische Philosophie 120

Pascal, Malebranche, Bayle 126

X Inhalt.

Seite

Viertes Kapitel.

J. Locke 134

1. Theoretische Philosophie oder Erkenntnislehre 136

2. Praktische Philosophie: Moral, Staat, Erziehung 154

Fünftes Kapitel.

Die englische Philosophie des XVIII. Jahrhunderts .... 158

1. Naturphilosophie und Psychologie 159

2. Deismus 162

3. Moralphilosophie - 170

4. Erkenntnislehre 187

Berkeley 187

Hume 193

Die schottische Schule 208

Sechstes Kapitel.

Die französische Aufklärung 211

1. Die Einwanderung der englischen Lehren 213

2. Theoretischer und praktischer Sensualismus 215

3. Skeptizismus iind Materialismus 220

4. Rousseaus Kampf gegen die Aufkkärung 227

Siebentes Kapitel.

Leibniz 233

1. Die Metaphysik: Monade, Vorstellung, vorherbestimmte Harmonie; Denk- und Weltgesetze 237

2. Das Organische 246

3. Der Mensch, sein Erkennen und Wollen 248

4. Theologie und Theodizee 252

Achtes Kapitel.

Die deutsche Aufklärung 256

1. Die Zeitgenossen des Leibniz 256

2. Chr. Wolfif 259

3. Die Aufklärung als wissenschaftliche und als Popularphilosophie . . 264

4. Die Glaubensphilosophie 271

Zweiter Teil. Von Kant bis zur Gegenwart.

Neuntes Kapitel.

Kant 276

I. Erkenntnislehre 300

1. Die reinen Anschauungen (transzendentale Ästhetik) 300

2. Die Begriffe und Grundsätze des reinen Verstandes (transzendentale Analytik) 311

3. Die Vernunftideen des Unbedingten (transzendentale Dialektik) . .325

Inhalt. xi

Seite

II. Sittenlehre -i-ic

III. Die Lehre vom Schönen und vom Zweck in der Natur 349

I. Die ästhetische Urteilskraft

350

2. Die teleologische Urteilskraft ory

Von Kant zu Fichte 361

Zehntes Kapitel.

Fichte 365

I. Die Wissenschaftslehre

570

1. Die Aufgabe 3>7o

2. Die drei Grunds.Htze 3^1

3. Das theoretische Ich 3^6

4. Das praktische Ich 3^8

II. Sitten- und Rechtslehre 380

III. Fichtes zweite Periode: Geschichtsansicht und Religionslehre . . . 383

Elftes Kapitel,

Sehelling 386

la. Naturphilosophie ^80

Ib. Transzendentalphilosophie oq,

II. Identitätssystem oq5

III a. Freiheitslehre ,00

III b. Philosophie der Mythologie und Offenbarung 403

Zwölftes Kapitel.

Die Mitarbeiter Schellings 405

1. Die Gruppe der Naturphilosophen 406

2. Die Gruppe der Identitätsphilosophen (Fr. Krause) 407

3. Die Gruppe der Religionsphilosophen (Baader und Schleiermacher) . . 409

Dreizehntes Kapitel.

Hegel 422

. Weltanschauung und Methode _ 42-'

II. Das System -28

Vierzehntes Kapitel.

Die Opposition gegen den konstruktiven Idealismus: Fries,

Herbart, Schopenhauer 436

I. Der Psychologismus: Fries und lieneke . - 437

II. Der Realismus: Herbart 44c

III. Der Pessimismus : Schopenhauer ' 463

XII Inhalt.

Seite

Fünfzehntes Kapitel.

Das Ausland 475

I. Italien 475

II. Frankreich 479

III. England und Amerika 492

IV. Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland usw 512

Sechzehntes Kapitel.

Die deutsehe Philosophie seit Hegels Tode S'?

I. Von der Spaltung der Hegeischen Schule bis zum Materialismusstreit 518

II. Neue Systembildungen: Trendelenburg, Fechner, Lotze und Hartmann 529

III. Von der Wiedererweckung der Kantischen Philosophie bis zur Gegenwart 544

1. Neukantianismus, Positivismus und verwandte Erscheinungen . . . 544

2. Idealistische Reaktion gegen den naturMissenschaftlichen Geist . . 554

3. Die philosophischen Einzelwissenschaften 560

Erläuterung der wichtigsten philosophischen Kunstausdrücke 573

Namenregister. I. Verzeichnis der behandelten Philosophen 591

II. Verzeichnis der zitierten Schriftsteller 602

Berichtigungen und Zusätze 60S

Einleitung.

Wirklich empfinde ich. der Schopenhauerschen Philosophie gegenüber, ganz die siegreiche Zuversicht, die uns ein tiefsinniges Kunstwerk gibt: gar nicht eine logische Überzeugung von der Unbestreitbarkeit, sondern die Ge- wiüheit, dafs solch ein Kunstwerk zu bestreiten, so wäre, als wollte ich mit einem Messer das Wasser in Stücke schneiden. Die Einsicht, dafs noch gar viele Kunstwerke, vom Wesen der Welt erzählend, wahr sein könnten, ohne dafs dieses darum weniger wahr wäre. Kurz, diese Wahrheit ist eine fundamental verschiedene von aller „wis- senschafilichen" Wahrheit.

Erwin Rohde, Aphorismus 25 der,,Cogitata"' (bei O. Crusius, 1902, S. 228).

Für keine Wissenschaft hat die gründliche Kenntnis ihrer Geschichte eine so große Bedeutung, wie für die Philosophie. Gleich der Ge- schichtswissenschaft berührt sie sich auf der einen Seite mit der exakten Forschung und hat nach der anderen Seite eine gewisse Verwandt- schaft mit der schönen Kunst; mit jener ist ihr die methodische Arbeit und die Absicht des Erkennens gemein, mit dieser die Intuition und das Streben, das Ganze der Wirklichkeit mit einem Blick zu umspannen. Metaphysische Gedanken sind durch Erfahrung minder leicht zu er- härten, aber auch minder leicht durch sie zu widerlegen, als physikalische Hypothesen. Weniger abhängig also von unserer fortschreitenden Er- kenntnis der Tatsachen, altern die Systeme der Philosophie nicht so schnell wie die Theorien der Xaturwissenschaft, sie haben etwas von der ewigen Dauer klassischer Kunstwerke, sie behalten für alle Zeiten eine, wenn auch nur relative Gültigkeit trotz der gegenseitigen Befehdung und trotz dem Gerede von überwundenen Standpunkten. Die Denk- arbeit des Piaton, des Aristoteles und der Heroen der neueren Philo- sophie bewährt immer von neuem ihre befruchtende Kraft. Nirgends gibt es so lehrreiche Irrtümer, nirgends ist das Neue, mag es auch sich selbst als das Ganze erscheinen und sich feindlich gegen das Bestehende gebärden, so sehr nur eine Ergänzung und Fortbildung des Alten, nirgends die Forschung so viel wichtiger als das Endresultat, nirgends sind die Kategorien „richtig und falsch" so unzulänglich, wie auf dem

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. I

Einleitung.

Gebiete der Philosophie. Zeitstimmung, Volksgeist und Individualität des Denkers, Gemüt, Wille und Phantasie sind von ungleich stärkerem Einfluß, förderndem und hemmendem, auf die Gestaltung der Philosophie, als auf die irgend einer anderen Wissenschaft. Wenn ein System den geistigen Gehalt einer Epoche, einer Nation, einer großen Persönlichkeit zu klassischem Ausdruck bringt, wenn es durch bedeutende und originelle Konzeptionen, verfeinernde oder vereinfachende Auffassung, weite Aus- blicke, tiefe Einblicke der Lösung des Welträtsels näherführt oder ihm von einer neuen Seite aus beizukommen sucht, so hat es mehr geleistet, als durch Aufstellung einer Anzahl unbestreitbar richtiger Sätze. Die Vielgestaltigkeit der Philosophie, bei der Voraussetzung einer einzigen Wahrheit für viele ein Stein des Anstoßes, erklärt sich einerseits aus der komplizierten Mannigfaltigkeit und zugleich Beschränktheit der Trieb- federn, welche das philosophische Denken regieren (denn es ist der ganze Mensch, welcher philosophiert, nicht bloß sein Verstand), anderer- seits aus der Unerschöpflichkeit ihres Gegenstandes. Hinter der logischen Arbeit des Begründens und Folgerns stehen als treibende, lenkende, hemmende Agentien psychische und historische Mächte, selbst zum großen Teile nicht logischer Natur, aber stärker als alle Logik; und ihr gegenüber, zur Bewältigung reizend und zugleich ihr widerstrebend, breitet sich das unermeßliche Reich des Wirklichen. Die großen und harten Gegensätze, die auf der subjektiven wie auf der objektiven Seite zahl- reich bestehen, machen Einstimmigkeit in den höchsten Fragen zur Un- möglichkeit; erschweren sie es doch schon dem einzelnen Denker, seine Überzeugungen zu einem widerspruchslosen Lehrgebäude zusammen- zufügen. Jeder Philosoph sieht nur begrenzte Ausschnitte der Welt und sieht sie mit seinen Augen, jedes System ist einseitig. Gerade durch die Vielheit und Verschiedenheit der Systeme allein kann daher der Absicht des Philosophierens genug geschehen, die auf ein allseitiges Bild des Geistes und der Welt gerichtet ist. Die Gescliichte der Philo- sophie ist die Philosophie der Menschheit, jenes großen Individuums, das, weitsichtiger als die Organe, mit denen es arbeitet, gleichzeitig Entgegen- gesetztes zu denken vermag, und, Widersprüche ausgleichend und neue entdeckend, in notwendiger und sicherer Entwickelung der Erkenntnis einer umfassenden Gesamtwahrheit entgegenreift, die man sich nicht reich- haltig und gegliedert genug denken kann. Für die energische Mitarbeit an der Weiterbewegung der Philosophie ist freilich die Täuschung un- entbehrlich, als werde eben jetzt die Göttin Wahrheit den Schleier lüften, der sie jahrhundertelang verhüllt; der Historiker dagegen sieht im neuen Systeme nur einen neuen Stein, der, wohlbehauen und an seinem Ort zu den anderen gefügt, die Pyramide des Wissens in die Höhe führen hilft. Hegels Lehre von der Notwendigkeit und der treibenden Kraft des Widerspruchs, von der relativen Berechtigung der Standpunkte und

ElKLElTüiNG. -.

der planvollen Entwicklung der Spekulation ist als allgemeiner Gesichtspunkt eine große und unverlierbare Errungenschaft und braucht nur in der Anwen- dung vor engherziger Schulmeisterschablone bewahrt zu werden, um einen sicheren Kanon für die philosophie-historische Betrachtung abzugeben. Wenn von einem der Zeit trotzenden und der Mustergültigkeit voll- endeter Kunstprodukte vergleichbaren Werte der philosophischen Lehren der Vergangenheit die Rede war, so wurde dabei in erster Linie an die- jenigen Bestandteile der Spekulation gedacht, die ihren Ursprung weniger im abstrakten Denken, als in der Phantasie, dem Herzen, dem Charakter des Individuums, noch mehr in der Gemütsart des Volkes haben und sich bis zu einem gewissen Grade von der logischen Argumentation und der wissenschaftlichen Bearbeitung einzelner Fragen abtrennen lassen. Wir fassen sie unter dem Namen der Weltanschauung zusammen. Für sie leuchtet die Notwendigkeit ihrer beständig erneuerten Durch- denkung ohne weiteres ein. Die griechische Weltanschauung ist so klassisch wie die Plastik des Phidias und die Epik Homers, die christliche S(> ewig gültig wie die Architektur des IVIittelalters, die moderne so unwider- legbar wie die Poesie Goethes und die JNIusik Beethovens. Die Welt- anschauungen, die aus den Zeitstimmungen der Menschheit hervorwachsen als die Blüten des allgemeinen Kulturprozesses, sind nicht sowohl Ge- danken als Rhythmen des Denkens, nicht Theorien, sondern von Wert- gefühlen durchtränkte Anschauungsweisen, über die man wohl streiten, die man durch Gründe empfehlen und bekämpfen, aber nicht durch zwingende Beweise befestigen und umstürzen kann. Nicht nur Optimis- mus und Pessimismus, Determinismus und Freiheitslehre, sondern auch Pantheismus und Individualismus, Idealismus und Materialismus, selbst Rationalismus und Sensualismus haben ihre letzten Wurzeln im Affekt und bleiben, wenn sie auch mit den Mitteln des Denkens arbeiten, in höchster Instanz Sache des Glaubens, des Gefühls, des Entschlusses. Die ästhetische Weltansicht der Griechen, die religiös-transzendente des Christentums, die intellektualistische des Leibniz und Hegel, die panthe- listische Fichtes und Schopenhauers sind Lebensmächte, nicht Doktrinen, sind Voraussetzungen, nicht Ergebnisse des Denkens. Die eine Welt- anschauung wird von der anderen, die sie selbst durch ihre Einseitigkeit erzeugen hilft, aus der Herrschaft verdrängt, um später, nachdem sie von ihrem Gegensatz gelernt, sich geläutert, bereichert, vertieft hat, dieselbe zurückzuerobern; widerlegt aber wird sie durch die jüngere Nebenbuhlerin so wenig, wie das Sophokleische Drama durch das Shakespearische, die Jugend durch das Alter, der Frühling durch den Herbst.

Steht es somit außer Zweifel, daß die Weltanschauungen früherer Zeiten im Gedächtnis der Menschheit fortzuleben verdienen und nicht bloß als Erinnerungen an etwas, was einmal war (die Geschichte der Philosophie ist kein Antiquitätenkabinett, sondern ein Museum typischer

Einleitung.

Geisteserzeugnisse), so ist für den exakt wissenschaftlichen Teil der philosophischen Forschung der Wert und das Interesse der historischen Kenntnis ihrer Vergangenheit nicht minder ersichtlich. Für jede Wissen- schaft ist es von Nutzen, dena Werden und Wachsen ihrer Probleme und Theorien nachzugehen; in doppeltem Maße für die Philosophie. Der Fortschritt zeigt sich da keineswegs immer in den Resultaten, oft ist die Stellung der Frage viel bedeutender als die Antwort. Das Problem spitzt sich in einer bestimmten Richtung zu, oder es wird umfassender, wird auseinandergelegt und \erfeinert; wenn dann eine Zersplitterung in subtile Einzelheiten droht, erscheint wohl ein genialer Vereinfacher und zwingt die Blicke zur Grundfrage zurück. Solcher Fortschritt der Probleme, wie er überall unverkennbar und erfreulich hervortritt, ist in manchen von den Fragen, die das Menschenherz unabweislich bedrängen, der einzige .sichere Gewinn einer durch Jahrhunderte fortgesetzten Anstrengung. Hier ist eben die Arbeit wertvoller als der Ertrag.

Die Behandlung der Philosophiegeschichte hat sich vor zwei Extremen zu bewahren, vor einem gesetzlosen Individualismus und einem abstrakt logischen Schematismus. Die Geschichte der Pliil* »sophie ist weder eine zusammenhangslose Aufeinanderfolge willkürlicher Privatmeinungen und genialer Einfälle, noch eine mechanische und stetige Abwickelung typischer und einander gerade in dieser Form und Reihenfolge fordernder Stand- punkte und Probleme. Dort wird die Gesetzlichkeit, hier die Lebendig- keit der Entwickelung in ihrem Rechte verkürzt, dort der Zusammen- hang zu lose, hier zu straff und zu einfach gefaßt, dort die Macht der logischen Idee unter-, hier überschätzt. Daß der Zufall die Geschicke der Philosophie lenke, wird als Grundsatz nicht leicht behauptet werden; schwieriger ist es, die entgegengesetzte Überzeugung, daß sich der Fortschritt des Denkens gesetzlich vollziehe, von der Einseitigkeit formalistischer Konstruktion fernzuhalten und Art und Grenzen der Not- wendigkeit zu bestimmen. Philosophie zu erzeugen ist ^•ielleicht einer der höchsten Zwecke des Weltgeschehens, aber gewiß nicht der einzige ; er ist ein Teil des Gesamtzweckes, und man darf sich nicht wundern, daß die Mittel, denen seine Verwirklichung anvertraut ist, nicht ausschließlich in seinem Dienste arbeiten, daß ihre Wirksamkeit neben den beabsichtigten Erfolgen auch solche zeitigt, die für den philosophischen Zweck neben- sächlich oder störend erscheinen. Die Gedanken denken sich nicht selbst, sondern werden von lebendigen Geistern gedacht, die etwas anderes und besseres sind als bloße Denkmaschinen, Geistern, die jene Gedanken er- leben, sie mit persönlicher Wärme erfüllen und mit Leidenschaft ver- fechten. Man hat ohne Zweifel häufig Gelegenheit zu der Klage, daß die Persönlichkeit, welche die Durchführung eines großen Gedankens auf ihre Schultern genommen hat, ihrer Aufgabe nicht gewachsen ist, ihre

Einleitung. ,-

subjektiven Mängel in die Sache hineinträgt, zu wenig oder zuviel oder das Rechte nicht in der rechten Weise tut, so daß sich der Geist der Philosophie in der Wahl und Zubereitung seines Werkzeuges vergriffen zu haben scheint. Aber man darf die segensreiche Kehrseite nicht über- sehen. Der denkende Geist ist wohl begrenzter, als es für die reinliche Durchführung einer bestimmten logischen Aufgabe wünschenswert wäre, aber andererseits ist er auch viel reicher. Der Sache wäre gewiß mit einem seelenlosen Spiel der Begriffe nicht gedient, und es ist kein Nach- teil, daß es in der Geschichte der Philosophie nicht so geradschnurig und schulmäßig hergeht, wie etwa im System Hegels. Zwischen der logischen Idee und dem philosophierenden Individuum vermitteln eine Reihe abgestufter und sich durchkreuzender allgemeiner Mächte: der Geist des Volkes, des Zeitalters, des Berufs, des Alters, welche vom Einzelgeiste als Teile seiner selbst empfunden werden und deren An- trieben er unbewußt gehorcht. Hier wiederholt sich dann zwiefach das modifizierende, fördernde, hemmende Wechselverhältnis des Höheren und Niederen, des befehlenden Herrn und des mehr oder weniger willigen Dieners, noch kompliziert dadurcli, daß das Objekt geschichtlicher Ein- wirkungen selbst mit Geschichte machen hilft. Der wichtigste Faktor der philosophischen Fortbewegung ist natürlich der augenblickliche Stand der Forschung, die Leistung der unmittelbaren Vorgänger, und im Ver- hältnis zum Vorgänger muß abermals eine logische und eine psycho- logische Seite unterschieden werden. Oft setzt der Nachfolger mit seiner Befestigung, Fortbildung, Widerlegung an einer ganz anderen Stelle ein als dort, wo es dem konstruierenden Historiker willkommen wäre. Jeden- falls kann man mit der Aufstellung formeller Gesetze der Gedanken- entwickelung, nach den bisher zu sammelnden Erfahrungen, nicht vor- sichtig genug sein. Nach der Regel des Widerspruchs und der Versöhnung hätte unmittelbar auf Leibniz, dem optimistischen Intellektualismus einen pessimistischen Ethelismus entgegenstellend, ein Schopenhauer folgen müssen, worauf dann ein den Gegensatz in eine konkrete Gefühlslehre harmonisch auflösender Schleiermacher sich vortrefflich ausgenommen haben würde. Es ist anders gekommen, man muß sich darein finden.

Was eingangs von dem Werte der Geschichte der Philosophie über- haupt gesagt wurde, gilt um so mehr von der neueren Philosophie, als die von dieser eingeleitete Bewegung noch heute unvollendet fort- dauert. Wir arbeiten fort an den Problemen, welche von Descartes, Locke, Leibniz aufgeworfen und von Kant zu der kritischen oder trans- zendentalen Frage zusammengeschnürt wurden, die Gegenwart ist noch immer beherrscht von dem durch Fichte auf ein höheres Niveau er- hobenen Kulturideal des Baco, wir alle stehen noch unter dem un- geschwächten Banne jener Weltansicht, die sich im feindlichen Gegen-

Einleitung.

Satze zur Scholastik und unter dem nachhaltigen Eindrucke der gewaltigen, den Eintritt der Neuzeit bezeichnenden geographischen und naturwissen- schaftlichen Entdeckungen und religiösen Reformen gebildet hat. Gewiß war die durch Kants erkenntnis-theoretische und moral-philosophische Revolution herbeigeführte Wendung sehr bedeutend, bedeutender noch als die sokratische Epoche, die man gern mit ihr vergleicht; vieles Neue wurde angesponnen, vieles Alte gehemmt, gelähmt, zerstört. Dennocli ist der von Descartes ausgehende Faden durch die Kantische Philosophie, wenn wir auf ihre geschichtliche Nachwirkung blicken, nur geknotet und umgebogen, nicht durchschnitten worden. Von der fortwirkenden Macht der vorkantischen Denkart zeugt die Tatsache, daß Spinoza in Fichte und Schelling, Leibniz in Herbart und Hegel, der Sensualismus der französischen Aufklärer in Feuerbacli, der Naturalismus der Renaissance in Nietzsche von neuem aufgelebt ist und sogar der durch die Ver- nunftkritik (man hätte meinen sollen, für ewig) niedergestreckte Materialis- mus sein Haupt wieder erhoben hat. Selbst die schroffste Einseitigkeit der beginnenden Philosophie der Neuzeit, die Vergötterung des Wissens, ist trotz der moralistischen Gegenbewegung Kants und Fichtes nicht nur in dem letzten der großen idealistischen Systeme die beherrschende Triebfeder, sondern übt auch fortdauernd auf die Überzeugungen der längst hegelmüden Gegenwart, innerhalb und noch mehr außerhalb der Philosophie, einen verwunderlich starken Einfluß aus. Bei so engen Bezügen zwischen der heutigen Forschung und der Gedankenbewegung seit dem Beginn der Neuzeit ist die Kenntnis der letzteren, der die folgende Darstellung zu dienen bestimmt ist, eine dringende Pflicht: die Geschichte der Philosophie seit Descartes studieren, heißt die Vor- bedingungen der gegenwärtigen Philiisophie studieren.

Wir beginnen mit einer Skizzierung der Grundzüge des Gesamt- charakters der neueren Philosophie, die sich am bequemsten an einer vergleichenden Gegenüberstellung mit dem Charakter der alten und der mittelalterlichen Philosophie entwickeln lassen.

Die antike oder die griechische Philosophie beides ist so gut wie gleichbedeutend trägt einen vorwiegend ästhetischen Charakter. Schönheit und Wahrheit gelten dem Griechen als engverwandt und unzertrennlich, für Welt und Schmuck hat er den gemeinsamen Ausdruck „Kosmos". Eine Harmonie, ein Organismus, ein Kunstwerk ist ihm das Universum, dem er mit Bewunderung und andächtiger Scheu gegenübersteht. In ruhiger Betrachtung, wie mit dem Auge eines künstlerisch Genießenden, erfaßt er die Welt und das einzelne Objekt als ein schön gefügtes Ganze, mehr geneigt, an dem Aufbau und der Zusammenstimmung der Teile sich zu freuen, als den letzten Elementen nachzuspüren. Er schaut lieber, als daß er zerlegt, sein Denken ist

Einleitung.

plastisch, nicht anatomisch. In der Form erkennt er das Wesen des Gegenstandes, im Zweck den Schlüssel zum Verständnis des Geschehens. Überall Menschliches wiederfindend ist er stets sogleich mit Werturteilen zur Hand: die Sterne bewegen sich im Kreise, weil dies die vollkommenste Bewegung; das Rechts ist besser als das Links, das Oben vornehmer als das Unten, das Vorn schöner als das Hinten. Denker, bei welchen die ästhetische Pietät schwächer ist als der Trieb der Analyse, wie vor allen Demokrit, erscheinen als ungriechisch und halbmodern. Neben der im priesterlichen Festgewande einherschreitenden griechischen Philosophie präsentiert sich die neuere im profanen Werkeltagskleide, in der Arbeiter- bluse, das schonungslose Brecheisen der Analyse in der Hand. Nicht die Schönheit sucht sie, sondern allein die nackte Wahrheit, mag diese ausfallen, wie sie will. Sie hält es nicht für möglich, Verstand und Ge- schmack gleichzeitig zu befriedigen; ja das Kahle, Häßliche, Beleidigende scheint ihr eher für als gegen die Unverfälschtheit der Wahrheit zu sprechen. Ängstlich darauf bedacht, nicht Menschliches in die Natur hineinzutragen, geht sie so weit, sie ganz zu entgeistigen. Die Welt ist kein lebendiges Ganze, sondern eine Maschine, kein Kunstwerk, das in seiner Totalität angeschaut und mit Ehrfurcht genossen, sondern ein Uhrwerk, das auseinandergenommen sein will, um verstanden zu werden. Nirgends Zwecke, überall nur mechanische Ursachen. Einem wieder- erweckten Griechen würde die Art der modernen Wissenschaft recht nüchtern, unfestlich, unfromm und zudringlich erscheinen. Und wirklich, sie hat ein gut Stück Prosa in sich, läßt sich nicht leicht imponieren, sich durchs Gefühl keine Schranken setzen, kein Gegenstand ist ihr zu heilig, um ihm mit der Schneide des sondernden und auflösenden Denkens zu Leibe zu gehen.. Doch hat sie zur Zudringlichkeit auch das Eindringende, zur Nüchternheit die klare Schärfe, Kaltblütigkeit und logische Tapferkeit. Mit gleichem Ernst war die Forderung vorurteilslosen Erkennens und sicheren Wissens noch nicht erhoben worden. So plötz- lich und gewaltig brach dieses rein wissenschaftliche Interesse hervor, daß man in frohem Übermute meinte, kein früheres Zeitalter habe recht gewußt, was Wahrheit und Liebe zur Wahrheit sei. Eine begreifliche Folge solches starken Wissenstriebes war eine allgemeine Überschätzung des Erkennens auf Kosten aller übrigen geistigen Betätigungen. Auch von den griechischen Philosophen sah die Mehrzahl im Denken das höchste, gottähnlichste Tun. Doch wurde der Intellektualismus bei ihnen durch das ästhetische und das eudämonistische Element gemildert und vor derjenigen Einseitigkeit bewahrt, mit der er in der Neuzeit auf- tritt, da es hier an einem kräftigen Gegengewicht fehlte. Baco, so beredt er den Vorteil der Naturbeherrschung anpreist, kennt doch und feiert als das Höchste die Forschung um der Forschung willen, und selbst die Willens- philosophen Fichte und Schopenhauer zahlen dem intellektualistischen

Einleitung.

Vorurteil ihren Tribut. Wie sehr namentlich der künstlerische Trieb dem ausschließlich theoretischen das Feld räumt, ist schon aus dem äußer- lichen Umstände ersichtlich, daß die Neuzeit, wiewohl sie in Fichte, Schelling, Schopenhauer und Lotze, um geringerer nicht zu gedenken, hervorragende Stilisten besitzt, einen philosophischen Schriftsteller von der Größe des Piaton nicht aufzuweisen hat.

Wenden wir uns zur Denkungsart des Mittelalters, so tritt uns da, im Gegensatz zu der ästhetischen Anschauung des Altertums und der neuzeitlichen Tendenz des reinen Wissens, eine spezifisch religiöse Stimmung entgegen. Themata und Grenzen werden der Erkenntnis vom Glauben vorgeschrieben, alles wird aufs Jenseits bezogen, das Denken wird zum Gebet. Man spekuliert über die Eigenschaften Gottes, über Zahl und Rangordnung der Engel, über die Unsterblichkeit des Menschen lauter transzendente Gegenstände. Daneben findet wohl auch das Weltliche liebevolle Beachtung, aber immer nur als unteres Stockwerk i, über dem sich unter eigenen Gesetzen das wahre Vaterland, das Reich der Gnade, erbaut. Der subtilste Scharfsinn arbeitet im Dienste des Dogmas, er soll das Wie und Warum ergründen für Dinge, deren Daß anderweitig feststeht. Daher eine formalistische Wissenschaft neben einer innigen und tiefsinnigen Mystik. Zweifel und Zuversicht schlingen sich wunderlich durcheinander, und ein Gefühl der Erwartung bebt durch die Geister. Hier der sündige irrende Mensch, der, so heiß er sich mühen mag, die Wahrheiten der Offenbarung nur halb enträtselt, dort der gnädige Gott, der uns nach dem Tode sich so entschleiert zeigen wird, wie ihn Adam vor dem Sündenfall geschaut. Begreifen aber kann nur Gott sich selbst, für den endlichen Geist ist auch die enthüllte Wahrheit Geheimnis, und die Entzückung, die willenlose Hingabe an das Unbegreifliche, der Gipfel der Erkenntnis. In der mittelalterlichen Philosophie blickt das Subjekt zu seinem Objekt, dem Unendlichen, sehnsüchtig hinauf, wartend, daß dieses sich zu ihm herabsenken oder es zu sich emporheben werde; in der griechischen steht der Geist seinem Gegenstande, der Welt, als gleichberechtigt gegenüber, in der modernen weiß sich das spekulierende Subjekt als das Höhere, der Natur überlegene. Für die Auffassung des Mittelalters sind Wahrheit und Mysterium identisch, für die des Altertums vertragen sich beide miteinander, für die der Neuzeit schließen sie sich aus, wie Licht und Dunkel. Das Geheimnis ist der Feind des Wissens, der aus dem letzten Schlupfwinkel verjagt werden muß. Begreiflicher- weise stellte sich die Neuzeit in einen viel schrofferen Gegensatz zum Mittelalter als zur Antike, bot ihr doch die letztere so manches dar, was

1 Über die Treiiuung und Verbindung der drei Welten natura, gratia, gloria bei Thomas vergl. RuD. EuCKEN, Die Philosophie des Thomas von Aquino und die Kultur der Neuzeit, 1886.

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sich als Wafie gegen jenes verwenden ließ. Großeltern und Enkel halten gern zusammen.

Wenn sich ein Neues vorbereitet, aber die schöpferische Kraft noch mangelt, es zu gestalten, so entsteht zunächst eine Zeit tumultuarischen Widerwillens gegen das Vorhandene. JNIan weiß noch nicht recht, was man will, aber man fühlt lebhaft, was man nicht will. Die Unzufrieden- heit bereitet die Stätte für das Kommende, indem sie das Bestehende lockert und zum Sturze reif macht. Das Alte, Abgelebte, unbequem Gewordene war die Scholastik; die Philosophie der Neuzeit trägt durch- weg, am sichtbarsten in ihrem Beginn, den Charakter des Antischolas- tischen. Hatte bis dahin in geistlichen Dingen das kirchliche Dogma, in weltlichen die aristotelische Philosophie eine unbedingte Herrschaft geübt, so wird jetzt jeglicher Autorität der Krieg erklärt und Freiheit der Wissenschaft auf die Fahne geschrieben i. „Die neuere Philosophie ist Protestantismus in der Sphäre des denkenden Geistes" (Erdmann). Nicht was jahrhundertelang für wahr gehalten worden, nicht was ein anderer, und sei es Aristoteles oder Thomas, sagt, nicht was dem Wunsche des Herzens schmeichelt, ist wahr, sondern nur, was sich dem eigenen Verstände mit überzeugender Evidenz als gewiß darstellt. Die Philosophie will nicht länger die Magd der Theologie spielen, sie will sich ihr selbständiges Hauswesen gründen. Sich freimachen von jeglichem Zwange, von der äußeren Gebundenheit durch die Satzungen der Kirche, wie von der inneren Knechtschaft der Vorurteile und Lieblingsmeinungen, Freisein und Selbstdenken ist die Losung. Wer den Zweck will, überlegt die Mittel, die ihn erreichen: der Durst nach Wissen weckt die Frage nach dem Wie, Wodurch und Wieweit des Wissens, das erkenntnis-theoretische und methodologische Interesse regt sich mächtig, bleibt ein beständiger Faktor der neueren Forschung und gipfelt in Kant, um nie wieder ein- zuschlafen.

Suchen wir zur negativen Seite der neuzeitlichen Tendenzen die positive Ergänzung. Die Denkrichtung des Mittelalters wird abgelehnt, die ersehnte neue ist noch nicht gefunden. Was konnte passender einen Anhalt, einen vorläufigen Ersatz bieten, als das Altertum? So lenkt auch die Philosophie in jenen großen Kulturstrom der Renaissance und des Humanismus ein, der sich von Italien her über die ganze gebildete Welt ergoß. Der Scholastik werden Piaton und der Neuplatonismus, Epikur und die Stoa, dem kirchlich umgedeuteten und scholastisch entstellten Aristoteles der echte entgegengestellt. Zurück zu den Quellen! ^Mit der

1 Man verwarf jetzt unwillig die Lehre von der zwiefachen Wahrh ei t, unter deren Deckmantel sich bis dahin die freieren Regungen zu flüchten pflegten. Vgl. Freudenthal, Zur Beurteilung der Scholastik, im dritten Bande des AGPh. 1890. Ferner H. Reuter, Gesch. der relig. Aufklärung im Mittelalter 1875, 77 und Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften 1883.

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Sprache und den Schriftwerken der Alten wird auch ihr Geist wieder lebendig. Schulstaub und Kirchenzwang wird abgeschüttelt und das klassische Ideal freien und edlen Menschentums gewinnt begeisterte An- hänger. Man soll über dem Christen nicht den Menschen, über der Frömmigkeit nicht Kunst und Wissenschaft, Recht und Reichtum der Individualität, über der Arbeit fürs Jenseits nicht die irdische Aufgabe, die allseitige Ausbildung der natürlichen Anlagen des Geistes vergessen. Welt und Mensch werden nicht mehr mit den Augen des Christentums als ein Reich der Finsternis, als ein Gefäß der Schwäche und Verworfenheit angesehen, Natur und Leben erglänzen dem jungen Geschlechte in freudigem und lioffnungsvollem Lichte. Humanismus und Optimismus waren stets Verbündete.

Zu diesem Wechsel der Stimmung ein entsprechender Wechsel des Objektes: die Theologie muß ihren Thron der Naturerkenntnis räumen. Der angelologischen, christologischen, soteriologischen Fragen müde, wünscht der denkende Geist in der liebgewordenen Welt sich heimisch zu machen, verlangt nach realem, auch praktisch nutzbarem Wissen und sucht Gott nicht mehr außer und über der Welt, sondern in ihr. Die Natur ist das Haus, der Leib Gottes. Die Transzendenz macht der Immanenz Platz, nicht bloß in der Gotteslehre. Naturalistisch ist die Philosophie der Neuzeit gestimmt, indem sie nicht nur die Natur zu ihrem Lieblingsgegenstande macht, sondern auch die in der Naturwissenschaft erfolgreiche Methode, die mathematische, auf die übrigen Wissenszweige überträgt, alles sub ralione naturae betrachtet und auf „natürliche" Erklärung der Phänomene, auch der ethischen und politi- schen, dringt.

Kurz : die moderne Philosophie ist antischolastisch, humanistisch und naturalistisch gesinnt. Soviel mag zur vorläufigen Orientierung genügen, die weitere Verzweigung, Besonderung, Modifikation und Einschränkung jener allgemeinsten Züge muß der folgenden Darstellung überlassen bleiben.

Auf zweierlei jedoch sei noch im voraus hingewiesen. Die Gleich- gültigkeit und Feindseligkeit gegen die Kirche, welche als einer der hervor- stechendsten Züge der modernen Philosophie angeführt wurde, bedeutet nicht ohne weiteres Feindschaft gegen die christliche Religion, geschweige gegen die Religion überhaupt. Teils hat die religiöse Empfindung, welche in der Philosophie des XVI. Jahrhunderts besonders stark und schwärme- risch aufflammt, nur das Objekt gewechselt, indem sie statt der transzen- denten Gottheit dem beseelten Universum ihre Verehrung widmet; teils wendet sich die Opposition nur gegen die mittelalterliche, kirchliche Form des Christentums mit ihrer mönchischen Weltflucht. Es war häufig gerade ein sehr tiefes und strenges religiöses Gefühl, was die Denker in den Kampf gegen die Hierarchie hineintrieb. Indem so das dauernd Be-

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rechtigte an den Tendenzen, Lehren und Institutionen des Mittelalters von dem Verderblichen und Hinfälligen losgeschält und in die neue Welt- anschauung und Wissenschaft hinübergerettet wird, zugleich auch aus dem Altertum fruchtbare Elemente in sie eingehen, zeigt der Fortgang der Philosophie eine fortwährende Bereicherung der Gedanken, Anschauungen und Stimmungen. Das Alte wird nicht einfach zerstört und weggeworfen, sondern gereinigt, umgewandelt und assimiliert. Die gleiche Bemerkung drängt sich auf, wenn wir das Verhältnis von Philosophie und Nationalität in den drei großen Weltperioden ins Auge fassen. Die griechische Philo- sophie war, nach Ursprung und Publikum, durchaus national; sie wurzelt in der Eigenart des Volkes und wendet sich an Volksgenossen, erst gegen ihren Ausgang hin und nicht ohne christliche Einflüsse erwachen welt- bürgerliche Neigungen. Das Mittelalter ist, wie für alles Weltliche, so auch für die nationalen Unterschiede gleichgültig; neben der transzen- denten Bestimmung des Menschen hat nichts einen Wert. Seine Philo- sophie ist ihrer Absicht nach unnational, kosmopolitisch, katholisch, sie bedient sich der allgemeinen Schulsprache des Lateinischen, in aller Herren Ländern sucht sie ihre Anhänger und findet sie ihre produktiven Geister, ohne daß deren nationale Eigenart in wirksamer Weise zur Geltung käme. Die Neuzeit kehrt nun zu dem nationalen Charakter des Alter- tums zurück, gibt jedoch dabei den im Mittelalter gewonnenen Vorteil der Ausbreitung über den ganzen zivilisierten Erdkreis nicht auf. Der Baum der modernen Philosophie schickt seine Wurzeln tief in das frucht- bare Erdreich der Nationalität hinein, während die Krone sich weit über die Grenzen derselben hinausbreitet. So ist sie volkstümlich und kosmo- politisch zugleich, sie ist international als Gemeingut der verschiedenen Völker, die in regem Wechselverkehr ihre philosophischen Gaben aus- tauschen. Für das Ausland wird vielfach das Latein als die Weitsprache der Gelehrten beibehalten, aber manches Werk ist vorher in der Mutter- sprache veröffentlicht und in ihr gedacht worden. So wird es möglich, daß die Gedanken der Weisen, wie sie aus dem Geiste des Volkes ge- boren wurden, in das Volksbewußtsein eindringen und über die Kreise des gelehrten Publikums hinaus eine Macht werden. Philosophie als Auf- klärung, als Element der allgemeinen Bildung, ist eine ausschließlich neu- zeitliche Erscheinung. In dem spekulativen Völkerverkehr aber sind nach Produktion und Konsumtion die Franzosen, Engländer und Deutschen am stärksten beteiligt. Frankreich (Descartes) ergreift die Initiative, sodann geht die Hegemonie auf England (Locke) über, mit Leibniz und Kant übernimmt Deutschland die Führung, um sie neuerdings mit England und Amerika zu teilen. In der Zeit der Gärung vor Descartes nimmt außer jenen Mächten Italien an der Erzeugung philosophischer Ideen eifrigen Anteil. Jede dieser Nationalitäten bringt zur Gesamtleistung Gaben mit, die schlechterdings nur sie zu liefern imstande ist, und wird durch

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Gegengaben belohnt, die sie aus eigenen Mitteln hervorzubringen unver- mögend wäre. Dieser internationale Gedankenaustausch, bei welchem jeder Teil schenkt und jeder gewinnt, dazu der Umstand, daß die be- deutenden Denker der Neuzeit, namentlich der vorkantischen Hälfte, zum großen Teile nicht Philosophen von Profession, sondern Militärs, Staats- männer, Ärzte, auch wohl Naturforscher, Historiker, Juristen sind, gibt der modernen Philosophie einen unzünftigen, mehr weltmännischen An- strich, der von dem klerikalen Charakter der mittelalterlichen und dem seherhaften der alten auffallend absticht.

Um den Ruhm, den ersten modernen Philosophen hervorgebracht zu haben, streiten Deutschland, England und Frankreich: als Kandidaten für das Amt des Eröffners der neueren Philosophie sind nämlich Nikolaus von Kues, Baco von Verulam und Rene Descartes aufgestellt worden; auf Hobbes, Bruno und Montaigne sind nur vereinzelte Stimmen gefallen. Am schwächsten ist es mit dem Ansprüche Englands bestellt, denn ohne die Bedeutung Bacos zu schmälern, darf man sagen, daß das Programm, das er entwickelt und mehr ist seine Philosophie im Grunde nicht , weder in seinen Hauptgedanken von ihm zuerst ausgesprochen, noch von ihm selbst mit hinreichender Konsequenz durchgeführt worden ist. .Der Streit der beiden anderen Prätendenten aber ist leicht durch einen billigen Vergleich geschlichtet, wenn man sich nur über die Unterscheidung von Vorläufer und Anfänger oder von Anbahner und Begründer ver- ständigen will. Der Eintritt einer neuen Geschichtsperiode ist nicht wie der eines neuen Stückes auf der Spieldose von einem hörbaren Ruck begleitet, sondern vollzieht sich allmählich. Von dem Punkte, wo das Neue zum erstenmal aufblitzt, unverstanden und seiner selbst nicht recht bewußt, bis dahin, wo es in voller Kraft und Reife auf der Bühne er- scheint, sich selbst als ein Neues erkennend und von den anderen als solches anerkannt, kann eine geraume Weile verfließen: die Gärung zwischen Mittelalter und Neuzeit währt beinahe zwei Jahrhunderte. Ob nun diese Zeit des Ahnens und Wünschens, des Versuchens und halben Gelingens, in der das Neue mit dem Alten ringt, ohne es zu überwinden, und die entgegengesetzten Tendenzen der kämpfenden Weltanschauungen unklar und wunderlich durcheinanderspielen, ob sie als Nachspiel des Gewesenen oder als Vorspiel des Künftigen anzusehen sei im Grunde doch wohl als beides , ist schließlich nicht viel mehr als ein Wortstreit. Die einfache Lösung, sie als Übergangsperiode hinzunehmen, die nicht mehr Mittelalter und noch nicht Neuzeit sei, hat ziemlich allgememen Beifall gefunden. Nikolaus Cusanus (1401 64) hat zuerst grund- legende Gedanken der neueren Philosophie ausgesprochen er ist der Reigenführer jenes vorbereitenden Zwischenzeitraums. Descartes (1596 1650) hat das erste moderne System aufgestellt er ist der Vater der neueren Philosophie.

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Zum Schluß eine kurze Übersicht der Literatur.

Heinrich Ritters Geschichte der neueren Philosophie (Band 9 12 seiner Gesch. d. Ph.) 1850 53, bis Wolffund Rousseau reichend (und fortgeführt in der „Übersicht über die Gesch. der neuesten deutschen Philos. seit Kant" 1853), ist durch neuere Arbeiten überholt worden.

Der gediegene „Versuch einer wissensch.aftlichen Darstellung der neueren Philo- sophie" (6 Bände 1834 53) von JOH. Ed. Erdmann gibt in den Anhängen wörtliche Auszüge aus den fremdländischen Autoren ; desselben Verfassers „Grundriß der Gesch. d. Ph." (2 Bände 1869; 4. Aufl., bearbeitet von Benno Erdmann 1896) enthält am Schlüsse die erste Darstellung der deutschen Philosophie seit Hegels Tode,

Überwegs Grundriß (die neuen Auflagen besorgt von M. Heinze, der frühere dritte Teil „die Neuzeit" seit der 9. Aufl. 1901 2 in zwei selbständige Teile zerlegt: „Vorkantische und Kantische Philosophie" und „Das neunzehnte J.ahrhundert") ist durch die (für den Anfänger allerdings verwirrende) Vollständigkeit der bibliographi- schen Angaben ein unentbehrliches Nachschlagebuch geworden.

Die ausführlichste und glänzendste Darstellung hat KUNO FISCHER gegeben (1854 ff., 4. Aufl. 1897 ff.). Dieses zugleich als schriftstellerische Leistung bedeutende Werk ist wie kein anderes geeignet, den Leser in der Gedankenwelt der großen Philosophen, die es von ihrem Mittelpunkte aus lebendig rekonstruiert, heimisch zu machen und auf das (natürlich auch durch die beste Darstellung nicht zu ersetzende) Studium der eigenen Werke der Denker vorzubereiten. Für die erste Einführung in ein System fällt der Mangel einer zu weit gehenden Vereinfachung der Probleme nicht allzuschwer ins Gewicht. Eine Ergänzung zu den ersten Bänden der Gesch. d. neueren Philosophie bildet desselben Verfassers „Baco und seine Nachfolger" (1856,

2. Aufl. 1875), dessen dritte Auflage dem großen Werke als zehnter Band angeschlossen Averden soll.

Eduard Zellek hat die Vorzüge eines gründlichen und umfassenden Wissens und eines besonnenen Urteils, welche seine Philosophie der Griechen zu einem klassischen Werke machen, auch der Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz (1873, 2. Aufl. 1875) zugute kommen lassen.

WiLH. Windelband (Gesch. d. n. Ph., 2 Bde., 1878 und 1880, 2. Aufl. 1899, bis Hegel und Ilerbart) betont den Zusammenhang der Philosophie mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften und legt den Nachdruck auf die philo- sophischen Methoden. Sein Buch ist eine angenehme Lektüre ; doch wäre im Interesse der Anschaulichkeit zu wünschen gewesen, daß aus dem Inhalt der behandelten Lehren mehr Positives mitgeteilt, statt wesentlich über dieselben reflektiert würde. Ein in Aussicht gestellter dritter Band wird die Entwickelung der Philosophie bis zur Gegenwart verfolgen. Windelbands „Lehrbuch der Gesch. d. Philos." 1892,

3. Aufl. 1903, unterscheidet sich von den übrigen Darstellungen dadurch, daß es eine Geschichte nicht der Personen und Systeme, sondern der Probleme gibt.

r.AUMANNs Gesch. d. Philos. 1890 (in der 2. Aufl. 1903 „Gesamtgeschichte d. Ph." betitelt) will nur auf diejenigen Denker näher eingehen, welche in Ideengehalt und Beweisen Eigentümliches gebracht haben.

Fritz Schultze, Stammbaum der Philosophie 1890, gibt auf leider unförm- lichen Tafeln geschickt zusammengestellte Tabellen; jenem Übelstande ist auch in der 2. Aufl. 1899 noch nicht vollständig .abgeholfen.

JUL. Bergmann, Gesch. d. Philos. 1892 93 (erster Band: vor Kant, zweiten Bandes erste Abteilung: von Kant bis Fichte, zweite Abteilung: nach Fichte), ist in der Kritik scharfsinnig, in der Darstellung zuweilen originell, aber nie anregend.

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Harald Höffdings leider nicht tadellos übersetzte Gesch. der neueren Philos., 2 Bände 1895 96, ist das Werk eines feinsinnigen Empiristen und liebenswürdigen Schriftstellers.

Carl Stumpf hat in der 2. Aufl. seiner „Tafeln zur Gesch. der Thilos." 1900 der instruktiven graphischen Darstellung der Lebenszeiten eine von T. Menzer ge- fertigte sorgsame Übersicht der Literatur von 1440 1869 hinzugefügt.

Abr. Eleutheropulos, Wirtschaft und Thilosophie 1900—01, behandelt ini ersten Bande die Philosophie und die Lebensauffassung des Griechentums, im zweiten die der germanisch-romanischen ^'ölker ,,auf Grund der gesellschaftlichen Zustände".

Für Dürrs Thilosophische Bibliothek hat Karl Vorlaender eine Geschichte der Philosophie geschrieben, deren zweiter Band 1903 die Neuzeit behandelt. Die .Anordnung ist zuweilen recht geschickt.

H. C. W. Sigwarts etwas breit, aber klar geschriebene Gesch. der Philos. 1S44 (3 Bände, der zweite vom 16. Jahrh. bis Kant, der dritte bis Hegel) und L. Feuer- BACHs Gesch. der neueren Philos. von Baco bis Spinoza 1833 (Werke Band 4, woran sich desselben Autors Schriften über Leibniz 1837 und Bayle 1838 anschlielkn) ver- dienen noch immer Beachtung. EUGEN DÜrings (hyper-)kritische Gesch. d. Thilos. (1869, 4. Aufl. 1894) ist Lernenden kaum zu empfehlen. Lewes (deutsch 1876) nimmt einen positivistischen, A. Stückl (3. Aufl. 1889) und (Jtto Willmann (Gesch. des Idealismus, 3. Bd. 1897) einen katholisch konfessionellen, Thilo (1874) und Otto Flügel (Die Trobleme der Philos. und ihre Lösungen 1876, 3. Aufl. 1893) einen exklusiv herbartischen Standpunkt ein; ViNCENZ Knauer (Gesch. der Philos. 2. Aufl. 1882; Ders., Die Hauptprobleme der Philos. von Thaies bis Hamerling, 1892) steht Günther nahe.

Darstellungen der Thilosophie seit Kant besitzen wir von dem Hegelianer C. L. MiCHELET (eine größere zweibändige 1837—38, eine kürzere 1843), Chalylaeus (1837, 5. Aufl. 1860, ehemals sehr beliebt und dieser Beliebtheit würdig). Fr. K. Bie- dermann (1842—43), Carl Fortlage (1852, Kant-Fichtescher Standpunkt) und Friedrich Harms (1876). Der letztgenannte hat leider nicht vermocht, den guten Gedanken und originellen Auffassungen, an denen das Buch nicht arm ist, eine hin- reichend klare und präzise, geschweige geschmackvolle P'orm zu geben. Die sehr populäre, hegelianisierende Darstellung eines Anonymus „Deutschlands Denker seit Kant" (Dessau 1851) verdient kaum Erwähnung. Wertvoller sind J. H. FiCHTEs Bei- träge zur Charakteristik der neueren Philos. 1830, 2. Aufl. 1841 und H. Ulricis Gesch. und Kritik der Prinzipien der neueren Philos. 1845. Arthur Drews (Die deutsche Spekulation seit Kant, 2 Bde. 1893) behandelt vom Hartmannschen Standpunkte die Lehren vom Absoluten. Ferner: JOH. VoLKELT, Vorträge zur Einführung in die Philos. der Gegenwart 1892; W. Dilthey, Die drei Grundformen der Systeme in der ersten ILälfte des 19. Jahrh., AGPh. Bd. 11, S. 5511'. 1898; R. Falckenberg, Hilfsbuch zur Gesch. der (deutschen) Thilos, seit Kant 1899.

Auch von den Werken, welche die historische Entwickelung ei nz einer Fächer verfolgen, seien einige erwähnt. Für die Geschichte der Religionsphilosophic der erste Band der „Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage" von Otto Tfleiderer (3. Aufl. 1893) und die sehr zuverlässige Darstellung von Bernhard PÜNJER (2 Bde., 1880, 1883); ferner C. LÜLMANN, Das Bild des Christentums bei den großen deutschen Idealisten, 1902. Für die der praktischen Philosophie außer dem ersten Bande von J. H. Fichtes Ethik (1850) Franz Vorländer, Ge- schichte der philos. Moral, Rechts- und Staatslehre der Engländer und Franzosen (1855), Fr. Jodl, Gesch. der Ethik in der neueren Philos. (2 Bde., 1882, 1889),

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Jos. Cl. Kreibig, Gesch. und Kritik des ethischen Skeptizismus 1896, Bluntschli. Gesch. der neuereu Sta.atswissensch.aft, 3. Aufl. i88i, und Hermann Rehm, Gesch. der Staatsrechtswissenschaft 1896, §46 f.; Ders., Allgemeine Staatslehre 1899, §§ 55 66 (Gesch. der Staatstheorien). Für die der Geschichtsphilosophie ROB. Flint, Philosophy of history in France and Germany 1874 (1893 erschien der erste Teil einer sehr erweiterten Umarbeitung: Historical philosophy in France), Rocholl, Die Philosophie der Geschichte (1878), Richard Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilos. 1890 und Paul Barth, Die Philos. der Gesch. als Soziologie, erster Teil: Einleitung und kritische Übersicht 1897. Für die der Ästhetik R. Zimmerm.'VNN 1858, H. Lotze 1868, Max Sciiasler 1871, Ed. von Hartmann (seit Kant) 1886, Heinrich v. Stein, Die Entstehung der neueren Ästhetik 1886, W. KUNTZ, Beiträge zur Entstehungsgesch. der n. Ästh., Würzburger Dissert. 1899. Sodann Rob. Sommer, Grundzüge einer Gesch. der deutschen Psychol. und Ästhetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller 1892. Max Dessoir, Gesch. der neueren deutschen Psychologie, Ed. i (von Leibniz bis Kant) 1894, 2. Aufl. 1897 1902. Fr. Alb. Lange, Gesch. des Materialismus 1866, 5. Aufl. 1896. Jui.. Baumann, Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren Philos. 1868 69. Hans Heussler, Der Rationalismus des 17. Jahrh. (Descartes, Spinoza, Leibniz) in s. Bezieh, zur Entwickelungslehre 18S5. Edm. KÖNIG, Die Entwickelung des Kausalproblems von Cartesius bis Kant 1888, seit Kant 1890. Heinr. Grünbaum, Zur Kritik der modernen Kausalanschauuugen, AsPh. Bd. 5, 1899. KuRD Lasswitz, Gesch. der Atomistik vom Mittelalter bis Newton, 2 Bde., 1890. Ed. Grimm, Zur Geschichte des Erkenntnisproblems, von Bacon zu Hume 1890. R. Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker 1890, 5. Aufl. 1904. Ed. v. Hart- mann, Geschichte der Metaphysik, 2 Bde., 1899, 1900. Jonas Cohn, Gesch. des Unendlichkeitsproblems 1896. Karl Joel, Die Plauen in der Philos., 1896, jetzt in den „Philosophenwegen" 1901, woselbst auch ein Vortrag über Philosophen- ehen. Ferner Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart 1885, 2. Aufl. in 2Bdn. 1896 97; Ders., Die deutschen Universitäten und das Universitäts- studium 1902; Georg Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten im Mittel- alter, 2 Bde. 1888 ^96. Ad. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde. 1886 90, 3. Aufl. 1894 97; Ders., (Grundriß der) Dogmengeschichte, 3. xA.ufl R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 2 Bde. 1895 98; Iiers., Grundriß der Dogmengeschichte 1901.

Für die Übergangsperiode sind zu empfehlen MOR. Carriere, Die philos. Welt- anschauung der Reformationszeit 1847, 2. Aufl. 1887; Jacob Burckhardt, Kultur der Renaissance in Italien, 8. Aufl. herausgeg. von Ludwig Geiger 1902; G. Voigt, Die Wiederbelebung des klass. Altertums oder das erste Jahrh. des Humanismus, 2 Bde., 3. Aufl. besorgt von Max Lehnerdt, 1893; G. Körting, Petrarca 1878, Boccaccio 1880, Die Anfänge der Renaissanceliteratur in Italien I 1883; L. GEIGER, Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland 1882; Fr. VON Bezold, Gesch. der deutschen Reformation 1890. Vgl. die Notizen über die Renaissanceliteratur in S'IEINS Jahresbericht, AGPh. Bd. 2, S. 478. W. DiLTHEY, Die Glaubenslehre der Reformatoren (Preuß. Jahrbb. Bd. 75) 1894; ferner die im AGPh. veröfTentbchten geist- vollen Artikel desselben Verfassers: Auff'assung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrh. (Bd. 4 u. 5) und ihre P'ortsetzungen : Das natürliche System der Geistes- wissenschaften im 17. Jahrh. (Bd. 5 u. 6); Die Autonomie des Denkens, der kon- struktive Rationalismus und der pantheistische Monismus im 17. Jahrh. (Bd. 7); Der entwickelungsgeschichtliche Pantheismus (Bd. 13 .

l5 Einleitung.

Außerdem sei verwiesen auf RUD. EuCKEN, Gesch. und Kritik der Grund- begriffe der Gegenwart 1878, 2. Aufl. 1893, 3. Aufl. unter dem Titel „Geistige Strömungen der Gegenwart" 1904; Ders., Gesch. d. philos. Terminologie 1879; Ders., Beiträge zur Gesch. d. neueren Philos. 1886 (darin ein wertvoller Aufsatz über Parteien und Parteinamen in der Philos.); Ders., Gesammelte Aufsätze zur Philos. und Lebensanschauung 19CJ4. LUDWIG NoACK, Philosophiegeschichtliches Lexikon (bio- graphisches Handwörterbuch) 1879. Ad. Trendelenburg, Historische Beiträge zur Philos., 3 Bde., 1846 67. Ed. Zeller, Vorträge und Abhandlungen, drei Samm- lungen 1865 84. RoB. Zimmermann, Studien und Kritiken zur Philos. und Ästhetik, 2 Bde., 1870. Chr. v. Sigwart, Kleine Schriften, 2 Bde., 1881, 2. x\usg. 1889. In R. Seydels ,, Religion und Philosophie" 1887 finden sich lesenswerte Aufsätze über Luther, Schleiermacher, Schelling, Weiße, Fechner, Lotze, v. LIartmann, den Darwinismus u. a. Sam. Eck, Aus den großen Tagen der deutschen Philos., drei Vorträge 1901, behandelt Kant, Hegel und Schleiermacher.

Von den kleineren Kompendien ist das von Schwegler (1848, die neuesten Auflagen durchgesehen und ergänzt von R. KOEBER; minder empfehlenswert die Be- arbeituQg von J. Stern bei Reclam) immer noch das wenigst schlechte. Die mageren Abrisse von Deter (6. Aufl. von G. Runze), Eisler, Kirchner, Koeber, Kuhn, Rabus, Vogel u. a. sind immerhin zum Repetieren brauchbar.

Unter dem Titel ,,P'rommanns Klassiker der Philosophie" erscheint seit 1896 (bei E. Hauff in Stuttgart) eine als nützliches Werkzeug philosophischen Studiums begrüßte Serie von Monographien über hervorragende Denker, welche deren Welt- und Lebensanschauungen den Studierenden wie den Gebildeten zugleich gründlich und in ansprechender Form vorführen sollen. Bis jetzt liegen sechzehn Bändchen vor: i. Fechner von Lasswitz (2. Aufl. 1902), 2. Hobbes von TÖNNIES, 3. Kierkegaard von HÖFFDING (2. Aufl. 1902), 4. Rousseau von HÖFFDING (2. Aufl. 1902), 5. Spencer von Gaupp (2. Aufl. 1900), 6. Nietzsche von Al. Riehl (3. Aufl. 1901), 7. Kant von Paulsen (3. Aufl. 1899), 8. Aristoteles von Siebeck (2. Aufl. 1902}, 9. Piaton von Windelband (3. Aufl. 1902), 10. Schopenhauer von Volkelt, ii. Carlyle von Hensel (2. Aufl. 1902), 12. Lotze, erster Teil (Leben und Entstehung der Schriften nach den Briefen) von Falckenberg, 13. Wundt von E. KOENIG (2. Aufl. 1902), 14. J. St. Mill von S. Saenger, 15. Goethe von Siebeck, 16. Die Stoa von P. Barth. Daran werden sich anschließen: Galilei (Natorp), Spinoza (Freudenthal), Leibniz (Adickes), Fichte (Rickert), Schiller (Volkelt), Comte (Windelband), Rob. Mayer (Riehl), Feuerbach (Jodl), Strauß (Ziegler), Schleiermacher u. a.

Eine gut gewählte, von Erläuterungen begleitete Auswahl aus den Werken der hervorragendsten Philosophen (die ausländischen in deutscher Übersetzung) bietet das Philosophische Lesebuch von Max Dessoir und Paul Menzer, Stuttg. 1903.

Bei Zitaten aus philosophischen Zeitschriften bediene ich mich folgender Ab- kürzungen :

ZPhKr. = Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. AGPh. = Archiv für Geschichte der Philosophie. AsPh. = Archiv für systematische Philosophie. VwPh. = Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie (und Soziologie). ZPs. = Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane.

WPhSt. = Wundts Philosophische Studien. ^ KSt. = Vaihingers Kantstudien.

Erstes Kapitel. Die Übergangszeit- Von Nikolaus Gusanus bis Descartes^

Was von der Mitte des XV. bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts an philosophischen Versuchen hervortritt, kann weder dem Mittelalter, noch der Neuzeit zugerechnet werden, denn es trägt die Züge beider Zeitalter in sonderbarer Mischung. An heißem Begehren, hohen Forderungen, groß- artigen Entwürfen, beglückenden Aussichten ist kein Mangel ; aber an aus- dauernder Kraft fehlt es, an Ruhe und Reife, und die Fesseln, gegen welche die Geister sich empören, halten sie selbst und diejenigen, zu denen sie reden, noch gar zu fest umschlossen. Nur an einzelnen Stellen werden sie gelockert und abgeschüttelt; gelingt es, die Hände freizumachen, so klirrt doch an den Füßen noch das hemmende Eisen. So recht eine Zeit für originelle Köpfe, die denn auch in erstaunlicher Anzahl neben und nach einander auftauchen und, sowenig sie durch dauernde Leistungen befrie- digen, dennoch durch die Kühnheit und Tiefe ihrer mit barocken Einfällen wechselnden oder mit solchen durchwachsenen genialen Gedanken, durch den Mut ihrer jugendlichen Himmelstürmerei und nicht zum wenigsten durch das herbe Geschick, das ihre Anstrengungen mit Ver- ständnislosigkeit, Verfolgung und Feuertod belohnte, immer von neuem das Interesse reizen. Wir müssen die breite Schwelle, welche die moderne Philosophie von der scholastischen trennt und begrenzt wird durch die Jahre 1450, wo Nikolaus von Kues sein Hauptwerk, den Idioten, schreibt, und 1644, wo Descartes mit dem seinigen, den Prinzipien der Philosophie, die neue Ära eröflnet, eilenden Fußes durch- schreiten und dürfen nur Wichtigstes flüchtig berühren. Die Übergangs- periode beginnen wir mit Nikolaus und schließen sie mit den Engländern Bacon, Hobbes und Herbert. Dazwischen ordnen wir die vielgestaltigen Erscheinungen der philosophischen Renaissance (im weiteren Sinne) in sechs Gruppen : die Wiedererwecker und Bekämpfer antiker Systeme, die italienischen Naturphilosophen, die Staats- und Rechtslehrer, die Skeptiker, die Mystiker, die Begründer der exakten Naturforschung. In Italien nimmt die geistige Wiedergeburt eine künstlerische, (natur-)wissen- schaftliche und humanistische Richtung, in Deutschland erscheint sie vorwiegend als religiöse Befreiung in der Reformation.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 2

l8 Die Übergangszeit.

1. Nikolaus Cusanus.

Nikolaus', geboren 1401 in Kues an der Mosel bei Trier, seinem strengen Vater, dem Schiffer und Winzer ChrypfFs (Krebs), früh entlaufen, wurde bei den Fraterherren zu Deventer erzogen, studierte in Heidel- berg und Padua Jura, Mathematik und Philosophie, verlor in Mainz seinen ersten Prozeß, was ihm seinen Beruf verleidete, wandte sich zur Theo- logie und wurde ein hervorragender Prediger. Er beteiligt sich am Baseler Konzil, geht als Gesandter des Papstes Eugen IV. nach Konstantinopel und nach Frankfurt zum Reichstag, wird 1448 Kardinal und 1450 Bischof von Brixen. Er gerät in Streitigkeiten mit seinem Lehnsherrn, dem Grafen von Tirol, Erzherzog Sigmund, der ihm seine Anerkennung ver- weigert, und wird von diesem eine Zeitlang gefangen gehalten. Vorher hatte er in Missionsangelegenheiten Reisen nach Deutschland und den Niederlanden unternommen. Bei einem zweiten Aufenthalt in Italien ereilt ihn 1464 zu Todi in Umbrien der Tod. Die Pariser Gesamtaus- gabe seiner Werke vom Jahre 15 14 (der 1565 eine Baseler Ausgabe folgte) enthält im ersten Bande die wichtigsten philosophischen, im zwei- ten u. a. mathematische Abhandlungen und zehn Bücher Auszüge aus den Predigten, im dritten das große, in Basel vollendete Werk de con- cordantia catholica (1433).

Im Jahre 1440 (schon vorher hatte er über die Verbesserung des Kalenders geschrieben) beginnt Nikolaus die stattliche Reihe seiner philosophischen Schriften mit der „Wissenschaft des Nichtwissens" [de doda ignorantia), an die sich im selben Jahre die „Vermutungen" {de coniecturis) anschließen. Es folgen kleinere Traktate über das Gottsuchen, die Sohnschaft, die Gabe des Vaters des Lichtes, die Entstehung der Welt und eine Verteidigung der docta ignorantia (gegen einen Angriff Joh. Wencks). Das bedeutendste Werk ist der dritte der vier Dialoge

1 R. Zimmermann, N. C. als Vorläufer Leibnizens, im VIII. Bande der Sitzungs- berichte der philos.-historischen Klasse der Akad. d. Wiss., Wien 1852, S. 306 ff. (auf- genommen in die Studien und Kritiken I). R. Falckenberg, Grundzüge der Philo- sophie des Nik. Cus. mit besonderer Berücksichtigung der Lehre vom Erkennen, Breslau 1880.- R. Eucken, Beiträge zur Gesch. der neueren Philos., Heidelb. 1886, S. 6 ff. Scharpff, Des Nik. v. Cusa wichtigste Schriften in deutscher Übers., Frei- burg i. Br. 1S62. Ders., Der Cardinal N. v. C. als Reformator 1871. Jon. Uebingek, Die Gotteslehre des Nik. Cus., Münster 1888 (im Anhang der Text des verloren ge- glaubten Viergesprächs de non aliud vom Jahre \\(i-z). Ders., Die philos. Schriften des Nik. Cus., drei Artikel in der ZPhKr. Bd. 103, 105, 107, 1893 95. Ders., Die mathemat. Schriften des Nik. Cus., im Philos. Jahrbuch, Bd. 8 ff, 1895 ff. S. Günther, N. V. C. in seinen Beziehungen zur Geographie (Abhandl. zur Gesch. der Math., Bd. 9) 1899; vergl. Der.«., Studien zur Gesch. der math. u. physikal. Geographie, Halle 1879. Deichmüller, Die astronomische Bewegungslehre u. Weltanschauung des N. V. C. (aus den Sitzungsberichten der niederrhein. Gesellschaft für Natur und Heilkunde in Bonn) 1901. P. Barth, Zum Gedächtnis des N. C. (VwPh. 25, 4) 1901.

Nikolaus Cusanüs.

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über den Laien {de iiUotd): über den Geist {(ic meutc) 1450. In immer neue Formen kleidet er die eine höchste Wahrheit, auf die alles ankommt und die sich nicht in verständigen Worten mitteilen, sondern nur in lebendiger Anschauung ergreifen läßt. Bald in begrifflicher Dialektik, bald in mystischem Schwünge, bald in populärer Vereinfachung und mit Anknüpfung an Naheliegendes, bald in knapper lehrhafter Zusammen- fassung sucht er den Leser zur Schauung des Unaussprechlichen hinan- zuleiten oder emporzureißen und die Fruchtbarkeit des (auf der Rück- fahrt von Konstantinopel 1438 ihm aufgegangenen) Prinzips vom Zusammenfallen der Gegensätze zu entwickeln (die Schauung Gottes, die Brille, das „Possest", die Jagd nach der Weisheit, der Gipfel der Er- kenntnis, das Globusspiel, Kompendium). Sehr wertvoll sind außerdem die religions- philosophischen Arbeiten: der Friede des Glaubens und die Sichtung des Koran. Freisinnigere Katholiken verehren in ihm einen der tiefsten Denker der Kirche, der allgemeinen Anerkennung aber seiner hohen Bedeutung für die Philosophie der Neuzeit stand bisher die blenden- dere, jedoch weniger originelle Erscheinung des Giordano Bruno im Wege.

Zwei Themata bilden die Angelpunkte des cusanischen Systems: die menschliche Erkenntnis und das Verhältnis Gottes zur Welt. Vier Stufen des Erkennens werden unterschieden: Zu unterst der Sinn (nebst der Einbildung), der nur verworrene Bilder liefert; über ihm der sondernde, Zeit und Raum setzende, mit der Zahl operierende und Namen gebende Verstand [ratio), der nach dem Prinzip des Widerspruches die Gegen- sätze auseinanderhält; sodann die spekulative Vernunft (z>z/^/^r/;^j'), welche die Gegensätze miteinander verträglich findet; zuhöchst die mystische überbegrifTliche Anschauung [visio sine comprehensione, intuitio, unio, ßliafio), für welche die Gegensätze in der unendlichen Einheit zusammen- fallen. Der Gipfel der schauenden Erkenntnis, in welcher die Seele mit Gott geeinigt wird, da hi-er selbst der Gegensatz von Subjekt und Objekt hinwegfällt, wird nur selten erreicht, und schwer ist es, die sinnlichen Gleichnisse und Bilder fernzuhalten, die sich trübend in die Intuition einmischen. Aber eben in der Einsicht dieser Unfaßbarkeit des Un- endlichen haben wir die zutreffende Wissenschaft von Gott; dies der Sinn jenes „wissenden Nichtwissens", jener docta ignorantia. Man wird an das Salomonische Urteil erinnert: dadurch, daß ich auf die Erkenntnis Gottes als des Unbegreiflichen verzichte, gewinne ich sie!

Der Unterschied der angegebenen Erkenntnisstufen darf jedoch nicht als starrer gefaßt werden: die höhere Stufe begreift die niedere mit in sich und ist bereits in ihr tätig. Der Verstand kann nur unterscheiden, wenn ihm durch die Empfindung Bilder des zu Unterscheidenden ge- geben sind, die Vernunft nur vereinigen, wenn ihr der Verstand Ge- trenntes und zu Einigendes dargeboten hat; und andererseits ist es der Verstand, der im Sinne als Bewußtsein oder Aufmerksamkeit gegen-

2*

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Die Übergangszeit.

wärtig ist, und die Vernunft, deren Einheit dem Verstände bei seinem Trennungsgeschäfte leuchtet. So stellen die verschiedenen Erkenntnis- weisen nicht unabhängige Grundvermögen, sondern ein System zusammen- wirkender und einander fordernder Modifikationen Einer Grundkraft dar. Daß schon bei der sinnlichen Wahrnehmung eine aufmerkende und unterscheidende Verstandestätigkeit beteiligt sei, ist eine vollkommen unmittelalterliche Auffassung; denn die Scholastik pflegte nach dem Grundsatze, daß das Einzelne durch den Sinn empfunden, das Allge- meine durch den Verstand gedacht werde, die Erkenntnisvermögen scharf zu trennen. Ferner mutet der Gedanke, auf den der Cusaner seinen Unsterblichkeitsbeweis stützt, durchaus modern an, daß Raum und Zeit Produkte des Verstandes seien, daher sie dem Geiste, der sie schaff't, nichts anhaben können. Denn der Urheber steht höher und ist mächtiger als das Erzeugnis.

Das Geständnis, daß all unser Wissen Vermuten sei, soll nicht nur aussagen, daß die absolute oder präzise Wahrheit uns verborgen bleibe, sondern soll zugleich ermuntern, durch immer wahrere Vermutungen uns derselben nach Möglichkeit anzunähern. Es gibt Grade der Wahrheit, die Mutmaßungen sind weder schlechthin unwahr noch völlig wahr. Zum Irrtum wird die Konjektur erst dadurch, daß man, der Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnis uneingedenk, sich bei ihr als endgültiger Lösung beruhigt; der sokratische Satz „ich weiß, daß ich unwissend bin" soll nicht zu verzweifelndem Verzicht, sondern zu mutigem Weiterforschen einladen. Immer tiefer einzudringen in das Geheimnis des Göttlichen ist die Aufgabe der Spekulation, die letzte Enthüllung freilich wird uns erst im Jenseits zuteil. Das tauglichste Mittel bietet ihr die Mathe- matik mit dem Begriffe des Unendlichen und den Wundern der Zahlen- verhältnisse dar: wie in der unendlichen Kugel Umkreis und Mittelpunkt zusammenfallen, so ist Gottes Wesen über alle Gegensätze erhaben; wie sich aus der Eins die übrigen Zahlen entfalten, so geht auf dem Wege der Explikation das Endliche aus dem Unendlichen hervor. Vor allem wird dem Denar, als der Summe der ersten vier Zahlen, eine beherrschende Bedeutung für den Stufenbau der Welt zugeschrieben: wie sich im menschlichen Erkennen Vernunft, Verstand, Phantasie und Sinnlichkeit verhalten, so verhalten sich in der objektiven Sphäre Gott, Geist, Seele und Körper oder auch Unendlichkeit, Denken, Leben und Sein, ferner die absolute Notwendigkeit Gottes, die konkrete Notwendigkeit des Univer- sums, die Wirklichkeit der Individuen, die Möglichkeit der Materie. Neben dem Quaternar übt auch der Ternar seine Kraft: die Welt gliedert sich in die Stufen der Ewigkeit, der Unvergänglichkeit und der zeitlichen Sinnenwelt oder der Wahrheit, der Wahrscheinlichkeit und der Verworren- heit. Überall spiegelt sich die göttliche Dreifaltigkeit, in der Welt als Erzeugendes, Erzeugtes und Liebe, im Geiste als schöpferische Kraft,

Nikolaus Cusanus. 21

Begriff und Wille. Die Dreiheit in Gott wird sehr verschiedenartig: aus- gelegt: als Subjekt, Objekt und Akt des Erkennens; als schöpferischer Geist, Weisheit und Güte; als Sein, Kraft und Tat; am liebsten als Einheit, Gleichheit und Verbindung beider.

Gott verhält sich zur Welt wie Einheit, Selbigkeit, Komplikation zur Andersheit, Verschiedenheit, Explikation, wie Notwendigkeit zur Zufällig- keit, wie vollendete Wirklichkeit zur bloßen Möglichkeit; doch so, daß die Andersheit an der Einheit teil hat, von dieser ihre Realität empfängt, die Einheit aber die Andersheit nicht sich gegenüber, nicht außer sich hat. Nur als Schöpfer der Welt, und in Relation zu ihr ist Gott drei- einig, an sich ist er die absolute Einheit und Unendlichkeit, der nichts als andres gegenübersteht, die alle Dinge ebensosehr ist als nicht ist und die, wie schon der Areopagit lehrte, durch Negationen besser begriffen wird als durch Affirmationen. Es ist wahrer, zu leugnen als zu behaupten, er sei Licht, Wahrheit, Geist, denn er ist unendlich viel großer, als alles, was in Worten genannt werden kann; er ist der Unaussprechliche, Unwißbare, der Übereine, der Überabsolute. In der Welt hat jedes Ding ein Größeres und Kleineres neben sich, Gott aber ist das absolut Größte und Kleinste; nach dem Prinzip der coincidcntia opposilonim fällt das absolute maximum mit dem absoluten mini7num zusammen. Was in der Welt als konkret Bestimmtes und Einzelnes existiert, das ist in Gott auf einfache und allgemeine Weise, was dort als unvollendetes Streben und in allmählicher Entwickelung sich verwirklichende Möglichkeit vor- handen ist, das ist in Gott vollendete Tätigkeit. Er ist die Wirklichkeit alles Möglichen, das Können-Sein oder Kann-Ist (possest); und da diese absolute Aktualität die Voraussetzung und Ursache alles endlichen Könnens und Tuns ist, darf sie auch als das Können schlechthin (posse ipsum) bezeichnet werden im Gegensatz zu aller bestimmten Kraftäußerung, nämlich zum Sein-, Leben-, Empfinden-, Denken- und Wollen-Können.

So sehr nun auch diese Bestimmungen, im Sinne der dualistischen Anschauung des Christentums, den Gegensatz zwischen Gott und Welt betonen, so wird derselbe doch anderwärts vielfach zu gunsten einer auf die Neuzeit hinausweisenden pantheistischen Ansicht gemildert, ja geradezu verleugnet. Neben der Behauptung, es bestehe gar keine Pro- portion zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, findet sich un- befangen die ihr offen widersprechende, Gott überrage um ebensoviel die Vernunft, wie diese den Verstand, dieser die Sinnlichkeit, oder er verhalte sich so zum Denken, wie das Denken zum Leben, das Leben zum Sein. Und noch Kühneres spricht Nikolaus aus, wenn er das Universum einen sinnlichen und veränderlichen Gott, den Menschen einen menschlichen Gott oder eine menschlich kontrahierte Unendlichkeit, das Geschöpf einen geschaffenen Gott oder eine endliche Unendlichl^Leit nennt, damit andeutend, daß Gott und Welt im Grunde wesensgleich

22 Die Übergangszeit.

und nur die Form ihrer Existenz verschieden, daß es dasselbe Sein und Tun sei, das sich in Gott auf absohite, im System der Kreaturen auf relative und begrenzte Weise darstelle. Was den Cusaner vom Dualismus zum Pantheismus hinlockte, waren vor allem drei moderne Gedanken : die Unendlichkeit des Universums, der Zusammenhang alles Seienden und der allumfassende Reichtum der Individualität. Auch dem Weltall kommt Unendlichkeit zu, nur daß die seinige nicht eine absolute, außer- räumliche und überzeitliche, sondern eine abgeschwächte, konkrete ist, nämlich unbegrenzte Ausdehnung im Räume und unendliche Dauer in der Zeit. Ebenso ist es Einheit, aber keine über Vielheit und Verschieden- heit schlechthin erhabene, sondern eine in Vielheit gegliederte und durch sie getrübte Einheit. Aber auch das Individuum ist in gewissem Sinne unendlich, denn es trägt alles was ist in seiner Weise in sich, spiegelt die ganze Welt von seinem beschränkten Standpunkte, ist eine abgekürzte, zusammengezogene Darstellung des Universums. Wie die Leibesglieder, Auge, Arm und Fuß, in innigster Wechselwirkung miteinander stehen und keines das andere entbehren kann, so ist jedes Ding mit jedem verknüpft, von ihm verschieden und doch mit ihm übereinstimmend, enthält alle übrigen und ist in ihnen enthalten. Alles ist in allem (Anaxa- goras), denn alles ist im Universum und in Gott, wie Universum und Gott in allem. In erhöhtem Maße ist der Mensch ein Mikrokosmus (parvus mundus), ein Spiegel des Alls, da er nicht bloß, wie die übrigen Wesen, alles Existierende tatsächlich in sich hat, sondern von diesem Reichtum weiß, ihn zu bewußten Bildern der Dinge zu entwickeln ver- mag. Und dies eben macht die Vollkommenheit des Ganzen und der Teile aus, daß das Höhere im Niederen, die Ursache in der Wirkung, die Gattung im Individuum, die Seele im Körper, die Vernunft in den Sinnen ist und umgekehrt. Vervollkommnung ist nur Aktivierung eines potentiellen Besitzes, Entfaltung von Anlagen und Erhebung des Unbe- wußten ins Bewußtsein. Hier haben wir den Keim der Philosophie des Bruno und des Leibniz.

Wie in der Gotteslehre des Cusaners das Ringen zweier Tendenzen, einer christlich dualistischen und einer modern pantheistischen, bemerk- bar wurde, so tritt noch an vielen anderen Punkten ein dem Denker selbst nicht zum Bewußtsein gekommener Kampf zwischen der mittel- alterlichen und der neuzeitlichen Weltanschauung für den Betrachter deutlich zutage. Wir können diesen interessanten Zwiespalt nicht ins einzelne verfolgen und wollen nur im Groben die Ansätze des Neuen von den Resten des Alten absondern. Modern ist sein Interesse für die alten Philosophen, von denen ihn Pythagoras, Piaton und die Neu- platoniker besonders fesseln. Modern sein Interesse für die Naturerkenntnis ^

1 Durch den ihm befreundeten Florentiner Paul Toscanelli wurde unser Philo-

Nikolaus Cüsanus.

(er lehrt nicht nur die Unendlichkeit der Welt, sondern auch die Erd- bewegung), seine Hochschätzung der Mathematik, die er freilich vielfach nur zu einer spielenden Zahlensymbolik benutzt, sein Optimismus {die Welt ein Abbild des Göttlichen, jedes Ding in seiner Art vollkommen, das Schlechte nur ein Zurückbleiben auf dem Wege nach dem Guten), sein Intellektualismus (das Erkennen die Urtätigkeit und Hauptaufgabe des Geistes, der Glaube ein unentfaltetes Wissen, das Wollen und Fühlen ein selbstverständlicher Nebenerfolg des Denkens; die Erkenntnis eine Zurückführung des Geschaffenen zu Gott als seinem Ursprung, somit das Gegenstück der Schöpfung), modern die Form und Verwendung, zu der hier der stoisch-neuplatonische Begriff der Individualität gelangt, der Gedanke der Entwickelung und die idealistische Anschauung, welche die Gegenstände des Denkens zu Produkten desselben macht i. Der letzteren tritt allerdings hemmend die Nachwirkung des Nominalismus entgegen, der die Begriffe des Geistes nur für abstrakte Nachbilder, nicht für Ur- bilder der Dinge gelten lassen will. Auch hat explicatio, evoliäio, Aus- wickelung, noch nicht überall die heutige Bedeutung der Entwickelung, des Fortschritts zum Höheren. Sie bezeichnet ganz neutral die Erzeu- gung einer Vielheit aus einer Einheit, in der sie eingeschlossen lag, gleichviel, ob die Vielheit und ihr Hervorgang eine Förderung oder Ab- schwächung bedeute. Meist repräsentiert sogar die Einfaltung, complicatio (die übrigens immer den Sinn des anfänglichen Keimzustandes, nicht auch, wie bei Leibniz, den der Rückkehr in denselben hat), den vollkommeneren Zustand. Die Hauptbeispiele für das Verhältnis der Ein- und Aus- wickelung sind die Prinzipien, in denen die Wissenschaft, die Eins, in welcher die Zahlen, der Geist, in dem die Erkenntnisakte, Gott, in welchem die Kreaturen eingefaltet sind und aus denen sie expliziert werden. So unklar und ungeschickt nun auch diese Verwendung des Entwickelungs- begriffs erscheinen mag, so ist doch unstreitig ein Neues und Vielver- sprechendes entdeckt und ein freudiges Bewußtsein seiner Fruchtbarkeit vorhanden. Von den zahllosen Zügen dagegen, die aufs Mittelalter zurückweisen, mag nur der breite Raum erwähnt sein, den die Spekulationen über den Gottmenschen (das ganze dritte Buch der „gelehrten Unwissen- heit") und über die Engel einnehmen. Doch ist darin eine Wandlung zu erkennen, daß Irdisches und Göttliches in den innigsten Bezug gesetzt werden, während sie z. B. bei Thomas von Aquino zwei völlig getrennte Welten bilden. Kurz, die neue Weltanscliauung erscheint beim Cusaner

soph auf die Naturwissenschaften und so auch auf die in jener Zeit neu auflebende Geographie hingelenkt. Der Cusaner hat (vergl. S. RuGE im Globus, Bd. 60, No. i, 1891) die erste Karte von Deutschland in Kupfer stechen lassen, dieselbe ist jedoch erst lange nach seinem Tode vollendet worden und 149 1 erschienen.

1 Über das Moderne in seiner Rechts- und Staatslehre siehe Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 3. Bd., 1881, § 11.

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Die platonische Akademie.

noch allenthalben gebunden durch die des Mittelalters. Anderthalb Jahrhunderte vergingen, bis unter den Händen des kühneren Giordano Bruno die inzwischen morsch gewordenen Fesseln brachen.

Durch Jacques Lefevre (Faber, f 1537, S. 2']') aus Etaples, den Ver- ehrer und Herausgeber der Werke des Nikolaus, wurde Carolus Bovillus (Ch. Bouille, f 1553, Philos. Schriften 1510J zum Studium des Cusaners hingeführt.

2. Wiedererweckung und Bestreitung der antiken Philosophie.

Italien ist die Heimat der Renaissance und die Geburtsstätte be- deutender neuer Gedanken, die dem geistigen Leben des XVI. Jahrhunderts den Charakter mutigen Aufstrebens zu weiten und kühnen Zielen verleihen. Die bereits durch die einheimischen Dichter Dante (1300), Petrarca (1341) und Boccaccio (1350) geweckte Begeisterung für die antike Literatur fand Nahrung durch den Zustrom griechischer Gelehrten nach Italien, welche teils der Einladung zu der zu Unionszwecken berufenen Kirchenversamm- lung in Ferrara und Florenz 1438 Folge leisteten (so Plethon und sein Schüler Bessarion; unter den einladenden Gesandten befand sich Nikolaus Cusanus), teils infolge der türkischen Eroberung Konstantinopels 1453 dorthin flüchteten. Im Jahre 1440 wird in Florenz auf Anregung des Georg ios Gemistos Plethon' unter Protektion des Cosimo von Medici die platonische Akademie- gegründet, deren berühmtestes Mitglied Marsiglio Ficino (1433 99) den Piaton und die Neuplatoniker ins Lateinische übersetzt. Die Schriften des Plethon (über die Unterschiede zwischen Piaton und Aristoteles), des Bessarion (wider den Verleumder des Piaton 1469, eine Antwort auf die gegen Plethons Buch gerichtete „Ver- gleichung des Piaton und Aristoteles" 1464 von dem Aristoteliker Georgios von Trapezunt)^ und des Ficinus (platonische Theologie 1482) lassen erkennen, daß es ein religiöser, mystischer, neuplatonisch gefärbter Piatonismus war, dem hier gehuldigt wurde. Wenn für Bessarion und Ficinus, ebenso wie für die Eklektiker der jüngeren Akademie, kaum ein wesentlicher Unter-

1 Plethon, geb. 1355 iu Konstantinopel, starb hochbetagt 1450. Sein Haupt- werk „Die Gesetze" wurde von seinem aristotelisch gesinnten Gegner Georgios Scholarios genannt Gennadios, Patriarchen von Konstantinopel, den Flammen übergeben. Nur Bruchstücke, die vorher bekannt geworden waren, sind erhalten. Über Leben und Lehre des Mannes vergl. Fritz Schultze, G. G. Plethon, Jena 1874.

~ SiEVEKiNG, Geschichte der plat. Akademie zu Florenz, 1812.

3 An diesem Streite beteiligte sich auch der Grammatiker und Aristoteles- Über- setzer Theodoros Gaza (y um 1475). Vergl. L. Stein, Der Humanist Th. Gaza als Philosoph, AGPh. Bd. 2, S. 426 ff. (1889), nebst den Berichtigungen von A. Gaspary, Zur Chronologie des Streites der Griechen über Plato und Aristoteles im 15. Jahrb., ebenda Bd. 3, S. 50 53 (1890).

Paracelsus. 2 5

schied bestand zwischen dem, was Piaton, Aristoteles und das Christen- tum lehren, so ging die Verschmelzung heterogener Elemente bald noch viel weiter, indem die beiden Pico (Johann Pico von Mirandola t 149.1. und sein Xeffe Franz f 1533) und der von ersterem beeinflußte Joh. Reue hl in {de verbo mirifico 1494, de arte cabbalistica 15 17) in den Kreis der platonischen Philosophie die jüdische Geheimlehre der Kabbala hin- einzogen und Corn. Agrippa von Nettesheim^ aus Köln (i486 1535) dieses Gemisch durch Hinzufügung der magischen Kunst noch trüber machte. Man erkennt hier bereits den Trieb des modernen Geistes, sich die Natur Untertan zu machen, nur daß er sich noch unerfahren zeigt in der Wahl der Mittel; bald wird die Natur der Beobachtung und dem be- sonnenen Nachdenken ihre Geheimnisse willig entschleiern, die sie sich durch Zauberzwang nicht abtrotzen läßt. Eine ähnlich abenteuerliche Figur ist Theophrastus Bombastus Paracelsus^ von Hohenheim (1493 1541, war 1526—28 Prof. der ^Nled. in Basel), ein vielgereister Schweizer, der von der Chemie aus die Medizin zu erneuern unternimmt. Philosophie ist Naturerkenntnis, zu der sich Beobachtung und Denken die Hand reichen müssen ; erfahrungsloses Spekulieren und Nachbeten der papierenen Weisheit der Alten führt nicht ans Ziel. Die Welt ist ein lebendiges Ganze, das, gleich dem Menschen, dem Älikrokosmus, in welchem wie in einem Extrakt der ganze Inhalt des Makrokosmus zu- sammengefaßt ist, seine Lebensalter durchläuft. Ursprünglich waren alle Dinge in einer Einheit, der von Gott geschaffenen privia materia, unter- schiedslos beisammen, wie in einem Samen eingeschlossen; daraus trat durch Aussonderung das Viele mit seinen verschiedenen Formen und Farben hervor. Die Entwickelung geht nun so weiter, daß in jeder Gattung sich vollendet, was in ihr angelegt ist, und sie steht nicht eher still, als bis am jüngsten Tage alles in Natur und Geschichte Mög- liche sich erfüllt haben wird. In all den mannigfaltigen Gestalten aber lebt das eine inwendige Leben der Natur, im menschlichen Körper walten dieselben Gesetze wie im Universum, was dort verborgen wirkt, liegt hier offenbar vor Augen, aus der Welt muß der Mensch erkannt werden. Das Naturgeschehen vollzieht sich in dem chemischen Auseinander- und Zu- sammentreten der Stoffe. Die letzten Bestandteile, zu denen die Analyse führt, sind die drei Grundsubstanzen oder Uressenzen Quecksilber, Schwefel

1 Agrippa: de occulta philosophia 15 10; de vanitaie scientiartim 1527; Werke 1550, deutsch 1S56. Vergl. Sigwart, Kl. Sehr. I, S. i ff.

2 Paracelsus' Werke hat HosER, Straßburg 1616 18 herausgegeben. Über ihn MooK 1876. Sigwart, Kl. Sehr. I, S. 25 ff. Eucken, Beitr. zur Gesch. d. neueren Philos., S. 32 ff. E. Schubert u. Südhoff, Paracelsus-Forschungen, 2 Hefte 1887. 89. Lasswitz, Gesch. d. Atom. I, S. 294 ff. Aug. Hirsch, Gesch. d. med. Wiss. 1893, S. 48 ff. Karl Sudhoff, Versuch einer Kritik der Echtheit der par. Schriften I 1894; II, I 1898. Franz Hartmann, Grundriß der Lehre des Par. 1898.

20 Wiedererweckung und Bestreitung der antiken Philosophie.

und Salz, unter denen jedoch etwas Prinzipielleres verstanden wird, als die gleichnamigen empirischen Stoffe: Mercurius heißt, was die Körper flüssig, Sulfur, was sie verbrennlich, Sal, was sie fest und starr macht. Aus ihnen setzen sich die vier Elemente zusammen, deren jedes von Elementargeistern beherrscht wird: die Erde von Gnomen oder Pygmäen, das Wasser von Undinen oder Nymphen, die Luft von Sylphen, das Feuer von Salamandern (vergl. hierzu und zu der ganzen Weltanschauung des Paracelsus die beiden Monologe des Faust bei Goethe); diese Geister sind als Kräfte oder feine Stoffe, nicht als persönliche, dämonische Wesen zu fassen. Jedem Einzelwesen wird ein Lebensprinzip zugeschrieben, der „Archeus", eine Individualisierung der allgemeinen Naturkraft, des „Vul- canus"; so auch dem Menschen. Krankheit ist Hemmung dieses Lebens- geistes durch „widerwärtige" Mächte teils irdischer, teils siderischer Natur; die Arznei ist so zu wählen, daß sie den Archeus gegen diese Feinde unterstützt. Der Mensch ist jedoch mehr als die Natur, er ist nicht bloß das universale Tier, sofern er das ganz ist, was die übrigen Wesen bruch- stückartig, sondern als Ebenbild Gottes trägt er zugleich Ewiges in sich und vermag sich durch das Urteil des Verstandes zu vervollkommnen. Eine dreifache Welt unterscheidet Paracelsus: die elementare oder irdische, die astralische oder himmlische, die geistige oder göttliche. Den drei Welten, die in sympathetischer Wechselwirkung stehen, entsprechen im Menschen der Leib, der sich aus den Elementen ernährt, der Geist, dessen Vorstellungskraft ihre Speise, Sinn und Gedanken, aus den Sterngeistern empfängt, und die unsterbliche Seele, die ihre Nahrung im Glauben an Christus findet. Daher sind Naturkunde, Astronomie und Theologie die Stützen der Anthropologie und letzthin der Medizin. Des Paracelsus phantastische Heilkunst fand viele praktische und theoretische Anhänger. ^ Wir nennen von ihren Verehrern und Fortsetzern R. Fludd (f 1637) und die beiden van Helmont, Vater und Sohn (ff 1644 und 1699). Neben der platonischen Philosophie feiern andere antike Systeme ihre Auferstehung. Das stoische wird von Justus Lipsius (f 1606) und Kaspar Seh oppe (Scioppius, 1576 1649) gepriesen, das epikureische durch Gassen di (1647) erneuert, während sich rhetorisierende Logiker an Cicero und Quintilian anlehnen. So Laur. Valla (f 1457), R. Agri- cola (t 1485), der Spanier Lud. Vives^ (geb- I49- in Valentia, gest. 1540

1 Von Paracelsus wie von Vives und Campanella zeigt sich beeinflußt der große Pädagoge Arnos Comenius (Komensky, 1592 1670), dessen pansophische Schriften 1637 68 erschienen. Über ihn Pappenheim, Berlin 1871; Kvacsala, Leipziger Doc- tordissertation 1886; Walter Mueller, Dresden 1887. Comenius' Werke, übersetzt von JUL. Beeger, Bd. I: Große Unterrichtslehre, Bd. II: Ausgewählte Schriften. Die 1891 gestiftete Comenius-Gesellschaft gibt Monatshefte (red. v. Ludwig Keller), Comenius-Blätter für Volkserziehung, sowie Vorträge und Aufsätze aus der C.-G. her- aus. In Znaim erscheinen Comenius-Studien.

2 Die Dialoge des Joh. Ludw. Vives ins Deutsche übertragen von J. Bröring,

FOMPONATIUS. IxAMUS. 27

in Brügge), der die Forschung von der aristotelischen Autorität auf me- thodische Verwertung der Erfahrung verweist, undMarius Nizolius(i553), dessen „Antibarbarus" de stilo pliilosophico Leibniz 1670 neu herausgab. Die Anhänger des Aristoteles sind in zwei Richtungen gespalten, von denen sich die eine auf die naturalistische Auslegung des griechischen Exegeten Alexander von Aphrodisias (um 200), die andere auf die pan- theistische des arabischen Kommentators Averroes (f 1198) beruft. Am schärfsten spitzt sich der hauptsächlich in Padua ausgefochtene Streit in der Unsterblichkeitsfrage zu. Die Alexandristen behaupten, nach Aristo- teles sei die Seele sterblich, die Averroisten, der allen Menschen gemein- same vernünftige Teil sei unsterblich; dazu kommt noch die Frage, ob und wie die aristotelische Ansicht mit der Kirchenlehre, die eine individuelle Fortdauer fordert, zu vereinigen sei. Der hervorragendste unter den Aristotelikern der Renaissance, Petrus Pomponatius (de immortalitate animae 1516, de fato, libero arbitrio, provideiitia et ptacdcsfinaliotie), steht auf Seite der Alexandristen. Im entgegengesetzten Lager kämpfen Achil- linus und Niphus. Eine vermittelnde oder doch minder entschiedene Stellung nehmen Caesalpin (f 1603), Zabarella und Cremonini ein. Noch anderen, wie Faber Stapulensis in Paris (1500) und Desid. Erasmus (1520), ist es minder um philosophische Überzeugungen, als um den korrekten Text des Aristoteles zu tun.

Unter den Anti aristotelikern seien nur zwei berühmte Namen hervorgehoben: der einflußreiche Franzose Petrus Ramus und der Deutsche Taurellus. Pierre de la Ramee (1572 in der Bartholomäu.snacht er- mordet) greift in seinen aristotclicae animadversiones 1543 die (unnatür- liche und unbrauchbare) Logik des Aristoteles an, an der er mit den oben erwähnten Ciceronianern die Trennung von der Rhetorik tadelt, und gibt in den institutiones dialedicae den Versuch einer eigenen neuen Logik, die trotz ihres Formalismus namentlich in Deutschland Schule machte. Über ihn: Waddington in einer lateinischen und einer französischen Schrift, Paris 1849, 1855; Praktl (Münchener Akademie) 1878; M. Guggenheim, Beiträge zur Biographie des Petrus Ramus (ZPhKr. Bd. 121, Heft 2) 1903. Ganz vereinzelt steht, da er allen philosophischen und religiösen Parteien gegenüber seine Selbständigkeit bewahrte, Nikolaus Oechslein, latinisiert Taurellus (geb. 1547 zu Mömpelgard, gest. 1606 als Professor

Oldenburg 1S97. Werke Leiden 1555; Valentia 1782 90, 8 Bände. Der als Pädagog bedeutende Vives darf mit seiner Enzyklopädie [de disciplinis 1531) als Vorläufer Bacos gelten und ist auch als Psycholog [de anima et vita 1538) beachtenswert. Das Wesen der Seele darf die Psychologie dahingestellt sein lassen, ihr Gegenstand sind allein die psychischen Zustände und Tätigkeiten. Über Vives' Psychologie (Buch i u. 2) Erlanger Dissert. v. Gerh. Hoppe 1901 ; die Affektenlehre des dritten Buches hat R. Pade, Münster iSq-?, behandelt.

28 Taurellus.

der Medizin an der Universität Altorf). Von seinen Schriften sind die bedeutendsten: philosophiae triumplms 1573, Synopsis Aristotelis metaphy- sicae 1596, Alpes caesae (gegen Caesalpin, auf welchen der Titel anspielt). 1597 und de verum aeternitate 1604. Über ihn schrieb Schmid- ScHWARZENBERG 1860, 2. Ausg. 1864. Das Denken des Taurellus ist dem Ideal einer christlichen Philosophie zugewandt, das er jedoch in der Scholastik nicht erreicht sieht, sofern sie zwar christlich glaubte, aber in ihrer blinden Verehrung des Aristoteles heidnisch dachte. Um solchen Zwiespalt zwischen Kopf und Herz zu beseitigen, muß man in der Religion von den Unterschieden der Konfession zum Christentum selbst und in der Philosophie von den Autoritäten zur Vernunft zurück- gehen. Man soll nicht ein Lutheraner oder Calvinist, sondern einfach ein Christ sein wollen und, statt auf Aristoteles, Averroes oder Thomas zu schwören, nach Gründen urteilen. Wer nicht auf die Überein- stimmung von Theologie und Philosophie ausgeht, ist weder Christ noch Philosoph. Derselbe Gott ist die erste Quelle sowohl der Vernunftwahrheiten als der Glaubenswahrheiten. Die Philosophie ist das Fundament der Theologie, diese das Kriterium und die Ergänzung jener. Die erstere geht von den unseren Sinnen offenliegenden Wir- kungen aus und führt zum Übersinnlichen und zur ersten Ursache, die letztere geht den umgekehrten Weg. Jener gehört an, was Adam vor dem Falle wußte oder wissen konnte; wäre nicht gesündigt worden, so würde es keine andere Erkenntnis als die philosophische geben. Nach der Sünde aber würde die Vernunft, die uns wohl über das Sitten- gesetz, aber nicht über die Heilsabsicht Gottes unterrichtet, zur Ver- zweiflung führen, da uns weder Strafe noch Tugend gerecht machen kann, wenn uns nicht die Offenbarung über die Wunder der Gnade und der Erlösung belehrte. Wenn so Taurellus den Gegensatz von Gottes- weisheit und Weltweisheit, der am schroffsten in der Lehre von der „zwie- fachen Wahrheif^' ausgesprochen war (es könne in der Theologie wahr sein, was in der Philosophie falsch, und umgekehrt), mildert und beide in ein harmonisches Verhältnis zu setzen sucht, so steht ihm doch der Gegensatz von Gott und Welt unverrückbar fest. Gott ist nicht die Dinge, wenngleich er alles ist. Er ist reine Affirmation, alles außer ihm ist gleichsam aus Sein und Nichts zusammengesetzt und kann nicht ohne anderes sein und erkannt werden ; negatio non nihil est, alias iiec esset ncc iiitelligerctnr, seil limitatio est affirmationis. Einfaches Sein oder einfache Bejahung bedeutet soviel wie Unendlichkeit, Ewigkeit, Einheit, Einzigkeit, Eigenschaften, die der Welt nicht zukommen. Wer die Dinge als ewig setzt, hebt Gott auf. Gott und Welt stehen sich gegenüber als unend- liche Ursache und endliche Wirkung. Wie es aber unser Geist ist, der philosophiert, nicht Gottes Geist in uns, so ist auch der Glaube, durch den der Mensch sich das Verdienst Christi aneignet, die freie Wirkung

Die italienische Naturphilosophie. -70

des menschlichen Geistes und die Fähigkeit dazu angeboren, nicht von oben eingegossen; Gott ist hier nur helfende oder entferntere Ursache, indem er hinwegräumt, was die Kraft des Glaubens sich zu betätigen hindert. Zur antipantheistischen Tendenz gesellt sich sodann die anti- intellektualistische : das Sein und Hervorbringen ist früher und steht höher als das Betrachten, Gottes Tätigkeit besteht nicht im Denken, sondern im Schaffen, und die Seligkeit des Menschen nicht in der Erkenntnis, sondern in der Liebe Gottes, wenn auch die letztere die erstere voraus- setzt. Während der Mensch, als Selbstzweck, unsterblich ist, und zwar der ganze Mensch, nicht bloß seine Seele, muß die sinnliche Welt, die nur für des Menschen Erhaltung (Fortpflanzung und Prüfung) geschaffen ist, untergehen; über ihr aber erbaut sich eine höhere Welt, die zu seiner Glückseligkeit dient. Die Hochachtung, mit der sich Leibniz über Tau- rellus äußert, erklärt sich zum Teil daraus, daß er in dessen Gedanken manche seiner eigenen vorgebildet erkennen durfte. Aus der Erkenntnis- theorie gehört dahin z. B. der enge Bezug, in welchen Sinnlichkeit und Verstand gesetzt werden, Rezeptivität ist nicht Passivität, sondern (durch den Körper) gehemmte Aktivität. Alle Wissenschaften sind eingeboren, alle Menschen sind potentiell Philosophen (und, sofern sie ihrem Gewissen treu sind, Christen), der Geist ein denkendes und denkbares Universum. Die Naturphilosophie des Taurellus läßt, die relative Wahrheit des Ato- mismus anerkennend, die Welt aus vielen zu formaler Einheit verbundenen einfachen Substanzen bestehen und nennt sie ein schön zusammen- gesetztes System von Ganzheiten. Auch die Frage nach dem Ursprung des Übels fehlt nicht und wird durch Hinweis auf die Freiheit und ihren Mißbrauch erledigt. Endlich darf als wesentliches Verdienst des Mannes nicht unerwähnt bleiben, daß er gleich seinen jüngeren Zeitgenossen 'Galilei und Kepler mit Energie der aristotelisch-scholastischen Beseelung der Körperwelt und Vermenschlichung ihrer Kräfte entgegentrat und hierdurch der in Newton sich vollendenden modernen Naturbetrachtung ■vorarbeitete.

3. Die italienische Naturphilosophie.

Von den Erneuerern und Bekämpfen! des Alten wenden wir uns zu ■den Männern, welche, gleichfalls unter Bestreitung der aristotelischen Autorität, dem Naturerkennen neue Bahnen weisen. Als Vorläufer dieser Schule darf der Arzt Hieron. Cardanus aus Mailand (1501 1576) be- trachtet werden, dessen phantastische Neigungen durch mathematische Bildung zwar nicht unterdrückt, doch gezügelt werden. Während das Volk die Dogmen der Kirche in unterwürfigem Glauben hinzunehmen hat, darf und soll der Wissenschaftler alles der Wahrheit hintansetzen. Der Weise orehört zu der seltenen Klasse von Menschen, die weder

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Telesius. Patritius.

täuschen noch getäuscht werden; die übrigen sind Betrüger oder Be- trogene oder beides. In der Naturlehre stellt Cardanus zwei Prinzipien auf, ein leidendes: die Materie (die drei kalten und feuchten Elemente), und ein tätiges, formendes: die Weltseele, die, das All durchdringend und zur Einheit verknüpfend, als Wärme und Licht erscheint. Ursache der Bewegung sind Anziehung und Abstoßung, welche in höheren Wesen als Liebe und Haß auftreten. Den mechanischen Naturgesetzen sind auch die übermenschlichen Geister, die Dämonen unterworfen.

Als Fahnenträger der italienischen Naturphilosophie gilt Bernardinus Telesius^ aus Cosenza (1508 1588; de rentm natura mxta propria principia 1565, vermehrt 1586), Stifter einer naturwissenschaftlichen Ge- sellschaft in Neapel, die als Telesianische oder, nach seinem Geburtsort, als Cosentinische Akademie bezeichnet wurde. An die Stelle der aristo- telischen Doktrin hat vorurteilslose Empirie zu treten, die Natur muß aus sich selbst erklärt werden und durch wenigstmögliche Prinzipien. Es bedarf dazu außer der trägen, überall gleichförmigen Materie nur zweier tätiger Kräfte, auf deren Zusammenwirken alle Gestaltung und alles Ge- schehen beruht: der ausdehnenden Wärme und der zusammenziehenden Kälte. Jene hat ihren Sitz und Ausgangspunkt in der Sonne, diese den ihrigen in der Erde. Den Nachdruck legt Telesius, übrigens unter Aner- kennung eines immateriellen unsterblichen Geistes, auf die sinnliche Er- fahrung, ohne welche der Verstand keine sichere Erkenntnis zu erlangen vermöge. In der Erkenntnistheorie wie in der Moral ist er Sensualist, indem er die Tätigkeit des Urteilens und Denkens für ableitbar hält aus der Grundkraft der Wahrnehmung und die Tugenden als verschiedene Äußerungsformen des Selbsterhaltungstriebes (den er auch der Materie zuschreibt) auffaßt.

Mit Telesius pflegt zusammen genannt zu werden Franciscus Patri- tius (152g 93), Professor der platonischen Philosophie in Ferrara und in Rom {disciissioncs peripateticae 1581, nova de universis philosophia 1591), der, Telesianische Ideen mit neuplatonischen verbindend, aus dem gött- lichen Ur licht, worin alles Wirkliche samenhaft enthalten ist, das immaterielle oder seelische, aus diesem das himmlische oder ätherische, aus diesem das irdische oder materielle Licht emanieren, das Urlicht aber sich in drei Personen gliedern läßt: das Ein und Alles {imomnia), die Einheit oder das Leben, und den Geist (Verstand und Liebe).

Ihren Höhepunkt erreicht die italienische Naturphilosophie in Bruno

1 Über Telesio: Fiorentino, 2 Bde., Neapel 1872 74; K. Heiland, Erkenntnis- lehre und Ethik des T., Leipziger Doctordissert. 1891. Vergl. ferner Rixner und Siber, Leben und Lehrmeinungen berühmter Physiker am Ende des XVL u. am An- fang des XVn. Jahrhunderts, Sulzbach 1819 26, 7 Hefte. Heft 2 6 behandeln Cardauo, Telesio, Patrizzi, Bruno und Campanella; das erste (2. Aufl. 1S29) ist Para- celsus, das siebente dem älteren (Joh. Bapt.) van Helmont gewidmet.

GioRDANO Bruno.

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und Campanella, von denen jener, obwohl er der ältere ist, wegen seiner freieren Stellung gegen die Kirche, als der Fortgeschrittenere erscheint. Geboren 1548 zu Nola, erzogen in Neapel, floh Giordano Bruno 1576 aus dem Dominikanerorden, lebte, seinen Aufenthalt häufig wechselnd, in der Schweiz, in Frankreich, England und Deutschland, wurde nach seiner Rückkehr ins Vaterland in Venedig 1592 verhaftet und erlitt, da er sich nicht zum Widerrufe verstand, nach siebenjähriger Gefangenschaft in Rom am 17. Februar 1600 den Feuertod. (Seinen Landsmann Vanini ereilte 16 ig zu Toulouse das gleiche Schicksal.) Unter Brunos italienischen 1 Werken sind besonders wichtig die Dialoge „Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen", Venedig 1584 (deutsch von Lasson 1872, 3. Aufl. 1902), unter den lateinischen die drei Lehr- gedichte, ^ Frankfurt 1591. Die italienischen Schriften sind von Wagner, Leipzig 1829 und viel besser von De Lagarde, Göttingen 1888, die lateinischen in 3 Bänden von Fiorentino, Vitelli und Tocco, Neapel und Florenz 1879 91 herausgegeben worden. Eine leidenschaftliche und phantasievolle Natur, war Bruno als Denker nicht eigentlich schöpferisch, sondern entlehnte jene Ideen, die er mit glühender Begeisterung und schwungvoller Beredsamkeit verkündete und durch die er auf die spätere Philosophie einen großen Einfluß geübt hat, von Telesius und Nikolaus, bei dem er beklagt, daß ihn zuweilen das Priestergewand am freien Gedankenschritte gehemmt habe. Neben jenen schätzt er Pythagoras, Piaton, Lukrez, Raymundus Lullus und Koppernikus^ (1473 1543) hoch. Er bildet die Brücke zwiscken dem Cusaner und Leibniz, ebenso aber zwischen Cardanus und Spinoza. Dem letzteren bot er den naturalisti- schen Gottesbegriff dar (Gott ist die dem Universum immanente „erste Ursache", der es wesentlich ist, sich darzustellen oder zu offenbaren; er

1 1584: La cena de le ceneri (Das Aschennittwochsmahl) ; De la catisa, prin- cipio et uno ; De l'inßnito, universo et mondi (übersetzt von L. KuHLENBECK 1893); Spaccio della bestia trionfante (Die Vertreibung der triumphierenden Bestie, übers, v. Kuhlenbeck unter dem Titel: G. Brunos Reformation des Himmels 1889). 1585: Cabala del cavallo Pegaseo con l'aggiunia delVasino Cillenico ; De gV heroici ftwori (übersetzt von KuHLENBECK: Zwiegespräch vom Helden und Schwärmer 1898}.

2 De triplici minimo et mensura ; De »lonade^ ftumero et fig?u-a ; De immenso et innwnerabilibus .

3 Nikolaus Koppernik war inThorn geboren, studierte Astronomie, Jura und Medizin in Krakau, Bologna und Padua und starb als Domherr in Frauenburg. Sein dem Papste Paul III. gewidmetes Werk de revolutionibus orbium caelesihim erschien in Nürnberg 1543, mit einer vom Prediger Andreas Osiander untergeschobenen Vor- rede, welche das heliozentrische System als eine nur als Grundlage für die astrono- mischen Berechnungen aufgestellte Hypothese bezeichnet. Kopp, ist mehr auf dem Wege der Spekulation als dem der Beobachtung zu seiner Theorie gekommen, zu der die pythagoreische Lehre von der Erdbewegung die erste Anregung gab. Über Kopp.: Leop. Prowe, r. Bd. (das Leben), 2. Bd. (Urkunden), Berlin 1883, 84, und K. Loh- meyer in Sybels Histor. Zeitschr. Bd. 57, 1887.

32

Die italienische Naturphilosophie.

ist die wirkende Natur, die zahllosen Welten sind die gewirkte Natur); dem Leibniz ging er voran mit der Lehre von den „Monaden" als den individuellen, unvergänglichen Elementen des Seienden, in denen Stoff und Form, von Aristoteles mit Unrecht als zwei einander fremde Prinzipien getrennt, eine Einheit bilden. Die Ungeschiedenheit pantheistischer und individualistischer Gedanken, die Allbeseeltheit und Unendlichkeit der Welt, endlich das religiöse Verhältnis zum Universum oder die schwärme- rische Naturvergötterung Natur und Welt sind ihm völlig, All, Welt- seele und Gott fast gleichbedeutend, selbst die Materie wird ein gött- liches Wesen genannt machen die charakteristischen Züge der brunonischen Philosophie aus. Über ihn (etwas zu enthusiastisch) H. Brunnhofer, Brunos Weltanschauung und Verhängnis 1882; Ders., Brunos Lehre vom Kleinsten 1890, 2. Aufl. 1899; Al. Riehl, Bruno, Vortrag 1889, 2. Aufl. 1900; Beyersdorff, Bruno und Shakespeare, Progr. Oldenburg 1889; Fel. Tocco, Die lateinischen Werke des Bruno mit seinen italienischen verglichen (italienisch) 1889; Sigwart, Kl, Schr.I, S. 49 ff.; Kuhlenbeck, Lichtstrahlen aus Brunos Werken 1891; Bar ach, Philos. Monatsh. Bd. 13, 1877.

Bruno vollendet das koppernikanische Weltbild, indem er die starre Fixsternrinde, mit welcher Koppernikus und noch Kepler unser Sonnen- system umgeben dachte, beseitigt und den Blick in die Unermeßlichkeit der Welt eröffnet. Damit ist der aristotelische Gegensatz des Irdische]^ und Himmlischen aufgehoben. Den (vom Äther erfüllten) unendlichen Raum durchlaufen unzählige Gestirne, deren keines den Mittelpunkt der Welt bildet. Die Fixsterne sind Sonnen, gleich der unseren von Planeten umgeben. Die Sterne bestehen aus den gleichen Stoffen wie die Erde und werden von ihren eigenen Seelen oder Formen bewegt, jeder ein lebendes Wesen, wohl auch jeder ein Wohnsitz unendlich vieler Lebewesen von mannigfachen Vollkommenheitsgraden, auf deren Leiter der Mensch keineswegs die höchste Stufe einnimmt. Alle Organismen sind zusammengesetzt aus kleinsten Elementen, Minima oder Monaden genannt; jede Monade ein Spiegel des Alls, jede körperlich und seelisch, Materie und Form zugleich, jede ewig; nur ihre Verbindung wechselt beständig. Das Weltall ist, wie dem Räume, so auch der Zeit nach unendlich, die Entwickelung kommt nie zum Stillstand, denn die Fülle der Formen, die in dem Schöße der Materie schlummern, ist unerschöpf- lich. Das Absolute ist die über alle Gegensätze erhabene Ureinheit, aus der sich alles Geschöpfliche entfaltet und in der es beschlossen bleibt. Alles ist eins, alles ist aus und in Gott. In der lebendigen Ein- heit des Universums sind ebenfalls die beiden Seiten, die geistige (Welt- seele) und die körperliche (allgemeine Materie) zwar unterscheidbar, aber nicht getrennt. Die Weltvernunft durchdringt allgegenwärtig das Größte und das Kleinste, aber in verschiedenen Graden. Sie verflicht alles in

Bruno. Campanella.

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Einen großen Zusammenhantr. so daß, wenn man anf das Ganze blickt, der Streit und Widerspruch, der im einzelnen obwaltet, verschwindet und sich in die vollkommenste Harmonie auflöst. Wer die Welt so anschaut, wird von Verehrung für das Unendliche erfüllt und beugt seinen Willen dem göttlichen Gesetze: aus der wahren Wissenschaft erwächst die wahre Religion und die wahre Sittlichkeit, die des Geisteshelden, der heroische Affekt des schönheitbegeisterten Weisen. „Bruno war der Philosoph der italienischen Renaissance. Ihr künstlerisches Lebensgefühl und ihre Lebensideale wurden durch ihn zu einer Weltansicht und zu einer moralischen Formel erhoben" (Dilthey. G. Bruno u. Spinoza, AGPh.. Bd. 7, S. 270).

Nicht minder abhängig von Nikolaus und Telesius, als der Noianer, zeigt sich Thomas Campanella' (1568 1639). Kalabrese von Ge- burt wie Telesius, dessen Schriften ihn mit Abneigung gegen Aristoteles erfüllen, Dominikaner wie Bruno, durch den grundlosen Verdacht einer Verschwörung gegen die spanische Herrschaft der Freiheit beravibt, hat er siebenundzwanzig Jahre im Gefängnis zugebracht und ist nach kurzer Zeit der Ruhe in Paris gestorben. Einen alten Gedanken erneuernd weist er von dem geschriebenen Kodex der Bibel auf das lebendige Buch der Natur als eine ebenfalls göttliche Offenbarung hin. Auf dem Glauben ruht die Theologie (in der sich Campanella, der Tradition seines Ordens gemäß, an Thomas von Aquin anschließt), auf der Wahrnehmung die Philosophie, die in ihrem instrumentalen Teile die Mathematik und Logik, in ihrem realen Teile die Natur- und Sittenlehre umfaßt, während die Metaphysik die obersten Voraussetzungen und allerletzten Gründe, die „Proprinzipien'-, behandelt. Seinen Ausgang nimmt Campanella, wie vor ihm Augustin und nach ihm Descartes, von der unbezweifelbaren Gewiß- heit der eigenen Existenz des Geistes, von der er zu derjenigen der Existenz Gottes aufsteigt. An die erste sichere Erkenntnis, daß ich bin, schließen sich drei weitere an: mein Wesen besteht in den Tätigkeiten des Könnens, Wissens und Wollens; ich bin endlich und beschränkt, Macht, Weisheit und Liebe zeigen sich beim Menschen stets mit ihren Gegenteilen Ohnmacht, Torheit und Haß vermischt; mein Können, Wissen und Wollen geht nicht bloß auf das Gegenwärtige. Das Dasein der Gottheit folgt aus der Vorstellung derselben in uns, die wir nur von dem Unendlichen selbst empfangen haben können. Unmöglich kann ein so kleiner Teil des Universums, wie der Mensch, aus sich selbst die Idee eines Wesens hervorbringen, das unvergleichlich größer ist als das ganze All. Gottes Wesen erreiche ich von dem meinigen aus dadurch, daß ich von dem letzteren, in welchem wie in allem Endlichen Seiendes

1 Campanellas ilalienische Werke hat Ai.. d'Ancona, Turin 1854, herausgegeben. Über ihn: Sigwart, Kl. Sehr. I, S. 1250'.; Eu. Gothein in Steinhausens Zeitschr. f. Kulturgesch., neue (vierte) Folge I i, 1893—94, S. 50 92.

Falckenbeig, Neuere Philos. V. Aufl. 3

nA Campanella.

und NichtSeiendes gemischt ist, jegliche Beschränktheit und Verneinung hinwegdenke, die positiven Grundeigenschaften des posse, cognoscere und velle oder der potentia, sapientia und des amor ins Unendliche steigere und auf ihn, der reine Bejahung, ens ohne alles noii-ens ist, übertrage. So erhalte ich als die drei Proprinzipien oder Primalitäten des Seienden oder der Gottheit: Allmacht, Allweisheit, Allliebe. Aber auch die untermensch- liche Welt dürfen wir nach Analogie unsrer Grundkräfte beurteilen. Das Weltall und alle seine Teile sind beseelt, nichts ist ohne Empfindung, den niederen Wesen fehlt zwar Bewußtsein , aber nicht Leben , Gefühl und Begierde; denn es ist unmöglich, daß aus Totem Lebendiges entstehe. Alles liebt und haßt, begehrt und verabscheut. Die Pflanze ist ein be- wegungsloses Tier, die Wurzel ihr Mund. Die Bewegungen der Materie entspringen einem dunklen, bewußtlosen Selbsterhaltungstriebe, die Ge- stirne kreisen um die Sonne als das Zentrum der Sympathie; selbst der Raum sehnt sich nach Erfüllung {Jiorror vacni). Je unvollkommener ein Ding, durch desto mehr Nichtsein und Zufall ist das göttliche Sein in ihm abgeschwächt. Das Eindringen des Nichts in die göttliche Re- alität vollzieht sich stufenweise. Zuerst entläßt Gott aus sich die ideale oder vorbildliche Welt [mtmdus arclietypiis), d. h. die Gesamtheit des Möglichen. Aus der Ideenwelt geht die metaphysische Welt der ewigen Intelligenzen {inundiis mentalis), die Engel, die Weltseele und die Men- schengeister umfassend, hervor. Das dritte Erzeugnis ist die mathema- tische Welt {inundus sempiterims) des Raumes, der Gegenstand der Geo- metrie, das vierte die zeitliche oder körperliche Welt, das fünfte endlich die empirische Welt {inundus situalis), in der alles an einem bestimmten Punkte des Raumes und der Zeit erscheint. Alle Dinge lieben nicht nur sich selbst und begehren die Erhaltung ihres eigenen Seins, sondern sie streben zu dem Urquell ihres Seins, zu Gott, zurück, d. h. sie haben Religion. Zur natürlichen und animalischen Religion kommt im Men- schen die rationale hinzu, deren Beschränktheit eine Offenbarung nötig macht. Für göttlich geoffenbart kann eine Religion nur gehalten wer- den, wenn sie für alle passend ist, sich durch Wunder und Tugend ver- breitet und weder der natürlichen Sittlichkeit noch der Vernunft wider- spricht. Religion ist Vereinigung mit Gott durch Erkenntnis, Willensreinheit und Liebe. Sie ist angeboren, ein Gesetz der Natur, nicht, wie Machia- velli lehrt, eine politische Erfindung. Die Einheit der göttlichen Welt- regierung wünscht Campanella in einer Staatenpyramide mit päpstlicher Spitze verkörpert zu sehen: die einzelnen Staaten ordnet er einer Pro- vinz, einem Königreiche, einem Kaiserreiche, einer (spanischen) Welt- monarchie, diese endlich einem Universalreiche des Papstes unter. Die Kirche soll über dem Staate, der Statthalter Gottes über den weltlichen Fürsten und über den Konzilien stehen. So in der „Spanischen Monarchie" 1625. Ein andres, sozialistisches Idealbild hatte Campanella

Politik und Rechtsphilosophie.

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in dem seiner Realis pliilosophia angehängten „Sonnenstaat" 1623 ent- worfen. Die Metaphysik erschien 1638.

4. Politik und Rechtsphilosophie.

Die Originalität der modernen Naturrechtslehren ist früher über- schätzt worden, da nicht bekannt war, in wie beträchtlichem Umfange ihnen die Staats- und Rechtsphilosophie des Mittelalters vorgearbeitet hatte. Aus den ebenso reichhaltigen wie sorgfältigen Forschungen Otto GiERKES ^ ersieht man, daß in den Staats- und Rechtstheorien eines Bodin, Grotius, Hobbes, Rousseau nicht sowohl vollständig selbst- wachsene Gedankenbildungen, als vielmehr Systematisierungen und Steigerungen längst vorhandener Elemente vorliegen. Ihr Verdienst be- steht in der prinzipiellen Ausprägung und Zuspitzung wie der systema- tischen Durchführung von Gedanken, die das Mittelalter hervorgebracht hat und die teils zum Gemeingut der scholastischen Wissenschaft gehören, teils den Oppositionsapparat kühner Neuerer ausmachen. Namentlich erscheinen nunmehr Marsilius von Padua [defensor pacis 1325), Occam (t 1347), Gerson (um 140OJ und der Cusaner^ {concordantia catholica 1433) in anderem Lichte. Es „offenbart sich in der Hülle des mittelalterlichen Systems ein unaufhaltsam wachsender antik-moderner Kern, welcher allmählich seiner Hülle alle lebenskräftigen Bestandteile entzieht und endlich dieselbe sprengt" (Gierke, D. Genoss., Bd. 3, S. 512). Ohne daß man aus dem Rahmen der theokratisch-organischen Staatsanschauung des Mittelalters herausträte, werden bereits in der scholastischen Periode die meisten von den Begriffen benutzt, deren volle Ausbildung das moderne Naturrecht vollzog. Schon dort finden wir die Vorstellung eines Über- tritts der Menschen aus einem vorstaatlichen Naturzustand der Frei- heit und Gleichheit in den bürgerlichen, der Entstehung des Staates durch einen (Gesellschafts- und Unterwerfungs-)Vertrag, der Herrscher- souveränität {rex maior populo; plenitudo potestatis) wie der Volks- souveränität^ {j)Opiilus maior principe), der ursprünglichen und unveräußer- lichen Hoheitsrechte der Allgemeinheit wie der angeborenen und unzer- störbaren Freiheitsrechte des Individuums, den Gedanken, daß die Staatsgewalt über dem positiven [princeps legibus solutus), aber unter dem Naturgesetz stehe, sogar die Ansätze zur Teilung der Gewalten

1 Gierke, Johannes Althusius und die Entwickelung der naturrechtlichen Staatstheorien, Breslau 1880; Ders., Deutsches Genossenschaftsrecht, Band 3, Berlin 1881, § 11. Vergl. ferner SiGM. Riezler, Die literarischen Widersacher der Päpste, Leipzig 1874; A. Franck, Reformateurs et publicisies de l'Europe, Paris 1864.

2 Die politischen Ideen des Nie. v. Kues behandelt T. Stumpf, Köln 1865.

3 Siehe F. VON Bezold, Die Lehre von der Volkssouveränität im Mittelalter (Sybels Histor. Zeitschr. Bd. 36, 1876).

3*

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Politik und Rechtsphilosophie.

(der gesetzgebenden und der vollziehenden) und zum Repräsentativ- system. Das sind Keime, die mit dem Sturze der Scholastik und mit der kirchlichen Reformation Luft und Licht erhielten, sich frei zu ent- falten, und zur Anwendung auf die Wirklichkeit reif wurden.

Die Naturrechtslehre der Neuzeit, deren einflußreichster Vertreter Grotius war, wird durch Bodinus und Althusius eröffnet. Jener faßt den staatsgründenden Vertrag als einen Akt unbedingter Unterwerfung der Gesamtheit unter den Herrscher, dieser als eine bloße (zurücknehm- bare) Mandatserteilung; dort wird die Souveränität des Volkes gänzlich veräußert, ,, transferiert", hier nur eine Verwaltungsbefugnis eingeräumt, „konzediert", wobei die Majestätsrechte beim Volke verbleiben. Bodinus ist der Begründer der absolutistischen Theorie, der, wenn auch in gemilderter Form, Grotius und die Pufendorfsche Schule anhängen und die Hobbes zum äußersten Extrem ausbildet. Althusius dagegen ist durch systematische Ausgestaltung der Lehre vom Gesellschaftsvertrag und von der unveräußerlichen Volkssouveränität der Vorläufer Lockes' und Rousseaus geworden.

Der erste selbständige Staatsphilosoph der Neuzeit war Nik. Machia- velli (1469 1527) in Florenz. Der Patriotismus war die Seele seines Denkens, Fragen praktischer Politik der Gegenstand, die tatsächlichen Wahrheiten der Geschichte die Grundlagen desselben.'- Es ist durchaus unscholastisch und unkirchlich. Das Höchste, was er kennt, ist die Macht und die Unabhängigkeit der Nation, die Größe und Einheit Italiens nach Fester in Form eines Bundesstaates das Ziel seiner politischen Theorie. Er bekämpft die Kirche, den Kirchenstaat und das Papsttum als deren Haupthindernisse und erwägt die Mittel, wie dem Vaterlande zu helfen. Unter normalen Verhältnissen wäre die republikanische Ver- fassung, unter der Sparta, Rom und Venedig groß geworden, die beste. Bei der heutigen Verderbtheit ist Rettung nur von der absoluten Herr- schaft eines starken, vor Härte und Gewaltsamkeit nicht zurückschrecken-

^ Als erster \'ertreter des Konstitutionalismus, somit als Zwischenj^lied zwischen Althusius und Locke, mag Ulrich Hub er (1674) genannt sein. Vergl. GlERKE, Alt- husius, S. 290.

- In den Abhandlungen über die erste Dekade des Livius (discorsi) untersucht Machiavelli die Gesetze und Bedingungen der Erhaltung der Staaten, in dem Buche über den Fürsten (/7/r/«r/7>^ 151 S) stellt er die Grundsätze für die Wiederherstellung eines zerrütteten Staates auf. Die Diskurse sind 1531, der Fürst ist 1532 erschienen. Außerdem schrieb er eine Geschichte von Florenz und ein Werk über die Kriegs- kunst, worin er die Errichtung eines Volksheeres empfiehlt. Über ihn: P. VlLLARl, N. M. u. seine Zeit, 3 Bde., deutsch von Mangold 1877 83: 2. ital. Aufl. 1895 97. (Wir notieren hier zugleich Villaris Werk über Savonarola, übers, von MoR. Ber- DUSCHEK 1868.) G. Ellinger, Die antiken Quellen der Staatslehre M.s (Zeitschr. für die ges. Staatswiss. Bd. 44) 1888. R. Fester, Mach., Stuttg. 1S99, i. Band der Serie „Politiker und Xationalökonomen'-.

Machiavelli.

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den Fürsten zu erhoffen. Wollte sich der Usurpator innerhalb der Schranken der Sittlichkeit halten, er würde inmitten der vielen Schlechten unfehlbar untergehen. Er mache sich beliebt und vor allem gefürchtet beim Volke, er sei Löwe und Fuchs zugleich, er sorge dafür, daß, wo er zum Heil des Vaterlandes zu üblen Mitteln greifen muß, der Erfolg ihn rechtfertige, und wo er gegen Treue und Redlichkeit zu handeln gezwungen ist, doch der Schein dieser Tugenden ihm bleibe. Denn der Pöbel urteilt stets nach dem Schein und dem Ausgang der Sache. Das verderblichste sind die halben Maßregeln, die Mittelwege zwischen gut und bös, das Schwanken zwischen Vernunft und Gewalt. Auch Moses mußte die neidisch Widersetzlichen töten, der unbewaffnete Prophet Savonarola ging zugrunde. Gott ist der Freund der Starken, Tat- kraft die erste Tugend; gut, wenn sich zu ihr, wie es bei den alten Römern der Fall war, Religion gesellt, ohne sie zu lähmen. Das Christen- tum, zumal wie es heute ausgelegt wird, als eine Religion des Müßig- ganges und der Demut, die nur den j\lut des Leidens predigt und gleich- gültig macht gegen weltliche Ehre, ist der Entwickelung politischer Tüchtigkeit ungünstig. Durch die Kirche und die Priester sind die Italiener irreligiös geworden; je näher an Rom, um so weniger fromm sind die Leute. Wenn Machiavelli in seinen aufGiuliano (t 1510), dann auf Lorenzo IL von Medici (f 15 19) berechneten Vorschlägen jedes Mittel für die Herstellung der Ordnung gutheißt, so darf nicht übersehen werden, daß er einen Ausnahmefall vor Augen hat, daß er Betrug und Härte nicht für gerecht, sondern nur für unvermeidlich bei der gegenwärtigen Anarchie und Korruption erklärt. Aber weder die Höhe des Zieles, für das er erglüht, noch der niedrige Stand der moralischen Anschauungen seiner Zeit rechtfertigt es, daß er die Gesetze nur als Mittel der Politik behandelt und die Sittlichkeit rücksichtslos der berechnenden Klugheit unterordnet. Die allgemeine Lebens- und Geschichtsansicht des Machiavelli ist keine tröstliche. Die Menschen sind einfältig, von Leiden- schaften und unersättlichen Begierden beherrscht, unzufrieden mit dem, was sie besitzen, und zum Schlechten geneigt. Nur aus Not tun sie Gutes, durch Hunger werden sie betriebsam, durch Gesetze gut gemacht. Alles entartet schnell: die Kraft erzeugt Ruhe, diese Müßiggang, weiter- hin Unordnung, endlich Zerrüttung, woraus dann, nachdem die Menschen durch Unglück klug geworden, von neuem Ordnung und Kraft entsteht. Die Geschichte ist ein beständiges Steigen und Sinken, ein Zirkel von Ordnung und Unordnung. Auch den Verfassungen ist kein Beharren gegönnt: auf die Monarchie, nachdem sie zur Tyrannei entartet, folgt Aristokratie, die allmählich in Oligarchie übergeht; diese wird von der Demokratie abgelöst, welche sich mit der Zeit in Ochlokratie umwandelt, bis schließlich die Anarchie unerträglich wird und wieder ein Fürst die Herrschaft erlangt. (Dieses Schema ist dem sechsten Buche des Polybius

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Politik und Rechtsphilosophie.

entlehnt.) Kein Staat aber ist so kräftig, daß er nicht, ehe er diesen Kreislauf vollendet, einem anderen unterläge. Schutz gegen die Kor- ruption des Staates ist nur durch Erhaltung seiner Prinzipien, Erneuerung desselben nur durch Zurückführung auf seinen gesunden Ursprung mög- lich. Dies geschieht entweder durch eine zur Besinnung nötigende Gefahr von außen, oder durch innere Weisheit, durch gute (nach dem allge- meinen Wohle, nicht nach dem Ehrgeiz Weniger geordnete) Gesetze und das Beispiel guter Männer.

In den Zeitraum zwischen Machiavelli und das naturrechtliche System des Niederländers Hugo Grotius (1625: über das Kriegs- und Friedens- recht) fallen der sozialistische Idealstaat des Engländers Thomas Morus (über den besten Zustand des Staates und die neue Insel Utopia 151 6), ' die Staatslehre des Franzosen J. Bodinus (Siv livres de la re'p2ibliqiie 1577, lateinisch 1586) ^ und das Kriegsrecht des als Professor in Oxford gestorbenen Italieners AlbericusGentilis (de iure belli \<y%'^). Gemeinsam ist ihnen die Befürwortung der religiösen Toleranz, von der nur die Atheisten auszuschließen seien, gemeinsam ferner gegen- über Machiavelli der ethische Standpunkt, während sie betreffs der Los- lösung der Rechts- und Staatslehre von Kirche und Theologie mit ihm einverstanden sind. Bei Gentilis (1551 1611) geschieht die Sonderung so, daß von den zehn Geboten die fünf ersten zum göttlichen, die übrigen zum menschlichen Rechte gerechnet und das letztere auf die Gesetze (insbesondere den Gemeinschaftstrieb) der menschlichen Natur begründet wird. Statt solcher Ableitung von Recht und Staat aus der menschlichen Natur dringt Jean Bodin (1530 96) auf eine historische Erklärung derselben, bemüht sich, nicht immer mit Glück, um strenge Definitionen der politischen Begriffe, -^ verwirft die gemischten Staatsformen und stellt unter den drei reinen Verfassungen Monarchie, Aristokratie und Demo- kratie das (erbliche) Königtum am höchsten, in welchem die Untertanen den Gesetzen des Monarchen gehorchen, dieser aber den Gesetzen Gottes oder der Natur, indem er Freiheit und Eigentum der Bürger

^ Neue Ausgabe der Utopia von Michels u. Ziegler (Lat. Literaturdenkmäler des 15. u. 16. Jahrb., Heft 11), Berlin 1895. Eine deutsche Übersetzung von Kothe bei Reclam.

2 Von Bodinus ist ferner zu merken eine geschichtsphilosophische Schrift Me- thodus ad facilem historlariim cognitionem 1566, und das 1857 von NOACK heraus- gegebene Colloqimim hepfaplomeres, ein Gespräch zwischen sieben Vertretern ver- schiedener Bekenntnisse.

3 Was ist Staat? was Souveränität? Der erstere wird bestimmt als die vernünf- tige und mit höchster Macht ausgestattete Regierung einer Summe von Familien und dessen, was ihnen gemeinsam ist; die letztere als absolute und beständige Herrschaft über den Staat mit dem Rechte, Gesetze zu geben, ohne durch dieselben gebunden zu sein. Der Fürst, dem das Volk im Unterwerfungsvertrag die Souveränität be- <lingungslos übertragen hat, ist nur Gott Rechenschaft schuldig.

BODINUS. Althusius.

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respektiert. Noch niemantl hat in der rechten Weise zwischen Staats- form und Regierungsart unterschieden: auch ein demokratischer Staat kann monarchisch oder aristokratisch regiert werden. Auch hat man bis- her unterlassen, den eigentümlichen Charakter des Volkes und die Natur seines Wohnsitzes in Betracht zu ziehen, Bedingungen, denen sich die Gesetzgebung akkommodieren muß. Die Völker der gemäßigten Zone stehen an Körperkraft hinter den nördlichen und an spekulativer Be- fähigung hinter den südlichen zurück, sind aber beiden durch politische Begabung und Sinn für Gerechtigkeit überlegen. Die Völker des Nordens werden durch Gewalt, die des Südens durch die Religion, die mittleren durch Vernunft gelenkt. Gebirgsbewohner lieben die Freiheit. Der frucht- bare Boden macht die Menschen weichlich, der minder ergiebige mäßig und betriebsam.

Erst neuerdings ist man durch O. Gierkes obengenanntes Werk (siebentes Heft der Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechts- geschichte, Breslau 1880) auf den Westfalen Joh. Althusius (Althusen oder Althaus) als auf einen beachtenswerten Rechtsphilosophen aufmerk- sam geworden. Er ist 1557 in der Grafschaft Witgenstein geboren, war seit 1586 Rechtslehrer in Herborn und Siegen und von 1604 bis zu seinem Tode 1638 Syndikus in Emden. Sein juristisches Hauptwerk ist die Dicaeologica 161 7 (Umarbeitung einer 1586 erschienenen Schrift über römisches Recht), sein staatsphilosophisches die Politica 1603 (verändert und vermehrt 16 10, außerdem noch je dreimal vor und nach seinem Tode gedruckt). Bis in den Anfang des XVIH. Jahrhunderts hinein wurde er als der vornehmste unter den von dem Schotten Barclay (über die königliche Gewalt 1600) sogenannten Monarchomachen geachtet und be- kämpft, seitdem verfiel er einer unverdienten Vergessenheit. Die Staats- gewalt [maiestas) des Volkes ist unübertragbar und unteilbar, die dem ge- wählten Träger der Regierungsgewalt erteilte Vollmacht widerruflich, der König nur der oberste Beamte; die Einzelnen zwar sind Untertanen, aber die Gesamtheit behält die Herrschaft und läßt ihre Rechte gegen- über dem obersten Magistrate durch ein Ephorenkollegium verwalten. Wenn der Fürst den Vertrag verletzt, so sind die Ephoren befugt und verpflichtet, den Tyrannen abzusetzen und zu vertreiben oder hinzu- richten. Es gibt nur Eine normale Staatsform; Monarchie und Polyarchie sind bloß Unterschiede der Regierungsform. Erwähnung verdient die Schätzung der zwischen Individuum und Staat vermittelnden Genossen- schaften: der Staatsverband ruht auf den engeren Vereinigungen der Familie, der Korporation, der Gemeinde und der Provinz.

Während bei Bodin die historische, bei Gentilis die aprioristische Behandlungsart überwiegt, verbindet Hugo Grotius ' beide Gesichtspunkte.

1 Hugo de Groot lebte 1583 1645. Er war in Deht geboren, wurde 1607 Fiskal

40 Politik und Rechtsphilosophie.

Er gründet sein System auf die althergebrachte Scheidung zweier Arten des Rechts. Das positive Recht ist geschichtlich, durch willkürliche Satzung, entstanden, das natürliche wurzelt in der menschlichen Natur und ist ewig, unveränderlich, überall gleich. Zunächst grenzt er mit Gentilis von dem in der Bibel niedergelegten ins divi/iutn das ins Immauiim ab. Das letztere bestimmt die Rechtsverhältnisse einerseits zwischen ein- zelnen Personen, andrerseits zwischen ganzen Nationen, es ist ins perso7iale und ins gentium. ^ Innerhalb beider greift nun der obengedachte Unter- schied zwischen Natur- und konventionellem Recht Platz; das positive persönliche Recht wird ins ciinlc, das positi\e Völkerrecht ins geniinm voluntarinni genannt. Das positive Recht hat seine Quelle in der Rück- sicht auf den Nutzen, das ungeschriebene die seinige weder hierin noch (direkt) im Willen Gottes,- sondern in der vernünftigen Natur des Men- schen. Der Mensch ist von Natur gesellig und hat als Vernunftwesen den Trieb zur geordneten Gemeinschaft. Unrecht ist, was eine derartige Gemeinschaft Vernünftiger unmöglich macht, wie Bruch des Versprechens oder das Wegnehmen und Behalten fremden Gutes. Im (vorgesellschaft- lichen) Naturzustande gehört allen alles, durch die Besitzergreifung {occupatio) entsteht Eigentum (Meer und Luft sind von der Aneignung ausgeschlossen). Im Naturzustande hat jeder das Recht, sich gegen An- griffe zu verteidigen und am Übeltäter zu rächen; in der durch Vertrag gegründeten Staatsvereinigung tritt an die Stelle der Rache des einzelnen Betroffenen die von der Staatsgewalt verliängte Strafe. Der Sinn der

von Holland, 1613 Syndikus von Rotterdam und Mitijlied der (reneralstaaten. Mit Oldenbarneveldt einer der Führer der aristokratischen Partei, hielt er es mit den Ar- minianern oder Remonstranten, wurde nach der Hinrichtung Uld.s gefangen gesetzt, durch die List seiner Gattin 1621 befreit und flüchtete nach Paris, wo er bis 1631 als Privatgelehrter, seit 1635 a^^s schwedischer Gesandter lebte. Dort verfaßte er das epochemachende Werk de iure belli ac pacis 1625, deutsch von Kn^CHMANN 1869 nach der Ausgabe von CocCEji 1751. Vorher erschien die Schrift de veritate religionis christianae i6ig und (gegen Seldens luare clausum) das mare liberum 1609, ein Kapitel aus seinem Erstlingswerk de iure praedae, welches erst 1S6S gedruckt worden ist. Hartenstein, Die Rechtsphilosophie des H. Gr. 1S50, aufgenommen in die Hist.-philos. Abhandlungen 1870.

' Die dem izis gentiuiii hier von Grotius gegebene Bedeutung (= internationales Recht) weicht von der bei den Scholastikern üblichen ab, wo es das bei allen Völkern übereinstimmend anerkannte Recht bezeichnet. Thomas von Aquin versteht darunter im Unterschied von dem eigentlichen iiis naturale den Inbegriff der erst im Gefolge der menschlichen Kulturentwickelung und ihres Abfalls von der ursprünglichen Rein- heit daraus abgeleiteten Folgesätze. Vergl. GiERKE, Althusius S. 273; ders., Deutsches Genossenschaftsrecht, Bd. 3, S. 612. Über die Bedeutung des Naturrechts siehe GlERKEs Breslauer Rektoratsrede ,,Naturrecht und deutsches Recht", Frankfurt a. M. 18S3.

2 Das Naturrecht würde gelten, auch wenn es keinen Gott gäbe (Einleitung i^ 11). Mit diesen Worten wird das Tischtuch zwischen der modernen und der mittelalter- lichen Rechtsphilosophie zerschnitten.

Hugo Grotius.

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Strafe ist nicht Vergeltung, sondern Besserung und Abschreckung. Allein Gott steht es zu, zu strafen, weil gesündigt worden; der Staat darf nur strafen, damit nicht gefehlt werde. (Die Antithese qiiia peccatiim esl—ne peccetiir rührt von Seneca her: de ira II, 31, 8.)

Mit der energischen Erneuerung der schon dem Mittelalter geläufigen Unterscheidung des Positiven und Natürlichen, die gleichzeitig (1624) von Herbert von Cherbury in der Religionsphilosophie geltend gemacht wurde, war das Stichwort ausgegeben für eine Bewegung in der praktischen Philosophie, deren x\usläufer bis ins XIX. Jahrhundert hineinreichen. Nicht bloß das Aufklärungszeitalter, die gesamte neuere Philosophie bis Kant und Fichte steht unter dem Banne des Gegensatzes Natur und Satzung. Auf allen Gebieten, in der Ethik wie in der Erkenntnislehre, geht oder stürmt man zum Ursprünglichen zurück und hofft dort die Quelle aller Wahrheit, die Heilung aller Schäden zu finden. Bald nennt man es Natur, bald Vernunft (Natur- und Vernunftrecht sind Synonyma, ebenso natürliche und Vernunftreligion) und versteht darunter das Dauernde und überall Gleiche gegenüber dem Wechselnden und Verschiedenen, das Angeborene gegenüber dem Entstandenen, aber auch gegenüber dem Offenbarten. Was aller Orten und zu allen Zeiten als Gesetz gilt, gehört zum Naturgesetz, sagt Grotius; was von allen Menschen geglaubt wird, bildet den Inhalt der natürlichen Religion, sagt Herbert. Nicht hinge, so heißt es: echt, wahr, gesund und wertvoll ist nur das ewig und allgemein Gültige; alles übrige ist nicht nur überflüssig, wertlos, sondern vom Übel, denn es kann nur das Unnatürliche, Verdorbene sein. Diesen Schritt macht der Deismus, indem er, was nicht natürlich oder vernünftig im emgegebenen Sinne ist, für unnatürlich und unver- nünftig erklärt. Auch in der Rechtsphilosophie fehlt es nicht an einer parallelen Erscheinung (Gierke, Althusius, S. 303, Anm. 99). Man darf solche Mißgriffe nicht zu hart beurteilen. Die Zuversicht, mit der sie gemacht wurden, entsprang der sachlichen und historischen Kraft des Grundgedankens.

Wie angedeutet, bildet das „Natürliche" den Gegensatz einerseits zum Übernatürlichen, andrerseits zum Geschichtlichen. Solche Zusam- menfassung des Offenbarten mit dem Historischen kann nicht be- fremden, wenn man erwägt, daß die bekämpfte mittelalterliche Weltan- schauung als christliche eben eine religiös-geschichtliche war, zudem für die Religionsphilosophie tatsächlich beides zusammenfällt, sofern die Of- fenbarung als ein geschichtliches Ereignis gedacht wird und die ge- schichtlichen Religionen sich den Charakter des Offenbarten beilegen. Bedenklich aber war der beiden gemeinschaftlich erteilte Titel des Will- kürlichen; wie die Offenbarung ein göttlicher Ratschluß, so die histori- schen Institutionen ein Erzeugnis menschlicher Satzung, der Staat das Produkt eines Vertrages, die Dogmen eine Erfindung der Priester, das

42 Politik und Rechtsphilosophie.

Gewordene ein künstlich Gemachtes! Es hat sehr lange gewährt, bis die Menschheit in der Geschichtsauffassung die Vorstellung des Will- kürlichen und Konventionellen los wurde. Erst Hegel hat die Früchte gesammelt, deren Samen Leibniz, Lessing und Herder ausgestreut. Wo aber auf Grund jenes Ursprünglichkeitsstandpunktes der Versuch gemacht wurde, im Gange der Geschichte Gesetze nachzuweisen, da konnte man nur zu einem Gesetz notwendigen, zuweilen durch plötzliche Erneue- rungen unterbrochenen Verfalls gelangen: so die Deisten, so Machiavelli und Rousseau. Alles entartet, selbst die Wissenschaft trägt nur zum Verfalle bei also zurück zu den guten Anfängen.

Fragen wir schließlich nach der Stellung, welche die Kirche zu den philosophischen Rechtsfragen einnahm, so ist von den Protestanten zu sagen, daß Luther (1483 1546) mit Berufung auf das Bibelwort die Obrigkeit für von Gott eingesetzt und heilig erklärte, daneben freilich Recht und Staat als etwas den inneren Menschen wenig Berührendes ansah, Melanchthon (1497 1560) in den ethischen Schriften [philoso- phiae moralis epitome 1538; efhicae doctrinae elejnenta 1550) wie in allen seinen Lehrbüchern der Philosophie 1 auf Aristoteles, den Meister der Methode, zurückging, die Quelle des Naturrechts aber im Dekalog er- blickte, worin ihm Oldendorp (1539), Hemming (1562) und B. Winkler (1615) folgten. (Vergl. C. v. Kaltenborn, Die Vorläufer des Hugo Grotius, Leipzig 1848.)

Auf katholischer Seite haben die Jesuiten (der Orden wurde 1534 gestiftet und 1540 bestätigt) einerseits gegen die lutherisch-augustinische Lehre von der Willensknechtschaft die pelagianische Freiheitslehre er- neuert, andrerseits gegen den von den Reformatoren behaupteten gött- lichen Ursprung des Staates dessen natürliche Entstehung durch einen (zurücknehmbaren) Vertrag und die Souveränität des Volkes bis zur Em- pfehlung des Tyrannenmordes vertreten. Bellarmin (1542 1621) lehrt: der Fürst hat seine Gewalt vom Volk, und wie dieses die Macht ihm übertragen hat, so behält es das natürliche Recht, sie zurückzunehmen und anderweit zu übertragen. Bei Juan Mariana (1537 1624; de rege 1599) heißt es: da das Volk bei Übertragung der Rechte auf den Fürsten für sich eine größere Gewalt zurückbehielt, so ist es befugt, den König gegebenenfalls zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn er durch schlechte Sitten den Staat verdirbt und, zum Tyrannen ausgeartet, Gesetze und Religion verachtet, so darf er als öffentlicher Feind von jedermann der

1 Die Bretschneider und BiNDSEiLsche Ausgabe der Werke Melanchthons bringt im 16. Bande die ethischen, im 13. (und zum Teil im 11. und 20.) die übrigen philosophischen Schriften. Die älteste Fassung von Melanchthons Ethik (1532) hat H. Heineck im 29. Bande der Philos. Monatshefte 1893 veröffentlicht. Ein schönes Bild der Geistesart Melanchthons entwirft W. Dilthey (AGPh. 6,2) 1892. Vergl. auch Heinrich Maier, Mel. als Philosoph (ebenda 10,4 bis 11,2) 1897^ 98.

Skeptiker -. Montaigne.

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Herrschaft und des Lebens beraubt werden. Es ist Recht, die Tyran- nei auf jede Weise zu beseitigen, und von jeher sind diejenigen geachtet worden, die aus Liebe zum öffentlichen Wohle den Tyrannen zu töten versucht haben.

5. Die französische Skepsis.

In demselben Lande, welches die Wiege der neueren Philosophie werden sollte, erscheint gegen Ende des XVL Jahrhunderts als deren Vorbote der Skeptizismus, in welchem das als die ganze und letzte Wahrheit genommen wird, was bei Descartes nur ein Moment, einen Durchgangspunkt der Forschung bildet. Der älteste und geistvollste von den Vertretern der Zweifelsphilosophie ist Michel de Montaigne (1533 1592), der in seinen „Essays" sie sind die ersten ihrer Art' und fanden bald an Baco einen Nachahmer; sie erschienen 1580 in zwei Bänden, 1588 um einen dritten Band vermehrt feine Beobach- tung mit scharfem Denken, Kühnheit mit Vorsicht, Eleganz mit Ge- diegenheit verbindet. Die Franzosen schätzen ihn als einen ihrer her- vorragendsten Schriftsteller. Als die bedeutendste unter jenen Abhand- lungen oder Versuchen gilt die Verteidigung des Raymund von Sabunde {II, 12) mit wichtigen Ausführungen über Glauben und Wissen. Mon- taigne gründet seinen Zweifel auf die Verschiedenheit der individuellen Ansichten: jeder hat eine andere Meinung, während doch die Wahrheit nur eine sein kann. Es gibt keine sichere, keine allgemein zugestan- dene Erkenntnis. Die menschliche Vernunft ist schwach und blind in allen Dingen, das Wissen trügerisch, zumal die heutige Philosophie, die am Hergebrachten klebt, mit gelehrtem Notizenkram das Gedächtnis füllt, aber den Verstand leer läßt und statt der Dinge nur Interpretationen interpretiert. Sowohl die Erkenntnis der Sinne wie die des Denkens ist unzu- verlässig; jene, weil es sich nicht ausmachen läßt, ob ihre Aussagen mit der Wirklichkeit übereinstimmen , die der Vernunft aber, weil ihre Beweis- gründe, um triftig zu sein, zu ihrer eigenen Begründung immer wieder anderer Gründe bedürfen usw. ins Unendliche. Jeder Fortschritt im Forschen läßt uns unsere Unwissenheit um so deutlicher erkennen. Nur der Zweifelnde ist unbefangen. Wenn uns Sicherheit versagt ist hin- sichtlich dessen, was wahr ist, so doch nicht hinsichtlich dessen, was wir

1 Essais bedeutet Allerlei, Bunte Blätter (ähnlich der satiira der Kömer), eine Sammlung von meist kurzen Aufsätzen im Plauderton über die mannigfaltigsten Gegen- stände. Das Charakteristische war legere Behandlung, Anmut . der Darstellung und Buntheit des Inhalts. Die einzelnen Bestandteile einer solchen Sammlung lassen sich allenfalls als Skizzen bezeichnen. Eine Auswahl der Essais des M. hat W. Dyren- FURTH ins Deutsche übertragen, 2 Bändchen, Breslau 1896, 98, desgleichen Emil Kühn in vier Bändchen, Straßburg (1900).

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Die französische Skepsis.

tun sollen. Und zwar wird eine doppelte Richtschnur für die Praxis aufgestellt: die Natur oder das auf Selbsterkenntnis gegründete natur- gemäße Leben und die übernatürliche Offenbarung, das (nur unter Mit- hilfe der Gnade zu erfassende) Evangelium. Folgsamkeit gegen den himmlischen Oberlierrn und Wohltäter ist die erste Pflicht der vernünf- tigen Seele. Aus Gehorsam entspringt jede Tugend, aus Vernünftelei und Eigendünkel, wie ihn eingebildetes Wissen erzeugt, jede Sünde. Gleich allen Menschenkennern hat Montaigne einen scharfen Blick für die Fehler der Menschen, schildert die allgemeine Schwäche der mensch- lichen Natur und die Verderbtheit seiner Zeit mit großer Lebendigkeit und nicht ohne ein gewisses Behagen am Obszönen und beklagt neben der Torheit und Leidenschaftlichkeit vor allem dies, daß sich so wenige auf die Kunst des Genießens verstehen, in der er, als echter Weltmann, Meister war.

Den skeptisch-praktischen Standpunkt des Montaigne hat der Pariser Geistliche Pierre Charron (1541 1603) in seinen drei Büchern von der Weisheit 1 zum System ausgearbeitet. Der Zweifel hat den doppelten Zweck, den Forschungsgeist wach zu halten und uns zum Glauben hinzu- leiten. Daraus, daß Vernunft und Erfahrung der Täuschung ausgesetzt sind vmd der Geist über kein INIittel verfügt, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, folgt, daß wir geboren sind, die Wahrheit zu suchen, nicht sie zu besitzen. Die Wahrheit wohnt allein im Schöße der Gott- heit, für uns ist Zweifel und Forschung das einzige Gut inmitten all des Irrtums und der Trübsal, die uns umgeben. Das Leben ist lauter Elend. Der Mensch ist nur mittelmäßiger Dinge fähig, er kann nicht ganz gut und nicht ganz böse sein, ist schwach in der Tugend, schwach im Laster, das Beste verdirbt in seinen Händen. Auch die Religion krankt an der allgemeinen Unvollkommenheit. Sie ist von der Nation und dem Lande abhängig, jede gründet sich auf die vorhergehende; der übernatürliche Ursprung, dessen sich alle rühmen, kommt in Wahrheit nur der christ- lichen Offenbarung zu, die man in Demut, mit Unterwerfung der Vernunft, annehmen muß. Doch legt Charron das Hauptgewicht auf die praktische Seite des Christentums, die Pflichterfüllung, wie ihm auch die „Weisheit", welche das Thema seines Buches bildet, gleichbedeutend ist mit Recht- schaffenheit (probitc), zu der die Selbsterkenntnis den Zugang öffnet und die uns mit Seelenruhe belohnt. Doch nicht um dieses Lohnes willen sollen wir sie üben, sondern weil Natur und Vernunft, d. i. Gott, schlechthin (ganz abgesehen von den angenehmen Folgen der Tugend) fordern, daß wir gut seien. Wahre Rechtschaffenheit ist etwas anderes, als bloße

1 De la sagesse 1601 ; über dieses Werk handelt I.IEHScuer 1S90. Vorher hatte Charron geschrieben: Trois ve'rites contre toiis athces, idolätres, J'iifs, molia- nietans^ hereiiqiies et schisntatiqtces 1594.

Charron. Sanciiez.

Gesetzlichkeit, denn bei äußerlich tadellosem Handeln können doch die Motive unlauter sein. Ich will, daß man ohne Paradies und Hölle ein braver Mann sei. Die Religion will die Moral krönen, nicht sie erzeugen; die Tugend ist älter und natürlicher als die Frömmigkeit. In der Be- stimmung des Verhältnisses von Religion und Moral, der Abgrenzung der Moralität gegen die Legalität und dem Dringen auf Reinheit der Triebfeder (tue das Gute, weil das innere Gesetz der Vernunft es gebietet) kann man eine Vorausnahme Kantischer Grundsätze erkennen.

Bei Franz San che z (Sanctius, t 1632; Hauptwerk: quod nihil scitur 1581), gebürtig aus Portugal, Professor der Medizin in INlontpellier und Toulouse, ist die Skepsis weniger melancholische Betrachtung als ein kräftig frisclies Suchen nach neuen Aufgaben. An die Stelle der nach Studierstube duftenden, ewig den Aristoteles im Munde führenden, sich in nutzlosen Worterklärungen erschöpfenden Büchergelehrsamkeit, die ihn anekelt, wünscht er ein reales Wissen zu setzen. Freilich ist vollkommene Erkenntnis nur zu erwarten, wo Subjekt und Objekt miteinander korre- spondieren. Wie sollte aber der kleine Mensch das unendliche Weltall erfassen? Die Erfahrung, die Grundlage alles Wissens, tastet nur an der Außenseite der Dinge herum und beleuchtet bloß das Einzelne, vermag aber weder ins Innere hinabzudringen, noch das Ganze zu umspannen. Man erkennt nur, was man hervorbringt. So hat wohl Gott ein Wissen von der Welt, die er gemacht hat, uns ist nur die Einsicht in die Mittel- oder Zwischenursachen, die camae seaindae, vergönnt. Hier aber findet die Philosophie noch ein reiches Arbeitsfeld: statt mit Worten gehe sie ihrem Gegenstande mit Beobachtung und Experiment zu Leibe.

In der durch das Übergewicht des Scharfsiinis zum Skeptizismus disponierten französischen Nation hat es nie an Vertretern desselben gefehlt. Die Brücke von den genannten Zweifelsphilosophen zu dem großen Bayle bilden La ]Mothe le Vayer (f 1672, Fünf Dialoge 1671, deutsch 17 16), der Erzieher Ludwigs XIV., und P. D. Huet(ius) (t 172 1), Bischof von Avranches, beide darüber einig, daß gerade die Erkenntnis der Schwäche der Vernunft am besten auf den Glauben vorbereite.

6. Die deutsehe Mystik.

In einem Zeitalter, das eine skeptische Philosophie erzeugt hat, sucht man niemals vergeblich nach der ergänzenden Erscheinung der Mystik. Der Stein, den der Zweifel statt des Brotes darreicht, vermag den Erkennt- nistrieb nicht zu sättigen, und weini der Verstand ermüdet und verzweifelt, maclit sich das Herz auf den Weg zur Wahrheit. Sein Weg führt nach innen, das Gemüt kehrt in sich selbst ein, will die Wahrheit innerlich er- fahren und erleben, fühlen und genießen und wartet still der göttlichen

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Die deutsche Mystik.

Erleuchtung. Die deutsche Mystik Eckhartsi(um 1300), die sich in Suso und Tauler fortgesetzt und in den Niederlanden Ruysbroek (um 1350) bis Thomas von Kempen (um 1450) eine praktische Richtung genommen hatte, treibt jetzt am Wendepunkte der Zeiten neue Zweige und Blüten.

Luther war selbst anfänglich Mystiker, er schätzte Tauler und Thomas a Kempis und gab 15 18 jenes anziehende Büchlein eines Frank- furter Anonymus „Von der deutschen Theologie" heraus. Als er später auf die Bahnen des Buchstabenglaubens geriet, war es die deutsche protestantische Mystik, welche gegen die neue Orthodoxie den ursprüng- lichen Grundgedanken der Reformation festhielt, daß der Glaube nicht ein Fürwahrhalten historischer Fakta, nicht ein Annehmen von Lehr- sätzen, sondern ein inneres Erlebnis, eine Erneuerung des ganzen Menschen sei. Man darf nicht Religion und Theologie verwechseln. Religion ist nicht Lehre, sondern Wiedergeburt. Bei Schwenckfeld und auch noch bei Franck ist die Mystik wesentlich Frömmigkeitslehre, bei Weigel ver- wandelt sie sich unter Hereinnahme Paracelsischer Gedanken in Theoso- phie und erreicht als solche in Böhme ihren Höhepunkt.

Kaspar Schwenckfeld (f 1561) will das Luthertum verinnerlichen und protestiert dagegen, daß eine Pastorenreligion daraus gemacht werde. Entflammt von der bahnbrechenden Tat des Reformators, erkennt er doch bald, daß jener zu früh Halt gemacht hatte, und präzisiert in dem Sendschreiben über das Abendmahl 1527 die Differenzpunkte zwischen seiner und Luthers Auffassung des Sakraments. Luther sei in den historischen Glauben zurückgefallen, der seligmachende Glaube könne nimmermehr in der äußerlichen Annahme einer geschichtlichen Tat- sache bestehen. Wer das Heil von der Predigt und dem Sakrament abhängig mache, . verwechsle unsichtbare und sichtbare Kirche, ecclesia interna und externa. Der Laie sei sein eigener Priester.

Nach Seb. Franck^ (1500 1545) sind im Menschen wie in jedem Dinge zwei Prinzipien: ein göttliches und ein selbstisches, Christus und Adam, innerer und äußerer Mensch; gibt er sich (in zeitloser Wahl) jenem hin, ist er geistig, diesem, ist er fleischlich. Nicht Gott ist Ursache der Sünde, sondern der Mensch ist es, der die göttliche Kraft zum Guten oder Bösen wendet. Wer sich selbst verleugnet, um Gott zu leben, ist

1 Meister Eckhardts Werke hat F. Pfeiffer, Leipzig 1857 herausgegeben. Über ihn haben geschrieben Jos. Bach, Wien 1864; Ad. Lasson, Berlin 1868; Ders. im zweiten Teil des Überwegschen Grundrisses, letzter § ; Heinrich Denifle, M. Ecke- harts lateinische Schriften, und die Grundanschauung seiner Lehre (Archiv für Literatur- und Kulturgeschichte des Mittelalters, Bd. 2, S. 41 7 ff.) 1886; H. SiEBECK, Der Begriff des Gemüts in der deutschen Mystik (Beiträge zur Entstehungsgeschichte der neueren Psychologie, I), Gießener Programm 1891; vergl. auch die vierte Aufl. von Erdmanns Grundriß, Bd. i, 1896.

2 Über ihn ALFRED Hegler: S. Franck, der Prophet des Inueulebens; Ders., Geist und Schrift bei S. Franck, Freiburg 1892.

Weigel. J. Böhme. 47

ein Christ, ob er das Evangelium kennt und sich zu ihm bekennt oder nicht. Denn der Glaube besteht nicht im Jasagen, sondern in der inneren Umwandlung. Das Historische am Christentum, desgleichen die gottesdienstliche Zeremonie, ist nur äußere Gestalt und Hülle („Figur"), hat nur die symbolische Bedeutung von Werkzeugen der Mitteilung, Offenbarungsformen der ewigen Wahrheit, deren Verkünder, nicht Gründer, Christus ist; die Bibel nur der Schatten vom lebendigen Worte Gottes.

Valentin Weigel (geb. 1533, seit 1567 Pfarrer in Zschopau), dessen Schriften erst nach seinem Tode gedruckt wurden, verbindet mit dem, was die Vorgänger vom inneren und ewigen Christentum gelehrt hatten, den Mikrokosmos-Gedanken des Paracelsus. Der bedürfnislose Gott hat die Welt geschaffen, nicht um dabei etwas zu gewinnen, sondern um zu spenden. Der Mensch trägt nicht nur in seinem Leibe die irdische, in seiner Vernunft (seinem Geiste) die himmlische Welt der Engel in sich, sondern hat vermöge seines Intellekts (seiner unsterblichen Seele) auch an der göttlichen Welt teil. Da er so eine Welt im kleinen und dazu ein Bild Gottes, so ist alle seine Erkenntnis Selbsterkenntnis, sowohl die sinnliche Wahrnehmung (die nicht der Gegenstand bewirkt, zu der er vielmehr nur den Anlaß gibt) als die Erkenntnis Gottes. Nicht der Buchstabier, nur der erkennt Gott, wer ihn in sich trägt. Vor den übrigen Wesen ist dem Menschen die Freiheit gegeben, in Gott oder in sich selbst zu wohnen. Wenn der Mensch aus Gott heraustritt, war er sein eigener Versucher und hat sich zu einem Selbstbewunderer und Selbstsüchtigen gemacht. Damit ist das bisher verborgene Böse offenbar und Sünde geworden. Wie die Trennung von Gott ein ewiger Akt, so ist auch die Erlösung und Auferstehung eine innere Begebenheit. In jedem Menschen, der die Ichheit aufgibt, wird Christus geboren; jeder Wieder- geborene ist ein Sohn Gottes. Wer aber den alten Adam nicht abtut, den kann kein stellvertretendes Leiden selig machen, mag sich immer die im Buchstaben ersoffene Aftertheologie der Hoffnung trösten, daß der Mensch auf fremde Kreide zeche (ihm fremdes Verdienst angerechnet werde). Über Weigel handeln J. 0. Opel 1864, H. Israel 1889 und H. Schmidt in Herzogs Realenzyklop. 2. Aufl. Bd. 16.

Ihren Gipfel ersteigt die deutsche Mystik in dem Görlitzer Schuh- macher Jakob Böhme (1575 1624; Aurora oder die Morgenröte im Aufgang, Mysterium magnum über das erste Buch Mosis u. a.; die von seinem Apostel Gichtel gesammelten Werke erschienen 1682 in zehn Bänden, 1730 in sechs Bänden, eine neue Ausgabe veranstaltete Schiebler 1831 1847, 2. Aufl. 1861 ff.). Im Mittelpunkte seiner Lehre ' steht die

1 Vergl. die treffliche Darstellung bei Windelband, I § 19. Über Böhme haben geschrieben Fr. Baader (im 3. u. 13. Bande der Werke), Hamberger, München 1844, H. A. Fechner, Görlitz 1857, A, Peip, Lpzg. 1860, Ad. v. Harless, Berlin 1870, neue Ausg. Leipzig 1882, JoH. Huber in den Kl. Sehr. 1871 S. 34 86,

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Die deutsche Mystik.

Frage nach dem Ursprung des Bösen. Er verlegt denselben in Gott selbst und verbindet damit die Grundidee Eckharts, daß Gott einen Prozeß durchmache, aus dem Zustande des Nichtoffenbarseins in den der Offenbarung übergehe. Beim Anblick eines in der Sonne blitzenden Zinngefäßes ging ihm wie eine Inspiration der Gedanke auf, daß, wie sich am dunklen Gefäß das Sonnenlicht offenbare, so alles Licht der Finsternis, alles Gute des Bösen bedürfe, um in die Erscheinung zu treten, um erkennbar zu werden. Alles macht sich nur an seinem Gegenteile empfindlich, die Milde an der Strenge, die Liebe am Zorne, das Ja am Nein. Ohne Böses wäre kein Leben, keine Bewegung, kein Unterschied, keine Offenbarung, wäre alles ein eigenschaftsloses, einförmiges Nichts. Und wie in der Natur kein Ding ist, da nicht Gutes und Böses inne wäre, so besteht auch in Gott außer der Kraft oder dem Guten ein Kontrarium, ohne welches er sich selbst unbekannt bliebe. Der theo- gonische Prozeß ist ein doppelter, der der Sqilbsterkenntnis Gottes und der seiner Offenbarung nach außen als ewige Natur in sieben Momenten.

Am Anfang der ersten Entwickelung ist Gott gegenstandsloser Wille, ewige Stille und Ruhe, qualitätsloser Ungrund ohne bestimmtes Wollen. In diesem göttlichen Nichts erwacht alsbald der Hunger zum Ichts (Etwas, Dasein), der Drang sich zu fassen und darzustellen, und indem Gott in sich blickt und sich ein Bild von sich macht, spaltet er sich in Vater und Sohn. Der Sohn ist das Auge, mit dem sich der Vater an- schaut, das Hervorgehen aber dieses Sehens aus dem Ungrund ist der heilige Geist. Bisher ist der in der Dreiheit einige Gott nur erst Ver- stand oder Weisheit, worin die Bilder alles Möglichen enthalten sind, zur Selbstanschauung muß die Schiedlichkeit kommen, erst durch den Gegensatz des offenbaren Gottes gegen den unoffenbaren Ungrund wird jener zur wirklichen Dreieinigkeit (in der sich die Personen verhalten wie Wesen, Kraft und Tätigkeit), dieser zur Begierde oder Natur in Gott.

Bei der Schöpfung der Welt scheiden sich in der göttlichen Natur sieben gleich ewige Qualitäten, Quellgeister oder Naturgestalten: zuerst die Begierlichkeit als zusammenziehende herbe Qualität oder Qual, von der die Härte und Hitze stammt, dann die Beweglichkeit als ausdehnende süße Qualität, wie sie im Wasser sich zeigt. War die erste haltend, die zweite fliehend, so vereinigen sich beide in der bitteren Qualität oder Angstqual, dem Prinzip der Empfiiidlichkeit. (Kontraktion und Aus- dehnung sind die Bedingungen der Wahrnehmbarkeit.) Aus den drei Gestalten springt plötzlich der Schreck oder Blitz hervor. Diese vierte Qualität ist der Wendepunkt, an dem aus der Finsternis das Licht empor-

H. Martensen, deutsch von Michelsen, Lpzg. 18S2, J. Claassen, Böhmes Leben u. theos. Werke in geordnetem Auszuge, 3 Bde. Stuttg. 1885; dazu die Reden von Deussen, Kiel 1897, und Lasson (Monatshefte der Comeniusgesellschaft Bd. 6) 1897.

BÖHME.

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flammt, aus dem Zorne Gottes seine Liebe sich hervorringt: wie die drei oder vier ersten Gestalten zusammen das Reich des Grimms bilden, so die drei letzten das Freudenreich. Die fünfte QuaUtät heißt das Licht oder das warme Liebesfeuer und hat die Funktion der äußeren Belebung und Mitteilung, die sechste, Schall und Ton, ist das Prinzip der inneren Beseelung und des Verständnisses, die siebente, gestaltende, die Leiblich- keit, schheßt alle vorhergehenden in sich wie in ihrem Hause zu- sammen.

Das dunkle Zornfeuer i^die harte, süße und bittre Qualität) und das helle Liebesfeuer (Licht, Schall und Leiblichkeit), geschieden durch das Feuer des Blitzes, worin Gottes Zorn in Barmherzigkeit umschlägt, ver- halten sich wie Böses und Gutes. Das Böse in Gott ist nicht Sünde, sondern nur der erregende Stachel, das Prinzip der Bewegung, und wird durch die Sanftmut beschwichtigt, überwunden, verklärt. Sünde entsteht erst dadurch, daß das Geschöpf den Fortschritt von der Finsternis zum Lichte nicht mitmachen will, eigenwillig im Zornfeuer stehen bleibt, statt bis zum Liebesfeuer durchzudringen. Damit wird, was in Gott eins war, getrennt. Luzifer vergafft sich in die herbe Qualität (das centnim naturae oder die inatrix) und will nicht in das Herz Gottes hineinwachsen; erst durch solches Stehenbleiben wird das Reich des Grimms zur eigentlichen Hölle. Himmel und Hölle sind nicht jenseitige Zustände, sondern werden hier auf Erden erlebt: wer sich in Tierheit vergafft, statt sie zu beherr- schen, der steht im Zorne Gottes; wer aber die Selbstheit abtut, der wohnt im Freudenreiche der Barmherzigkeit. Nur der glaubt wahrhaft, der selbst Christus wird, in sich das wiederholt, was jener erduldet und erstritten hat.

Die Schöpfung der materiellen Welt ist eine Folge des Sündenfalls Luzifers. Die Beschreibung derselben an der Hand der mosaischen Schöpfungsgeschichte darf übergangen werden. Desgleichen, als aus früheren Mystikern bekannt, die Ansicht von der Erkenntnis: alles Wissen wird aus der Selbsterkenntnis geschöpft, unsere Bestimmung ist, aus uns Gott und aus Gott die Welt zu begreifen. Der Mensch, dessen Leib, Geist und Seele die irdische, siderische und himmlische Welt in sich faßt, ist eine Welt im kleinen und zugleich ein Götterlein.

Niemand wird in Böhmes Spekulation unter der ungelenken Form und der üppig wuchernden Phantastik ein treuherziges Empfinden und ein Denken ^■on ungewöhnlicher Energie und Tiefe verkennen. Sie hat in England und Frankreich (Louis Claude St. Martin, f 1804) Anhang gefunden und neuerdings in den Systemen Baaders und Schellings ihre Auferstehung gefeiert.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 4

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Die Begründung der modernen Physik.

7. Die Begründung der modernen Physik.

Auf keinem Gebiete hat die Neuzeit so vollständig mit dem Über- kommenen gebrochen, wie auf dem der Physik. Durch Keplers Gesetze der Planetenbahnen und Galileis teleskopische Beobachtungen wird die Richtigkeit der koppernikanischen Theorie erwiesen, durch Galileis Fall-, Wurf- und Pendelgesetze die wissenschaftliche Bewegungslehre geschaffen; Astronomie und Mechanik bilden das Eingangstor der exakten Physik: Descartes wagt den Versuch einer umfassenden mechanischen Natur- erklärung. Damit ist ein gänzlich Neues da. An Vorläufern zwar hat es nicht gefehlt. Schon Roger Baco (12 14 94) hatte einer empirischen, mathematisch fundierten Naturerkenntnis nachgetrachtet; der große ]\Ialer Lionardo da Vinci (1452 1519; über ihn Prantl 1885) hatte die Prinzipien der Mechanik entdeckt, qhne jedoch auf die Arbeit der Zeitgenossen Einfluß zu gewinnen. Erst jenem Dreigestirn gelang es, die Schatten der Scholastik zu verscheuchen. Die Begriffe, mit denen die aristotelisch-scholastischeNaturphilosophie den Phänomenen beizukommen suchte, substantielle Form, Eigenschaften, qualitati\e Veränderung werden beiseite geschoben; an ihre Stelle treten Materie, gesetzmäßig wirkende Kräfte, Umlagerung der Stoffe. Die Zweckbetrachtung wird als Vermenschlichung der Naturvorgänge verworfen, als wissenschaftliche Erklärung gilt allein die Ableitung aus bewirkenden Ursachen. Größe, Gestalt, Zahl, Bewegung und Gesetz sind die einzigen und ausreichenden Erklärungsprinzipien. Denn nur Quantitäten sind erkennbar; wo man nicht messen und rechnen, die Kraft nicht mathematisch bestimmen kann, hört die strenge, die exakte Wissenschaft auf. Die Natur ein System gesetz- lich bewegter Massenteile; alles Geschehen mechanische Bewegung, näm- lich Zusammensetzung, Trennung, Verschiebung, Schwingung von Körpern und Körperchen; die Mathematik das Organon der Naturerkenntnis. Diesem Kreise moderner naturwissenschaftlicher Kategorien gliedern sich ferner ein der neue Bewegungsbegriff Galileis und der Begriff des Atoms, der, von Physikern wie Daniel Sennert (16 19) u. a. bereits benutzt, durch Gassendi zu allgemeiner Geltung gelangt und die alten vier Elemente definitiv beseitigt (Lasswitz, Gesch. der Atomistik, 1890). Noch ein anderes demokritisches Lehrstück wird jetzt erneuert: ein deutliches Symptom der Quantitierung und Mechanisierung des Naturgeschehens ist die Lehre von der Subjektivität der sinnlichen Qualitäten, in der, wenn auch mit verschiedener Begründung, Kepler, Galilei, Descartes, Gassendi und Hobbes übereinstimmen (vergl. das sechste Kapitel in Natorps Buch über Descartes' Erkenntnistheorie, Marburg 1882 und Desselben Analekten zur Gesch. der Philos. in den Philos. Monatsh.. 18. Bd., 1882, S. 572 ff.). Von Descartes und Hobbes wird später crehandelt werden. Hier sollen einige Notizen über ihre zeitgenössi-

Kepler.

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sehen INIitarbeiter am Werke der mechanischen Naturwissenschaft Platz finden.

Wir beginnen mit Johann Kepler ^ (i57i 1630, Hauptwerk: Neue Astronomie oder Physik des Himmels, in Kommentaren über die Bewegungen des Mars 1609), über dessen astronomischen Verdiensten lange Zeit seine Bedeutung als Philosoph übersehen worden ist, obwohl die Entdeckung der Gesetze der Planetenbewegung nur das Ergebnis von Bemühungen war, welche auf eine exakte Fundierung seiner Weltan- schauung abzweckten. Sie ist ästhetischer Natur, hat zum Angelpunkte den Begriff der allgemeinen Weltharmonie und nimmt zu ihrer Be- währung die Mathematik in Dienst. Denn daß diese Ansicht das Gemüt befriedigt und im ganzen und großen dem erfahnmgsmäßigen Eindruck der Naturordnung entspricht, genügt ihm zur Sicherung ihrer Wahrheit nicht; auf exaktem Wege, mittels Induktion und Experiment, soll bis ins einzelne hinab an den empirischen Tatsachen der Nach- weis nicht bloß einer Harmonie überhaupt, sondern ganz bestimmter fester Proportionen erbracht werden. Hiermit verliert die philosophische Verwendung der Mathematik jenen Charakter trüber INIystik, die ihr seit den Pythagoreern und sehr stark noch beim Cusaner anhaftete. JNIathema- tische Verhältnisse bilden das tiefste Wesen des Wirklichen und den Gegenstand der Wissenschaft. Wo Materie ist, da ist Geometrie, diese ist älter als die Welt und so ewig wie der göttliche Geist; Quantitäten sind der Ursprung der Dinge. Wahres Erkennen ist nur dort, wo Quanta erkannt werden; die Voraussetzung der Fähigkeit des Erkennens ist die Fähigkeit des Zählens; die sinnlichen Verhältnisse erkennt der Geist durch die ihm angeborenen reinen, urbildlichen, intellektuellen Verhält- nisse, welche vor dem Eintreten des Sinneseindrucks unter dem Schleier der Möglichkeit versteckt lagen; Neigung und Abneigung zwischen den ^Menschen, ihre Lust am Schönen, der wohlgefällige Eindruck eines Ge- sichts beruht auf einer unbewußten, instinktiven Perzeption von Proportionen. Die quantitative Weltbetrachtung, welche mit dem Bewußtsein ihrer Neuheit wie ihrer Tragweite der qualitativen des Aristoteles entgegengestellt wird-, die Ansicht, daß das Wesen wie des göttlichen so des menschlichen Geistes, ja aller Dinge in der Tätigkeit bestehe, die Seele folglich un- unterbrochen tätig sei, und wenn nicht äußere Proportionen, so doch

1 Siehe Sigwart, Kl. Sehr. I. S. 182 ff. ; R. Eucken, Beitrüge zur Gesch. der neuereu Philos., S. 54 ff.

2 Aristoteles irrte, -werm er die qualitativen Unterschiede [idem und aliud) lur die letzten hielt. Sie sind auf quantitative zurückzuführen, und an Stelle des a/zV^i/ oder diverstim ist das plus et minus zu setzen. Es gibt nichts schlechthin Leichtes, sondern nur vergleichsweise Leichtes. Damit, daß sich alle Dinge nur durch ein ,,]Mehr und Minder" unterscheiden, ist die Möglichkeit von vermittelnden Gliedern und rroportionen zwischen ihnen gegeben.

4*

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Die Begründüng der modernen Physik.

ihre eigene Harmonie, sei es auch nur verworren, vorstelle, ferner die Lehre, daß die Natur die Einfachheit liebe, das Überflüssige vermeide und mit wenigen Prinzipien viel auszurichten pflege, erinnern an Leibniz. Zum Vorläufer Newtons aber machen unseren Denker dieses Sparsam- keitsgesetz und die methodologischen Bestimmungen über die wahre Hypothese und die wahre Ursache (die Hypothese soll nicht ein künst- liches Gebäude möglicher, der Wirklichkeit notdürftig angepaßter Fiktionen sein, sondern die Erscheinungen auf ihre realen Gründe zurückführen), deren Befolgung es ihm ermöglichte, was Koppernikus mit glücklicher Vermutung a posteriori aus den Wirkungen erschlossen, a priori aus den Ursachen zu deduzieren. Die physikalische Erklärung, so fordert er, darf weder durch theologische Vorstellungen (die Kometen sind etwas vollkommen Natürliches!), noch durch vermenschlichende, die Natur mit geistartigen Kräften ausstattende Auflassung verunreinigt werden.

Zwischen Baco und Descartes steht zeitlich und sachlich in der Mitte als Mitbegründer der modernen Philosophie Galileo Galilei^ (1564 1642). Man findet bei ihm alle für das neuzeitliche Denken charakteristischen Züge: den Verweis von den Worten auf die Sache, ^'om Gedächtnis auf Verstand und Sinne, von der Autorität auf selbst- erkannte Gründe, \'Oii der Zufälligkeit und Willkür des Mcinens und den überlieferten Doktrinen der Schule auf das „Wissen", die eigene, wohl- fundierte, unbezweifelbare Einsicht, \cm dem Studium der menschlichen Dinge auf das der Natur. vStudiert den Aristoteles, aber werdet nicht seine Skla\'en: statt euch seinem Ansehen gefangen zu geben, gebraucht euere eigenen Augen; glaubt nicht, daß der Geist unfruchtbar bleibe, wenn ,er sich nicht mit dem Verstände eines anderen gatte; zeichnet nach der Natur, nicht bloß nach Zeichnungen. Den V(^rzug der sinn- lichen Erfahrung vor dem leicht täuschenden Vernunftschluß und den Wert der Induktion schätzt Galilei nicht geringer als Baco, aber er ver- hehlt sich nicht, daß die Beobachtung nur den Anfang des Erkenntnis- prozesses bildet und das Hauptgeschäft dem Verstände überläßt. Denn dieser ist es, der, durch den apriorischen Begriff" des Gesetzes den Mangel der Erfahrung die Unmöglichkeit, alle Fälle zu beobachten ergänzend und mit seinen Schlüssen ihr Gebiet überschreitend, die In- duktion allererst möglich macht, die konstatierten Tatsachen in Zu- sammenhang bringt (ihre gesetzliche Verknüpfung wird gedacht, nicht erfahren), sie durch Abstraktion von den zufälligen Umständen auf ihre

1 Galilei: Dialog über die beiden Weltsysteme 1632, übersetzt von Emil Strauss 1892; Unterredungen über zwei neue Wissenszweige 1638, deutsch von Artur V. Oettingen (Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Nr. 11, 24, 25] 1890 91. Eine neue nationale Ausgabe der Werke erscheint seit 1890, redigiert von Favaro. Über ihn vergl. Natorps Aufsatz im 18. Bande der Philos. Monats- hefte 1882.

Galilei. Gassendi.

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primäre, einfache, un^•eränderliche und notwendige Ursache zurückführt, die Wahrnehmung kontrolliert, den Sinnenschein, d. h. das durch die Er- fahrung veranlaßte irrige Urteil, berichtigt und über Realität oder Trüg- lichkeit der Erscheinung entscheidet. Demonstration auf empirischer Grundlage, enger Zusammenschluß von Beobachtung und Denken, von Tatsache und Idee (Gesetz), das war die Forderung, die Galilei stellte und in seinen Entdeckungen glänzend erfüllte; die „induktive Spekulation", wie DüHRiNG sagt, welche aus unscheinbaren Tatsachen durchgreifende ■Gesetze gewinnt, die von ihm selbst erkannte hervorragende Gabe des Forschers. Mit Descartes, dem er mit der Lehre von der Subjektivität der sinnhchen Qualitäten und ihrer Reduktion auf quantitati\'e Unter- schiede zuvorkam', teilt er den Glauben an die Vorbildlichkeit der Mathematik und die mechanistische Weltanschauung. Die Wahrheit der geometrischen Lehrsätze und Beweise ist für den Menschen von der- selben unbedingten Gewißheit begleitet wie für Gott, nur daß er sie diskursiv erkennt, während jttes intuitiver Verstand sie mit einem Male überschaut und ihrer mehr weiß als er. Das Buch des Universums ist in mathematischen Lettern geschrieben, das Grundphänomen der körper- lichen Welt die Bewegung; unsere Erkenntnis reicht so weit als die Meß- barkeit der Erscheinungen; das qualitative Wesen der Kraft, jenseit ihrer quantitativen Bestimmung, bleibt uns unbekannt. Wenn Galilei die koppernikanische Theorie für philosophisch wahr, nicht bloß astronomisch brauchbar, also für mehr als eine Hypothese erklärt, so leitet ihn die Überzeugung, daß die einfachste Erklärung die wahrscheinlichste, das Wahre zugleich das Schöne sei wie er denn überhaupt dem ästhetischen Bedürfnisse des Geistes nach Ordnung, Übereinstimmung und Einheit der Natur, wie solche der Weisheit des Schöpfers entspricht, einen zwar nicht bestimmenden, aber Richtung gebenden Einfluß auf die wissen- schaftliche Arbeit einräumt.

Unter den Zeitgenossen, Landsleuten und Gegnern des Descartes war der Priester und Naturforscher Petrus Gassendi"-, seit 1633 Probst zu Digne, später Professor der Mathematik in Paris, einer der gefeiertsten und einflußreichsten. Seine Erneuerung der epikureischen Philosophie, der ihn Temperament, Verehrung des Lukrez und antiaristotelische Denk- richtung geneigt machten, wurde für die moderne Wissenschaft ungleich

1 Galilei entwickelt sie in der gegen Pater Grassi gerichteten Streitschrift „Die Goldwage" (// Saggiatore 1623, in der Gesamtausgabe Florenz 1842 ff. Bd. IV. S. 149 369; vergl. Natorp, Descartes' Erkenntnistheorie, 1882, Kap. 6). Übrigens findet sich jene Lehre, wie Heussler, Baco S. 94, bemerkt, der Sache nach schon bei Baco im Valerius terminus (^Werke von Spedding, Bd. III, S. 217 252).

2 Pierre Gassend, 1592 1655. Über Leben und Charakter des Epikur 1647; Bemerkungen zum zehnten Buche des Diogenes Laertius nebst einem Überblick über die Lehre Epikurs 1649. Werke, Lyon 1658, Florenz 1727. Vergl. Lange, Gesch. des Mater. S. 184 ff.; Natorp, Analekten, Philos. Monatsh., Bd. 18, 1882, S. 572 ff.

54 ^^^ Begründüng der modernen Physik.

wichtiger, als die früher (S. 26) erwähnten Versuche einer Wiederbe- lebung antiker Systeme. Ihre größere Wirkung beruht darauf, daß sie der exakten Forschung in dem Atombegriff eine überaus nützliche Hand- habe darbot. Um den Vorzug der atomistischen Hypothese auf der einen, der ihr von Descartes gegenübergestellten Korpuskular- und Wirbel- theorie auf der anderen Seite drehte sich, soweit er die Physik betraf der anfangs erbitterte Streit zwischen den Gassendisten und Cartesianern. Bald zeigte sich, daß die beiden Denker, so schroff sie sich hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Überzeugungen gegenüberstanden, in der Naturphilosophie wesentlich dieselbe Richtung einhielten. Die Körper- lehre des Descartes ist vollkommen materialistisch gehalten, seine Anthro- pologie mehr als es die Prinzipien erlauben. Andererseits kennt auch Gassendi eine immaterielle, unsterbliche Vernunft, führt auch er die Ent- stehung der Welt, ihre wunderbare Ordnung und den Ursprung der Bewegung auf Gott zurück, läßt auch er, weil die Bibel es so lehre, die Erde ruhen; aus diesem Grunde müsse man sich für Tycho de Brahe gegen Koppernikus entscheiden, obgleich des letzteren Hypothese die einfachere und wissenschaftlich wahrscheinlichere Erklärung darbiete. Beide Denker freuten sich der Übereinstimmung mit dem kirchlichen Dogma, nur daß sie bei Descartes sich ungesucht in der eigenen Be- wegung seines Denkens einfand, von Gassendi aber im Widerspruch mit semem System aufrecht erhalten wurde. Um so auffälliger, daß Gassendis Schriften bewahrt blieben vor dem Schicksal, auf den Index zu kommen, welches die des Descartes 1663 betraf

Wenn das neuzeitliche Denken seine mechanistische Stimmung gleich- mäßig aus beiden Quellen geschöpft und die Naturwissenschaft der Gegenwart außer den Atomen Gassendis sich, unter dem Namen der Moleküle, die Korpuskeln des Descartes angeeignet hat, allerdings nicht ohne beide Begriffe erheblich zu modifizieren (Lange, S. 195), so begegnen uns schon früh Vermittelungs\-ersuche. Während der in der Physik wohl- bewanderte Pater Mersenne (1588 1648) einen unentschiedenen Mittel- weg zwischen beiden Philosophen suchte, hat der englische Chemiker Robert Boylei eine erfolgreiche Synthese zustande gebracht. Als Sohn des Richard Grafen von Corn 1626 zu Lismore geboren, lebte er als Privatgelehrter seit 1654 in Oxford, später in Cambridge und starb 1692 als Präsident der Sozietät der Wissenschaften in London. Sein Hauptwerk „Der skeptische Chemiker" {W'orh 1, S. 290 ff) erschien 1661, der Traktat de ipsa natura 1682. Durch Einführung des Atombegriffes

» Boyles Werke lateinisch Genf 1660 in sechs und 1714 in fünf Bänden ; Aus- gabe von BiRCH, London 1744 in fünf, von Shew, London 1772 in sechs Bänden. Über ihn Buckle, Gesch. der Zivilisation in England, I, S. 318— 321 ; Lange, Gesch. des Mat., S. 216— 220; 512; Georg Baku, Der Streit über den Naturbegriff 'zPhKr Bd. 9S, 1S91, S. 162 ff.

Bacos Vorgänger. ce

begründete er eine Epoche in der Chemie, die erst hiermit der Fesseln aristotelischer und alchymistischer Vorstelhmgen ledig wurde. Doch ist ihm die Atomistik nur ein methodisches Hilfsmittel, nicht philosophische Weltanschauung. Ein aufrichtig religiöser Mann^, mißbilligt er sowohl den Atheismus Epikurs, als dessen Ablehnung aller Teleologie : die Welt- maschine weist auf einen intelligenten Schöpfer und einen Weltzweck, die Bewegung auf einen göttlichen Impuls. Nach der anderen Seite wahrt er gegen Priester und Schulpedanten das Recht der freien Forschung: das Übernatürliche soll vom Natürlichen, bloße Vermutung über unlösbare Fragen von dem durchs Experiment Nachweisbaren streng abgeschieden werden; und gegen den Autoritätsglauben bemerkt er, daß man bei der kursierenden Münze der Ansichten nicht darauf, wann und von wem sie geprägt sei, sondern allein auf das Metall sehen dürfe. Cartesianisch ist der Ausgang vom Zweifel, die Herleitimg aller Bewegung aus Druck und Stoß und die Ausdehnung der mechanistischen Erklärung auf das organische Reich. Seine Untersuchung gilt ausschließlich der materiellen Welt, soweit sie „am vorletzten Schöpfungstage fertig war". Den leeren Raum verteidigt er gegen Descartes und Hobbes. Für den Gegensatz der nur im Empfindenden vorhandenen sinnlichen oder subjektiven und der dem Gegenstande wirklich zukommenden objektiven Eigenschaften benutzt er zuerst die mittelalterlichen Termini sekundäre primäre Qualitäten. (Eucken, Gesch. d. philos. Terminol. S. 94, 196.)

8. Die englische Philosophie bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts,

Bacos Vorgänger.

Das Dunkel, das über den Anfängen der modernen englischen Philosophie lag, ist durch Ch. de Remusats vielfach verdienstHche, aber ungründliche Arbeit (Histoire de la Philosophie en Angleterre depuis Bacon jusq^u'ä Locke, 2 Bde. 1878) nur unvollkommen erhellt worden. J. Freudenthal (Beiträge zur Gesch. der engl. Philos., im AGPh., Bd. 4 und 5, 1891) hat in dankenswerterweise Abhilfe geschafft, indem er durch Darstellung der wissenschaftlichen Richtung und Leistung des Digbeus und des Tempellus den Schleier, der die Beziehungen Bacos zu Vorgängern und Zeitgenossen verdeckte, in wichtigen Punkten lüftet. Seinen Resultaten sei folgendes entnommen.

Everard Digby (f 1592; HaupUverk: theoria analytica 1579), seit

1 Die nach Boyle benannte Stiftung hatte den Zweck, durch Vorträge die ato- mistische Naturforschung zu fördern, zugleich aber sie von dem Vorwurf, daß sie zum Atheismus führe, zu reinigen und ihre Übereinstimmung mit der Vernunftreligion dar- zutun. Aus dort gehaltenen Vorlesungen ist das Werk von Sam. Clarke über Gottes Existenz und Eigenschaften 1705 entstanden.

Die englische Philosophie bis zur Mitte des xvii. Jahrhunderts.

1573 Lehrer der Logik in Cambridge, der, stark \<ni Reuchlin beeinflußt, einem scholastisch-neuplatonisch-kabbalistischen Eklektizismus huldigte, hat zuerst neuplatonische Gedanken in England verbreitet und durch systematische Darstellung der theoretischen Philosophie, so unselbständig sie war, deren Studium daselbst zu neuem Leben erweckt. Sein Gegner Sir William Temple^ (1553— 1626) hat es durch Verteidigung und Erläuterung der (von G. Buchanan und seinem Schüler A. Melville in Großbritannien eingeführten) Lehre des Ramus bewirkt, daß Cambridge zum Hauptsitz des Ramismus wurde. Er war der erste, der sich in England mit Entschiedenheit und Mäßigung gegen die gesamte aristoteli- sche Philosophie wendete.

Baco hat ohne Zweifel JDeide gekannt und v(^n beiden angenommen. Digby vertrat die scholastische Richtung, die Baco heftig bekämpfte, ohne sich ihr doch völlig entwinden zu können. Temple gehörte zu denen, die ihm die WaflFen zu diesem Kampfe geliefert haben. Endlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß die ^'on Baco nachdrücklich betonte Forde- rung der Nutzbarmachung aller Wissenschaft schon \-or ihm von einer großen Zahl von englischen Gelehrten und Technikern erhoben worden war, und daß von den englischen Naturforschern jener Zeit manche, so namentlich W. Gilbert (1540— 1603, de inagiiete 1600), Leibarzt der Königin Elisabeth, das induktive Verfahren in ihren Arbeiten anwandten, ehe Baco mit seiner INIethodenlehre her\-ortrat.

Baco.

Der Begründer der modernen Erfahrungsphilosophie ist Francis Bacon (sprich Behkn; 22. Januar 1561 bis 9. April 1626), der Zeitgenosse Shakespeares. Er beginnt seine politische Laufbahn als langjähriges Parlamentsmitglied unter der Königin Elisabeth, als deren Anwalt er die Anklage gegen seinen Gönner, den Grafen Essex, zu erheben hat und in deren Auftrag er eine Rechtfertigung des Prozesses verfaßt. Unter jakob I. erringt er die höchsten Ehren und Ämter, wird 161 7 Groß- siegelbewahrer, 161 8 Lordkanzler und Baron von Vervilam, 162 1 Vis- count von St. Albans. Im selben Jahre erfolgt die Katastrophe. Er wird überführt, Geschenke angenommen zu haben, die den Charakter der Bestechung trugen, und wird ^'erurteilt. Der König erläßt ihm Ge- fängnis und Geldstrafe, und von da an lebt er, ohne zur politischen Tätigkeit zurückzukehren, einsam der Wissenschaft. Die damals herr-

1 Temple war Sekretär bei Ph. Sidney, W. Davison und dem Grafen Essex, seit 1609 Vorsteher des Trinity-College in Dublin. Seine Erstlingsschrift de nnica P. Raini methodo^ die er unter dem Pseudonym Mildapettus 1580 herausgab, war gegen Digbys de dtiplici iiiethodo gerichtet. Sein Hauptwerk P. Raini dialecticae lihri dito schoUis illustraii erschien 1584.

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sehende Laxheit der Sitten läßt seine Schuld in mildcrem Lichte er- scheinen; von dem Vorwurfe der Selbstsucht, der Geld- und Prachtliebe sowie eines allzu regen Ehrgeizes kann man ihn nicht freisprechen. Am schwersten lastet auf seinem Andenken der Verrat, den er an seinem einzigen wirklichen Freunde und Wohltäter, dem Grafen Essex, be- gangen hat. Er war, sagt Macaulay in seinem Essay über Bacon (1837), ^veder boshaft noch zur Unterdrückung geneigt, aber es fehlte ihm die Wärme der Empfindung und die Hoheit der Gesinnung; es gab ^•ielerlei Dinge, die ihm lieber waren als die Tugend, und die er mehr fürchtete, als die Schuld. :Merkwürdig war die JMischung der Eigenschaften, die seine Natur zusammensetzten, und zu schmerzlich ist es, so hohen Geistesgaben unerfreuliche Züge beigesellt zu sehen, als daß nicht die KontroA-erse begreiflich wäre, die zwischen Fowler, Spedding und Abbott in vortrefflichen Schriften über seinen Charakter geführt worden ist. Als Schriftsteller machte sich Baco zuerst durch moralische, ökono- mische und politische „Essays" nach dem Muster des :\Iontaigne einen Namen; die ersten zehn erschienen 1597, in der dritten Ausgabe 1625 waren es achtundfünfzig Artikel geworden, die lateinische Übersetzung trägt den Titel sermones fideles.^ Der große Plan einer „Erneuerung der Wissenschaften", mit dem er sich trug, war auf vier resp. sechs Teile angelegt. Doch sind von der instauratio magna nur die beiden ersten Teile zur Ausführung gelangt: die Enzyklopädie oder Einteilung aller Wissenschaften 2, eine Karte von dem globus inteUectualis , auf der ver- zeichnet würde, was jede Wissenschaft geleistet habe und was ihr noch

1 Die kleineren Schriften von Lord Bacon, übers, und erläutert von J. Fürsten- hagen, Leipzig 1884, enthalten außer den Essays die „Weisheit der Alten", eine allegorische Erklärung mythologischer Sagen 1609, und eine Sammlung von Apo- phthegmen, die B. aus dem Gedächtnis niederschrieb. Eine neue Ausgabe der Essays hat Wright 1862 veranstaltet; die beste ist die von Abbott; zusammen mit dem Advanceinent sind sie bei Macmillan 1900 erschienen. Bacos Neue Atlantis hat R. Walden verdeutscht, Berlin 1890. Seine Confessio fidei ist englisch und lateinisch Halle 1896 erschienen.

2 Xach den Seelenvermögen Gedächtnis, Phantasie und Verstand werden drei Hauptwissenschafteu gesondert: Geschichte, Poesie und Philosophie. Von den drei Gegenständen der letzteren trifft die Natur unseren Geist in direktem, Gott in ge- brochenem, der Mensch sich selbst in reflektiertem Strahl. Die Gotteserkenntnis ist teils natürliche, teils geoffenbarte Theologie. Die spekulative (theoretische) Naturphilo- sophie zerfällt in Physik, veelche die stofflichen und die bewegenden Ursachen betrachtet, und Metaphysik, welcher die Erforschung der formalen und der finalen Ursachen ob- liegt; die operative (technische) Naturphilosophie ist Mechanik und natürliche Magie. Die Lehre vom Menschen umfaßt Anthropologie (nebst Logik und Ethik) und Politik. An dieser baconischen Einteilung hat noch d'Alembert in seiner Einleitung zur Enzy- klopädie festgehalten. Später hat sich Bacos Ansicht über die Zweckursachen ge- ändert. Die Zweckbetrachtung ist unfruchtbar wie eine Nonne; sie wird aus der Wissenschaft verbannt und der religiösen Weltansicht zugewiesen.

cg Die englische Philosophie bis zur Mitte des xvii. Jahrhunderts.

zu leisten übrig bleibe, und die Entwicklung der neuen Methode- Den Überblick über das System der Wissenschaften gab Baco in einer englischen Schrift über den Fortschritt der Wissenschaft (adva7uet?ie?it of learning 1605), von der 1623 eine sehr erweiterte lateinische Be- arbeitung de dignitate et augmentis scie?itianiin herauskam. Zur Me- thodenlehre verfaßte er 1607 einen Entwurf cogitata et visa (gedruckt erst 1653), den er später zu dem 7iovum Organum 1620 umarbeitete. Schon der Titel des neuen Organen' deutet den Gegensatz zu Aristo- teles an, dessen logische Schriften seit alters unter dem Namen des Organon zusammengefaßt wurden. Hatte Baco schon hier statt einer zusammenhängenden Darlegung seiner Reformgedanken bloß eine noch dazu unvollendete Reihe von Aphorismen geboten, so sind vollends zu den übrigen Teilen nur Vorreden und einzelne Beiträge niederge- schrieben worden. Den dritten Teil sollte die Weltbeschreibung, Natur- geschichte oder historia 7iatiiralis, den durch eine scala tnentis (Leiter der Erkenntnis: Veranschaulichung der Methode durch Beispiele) und einen prodomus (vorläufige Ergebnisse eigener Versuche) einzuleitenden vierten die Naturwissenschaft, die philosophia secunda bilden. Die beste Ausgabe der Werke ist die Londoner von Spedding, Ellis und Heath 1857 59, 7 Bände, wozu noch 7 Bände Briefe und Leben des B. (die Biographie vorurteilsvoll und einseitig) mit Einschluß seiner Ge- legenheitsschriften nebst Kommentar von J. Spedding 1861 74 hinzu- kommen; die ersten beiden Bände dieser Letters a?id life sind zugleich als Band 8 und 9 der Works bezeichnet. Eine kürzere Darstellung des Lebens und der Zeit des B. ließ Spedding 1879, ^ Bde., folgen. Über B. vergl. K. Fischer, 2. Aufl. 1875; Heinr. Böhmer (gegen J. V. Liebig) 1864; Chr. Sigwart in den Preuß. Jahrbb. 1863 und 64, Ders. im 2. Bande seiner Logik; E. A. Abbott, B., an accoimt of his life and works, London 1885; H. Heussler, B. und seine geschichtliche Stellung, Breslau 1889.

Das Verdienst Bacos ist ein dreifaches: er hat die Erneuerungs- bedürftigkeit der Wissenschaft klar erkannt und lebhaft geltend gemacht, hat ein neues großes Ideal unbefangene und methodische Natur- erkenntnis zum Zweck der Naturbeherrschung aufgestellt und hat über die Art und Weise, wie dieses Ziel zu erreichen, Aufschlüsse und Weisungen gegeben, welche, ungeachtet ihrer Mangelhaftigkeit im ein- zelnen, tief in den Kern der Sache eindringen. 2 So stark war sein Glaube an die Allmacht der neuen Methode, daß er meinte, die Wissen- schaft werde nunmehr der Besfabunff fast entraten können. Er \-ergleicht

1 Sehr mangelhaft übersetzt von Kirchmann 1870; gute Ausgabe von Fow- LER (Oxford, Clarendon Press) 187S.

'^ Seine Verkleinerer tun unrecht, den Maßstab der heutigen Forschungsweise anzulegen und am unvollkommenen Anfang nur das Unvollkommene zu sehen.

Baco.

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seine IMethode einem Zirkel oder Lineal, mit dem der Ungeübte Kreise und gerade Linien besser zu ziehen vermöge, als es dem Geübten ohne diese Hilfsmittel gelinge.

Die bisherige Wissenschaft ist unsicher und unfruchtbar und rückt nicht \on der Stelle, während die mechanischen Künste sich täglich vervollkommnen; ohne feste Grundlage, geschwätzig, streitsüchtig, inhalts- los, ist sie von gar keinem Nutzen fürs Leben. Wollt ihr ein sicheres Wissen, so wendet euch von den Worten an die Dinge selbst und lernet die Natur durch Kunst bedrängen, daß sie euren Fragen Antwort gebe. Wollt ihr ein fruchtbares Wissen, so sorget, daß die Erfindungen häufiger und aus einer Sache des Zufalls eine Sache der Absicht werden. Denn auf den Erfindungen ruht Macht, Größe und Fc/rtschritt der Menschheit. Der Mensch vermag so viel als er weiß. Wissen ist Macht, und die Natur wird dadurch beherrscht, daß man ihr gehorcht {scientia est poientia ; natura parendo vincitw').

Dreierlei erklärt Baco für unerläßlich, um jenes machtverleihende Wissen zu erreichen: daß der Geist sich über die Hilfsmittel der Er- kenntnis klar werde, daß er sich an die Erfahrung wende, den Stoff des Wissens aus der Wahrnehmung schöpfe, und daß er von den ein- zelnen Sätzen nicht zu schnell, sondern stetig und allmählich durch die Mittelstufen zu den allgemeinsten Sätzen aufsteige. Der Geist, sich selbst überlassen, vermag nichts; aber auch die Erfahrung allein, ohne Regel, ist unzureichend (planloses Experimentieren ist ein Herum- tappen im Dunkeln), zudem täuschen die Sinne und sind für die Feinheit der Natur nicht scharf genug; nicht die gelegentliche Beobachtung, nur das methodische Experiment verdient Vertrauen. Zwischen Erfahrung und Verstand muß statt der bisherigen Trennung ein festes Bündnis, eine „legitime Ehe" zustande gebracht werden: wenn die Empiriker nur zusammenschleppen wie die Ameisen, die dogmatischen Metaphysiker das Gewebe ihrer Gedanken aus sich selbst herausziehen wie die Spinnen, so soll der wahre Philosoph der Biene gleichen, welche das Gesammelte durch eigene Kraft verarbeitet und verdaut.

Da der Geist wie ein trüber und unebener Spiegel die Strahlen der Gegenstände durch seine eigne Natur verändert, so muß vor allem eine Reinigung und Glättung der Spiegelfläche vorgenommen werden; der Geist muß sich befreien von allen Voreingenommenheiten und Trugbildern, die, durch Gewohnheit eingewurzelt, ihm die Aufnahme eines treuen Weltbildes verwehren. Er muß seine Vorurteile vertilgen oder, wo dies nicht möglich, wenigstens durchschauen. Der Zweifel ist der erste Schritt auf dem Wege zur Wahrheit. Jener abzulegenden Trugbilder oder Idole unterscheidet Baco vier Arten: die des Theaters, des Marktes, der Höhle und des Stammes. Die gefährlichsten sind die idola theafri, bestehend in der Neigung, der Autorität und den Überlieferungen mehr

6o Die englische Philosophie bis zur IMitte des xvii. Jahrhunderts.

zu vertrauen als dem eignen Nachdenken, herrschende Vorstellungen anzunehmen, nur weil sie in allgemeiner Geltung stehen; hier verlangt Baco: lasse dich nicht von den Gaukeleien der Schaubühne (d. h. den Lehren früherer Denker, welche die Dinge anders darstellen, als sie sind) betören; statt anderen zu glauben, beobachte selbst! Die sich im öffent- lichen Verkehr durch die Sprache erzeugenden idola fori beruhen darauf, daß man die Worte, die ja nur Zeichen von konventionellem Werte sind und auf den fahrlässig gebildeten Begriffen der INIenge beruhen, für die Dinge selbst nimmt; hier mahnt Baco: halte dich allein an die Sache! Die idola specus sind persönliche Befangenheiten, die uns die reine Auf- fassung des Tatbestandes erschweren, wie die \i)rwiegende Richtung des Denkens auf die Ähnlichkeiten oder auf die Unterschiede zwischen den Dingen, oder die Gewohnheit der Forscher, ^•om eigenen Wissen- schaftsgebiete her geläufige Begriffe auf andersartige Gegenstände zu über- tragen; solcher individuellen Fehler gibt es zahllose, sie lassen sich jedoch zum Teil durch Vergleichung mit den Wahrnehmungen anderer berichtigen. Die idola tribiis endlich haben ihren Grund in der Natur der menschUchcn Gattung: dahin gehören u. a. die Sinnestäuschungen, zum Teil korrigierbar durch Instrumente, mit denen wir die Organe be- waffnen; ferner die Neigung, an uns zusagenden Meinungen trotz wider- sprechender Tatsachen zäh festzuhalten; desgl. der Hang zu anthropu- morphischer Auffassung, die als wichtigsten Spezialfall den In-fum ein- schließt, daß wir nach Analogie mit dem menschlichen Tun überall Zweckzusammenhänge und die Wirkung \o\\. Endursachen zu sehen meinen, wo tatsächlich nur a fcrgo wirkende Ursachen im Spiele sind. Hier lautet Bacos Forderung: beurteile die Naturvorgänge nicht teleo- logisch, sondern erkläre sie aus formalen und mechanischen Ursachen; schränke die Welt nicht auf die Enge des Geistes ein, sondern dehne den Geist zur Weite der Welt aus, daß er sie auffasse, wie sie wirk- lich ist.

Zu den Warnungen gesellen sich positive Vorschriften. Ist der Forscher, nach Beseitigung der Vorurteile und gewohnten Begriffe, mit unverdorbenen Sinnen und gereinigter Seele an die Erfahrung heran- getreten, so nehme er seinen Weg von der gegebenen Erscheinung zu deren Bedingung: zuerst müssen die Tatsachen durch Beobachtung und Experiment konstatiert und planmäßig gruppiert werden, ^ dann gehe er

* Baco erläutert das Verfahren am Beispiel der Erklärung der Wärme. Die Ergebnisse der experimentellen Beobachtung sind in drei Tabellen zu ordnen. Die Tafel der Gegenwart enthält viele verschiedene Fälle, in denen Wärme vorkommt, die Tafel der Abwesenheit solche, in denen sie bei sonst ähnlichen Umständen fehlt, die der Grade oder der Vergleichung zählt Erscheinungen auf, deren Zu- und Abnahme mit derjenigen der Wärme gleichen Schritt hält. Was nach der nun vorzunehmenden x-Vusschließung (dessen, was Wesen resp. Ursache der Wärme nicht sein kann) übrig

Baco. 5i

zur Ursache und zum Gesetze fort, ^ Die hier empfohlene wahre oder ^vissenschaftHchc Induktion 2 sei eine ganz andere als die leichtgläubige des gewöhnlichen Lebens und die unmethodische des Aristoteles. Baco hebt hervor, daß man bisher vollständig die Bedeutung der gleichsam als Gegenprobe zu benutzenden negativen Instanzen verkannt habe, und daß für die niemals erreichbare Vollständigkeit der Induktion einer- seits die Sammlung möglichst vieler Fälle, andererseits die Beachtung der höherberechtigten oder entscheidenden Fälle, der prärogativen Instanzen, einen Ersatz biete. An das induktive Hinaufsteigen vom Experiment zum Axiom soll sich dann ein dedukti\es Hinabsteigen von dem Axiom zu neuen Experimenten und Erfindungen anschließen. Das syllogistische Verfahren verwirft Baco, da es. statt neue Wahrheiten zu

bleibt, gibt als vorläufiges Resultat oder als x^utang der Erklärung (als ,, erste Wein- lese") die Definition der Wärme; sie ist eine ausdehnende, nach der Höhe strebende, auf sich selbst zurückgedrängte, schnelle Bewegung in den kleinereu Teilen des Körpers.

1 Dieses Ziel der baconischen Forschung deckt sich keineswegs mit dem der exakten Naturwissenschaft. Gesetz bedeutet ihm nicht, wie dem heutigen Physiker, eine mathematisch formulierte Aussage über den Verlauf des Geschehens, sondern das in einer Begriffsbestimmung auszusprechende Wesen der Erscheinung (E. KÖNIG, Ent- wickelung des Kausalproblems bis Kaut, 1888, S. 154 56). Baco verbindet in eigen- tümlicher Weise antike und moderne, platonische und korpuskulare Grundanschauungen, indem er, mit den Atomisten die Zweckursachen verwerfend, die materialen und be- wirkenden Ursachen aber (welche letztere ihm zu der Bedeutung bloßer wechselnder Gelegenheitsursachen und Vehikel hinabsinken) der empirischen Physik überlassend, der Metaphysik als der wahren Naturwissenschaft die Aufsuchung der „Formen" der Dinge und Eigenschaften zuweist. Dabei leitet ihn folgende metaphysische Vor- aussetzung. Die Erscheinungen, so vielgestaltig sie sich darbieten, setzen sich schließ- lich aus wenigen Elementen, nämlich beständigen Eigenschaften, den sogen. ,, einfachen Naturen" zusammen, die gleichsam das Alphabet der Natur oder die F'arben auf ihrer Palette bilden, aus deren Kombination sie ihre mannigfachen Malereien her- stellt; z.B. die Natur des Warmen und Kalten, des Roten, des Schweren, aber auch des Alters, des Todes. Nun gilt es zu erforschen, was ist eigentlich Wärme, Röte usw.? Grund, Wesen und Gesetz der Naturen bilden gewisse Formen, die Baco platonisch als Begriffe und Substanzen, aber als diesseitige, und zugleich demo- kritisch als Gruppierung oder Bewegung kleiner Stoffteile faßt. So ist die Form der Wärme eine besondere Art von Bewegung, die Form der weißen Farbe eine be- stimmte Lagerung der Massenteilchen. Vergl. Natge, Über Fr. Bacons Formenlehre, Leipzig 1891, worin Heusslers Anschauung näher ausgeführt wird.

2 Nur in einem weiteren Sinne freilich darf die baconische Methode Induktion heißen. Schon vor SiGWART haben Fries und APELT (Theorie und Induktion 1S54, ^- 151, 253) erklärt, daß es sich bei ihr wesentlich um ein Abstraktionsverfahren handle. Dies schmälert jedoch nicht den Ruhm Bacos, den Grund gelegt zu haben zu der (später von Mill sorgfältig ausgearbeiteten) Theorie der induktiven Forschung. WUNDT (Logik II, S. 19) erkennt neben vielem Unwesentlichen und Irrtümlichen einzelne Lichtblicke an, „in denen gewisse Grundsätze der experimentellen Methoddc in bewundernswerter Weise antizipiert werden."

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finden, nur bekannte neu anordne und nur befähige, in der Disputation den Gegner, nicht aber handehid die Natur zu besiegen.

In der eigenen Anwendung seiner methodischen Grundsätze verfuhr Baco höchst dilettantisch; die geduldige, unverdrossene Arbeit, welche eine gedeihliche Förderung der Aufgaben der Naturforschung erfordert, war seine Sache nicht. Seine Stärke war das Stellen von Problemen, das Ermuntern und Zielsetzen, das Erspähen von Lücken, das Aus- streuen von Anregungen, und viele seiner gelegentlich hingeworfenen Ge- danken überraschen durch geniale Vorausnahme späterer Einsichten. Der schwerste Mangel seiner Theorie war die völlige Verkennung der Dienste, welche die Mathematik dem Naturerkennen versprach. Dagegen ist der Vorwurf des Utilismus, so nackt ausgesprochen, nicht gerecht. Denn so stark Baco den praktischen Nutzen des Wissens betont, so stimmt er doch denen bei, welche den gottähnlichen Zustand heiterer und ruhiger Wahrheitserkenntnis höher schätzen als die von ihr zu erhoffenden Vor- teile, will, daß man die Wissenschaft nicht wie eine Dirne zur Lust,, sondern wie eine Gemahlin zur Erzeugung und anständigen Erholung gebrauche, und faßt von der vereinzelten Anerkennung eines Eigen- wertes des Wissens ganz abgesehen die Nützlichkeit desselben durch- aus in dem umfassenden und erhabenen Sinne, daß der Betrieb der Wissenschaft, dem als solchem jede engherzige Rücksicht auf direkte praktische Verwertung fern zu bleiben hat, der wichtigste Hebel für den Kulturfortschritt der Menschheit sei.

Auch der praktischen Philosophie gedachte Baco eine Reform an- gedeihen zu lassen, hat indessen nur aphoristische Winke gegeben. Jedes Ding wird von einem zwiefachen Triebe bewegt, der eine geht auf das individuelle Wohl, der andere auf dasjenige des Ganzen, von dem es ein Teil ist {bonum sidtatis bonum communio?iis). Der zweite ist nicht nur der edlere, sondern auch der stärkere; das gilt von den niederen Wesen wie vom Menschen, der, wenn er nicht entartet ist, das allgemeine Wohl dem Einzelinteresse vorzieht. Die Liebe hat unter allen Tugenden den höchsten Platz und ist niemals, wie die anderen Vorzüge des Menschen, dem Übermaß ausgesetzt; darum ist das aktive Leben wertvoller als das kontemplative. Mit diesem Moralprinzip hat Baco der späteren Moralphilosophie seines Landes den Weg vorgezeichnet (\ergl. Fr. VoRLAENDER, S. 267 ff.). Er vermißt eine Charakterlehre, für die sich in den alltäglichen Gesprächen wie bei den Poeten und Historikern mehr ]\Iaterial finde, als in den Büchern der Philosophen, erklärt die Macht der Aß'ekte über die Vernunft daraus, daß die Vorstellung des gegen- wärtigen Gutes die Phantasie kräftiger erfülle, als die des zukünftigen, und ruft zur Unterstützung der letzteren Beredsamkeit, Gewöhnung und Sitte auf Wir müssen suchen, die Leidenschaften (deren jede einen männlichen Ungestüm und eine weibliche Schwäche in sich strägt) so

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ZU ordnen, daß sie für die Vernunft zu Felde ziehen, statt sie anzu- greifen. An anderer Stelle gibt Baco nicht ganz unbedenkliche An- weisungen betreffs der Kunst, sein Glück zu machen. Überall trifft man auf feine Beobachtungen und geistreiche Pointen. Willst du jemandes Ansicht und Absicht erforschen, so mußt du eine kluge Mitte innehalten zwischen Freimut, der ihn zur Offenherzigkeit ermuntert, und Schweig- samkeit, die ihn in Vertrauen wiegt. Um vorwärts zu kommen, muß man ein klein Weniges vom Narren und nicht zuviel vom Recht- schaffenen haben. Der Reichtum verhält sich zur Tugend, wie das Ge- päck zum Heere: es ist nötig, aber schwer und lästig, und die Sorge dafür stört oft den Sieg {impedimenta = Gepäck und Hindernis). Über Neid und Schadenfreude heißt es: entweder freut sich der Mensch am eigenen Gut oder am fremden Übel; wer nun ohne Tugend ist und folglich des ersten Nahrungsmittels entbehrt, der sättigt sich am zweiten. In der Ethik wie in der theoretischen Philosophie fordert Baco eine Ergänzung der natürlichen Erkenntnis durch die Offenbarung. Das natürliche Licht (Vernunft und Gewissen) vermag uns nur vom Laster zu überführen, nicht aber uns über unsere Pflichten z. B. das erhabene Moralgesetz: liebet eure Feinde vollständig zu unterrichten. Des- gleichen reicht die natürliche Theologie wohl aus, um auf Grund der Naturordnung das Dasein Gottes außer Zweifel zu stellen (ein leichtes Nippen aus dem Kelche der Philosophie mag zum Atheismus führen, vollere Züge leiten zur Religion zurück); die christUchen Dogmen aber sind Sache des Glaubens. ReHgion und Wissenschaft sind getrennte Gebiete, mit ihrer Vermischung droht die Gefahr einer ketzerischen Religion oder einer abenteuerlichen Philosophie. Je mehr ein Glaubens- satz der Vernunft widerspricht, um so größer ist der Gehorsam und die Ehre, die wir Gott durch seine Annahme erweisen.

Hobbes.

Nach Anlage und Lehre steht Hobbes (sprich Hobb's') zu Baco in starkem Gegensatz. War Baco eine weitblickende, reiche, anregende, impulsive Natur, von gi'oßen Plänen erfüllt, aber zu beweghch und ab- springend, um sie zur Vollendung ausreifen zu lassen, so ist Hobbes langsam, zäh, hartnäckig, unerbittlich, sein Denken streng und eng. Dem entspricht ein tiefgreifender Unterschied der Systeme, der keineswegs damit hinreichend bezeichnet ist, daß Hobbes das bei seinem Vorgänger zu kurz gekommene mathematische Element in den Vordergrund rückt und sein Interesse vorzugsweise der Politik zuwendet. Die Abhängigkeit des Hobbes von Baco ist, trotz persönlicher Bekanntschaft, nicht so groß, wie früher allgemein angenommen wurde. Seine Leitsterne sind vielmehr die großen Mathematiker des Kontinents, vor allen Galilei;

^4 Die englische Philosophie bis zur Mitte des xvii. Jahrhunderts.

auch Einflüsse von Descartes sind nicht abzuleugnen. Als seine Aufgabe erkennt er den Aufbau einer streng mechanistischen Weltansicht. Der Mechanismus, angewandt auf die Welt, gibt den Materialismus; an- gewandt auf die Erkenntnis, den Satz, daß das Denken ein Rechnen sei; angewandt auf den Willen, den Determinismus; angewandt auf Sitt- lichkeit und Staatsleben, den ethischen und politischen Naturalismus. Zugleich aber hat die empiristische Richtung seines Volkes eine gewisse Macht über ihn; er hält daran fest, daß alle Vorstellungen letzthin aus der Wahrnehmung entstehen. Bei seinem energischen, aber kurzatmigen Denken ist es ihm nun nicht gelungen, die von fremdher empfangenen rationalistischen Elemente mit den einheimischen Tendenzen so zu ver- schmelzen, daß sich ein System aus einem Guß ergeben hätte. Es besteht, wie Grimm (Zur Gesch. des Erkenntnisproblems) richtig gezeigt hat, ein unausgeglichener Widerspruch zwischen der Abhängigkeit des Denkens vun der Erfahrung, die er nicht aufgibt, und der AUgemcin- gültigkeit der aus reiner Vernunft geschöpften Erkenntnisse, die er auf Grund der mathematisierenden Lehren des Festlandes behauptet. (Einer ähnlichen unvermittelten Doppelheit werden wir bei Locke begegnen.) Ebenso stehen Phänomenalismus, wonach die Körper bloße Bewußt- seinserscheinungen sind, und Materialismus unvermittelt nebeneinander. Thomas Hobbes (5. April 1588 bis 4. Dez. 167g), als Student in Oxford abgeschreckt durch den scholastischen Wissenschaftsbetrieb, dem er nur hinsichtlich der nominalistischen Überzeugung (es gibt nichts allgemeines außer Namen) zustimmt, vertieft sich bei mehrmaligem Auf- enthalt in Paris, wo er Gassendi, Mersenne und Descartes kennen lernt, in das Studium fler Mathematik und empfängt bestimmende Einflüsse von der Lehre des Galilei, während ihn die Unruhen der englischen Revolu- tion einer absolutistischen Staatslehre in die Arme treiben. Seine Haupt- werke sind die Politik unter dem Titel „Leviathan" 1651 (englisch) und die „Elemente der Philosophie" (lateinisch) in drei Teilen (über den Körper, über den Menschen, über den Bürger), von denen zuerst der dritte de civc (1642 in kleiner Auflage und anonym, erweitert 1647; deutsch V. Kirchmann 1873), der erste de corpore 1655 (englisch 1656), der zweite de homine 1658 erschien. Vorangegangen waren zwei' englisch geschriebene Bücher: human nature und de corpore politico, ver- faßt 1640, ohne des Verfassers Einwilligung gedruckt 1650. Außerdem gab er seine Kontroverse mit dem Bischof Bramhall über Freiheit, Not-

1 Oder vielmehr eins: die Schrift über die menschliche Natur besteht aus den ersten 13, die über den Staatskörper aus den übrigen Kapiteln des ^ erVts Eleiiients cf law, natural and politic. Dieses Werk hat Tönnies London 1889 (im Anhang mehreres üngedruckte), ein andres über das lange Parlament Behenioth derselbe Ge- lehrte gleichzeitig ebenda nach der ursprünglichen Handschrift herausgegeben. Leider ist die ganze Auflage beider Editionen bei einem Brande zerstört worden.

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wendigkeit und Zufall 1656 heraus und veranstaltete 1668 eine Samm- lung seiner Werke (lateinisch). In der Gesamtausgabe von Molesworth 1839 45 nehmen die lateinischen Werke fünf, die englischen elf Bände ein. Über ihn: G. C. Robertson (Knights Philosoplncal dassics Bd. 10) 1886. Tönnies, Frommanns Klassiker der Philos. Bd. 2, 1896 (meisterhaft ist S. 160 flf. der Streit mit Bramhall über den Determinismus dargestellt); vorher hatte Tönnies verschiedene Abhandlungen über H. veröffentlicht: VwPh. III— V, 1879—81; Ph. Monatsh. Bd. 23, 1887; Deutsche Rundschau 1889; AGPh. 1890. W. Dilthey (AGPh. Bd. 13, S. 445 f.) 1900. Max Köhler, Die Naturphilosophie des H. in ihrer Abhängigkeit von Bacon (AGPh. Bd. 15, S. 370 399) 1902.

Formell definiert Hobbes die Philosophie als Erkenntnis der Wir- kungen (Erscheinungen) aus den Ursachen und der Ursachen aus den Wirkungen mittels richtiger Schlußfolgenmg der Vernunft. Darin ist die Gleich-, ja Höherberechtigung der deduktiven Methode im Verhältnis zu der von Baco als wichtigstes Erkenntnismittel proklamierten induktiven und zugleich die Ausschließung der auf Offenbarung beruhenden Theo- logie aus dem Bereiche der Wissenschaft ausgesprochen. Nach ihrem Objekte bezeichnet Hobbes die Philosophie als Körper- und Bewegungs- lehre: alles Seiende ist Körper, alles Geschehen Bewegung. Alles Wirkliche ist körperlich; dies gilt sowohl von Punkt, Linie und Fläche, die als Grenzen des Körpers nicht unkörperlich sein können, als vom Geiste und von Gott. Der Geist ist ein (für die Sinne zu) feiner Körper, oder, wie es an einer anderen Stelle heißt, eine Bewegung in gewissen Teilen des organischen Körpers. Alle Ereignisse sind Be- wegungen materieller Teile, auch die inneren, die Gefühle und Leiden- schaften. Das Streben ist eine kleinste Bewegung, wie das Atom ein kleinster Körper, Empfindung und Vorstellung eine Veränderung in den kleinsten Teilchen des empfindenden Körpers. Der Raum ist die Vor- stellung eines existierenden Dinges als solchen, d. h. bloß als außer dem vorstellenden Subjekte seienden, die Zeit die Vorstellung der Bewegung. Alle Erscheinungen sind Körperbewegungen, die mit mechanischer Not- wendigkeit vor sich gehen. Es gibt weder formale noch Endursachen, sondern nur wirkende oder bewegende. Alles Geschehen nimmt seinen Anfang von der Tätigkeit einer äußeren Ursache, nicht von sich selbst: ein ruhender (bewegter) Körper ruht (bewegt sich) immerfort, wenn nicht ein anderer ihn zum Gegenteil bestimmt. Sind nun Körper und ihre Veränderungen die einzigen Gegenstände der Philosophie, so ist ihre einzig richtige Methode die mathematische.

Es gibt zwei Arten von Körpern: natürliche, die der Mensch in der Natur vorfindet, künstliche, die er selbst hervorbringt. Bei der letzteren Klasse denkt Hobbes in erster Linie an den Staat als ein Artefakt des Menschen. Zwischen beiden steht der Mensch, als der

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vollkommenste Naturkörper und das Element des Staatskörpers. Hier- nach hat die Philosophie, außer der einleitenden philosophia prima, welche die Hauptbegriffe erörtert, drei Teile: Physik, Anthropologie und Politik. Auch die Staatslehre ist einer demonstrativen Behandlung fähig; die sittlichen Erscheinungen unterliegen ebenso dem Gesetz der mechanischen Kausalität wie die physischen.

Im Prozesse des Erkennens ist das erste ein Eindruck auf das Sinnesorgan, der, durch äußere Bewegung verursacht, sich bis zum Herzen fortsetzt und eine Reaktion von dort aus veranlaßt. Die so entstandene Wahrnehmung oder Empfindung ist ganz subjektiv, nur im Erkennen- den vorhanden und keineswegs ein Abbild des äußeren Reizes. Die Eigenschaften Licht, Farbe, Ton, von denen wir glauben, daß sie außer uns seien, sind bloße Erscheinungen in uns, welche auf äußeren und inneren Bewegungen beruhen, ohne sie abzuspiegeln. Die dauernde Nachwirkung oder zurückgebliebene Spur der Wahrnehmung ' ist das Gedächtnis, es ist ein Empfinden oder Bewußtsein, daß man empfun- den hat {setitire se sensisse meini?mse est), die Vorstellung unterscheidet sich von der Empfindung wie Perfekt vom Präsens. Unter der Erfahrung ist zu verstellen die Gesamtheit der im Gedächtnis behaltenen Wahr- nehmungen, verbunden mit einer gewissen Voraussicht des Künftigen nach Analogie des früher Erlebten. Die bisherigen Stadien, auf Grund deren wohl Klugheit, aber noch nicht allgemeines und notwendiges Wissen erworben wird, finden sich auch im Tier. Die menschliche Fähigkeit der Wissenschaft ist an das Vermögen der Sprache gebunden; die Wörter sind konventionelle Zeichen zum Zweck des Behaltens und Mitteilens von Vorstellungen. Da die durch sie bezeichneten Er- innerungsbilder schwächer, blasser und minder deutlich voneinander unterschieden sind, als die ursprünglichen Empfindungen, so kommt es, daß viele ähnliche Gedächtnisvorstellungen durch ein gemeinsames Wort bezeichnet werden. So entstehen die abstrakten Allgemeinvorstel- lungen und Gattungsbegriffe, denen nichts Reales entspricht, denn in der Wirklichkeit existieren nur Einzeldinge. Das Allgemeine ist ein Artefakt des Menschen. Das Verbinden von Wörtern oder Namen zu Sätzen, ein Addieren und Subtrahieren willkürlicher Zeichen oder Marken, heißt Urteilen, das Verbinden von Sätzen zu Folgerungen Schließen, die Verbindung wahrer oder bewiesener Sätze Wissenschaft; daher die Mathematik das Vorbild aller Erkenntnis. Kurz, Denken ist nichts als Rechnen, und die Worte, mit denen wir dabei operieren, haben nur die Bedeutung von Spielmarken; ein Tor, der Rechenpfennige für bare

1 Hobbes vergleicht das Nachklingen der Empfindung nach dem Aufhören der sie verursachenden äußeren Bewegung mit den Wasserwogen, die noch lange nach- rollen, nachdem sich der Wind gelegt hat. Über die Erklärung der Träume siehe Tönnies, Hobbes, S. 189 191.

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Münze nimmt. Dem Tiere geht die Vernunft, die Fähigkeit, künst- liche Zeichen zu verknüpfen, ab.

Den gleichen sensualistisch mechanistischen Charakter wie die Er- kenntnislehre zeigt die Willenstheorie. Alle geistigen Vorgänge haben ihren Ursprung in sinnlichen Eindrücken. Der Mensch beantwortet die Einwirkung der Objekte mit einer doppelten Reaktion, nämlich außer der theoretischen, der Empfindung, mit einer praktischen, dem Gefühl der Lust und Unlust (je nachdem durch den Eindruck die Lebens- tätigkeit gefördert oder gehemmt wird), woraus Zu- und Abneigung und hinsichtlich des Zukünftigen Begehren und Furcht folgt. Weiterhin ent- wickeln sich aus den Gefühlen, welche der Mensch empfindet über die Zeichen von Ehre (Anerkennung überlegener Macht) und dem Gegen- teil, die besonderen Affekte Stolz, Eitelkeit, Mut, Zorn, Scham, Reue, Hoffnung, Liebe, Mitleid, Neid usw. Überlegimg ist das Sichab- wechseln verschiedener Begehrungen, die letzte, siegreiche, der Ausführung unmittelbar vorangehende Begehrung wird Wille genannt. Freiheit kann nicht von dem Willen, sondern nur von der Handlung prädiziert werden und bedeutet auch hier nur Abwesenheit äußerer Hindernisse, das Hervorgehen aus dem Willen des Handelnden; notwendig ist sie gleich- wohl. Jede Bewegung ist der unausbleibliche Erfolg aus der Summe der vorhergehenden (einschließlich Gehirn-) Bewegungen.

Die begehrten Dinge nennt man Güter, die verabscheuten Cbel. An sich oder schlechthin ist nichts gut oder böse, sondern immer nur relativ für diese bestimmte Person, diesen Ort, diesen Zeitpunkt, diese Umstände. Für Verschiedene ist Verschiedenes gut, und es gibt keine objektive und allgemeine Regel des Guten und Bösen, solange man den Menschen als Einzelnen, außerhalb der Gesellschaft, betrachtet. Ein bestimmter Maßstab des Guten ist erst im Staate vorhanden: recht ist, was das Gesetz erlaubt, unrecht, was es verbietet; das Gute ist das Ge- meinnützige. Im Naturzustande ist nichts verboten, die Natur gab jeder- mann ein Recht auf alles, hier reicht das Recht so weit als die Gewalt. Was veranlaßt nun die Menschen, aus dem Naturzustande lieraus- und in den bürgerlichen einzutreten?

Die Meinung des Aristoteles und des Grotius, daß der Staat aus sozialem Triebe entstehe, ist irrig: der Mensch ist von Haus aus nicht gesellig, sondern selbstsüchtig, und nur die Sorge für den eigenen Nutzen heißt ihn das Schutzinstitut des Staates aufsuchen: das politische Gemeinwesen ist ein künstliches Erzeugnis der Furcht und Klugheit. Das erste Gut ist die Selbsterhaltung; alle anderen Güter, wie Freund- schaft, Reichtum, Weisheit, Wissenschaft, vor allem Macht, empfangen ihren Wert dadurch, daß sie ihr dienen. Voraussetzung des Wohlseins, nach dem jeder von Natur strebt, ist Sicherheit des Lebens und der Gesundheit. Diese fehlt im Naturzustande, in welchem die Affekte

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herrschen; er ist ein Zustand des Krieges aller gegen alle {bellwn omnium contra omnes). Jeder will für sicli Glück und Macht erringen vmd sucht den anderen, da er ihm nicht trauen darf, zu unterjochen, ja zu töten; jeder erblickt in dem anderen den Wolf, den lieber er fressen, als von ihm gefressen werden will. Da nun keiner so schwach ist, daß er nicht seinem Mitmenschen das schlimmste Übel, den Tod, zufügen könnte, also selbst der Stärkste nicht sicher ist, so gebietet die Vernunft, im Interesse eines jeden, Frieden zu suchen und eine geordnete Gemein- schaft zu gründen. Die Bedingungen des Friedens sind die rechtlichen und sittlichen „Naturgesetze", die allerdings ihre volle verpflichtende Autorität erst als positive Gesetze, als Gebote der Staatsgewalt erhalten. Friede ist nur dadurch zu erlangen, daß jedermann dafür, daß ihm Schutz gewährt wird, jenes Naturrecht auf alles preisgibt. Das Übereinkommen, worin jeder auf die natürliche Freiheit, zu tun was ilnu beliebt, ver- zichtet, vorausgesetzt daß alle anderen zu dem gleichen Verzicht bereit sind, zu dem sich ferner hinzugesellen die Gesetze der Gerechtigkeit (Heiligkeit der Verträge), Billigkeit, Dankbarkeit, Bescheidenheit, Gefällig- keit, Menschlichkeit usw., deren Gegenteil den Naturzustand zurück- führen würde, jenes Übereinkommen wird gegen Verletzung gesichert durch Übertragung der gesamten Macht und Freiheit aller auf einen Willen (den einer Versammlung oder einer einzelnen Person), der dann den Gesamtwillen repräsentiert und sich vermöge seiner jeder Gewalt über- legenen Machtfülle allzeit durchzusetzen imstande ist. Zwei Momente also enthält der Staats\ertrag: erstens die Verzichtleistung, zweitens die nicht rückgängig zu machende Übertragung und (absolute) Unterwer- fung. Der zweite Akt einigt die Menge zur Person des Staates, die vollkommenste Einheit gewährt die absolute Monarchie. Der Souverän ist die Seele des politischen Körpers, die Beamten sind seine Glieder, Lohn und Strafe seine Nerven, Gesetz und Billigkeit seine Vernunft.

Die Idee des Staats Vertrages ist vor und nach Hobbes häufig im demokratischen Sinne ausgelegt und verwendet worden, und in der Tat liegt in ihr selbst die Unwiderruflichkeit der Übertragung, die Un- umschränktheit der Staatsgewalt und die monarchische Spitze nicht eingeschlossen, die Hobbes für unerläßlich hält, um der Gefahr der Anarchie vorzubeugen. In jeder Schwächung der obersten Gewalt, sei es durch Teilung oder Einschränkung, sieht er einen Schritt zur Erneue- rung des Naturzustandes, und mit eiserner Härte vertritt er die Allmacht des Staates und die völlige Rechtlosigkeit aller Einzelnen ihm gegen- über. Nicht seinem eigenen Gewissen, das nur den Wert einer Privat- meinung hat, sondern dem Gesetz als dem öffentlichen Gewissen (dem allgemeinen Maßstab für gut und schlecht) soll der Bürger gehorchen, dagegen steht der höchste Machthaber über den bürgerlichen Gesetzen,

HOBBES.

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ist er es doch, der sie erläßt, auslegt, verändert, aufhebt. Er ist Herr über Eigentum, Leben und Tod der Bürger, von ihm kann nie- mandem Unrecht getan werden. Denn er allein hat das ursprüngliche Naturrecht auf alles behalten, dessen sich die übrigen gänzlich und für immer begeben haben. Zwar soll er das Wohl des Volkes im Auge haben, aber Rechenschaft ist er allein Gott schuldig. In einem einzigen Falle erlischt die Verpflichtung des Untertanen zum Gehorsam: wenn die Staatsgewalt ihm keinen Schutz mehr nach außen und innen zu gewähren vermag. Im übrigen erklärt Hobbes die bestehende öflFentliche Ord- nung für die rechtmäßige, die Übel der Willkürherrschaft für viel erträglicher als die der allgemeinen Feindseligkeit des Naturzustandes und des Bürgerkrieges, und die Tyrannenscheu für eine von den Republikanern des Altertums geerbte Krankheit.

Der Fürst bestimmt durch Gesetz und Belehrung, was gut und böse ist, er bestimmt, was geglaubt werden soll. Die nicht staatlich legitimierte Religion ist Aberglaube. Der zeitliche Herrscher ist zugleich der geist- liche, der König der höchste Seelsorger, die übrigen Geistlichen sind seine Diener. Dieselbe Gemeinschaft wird Staat genannt, sofern sie aus Menschen, Kirche, sofern sie aus christlichen INIenschen besteht (Staatskirchentum). Die durch Gesetz vorgeschriebenen Dogmen soll man ununtersucht hinnehmen, unzerkaut liinunterschlucken wie die Pillen.

Der Grundsatz, daß jede Leidenschaft und Handlung ihrer Natur nach moralisch gleichgültig sei, daß es erst im Staate Recht und Unrecht gebe, daß die Willkür eines Despoten festsetze, was sittlich und unsittlich sei, hat vielfach Anstoß erregt. Dies war auch tatsächlich nicht die letzte Überzeugung des Philosophen. Selbst olme großen Wert auf ver- einzelte Aussprüche 1 zu legen, wird man zugeben müssen, daß seine Lehre engherziger aufgefaßt wurde, als sie gemeint war. Er sagt nicht, daß es vor der Gründung des Staates gar keine sittlichen Unterschiede gebe, sondern nur, daß erst in ihm ein fester Maßstab des Guten ge- wonnen werde. Eine gewisse Geltung haben die sittlichen Ideen schon vorher, aber es fehlt ihnen an Kraft, sich durchzusetzen. Und wenn Hobbes den Staat aus der Selbstsucht entstehen läßt, so soll das nicht lieißen, daß im Naturzustande Vernunft, Gewissen, Edelsinn, Nächsten- liebe gar nicht vorhanden, sondern nur, daß sie nicht allgemein genug

1 Das göttliche oder natürliche Gesetz (was du nicht willst usw.) hat Gott dem Menschen ins Herz geschrieben, indem er ihm die Vernunft verlieh als eine Regel seiner Handlungen. Die Naturgesetze verpflichten zwar nicht immer rechtlich [in foro exierno], aber immer und überall im Gewissen {in foro interna). Gerechtigkeit ist die Tugend, die wir nach bürgerlichen Gesetzen messen können, Liebe diejenige, welche wir nach dem bloßen Naturgesetz messen. Der Regent soll nach dem Natur- gesetz herrschen.

'jQ Die englische Philosophie bis zur Mitte des xvii. Jahrhunderts.

und ihre Macht den Leidenschaften gegenüber zu schwach sei, als daß sich auf sie das Staatsgebäude gründen ließe. Übertreibungen des Aus- drucks nicht nur, sondern auch Schroffheiten des Gedankens darf man dem Vertreter einer neuen, durch das Gefühl der Einstimmigkeit mit einer naturalistischen Erkenntnislehre und Physik gestärkten Tendenz wohl verzeihen, und die Energie der Durchführung zwingt zur Bewunde- rung, wenngleich manche Unklarheit (z. B. über das Verhältnis der beiden Maßstäbe des Sittlichen: der Vernunft oder des Naturgesetzes und des positiven Gesetzes) zu beklagen bleibt. Als bedeutsamen Kern hat man anzuerkennen einerseits das Bemühen, die Moral von der Theologie los- zulösen, andererseits den allerdings nicht rein herausgestellten Gedanken, daß das Sittliche sich nicht auf einen sozialen Naturtrieb, sondern auf ein Gesetz der Vernunft gründe und erst in der Gemeinschaft ein be- stimmtes Maß der Beurteilung erhalte, und daß das Interesse des Ein- zelnen mit dem des Ganzen solidarisch verknüpft sei. Jedenfalls wäre der Versuch einer naturalistischen Staatslehre selbst dann ein dankens- wertes Unternehmen gewesen, wenn die Aufstellung dieser Theorie weiter kein Verdienst gehabt hätte, als daß sie zur Widerlegung auf- forderte.

Herbert.

Zwischen Baco (1605, 1620) und Hobbes (1642, 1651) steht Lord Herbert von Cherbury (1581 1648), durch sein Werk de veritate 1624^ Begründer des Deismus, jener dem historischen Autoritätsglauben der kirchlichen Theologie sich entgegensetzenden Lehre von einer „natürlichen Religion", welche zu ihrer Grundlage die in allen Menschen gleiche Vernunft und zu ihrem wesentlichen Inhalt die Sittlichkeit hat.^ Herbert leitet seine Religionsphilosophie durch eine Erkenntnistheorie ein, welche zur höchsten Norm der Wahrheit die allgemeine Überein- stimmung {summa veritatis norma coiisensiis universalis) und zur Basis der Erkenntnis gewisse, allen Menschen vermöge eines sicher leitenden natürlichen Instinktes innewohnende unmittelbar einleuchtende Grund- sätze [prificipia) macht. Diese Gemeinbegriffe (notitiae commimes) gehen aller begründenden Reflexion wie aller Beobachtung und Erfah- rung voraus, die ohne sie nicht möglich wären. Die wichtigsten Gemein- begriffe sind die religiösen und moralischen des Gewissens.

1 Über die Wahrheit und ihren Unterschied von der Offenbarung, dem Wahr- scheinlichen, Möglichen und Falschen. Außerdem: über die Ursachen der Irrtümer (logischen Inhalts) 1645; Über die Religion der Heiden und die Gründe ihrer Irr- tümer 1663. Über Herbert vergl. C. Güttler, München 1897.

2 Als einen Vorläufer solcher freieren überkonfessionellen Religionsauflassung schildert Dilthey (AGPh., Bd. 5, Seite 487 93) den von Erasmus beeinflußten, von seinen Gegnern als Haupt der „Libertiner" befehdeten Niederländer D. V. Coorn- hert (1522 90).

Herbert von Cherbury.

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Der natürliche Instinkt ist sowohl Trieb zur Wahrheit als Anlage zum Guten oder Selbsterhaltungstrieb. Der letztere erstreckt sich nicht nur auf das Individuum, sondern auf alle Dinge, mit denen es zusammen- hängt, auf die Gattung, ja die ganze übrige Welt, und sein letztes Ziel ist die ewige Seligkeit: alle natürlichen Fähigkeiten haben die Richtung auf das höchste Gut oder auf Gott. Der Sinn für das Göttliche kann wohl durch den freien Willen eingeschläfert oder irregeführt, aber nicht vertilgt werden. Vernunft haben und Religion haben ist unzertrennlich; die Religion ist es, die den Menschen vom Tier unterscheidet, und man findet kein Volk, das ihrer entbehrte. Gibt es wirklich Atheisten, so sind sie den Vernunftlosen und Wahnsinnigen gleichzuachten.

Der Inhalt der natürlichen Religion ist in folgende von allen Völkern anerkannten fünf Artikel zusammenzufassen: l. Es existiert ein höchstes Wesen [iiutnen sitpremiini). 2. Wir schulden diesem höchsten Wesen Ver- ehrung. 3. Den Hauptbestandteil der Gottesverehrung bildet Tugend im Verein mit Frömmigkeit. 4. Dem Menschen hat stets iVbscheu vor Ver- brechen innegewohnt und damit die Überzeugung, daß alle Vergehen durch Reue gesühnt werden müssen. 5. Von Gottes Güte und Gerechtig- keit ist Lohn und Strafe in und nacli diesem Leben zu erwarten. Außer diesen allgemeinen Grundsätzen, auf deren Entdeckung Herbert sehr stolz ist, enthalten die positiven Religionen willkürliche Zutaten, durch die sie sich voneinander unterscheiden und die zum großen Teil von trügenden Priestern herrühren; doch haben auch die Phantasien der Dichter und die Erfindungen der Philosophen das ihrige dazu bei- getragen. Im ursprünglichen Christentum treten jene wesentlichen Sätze der natürlichen Religion (Gott, Tugend, Glaube, Hoffnung, Liebe und Reue) deutlicher zutage als in den heidnischen Religionen, wo sie von Fabeln und Zeremonien überwuchert wurden.

In einer verwandten Richtung bewegt sich die religio medici {1642) des Thomas Browne.

In der Entwickelungsreihe von der Spekulation des Cusaners bis zur Begründung der englischen Natur-, Religions- und Staatsphilosophie durch Baco, Herbert und Hobbes und zur Physik des Galilei sind die modernen Gedanken mit zunehmender Klarheit und Freiheit hervorgetreten. Hobbes selbst steht schon unter dem Einfluß der entscheidenden Tat des Des- cartes, mit welcher die Dämmerung dem hellen Morgen Platz macht. In Descartes tritt dem Empirismus und Sensualismus der Engländer der Rationalismus gegenüber, dem die großen festländischen Denker treu bleiben. Dort wird die Erfahrung, hier die Vernunft für die Quelle der Erkenntnis erklärt; dort von einzelnen sinnlichen Eindrücken, hier von allgemeinen Begriffen und Grundsätzen des Verstandes ausgegangen;

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Vor AUSBLICK.

dort die beobachtende, hier die ableitende Methode empfohlen und geübt. Dieser Gegensatz bleibt maßgebend für die Entwickelung der Philosophie bis zu Kant, so daß man seit langem zwei Reihen oder Schulen, die empiristische und die rationalistische, unterscheidet, deren Parallelismus folgende Tabelle veranschaulicht (wo nur eine Jahreszahl angegeben, bezeichnet sie das Erscheinen des Hauptwerkes):

Empirismus. Rationalismiis.

Bacon 1620, (Cusanus 1450; Bruno 1584.)

Hobbes 1651. Descartes f 1650.

Locke 1690 (1632 1704). Spinoza (1632 )i677.

Berkeley 1710. Leibniz 1695, 1710.

Hume 1748. Wolff f 1754.

Freilich darf man den regen Ideenaustausch zwischen beiden Rich- tungen (so namentlich die Einflüsse von Descartes auf Hobbes, von diesem auf Spinoza, ferner von Descartes auf Locke, von diesem auf Leibniz) nicht übersehen, vermöge dessen eine gegenseitige Annäherung und Bereicherung eintritt. Berkele}- und Leibniz gelangen von entgegen- gesetzten Voraussetzungen aus zu dem gleichen idealistischen Resultat, daß es keine reale Körperwelt, sondern nur Geister und deren Vor- stellungen gebe. Hume und Wolff bilden die Schlußpunkte der beiden Entwickelungsreihen; bei jenem löst sich der Empirismus in Skeptizismus auf, bei diesem erstarrt der Rationalismus zum schulmäßigen Dogmatis- mus, um alsbald in eine eklektische Popularphilosophie des gesunden Menschenverstandes auszulaufen.

Vergleichen wir die geistige Eigenart der drei großen Nationen, die sich in dem Zeiträume zwischen Descartes und Kant am ausgiebigsten an der Arbeit der Philosophie beteiligen die vielseitig regsamen und empfänglichen Italiener haben nur in der Übergangsperiode bahnbrechend und bestimmend in deren Geschick eingegriffen , so stellt sich heraus, daß der Franzose vorwiegend zur Schärfe, der Engländer zur schlichten Klarheit, der Deutsche zur Tiefe des Denkens disponiert ist. Frankreich ist das Land der mathematischen, England das der praktischen, Deutsch- land das der spekulativen Köpfe; das erste die Heimat der Skeptiker, freilich auch der Enthusiasten, das zweite die der Realisten, das dritte die der Idealisten.

Der englische Philosoph gleicht einem Geographen, der mit gewissen- hafter Sorgfalt eine Karte des bereisten Gebietes entwirft; der französische einem Anatomen, der mit sicherem Schnitt die Nerven und Muskeln des Organismus bloßlegt; der deutsche einem Bergsteiger, der ebensoviel von der Deutlichkeit des Einzelnen preisgibt, als er an Höhe des Stand- punktes und Weite des Blickes gewinnt. Der Engländer beschreibt, der Franzose analysiert, der Deutsche verklärt die gegebene Wirklichkeit.

Der philosophische Charakter der Engländer, Fr.vnzosen und Deutschen. 7-»

Der englische Denker, dem Enthusiasmus abgeneigt, hält sich in möglichster Nähe der Erscheinung, und die Prinzipien, die er zu ihrer Erklärtuig benutzt, liegen selbst im Bereiche des Erfahrbaren, des Kon- kreten. Er erklärt eine Erscheinung durch die andere; er gruppiert, ordnet das Vorliegende, ohne es zu zerlegen; er bleibt stets in Fühlung mit dem populären Bewußtsein. Sein Respekt vor der Realität, so wie sie sich ihm gibt, und seine Scheu vor zu weit gehender Abstraktion ist so gfoß, daß es ihm genügt, sich an der unmittelbaren Wirklichkeit zu orientieren, sie treu wiederzugeben, und er gern auf den Ehrgeiz verzichtet, sie in Begriffen neu zu schaffen. Zu der Achtung vor der konkreten Realität kommt eine gleich starke vor den ethischen Postu- laten. Wo ihn die Verfolgung einer Gedankenreihe in einen Zwiespalt mit dem praktischen Leben zu bringen dnjht, ist er zwar ehrlich genug, die Konsequenz des Denkens zu ziehen und auszusprechen, weicht aber der Kollision durch den einfachen Kompromiß aus, daß er die Düfteleien der Philosophie in das Studierzimmer einschließt und im Handeln sich der Führung des natürlichen Instinktes und des Gewissens überläßt. Die Vertretung einer den herrschenden sittlichen Ansichten widersprechen- den Theorie hält sich daher fern von jener Frivolität, in der sich der Franzose gefällt. Leben und Wissenschaft sind getrennte Gebiete, der Widersprach zwischen beiden wird geduldig ertragen, und wenn die Wissenschaft ihren Stoff aus dem Leben schöpft, so erweist sie sich für diese Gabe dankbar, indem sie das Leben zwar den Vorteil ihrer nutz- baren Resultate genießen läßt, zugleich aber vor der umstürzenden oder zersetzenden Wirkung ihrer bedenklichen Paradoxien schützt.

Wenn das bedächtige Fahrzeug der englischen Philosophie nicht gern das Ufer des Konkreten außer Sicht läßt, segelt das Schiff der französischen kühn und hoffnungsfroh in das offene Meer der Ab- straktion liinaus. Begreiflich, daß es den Weg zu den Prinzipien schneller findet, als den von dort zu den Erscheinungen zurück. Freie Bahn, neue Anfänge, gerade Linien das ist die Devise des französischen Denkens. Was sich der Gradlinigkeit nicht fügt, wird ignoriert oder als ungehörig bekämpft. Der Strich, den Descartes durch die Welt hindurch zwischen Körper und Geist, den Rousseau zwischen Natur und Kultur zieht, ist sehr bezeichnend für die philosophische Art ihrer Landsleute. Der Dualismus ist ihnen durchaus nicht unbequem, er genügt dem Be- dürfnis der Klarheit, damit ist man zufrieden. Die Antithese steckt dem Franzosen im Blute, er spricht und denkt in ihr, im Salon und auf dem Katheder, im witzigen Scherz und im wissenschaftlichen Ernst. Entweder A oder nicht-A, ein mittleres gibt es nicht. Die Gewöhnung an Exakt- heit und reinliche Analyse erleichtert die Bildung geschlossener Parteien, während bei den Deutschen in Politik und Philosophie jeder einzelne eine Partei für sich bildet. Die Forderung des Aufräumens mit dem

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Vorausblick.

Plunder des Bestehenden und das sanguinische Zurückgehen zu den Ursprüngen gibt der französischen Philosophie den Charakter des Un- geschichtlichen, Radikalen und Revolutionären, Die Geister zweiten Ranges, die nicht aus eigener Kraft den Schritt vom Gegebenen zur Quelle zu tun vermögen, bewähren den Radikalismus darin, daß sie das von anderen Begonnene bis zur Wurzel hinaufführen (so Condillac den SensuaHsmus des Locke). Zudem soll das Philosophen! in Tat umge- setzt werden; wie der Denker als Doktrinär das Gegebene aufg^öst hat, so hofft er als Diktator das Vorhandene zu stürzen und eine neue Ord- nung der Dinge zu gründen, nur daß das mutig Angefangene in der Praxis ebensobald erlahmt wie in der Theorie.

Die glückliche Gabe, ein naheliegendes Problem zu isolieren, welche die beiden besprochenen Nationen auszeichnet, ist dem Deutschen ver- sagt, er pflegt sein System beim Ei der Leda zu beginnen; dafür vereinigt er den frohen Hochflug des Franzosen mit dem zähen Phlegma des Engländers, d. h. er sucht seine Prinzipien hoch über den Erscheinungen, aber er läßt es nicht bei der Aufstellung von Gesichtspunkten, beim Tonangeben bewenden, sondern führt die Grundsätze mit liebevollem Fleiß und umständlicher Architektonik bis ins einzelne durch. Wenn beim Engländer der gesunde Menschenverstand, beim Franzosen das zergliedernde Denken den Ausschlag giebt, so gestattet der Deutsche auch der Phantasie und dem Gemüt ein gewichtiges Wort mitzureden, doch so, daß die verschiedenen Vermögen gleichzeitig und ineinander wirken. Wenn sich in Frankreich der Rationalismus, die Mystik und die Philosophie des Herzens an verschiedene Personen (Descartes, Malebranche und Pascal, Rousseau) verteilen, so steckt in jedem deutschen Philoso- phen von allen dreien etwas. Der skeptische Kant flüchtet die Postulate in das Heiligtum des Glaubens, der strenge und tatkräftige Fichte geht gegen das Ende seines Lebens unter die Mystiker, Schelling denkt mit der Phantasie und phantasiert mit dem Verstände, und unter dem weiten Mantel der dialektischen Methode Hegels hat neben der Reflexion der Vernunftkritik und der Wissenschaftslehre die Phantastik der Naturphiloso- phie, die gemütvolle Innigkeit Böhmes und dazu auch noch der ganze Reichtum der Empirie Platz gefunden. Wie in der Betrachtung der Dinge die Synthese vorherrscht, so macht sich im Verhältnis zu den Vorgängern ein harmonistischer, konziliatorischer Zug geltend: die Er- gebnisse der früheren Philosophen werden weder rundweg abgelehnt, noch in Summa angenommen, sondern was irgend verwandt und brauch- bar erscheint, wird, oft mit erheblicher Umdeutung, in das neue System an seiner Stelle hineingearbeitet. An Entschiedenheit geht bei solcher Vermittelungsarbeit viel verloren, und nicht immer wird der Schaden durch allseitige und gerechte Berücksichtigung der verschiedensten Inter- essen gedeckt. Da die Philosophie hier, wie gezeigt wurde, den ganzen

Der philosophische Charakter der Engländer, Franzosen und Deutschen. 75

Menschen beschäftigt, so fühlt ihr Jünger nicht noch daneben Trieb und Kraft für reformatorisches Wirken, findet sich auch von außen nicht dazu aufgefordert, weil er die Welt durch die Brille seines Systems anschaut. So bleibt sie bei uns, wesentlich von Fachgelehrten betrieben, eine Kathederangelegenheit und hat eine direkte umbildende Wirkung aufs Leben nicht geübt (denn Fichte, der die Franzosen aus Deutschland hinausphilosophieren half, ist eine Ausnahme); um so größer war ihr Einfluß auf die Spezialwissenschaften, die in diesem Lande mehr als in irgend einem anderen mit philosophischem Geiste traktiert werden.

Auch in der Darstellungsform spiegelt sich die Geistesanlage der Volker wieder. Die Schreibweise der englischen Philosophen ist nüchtern, gemeinverständlich, breit und ein wenig langweilig. In Frankreich schreibt man einen fließenden, eleganten, durchsichtigen Stil, unterhaltend und blendend durch epigrammatische Wendungen, bei denen nicht selten die Pointe den Gedanken regiert. Der Deutsche gibt seinen soliden und sinnigen Gedanken einen schwerfälligen und schwerverständlichen Aus- druck, jeder macht sich seine eigene mit Fremdwörtern nicht sparsame Terminologie, und die Länge seiner Perioden wird nur durch die Dicke seiner Bücher übertrofien. Bis in die Äußerlichkeiten hinein läßt sich der Gegensatz der Nationen verfolgen. Der Engländer nimmt seine Ein- teilungen, wie sie sich der ersten Überlegung darbieten, mehr nach prak- tischem als logischem Gesichtspunkt. Der analytisch denkende Franzose bevorzugt die Zweiteilung, dem synthetischen und systematischen Charakter des deutschen Denkens entspricht die Dreigliederung, und die naive Freude Kants darüber, daß in jeder Klasse die dritte Kategorie die beiden vorhergehenden in sich vereinige, ist von vielen seiner Lands- männer beim Anblick ihrer Trichotomien nachgefühlt worden.

Die Verteilung der Aufgaben der vorkantischen Philosophie an die drei Völker stimmt vollkommen mit der geschilderten Eigentümlichkeit ihrer philosophischen Begabung überein. Auf Frankreichs Anteil fällt der Anfang. Aus den Händen des Descartes empfängt Locke den ver- schlungenen Knoten des Erkenntnisproblems, dieser wirft ihn Leibniz zu, und während die Aufklärung aller drei Länder das Gold des Lockeschen und Leibnizischen Erbes in kleine Münze umsetzt, erschallt von Königs- berg aus die Lösung des Rätsels.

Erster Teil. Von Descartes bis Kant.

Zweites Kapitel. Descartes.

Der langjährige, mit wachsender Energie und immer schneidigeren WaflFen geführte Kampf gegen die Scholastik wird durch Descartes zum siegreichen Ende geführt. Endlich steht das Neue, das ersehnte, gesuchte, von vielen Seiten aus vorbereitete, fertig und wohlbegründet da. Mit der sicheren Einfachheit, welche das Genie kennzeichnet, vollbringt er, was 7iot tut, indem er der Philosophie im Selbstbewußtsein einen festen Aus- gangspunkt beschert, in der Folgerung aus klaren und deutlichen Be- griffen ein des Erfolges sicheres Verfahren darbietet und in der mecha- nischen Naturerklärung die dringlichste und zukunftsreichste Aufgabe stellt.

Rene Descartes ist am 31. März 1596 zu La Haye in der Tou- raine geboren und am 11. Februar 1650 in Stockholm gestorben. Von dem, was in der Jesuitenschule zu La Fleche gelehrt wurde, vermochte nur die Mathematik seinem Bedürfnis nach vollkommen klarem und sicherem Wissen zu genügen. Die Jahre 16 13 17 brachte er in Paris und Poitiers zu, wo er den Grad eines Lizentiaten der Rechte erwarb; dann trat er in niederländische, 1619 in deutsche Kriegsdienste. Im Winterquartier zu Neuburg war es, wo er eine Wallfahrt nach Loretto gelobt, wenn ihn die heilige Jungfrau aus den ihn bedrängenden Zweifeln einen Ausweg finden lasse, und wo ihm die erlösende Entdeckung der „Grundlagen einer wundervollen Wissenschaft" zu teil wird. Nach fünf Jahren erfüllt er sein Gelübde. Nach Paris (1625) zurückgekehrt, wird er von befreundeten Gelehrten bestürmt, seine epochemachenden Ge- danken zu veröffentlichen. Trotzdem er, wie wohl schon bei dem ersteig Pariser Aufenthalt, seine Wohnung geheim hält und häufig wechselt, um sich die Störungen der Geselligkeit fernzuhalten, vermag er doch die vollständige Einsamkeit und Muße für wissenschaftliche Arbeit, wie er

DeSCARTES. yy

sie wünscht, dort nicht zu erlangen, und begibt sich 1629 nach Holland, wo er in Franeker, Amsterdam, Utrecht, Leeuwarden, Egmond, Harder- wijk, Leyden, Schloß Endegeest und an fünf anderen Orten zwanzig Jahre stillen Schaffens verlebt, durch drei Reisen nach Frankreich (1644, 47,48) unterbrochen, die letzten Jahre getrübt durch verdrießliche Streitigkeiten mit dem Theologen Gisbert Voetius in Utrecht, dem von ihm abgefallenen Schüler Regius und Leydener Professoren. Die Korrespondenz mit den französischen Freunden vermittelt Pater Mersenne. Dringenden Einladungen der Königin Christine von Schweden Gehör gebend, siedelt er 1649 nach Stockholm über. Nach wenigen Monaten ereilt ihn dort der Tod; seine zarte Konstitution war dem strengen Klima nicht ge- wachsen.

Die zwei Dezennien der niederländischen Einsamkeit sind die Zeit der Werke. Was ihn zur Ausarbeitung und Niederschrift seiner Gedanken bewog, war wesentlich der Wunsch, die allgemein verbreitete Ansicht, er sei im Besitze einer neuen, der gewöhnlichen an Gewißheit überlegenen Philosophie, nicht zu täuschen. Ein 1630 begonnenes und der Vollendung nahes Werk le monde blieb ungedruckt, da den Philosophen die Verur- teilung GaHleis (1632) von der Herausgabe zurückschreckte; nur Bruch- stücke und ein kurzer Abriß sind nach dem Tode des Autors erschienen. Die Hauptwerke: die Abhandlung über die Methode, die Meditationen über die erste Philosophie und die Prinzipien der Philosophie sind zwischen 1637 ^-i'^*-! ^'^44 herausgekommen, und zwar der Discours de la me'thode^ 1637 zusammen mit drei Abhandlungen (der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie) unter dem gemeinschaftlichen Titel Essays philosophiques. Den der Pariser Sorbonne gewidmeten (sechs) Medita- tiones de prima philosophia ^ 1 64 1 sind die Einwürfe verschiedener Ge- lehrten, denen das Werk abschriftlich mitgeteilt worden war, sowie die Erwiderungen des Descartes angehängt. Dieser selbst betrachtet die an vierter Stelle abgedruckten Einwendungen des Arnauld als die bedeu- tendsten; die dritten Objektionen rühren von Hobbes, die fünften von Gassendi her, die ersten sind die am frühesten eingelaufenen von dem Theologen M. Caterus aus Antwerpen, die zweiten und sechsten die von Mersenne gesammelten verschiedener Theologen und Mathematiker. In der zweiten Ausgabe 1642 kamen noch die siebenten Objektionen des Jesuiten Bourdin nebst den Responsionen des Verfassers hinzu. Eine systematische Darstellung der neuen Lehre bringen die der Pfalzgräfin Elisabeth dedizierten vier Bücher der Principia philosophiae 1644. Die

1 Den Discoiirs hat F. C. ScHWALBACH, Berlin 1879, "^i* Erklärungen heraus- gegeben, von den Meditationen SIGMUND Barach, Wien 1866, und neuerdings C. GÜTTLER, München 1901, eine für den akademischen Gebrauch bestimmte Aus- gabe veranstaltet. Die letzteren sind, deutsch von L. Fischer, bei Reclam erschienen: Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie.

78 Descartes.

Schrift über die Methode erschien 1644 in lateinischer, die Medita- tionen und die Prinzipien 1647 in französischer Übersetzung. Von den beiden ersten und dem ersten Teile der letzten hat Kuno Fischer eine deutsche Übertragung 1863 veranstaltet, die von Kirchmann 1870 enthält außer jenen drei Werken die letzte Arbeit des Descartes, Über die Leidenschaften der Seele {Traite des passions de l'äme 1650). Die Briefe wurden 1657 67 französisch, 1668 lateinisch herausgegeben. Den Tratte' de l'homme et de la formation du foetus hat Clerselier aus dem Nachlaß ediert 1664 (lateinische Ausgabe von L. de la Force 1677). In den Opera postuma 1701 finden sich außer dem 16 18 verfaßten Kom- pendium der Musik und anderem aus dem Nachlaß die vermutlicli 162g geschriebenen „Regeln für die Leitung des Geistes" und die „Er- forschung der Wahrheit durch das natürliche Licht". Die sämtlichen Werke sind mehrmals lateinisch und französisch gedruckt worden, die elfbändige Ausgabe von V. Cousin erschien 1824 26. Von der neuen, von Adam und Tannerv besorgten, auf 10 Bände berechneten vervoll- ständigten Gesamtausgabe 1897 f. liegen bis jetzt 4 Bände Briefe und I Band der Schriften vor.

Von den vielen Schriften über die Philosophie des Descartes seien die von C. SCHAARSCHMIDT (Descartes und Spinoza, 1850) und J. H. Löwe 1855 angeführt. Über die Sittenlehre des Descartes handelt M. Heinze 1872, über seine Lehre von den angeborenen Ideen Ed. Grimm 1873, über den Grundgedanken seiner Metaphj'sik G. Glogau (ZPhKr. Bd. 73, S. 2090".) 1878, über seine Erkenntnistheorie Paul Natorp 1882, über Idee und Perzeption bei Descartes Kas. Twardowski 1892, über seine Beziehungen zur Scholastik Georg v. Hertling (Sitzungsber. der bayer. Akad. 1897 u. 1899), über sein Verhältnis zu Augustin H.Leder, Untersuchungen über Augustins Erkenntnistheorie 1901 ; vergl. auch W. Kahl, Die Lehre vom Primat des Willens bei Augustin, Duns Scotus und Descartes 1886. Juli 1896 brachte die Revue de Metaphystque et de Morale zur Zentenarfeier eine ganz dem Descartes gewidmete Nummer (VI, 4), worin ein schöner Artikel von G. Lanson über den Eiafluß der cartesianischen Philos. auf die französische Literatur; die Abhandlungen von Xatorp und H. Schwarz sind auch deutsch erschienen, jene im AGPh. X i, diese in der ZPhKr. Bd. HO, i.

Über den Cartesianismus haben in französischer Sprache Fr. Bouillier (Ge- schichte der cartesianischen Philos. 1854, 3. Aufl. 1868), F. Saisset (Vorläufer und Schüler des Descartes 1862) und G. Monchamp (Geschichte des Cartesianismus in Belgien 1887) geschrieben.

Wir behandeln zuerst die erkenntnis-theoretischen und metaphysi- schen Grundsätze und lassen ihnen die Lehre von der Natur und vom Menschen folgen.

1. Die Prinzipien.

Was heutzutage für Wissenschaft gilt und als solche in den Schulen gelehrt wird, ist nichts Besseres als eine Summe zusammenhangsloser, unsicherer und oft einander widersprechender Meinungen. Es fehlt an

Die Prinzipien.

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einem Prinzip, das ihnen Einheit und Gewißheit verUehe, Soli in der Wissenschaft etwas Dauerndes und UnumstößUches zustande kommen, so muß einmal alles, was für wahr gehalten wird, umgestoßen und von neuem aufgebaut werden. Denn wir kommen als Kinder auf die Welt und bilden uns Urteile über die Dinge oder sprechen sie nach, ehe wir in den Vollbesitz unserer Verstandeskräfte gelangt sind; kein Wunder, daß wir mit einer Unzahl von Vorurteilen erfüllt sind, von denen wir uns gründlich nur befreien dadurch, daß wir alles als zweifelhaft betrachten, was den geringsten Verdacht der Ungewißheit darbietet. Lasset uns also alle unsere bisherigen Ansichten aufgeben, um nachher bessere an ihrer Statt anzunehmen oder vielleicht dieselben, nachdem sie sich vor der prüfenden Vernunft bewährt haben werden. Die anerkannte Vorsichtsmaßregel, dem nie völlig Vertrauen zu schenken, der uns ein- mal betrogen hat, gilt auch für unser Verhältnis zu den Sinnen: sie täuschen uns zuweilen, das steht fest, vielleicht täuschen sie uns immer. Ferner glauben wir täglich im Traume Dinge zu sehen, die es nirgends gibt, und es fehlt ein Kennzeichen, um sicher den Traum vom wachen Zustande zu unterscheiden; wer steht uns dafür, daß wir nicht beständig träumen? Folglich muß sich der Zweifel vor allem auf das Dasein der Sinnendinge richten. Ja sogar auf die Mathematik, so sicher ihre Grund- sätze und Beweise scheinen mögen, soll er sich ausdehnen; denn auch in ihr kommt Streit und Irrtum vor, und es ist nicht unmöglich, daß der Allmäclitige mich so erschaffen hat, daß ich mich immer irre, auch in dem, was ich auf das vollkommenste zu wissen meine.

Ich bezweifle also oder leugne, daß die Welt so ist, wie sie mir erscheint, daß es einen Gott gibt, daß Körper außer mir existieren, daß ich einen Leib habe, daß zweimal zwei gleich vier ist, Eins aber ist mir unmöglich in Frage zu stellen, nämlich daß ich selbst, der ich diese Zweifelstätigkeit ausübe, existiere. Einen einzigen Punkt gibt es, an welchem der Zweifel Halt machen muß: der Zweifelnde selbst, das eigene Sein des Denkenden. Ich kann alles bezweifeln, nur nicht, daß ich zweifle und, indem ich zweifle, bin. Gesetzt, ein höheres Wesen wollte mich täuschen in allem, was ich vorstelle, es könnte mich nicht täuschen, wenn ich nicht da wäre, könnte nicht bewirken, daß ich nicht bin, während ich denke. Getäuscht werden heißt Falsches vorstellen; daß vorgestellt wird, gleichviel was, ist keine Täuschung, Es könnte sein, daß überhaupt gar nichts existierte, dann dürfte aber auch keiner da sein, der dieses Nichtsein dächte. Sei alles Irrtum, das Irren, das Vor- stellen ist keiner. Alles ist geleugnet, der Leugner ist geblieben. Aller Inhalt des Bewußtseins ist zerstört, das Bewußtsein, die zweifelnde Tätig- keit, das Sein des Denkenden ist unzerstörbar. Cogitatio sola a nie divelli nequit. Damit ist der als Ausgang des Wissens gesuchte eine feste Punkt gefunden, es ist die Selbstgewißheit des denkenden Ich,

3o Descartes.

Daraus, daß ich zweifle, d. h. denke, folgt, daß ich, der Zweifehide, Denkende bin. Cogito ergo sunt ist die erste und gewisseste aller Er- kenntnisse.

Das „Ich denke, also bin ich" ist nicht als Folgerung aus dem Ober- satze „alles, was denkt, existiert" zu betrachten, vielmehr folgt dieser allgemeine Satz erst aus jenem besonderen als dem ursprünglichen. Erst muß ich an mir erfahren, daß ich als Denkender bin, ehe ich behaupten kann, daß überhaupt die Existenz vom Denken nicht getrennt werden kann. Jene Fundamentalwahrheit ist kein Syllogismus, sondern eine nicht weiter ableitbare, durch sich selbst verständliche unmittelbare Erkenntnis, eine einfache Intuition: siiin cogitans. Wenn nun meine Existenz aus meiner Denktätigkeit einleuchtet, mein Denken mein Sein ist und um- gekehrt, wenn in mir Sein und Denken identisch sind, so bin ich ein Ding, dessen Wesen im Denken besteht, ein Geist, ein Ich, eine ver- nünftige Seele. Nur aus meinem Denken, nicht aus jeder beliebigen Handlung folgt mein Dasein. Ambido ergo sum wäre nicht triftig, wohl aber mihi videor oder puto nie ambulare, ergo sum. Wenn ich zu schreiten glaube, so kann ich mich allerdings (wie das im Traum geschieht) über das Schreiten täuschen, nicht jedoch darüber, daß ich mir vorstelle es zu tun. Cogitatio begreift jede bewußte Tätigkeit des Geistes unter sich, nicht nur das Vorstellen und Erkennen, auch das Wollen, Fühlen und Empfinden, dies alles sind 7nodi cogitandi. So ist denn das Dasein das Geistes das Gewisseste er ist uns bekannter als der Körper , das vorläufig einzig Gewisse, und jegliche andere Gewißheit hängt von dieser obersten ab.

Was zeichnet nun diese erste und sicherste Erkenntnis so aus, daß sie uns unmittelbar einleuchtet, ohne eines Beweises zu bedürfen, daß wir schlechthin nicht imstande sind, sie zu bezweifeln? Sie ist eine voll- ständig klare und deutliche Vorstellung. So darf ich annehmen, daß alles, was ich ebenso klar und deutlich erkenne, wie daß ich der Denkende bin, gleichfalls wahr ist, und gewinne damit eine allgemeine Regel: omne est verum, quod clare et distincte percipio. Dreierlei also haben wir bisher gewonnen. Als Inschrift über dem Eingangstor zum ge- sicherten Wissen die Aufforderung: de otJitiibus dubitandum, eine grund- legende Wahrheit: cogitans sum, ein Kennzeichen der Wahrheit: die clara et distiiicta perceptio.

Der Zweifel des Descartes ist nicht der Ausdruck einer resignierten Stimmung, die auf Unerreichbares verzichtet, nicht Lehre, sondern Gebot, nicht Ergebnis der Philosophie, sondern deren Ausgangspunkt, ein metho- disches Instrument in der Hand eines sehr starken und zuversichtlichen Wahrheitsbedürfhisses, das sich des Zweifels bedient, um das Unbe- zweifelbare zu finden. Derselbe richtet sich nicht gegen die Erreichbar- keit des Wissens, sondern gegen die Meinung, daß es bisher erreicht

Ich denke, also bin ich. Die Gewissiif.itsregel. gj

worden sei, gegen die Leichtgläubigkeit, gegen den historischen und polyhistorischen Wissensbetrieb der Zeit, welche Sammlung und Über- lieferung von Kenntnissen für Erkenntnis der Wahrheit hielt. Ein sicheres Wissen ist nur das selbsterworbene, auf eigener Prüfung beruhende, das nicht erlernt und überliefert, sondern nur eingesehen, erlebt, nacherfunden werden kann. Statt seine unbegründeten Vermutungen oder die Gedanken anderer /Air Richtschnur zu nehmen: sich auf die eigenen Füße stellen, mündig werden, selbstdenkeu das ist das Geheimnis der Wahrheits- forschung, und gegen die Gefahren der Selbsttäuschung und die Bequem- lichkeit des Nachsprechens hilft allein das Radikalmittel, alles als ungewiß anzusehen, was man bisher für wahr gehalten. Dies ist der Sinn des cartesianischen Zweifels, welcher umfassender und gründlicher ist als der baconischc. Nur die Sicherheit des bisherigen Wissens, nicht die Möglich- keit des Wissens hat Descartes bestritten, \on dieser ist niemand fester überzeugt als er. Er ist Rationalist, nicht Skeptiker. Sobald nur der Intellekt, von Hemmnissen frei, sii'h selbst treu l)leibt, alles tut, was in seinen Kräften steht, nichts als wahr gelten läßt, was er nicht klar und deutlich erkennt, ist er vor Irrtum gesichert. Descartes fordert für den menschlichen Verstand dasselbe, was später Rousseau für das mensch- liche Herz: Rückkehr zur unverdorbenen Natiu'. Dieser Glaube an das Unverkünstelte, Ursprüngliche, Natürliche, diese radikale und naturalis- tische Tendenz ist ein echt französischer Zug. Reinigung des Geistes, Befreiung von dem Wust der Schulgelehrsamkeit, von dem Drucke der Autorität, von der Trägheit, andere für sich denken zu lassen, das ist alles. Den leuchtendsten Beweis für die Wahrheitsfähigkeit des mensch- lichen Geistes sieht Descartes in der Mathematik, deren Zuverlässigkeit er nie ernstlich, nur hypothetisch in Frage gestellt hat, um die noch höhere Gewißheit des „Ich denke, also bin ich" klar zu machen. Die- selbe Festigkeit, wodurch schon dem Knaben dieser Wissenszweig im- ponierte, wünscht er auch der Philosophie zu verleihen und empfiehlt ihr deshalb nicht nur im allgemeinen die mathematische E\'idenz als Vorbild, sondern speziell die mathematisclie Methode zur Nach- ahmung. Wie die Mathematik soll auch die Metaphysik aus unmittel- bar einleuchtenden Prinzipien deduktiv ihre Sätze ableiten. Hiermit hat die geometrische Methode ihre nicht immer heilsame Herrschaft in der Philosophie angetreten.

Mit dem Kriterium der Wahrheit tritt Descartes an die Vorstellungen heran, wobei er von den Wollungen und Urteilen die Ideen im engeren Sinne (die Bilder, imagines) absondert und diese ihrem Ursprung nach \w die drei Klassen der ideae innatae, adventitiae, a me ipso factae einteilt, von denen die der „herzukommenden" die zahlreichste, die der „ein- geborenen" die wichtigste ist. Keine Vorstellung ist vornehmer und klarer als die Idee Gottes oder des vollkommensten Wesens. Woher haben

Falckenherg, Neuere Philos. V. Aufl. 6

82 Descartes.

wir sie? Daß jede Vorstellung eine Ursache haben muß, folgt aus dem „klaren und deutlichen" Grundsatze: aus nichts kann nichts werden. Aus dem a nihilo nil fit ergibt sich aber -auch, daß die Ursache nicht weniger Realität oder Vollkommenheit realitas und perfectio decken sich enthalten darf als die Wirkung, denn das Plus wäre ja aus nichts geworden. So viel („objektive," vorgestellte) ReaUtät eine Vor- stellung enthält, so viel oder mehr („formale," wirkliche) Realität muß ihre Ursache enthalten. Die Idee Gottes als unendlicher, unabhängiger, allmächtiger, allweiser und schöpferischer Substanz ist mir nicht auf dem Wege der Sinne gekommen, ich habe sie auch nicht selbst gebildet. Das Vermögen, ein vollkommeneres Wesen, als ich bin, Aorzustellen, kann ich nur haben von jemand, der wirklich vollkommener ist als ich. Da ich erkenne, daß das Unendliche mehr Realität enthält als das End- liche, kann die Idee des Unendlichen nicht durch Abstraktion und Negation aus der des Endlichen entstanden sein, sie ist früher als diese; allein durch Vergleichung mit der absoluten Vollkommenheit Gottes werde ich mir meiner Mängel und meiner EndHchkeit bewußt. Jene Vorstellung kann mir nur von Gott selbst eingepflanzt sein. Die Idee Gottes ist mein ursprünglicher Besitz, ist ebenso angeboren wie die meiner selbst. So wenig erschöpfend sie ist, reicht sie doch hin, Gottes Existenz einzusehen, wenn auch nicht, sein Wesen vollkommen zu be- greifen, so wie man einen Berg berührt, ohne ihn zu umfassen.

Descartes führt die Idee Gottes ein, teils vun durch den Beweis der Existenz des vollkommensten, darum absolut wahrhaftigen Wesens seinem kühnsten und vernichtendsten Zweifelsgrunde zu begegnen, teils um dem Solipsismus zu entgehen. Solange nur das Selbstbewußtsein des Ich feststand, war kein zwingender Grund für die Annahme voi-handen, daß es außer dem Ich irgend etwas gebe, daß die scheinbar von außen kommenden Ideen wirklich von äußeren Dingen bewirkt werden und nicht aus dem Geiste selbst herstammen. Denn der natürliche Instinkt, der sie auf Gegenstände außer uns bezieht, konnte ja täuschen. Nur durch die Idee Gottes unter Zuhilfenahme des Satzes, daß die Ursache mindestens ebensoviel Realität enthalten muß, als die Wirkung, werde ich über mich selbst liinausgeführt und versichert, daß ich nicht das einzige Wesen in der Welt bin. Da die Gottesidee mehr vorgestellte Realität enthält, als ich wirkliche, kann ich nicht ihre Ursache sein.

Zu diesem empirischen Beweise, der das Dasein Gottes aus der Vorstellung Gottes (der Erfahrungstatsache, daß wir eine Idee von ihm haben) herleitet, fügt Descartes den modifizierten ontologischen des Anselm (seit 1093 Erzbischof ^•on Canterbury), der es aus seinem Begriffe deduziert. Während die Ideen aller übrigen Dinge nur die Möglichkeit des Daseins in sich schließen, ist von dem Begriff des vollkommensten Wesens das notwendige Dasein untrennbar. Gott

Die Idee Gottes.

83

kann nicht ohne Existenz gedacht werden, er hat den Grund seiner Existenz in sich selbst, er ist a se oder causa sui. Endlich noch ein drittes Argument. Die Vorstellung von Vollkommenheiten, die ich nicht besitze, kann mir nur von einem vollkommeneren Wesen mitgeteilt wor- den sein, das mir alles, was ich bin und vermag, verliehen hat. Hätte ich mich selbst geschaffen, würde ich mir auch jene fehlenden Voll- kommenheiten verliehen haben. Gegen eine Mehrheit von Ursachen aber spricht die hervorragendste Vollkommenheit, die ich in der Idee Gottes denke, die der unteilbaren Einheit seiner Eigenschaften.

Von besonderer Wichtigkeit ist unter den Eigenschaften Gottes die Wahrhaftigkeit. Es ist unmöglich, daß er uns täuschen wolle, daß er die Ursache unserer Irrtümer sei. Gott wäre ein Betrüger, wenn er uns eine Vernunft verliehen hätte, der auch dann der Irrtimi als Wahrheit erschiene, wenn sie alle Vorsicht anwendet, ihn zu vermeiden, und nur dem zustimmt, was sie klar und deutlich erkennt. Der Irrtum ist des Menschen eigene Schuld, er verfällt ihm nur dadurch, daß er von der göttlichen Gabe der Erkenntnis, die ihren eigenen Maßstab in sich trägt, nicht den richtigen Gebrauch macht. So wird durch die veracitas dei das Kriterium der Gewißheit nachträglich bestätigt. Gegen den Vorwurf, daß hier ein Zirkel vorliege, sofern aus dem Kennzeichen der Wahrheit das Dasein Gottes und nachher aus diesem jenes bewiesen werde, hat Erdmann zur Verteidigimg des Descartes dies vorgebracht: Die Gewiß- heitsregel ist der Erkenntnisgrund für die Existenz Gottes, Gott ist der Realgrund für die Gewißheitsregel. Dem Dasein nach ist Gott das erste, er schafft die Vernunft nebst ihrem Kriterium; der Erkenntnis nach ist die Regel das erste, aus ihr folgt die Existenz Gottes. Descartes selbst will den Zirkel so beseitigen, daß er die intuitive Erkenntnis ^ durch sich selbst gewiß sein und nur für die demonstrative die Berufung auf Gottes Wahrhaftigkeit dann eintreten läßt, wenn der Nachdenkende die einzelnen Glieder der Beweiskette nicht mit voller intuitiver Gewiß- heit vor Augen hat, sondern sich nur erinnert, die Sache früher einmal klar und deutlich eingesehen zu haben.

Unsere Ideen stellen teils Dinge, teils Eigenschaften dar. Substanz wird definiert durch den Begriff der Selbständigkeit: res quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existefidum, eine folgenreiche Bestimmung, mit der der Substanzbegriff die Führerrolle in der Metaphysik übernimmt,

1 Hierzu bemerkt ein verehrter Kollege: Nicht nur die Selbsterkenntnis, auch die Gotteserkenntnis besitzt unmittelbare Gewißheit, mit dem Unterschied, daß bei ersterer Subjekt und Objekt sich gleichsam decken, während bei letzterer das Objekt allgewaltig das Subjekt überflutet; die logischen Gottesbeweise sind durchaus sekundär gegenüber der von dem Kriterium der klaren und deutlichen Idee gar nicht abhängigen überschwänglichen Gewißheit Deits cogitattir, ergo est: Gottesidee = Gott selber in mir.

6*

84

Descartes.

um sie erst bei Kume und Kant mit dem der Kausalität zu teilen, ja au ihn abzutreten. Die Spinozistische Konsequenz, daß es nach jener Definition streng genommen nur eine Substanz gebe, Gott, der als Ur- sache seiner selbst schlechthin keines anderen Dinges zu seinem Bestehen bedarf, hat schon Descartes ausgesprochen {Princ. 1 51). Wenn wir von geschaffenen Substanzen reden, so gilt das Wort für sie nicht in gleicher Bedeutung (nicht univoce) wie für die unendliche, für die Kreaturen muß eine zweite Erklärung aufgestellt werden: sie sind Dinge, die bloß der göttlichen Mitwirkung, nicht aber eins des anderen zum Dasein bedürfen. Die Substanz wird erkannt durch ihre Beschaffenheiten, von denen eine sich dadurch auszeichnet, daß sie das Wesen oder die Natur des Dinges ausdrückt und durch sich selbst, ohne Zuhilfenahme der anderen, be- griffen wird, während die übrigen sie voraussetzen, nicht ohne sie gedacht werden können. Jene Grundeigenschaft heißt Attribut, diese sekun- dären Eigenschaften heißen Modi oder Akzidentien. Lage, Gestalt, Bewegung sind zufällige Eigenschaften des Körpers, sie setzen voraus, daß er ausgedehnt oder räumlich sei, sie sind modi extensionis, so wie Fühlen, Wollen, Begehren, Vorstellen, Urteilen nur in einem bewußten Wesen möglich, daher bloße Modifikationen des Denkens sind. Die Ausdehnung ist das wesentliche oder konstituierende Attribut des Körpers, das Denken dasjenige des Geistes. Der Körper ist nie ohne Ausdehnung, der Geist nie ohne Denken: mens setnpet cogitat^. Geleitet von dem durch sich selbst einleuchtenden Grundsatz, daß das Nichts keine Eigenschaften habe, schließen wir aus einem Attribute, das wir bemerken, auf eine Substanz als den Besitzer oder Träger desselben. Substanzen sind dann voneinander verschieden, wenn man die eine ohne die andere klar und deutlich erkennen kann. Nun können wir den Geist vollständig denken ohne ein körperliches Attribut und den Kör- per ohne ein geistiges Attribut, jener hat nichts von Ausdehnung, dieser nichts von Denken an sich, folglich sind die denkende und die aus- gedehnte Substanz gänzlich verschieden und haben nichts miteinander gemein. Körper und Ausdehnung sind nur begrifflich, Körper und Geist sind realiter verschieden. So erhalten wir drei klare und deutliche Ideen, drei ewige Wahrheiten: substantia i?ifinita sive deus, stibstantia ßnita cogitans sive mens, sjibstantia extensa sive corpus.

Durch die schroffe Entgegensetzung von Körper und Geist als gegenseitig unabhängigen Substanzen hat Descartes jenen Dualismus

1 Frank Thilly, Locke's relaüon to Descartes in der Philos. Review Nr. 54 (Bd. 9, 6; Nov. 1900, S. 597 f.), erklärt es (S. 605) mit Unrecht für eine unvermeid- liche Konsequenz aus den cartesianischen Grundsätzen (Das Wesen des Geistes ist das Denken, Denken ist Bewußtsein), daß jede angeborene Idee dem Geiste dauernd be- wußt sein müsse. Der Satz: Der Geist denkt immer, meint nur, er sei sich stets irgend einer Idee aber nicht: stets aller angeborenen Ideen bewußt.

Die beiden Substanzen: Körper und Geist.

85

begründet, als dessen typischer Vertreter er noch heute verehrt und bekämpft wird. Der Dualismus zwischen körperlicher und geistiger Welt gehört zu jenen Standpunkten, welche berechtigt sind, ohne die letzte abschließende Wahrheit zu sein^, er nimmt auf der Pyramide der meta- physischen Erkenntnis einen hohen, obgleich nicht den höchsten Platz ein. Man darf nicht auf ihm verharren, aber er behält seine bleibende Berechtigung gegenüber untergeordneten Standpunkten. Er ist im Recht gegen den Materialismus, der sich noch nicht zu der Einsicht in den wesentlichen Unterschied zwischen Geist und Körper, Denken und Aus- dehnung, Vorstellung und Bewegung erhoben hat; er verliert sein Recht, wenn es gehngt, mit voller Berücksichtigung und Aufrechterhaltung der Verschiedenheit beider Sphären die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken, sei es durch eine Identitätsphilosophie, wie die des Spinoza und Schelling, oder durch einen Idealismus, wie den des Leibniz oder Fichte. Jeden- falls bleibt das Negative ein unverlierbares Besitztum der Philosophie, daß bei der Heterogenität von Vorstellung und Bewegung das Innen- leben nicht auf körperliche Vorgänge reduzierbar ist. Die schlichte und klare Unterscheidung, durch die jeder Vermischung des geistigen und materiellen Daseins ein Ziel gesetzt wurde, war eine befreiende Tat, sie wirkte auf die schwüle Atmosphäre des zeitgenössischen Denkens mit der reinigenden und erleuchtenden Kraft eines Blitzstrahls. Wir werden an den cartesianischen Dualismus die Weiterentwickelung der Philosophie anknüpfen sehen.

Die hier besprochene Prinzipienlehre hat Descartes selbst nur als Grundlegung zu seinem Lebenswerk, als Eingangspforte zur Kosmologie betrachtet. Die Nachwelt urteilt anders; in dem, was ihm nur Vor- bereitung war, sieht sie seine Hauptleistinig. Der Ausgang vom Zweifel, die Selbstgewißheit des denkenden Ich, die rationalistische Gewißheits- regel, die Frage nach dem Ursprung der Vorstellungen, der Substanz- begriff, der wesentliche Unterschied der bewußten Tätigkeit vom körper- lichen Sein, dazu allerdings noch aus der Naturphilosophie der Grundsatz des durchgängigen Mechanismus in der materiellen Welt, das sind die Gedanken, die ihm die Unsterblichkeit sichern. Die Vorhalle hat den Erbauer berühmter gemacht und hat sich als dauerhafter bewährt, als der Tempel; von diesem stehen nur noch Trümmer, jene hat sich unversehrt durch die Jahrhvinderte erhalten.

2. Die Natur.

Was vergewissert uns des Daseins materieller, unsere Sinne affizieren- der Dinge? Daß die Sinnesempfindungen nicht von uns selbst kommen,

1 Ebenso E. König, Das Problem des Zusammenhangs von Leib und Seele unil seine Bearbeitung in der cartesianischen Schule. Gymn.-Progr. X. 746, Sondershausen 1895. S. 13.

86 Descartes.

geht daraus hervor, daß es nicht in unserer Macht steht, jetzt dies, jetzt das, bald so, bald anders zu empfinden. Daß Gott die Enapfindungen direkt selbst in uns bewirkte oder durch etwas, was mit einem in drei Dimensionen ausgedehnten und beweglichen äußeren Gegenstande gar keine Ähnlichkeit hätte, ist dadurch ausgeschlossen, daß er kein Betrüger ist. Vertrauend auf Gottes Wahrhaftigkeit dürfen wir zwar nicht alles, was uns die häufig trügenden Sinne, wohl aber, was die Vernunft über den Körper aussagt, für wahr halten. x\uf Anlaß der Sinne erkennen wir klar und deutlich eine von unserem Geiste und von Gott verschiedene, in Länge, Breite und Tiefe ausgedehnte Materie mit verschieden geformten und verschiedenartig bewegten Teilen, welche in uns mannigfache Em- pfindungen hervorrufen. Daß die Wahrnehmung die Dinge so darstelle, wie sie wirklich sind, ist ein abzulegendes Vorurteil der Sinne, sie gibt vielmehr nur Kunde von der Nützlichkeit oder Schädlichkeit der Objekte von ihrem Verliältnis zum Menschen als einer Zusammensetzung aus Seele und Leib. (Leib nennen wir denjenigen Körper, der besonders eng mit unserem Geiste verbunden ist und denselben zu gewissen Em- pfindungen, z. B. des Schmerzes, veranlaßt, die er als bloß denkender nicht haben würde.) Die sinnüchen Qualitäten der Farbe, des Tons, des Geruches können nicht die Natur der Materie ausmachen, denn ihr Wechsel oder Verlust ändert an derselben nichts; ich kann von ihnen abstrahieren, ohne daß der Körper verschwände. ' Eine Eigenschaft aber gibt es, mit deren Wegnahme der Körper selbst aufgehoben sein würde: die räumliche Größe {(juantitas). Somit erkenne ich mittels reinen Denkens, daß das Wesen des Körpers in der Ausdehnung, in dem, was den Gegenstand der Geometrie ausmacht, in der der Teilung, Gestaltung und Bewegung fähigen Größe besteht. Diese These {corpus = extensio sive spatium) wird nun gegen mehrere Zweifel verteidigt. Gegen den von der Verdichtung und Verdünnung der Körper herge- nommenen Einwurf erklärt Descartes, daß die scheinbare Vermehrung und Verminderung der Ausdehnung tatsächlich nur eine Änderung der Gestalt sei, daß das Dünnerwerden eines Körpers auf der Erweiterung der Zwischenräume zwischen seinen Teilen und dem Eindringen fi-emder Körper in dieselben beruhe, so wie ein Schwamm anschwillt, wenn sich seine Poren mit Wasser füllen und dadurch vergrößern. Daß die Poren und die in sie eintretenden Körper stets sinnlich wahrnehmbar sein müßten, ist ein grundloses Verlangen. Auf das zweite Bedenken, daß wir die bloße Ausdehnung doch Raum nennen und noch nicht Körper, antwortet er, das sei nur ein begrifflicher, kein realer Unterschied; Attribut

1 Sie sind bloß subjektive Zustände im Empfindenden und den sie verursachen- den Bewegungen ganz unähnlich, wenn auch insoweit eine Übereinstimmung statt- findet, als den Verschiedenheiten und Veränderungen der Empfindung solche im Objekt parallel gehen.

Die Natur.

87

und Substanz, mathematischer und physikalischer Körper unterscheiden sich nicht der Sache nach, nur in der Vorstellung. Raum nennen wir die xA.usdehnung im allgemeinen als ein Abstraktum, Körper als diese einzelne bestimmte beschränkte Ausdehnung. In Wirklich\ieit aber ist überall, wo Ausdehnung ist, auch Substanz das Nichts hat keine Ausdehnung und überall, wo Raum, auch Körper. Es gibt keinen unerfüllten Raum. Wenn wir ein Gefäß leer nennen, so meinen wir, daß die es füllenden Körper nicht wahrnehmbar seien; wäre es absolut leer, so würden seine Wände sich berühren. Wie gegen den leeren Raum, so polemisiert Descartes gegen die Atome und gegen die Be- grenztheit der Welt: so wenig wie der Raum hat die Materie kleinste, nicht weiter teilbare Teile und die Ausdehnung der Welt ein Ende. Bei der Gleichsetzung von Raum und Materie empfängt jener von dieser die Erfülltheit, diese von jenem die Unbegrenztheit nach innen (die endlose Teilbarkeit) wie nach außen (die Schrankenlosigkeit) und die Gleichartigkeit in allen ihren Teilen (der Stoff des Himmels ist kein anderer als der der Erde, Princ. II 22). Daher gibt es nicht verschiedene, sondern nur eine, homogene Materie und nur eine (unendliche) Welt.

Materie ist teilbare, gestaltbare, bewegliche Größe. Die Naturwissen- schaft braucht und darf keine anderen Prinzipien anwenden, als diese unbezweifelbar wahren Begriffe, aus denen alle Naturerscheinungen er- klärt werden können. Das wichtigste ist die Bewegung, von der alle Mannigfaltigkeit der Gestalten abhängt. Das körperliche Sein war Aus- dehnung, das körperliche Geschehen ist Bewegung. Definiert wird sie als „die Überführung eines Körpers aus der Nachbarschaft der ihn un- mittelbar berührenden und als ruhend betrachteten Körper in diejenige anderer". Die Entfernung der Körper ist gegenseitig, daher ist es will- kürlich, den einen als ruhend anzusehen. Außer der ihm eigentüm- lichen Bewegung hinsichtlich seiner nächsten Nachbarschaft kann ein Körper an sehr vielen anderen Bewegungen teilnehmen, der auf Deck hin- und herschreitende Seefahrer an der des Schiffes, der Wellen, der Erde. Die gewöhnliche Auffassung irrt, wenn sie in der Beweginig eine Tätigkeit erblickt; da es Anstrengung kostet, nicht bloß ruhende Körper in Bewegung zu setzen, sondern auch bewegte zur Ruhe zu bringen, so ist klar, daß zur Bewegung nicht mehr Tätigkeit gehört als zur Ruhe. Beide sind nur verschiedene Zustände des Körpers. Da es keinen leeren Raum gibt, so ergreift jede Bewegung einen ganzen Kreis von Körpern: A verdrängt B aus seinem Orte, dieser vertreibt C aus dem seinigen, bis schließlich Z in den Ort eintritt, den A verlassen hat.

Die letzte Ursache der Bewegung ist Gott. Er hat die Körper mit einem ursprünglichen Maße \on Ruhe und Bewegimg geschaffen und er- hält, seiner Un\eränderlichkeit gemäß, beständig die gleiche Quantität von Bewegunc;: sie bleibt im Welt2:anzen dieselbe, wenngleich sie sich

gg Descartes.

in den einzelnen Körpern verändert. Fehlt doch den Körpern mit der Kraft, Bewegung zu erzeugen und zu vernichten, auch die, ihr Quantum zu verändern. Neben Gott als der primären erscheinen die Bewegungs- ge setze als die sekundären Ursachen der Bewegung. Das erste ist das unter dem Namen Trägheitsgesetz geläufig gewordene: Jedes Ding be- harrt, soviel an ihm ist, stets in dem (sei es ruhenden oder bewegten) Zustande, in welchem es sich befindet, und ändert denselben nur infolge einer äußeren Ursache. Das zweite dieser für die Mechanik sehr wert- vollen Gesetze lautet: jeder Stoffteil ist bestrebt, eine begonnene Be- wegung in gleicher Richtung, also in gerader Linie fortzusetzen, und weicht von ihr nur ab, wenn ein anderer Körper ihn dazu nötigt, wie das bei dem vorhin geschilderten Kreise der Fall ist. Den Grund für diese Gesetze sieht Descartes in der Unwandelbarkeit Gottes und der Einfachheit seiner welterhaltenden (d. h. die Welt fortdauernd schaffen- den) Tätigkeit. Das dritte Gesetz betrifft die Mitteilung der Bewegung, wobei die Gleichheit von AVirkung und Gegenwirkung nicht in derjenigen Allgemeinheit anerkannt wird, die ihr zukommt. Begegnet ein bewegter Körper einem anderen und ist seine Kraft (sich in gerader Richtung fortzubewegen) geringer als der Widerstand des anderen, auf den er trifft, so behält er seine Bewegung, aber in veränderter Richtung, er prallt nach der entgegengesetzten Seite zurück. Ist dagegen seine Kraft größer, so führt er den anderen mit sicli fort und \erliert so viel von der eigenen Bewegung, als er jenem mitteilt. Die angereihten sieben weiteren Regeln enthalten manches Fehlerhafte. Unter Leugnimg der Fernewirkung werden alle Bewegungserscheinungen auf Druck und Stoß zurückgeführt. Der Unterschied der festen und flüssigen Körper beruht auf der geringeren oder größeren Beweglichkeit ihrer Teile.

In dem nvu' kurz zu skizzierenden speziellen Teile der Ph)sik, welcher zunächst die Himmelserscheinungen, sodann die irdischen be- handelt, leitet unseren Philosophen der Grundsatz, daß wir Aon Gottes Macht und Güte nicht zu hoch, von uns selbst nicht zu gering denken können. Es ist Anmaßung, die Zwecke durchschauen zu wollen, welche Gott bei der Weltschöpfung im Auge hatte, uns für Teilhaber seiner Pläne zu halten und uns einzubilden, die Dinge seien bloß um unseret- willen da: es gibt vieles, was kein Mensch erblickt und was niemandem nützt. Niclits darf aus Zwecken, alles muß aus den klar erkannten Attributen, mithin rein meclianisch erklärt werden. Nachdem er von den Entfernungen der Gestirne gehandelt, \on dem eigenen Licht der Fixsterne und der Sonne, dem entlehnten der Planeten, zu deren Zalil die Erde gehört, erörtert er die Bewegung der Himmelskörper. Bezüg- lich der Erdbewegung sucht Descartes einen Mittelweg zwischen der koppernikanischen und der tychonischen Theorie. In der Hauptsache mit Koppernikus einverstanden, behauptet er doch, gestützt auf seine

Die Natur. Der Mensch. o^ 09

Definition der Bewegung, die Erde ruhe nämlich im Hinblick auf

ilire unmittelbare Umgebung. Sicher war ihm die (freilich nur dem

Wortlaut nach vorhandene) Übereinstimmung mit der Kirchenlehre nicht

unwillkommen. Nach seiner wie er hervorhebt, vielleicht irrigen

Hypothese kreist die den Himmclsraum erfüllende flüssige Materiereinem

Wirbel oder Wasserstrudel x-ergleichbar, um die Sonne und führt die

Planeten mit sich fort. Im Verhältnis zur Sonne also bewegen sich die

Wandelsterne, im Verliältnis zu den ihnen benachbarten ^ Teilen der

Himmelsmaterie rulien sie. Angesichts der biblischen Lehre, nach welclier

die Welt mit allem, was darin ist auf einmal erschaffen wurde, bezeichnet

er die Voraussetzung seines \'ersuclKS, die Welt aus dem Chaos nach

den Bewegungsgesetzen entstehen zu lassen, entschuldigend als eine nur

zum Zwecke wissenscliaftlicher Anschaulichkeit aufgestellte Fiktion. Es

diene der Faßlichkeit, wenn man sich vorstelle, die W^eltdinge hätten

sich, wie die Pflanze aus dem Samen, allmählich aus Elementen gebildet.

Wir gehen zur Anthropologie über mit ihren drei Thematcn: Leib,

Seele und A'crbiiidunu- beider.

3. Der Mensch.

Wie alle organischen Körper ist der menschlirlie Leib eine Maschine. Zwischen künstlichen Automaten und natürlichen Körpern besteht nur ein Gradunterschied. Die v..n Menschenhänden fabrizierten Maschinen füliren ihre Verrichtungen mit tast- und sichtbaren Werkzeugen aus. die Naturkörper die ihrigen mit Organen, die meist zu klein sind, um wahr- genommen werden zu können. Wie der Uhrmacher eine Uhr aus Rädern so zusammensetzt, daß sie sich selbst zu bewegen vermag, so Gott die Statue des Menschenleibes aus Erde, nur daß er als ein viel geschickterer Künstler ein besser konstruiertes, zu weit wunderbareren Bewegungen fähiges Kunstwerk zustande bringt. Die Ursache des Todes ist die Zerstörung eines wichtigen Teiles der Maschine, welche ihr Weitergehen verhindert, der Leichnam eine zerbrochene Uhr, das Entweichen der Seele erst eine Folge des Todes. Die gewöhnliche Meinung, die Seele erzeuge im Körper das Leben, ist irrig. Vielmehr muß Leben vorhan- den sein, ehe sie die A^erbindung mit ihm eingeht, und muß aufgehört haben, ehe sie dieselbe löst.

Die einzigen Erklärungsprinzipien der Physiologie sind Bewegung und Wärme. Die von Gott in das Herz als das Zentralorgan des Lebens gelegte Hitze (Lebenswärme, ein lichtloses Feuer) hat die Funktion, die Blutzirkulation zu bewirken; bei deren Beschreibung werden die Ent- deckungen Harveys {de motu cordis et sanguinis in animalibus 1628) rühmend erwähnt Aus der Blutflüssigkeit scheiden sich die feinsten, feurigsten und beweglichsten Teile aus, welche, „Lebensgeister" {spiritns

90

Descartes.

animales sive corporales) genannt und als feinster Hauch oder reine Flamme beschrieben, in die Höhlen des Gehirns hinaufsteigen, zu der in dessen Mitte aufgehängten Zirbeldrüse {conarion, glans pinealis, glanduld) gelangen, in die Nerven wandern und durch Beeinflussung der mit diesen ver- bundenen Muskeln die Gliederbewegungen bewirken. Das bisherige betrifft nur den Körper und gilt daher ebenso für den tierischen. Gäbe es Automaten, die in der äußeren und inneren Einrichtung völlig Tieren glichen, so könnten wir sie schlechterdings nicht von wirklichen Tieren unterscheiden. Wären dieselben aber Menschcnleibern gleichgemacht, so würden wir an zwei Mängeln erkennen, daß sie keine echten Men- schen sind: wir würden an ihnen den Gedankenaustausch, die Sprache vermissen und ebenso die aus der Vernunft (nicht bloß aus der Körper- konstitution) entspringenden Bewegungen. Das einzige, was den Men- schen über das Tier erhebt, ist die vernünftige Seele, die wir keineswegs als ein Produkt der Materie, sondern nur als von Gott eigens hinzuer- schaflfen betrachten dürfen. Die Verbindung der Seele oder des Geistes {anima sive i7iens) mit dem Leibe ist zwar nicht eine so lockere, daß sie nur wie der Schiffer in seinem Schiffe sich in ihm aufhielte, aber andererseits bei der völligen Wesensfremdheit beider Substanzen auch nicht so intim, daß sie mehr als eine unio compositionis (Einheit der Zu- sammensetzung) wäre. Obwohl die Seele mit dem ganzen Körper verknüpft ist, entspinnt sich ein V(jrzugs\veise reger Verkehr zwischen beiden an einem Punkte, an der durcli ihre geschützte und zentrale Lage, vor allem als das einzige unpaarige Organ des Gehirns aus- gezeichneten Zirbeldrüse. Sie ist, nebst den bis zu ihr hin und von ihr aus sich bewegenden Lebensgeistern, der Vermittler zwischen Geist und Körper, sie als Vereinigungspunkt für die doppelten Eindrücke des rechten und linken Auges und Ohres, ohne welchen wir die Gegenstände statt einfach doppelt wahrnehmen würden, der Sitz der Seele. Hier übt und empfängt sie eine direkte Wirkung avif den Körper und von dem Körper, hier wohnt sie und bringt durch ihren Wunsch eine kleine eigentümliche Bewegung der Drüse, mittels dieser eine Änderung in dem Lauf der Lebensgeister (denn nicht Bewegung zu erzeugen, nur deren Richtung zu verändern vermag sie) und dadurch Gliederbewegungen hervor, so wie sie andererseits die kleinste Ändenmg im Laufe der Spiritus an der entsprechenden, je nach der sinnlichen Eigenschaft der wahrzunehmenden Körper verschiedenen Bewegung der Drüse bemerkt und durch Empfindungen beantwortet. Wenn Descartes den unmittel- baren Wirkungsaustausch zwischen Seele und Leib auf einen kleinen Körperteil beschränkt, so macht er eine Ausnahme mit der memoria, in der er eine mehr materielle als psychische Leistung sieht und die seiner Vermutung nach durch das ganze Gehirn verbreitet ist.

So weit der Begriff der cogitatio von Descartes gefaßt wird, er ist

Der Mensch.

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doch zu eng, um für eine anima vegetativa und eine amtna sensitiva Raum zu lassen. Wer die Seele dem Geiste gleichsetzt, ihr Wesen allein in bewußter Tätigkeit bestehen läßt, die Empfindung für eine Art und Weise des Denkens erklärt, der ist zu der Paradoxie genötigt, dem Tiere die Seele abzusprechen. Descartes ist nicht vor derselben zurück- geschreckt. Die Tiere sind bloße Maschinen, belebte, aber nicht beseelte Körper, es fehlt ihnen das bewußte Wahrnehmen und Begehren, wenn auch nicht der Schein desselben. Wenn eine Uhr sieben schlägt, so weiß sie nichts davon, sie bedauert nicht, daß es schon so spät ist, sie sehnt sich nicht darnach, bald acht schlagen zu dürfen, sie will nichts, fühlt nichts, stellt nichts vor. Dies ist das Schicksal des Tieres. Es sieht und hört nichts, es hungert und dürstet nicht, es freut und fürchtet sich nicht, wenn man hierunter nicht rein körperliche Vorgänge verstehen will; es hat von alledem nur die bewußtlose materielle Unterlage, es bewegt sich und in ihm bewegt sich's, das ist alles.

Die folgenreich gewordene Psychologie des Descartes, über deren Einzelheiten wir auf die tüchtige Monographie von Dr. Anton Koch l 881 verweisen, scheidet die cogitationes in zwei Arten: actiones und passiones. Tätigkeit soll alles sein, was aus der Seele selbst stammt und in ihrer Gewalt ist, leide ntlic her Zustand das, was sie von außen empfängt, woran sie nichts ändern kann, was sich ihr aufdrängt. In der weiteren Ausführung dieser Unterscheidung durchkreuzen sich die mannigfaltigsten Gesichtspunkte, so daß Unklarheiten und Widersprüche entstehen. Mit Descartes' schlichter, naiver, mehr weltmännischer als gelehrter Denk- und Redeweise vertrug sicli eine subtile Feststellung und strenge Fest- haltung sicherer Termini überhaupt nicht; mit dem Worte sive geht er sehr verschwenderisch, mit den Ausdrücken actio, passio, perceptio, affectio, volitio wenig behutsam um. Zunächst setzt er das Tätigsein gleich dem Wollen, denn der Wille entspringt ausschließlich aus der Seele, nur wollend ist sie ganz unabhängig, und demgegenüber das Leiden gleich dem Vorstellen und Erkennen, denn die Seele macht nicht ihre Ideen, sondern empfängt sie, namentlich die sinnlichen Vorstellungen gelangen ganz offenbar vom Körper zu ihr. Die Gleichungen „actio = praktisches, passio = theoretisches Verhalten" werden jedoch bald eingeschränkt und modifiziert. Die Naturtriebe und Affekte sind zwar Arten des WoUens, sind aber nicht freie Erzeugnisse des Geistes, sondern entstehen aus seiner Verbindung mit dem Körper. Ferner sind nicht alle Perzeptionen sinnlichen Ursprungs; wenn die Seele als Phantasie mit ihren Vorstellungen frei schaltet, insbesondere wenn sie in reienm Denken bei sich verweilt, ohne Beimischung der Einbildungskraft auf ihr vernünftiges Wesen hin- blickt, ist sie keineswegs bloß leidend. Sodann ist jeder Willensakt begleitet von dem Bewußtsein, daß ich will. Die volitio ist ein Handeln, die cogitatio volitionis ein Leiden, die Seele affiziert sich selbst, leidet durch ihre eigene

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Descartes.

Tätigkeit, ist im selben Momente tätig und leidend zugleich. Also nicht jedes Wollen, z. B. das sinnliche Begehren, ist Tätigkeit, nicht jedes Vor- stellen, z. B. das des reinen Verstandes, ist Leiden. Endlich fallen ge- wisse psychische Akte gleichsehr unter den Begriff des Vorstellens wie des WoUens, so der Schmerz, der mir sowohl etwas dunkel vorstellt, als auch von sich selbst hinwegstrebt. Nach diesen Korrekturen stellt sich, mit Weglassung einiger störenden Nebensächlichkeiten, die Sache so dar:

Cogitatio

Actio Passio

(mens sola; clarae et distinctae (mens unita cum corpore; confusae

ideae) ideae)

Tolitio: 6. voluntas. 3b. commotiones 3a. afiectus 2. appetitus naturales

iudicium

intellectuales

sensus interni

Perceptio :

5. iutellectus

4. imaginatio 4^». phantasia ' 4a.

memoria i. sensus externi.

Demnach sind sechs Stufen der Seelentätigkeit zu unterscheiden: I. die äußeren Sinne, 2. die Naturtriebe, 3. die Leidenschaften (welche mit den Naturtrieben zusammen die inneren Sinne ausmachen und von denen sich die vom Verstände gewirkten geistigen Erregungen absondern), 4. die sich in das passive Gedächtnis und die aktive Phantasie spaltende Einbildungskraft, 5. Verstand oderVernunft, ö. Wille. Diese verschiedenen Stufen oder Vermögen sind jedoch nicht gesonderte Seelenteile im Sinne der alten Psychologie, gegen welche Descartes vielmehr nachdrücklich die Einheit der Seele verficht. Es ist eine und dieselbe psychische Kraft, welche die höheren und niederen, die vernünftigen und sinnlichen, die praktischen und theoretischen Tätigkeiten ausübt.

Von den Seelenfunktionen, seien es bildliche Vorstellungen, Wahr- nehmungen oder Begehrungen, werden die einen auf den Körper (die Teile unseres Leibes, oft auch äußere Gegenstände) bezogen und vom Körper (von den Lebensgeistern und meist auch den Nerven) bewirkt, während die anderen zum Gegenstande und zur Ursache die Seele haben. In der Mitte zwischen beiden Arten stehen diejenigen Willens- akte, welche von der Seele verursacht, aber auf den Körper bezogen werden, z. B. wenn ich schreiten oder springen will, und, was wichtiger ist, die Leidenschaften, welche zwar auf die Seele selbst bezogen, aber durch gewisse Bewegungen der Lebensgeister hervorgerufen, erhalten und verstärkt werden. Da der Passionen nur ein Wesen fähig ist, das nicht bloß aus Geist, sondern auch aus Körper besteht, so haben wir in ihnen spezifisch menschliche Vorgänge. Die überaus zahlreichen

Die Seele. Die Leidenschaften. q.

Affekte lassen sich auf wenige einfaclie oder ursprüngliche zurückführen, deren bloße Spezialisierungen oder Kombinationen die übrigen sind. Descartes zählt sechs primitive Leidenschaften auf, deren Zahl später von Spinoza auf die Hälfte reduziert wird: admiratio, amor et odiutn, cupiditas (dc'sir), gaudiiim et tristitia. Die erste und die vierte haben kein Gegenteil, jene ist weder positiv noch negativ, diese ist beides zugleich. Mit Verwunderung, worunter Aclitung und Verachtung inbegriffen sind, wird das Interesse an einem Objekte bezeichnet, welches weder durch Nützlichkeit anzieht, noch durch Schädlichkeit abstößt und uns doch nicht gleichgültig läßt. Sie wird geweckt durch den gewaltigen oder über- raschenden Eindruck, den das Außerordentliche, Seltene, Unerwartete macht. Die Liebe will das Förderliche sich aneignen, der Haß das Lästige abwehren, das Feindliche vernichten. Die Begierde oder das Ver- langen richtet sich in Hoffnung und Furcht auf die Zukunft. Ist das Gehoffte oder Gefürchtete eingetreten, so stellt sich Freude oder Trauer ein; sie gehen auf gegenwärtige Güter und Übel, die Begierde auf bevor- stehende.

Auf der Brücke seiner Theorie der Leidenschaften gelangt Descartes \o\\ der Seelenlehre zur Sittenlehre. Keine Seele ist so schwach, daß sie nicht die Leidenschaften völlig zu beherrschen und so zu lenken vermöchte, daß aus ihnen allen die der Vernunft günstige Stimmung der Freude erwachse. Die Freiheit des Willens ist unbegrenzt. Ist ihm auch eine direkte Einwirkung auf die Leidenschaften versagt er kann sie nicht durch seinen bloßen Befehl vernichten und wenigstens die heftigeren nicht ohne weiteres zum Schweigen bringen , so besitzt er doch in doppelter Weise eine indirekte Gewalt über sie. Während der Affekt dauert, vermag er zwar nicht ihn selbst (nehmen wir an: die Furcht), aber wohl die Körperbewegungen, zu denen er reizt, (die Flucht) zu verhindern, in den Zwischenpausen der Ruhe aber Vorkehrungen zu treffen, welche einen iieuen Ansturm der Passion minder gefährlich machen. Statt gegen die eine Leidenschaft eine andere ins Feld zu führen, was nur eine scheinbare Freiheit, in Wahrheit eine fortgesetzte Knechtschaft bedeuten würde, soll die Seele mit eigenen Waffen kämpfen, mit festen, auf sicherer Erkenntnis des Guten und Bösen beruhenden Maximen {iudicid). Der Wille besiegt die Affekte durch Grundsätze, durch klare und deutliche Erkenntnis, welche die den Dingen durch die leidenschaft- liche Erregung verliehenen falschen Werte durchschaut und berichtigt. Was Descartes außer dieser negativen Forderung „Beherrschung der Affekte" sonst noch in den Briefen an die Prinzessin Elisabeth über das glückliche Leben und an die Königin Christine über die Liebe und das höchste Gut zur Ethik beigebracht hat, ist nicht erheblich. Weis- heit ist das Ausführen dessen, was man als das Beste erkannt hat, Tugend Standhaftigkeit hierin, Sünde Wankelmut. Ziel des mensch-

94

Descartes.

liehen Strebens ist die Gewissensrulie, welche nur erlangt wird durch den Willen, tugendhaft, d. h. mit sich selbst übereinstimmend zu leben.

Neben der moralischen Aufgabe fällt dem Willen noch die theore- tische des Bejahens und Verneinens oder des Urteilens zu. Wie ist, da uns Gott in seiner Wahrhaftigkeit und Güte das Vermögen der Wahrheitserkenntnis verliehen hat, ein Mißbrauch desselben, wie ist der Irrtum möglich? Nicht die einzelne Vorstellung oder Empfindung, nur das Urteil, die Beziehung der Idee auf einen Gegenstand, kann falsch sein. Das Urteilen oder Zustimmen ist Sache des Willens; wenn er unrichtig bejaht und verneint, wenn er das falsche Urteil dem wahren vorzieht, trägt er selbst die Schuld. Unser Verstand ist beschränkt, unser Wille unbeschränkt, reicht weiter als jener, kann auch einem Ur- teile zustimmen, ehe dessen Bestandteile den erforderlichen Klarheits- grad erlangt haben. Das falsche Urteil ist eine Voreiligkeit, für die wir weder Gott noch unsere Natur verantwortlich machen dürfen. Im Willen liegt neben der Möglichkeit des Irrtums zugleich die, ihn zu vermeiden. Er hat die Macht, sein Ja und Nein aufzuschieben, das Urteil so lange zurückzuhalten, bis die Vorstellungen völlig klar und deutlich sind. Die höchste Vollkommenheit ist die überlas non errandi. Die Erkenntnis wird selbst eine sittliche Tätigkeit, das Wahre und das Gute sind letzthin identisch. Der Widerspruch, dessen man Descartes beschuldigt hat, daß er Wille und Erkenntnis sich wechselseitig determinieren lasse, die moralische Güte auf die Klarheit der Vorstellung und diese auf jene gründe, ist nicht vorhanden. Wir haben ein theoretisches und ein prak- tisches Stadium des Willens zu unterscheiden; von diesem gilt, daß er von der Erkenntnis des Rechten, von jenem, daß sie von ihm abhängt. Um sittlich handeln zu können, muß sich der Wille nach klaren Ur- teilen richten, um diese zu erzeugen, muß er sittlich sein. Es ist die einheitliche Seele, welche zuerst, mit Freiheit vorschnelles Urteilen mei- dend, die Wahrheit erkennt, um sie nachher im sittlichen Wandel zu betätis;en.

Drittes Kapitel.

&gänznng nnd Umbildung der cartesianischen Philosophie in den Niederlanden nnd in Frankreich.

Bei der Fortpflanzung und Verteidigung einer Lehre finden die An- hänger bald Anlaß zur Reinigung, Ergänzung und Umgestaltung der- selben. Man entdeckt Unklarheiten und Widersprüche, die der Meister übersehen und stehen gelassen hat, und bemüht sich, sie unter Bei- behaltung der Grundlehren zu beseitigen. Im Systeme des Descartes

Der Ukkasionalismus.

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waren es zwei eng zusammengehörige Punkte, welche zur Klarstellung und Verbesserung aufforderten: jener doppelte Dualismus i. zwischen der ausgedehnten und der denkenden Substanz, 2. zwischen der ge- schaffenen und der göttUchen Substanz. Im Vergleich zueinander sind Körper und Geist Substanzen oder unabhängige Wesen, denn der deut- liche Begriff des Körpers enthält nichts von Bewußtsein, Denken, Vor- stellung, der des Geistes nichts von Avisdehnung, Materie, Bewegung. Im Vergleich zu Gott sind sie es nicht, sie können ohne den Schöpfer weder sein noch gedacht werden. Überall wo (wie hier zwischen Sub- stanz im strengeren und im weiteren Sinne) zwischen einem Eigentlich und Uneigentlich unterschieden wird, verrät sich eine Unentschiedenheit, die auf die Dauer nicht ertragen wird.

Der von Descartes behaupteten Substantialität der körperlichen und der geistigen Welt entspricht vortrefflich seine durchaus neuzeitliche Ten- denz, den concursjis dei möglichst weit zurückzuschieben und auf die Herstellung des Anfangszustandes einzuschränken, die einmal erschaffene Bewegmig ihren eigenen Gesetzen, die dem Geiste eingepflanzten Ideen seiner selbständigen Tätigkeit zu überlassen; dagegen verträgt sich schlecht mit ihr die von Augustin her beliebte Wendung, daß die Erhaltung der Welt eine perpetuierliche Schöpfung sei. Dort wird Gott in ein äußer- liches, hier in ein innerliches Verhältnis zur Welt gesetzt. Im ersten Falle wird die Welt betrachtet wie ein Uhrwerk, das, nachdem es auf- gezogen ist, mechanisch abläuft, im zweiten wie ein Musikwerk, das der Komponist selbst vorträgt. Wenn Gott die Kreaturen erhält im Sinne der fortgesetzten Schöpfung, so sind sie keine Substanzen; sind sie Sub- stanzen, so ist die Erhaltung ein leeres Wort, das man den Theologen nachspricht, ohne sich etwas dabei zu denken.

Körper und Geist verhalten sich in unseren Gedanken ausschließend gegeneinander, tun sie es ebenso in der Wirklichkeit? Sie können ohne einander gedacht werden und ohne einander bestehen, können sie auch ohne einander alles das wirken, was wir sie wirken sehen? Es gibt unter den Bewegungen in der materiellen Welt solche, die wir auf einen Willensentschluß der Seele, unter den Vorstellungen solche (z. B. sinn- liche Wahrnehmungen), die wir auf körperiiche Vorgänge als ihre Ursache zurückführen. Wie können Leib und Seele, wenn sie Substanzen sind, in gewissen Tätigkeiten voneinander abhängen; wie können sie, wenn sie entgegengesetzter Natur sind, aufeinander wirken? Wie kann der Geist, der unkörperiiche, unbewegte, die Lebensgeister bewegen und von ihnen Impulse empfangen? Substantialität (gegenseitige Unabhängig- keit) von Körper und Geist und Wechselwirkung (gegenseitige partielle Abhängigkeit) derselben können nicht zusammep bestehen, die eine von beiden ist Täuschung und muß aufgegeben werden. Von den Materialisten (Hobbes) wird die Selbständigkeit des Geistes, von den Idealisten (Berkeley,

q5 Weiterbildung der cartesianischen Philosophie.

Leibniz) die des Körpers, von den Okkasion allsten wird die Wechsel- wirkung geopfert. Darin besteht der Fortschritt der letzteren über Descartes hinaus, welcher entweder naiv behauptet, trotz der Gegen- sätzlichkeit der körperliclien und geistigen Substanz bestehe zwischen ihnen ein Austausch von Wirkungen als empirische Tatsache, oder, wo er sich der Schwierigkeit des anthropologischen Problems wie ist die Vereinigung beider Substanzen im Menschen möglich bewußt wird, mit der Verbindung von Körper und Geist auch ihren wechsel- seitigen Einfluß auf Gottes Allmacht zurückführt und durch diese Ver- zichtleistung auf eine natürliche Erklärung desselben bereits den okkasionalistischen Ausweg eröffnet. In der näheren Beschreibung des körperlich-geistigen Wechselverkehrs hatte sich Descartes auch direkter Verstöße gegen seine naturpliilosophischen Gesetze schuldig gemacht. Wer die Summe der Bewegung für konstant erklärt und eine Änderung ihrer Richtung nur auf mechanische Ursachen eintreten läßt, darf nicht der Seele die Kraft beilegen, die Zirbeldrüse wenn auch noch so leise zu bewegen und die Richtung der Lebensgeister zu lenken. Auch diese Inkonsequenzen werden durch die okkasionalistische These entfernt.

In diese zweite Frage: „Wie ist der Schein der Wechselwirkung zwischen Körper und Geist ohne Schädigung ihrer Substantialität gegen- einander zu erklären?" spielt von Anfang an die erste nach ihrer Sub- stantialität gegen Gott mit hinein. Indem die gegenseitige Abhängigkeit von Körper und Geist geleugnet wird, wird die beiderseitige Abhängig- keit von Gott stärker betont. So bildet der Okkasionalismus den Über- gang zum Pantheismus des Spinoza, und zwar fällt bei Geulincx der Nachdruck auf die Nichtsubstantialität der Geister, bei Malebranche auf die der Körper, während Spinoza beides vereinigt und steigert. Doch ist die Geschichte nicht so höflich gewesen, dieses gefällige und bequeme Schema der Gedankenentwickelung chronologisch genau innezuhalten; denn sie ließ Spinoza den Pantheismus eher vollenden, als Malebranche ihn vorbereitet hatte. Es wiederholt sich hier das bei Bruno und Campanella bemerkte Verhältnis, daß der ältere Denker den fortgeschritteneren Standpunkt einnimmt, der jüngere neben ihm als der Zurückgebliebene erscheint, und, was aus sachlichem Gesichtspunkt als Übergangsglied gelten darf, historisch als Reaktion gegen die zuweitgehende Verfolgung eines Weges zu nehmen ist, welchen der die äußerste Konsequenz Scheuende eine Strecke weit selbst eingehalten hatte. Der Gang der Philosophie nimmt zunächst in den älteren Okkasionalisten die theo- logische, sodann in Spinoza die metaphysische (naturalistische) Richtung, um endlich in Malebranche die erstere gegen die letztere zu erneuern. Die Gesamtbewegung d^r cartesianischen Schule aber zeigt eine durch das rationalistische Bedürfnis nach klaren Begriffen melir oder minder verhüllte, doch nie ganz unterdrückte Neigung zur Mystik.

Der Okkasionalismus.

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Wenn der wirkliche Verkehr zwischen Körper und Geist geleugnet wird, muß wenigstens der scheinbare, d. h. die tatsächliche Korrespon- denz der beiderseitigen Vorgänge, erklärt werden. Okkasionalismus bedeutet Lehre von den gelegentlichen Ursachen. Nicht der Körper ist es, welcher die Wahrnehmung, nicht der Geist, welcher die von ihm gewollte Gliederbewegung verursacht, der eine kann Einflüsse weder von dem anderen erleiden noch auf ihn ausüben, sondern Gott ist es, der „auf Anlaß" der physischen Bewegung (der Luft und der Nerven) die Empfindung (des Schalles), „bei Gelegenheit" des Willensentschlusses die Bewegung des Armes hervorbringt. Diese Theorie, bereits von den Cartesianern Cordemoy und de la Forge^ mehr oder minder klar aus- gesprochen, verdankt dem geistvollen, in Antwerpen geborenen, in Löwen (1646 58) und Leyden lehrenden, zum Calvinismus übergetretenen Arnold Geulincx (1Ö24 69) ihre systematische Ausbildung und ihre bedeutende Wirkung; sie gewann schließlich die Mehrzahl der Anhänger für sich, deren die cartesianische Philosophie an den holländischen Uni- versitäten — Renery (7 163g) und Regius (van Roy, Fundame7ita physicac 1Ö46, Philosophia naturalis 1661) in Utrecht, ferner den tapferen Be- kämpfer des Engel- und Teufelglaubens, der Magie und der Hexen- prozesse Balth. Bekker in Amsterdam (1634 98, Die verzauberte Welt i^^Qo) , in den geistlichen Orden Frankreichs, endlich in Deutschland sehr viele zählte.

Von Geulincx (spricli Gölings) selbst sind außer zwei Leydener Antrittsreden (1662 als Lektor, 1665 als außerordentlicher Professor) folgende Schriften veröffentlicht worden: Quaestiones qiiodlibeticae (in der 1. Auflage 1665 Saturnalia betitelt) mit einer bedeutenden Einleitungs- rede, Logica f7mdamentis suis restituta 1662^ Methodus invenie7idi argu- menta (neue Auflage von Bontekoe 1675) und von der Ethik der erste Teil : De virtute et primis eins proprietatibus, qiiae vulgo virtutes cardinales

1 Gerauld de Cordemoy, Advokat iii Paris (f 1684; Disseriations philosoplil- ■giies 1666), hat schon 1658 seine okkasionalistische Ansicht mündlich Freunden mit- geteilt (vgl. L. Stein im AGPh. Bd. i, 1888, S. 56). Louis de la Forge, Arzt in Seaumur, Traue de l'esprit de fhomme 1666, lateinisch 1669 (vgl. Land ebenda Bd. 7, 1894, S. 362f.); über ihn die Dissertationen von Seyfarth, Gotha 1887 und E. WoLFF, Jena 1894. Dagegen ist der Logiker Joh. Clauberg, Professor in Herborn und Duisburg (1622 65, Opera besorgt von SCHALBRUCH 1691), nach Herm. Müllers Untersuchung (J. Clauberg und seine Stellung im Cartesianismus, Jena 1891) aus der Reihe der den Okkasionalismus vorbereitenden Denker zu streichen, da er in der Erörterung des anthropologischen Problems (^corporis et ani- mae coniunctiö] den cartesianischen Standpunkt nur weiter ausbildet, nicht über- schreitet. Er gebraucht zwar den Ausdruck occasio, aber nicht im Sinne der Okka- sionalisten, Nach Cl. wird der körperliche Vorgang (nicht etwa für Gott, sondern) für die Seele Anreiz oder ,, Veranlassung", aus sich selbst den entsprechenden geistigen zu erzeugen.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 7

98

Weiterbildung der cartesianischen Philosophie.

7'oca}ilur, tractattis ethicus priiiiz/s 1665. Vollständig in allen sechs Traktaten wurde das Hauptwerk als Fvöid^i osavxov sive Ethica 1675 \on BoNTEKOE unter dem Pseud(jnym Pliilaretus herausgegeben. Ebenfalls posthum erschienen nach Kollegheften seiner Schüler die Physik 1688, die Metaphysik i6gi und A?inotata inaiora in Cartesii Priiicipia philosopliiac 1691. Bei der Seltenheit dieser Drucke und der Bedeutung des Den- kers ist es freudig zu begrüßen, daß J. P. N. Land eine vortreffliche Gesamtausgabe der Werke ^ in drei Bänden, Haag 1891 93 veran- staltet hat. Über G. haben geschrieben V. van der Haeghen, G., Etüde sur sa vie, sa philosophie et ses oicvrages, Gent 1886, worin eine vollständige Bibliographie; Land, G. u. s, Philos. (deutsch), Haag 1895; Göpfert, G.'s ethisches System, Breslau 1883; Paulinus, Die Sitten- lehre G.'s, Lpzg. 1892; Leschbrand, Der Substanzbegrift" in der neueren Philos. V. Desc. bis Kant, Rostock 1895, S. 25 29.

Geulincx begründet die okkasionalistische Ansicht mit dem Satze : guod iiescis, quomodo fiat, id non facis. Nur dasjenige bewirke ich, wovon ich weiß, wie es geschieht. Da ich kein Bewußtsein davon habe, wie auf meinen Willen zu sprechen und zu schreiten die Bewegung meiner Zunge und meiner Beine erfolgt, so bin nicht ich es, der diese hervorruft. Da ich ebensowenig weiß, wie auf die Bewegung im Sinnes- organ die Empfindung in meiner Seele zustande kommt, da ferner der Körper als bewußt- und vernunftloses Wesen nichts bewirken kann, so bin weder ich noch ist der Körper Ursache der Empfindung. Beide, Leibesbewegung und Sinnesempfindung, sind vielmehr Wirkungen einer liöheren Macht, des unendlichen Geistes. Mein Willensakt wie der Sinnesreiz sind nur caiisae occasio?iales für den göttlichen Willen, dort die Ausführung der gewollten Gliederbewegung, hier das Eintreten der Wahrnehmung auf unbegreifliclie Weise zu bewirken; sie sind (un- geeignete) Instrumente, die nur in Gottes Hand etwas ausrichten; er macht es, daß mein Wille über meine Seele hinaus- und die körperliche Bewegung in meine Seele hineingreift. Der Sinn dieser Lehre wird nicht ganz richtig gefaßt, wenn man wozu die Leibnizische Darstel- lung des Okkasionalismus verleiten könnte ^ meint, daß hier die Kon- tinuität der Vorgänge in der materiellen wie in der psychischen Welt durch häufige einzelne äußere Eingriffe unterbrochen und alles Ge- schehen in eine Reihe zusammenhangsloser Wunder verwandelt werde.

1 Vergl. EuCKEN, Philos. Monatsh., Bd. 28, 1892, S. 200 ff.

2 Und wozu G. selbst durch die von ihm gebrauchten Gleichnisse verführt, ins- besondere durch das an sich sehr hübsche vom Säugling, der geschaukelt werden möchte: durch eigene Kraft vermag er die Wiege nicht in Bewegung z.u setzen, aber sein Schreien veranlaßt die Wärterin, die gewünschte Bewegung hervorzubringen. So kann der Mensch nur den Wunsch hegen, daß sein Wille Gehorsam finde; was seinen Leib dem Willen entsprechend bewegt, ist eine fremde, höhere Macht.

Geulincx. qq

Eine Naturordnung, die durch Gottes Wirken gestört würde, ist gar nicht vorhanden; Gott wirkt alles, auch der Übergang der Bewegung von einem Körper auf den andern ist sein Werk. Ferner heißt es bei Geulincx ausdrücklich, Gott habe der Bewegung solche Gesetze gegeben, daß sie mit dem freien Wollen der Seele, von dem sie doch gänzlich unabhängig sei, übereinstimme (ähnlich übrigens auch bei de la Foro-e). Hiermit scheint sich nun unser Denker was E. Pfleiderer' betont der prästabilierten Harmonie des Leibniz stark anzunähern. Gewiß bildet die okkasionalistische Theorie die direkte Vorstufe der Leibnizi- schen; aber ein wesentlicher Unterschied trennt beide. Der Fortschritt besteht nicht darin, daß Leibniz an die Stelle vieler isolierter und sich beständig wiederholender Wunder ein einziges bei der Schöpfung statt- findendes setzt, sondern (wie Leibniz selbst in Erwiderung auf den vom Pater Lami geäußerten Einwand, ein perpetuierliches Wunder sei kein Wunder, bemerkt) darin, daß er die unmittelbare göttliche Kausalität mit der natürlichen vertauscht. Bei Geulincx wirken Geist und Körper aufeinander, aber nicht aus eigener Kraft; bei Leibniz wirken die ]\hjnaden nicht aufeinander, aber sie wirken aus eigener Kraft 2. Wenn Geulincx in gleichem Zusammenhange zu den Äußerungen fort- schreitet, daß bei der Beschränktheit und Passivität der endlichen Dinge Gott das einzige wahrhaft wirksame, weil einzige unabhängige Wesen in der Welt, alle Tätigkeit seine Tätigkeit sei, daß, wie der einzelne Kör- per zum allgemeinen Räume, so sich der menschliche (begrenzte) Geist zu dem göttlichen (unendlichen) verhalte, nämlich als ein Ausschnitt aus demselben, so daß wir, alle Grenzen von unserem Geiste wegden- kend, Gott in uns und uns in ihm finden, so beweist das, wie nahe er bereits an den Pantheismus anstreift.

Seine Verdienste um die Erkenntnistheorie sind von Ed. Grimm (Jena 1875), wenn auch mit etwas übertriebener Annäherung an Kant, gebührend gewürdigt worden. Wir begegnen da manchen feinen und sinnigen Gedanken; so der bei Lotze wiederkehrenden Ausführung, daß die gedachte, wirklich existierende Welt der Gestalten und Bewegungen die wahre aber ärmere, die auf Veranlassung jener in unserem Geiste hervorgezauberte bewundernswerte Welt des bunten sinnlichen Scheines die schönere, eines göttlichen Urhebers würdigere sei; der gleichfalls von Lotze vertretenen Überzeugung, daß die geistigen Grundtätigkeiten nicht definiert, nur in innerer Erfahnmg oder unmittelbarem Bewußtsein

1 Edm. Pfleiderer, G. als Hauptvertreter der okkas. Metaphysik und Ethik, Tübingen 1882; Ders., Leibniz und G. mit bes. Beziehung auf ihr Uhreugleichnis, Tübingen 1884.

- Siehe Ed. Zeller, Die erste Ausgabe von G.s Ethik, Sitzungsber. der Berliner Akad. d. Wiss., 1884, S. 673 ff. EuCKEN, Philos. Monatsh. Bd. 19, 1883, S. 525 ff.; Bd. 23, 1887, S. 587 ff

7*

lOO Weiterbildung der cartesianischen Philosophie.

erlebt werden können (wer liebt, weiß was Liebe ist; sie ist eine per conscientiam et intimam experientiam notissima res); dem verdienstlichen A^ ersuche, die von Descartes einfach koordinierten angeborenen mathe- matischen Begriffe nach ihrem Ursprünge auseinander in eine systema- tische Ordnung zu bringen (den Begriflf der Fläche gewinnen wir aus dem des Körpers, indem wir die dritte Dimension, die Dicke, wegden- ken; die Tätigkeit solcher Abstraktion von gewissen Teilen des Vor- stellungsinhaltes bezeichnet Geulincx als coiisideratio im Gegensatz zur cogitatio, welche den gesamten Inhalt auffaßt); endlich der noch bedeut- sameren Untersuchung darüber, ob es uns möglich sei, wie wir im reinen Denken die Fesseln der Sinnlichkeit abstreifen, so eine auch noch von den Formen des Verstandes unabhängige Erkenntnis der Dinge zu erlangen. Diese Möglichkeit wird verneint; es gibt kein höheres Er- kenntnisvermögen, das in gleicher Weise über den Verstand richtete, wie dieser über die Sinnlichkeit; auch der Weiseste vermag sich nicht der Denkformen (Kategorien, modi cogitandi) zu entledigen. Doch war die Erörterung der Frage nicht nutzlos: auch das Unerkennbare soll die Vernunft prüfen, nur hierdurch erfahren wir, daß es unerkennbar ist. Als die obersten Formen des Denkens nennt Geulincx Subjekt (der leere Begriflf des Etwas, ens oder qitod est) und Prädikat {niodiis etifis) und leitet sie aus zwei Grundtätigkeiten des Geistes, einer zusammen- fassenden {simidsumtio , totatid) und einer abstrahierenden (die nota sub- jedi weglassenden) ab. Substanz und Akzidens, Substantiv und Adjektiv sind Ausdrücke subjektiver Denkhandlungen und gelten somit nicht für die Dinge an sich. Unter Hinweis auf die Wichtigkeit, ja Unvermeid- lichkeit der sprachlichen Zeichen für den Verstandesgebrauch wird die Wissenschaft von den Denkformen kurzweg als Grammatik bezeichnet. Die Überleitung von der okkasionalistischen Metaphysik zur Ethik, welche aus ihr die praktischen Konsequenzen zieht, bildet der Satz: ubi nihil vales, ibi nihil velis. Wo du nichts vermagst, da wolle auch nichts. Da wir in der Körperwelt, zu der wir uns als bloße Zuschauer ver- halten, nichts ausrichten können, so sollen wir auch nicht in ihr Motive und Gegenstände unseres Handelns suchen. Gott verlangt nicht Werke, sondern nur Gesinnungen, denn der Erfolg unseres Wollens steht außer unserer Macht. Die sittliche Aufgabe besteht darin, der Welt entsagend in uns selbst einzukehren und in geduldiger Treue auf dem uns an- gewiesenen Posten auszuharren. Tugend ist amor dei ac rationis, hin- gebende, tätige, gehorsame Liebe zu Gott und zur Vernunft als dem Bilde und Gesetze Gottes in uns. Die Kardinaltugenden sind diligentia: fleißiges Hinhören auf die Gebote der Vernunft, obedieniia: die Aus- führung derselben, iustitia: die Anpassung des ganzen Lebens an das' als recht Erkannte, endlich humilitas: die Erkenntnis unserer Schwäche und der Verzicht auf sich selbst {inspectio und despectio oder derelictio.

Spinoza. lOl

neglectiis, contemptus, incuria sui). Die höchste vmter ihnen ist die Demut, die fromme Ergebung in die göttliche Weltordnung; ihre Bedingung die im Titel der Ethik empfohlene Selbsterkenntnis; das Urböse die Selbst- liebe {Philautia Ipsissivmm peccatiiui). Die Menschen sind unglücklich, weil sie glücklich sein wollen. Das Glück ist wie der Schatten: es flieht dich, wenn du ihm nachgehst, es folgt dir, wenn du es fliehst. Die Freuden, welche aus der Tugend entspringen, sind ein Schmuck, nicht eine Lockung; sie sind das, worin das Rechthandeln ausläuft, nicht das, worauf es ausgeht. Die Sittenlehre des Geulincx, der hier nicht \veiter nachgegangen werden kann, überrascht durch ihre Annäherung an die Spinozas und Kants. Mit jener hat sie außer vielen Einzelheiten das Prinzip der Gottesliebe, mit dieser die Unbedingtheit des Pflichtgebotes {in rebus moralibus absolute praecipit ratio aut vetat, nidla interposita condifione), mit beiden die Geringschätzung des Mitleids als einer ver- steckt egoistischen Triebfeder gemein.

Die von den Okkasionalisten eingeleitete Entsubstantialisierung der Einzeldinge wird vollendet von Spinoza, welcher kühn und folgerichtig auf cartesianischer Grundlage den Pantheismus verkündet und der gött- lichen All-Einheit statt des theologischen den naturalistischen Charakter aufprägt.

Benedict US (ursprünglich Baruch) de Spinoza (sprich Spinosa) entstammt einer aus Portugal vor den dortigen Verfolgungen nach Hol- land geflüchteten Judenfamilie. In Amsterdam am 24. Nov. 1632 ge- boren, von dem Rabbiner Morteira und im Lateinischen von dem Arzte van den Enden, einem philologisch gebildeten Freigeiste, unterrichtet, wurde er wegen ketzerischer Ansichten 1656 durch den Bannfluch aus der jüdischen Gemeinde ausgestoßen. Während der nächsten vier Jahre fand er eine Zuflucht in dem Landhause eines Freundes nahe bei Amsterdam, hierauf wohnte er in Rhynsburg, seit 1664 in Voorburg und siedelte 1669 nach dem Haag über, wo er am 21. Februar 1677 starb. Er lebte eingezogen und bedürfnislos, seinen Unterhalt durch Schleifen optischer Gläser erwerbend, und lehnte die ihm 1673 vom pfälzer Kurfürsten Karl Ludwig angebotene Heidelberger Professur ab, aus Liebe zur Ruhe und wegen der Unbestimmbarkeit der Grenzen, in welchen sich die ihm zugesicherte Freiheit des Philosophierens zu halten haben werde. Spinoza hat selbst nur zwei Schriften veröffentlicht: die für einen Privatschüler abgefaßten Diktate über den ersten und zweiten Teil der Principia philosophiae des Descartes mit einem Anhang Cogitata metaphysica 1663 und anonym den für Denkfreiheit und das Recht einer vorurteilslosen Prüfunc; der biblischen Schriften eintretenden Tractatus

102 Spinoza.

theologico-politicus 1670. Die in dem letzteren Werke ausgesprochenen Grundsätze wurden von allen Parteien als frevelhaft und gottesleug- nerisch verworfen und erregten selbst das Bedenken der Freunde. Als Spinoza 1675 in der Absicht, sein Hauptwerk, die Ethik, in Druck zu geben, nach Amsterdam reiste, wandten sich Geistliche und Cartesianer an die Regierung mit dem Gesuch, die Herausgabe zu verbieten. Die- selbe erfolgte kurz nach seinem Tode in den von dem ihm befreundeten Arzte Ludwig Meyer bevorworteten, von Hermann Schuller besorgten ^ Opera posthioua 1Ö77, welche außer dem Hauptwerke drei unvollendete Schriften {Tractatiis politiciis, Tractatus de intellecttis eviendatioiie, Compen- diiim gravniiatices linguac Hehracae) und eine Sammlung von Briefen an und von Spinoza enthielten. Die Et hie a ordine geometrico demonstrata handelt in 5 Teilen i. V(in Gott, 2. vom Wesen und Ursprung des Geistes, 3. vom Wesen und Ursprung der Affekte, 4. von der mensch- lichen Knechtschaft oder der Macht der Leidenschaften, 5. von der Macht der Vernunft oder der menschlichen Freiheit. Von dem in der Ethik entwickelten System hatte Spinoza schon früh etwa 165g einen Entwurf aufgezeichnet, den Tractatus brcrns de deo et hoininc eiusqite felicitate, von welchem zwar nicht der lateinische Urtext, wohl aber eme holländische Übersetzung in zwei Abschriften aufgefunden wurde. Einen aus dem 18. Jahrhundert stammenden Auszug daraus hat Böhmer 1852 herausgegeben; dann ist sie vollständig von van Vloten 1862 und von ScHAARSCHMiDT 1869 publiziert vmd von letzterem (in der Kirchmann- schen Bibliothek i86g) sowie von Chr. v. Sigwart (1870, 2. Ausg. 1881) ins Deutsche übertragen worden. Erst in unserem Jahrhundert sind, nachdem Jacobis Briefe über die Lehre des Spinoza (1785) das lange schlummernde Interesse für den vielverkannten, seltener studierten als geschmähten Philosophen wachgerufen, Gesamtausgaben seiner Werke veranstaltet worden: durch Paulus 1802— 1803, Gfrörer 1830, Bruder 1843 184(1, Ginsberg (in der Philos. Bibl., 4 Bde.) 1875 1882 und am sorgfältigsten von van Vloten und Land, zwei Bände 1882 1883, 2. Aufl. 1895. Deutsche Übersetzungen der sämtlichen Werke haben B. Auerbach (5 Bde. 1841, zweite Aufl. in 2 Bdn. 1872), der Spinozas Leben zu einem sentimentalen Roman (1837, zweite Aufl. 1855) ver- arbeitete, und v. Kirchmann (1870— 1872, 2 Bde.) geliefert. Auch in Reclams Universalbibliothek sind die Hauptwerke aufgenommen worden.

Betiefls der Literatur über Spinoza verweisen wir auf ÜBERWEG und auf VAN DER Lindes „B. Spinoza, Bibliographie" 1871 und erwähnen von neueren Erschei- nungen nur: Georg Busolt, Grundzüge der Erkenntnistheorie und Metaphysik Sp.s (von der Univ. Königsberg gekrönte Preisschrift), Berlin 1875; Theod. Camerer, Die Lehre Sp.s, Stuttgart 1877 ' Ders., Spinoza und Schleiermacher, die kritische Lösung des

1 Siehe L. Stein im AGPh., Bd. i, 1888, S. 554 ff.

Spinoza.

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von Sp. hinterlassenen Problems, Stuttgart 1903; R. Salinger, Sp.s Lehre von der Selbsterhaltung, Berlin 1881; Ferd. TÖNNIES, Zur Entwickelungsgeschichte des Sp., VwPh. Bd. 7, 1883; L. Busse, Die Bedeutung der Begriffe esseniia und existentia bei Sp., ebenda Bd. 10, 1886; Ders., Beiträge zur Entwickelungsgeschichte Sp.s, fünf Artikel, ZPhKr., Bd. 90—92 und 96, 1887 89. ViCTOR Delbos, Le probleme moral dans la Philosophie de Sp. et dans l'histoire du spinozisme 1894, ein Kapitel daraus in der Revue de mctaph. I 2, März 1893; J. Elbogen, Der Tract. de intell. einend., Breslau 1898; S. Grzymisch, Sp.s Lehren von der Ewigkeit und Unsterblichkeit, Breslau 1898; Ad. Menzel, Wandlungen in der Staatslehre Sp.s, Stuttgart 189S: Ders., Sp. und die KoUegianten (AGPh. 15, 3, S. 277 f.) 1902; Raoul Richter, Der Willensbegriff in der Lehre Sp.s (WPhSt. Bd. 14), Habilitationsschrift Lpzg. 1898; Ders., Die Methode Sp.s (ZPhKr. Bd. 1131 1898; Jul. Lewkowitz, Sp.s Cogitata ntetaphysica und ihr Verhältnis zu Descartes und zur Scholastik, Breslauer Dissert. 1902 ; E. KÜHNEMANN, Über die Grundlagen der Lehre des Sp. (in der Haym-Gedenkschrift) 1902. Für die Biographie sind wichtig K. O. Meinsma, Sp, en zyn Kring, s'Graven- hage 1896 und J. Freudenthal, Die Lebensgeschichte Sp.s, in Quellenschriften, Urkunden und nichtamtlichen Nachrichten, Lpzg. 1899, darin die Biographien von Lucas und Colerus und vieles Ungedruckte. Über die Nachwirkungen der Philo- sophie Sp.s siehe Leo Back, Sp.s erste Einwirkungen auf Deutschland, Berlin 1895, den Schluß des § 14 bei Überweg und Max Grunwald, Sp. in Deutschland, gekr. Preisschrift, Berlin 1S97.

Was das Verhältnis Spini:)zas zu früheren Denkern betrifft, so kann nach Freudenthals ^ Darlegungen kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß er in hohem Grade von der herrschenden Schulphilosophie, d. h. von der jüngeren Scholastik (Suarez-), insbesondere der protestantischen Jacob Martini in Wittenberg (t 1649), Combachius, Burgersdijck und Heereboord (t 1659) in Leiden, Chr. Scheibler in Gießen (f 1653) abhängig war; freilich steht auch Descartes unter gleichem Einfluß, Von Joel •', SCHAARSCHMIDT, SiGWART *, AVENARius Und BÖHMER (Spinozana. in der ZPhKr. Band 36, 42 und 57, 1860 70) war die Ansicht geltend gemacht worden, daß die Quellen der Philosophie Spinozas nicht aus- schließlich in der des Descartes zu suchen seien, dieselbe vielmehr w'esentliche Bestandteile aus der Kabbala, aus der jüdischen Scholastik

1 Freudenthal, Sp. u. die Scholastik, in den Philos. Aufsätzen, Zeller zum 50jähr. Doktorjubiläum gewidmet, Leipzig 1887, S. 85 ff. Fr.s Nachweis erstreckt sich auf die Cogitata und auf viele Hauptsätze der Ethik.

2 Der spanische Jesuit Franz Suarez (sprich Swahres) lebte 1548 1617, Werke 1740 f. u. ö. Hauptwerke: Metaphysica 1597, De legibus 1612, De deo effec- tore creaturarum 1621 {^^■xxxw de anima). Über ihn Karl Werner : S. und die Scho- lastik der letzten Jahrhunderte, Regensburg 1861.

3 M. JOEL: Don Chasdai Crescas' religions-philosophische Lehren in ihrem ge- schichtlichen Einfluß 1866; Spinozas theol.-pol. Traktat auf seine Quellen geprüft 1870; Zur Genesis der Lehre Spinozas mit besonderer Berücksichtigung des kurzen Traktats 1871.

* Chk. v. Sigwart: Spinozas neu entdeckter Traktat erläutert usw. 1866; Spinozas kurzer Traktat übersetzt mit Einleitungen und Erläuterungen 1870.

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Spinoza.

(Maimonides 1190, Gersonides f 1344. Chasdai Crescas 1410), aus G. Bruno entlehnt habe. (Für eine Einwirkung von Seiten Brunos spricht in der Tat vieles.) K, Fischer hat, in der Hauptsache siegreich, die These verfochten, daß Spinoza seine pantheistische Grundanschauung kraft eigenen Nachdenkens als Konsequenz aus der cartesianischen Lehre gefunden hat und finden mußte. Die in Spinozas Schriften bemerkten Spuren seines talmudistischen Jugendunterrichts begründen keine Ab- hängigkeit seiner Hauptlehren von der jüdischen Theologie. Von dem Pantheismus der Kabbalisten unterscheidet sich der seinige durch die Verwerfung des Emanatismus, von dem des Bruno durch seinen anti- teleologischen Charakter. Wenn er mit griechischen Philosophen, jüdischen Theologen und dem Apostel Paulus die Immanenz Gottes {epist.21), mit Maimonides und Crescas die Liebe Gottes als Moralprinzip, mit dem letzteren den Determinismus lehrt, so braucht er diese Theorien nicht aus ihnen geschöpft zu haben. Was ihn von den mittelalterlichen Scholastikern seines Volkes trennt, ist vor allem seine rationalistische Überzeugung von der Erkennbarkeit Gottes. Am deutlichsten tritt die Übereinstimmung mit jenen Männern in der theologisch-politischen Ab- handlung ^ hervor. Aber auch hier besteht sie nur hinsichtlich des Unternehmens einer Kritik der heiligen Schriften im allgemeinen und der bildlichen Auffassung derselben, wogegen die Forderung einer speziell historischen Bibelkritik und die der ganzen Untersuchung zugrunde liegende Absicht den Juden des Mittelalters fremd, durchaus modern und unentlehnt ist. Diese Absicht geht darauf, die Wissenschaft un- abhängig zu machen von der Religion, deren Urkunden und Lehren das Gemüt erheben und den Charakter bessern, keineswegs den Ver- stand belehren sollen. „Die völlige Trennung der Religion von der Wissenschaft, die er predigt, brauchte Spinoza in dieser Form aus der hebräischen Literatur nicht zu lernen; dies war eine Tendenz, die dem Geiste seiner eigenen Zeit entsprang" (Windelband 1 2, S. 204).

Wir fassen das System Spinozas als ein fertiges Ganzes, wie es in der „Ethik" vorliegt. Denn an der Hand eines Vergleiches dieses Haupt- werkes mit seinem Vorläufer (dem „kurzen Traktat" über Gott, den Menschen und dessen Glückseligkeit, auf welchen der Traktat über die Vervollkommnung des Verstandes folgt) der Entwickelungsgeschichte unseres Denkers nachzugehen, ist mehr reizvoll für den Forscher, als nutzbringend für den Lernenden. Die wesentlichsten Differenzpunkte zwischen der früheren und der späteren Darstellung lassen sich kurz dahin angeben, daß der Traktat den Begriff Gottes, die Ethik den der

1 Vergl. über dieses Werk Theodor Maurer, Die Religionslehre Sp.s im theol.- pol. Traktat, Straßburger Diss. 1898, und Otto Biedermann, Die Methode der Aus- legung und Kritik der biblischen Schriften in Sp.s theol.-pol. Traktat im Zusammen- hang mit seiner Ethik, Erlanger Diss. 1903.

Der kürze Traktat. iqc

durch sich selbst existierenden Substanz an die Spitze stellt, sowie daß erst die letztere ein Aufeinanderwirken der Körper- und Geisterwelt leugnet. Über die Beschaffenheit und den Wert des kurzen Traktates hören wir Freudenthal, der in seinen Spinozastudien (ZPhKr. io8, 2 und log, i, i8gö, vergl. auch ebenda 114, 2, S. 300 f.) zu folgenden Ergebnissen gelangt. Trotz der zahlreichen und großen Mängel, die er in Form und Inhalt aufweist {Nachlässigkeiten in der Führung der Be- weise, seltsame Wiederholungen, lästige Weitschweifigkeiten u. v. a.), ist der k. Tr. durch äußere und innere Zeugnisse als echt verbürgt. Er ist kein unreifes Jugendwerk, sondern der (zwischen 1658 und 1660 abge- faßte) erste unfertige Entwurf einer nur für einen engen Freundes- kreis, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Schrift, dessen Teile, zu verschiedenen Zeiten entstanden, kein einheitliches Ganze bilden. Der wohl erkannten Unzulänglichkeit der Darstellung hat Spinoza durch mehrmalige Umarbeitung einzelner Partien, durch verdeutlichende, ver- tiefende oder berichtigende Anmerkungen und Nachträge abzuhelfen ge- sucht; endlich hat er die Schrift beiseite geworfen. Ein Redaktor, der für Spinozas Philosophie mehr Bewunderung als Verständnis besaß, hat vielfach dessen Zusätze (so auch die l^eiden Gespräche) an unrichtiger Stelle eingeschoben, Doppelfassungen derselben Gedanken aufgenommen und einander widersprechende Annahmen, die verschiedenen Entwickelungs- phasen Spinozas angehören, unbefangen nebeneinander gestellt und sie durch allerlei vermittelnde Redewendungen auszugleichen gesucht. Nach- dem die Handschrift durch den Verfasser und den Ordner ihre Gestalt erhalten, ist sie noch von weiteren Schicksalen betroffen worden: von Abschreibern und Lesern ebenso nachlässig wie willkürlich behandelt, wurde ihr Text durch Schreibfehler, Änderungen, Auslassungen, fremde Zutaten und Versetzung mehrerer Stücke an einen unpassenden Platz entstellt. So müssen z. B. Kap. 19 und 20 des zweiten Buches vor Kap. 16 geschoben werden; der zweite Teil von § 10 des zweiten An- hanges ist an den Schluß von § 4 zu rücken. Die dem ersten Teile des k. Tr. eingefügten Dialoge (eine Unterredung zwischen Liebe, Ver- stand, Geist und Begehrlichkeit, fortgesetzt durch ein Gespräch über die inbleibende Ursache, worin Theophilus die Lehre des Spinoza gegen die Einwendungen des Erasmus verteidigt) sind nicht, wofür sie meist ge- halten worden, die frühesten schriftstellerischen Versuche Spinozas. Sie sind später als der Traktat, dessen Inhalt sie als bekannt voraussetzen^; sie geben eine Erläuterung, Ergänzung und Berichtigung der dort ent- wickelten Gedanken. Avenarius' Hypothese- V(m einer durch die Ge-

1 Diese Ansicht vertritt hinsichtlich des ersten Dialogs auch Camerer, Sp. u. Schleierm. S. 72 84.

2 R. Avenarius: Über die beiden ersten Phasen des Spinoz. Pantheismus und das Verhältnis der zweiten zur dritten Phase, Leipzig 1868.

jo6 Spinoza.

spräche repräsentierten, von Bruno abhängigen „naturalistischen", einer im Traktat vorliegenden, von Descartes beeinflußten „theistischen" und einer selbständigen „substantialistischen" Entwickelungsphase der Allein- heitsiehre Spinozas ist somit unhaltbar. Spinoza hat seine psychologischen, erkenntnistheoretischen und ethischen Ansichten zuerst in engem An- schluß an Descartes entwickelt, ist allmählich zu immer größerer Selb- ständigkeit gelangt und nähert sich schließlich den Anschauungen der Ethik. Seine metaphysischen Lehren dagegen standen von Anfang an fest und sind bis an sein Lebensende unerschüttert geblieben.

Die logischen Voraussetzungen der Philosophie Spinozas liegen in den Grundgedanken Descartes', die sie sich verschärfend und umbildend aneignet. Es sind drei Gedankenpaare, die ihn fesseln und zum Fertig- denken reizen: der rationalistische Glaube an die Kraft des menschlichen Geistes, durch reines Denken sich der Wahrheit zu bemächtigen, nebst dem Vertrauen auf die Allmacht der mathematischen Methode; sodann der Substanzbegriff nebst dem Dualismus von Ausdehnung und Denken; endlich die mechanistische Grundansicht und die mit den Okkasionalisten aber unabhängig von ihnen empfundene Unmöglichkeit einer Wechsel- wirkung zwischen der materiellen und der geistigen Welt. Was sonst an neuen Elementen hinzukommt (z. B. daß die Gottheit hier aus einem bloßen Hilfsmittel das wichtigste, ja ausschließliche Objekt der Erkennt- nis wird, sowie die begeisterte, geradezu mystische Hingabe an den all- umfassenden Weltgrund), ist wesentlich gefühlsmäßiger Natur und mehr auf die Individualität des Denkers, als auf historische Einflüsse zurück- zuführen. Die Abweichungen vom Vorgänger aber, so vor allem die Ausdehnung des Mechanismus auch auf das geistige Geschehen und die davon untrennbare Leugnung der Willensfreiheit, ergeben sich einfach aus der konsequenteren Anwendung der cartesianischen Prinzipien. Spinoza ist nicht, wie Descartes und Leibniz, ein erfinderischer, impulsiver, sondern ein systematischer Kopf; seine Stärke nicht der geniale Einfall, sondern das zähe Durchdenken; nicht der Gedankenblitz, sondern der streng geschlossene Gedankenkreis. Er ist ein Weiterdenker, aber ein genialer, ein zu-Ende-Denker. Gleichwohl hat die Konsequenz Spinozas, in deren Lobe die Nachwelt unermüdlich gewesen ist, ihre Grenzen. Sie gilt für die unbeirrte Ausspinnung gewisser, von Descartes über- nommener Grundsätze, sie gilt nicht in gleicher Strenge für den Zusammen- hang der verschiedenen, isoliert verfolgten Gedankenreihen untereinander. Eben seine Art, ein Prinzip geradlinig und ohne Rücksichtnahme auf gemütliche oder auf anderweitige logische Bedürfnisse bis in seine letzten Folgerungen zu entwickeln, macht es unmöglich, daß nun auch die Er- gebnisse der verschiedenen Reihen harmonisch zusammenklingen: die vertikale Konsequenz verhindert die horizontale. Geraten die ursprüng- lichen Tendenzen (die bewußten theoretischen untereinander oder mit

Die geometrische Methode. 107

verschwiegenen ästhetischen und moralischen) in Konflikt, so siegt ent-' weder die eine über die andere oder beide beharren auf ihren Ansprüchen; im ersten Falle haben wir Inkonsequenzen, im zweiten Widersprüche, wie Volkelt in seiner Erstlingsschrift „Pantheismus und Individualismus im Systeme Spinozas" 1872 solche dargetan hat. Die Forderung der Wissenschaft geht auf einheitliche Zusammenfassung des Gegebenen, ihr Wunsch auf eine möglichst geringe Zahl von Prinzipien, aber die dürftigen < iefäße ihrer Begriffe sind zu eng für die reiche Fülle der Wirklichkeit. Wer von der Philosophie mehr als bloße Spezialuntersuchungen verlangt, sieht sich vor zwei Möglichkeiten gestellt: von einem oder wenigen An- fangspunkten aus, ohne rechts und links zu blicken, geradeaus fortzu- schreiten, auf die Gefahr hin, daß in der Gedankenrechnung ganze große Gebiete des Lebens außer acht gelassen werden oder doch nicht zu ihrem vollen Rechte kommen, oder aber von vielen Anfängen aus in konvergierenden Richtungen aufsteigend eine einheitliche Spitze zu suchen. Das glänzendste Beispiel jener einseitig folgerichtigen Gedankengewalt (auch wohl -gewaltsamkeit) besitzen wir an Spinoza, den Typus dieses allseitigen und harmonisierenden Denkens an Leibniz. Wenn selbst der strenge Spinoza häufig genug aus der geraden Linie der Konsequenz hinausgedrängt wird, so beweist das, daß der Mensch vielseitiger war, als der Denker zu sein sich gestatten mochte.

Um mit der formellen Seite zu beginnen: der Rationalismus des Descartes steigert sich bei Spinoza zu der imposanten Zuversicht, daß schlechthin alles durch Vernunft erkennbar sei, daß der Intellekt mit seinen reinen Begriffen und Anschauungen die vielgestaltige Wirklichkeit bis auf den Grund zu erschöpfen, sie mit seinem Lichte bis in die letzten Schlupfwinkel zu verfolgen vermöge. * Ebenso ernst nimmt es Spinoza mit dem Vorbilde der Mathematik. Hatte Descartes (mit Ausnahme einer in den zweiten Objektionen gewünschten und als Anhang zu den zweiten Responsionen gegebenen Probe, worin er das Dasein Gottes und den Unterschied von Geist und Körper in der synthetischen Form des Euklid zu demonstrieren versucht) sich selbst der analytischen Darstellung bedient, da sie zwar weniger zwingend, aber für die Belehrung geeigneter sei, indem sie den Weg zeige, auf dem die Sache gefunden wurde, so hat Spinoza die geometrische Methode auch äußerlich streng durch- geführt. Er beginnt mit Definitionen, schließt diesen Axiome (oder

1 Die Einwendungen Heusslers (Der Rationalismus des 17. Jahrb., 1885, S- 82 85) gegen dieses von K. P'ischer hervorgehobene Charakteristikum haben uns nicht überzeugt. Es handelt sich hier nicht sowohl um einen durch bestimmte Äuße- rungen belegbaren Grundsatz, als um eine unbewußte Triebfeder des Philosophierens. Da scheint uns Fischer richtig gesehen zu haben. Spinozas Denkweise ist in der Tat durchtränkt von jenem starken Vertrauen auf die Allmacht der Vernunft und auf die rationelle Beschaffenheit der echten Wirklichkeit.

Io8 Spinoza.

Postulate) an, läßt hierauf als den Hauptteil die Propositionen oder Lehrsätze, endlich die Demonstrationen oder Beweise folgen, welche die späteren Lehrsätze aus früheren, diese aus den durch sich selbst ge- wissen Grundsätzen ableiten. Zu diesen vier Hauptbestandteilen kommen noch als minder wesentliche hinzu die sich aus den Lehrsätzen unmittel- bar ergebenden Folgesätze oder Korollarien und die näheren Erläu- terungen der Beweise oder Schollen. Außerdem finden sich einige längere Erörterungen in Form von Anmerkungen, Einleitungen und Anhängen. Soll alles mathematisch erkennbar sein, so muß auch alles not- wendig geschehen, so können auch die Gedanken, Entschlüsse und Handlungen der Menschen nicht frei sein in dem Sinne, daß sie hätten anders ausfallen können. Es spricht also schon ein methodologisches Motiv für die Ausdehnung des Mechanismus auf alles, auch das geistige. Geschehen. Dazu kommen metaphysische Gründe. Das anthropologische Problem hatte Descartes unbefangen damit beantwortet, daß die Wechsel- wirkung zwischen Körper und Geist unbegreiflich aber tatsächlich sei. An beiden Bestimmungen, der Unbegreiflichkeit sowohl wie der Tatsächlichkeit, haben die Okkasionalisten zaghaft ein wenig gerüttelt, um sie schließlich doch stehen zu lassen. Es besteht tatsächlich zwar nicht ein unmittelbarer, aber ein okkasionaler, durch den göttlichen Willen vermittelter Einfluß zwischen beiden eine Erklärung, die kaum mehr war als das Geständnis der Unerklärlichkeit. Spinoza, der nichts Wirk- liches für unerkennbar und keine übernatürlichen Eingriffe gelten läßt, leugnet rundweg beides. Ein Wechselverkehr zwischen Leib und Seele existiert nicht; dasjenige aber, was man irrtümlich so deutet, ist aller- dings sowohl faktisch vorhanden als erklärbar. Die vermeintliche Wechsel- wirkung ist ebenso unnötig als unmöglich. Leib und Seele brauchen nicht erst aufeinander zu wirken, weil sie überhaupt nicht zweierlei sind, sondern ein Wesen ausmachen, das man von zwei verschiedenen Seiten ansehen kann. Es heißt Körper, wenn man es unter dem Attribut der Ausdehnung, Geist, wenn man es unter dem Attribut des Denkens betrachtet. Zwei Substanzen können gar nicht aufeinander wirken, weil sie durch den wechselseitigen Einfluß, ja schon durch ihre Zweiheit, ihrer Unabhängigkeit und damit ihres Substanzcharakters verlustig gehen würden. Es gibt überhaupt nicht mehrere Substanzen, sondern nur eine, die unendliche, die Gottheit. Hiermit stehen wir am Mittelpunkt des Systems. Es gibt nur ein Geschehen und nur ein unabhängiges substantielles Wesen. Das materielle und das geistige Geschehen bilden nur die beiden Seiten eines und desselben notwendigen Weltprozesses; die ausgedehnten und die denkenden Einzelwesen sind nichts anderes als wechselnde und vergängliche Zustände (Modi) des beharrlichen, ewigen, einheitlichen Weltgrundes. „Notwendigkeit des Geschehens und Einheit des Seins," Mechanismus und Pantheismus sind die Begriffe, welche die

Substanz, Attribut, Modus. IOQ

Lehre Spinozas beherrschen. Selbständigkeit der Einzeldinge, Willkür, Zweck, Entwickelung, das alles ist Schein und Irrtum.

1. Substanz, Attribut, Modus.

Es gibt nur eine Substanz und diese ist unendlich (I prop. lo, schoL; prop. 14, cor. i). Warum nur eine, warum unendlich? Für das Wesen der Substantialität gilt wie bei Descartes die Unabhängigkeit. Die dritte Definition spricht es aus: unter Substanz ist das zu verstehen, was in sich (nicht in einem anderen) ist und durch sich allein (ohne Zuhilfe- nahme des Begriffes eines anderen Wesens) begriffen wird. Per siibstantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur ; hoc est id, cuius conceptus no)i indiget conceptu alteriiis rei, a quo formari debeat. Ein absolut selbständiges Wesen kann weder begrenzt sein (da es hinsichtlich seiner Grenze von dem Begrenzenden abhängig wäre), noch mehrfach in der Welt vorkommen. Aus der Selbständigkeit folgt die Unendlichkeit, aus dieser die Einzigkeit.

Substanz ist das Wesen, welches von nichts und von dem alles ab- hängt, welches selbst unverursacht alles übrige bewirkt, nichts voraussetzt, sondern selber die Voraussetzung alles Seienden bildet: das reine Sein, das Ursein, die Ursache von sich selbst und von allem. So wird also hier das voraussetzungslose Sein nicht wie bei den Eleaten des Altertums kühl und abstrakt über die Fülle des mannigfaltigen Seins emporgehoben, sondern in die engste Beziehung damit gesetzt. Die Substanz ist das Sein in (nicht über) den Dingen, das was in ihnen die Realität aus- macht, was sie trägt und hervorbringt. Als Ursache aller Dinge nennt sie Spinoza Gott, obwohl er sich bewußt ist, unter diesem Namen etwas ganz anderes zu verstehen als die Christen.- Gott bedeutet ihm nicht einen überweltlichen persönlichen Geist, sondern nur das ens absolute m- ßnitiim {def. sextd), den Wesenskern der Dinge: deiis sive substa?itia.

In welcher Weise gehen die Dinge aus Gott hervor? Weder durch Schöpfung, noch durch Emanation. Er setzt sie nicht aus sich heraus, sie reißen sich nicht von ihm los, sondern sie folgen aus der notwendigen Natur Gottes so, wie aus der Natur des Dreiecks folgt, daß die Summe seiner Winkel gleich zwei Rechten ist (I prop. i'j^schoL). Sie fallen nicht aus ihm heraus, sondern bleiben in ihm; eben dies, daß sie in einem anderen, in Gott sind, macht ihre Unselbständigkeit aus {l prop. 18, dem.: 11/dIa res, qiiae extra deimi in se sit), Gott ist ihre innere, inbleibende Ursache {causa immanens, non vero transiens, I prop. 18), ist nicht trans- zendenter Schöpfer, sondern wirkende Natur, gegenüber der Gesamt- heit der endlichen Wesen als der gewirkten Natur {iiatura naturans und nattirata ^ I prop. 29, scJiol.): deiis sive natura.

Da es außer Gott nichts gibt, so erfolgt sein Handeln nicht aus

1 Über die Entstehung dieser Ausdrücke s. SiEBECK, AGPh. Bd. 3, 1S90.

I lo Spinoza.

äußerer Nötigung, nicht erzwungen, sondern er ist freie Ursache, frei in dem Sinne, daß er nichts tut, als wozu ihn seine eigene Natur antreibt, daß er den Gesetzen seines Wesens gemäß handelt [def. septlma: ca 7-es libera dicitur, quae ex sola sitae na/nrae necessitale existit et a sc sola ad agendum delenninatur ; epist. 26). Diese innere Nötigung ist so wenig ein Mangel, daß vielmehr gerade das Gegenteil, Willkür und Unbeständigkeit, als eine Unvollkommenheit von Gott ausgeschlossen werden muß. Freiheit und (innere) Notwendigkeit sind identisch und stehen im Gegensatz einerseits zur Willkür, andererseits zum (äußerem Zwange. Auch das Handeln nach Zwecken muß vom Unendlichen ge- leugnet werden: wer sich Gott vorstellt als um des Guten willen handelnd, macht ihn von etwas außer ihm (einem Ziele) abhängig und läßt ihn dessen entbehren, was durch die Handlung erreicht werden soll. Bei Gott ist der Grund seines Handelns derselbe wie der Grund seiner Existenz, Gottes Macht und Wesen fallen zusammen (I prop. 34: dci potentia est ipsa ipshis essentia). Er ist Ursache seiner selbst (def. prima: per causam sui intelligo id, ciiiiis essentia involvit existeittiam, sive id, cuius natura nou potest concipi iiisi existensj : es wäre ein Widersinn zu behaupten, daß das Sein nicht sei, daß Gott oder die Substanz nicht existiere: er kann nicht anders denn existierend gedacht werden, sein Begriff schließt sein Dasein ein. Ursache seiner selbst sein heißt not- wendig existieren (I prop. 7). Das nämliche bedeutet das Prädikat der Ewigkeit; diese bezeichnet nach der achten Definition „die Existenz, sofern sie aus der bloßen Definition des Dinges folgt".

Die unendliche Substanz verhält sich zu den endlichen Einzelwesen nicht nur wie Unabhängiges zum Abhängigen, Wirkendes zum Gewirkten. wie das Eine zum Vielen, das Ganze zu den Teilen, sondern auch wie das Allgemeine zum Besonderen und Bestimmten. Von dem unendlichen Sein als reiner Bejahung (I prop^. 8, sclzol 1 : absoluta affirmatio) müssen wir alles fernhalten, was eine Beschränkung oder Verneinung enthält, hierzu aber gehört jede nähere Bestimmung: deteniiiiiatio negatio est [epist. 50 und 41: die Determination bezeichnet nichts Positives, sondern eine Be- raubung, einen Mangel an Existenz, bezieht sich nicht auf das Sein, sondern auf das Nichtsein eines Dinges). Die Bestimmung sagt aus, wodurch sich ein Ding von einem anderen unterscheidet, also was es nicht ist, sie drückt eine Beschränktheit aus. Folglich ist Gott, der von jeder Negation und Schranke frei ist, zu denken als das schlechter- dings Bestimmungslose.i Die bisherigen Resultate lauten: substantia

1 Durch diese Nichtdetermiuiertheit (die übrigens auch der Ausdehnung und dem Denken zukommt) werden weder die Attribute noch die Modi von der Substanz aus- geschlossen, sofern nämlich ,,die Negation, welche jedes Attribut und jeder Modus im Unterschiede von den andern setzt, in der Substanz, dem Inbegriffe und der Ein- heit aller Modi und Attribute wieder aufgehoben wird" (Busolt, § 9, S. loij.

Substanz, Attribut, Modus. i i i

mm infinita deus sive natura causa sui {aeterno) et reritm {immanens) libera necessitas ens absolute indeterminatum. Oder kürzer: Substanz = Gott = Natur. Die Gleichsetzung von Gott und Substanz hatte Descartes ausgesprochen, aber nicht festgehalten, derjenigen von Gott und Natur u-ar Bruno nahegekommen; Spinoza hat beide in entschiedener Weise vollzogen und miteinander verbunden.

Noch eine Bemerkung über das Verhältnis von Gott und Welt. Indem Spinoza das Unendliche sowohl das beharrliche Wesen der Dinge als ihre hervorbringende Ursache nennt, stellt er das nicht leicht zu er- füllende Verlangen, das Sein der Dinge in der Substanz als ein Folgen aus ihr, ihr Hervorgehen aus Gott als ein in ihm Bleiben zu denken. Er verweist uns auf die Mathematik: die Weltdinge verhalten sich zu Gott wie die Eigenschaften einer geometrischen Figur zu deren Begriff, wie die Lehrsätze zum Axiom, wie das Abgeleitete zum Prinzip, welches alles, was aus ihm folgt, von Ewigkeit in sich entliält und auch, indem es dasselbe aus sich hervortreibt, in sich behält. Daß in solcher Auf- fassung der Kausalität ein Irrtum vorliegt man hat denselben als eine Verwechselung von ratio und causa^ von logischem Grund und realer Ursache gekennzeichnet , ist zweifellos, ebenso sicher aber, daß Spinoza ihn wirklich begangen hat. Die Abhängigkeit des Effektes \'on seiner Ursache wird mit der Abhängigkeit des abgeleiteten Satzes von dem ursprünglichen nicht nur verglichen, sondern ihr vollkommen gleichge- setzt; Spinoza glaubt in der logisch-mathematischen „Folge" das Wesen der realen „Wirkung" ergriffen zu haben: die einerseits gleichmütige und stille, der besonderen Anstrengung einer Willensenergie nicht bedürfende, andererseits unerbittliche und starre, jeder Willkür enthobene Notwendig- keit, welche die Folgeordnung der mathematischen Wahrheiten beherrscht, war ihm der Typus aller Gesetzlichkeit, auch der des realen Geschehens. Die Philosophie hatte die Hilfe der ^Mathematik begehrt wegen der Klar- heit und Sicherheit, durch welche sich deren Feststellungen auszeichnen und die sie auch den ihrigen zu verleihen wünschte. Im Übereifer hat sie sich nicht begnügt, dem Ideal ihrer unerschütterlichen Gewißheit nachzustreben, sondern, unter Verkennung der Eigentümlichkeit bei- der Gebiete, auch unübertragbare Eigenschaften nachgeahmt; statt von der Mathematik zu lernen, hat sie sich von ihr tyrannisieren lassen.

Die Substanz affiziert uns nicht durch ihr bloßes Dasein, sondern durch ein Attribut. Unter Attribut ist nach der vierten Definition das zu verstehen, was der Verstand an der Sub.stanz als deren Wesen aus- machend auffaßt {(juod intellectus de substantia percipit, tanquam eiiisdem essentiam cottstituens). Je mehr Realität eine Substanz enthält, desto mehr Attribute hat sie; der unendlichen kommen mithin unendlich viele Attri- bute zu, deren jedes das Wesen derselben ausdrückt, von denen jedoch nur zwei in unsere Erkenntnis fallen. Der menschliche Geist erkennt

j j 2 Spinoza.

von den zahllosen göttlichen Eigenschaften nur diejenigen, die er in sich selbst antrifft: Denken und Ausdehnung. Obwohl der Mensch Gott nur als denkende und ausgedehnte Substanz betrachtet, hat er doch eine klare und vollständige, eine adäquate Vorstellung von Gott. Da jedes der beiden Attribute ohne das andere, also durch sich selbst (yper se) be- griffen wird, sind sie voneinander realiter verschieden und selbständig. Gott ist absolut unendlich, die Attribute sind nur in ihrer Art {in suo genere) unendlich.

Die merkwürdige Fassung der Definition des Attributes legt die Frage nahe: werden die Attribute nur von dem Verstände der Substanz beigelegt, oder haben sie Realität auch außerhalb des erkennenden Sub- jektes? Dieser Punkt gehört zu den vielumstrittenen. ^ Nach Hegel und JoH. Ed. Erdmann sind die Attribute etwas der Substanz Äußer- liches, vom Verstände an sie Herangebrachtes, nur im Betrachter vor- handene Erkenntnisformen; die Substanz ist selbst weder ausgedehnt noch denkend, sondern erscheint bloß dem Verstände unter diesen Be- stimmungen, ohne die er sie nicht zu erkennen vermöchte. Zu den Gegnern dieser „formalistischen" Deutung, welche mit Berufung auf eine Briefstelle an de Vries {epist. 2"]) die Attribute für bloße Auffassungs- weisen des Verstandes erklärt, gehört K. Fischer. Hielt sich jene an die erste Hälfte der Definition, so fällt hier der Nachdruck auf die zweite („was der Verstand auffaßt als das Wesen der Substanz konsti- tuierend"). Die Attribute sind mehr als bloße Vorstellungsarten, sie sind reale Eigenschaften, welche die Substanz auch abgesehen von einem Betrachter hat, ja aus denen sie besteht; ohnehin ist dem Spinoza „Ge- dacht werden müssen" so viel wie „Sein". Befindet sich die letztere „realistische" Partei unstreitig im Vorteil gegen die erstere, welche einen unspinozistischen Subjektivismus in das System hineinträgt, so sollte doch auch sie nicht übersehen, daß jener Differenz der Auslegung ein Zwie- spalt unter den das Denken Spinozas lenkenden Motiven zugrunde liegt. Die in der Definition ausgesprochene Beziehung der Attribute auf den Verstand ist nicht bedeutungslos. Sie entsprang vielleicht dem Wunsche, die Bestimmungslosigkeit des Absoluten nicht durch den Gegensatz der Attribute zu trüben, während auf der andern Seite ein gleichstarkes Bedürfnis, die Immanenz der Substanz zu wahren, die beherzte Hinaus- setzung der Attribute in den Betrachter verbot. Die eigene Meinung des Spinoza ist weder so klar und widerspruchsfrei noch so einseitig wie diejenige, die seine Interpreten ihm unterlegen. Die weitere Erläuterung Fischers, daß die Attribute Gottes seine „Kräfte" seien, ist annehmbar, sofern man unter pote?tiia und causa nichts weiter versteht als die un-

1 Eine gute Darlegung der von den beiden Parteien vorgebrachten Gründe gibt BUSOLT § II.

Substanz, Attribut, Modus. 1 1 :?

widerstehliche, aber energielose Kraft, mit welcher eine ursprüngliche Wahrheit die aus ihr folgenden begründet oder bewirkt.

Hatte der Dualismus von Ausdehnung und Denken die Herab- setzung von einem substantiellen zu einem attributiven Gegensatze er- fahren, so werden die einzelnen Körper und Geister, Bewegungen und Gedanken noch um eine Stufe tiefer degradiert. Die Einzelwesen entbehren jeglicher Selbständigkeit. Als dieses bestimmte endliche Ding ist das Individuum mit Negation und Schranke behaftet, denn jede Deter- mination schließt eine Verneinung ein; was an ihm wahrhaft real ist, ist Gott. Die endlichen Dinge sind Modi der unendlichen Substanz, bloße Zustände, wandelbare Zustände Gottes, welche entstehen und vergehen gleich den Wellen auf der Oberfläche des Wassers. Für sich sind sie gar nichts, denn außer Gott existiert nichts. Nur sofern wir sie in ihrem Zusammenhange mit dem Unendlichen, eben als vorübergehende Formen der unveränderlichen Substanz fassen, haben sie ein Sein. Sie sind nicht in sich, sondern in einem andern, in Gott, und werden nur in Gott begriffen. Sie sind nur und dürfen nur betrachtet werden als Affektionen der göttlichen Attribute.

Den zwei Attributen entsprechen zwei Klassen von Modi. Von den Modifikationen der Ausdehnung sind die wichtigsten Ruhe und Be- wegung. Zu den Zuständen des Denkens gehören Verstand und Wille. Diese fallen in das Gebiet des bestimmten und vergänglichen Seins und gelten nicht von der natura natiirans: Gott ist über alles Modale, über Wille und Verstand wie über Bewegung und Ruhe erhaben. Von der bewirkten oder gewordenen Natur (der Welt als Inbegriff aller Modi) darf nicht, wie von der wirkenden, behauptet werden, daß ihr Wesen Existenz einschließe (I prop. 24): die endlichen Dinge kann man auch als nichtexistierend vorstellen {epist. 29). Hierin besteht ihre „Zufällig- keit", wobei man an nichts weniger als an Gesetzlosigkeit denken darf. Im Gegenteil, alles Geschehen in der Welt ist aufs strengste determi- niert: jedes einzelne endliche bestimmte Ding und Ereignis wird zum Sein und zum Wirken bestimmt durch ein andres ebenfalls endliches und bestimmtes Ding oder Ereignis, und diese Ursache wird ihrerseits abermals in ihrer Existenz und ihrem Handeln von einem weiteren end- lichen Modus determiniert und so fort bis ins Unendliche (I prop. 28). Wegen dieser Endlosigkeit der Reihe gibt es in der Erscheinungswelt keine letzte oder erste Ursache, alle endlichen Ursachen sind sekundäre, die primäre liegt in der Sphäre des Unendlichen, sie ist Gott selbst. Die Modi unterliegen insgesamt dem Zwange eines ausnahms- und end- losen Kausalnexus wirkender Ursachen, der weder für Zufall noch Willkür noch Zwecke einen Raum läßt. Nichts kann anders sein und geschehen, als es ist und geschieht (I prop. 2g, 33).

Die Kette der Ursachen erscheint als eine doppelte: ein Älodus der

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 8

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Spinoza.

Ausdehnung hat seinen erzeugenden Grund wiederum in einem Modus der Ausdehnung, ein Modus des Denkens kann nur durch einen andern Modus des Denkens verursacht werden: jedes einzelne Ding wird durch Seinesgleichen determiniert. Die beiden Reihen laufen nebeneinander her, ohne daß je ein Glied der einen in die andere überzugreifen, in der an- deren etwas zu bewirken vermöchte: eine Bewegung kann immer nur wieder Bewegungen hervorrufen, eine Idee immer nur andere Ideen zur Folge haben; nie kann der Körper den Geist zu einer Vorstellung, nie die Seele den Leib zu einer Bewegung bestimmen. Da jedoch Aus- dehnung und Denken nicht zwei Substanzen, sondern Attribute einer Substanz sind, so ist auch jener scheinbar doppelte Kausalnexus von zwei in genauer Korrespondenz verlaufenden Reihen in Wahrheit nur ein einziger (III prop. 2, schol.), von verschiedenen Seiten betrachtet. Was von der Ausdehnungsseite gesehen eine Kette von Bewegungen dar- stellt, das gibt von der Denkseite aus den Anblick einer Folge von Vorstellungen. Modus extensionis et idea illius modi una eademque est res, sed duobus modis expressa (II prop. 7, schoL; vergl. III prop. 2, schol.) ^ Die Seele ist nichts anderes als die Idee eines wirklichen Körpers, der Körper oder die Bewegung nichts anderes als der einer Vorstellung im Gebiete der ausgedehnten Wirklichkeit korrespondierende Gegenstand oder Vorgang. Keine Idee, der nicht etwas Körperliches entspräche, kein Körper, der nicht zugleich als Idee existierte oder gedacht würde; m. a. W. jedes Ding ist sowohl Körper als Geist, alle Dinge sind beseelt (II prop. 13, schol?). So ergibt sich der berühmte Satz: ordo et connexio idearum" idem est ac ordo et connexio rerum {sive corporum ; II prop. 7), und angewandt auf den Menschen: die Ordnung des Handelns und Lei- dens unseres Körpers ist von Natur zugleich mit der Ordnung des Handelns und Leidens der Seele (III prop. 2, schol).

Der Versuch, das Problem des Verhältnisses zwischen Körper- und Geisterwelt durch die durchgängige Korrespondenz und substantielle Iden- tität beider zu lösen, war ein philosophisch bedeutender und berechtigter, obwohl sich reichliche und naheliegende Bedenken aufdrängen. Die ge- forderte Annahme, daß jedem körperlichen Geschehen ein geistiges entspreche und umgekehrt, stößt auf ein unwillkürliches und leicht zu begründendes Widerstreben, und Spinoza hat nichts getan, es zu heben. Desgleichen hat er unterlassen, darüber aufzuklären, wie sich der Körper zur Bewegung, der Geist zu den Ideen und beide zur Wirklichkeit ver- halten. Man hat nicht ohne Grund von einer materialistischen Tendenz

1 J. Bergmann: Spinoza, Vortrag, Ph. Monatsh. Bd. 23 (1887), S. 141 2: , Jedes

Sein und Geschehen in Gott findet einen doppelten Ausdruck Leib und Seele

stimmen ganz von selbst zusammen etwa wie die beiden Seiten eines Segels. Wie jeder Einbiegung oder Falte auf der einen Seite des Segels eine Ausbiegung auf der anderen entspricht, so jeder Bestimmtheit des Leibes eine solche der Seele und umgekehrt."

I

KÖRPER UND Geist.

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bei Spinoza gesprochen. Körperlichkeit und Realität scheinen ihm fast zusammenzufallen die Ausdrücke corpora und res werden synonym gebraucht , sodaß für die Geister und Vorstellungen nur die Existenz von Spiegelbildern des Realen in der Sphäre der (hinsichtlich ihres Wirklichkeitsgrades schwer zu fixierenden) Idealität übrigbleibt. Ferner ist auf individualistische Regungen hingewiesen worden, welche dem von Spinoza mit Bewußtsein verfolgten Monismus teils entgegenstreben, teils auch in dessen Dienste arbeiten. Ein Beispiel hierfür bietet das Verhältnis zwischen Geist und Idee: die Seele behandelt Spinoza als eine Summe von Vorstellungen, als aus ihnen bestehend. Ein (wenigstens scheinbar substantielles) Band der Ideen, ein Ich, welches sie hat, existiert für ihn nicht: aus dem cartesianischen cogito wird ein unpersönliches cogitatur oder ein deus cogitat. Um der alleinigen Substantialität des Unendlichen willen muß die Substantialität der einzelnen Geister fallen. Was für die letztere spricht, ist ihre Ichheit, die Einheit des Selbstbe- wußtseins; sie ist aufgehoben, wenn der Geist ein Aggregat von Ideen, etwas aus Vorstellungen Zusammengesetztes ist. So verbündet sich der Monismus, um sich der Selbständigkeit des Einzelgeistes zu sentledigen, mit einem geistigen Atomismus, wie er extremer kaum gedacht werden kann. Der Geist wird in eine Menge einzelner Ideen aufgelöst.

Nebenher sei eines befremdlichen, in das System nicht recht passen- den, übrigens auch wenig verwendeten Begriffes erwähnt: des Begriffes der unendlichen Modi. Als solche werden angeführt : yäc/i?^ totiiis niiindi, motus et quies, intellectiis absolute infinitus. Man wird sich K. Fischers Auslegung dieses unbequemen Begriffes anschließen dürfen. Nach ihm ist darunter der Gesamtzusammenhang der Modi, der selbst nicht endliche Inbegriff des Endlichen zu verstehen, und zwar bezeichnet das Univer- sum den Inbegriff der Einzeldinge überhaupt (ohne Rücksicht auf ihre ausgedehnte oder denkende Natur), Ruhe und Bewegung den des materiellen Seins, der schlechthin unendliche Verstand den des gei- stigen Seins oder der Ideen. Die beiden letzten heißen im Kurzen Traktat (I, 9) „Sohn Gottes". Die einzelnen Geister zusammen bilden gleichsam den unendlichen Intellekt, unser Geist ist ein Teil des göttlichen Verstandes, doch nicht so, daß das Ganze aus den Teilen bestände, sondern so, daß der Teil nur durch das Ganze besteht. Wenn man sagt: der menschliche Geist nimmt dies oder jenes wahr, so bedeutet das so viel als: Gott nicht sofern er unendlich ist, sondern sofern er sich in diesem menschlichen Geiste ausspricht und dessen Wesen aus- macht — hat diese oder jene Vorstellung {Yl prop. 11, coroll).

In der Besprechung der drei Grundbegriffe ist die Lehre von Gott in ihren Hauptzügen erschöpft. Die Körperlehre (Buch II, zwischen Lehrsatz 13 und 14) übergehend wenden wir uns sogleich zu dem, was Spinoza über den Geist und den Menschen vorträgt.

8*

jj5 Spinoza.

2. Anthropologie: die Erkenntnis und die Leidenschaften.

Jedes Ding ist (vergl. S. 114) zugleich Geist und Körper, Vorstellung und Vorgestelltes, Idee und Ideat (Objekt). Leib und Seele sind das- selbe Wesen, nur unter verschiedenen Attributen aufgefaßt. Der mensch- liche Geist ist die Idee des menschlichen Körpers; er erkennt sich selbst, indem er die AfFektionen seines Körpers wahrnimmt; er stellt alles vor, was in diesem geschieht, freilich nicht alles adäquat. Wie der mensch- liche Leib aus sehr vielen Körpern zusammengesetzt ist, so die mensch- liche Seele aus sehr vielen Ideen. Um das Verhältnis des menschlichen Geistes zu demjenigen niederer Wesen zu beurteilen, muß man auf den Vorzug des menschlichen Körpers vor anderen Körpern hinblicken; je komplizierter und je verschiedenartiger affizierbar der Körper, desto vor- züglicher und zum adäquaten Erkennen geschickter der zugehörige Geist. Eine Folge der Identität von Seele und Leib ist die Unfreiheit unserer Willensakte {epist. 62): sie sind ja Bestimmungen unseres Körpers, nur unter dem Attribute des Denkens betrachtet, imd so wenig wie diese dem Zwange des Kausalgesetzes enthoben (III prop. 2, scJwL). Da der Geist nichts tut, ohne zugleich zu wissen, daß er es tut, da mit anderen Worten seine Tätigkeit eine bewußte ist, so ist er nicht bloß idca corporis liumani, sondern zugleich idea ideae corporis oder idea mentis.

Wer der eleatischen Trennung des einen reinen Seins von der Welt des mannigfaltigen und wechselnden Scheines huldigt, ist zu der ent- sprechenden Scheidung zweier Arten und Organe der Erkenntnis ge- nötigt. Die Vorstellung der empirischen Vielheit für sich bestehender Einzeldinge und ihr Organ nennt Spinoza imaghiatio, das Vermögen der Erkenntnis der wahren Wirklichkeit, der einen allumfassenden Substanz inteUectus. Die imaginatio (Einbildung, sinnliche Vorstellung) ist das Ver- mögen der inadäquaten, verworrenen Ideen, zu denen außer den Em- pfindungen und Gedächtnisbildern auch die abstrakten Begriffe gehören. Die Wahrnehmungen haben zum Gegenstand die Affektionen unseres Körpers und sind deshalb nicht klar und deutlich, weil wir deren Ur- sachen nicht vollständig kennen. Solange der Geist nur sinnlich perzi- piert, hat er von äußeren Körpern, von seinem Leibe und von sich selbst nur eine konfuse und verstümmelte Vorstellung; er vermag nicht zu sondern, was von der Wahrnehmung (der Wärme z. B.) auf Rechnung des äußeren und des eigenen Körpers zu setzen ist. Doch ist die inadäquate Vorstellung noch nicht an sich ein Irrtum, sondern wird dies erst, wenn wir, ihrer Mangelhaftigkeit uns nicht bewußt, sie für vollständig und wahr halten. Hauptbeispiele irrtümlicher Vorstellungen sind die All- gemeinbegrifFe, die Idee des Zweckes und die der Willensfreiheit. Je all- gemeiner und abstrakter eine Idee, desto unvollständiger und undeut-

Anthropologie: die Erkenntnis und die Leidenschaften.

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lieber; hieraus erhellt der Unwert der durch Weglassung der Unterschiede entstehenden Gattungsbegriffe. Alle Erkenntnis, die durch Univer- salien und deren Zeichen, die Worte, geschieht, gibt statt der Wahrheit bloße Meinung und Einbildung. Ebenso wertlos und schädlich ist der ZweckbegrifF und was mit ihm zusammenhängt. Wir glauben, daß der Natiir Urbilder vorschweben, die sie in den Dingen verwirklichen möchte; wo ihr diese Absicht zu gelingen scheint, reden wir von vollkommenen und schönen, wo zu mißlingen, von unvollkommenen und häßlichen Dingen. Solche Wertbegriffe gehören in das Gebiet der Fiktionen. Des- gleichen die Idee der Freiheit des Willens; sie beruht auf Unkenntnis dessen, was uns zwingt. Abgesehen davon, daß der „Wille", dessen All- gemeinbegrifF unter die Rubrik der unwirklichen Abstrakta fällt, in der Tat nur die Summe der einzelnen Wollungen ist, entspringt der Schein, als ob wir frei wären, d. h. ohne Ursachen wollten und handelten, dar- aus, daß wir uns zwar unseres Handelns (allenfalls auch des unmittel- baren Beweggrundes), nicht aber der (weiteren) determinierenden Ursachen desselben bewußt sind. So wähnt das durstige Kind freiwillig die Milch zu begehren, das ängstliche aus freien Stücken die Flucht zu wählen (Eth. III prop. 2, schol.: I app}j. Hätte der fallende Stein Bewußtsein, er würde sich gleichfalls für frei und sein Fallen für das Ergebnis eines undeterminierten Entschlusses halten.

Bei dem wahren oder adäquaten Wissen des Intellektes sind zwei Grade zu unterscheiden: die rationale durch Schließen gewonnene und die intuitive durch sich selbst gewisse Erkenntnis; diese geht auf die Prinzipien, jene auf das, was aus denselben folgt. Statt mit abstrakten Begriffen operiert die Vernunft mit Gemeinschaftsbegriffen oder iiotiones communes. Gattungen gibt es nicht, wohl aber etwas, was allen Dingen gemeinsam ist. Alle Körper stimmen überein im Ausgedehntsein, alle Geister und Ideen darin, daß sie Denkzustände sind, alle Wesen über- haupt darin, daß sie Modi der göttlichen Substanz und ihrer Attribute sind: „das, was allen Dingen gemeinsam zukommt und auf gleiche Weise so- wohl im Teil als im ganzen ist, das wird adäquat begriffen." Die Ideen der Ausdehnung, des Denkens und der ewigen und unendlichen Wesen- heit Gottes sind adäquate Vorstellungen. Die adäquate Idee jedes einzelnen wirklichen Dinges schließt, da es nicht ohne Gott sein und gedacht werden kann, die Idee Gottes in sich, und „alle Ideen sind wahr, sofern sie auf Gott bezogen werden". Die Ideen der Substanz und der Attribute werden durch sich selbst begriffen oder unmittelbar (anschaulich) erkannt, sind unableitbare, ursprüngliche, durch sich selbst einleuchtende Vorstellungen.

So haben wir drei Arten, Stufen oder Vermögen der Erkenntnis: die sinnliche oder imaginative Vorstellung, die Vernunft und die un- mittelbare Anschauung. Die Erkenntnisse des zweiten und dritten Grades sind notwendio; wahr und durch sie allein können wir das Wahre vom

1 1 8 Spinoza.

Falschen unterscheiden. So wie das Licht sich selbst und die Finster- nis offenbar macht, so ist die Wahrheit das Kennzeichen ihrer selbst und des Irrtums. Jede Wahrheit ist von Gewißheit begleitet und be- zeugt sich selbst {llprop. 43, schol.). Die adäquate Erkenntnis betrachtet die Dinge nicht vereinzelt, sondern in ihrem notwendigen Zusammen- hange und als ewige Folgen aus dem Weltgrunde. Die Vernunft' faßt die Dinge unter der Form der Ewigkeit auf: sub quadam aeternitatis specie (II prop. 44, cor. 2).

In der Affekten lehre ist Spinoza mehr als irgendwo von Descartes abhängig, doch leitet ihn auch hier ein erfolgreiches Streben nach größerer Strenge und Einfachheit. Für das Mißlingen des so scharf- sinnigen Versuches seines Vorgängers macht er dessen falschen Freiheits- begriff verantwortlich. Alle, die bisher über die Leidenschaften ge- schrieben, haben dieselben verspottet oder beklagt oder verdammt, statt ihre Natur zu untersuchen. Spinoza will die menschlichen Handlungen und Begierden weder verabscheuen noch verlachen, sondern aus Natur- gesetzen zu begreifen suchen und sie so betrachten, als wenn es sich um Linien, Flächen und Körper handelte; er will Haß, Zorn, Neid und die übrigen Affekte nicht als Fehler ansehen, sondern als zwar lästige, aber notwendige Eigenschaften der menschlichen Natur, die ebenso wie Hitze vmd Kälte, wie Blitz und Donner aus ihren Ursachen erkannt sein wollen. Als bestimmtes, endliches Wesen ist der Geist in seiner Existenz und seiner Tätigkeit von anderen endlichen Dingen abhängig und nicht ohne sie begreifbar; von seiner Verflochtenheit in den allgemeinen Naturzusammen- hang sind die inadäquaten Vorstellungen, von diesen die leidentlichen Zustände oder Affekte unausbleibliche Folge, die Leidenschaften gehören notwendig zur menschlichen Natur als einer mit Begrenztheit oder Ver- neinung behafteten. Die Zerstörung der zufälligen und vergänglichen Wesen erfolgt durch eine äußere Ursache, durch sich selbst wird keines vernichtet, von sich aus strebt jedes, soviel an ihm ist, in seinem Dasein zu beharren (III prop. 4 und 6). In dem Grundtriebe der Selbst- erhaltung besteht das Wesen jedes Dinges {IWprop. 7). Dieser Trieb iconatus) heißt Wille [voltintas] oder Begierde [cupiditas), wenn er auf den Geist allein. Streben {appeiiius), wenn er zugleich auf den Körper be- zogen wird: Begehren oder Wollen ist bewußtes Streben (III prop. 9, schal.). Wir nennen etwas gut, weil wir es begehren, nicht aber begehren wir etwas, weil wir es für gut halten. (Vergl. Hobbes, S. 67.) Zu der Begierde kommen noch zwei weitere Grundformen der Affekte hinzu, Lust und Schmerz. Wenn etwas unseres Körpers Macht zu handeln erhöht, so erhöht die Idee desselben unserer Seele Macht zu denken und wird von ihr gern vorgestellt. Freude (Fröhlichkeit, laetitid) ist der Übergang des Menschen zu größerer, Traurigkeit [tristttid) sein Über- gang zu geringerer Vollkommenheit.

Anthropologie: die Erkenntnis und die Leidenschaften.

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Alle übrigen Affekte sind Nebenformen oder Kombinationen der drei ursprünglichen, auf welche Spinoza die sechs des Descartes (vergl. S. qz 93) reduziert hat. Bei deren Ableitung und Beschreibung verfährt der Philosoph zuweilen trocken schematisierend, auch wohl künstlich und gewaltsam, großenteils jedoch sinnreich, sachgemäß und mit psycholo- gischem Scharfblick. Was uns Freude bereitet, steigert unser Dasein, was uns traurig macht, vermindert es, daher werden die Ursachen der freudigen Affekte zu erhalten gesucht und geliebt, die der traurigen zu beseitigen gesucht und gehaßt. „Liebe ist Freude, verbunden mit der Vorstellung ihrer äußeren Ursache; Haß ist Trauer, begleitet von der Idee ihrer Ursache." Da alles, was (die Ursache unserer Freude oder) den Gegenstand unserer Liebe in seinem Dasein fördert oder hemmt, zugleich die nämliche Wirkung auf uns ausübt, so lieben wir, was den Geliebten erfreut, und hassen, was ihn betrübt; sein Glück und sein Leiden ist auch das unserige. Das Umgekehrte gilt von dem Objekte unseres Hasses: sein Wohlergehen ärgert, sein Unglück erfreut uns. Sind wir Unseres- gleichen gegenüber von keinem Affekte erfüllt, so empfinden wir in un- willkürlicher Nachahmung deren heitere oder trübe Gefühle mit. Das Mitleid, das wir, wie jeden traurigen Affekt, loszuwerden streben, macht uns zum Wohlwollen oder zur Hilfeleistung bei Entfernung der Ursache des fremden Leids geneigt. Der Neid gegen den, dem es gut, und das Mitleid mit dem, dem es schlecht geht, haben beide ihre Wurzel im Wett- eifer. Der Mensch neigt von Natur zu Neid und Schadenfreude. Der Haß führt leicht zur Geringschätzung seines Objektes, die Liebe zur Überschätzung des ihrigen, die Selbstliebe zum Stolz oder Hochmut, der viel häufiger angetroffen wird als unverstellter Kleinmut. Das über- triebene Verlangen, geehrt zu werden, heißt Ehrsucht; hält sich die Be- mühung, anderen zu gefallen, in den Grenzen des Berechtigten, wird sie als bescheidenes, liebenswürdiges, humanes Wesen [inodestia] gelobt. Ehr- geiz, Schwelgerei, Trunksucht, Geiz und Wollust haben kein Gegenteil, denn Mäßigkeit, Nüchternheit und Keuschheit sind keine Affekte (Passionen, Leidenszustände), sondern bezeichnen die Macht der Seele, durch welche jene Affekte gemäßigt werden, und von welcher unter dem Namen der „Tapferkeit" später gehandelt wird. Die Niedergeschlagenheit oder Demut ist eine aus der Betrachtung unserer Schwäche oder Ohnmacht ent- springende Traurigkeit, ihr Gegenteil ist die Selbstzufriedenheit. Zu beiden kann sich der (irrige) Glaube gesellen, daß wir die uns betrübende oder erfreuende Handlung aus freiem Entschlüsse getan haben; in diesem Falle heißt der erste Affekt Reue. Hoffnung und Furcht sind eine un- beständige Fröhlichkeit resp. Traurigkeit, welche aus der Vorstellung einer künftigen oder vergangenen Sache entsteht, über deren Eintritt und Aus- gang wir noch zweifeln. Es gibt keine Hoffnung ohne Furcht und keine Furcht ohne Hoffnung; denn wer noch zweifelt, stellt sich etwas vor.

1 20 Spinoza.

was die Existenz der erwarteten Sache ausschließt. Ist die Ursache des Zweifels gehoben, so verwandelt sich die Hoffnung in das Gefühl der Sicherheit, die Furcht in Verzweiflung. Es gibt so viele Arten von Affekten, als es Arten der Gegenstände oder Ursachen derselben gibt. Außer den im strengen Sinne „Passionen", Zustände des Leidens zu nennenden Affekten kennt Spinoza auch solche, die sich auf uns als Handelnde beziehen. Nur solche von freudiger oder begehrender Art gehören zu dieser Klasse der tätigen Affekte (111 prop. 59); die traurigen sind sämtlich ausgeschlossen, da sie alle ohne Ausnahme die Denkkraft des Geistes mindern oder hemmen. Die Gesamtheit dieser edleren An- triebe wird als fortitjido (Tapferkeit) bezeichnet und innerhalb derselben zwischen animositas (Seelenstärke) und generositas (Großherzigkeit, Edel- mut) unterschieden, je nachdem sich das vernünftige Begehren auf die Erhaltung des eigenen Seins oder auf die Förderung der Mitmenschen erstreckt. Beispiele der ersteren sind Geistesgegenwart und Mäßigkeit, der letzteren (echte) Bescheidenheit und Milde. Auf der Brücke dieses Begriffs der tätigen Affekte folgen wir Spinoza in das Gebiet der Ethik.

3. Praktische Philosophie.

Spinozas Sittenlehre ruht auf der Gleichsetzung der drei Begriffe Vollkommenheit, Realität, Tätigkeit (V prop. 40, dcm\ Ein Ding be- sitzt um so mehr Wirklichkeit und ist um so vollkommener, je tätiger es ist. Tätig aber ist es, wenn es die vollständige oder adäquate Ur- sache dessen ist, was in oder außer ihm geschieht; leidend, wenn es gar nicht oder nur teilweise die Ursache jenes Geschehens ist. Adäquat nennen wir eine Ursache, wenn ihre Wirkung klar und deutlich aus ihr allein begriffen werden kann. Der menschliche Geist, als ein Modus des Denkens, ist tätig, wenn er adäquate Ideen hat; alles Leiden desselben besteht in den verworrenen Vorstellungen, zu denen die von äußeren Dingen hervorgerufenen Affekte gehören. Das Wesen des Geistes ist das Denken, das Wollen ist nicht nur vom Erkennen abhängig, sondern im Grunde mit dem Erkennen identisch.

Schon bei Descartes war der Wille die Kraft des Bejahens und Verneinens. Spinoza geht noch einen Schritt weiter: die Bejahung kann von der bejahten Vorstellung nicht abgetrennt werden, es ist unmöglich, eine Wahrheit zu begreifen, ohne sie in diesem selben Akte zugleich zu bejahen, die Idee schließt ihre Bejahung in sich, „Wille und Ver- stand sind eins und dasselbe" (II prop. 49, «rc;-.). Dem Spinoza geht die sittliche Tätigkeit ganz in der erkennenden auf. Den beiden Er- kenntnisstufen imaginatio und intellectiis entsprechen zwei Willensstufen: das von der Einbildung beherrschte Begehren und das von der Vernunft geleitete Wollen. Die passiven Afi'ekte des sinnlichen Begehrens sind

Praktische Philosophie. 121

auf die vergänglichen Dinge gerichtet, die aus der Vernunft entspringen- den aktiven Affekte haben ein ewiges Objekt: die Erkenntnis der Wahrheit, die Anschauung Gottes. Für die Vernunft gibt es keine Unterschiede der Personen sie macht die Menschen einträchtig und setzt ihnen ein gemeinsames Ziel (IV prop. 35 37, 40) , auch keine Unterschiede der Zeit (IV prop. 62, 66), und für die tätigen Affekte, welche immer gut sind, kein Übermaß (IV prop. 61). Die leidenden x^ffekte entstehen aus konfusen Ideen. Sie hören auf, ein Leiden zu sein, wenn sich die verworrene Vorstellung der körperlichen x\ffekte in eine klare verwandelt (V prop. 3); sobald wir klare Ideen haben, sind wir tätig und nicht mehr Knechte der Begierden. Wir beherrschen die Affekte dadurch, daß wir sie klar erkennen. Nun ist eine Vorstellung klar, wenn wir ihr Objekt nicht als einzelnes Ding, sondern in seinem Zusammenhange, als Glied der Kausalkette, als notwendig und als Modus Gottes erkennen. Je mehr der Geist die Dinge in ihrer Notwendigkeit und die Affekte in ihrer Beziehung zu Gott begreift, desto weniger leidet er von den Affekten, desto mehr bekommt er sie in seine Gewalt: ,, Tugend ist Macht" (IV def. 8, prop. 20, dem.]. Freilich kann ein Affekt nur durch. einen anderen stärkeren (IV prop. 7), der leidende nur durcli einen tätigen besiegt werden. Der tätige Affekt, durch welchen die Erkenntnis über die Leidenschaften siegt, ist das freudige Bewußtsein unserer Macht (III j?);-^/'. 58, 59). Die adäquate Vorstellung denkt ihr Objekt in Verbindung mit Gott; die aus der Erkenntnis und Überwindung der Leidenschaften er- wachsende Freude ist also begleitet von der Idee Gottes und somit (nach der Definition der Liebe) Liebe Gottes (V prop. 15, 32). Erkenntnis und Liebe Gottes, zusammengefaßt „intellektuelle Liebe zu Gott" ^ ist das höchste Gut und die höchste Tugend (IV prop. 28). Die Seligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst. Die geistige Liebe des Menschen zu Gott, in welcher die höchste Seelenruhe, Seligkeit und Freilieit besteht und vermöge deren (da sie, wie ihr Gegenstand und ihre Ursache, die wahre Erkenntnis, ewig ist) der Geist von der Zerstörung des Körpers nicht betroffen wird (V prop. 23, 33), ist ein Teil der un- endlichen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt, und ist mit der Liebe Gottes zu den Menschen eins und dasselbe. Der ewige Teil der Seele ist die Vernunft, durch die sie tätig ist; der vergängliche ist die Einbildung oder sinnliche Vorstellung, durch die sie leidet. Nur in der adäquaten Erkenntnis und der Gottesliebe sind wir unsterblich; von der Seele des Weisen ist ein größerer Teil ewig, als von der des Toren.

Spinozas Sittenlehre ist intellektualistisch: Tugend beruht auf Er- kenntnis.'^ Sie ist außerdem naturalistisch: die Sittlichkeit ist eine not-

1 Über den Begriff amor dei intellectiialis bei Spinoza handelt C. LÜLMANN in einer Dissertation, Jena 1884.

- Nur die aus der Erkenntnis entspringende Tugend ist die echte. Die traurigen,

122 Spinoza.

wendige Folge aus der menschlichen Natur, sie ist ein physisches Er- zeugnis, nicht ein Produkt der Freiheit, denn die Willensakte werden durch Vorstellungen determiniert, die ihrerseits wiederum Wirkungen früherer Ursachen sind. Die Grundlage der Tugend ist das Streben nach Selbst- erhaltung: wie kann jemand gut handeln wollen, wenn er nicht existieren will {JN prop. 2 1 22)} Da die Vernunft nichts Naturwidriges gebietet, so fordert sie notwendig, daß jeder sich selbst liebt, seinen wahren Nutzen sucht und alles begehrt, was ihn vollkommener macht. Nach dem Natur- recht ist alles Nützliche erlaubt. Nützlich ist, was unsere Macht, Tätig- keit oder Vollkommenheit erhöht, oder was die Erkenntnis fördert, denn das Leben der Seele besteht im Denken (IV prop. 26; app. cap. 5). Ein Übel ist allein, was den Menschen hindert, die Vernunft zu vervollkommnen und ein vernünftiges Leben zu führen. Tugendhaft handeln bedeutet so viel als in der Selbsterhaltung der Führung der Vernunft folgen (IV prop. 24). Nirgends sind bei Spinoza die Fehlschlüsse dichter gehäuft, nirgends offenbart sich das Unzureichende der künstlich zurecht- gemachten, in ihrer geradlinigen Abstraktheit der Wirklichkeit an keiner Stelle kongruenten Begrifte deutlicher, als in der Moralphilosophie. Der Absicht, mit Ausschluß des Imperativischen sich einzig darauf zu be- schränken, das wirkliche Handeln der Menschen zu begreifen, ist er so wenig treu geblieben, wie irgend ein Philosoph, der sich die gleiche ge- setzt. Er mildert die Inkonsequenz, indem er seine Gebote in das antike Gewand eines Ideals des weisen und freien Menschen kleidet. Dies ist nicht das einzige, was bei Spinoza an die Gewohnheiten der griechischen Ethik erinnert. Er erneuert den platonischen Gedanken von der philo- sophischen Tugend und die Meinung des Sokrates, daß aus der rechten Einsicht von selbst das rechte Tun erfolge. Von sich selbst, seinem eigenen starken und reinen Wissenstrieb, auf den Menschen überhaupt schließend, erklärt er für das Wesen der Seele die Vernunft, für das Wesen der Vernunft das Denken und hält die Richtung des Selbst- erhaltungstriebes auf die Vervollkommnung der Erkenntnis, des „besseren Teiles in uns", für die natürliche.

Alle Menschen streben nach Erhaltung ihres Daseins (III prop. 6); warum streben nicht alle nach der Tugend? Wenn alle nach ihr streben,

folglich nicht tätigen, Affekte des Mitleids und der Reue können zu Handlungen antreiben, deren Vollbringung besser ist als ihre Unterlassung. Die Rührung über fremdes Leid und die Zerknirschung über eigene Schuld, welche beide vorhandenes Elend durch neues vermehren, haben nur den Wert eines geringeren Übels. Für den Unvernünftigen sind sie insofern heilsam, als die eine ihn zu hilfreicher Tat anspornt, die andere seinen Stolz vermindert. Für den Weisen sind sie schädlich, wenigstens nutzlos; er bedarf nicht unvernünftiger Motive zum vernunftgemäßen Handeln. Nur das Handeln aus Einsicht ist wahre Sittlichkeit. Dies einer der Anklänge an die Stoa, deren sich noch mehrere nachweisen ließen.

Praktische Philosophie.

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warum erreichen so wenige das Ziel? Woher die betrübend große Zahl von Unvernünftigen, Selbstsüchtigen, Lasterhaften? Woher das Böse in der Welt? Die Untugend entspringt so gut wie die Tugend aus der „Natur". Tugend ist Macht, Laster ist Ohnmacht; jene ist Wissen, diese Unwissenheit. Woher die kraftlosen Naturen, woher die mangelhafte Erkenntnis, woher überhaupt die Unvollkommenheit?

Der Begriff des Unvollkommenen drückt nichts Positives, Wirk- liches aus, sondern einen bloßen Mangel, eine Abwesenheit von Realität. Er ist nichts als ein Gedanke in uns, eine Fiktion, welche durch die Vergleichung eines Dinges mit einem anderen, das mehr Realität hat, oder mit einem abstrakten Gattungsbegriffe, einem Musterbilde, das es nicht erreichen zu können scheint, entsteht. Daß die Wertbegriffe nicht Eigenschaften der Dinge selbst, sondern nur ihre erfreuende oder be- leidigende Wirkung auf uns bezeichnen, geht schon daraus hervor, daß ein und dieselbe Sache gleichzeitig gut, schlecht und gleichgültig sein kann; dieselbe Musik, welche gut ist für den Schwermütigen, ist schlecht für den Betrübten, weder gut noch schlecht für den Tauben. Die Er- kenntnis des Schlechten ist eine abstrakte, unadäquate Vorstellung, in Gott ist keine Idee des Bösen. Wäre das Unvollkommene und der Irrtum etwas Wirkliches, so müßte man zugeben, daß Gott die Ursache des Br)sen unfl des Verbrechens sei. In Wirklichkeit ist jedes Ding, was es sein kann, also mangellos; alles Wirkliche, an sich betrachtet, ist voll- kommen. Auch der Tor und der Sünder kann nicht anders sein, als er ist: als mangelhaft erscheint er erst, wenn man ihn neben den Weisen und Tugendhaften stellt. Die Sünde ist somit nur eine geringere Realität als die Tugend, das Böse ein minder Gutes; gut und schlecht, Tätig- keit und Leiden, Macht und Schwäche sind bloße Gradunterschiede. Warum aber ist nicht alles schlechthin vollkommen, warum gibt es geringere Wirklichkeitsgrade? Wir erhalten zwei Antworten. Die eine steht nur zwischen den Zeilen: Die UnvoUkommenheiten im Sein und Tun der Einzeldinge haben ihren Grund in deren Endlichkeit, speziell in ihrer Verflechtung in den Kausalzusammenhang, vermöge dessen sie Einwirkungen von außen erleiden und in ihrem Handeln nicht allein durch ihre eigene Natur, sondern zugleich durch fremde Ursachen deter- miniert werden. Der Mensch sündigt, weil er den Eindrücken äußerer Dinge offen steht, und nur ausgezeichnete Naturen sind stark genug, sich trotz derselben aus sich selbst, aus der Vernunft zu bestimmen. Die andere Antwort wird am Schlüsse des ersten Buches (mit Berufung auf den sechzehnten Lehrsatz, daß alles, was der göttliche Verstand als schaffbar vorstelle, wirklich geworden sei) ausdrücklich gegeben. „Wer mich fragt, warum Gott nicht alle Menschen so geschaffen habe, daß sie allein der Vernunft gehorchten, dem antworte ich nur: weil es ihm nicht an Material gebrach, um alles vom höchsten bis zum niedrigsten Grade

124

Spinoza.

der Vollkommenheit zu schaffen; oder genauer zu reden: weil die Ge- setze seiner Natur so ausgiebig waren, daß sie hinreichten, um alles einem unendlichen Verstände Vorstellbare wirklich werden zu lassen". Alle möglichen Grade der Vollkommenheit sind ins Dasein getreten, auch Sünde und Irrtum, welche den untersten Grad repräsentieren. Das Universum bildet eine Kette von Vollkommenheitsgraden, deren keiner fehlen darf: das einzelne Mangelhafte wird gerechtfertigt durch die Voll- kommenheit des Ganzen, die ohne den untersten Wirklichkeitsgrad, ohne Laster und Bosheit, unvollständig wäre. ^ Wir sehen Spinoza einen Fuß- pfad wandeln, den Leibniz zu der Fahrstraße der Theodizee erweitern sollte. Beide huldigen der quantitativen Weltauffassung, welche die Gegensätze abschwächt und die Artunterschiede zu Gradunterschieden herabsetzt. Erst Kant hat die zuerst durch das Christentum in die Moral eingeführte qualitative Weltbetrachtung wieder in ihre Rechte eingesetzt. Eine Ethik, welche die Freiheit und das Böse leugnet, ist nichts als eine Physik der Sitten.

In der Staatslehre schließt sich Spinoza ziemlich eng an Hobbes an, 2 verwirft jedoch den Absolutismus und erklärt die Demokratie, in der jeder dem selbstgegebenen Gesetze gehorcht, für die vernunftgemäße Staatsform. (So in dem Theologisch-politischen Traktat, während er in dem späteren Politischen Traktat die Aristokratie vorziehe) Nach dem höchsten Rechte der Natur beurteilt jeder als gut und sucht sich zu verschaffen, was ihm nützlich scheint; jedem gehört alles, jeder darf zerstören, was er haßt. Infolge der sinnlichen Begierden und Affekte herrscht im Naturzustande Zwietracht [liomines ex natura hostes) und Un- sicherheit, die nur dadurch zu beseitigen ist, daß eine Gesellschaft ge- gründet wird, welche durch Strafe androhende Gesetze jeden zwingt, zu tun und zu lassen, was das allgemeine Wohl erheischt. Erst im Staate ist Streit und Untreue Sünde, vorher war Unrecht nur das, was niemand zu tun Lust und Macht hatte. Doch hat die bürgerliche Vereiniguns:

O OD

neben der Aufgabe, durch Verhütung von Übergriffen die selbstischen Interessen zu schützen, die höhere, der Entwickelung der Vernunft zu dienen: nur im Staate ist wahre Sittlichkeit und wahre Freiheit möglich, der Weise wird vorziehen, im Staate zu leben, weil er dort im höheren

1 Ähnlich Thomas v, Aquino, contra gentiles III, 71: noii eiiiiii implereniiir oiiines gradtis possibiles bonitatis. Auch bei Descartes begegnet uns der Gedanke in der vierten Meditation: ,, Gleichwohl kann ich nicht in Abrede stellen, daß im ganzen Universum eine größere Vollkommenheit herrscht, wenn einige seiner Teile von Irrtum nicht frei sind, andere es sind, als wenn alle einander völlig glichen."

2 Vergl. H. C. Sigwart, Vergleichung der Rechts- und Staatstheorien des Spin, u. Hobbes, Tüb. 1842. Treffend hebt K. Fischer (I, 23 S. 443) unter Hinweis auf den Eingang des 50, Briefes und auf Tract. pol. 3, 2 noch den wesentlichen Unter- schied hervor, daß dem Spinoza der Staat nicht wie dem Hobbes als das aufgehobene, sondern als das verwirklichte Naturrecht gilt.

Spinoza.

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Grade frei ist, als in der Einsamkeit. So wiederholt sich in der Politik dieselbe Verschiebung der Begriffe, die in der Ethik wahrzunehmen ist. Zuerst wird die Tugend auf den Selbsterhaltungstrieb basiert, das Gute dem individuell Nützlichen gleichgesetzt, sodann, mit Umwandlung des bloßen Nutzens in den „wahren" Nutzen, das Moment der Vernunft (zunächst als praktische Klugheit, weiterhin als Erkenntnistrieb, hierauf in allmählicher Umdeutung als sittliche Weisheit) eingeschoben, bis end- lich, in seltsamem Kontrast mit dem naturalistischen Ausgang, der christliche Tugendbegriff der Reinheit, Selbstverleugnung, Nächstenliebe und Gottesliebe erreicht ist. Dementsprechend „denkt Spinoza über den Ausgangspunkt des Staates naturalistisch, über die Höhe desselben idealistisch". '

Die Grundgedanken des spinozistischen Systems , auf denen seine Bedeutung ruht, sind der Rationalismus, der Pantheismus, die wesentliche Identität der körperlichen und der geistigen Welt, der lückenlose Mechanis- mus des Geschehens. Von den unaufgeklärt gebliebenen Schwierigkeiten und Widersprüchen mögen, außer den eben erwähnten Umbiegungen der ethischen Begriffe, die auffallendsten kurz berührt werden. Es besteht ein Zwiespalt zwischen dem Bestreben des Denkers, das Absolute hoch über die Erscheinungswelt der Einzelexistenzen hinauszuheben, und dem gleichzeitigen, es derselben möglichst nahe zu rücken und ihr einwohnen zu lassen; ein Zwiespalt zwischen transzendenter und immanenter Fassung des Gottesbegriffs. Des zu entgegengesetzten Auslegungen ermunternden Doppelcharakters der Attribute (als Auffassungsformen des Verstandes und als realer Eigenschaften der Substanz) wurde schon oben gedacht. Auch streitet mit der behaupteten Identität der Attribute in der Sub- stanz das Verhältnis ausschließenden Gegensatzes, in das Ausdehnung und Denken zueinander gestellt werden, und das Durchsichselbstbestehen der Attribute.- Wir erhalten ferner keine Aufklärung über das Ver- hältnis zwischen den primären und den sekundären Ursachen, zwischen der unmittelbaren und der durch endliche Ursachen vermittelten gött- lichen Kausalität. Es besteht ein Widerstreit zwischen der Unendlichkeit Gottes und seiner adäquaten Erkennbarkeit durch den Menschen: wie vermag ein endlicher und vergänglicher Geist das Unendliche und Ewige zu denken? Wie entmodalisiert sich der menschliche Intellekt, um sich innerhalb der allgemeinen Kausalität zu isolieren und der mystischen Vereinigung mit Gott fähig und würdig zu werden?

1 C. Schindler in seiner, allerdings nicht bis zur vollen Tiefe der Sache hinab- steigenden Dissertation ,,Über den Begriff des Guten und Nützlichen bei Spinoza," Jena 1885, S. 42. Vergl. EuCKEN, Lebensanschauungen, S. 406.

- Vortrefflich hat Camerer (Spin. u. Schleierm., S. Il6f.) die mangelhafte Fassung und Durchführung des Identitätsgedankens und dessen Unausgeglichenheit mit der dualistischen Exklusivität der Attribute dargelegt.

120 Weiterbildung der cartesianischen Philosophie.

Von Holland nach Frankreich zurückkehrend, begegnen wir einer ähnlichen Verbindung von Cartesianismus und Mystik, wie wir sie dort gewahrten. Wenn beide Mächte bei Geulincx sich friedlich vertrugen, bei Spinoza den innigsten Bund schlössen, treten sie bei Blaise Pascal (1623 1662), der zuerst die religiöse Richtung einschlug, in einen ge- wissen Gegensatz. Spinoza lehrte: durch die Erkenntnis Gottes zur Liebe Gottes; bei Pascal heißt es: Gott wird nicht mit der Vernunft begriffen, sondern mit dem Herzen empfunden. Nachdem Pascal in seinen „Pro- vinzialbriefen" 1656 die Jesuiten angegriffen und die Nichtigkeit ihrer kasuistischen Moral aufgedeckt hatte, unternahm er, im Drange einer echten Frömmigkeit, den Versuch einer Philosophie des Christentums, der durch den frühen Tod des kränklichen Mannes unterbrochen wurde. Fragmentarische Vorarbeiten dazu wurden unter dem Titel Pensees de la re'li- gion 1669 von seinen Freunden, den Jansenisten, nicht ohne mildernde Änderungen, herausgegeben.^ Der von Arnauld und Nicole redigierten Logik vom Port-Royal {l'art de penser 1662) lag eine Abhandlung von Pascal zugrunde. Auf sein Denken, das sich nicht durch Klarheit, aber durch Tiefe und Schwung auszeichnet und sich nach französischer Art in der Antithese gefällt, haben Descartes, Montaigne und Epiktet Ein- fluß gehabt. In der Mathematik erblickt auch er das Vorbild aller Wissen- schaft: was die Geometrie übersteigt, übersteigt die Vernunft. Durch Anwendung der Mathematik auf die Naturerkenntnis erhalten wir eine weltliche Wissenschaft, die zwar sicher ist und beständig fortschreitet, 2 aber nicht befriedigt, denn sie sagt uns nichts über das Unendliche, das Ganze, ohne welches die Teile unverständlich bleiben. Darum ist die ganze Naturphilosophie nicht eine Stunde Arbeit wert. Über die mensch- liche Unwissenheit in den äußeren Dingen tröstet sich Pascal mit der Festigkeit der Sittenlehre.

Die Grundgedanken seiner Moralphilosophie sind folgende: In der Sünde hat uns die anerschaffene Liebe zu Gott verlassen und die Liebe zu uns selbst ihre Grenzen überschritten; der Hochmut hat uns dem

1 Nachdem bereits BossUT in seiner secfisbändigen Ausgabe der Werke Pascals (Haag 1779) einen verbesserten Text der ,, Gedanken" dargeboten hatte, machte Cousin 1842 auf die Notwendigkeit eines erneuten Rückganges auf das Originalmanuskript aufmerksam. Diesem Winke folgend veranstaltete Faugere 1844 eine neue Ausgabe des Hauptwerkes, ohne in der Anordnung der Bruchstücke das Richtige zu treffen. Von weiteren Neuausgaben der Pensces mit Einleitung und Anmerkungen sind be- merkenswert die von M. E. Havet, Paris 1866, und von AuG. Molinier, 2 Bde. Paris 1877 79.

2 Dieser unaufhörliche Fortschritt ist es, durch welchen sich die Vernunft vor den Naturwirkungen und den tierischen Instinkten auszeichnet. Während die Bienen ihre Zellen heute noch genau so bauen wie vor tausend Jahren, ist die Wissenschaft in unablässiger Ent^vickelung begriffen. Dies verbürgt uns, daß wir für die Unend- lichkeit bestimmt sind.

Pascal. Malebranche.

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Elend und der Selbstsucht überliefert. Unsere Natur ist verdorben, aber nicht unwiederbringlich verloren. Nach seinen Handlungen nichtig und verworfen, erscheint der Mensch erhaben und unbegreiflich nach seinen Aufgaben; in der Wirklichkeit ist er verabscheuungswürdig, groß nach seiner Bestimmung. Keine Philosophie oder Religion hat den Menschen zugleich in seiner Größe und seinem Elend so kennen gelehrt wie das Christentum : es heißt ihn seine Niedrigkeit erkennen, zugleich aber streben, Gott ähnlich zu werden. In Demut sollen wir die Welt verachten und auf uns selbst verzichten: um Gott zu lieben, mußt du dich selbst hassen. Die sittliche Besserung ist eine Tat der göttlichen Gnade, das Verdienst des menschlichen Willens besteht nur darin, daß er sich dieser nicht widersetzt. Gott verwandelt das Herz durch eine himmlische Süßigkeit, verleiht ihm die Einsicht, daß geistige Lust größer ist als fleischliche, und flößt ihm einen Ekel ein gegen die Reize der Sünde. Tugend ist, seine größte Lust in Gott oder im ewigen Gut zu finden. Wie die Sitt- lichkeit eine Sache der Empfindung, nicht des Denkens ist, so ist Gott, so sind selbst die ersten Grundsätze, auf denen die Gewißheit der Be- weise beruht, ein Gegenstand nicht der Vernunft, sondern des Herzens. Ein Gefühl, ein Glaube, ein Instinkt der Natur ist es, was uns der obersten unbeweisbaren Sätze versichert: les principes sesentent. Als Vertreter der Be- dürfnisse und Rechte des Herzens ist Pascal ein Vorläufer des großen Rous- seau. Daß er die Vernunft herabsetzt, um den Glauben zu erhöhen, begründet eine gewisse Verwandtschaft mit den Skeptikern seiner Nation, denen ihn Cousin und andere mit Unrecht beizählen ; vergl. auch M. Sierp in GuTBERLETs Philos. Jahrbuch II, i, 3, III 2 4, 1889 90. Von sonstigen Arbeiten über P. verzeichnen wir die Werke von H. Reuchlin 1840, G. Dreydorff 1870 und 1875, L. Lescoeur (Pascals philos. Methode) Dijon 1850, Ed. Droz, Paris 1886, R. Richter, P.s Moral- philosophie (AGPh. Bd. 12, S. 68) 1898, E. Boutroux, Paris 1900 und Kurt Warmuth, Das religiös-ethische Ideal P.s, Leipzig 1901; ders., Glauben und Wissen bei P. (AGPh. Bd. 15) 1902.

Nie. Malebranche (1638— 1715), Mitglied des von den Jesuiten bekämpften Oratoriums Jesu in Paris, vollendet die von Pascal einge- schlagene religiöse Richtung des Cartesianismus. Sein Denken ist von dem Streben beherrscht, cartesianische Metaphysik und augustinisches Christentum, jene beiden großen Mächte, die den Doppelhort seines Ordens bildeten, ineinander zu arbeiten. Drei Jahre vor seinem Tode erschienen die sämtlichen Werke, von denen J. Simon 1871 eine neue Ausgabe in vier Bänden veranstaltete. Das Hauptwerk De la recherche de la veiite kam 1675 heraus (neue Ausgabe von F. Bouillier 1880), es folgten der Traite de morale (neue Ausgabe von H. JOLY 1882) und die Meditations chretiennes et metaphysicjues 1684, die Entretiens sur la me'ta- plivsiqjie et sur la religion i688 und verschiedene Streitschriften. Über

J28 Weiterbildung der cartesianischen Philosophie.

ihn Leon Olle-Laprune, La Philosophie de Mal. (von der Acad. des Sciences morales preisgekrönt), 2 Bde. 1870 72; Henri Joly 1901; J. Reiner, Mal.s Ethik, Berlin 1896.

Das Bekannteste aus der Lehre des Malebranche ist der Satz, daß wir alle Dinge in Gott schauen (que nous voyons toutes choses en Dien, Recherche III, 2, 6). Was bedeutet er und wie wird er begründet? Er will die Frage beantworten: wenn Geist und Körper, wie Descartes nach- gewiesen, zwei grundverschiedene und voneinander gänzlich unabhängige Substanzen sind, wie ist es da möglich, daß der Geist den Körper erkennt?

Wer die Wahrheit sucht, muß sich zuerst die Entstehung des Irr- tums klar machen. Es gibt zwei, genauer fünf Quellen des Irrtums, ebenso viele, als es Seelenvermögen gibt. Er kann aus dem Vorstellungs- oder aus dem Begehrungsvermögen entspringen, und im ersten Falle aus der sinnlichen Wahrnehmung, der Einbildungskraft oder dem reinen Verstände, im zweiten Falle aus den Neigungen oder den Leidenschaften. Neigung und Leidenschaft erschließen uns nicht das Wesen der Dinge, sondern drücken nur aus, wie sie uns affizieren, was sie uns wert sind. Aber auch Sinn und Einbildung geben nur den Eindruck wieder, den die Dinge auf uns Empfindende machen, sagen nur, was sie für uns, nicht was sie an sich sind. Die Sinne sind uns bloß zur Erhaltung unseres Körpers gegeben, und solange man von ihnen nichts als eine praktische Belehrung über das (dienliche oder schädliche) Verhältnis der Dinge zu unserem Leibe erwartet, liegt kein Grund vor, ihnen zu miß- trauen : hier täuscht uns nicht die Empfindung, sondern höchstens das voreilige Urteil des Willens. „Betrachte die Sinne als falsche Zeugen in betreff der Wahrheit, aber als zuverlässige Berater in Hinsicht auf den Nutzen des Lebens!"

Sensation und Imagination kommen der Seele zu vermöge ihrer Ver- bindung mit einem Körper, abgesehen von dieser ist sie reiner Geist. Das Denken ist das Wesen der Seele, denn diese Tätigkeit ist die einzige, welche man von ihr nicht wegdenken kann, ohne sie selbst aufzuheben. Daher kann es keinen Moment im Leben der Seele geben, wo sie auf- hörte zu denken, sie denkt immer (rdme pense toujours), nur daß sie nicht immer eine Erinnerung davon hat. Das reine Verstandesdenken ist nun auch das Organ der theoretischen Forschung, und man hat hauptsäch- lich darauf zu achten, daß es von der Trübung durch sinnliche Bilder frei bleibe.

Die Erkenntnisarten sind verschieden je nach der Klasse der Objekte. Von Gott haben wir eine unmittelbare, intuitive Erkenntnis. Er ist das notwendige und uneingeschränkte Sein, das allgemeine, unendliche Wesen, das Wesen schlechthin; er allein wird durch sich selbst erkannt. Der Begriff" des Unendlichen ist die Voraussetzung des Begriffes des Endlichen, wir haben jenen früher als diesen; der Begriff" eines besonderen Dinges

Malebranche.

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entstellt uns erst dadurch, daß wir von dem des „Wesens im allgemeinen" etwas weglassen oder ihn einschränken. Gott ist denkend wie die Geister und ausgedehnt wie die Körper, aber auf eine ganz andere Weise als die Geschöpfe. Die eigene Seele erkennen wir durch das Bewußt- sein oder die innere Empfindung. Von ihrer Existenz zwar haben wir eine sichere, von ihrer Natur jedoch eine minder vollkommene Kenntnis als von derjenigen der Körper. Um zu wissen, daß sie der Empfindungen des Schmerzes, der Wärme, des Lichtes fähig ist, muß man solche in sich erlebt haben. Für die Erkenntnis fremder Geister sind wir auf Vermutungen, auf Analogieschlüsse von uns aus angewiesen.

Wie aber vermag die unausgedehnte Seele den ausgedehnten Körper zu erkennen? x\llein durch das Medium der Ideen. Die Idee steht als ein Mittleres zwischen dem Gegenstande, dessen Urbild und der Vorstellung in der Seele, deren Ursache sie ist. Die Ideen, nach deren Muster Gott die Dinge geschaffen hat, und die Verhältnisse zwischen ihnen (die notwendigen Wahrheiten) sind ewig, also unverursacht, sie bilden Gottes Weisheit und sind von seinem Willen abhängig. Die Dinge sind in urbildlicher Form in Gott und werden durch diese ihre Urbilder in Gott erkannt. Weder sind es die Körper, welche durch Aus- sendung sinnlicher Bilder ^ die Ideen hervorbringen, noch ist es die Seele, die sie erzeugt oder als angeborenes Eigentum besitzt. Sondern Gott ist die Ursache der Erkenntnis, ohne daß er die Idee der Seele aner- schüfe oder in jedem einzelnen Falle in ihr erzeugte. Die Ideen oder Vollkommenheiten der Dinge sind in Gott und werden von den Geistern, die ebenfalls in Gott als der allgemeinen Vernunft wohnen, erblickt. Wie der Raum der Ort der Körper, so ist Gott der Ort der Geister. Wie die Körper Modi der Ausdehnung, so sind die Ideen derselben Modi- fikationen der Idee der Ausdehnung oder der „intelligiblen Ausdehnung". Der vorausgeschickte Satz, daß die Dinge in Gott geschaut werden, wird also folgendermaßen begründet: wir erkennen die Körper (durch Ideen, die Ideen und wir selbst sind) in Gott.

Bestand die Wahrheitserkenntnis darin, daß man die Dinge so sieht, wie Gott sie sieht, so besteht die Sittlichkeit darin, daß man die Dinge so liebt, wie Gott sie liebt, oder, was dasselbe heißt, in dem Maße liebt,

1 Malebranches Widerlegung der peripatetischen Bilderhypothese ist scharfsinnig und enthält noch heute Beachtenswertes. Wenn die Körper ihnen ähnliche Formen zu den Sinnesorganen hinschickten, so müßten diese, offenbar selbst körperlichen Ab- bilder sowohl bei ihrer Ablösung die Masse des Körpers, von dem sie sich trennen, vermindern, als auch, vermöge ihrer Undurchdringlichkeit, einander durchkreuzen und stören und damit deutliche Eindrücke unmöglich machen. Eine weitere Instanz gegen die Bildertheorie bildet die mit der Annäherung an das Objekt wachsende Größe desselben. Vor allem ist nie begreiflich zu machen, wie sich Bewegung je in Em- pfindung oder Vorstellung verwandeln könne.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. g

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Weiterbildung der cartesianischen Philosophie.

als sie es verdienen gemäß ihrer größeren oder geringeren Vollkommen- heit. War alles Wissen letzten Endes Gotteserkenntnis, so ist alles Wollen ein Gott Lieben; allen Kreaturen ist die Richtung zum Schöpfer eingepflanzt. Gott ist nicht nur das Urwesen, das uneingeschränkte Sein, er ist zugleich das höchste Gut, das letzte Ziel alles Strebens. Wie die Ideen der Dinge unvollkommene Partizipationen oder Determinationen des allgemeinen Seins, der absoluten Vollkommenheit Gottes, so sind die besonderen auf Einzeldinge gerichteten Begierden Einschränkungen des allfiemeinen Willens zum Guten. Wie kommt es, daß der Wille des Menschen so vielfach seine Grundrichtung auf Gott verkennend sich auf vergängliche Güter heftet, wertlose Objekte den wertvollen, irdische Lust der himmlischen vorzieht? Die Seele ist einerseits mit Gott, andererseits mit einem Leibe verbunden. Auf der Verbindung mit dem Körper beruht die Möglichkeit von Irrtum und Sünde, indem sich zu den Ideen (als den Vorstellungen des reinen Verstandes) sinnliche Bilder, die sich mit ihnen mischen und sie trüben, zu den Neigungen aber {oder dem Willen der Seele, sofern sie reiner Geist ist) Leidenschaften hinzugesellen. Doch nur die Möglichkeit der unsittlichen, sinnlichen, gottabgewandten Gesinnung ist hiermit gegeben, wirklich wird sie allein durch die freie Tat des Men- schen, wenn er die Prüfung nicht besteht. Denn nicht Leidenschaften haben, sondern ihnen zustimmen ist Sünde. Daß Leidenschaften in uns vorhanden sind, bewirkt Gott; daß wir ihnen nachgeben, dafür sind w i r verantwortlich.

Den Hintergrund dieser Ethik bildet die okkasionalistische Theorie. Die Leidenschaft und die Sinnesempfindung wird von der materiellen Bewegung, auf welche sie eintritt, und die Gliederbewegung von dem Willensentschluß, dem sie folgt, nur veranlaßt, nicht bewirkt. Zum Be- wirken nämlich würde ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem vorhergehenden und dem folgenden Ereignis gehören; von einem solchen aber bemerken wir nichts in allen den Fällen, wo nach der populären Ansicht der Leib auf die Seele wirkt oder umgekehrt, ja nicht einmal da, wo Körper auf Körper durch Stoß zu wirken scheint. Die einzige wahrhafte Ursache alles Geschehens ist Gott. Er ist es, der (durch unveränderliche Naturgesetze) in der Seele den Affekt und die Wahr- nehmung, in der Körperwelt die Bewegung hervorruft. Denn der Körper hat nur die Fähigkeit, bewegt zu werden; die Seele aber kann darum die Ursache seiner Bewegung nicht sein, weil sie sonst wissen müßte, wie sie dieselbe erzeugt. Tatsächlich hat der nicht medizinisch Gebildete keine Vorstellung davon, was dabei in den Nerven und Muskeln vorgeht ; und wer hierüber anatomische Kenntnisse besitzt, vermag sie doch bei der Ausführung seiner Leibesbewegungen nicht zu verwerten. Wir können ohne Gott nicht die Zunge rühren. Er ist es, der unseren Arm hebt, selbst wenn wir ihn gegen seine Ordnung brauchen.

Malebranche. Poiret.

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Malebranche, bemüht, seinen Pantheismus vor der Gleichsetzung mit dem des Spinoza zu schützen, weist darauf hin, daß nach ihm das Universum in Gott, nicht, wie bei jenem, Gott im Universum sei, daß er eine Schöpfung lehre, die jener leugne, daß er, was jener unterlassen, zwischen der Welt in Gott (den Ideen der Dinge) und der Welt der Kreaturen, zwischen der intelligiblen und der körperlichen Ausdehnung unterscheide. Man kann hinzufügen, daß er eine Freiheit Gottes und der Menschen behauptet, die Spinoza verwirft, daß er den alles wirken- den Gott nicht als Natur, sondern als allmächtigen Willen faßt. Den- noch nähert er sich, wie K. Fischer gezeigt hat, dem Naturalismus des Spinoza mehr, als ihm bewußt ist, indem er die endlichen Dinge für Ein- schränkungen (also Modi) des göttlichen Seins erklärt, den Willen Gottes in Abhängigkeit von der Weisheit Gottes (der ungeschaffenen Ideenwelt) setzt, somit in seiner Allmacht einschränkt, und, was das Entscheidende ist, Gott zum alleinigen Urheber der Bewegung, d. h. da er den endlichen Dingen jede Wirkungsfähigkeit abspricht zu einer Natur- ursache macht. Der Versuch eines christlichen Pantheismus ist mithin nicht geglückt. Dies Mißlingen erschüttert jedoch nicht den wohlbe- gründeten Ruhm des tiefsinnigen Mannes, der zweitgrößte Metaphysiker Frankreichs zu sein.

Pierre Poiret^ (1646 1719) wurde dem Cartesianismus durch mystische Schriften (u. a. die der Antoinette Bourignon, die er 1684 86 in 19 Bänden veröffentlichte) und durch die Wahrnehmung der Konse- quenzen, zu denen derselbe in Spinoza geführt hatte, abwendig gemacht. Alles Erkennen ist ein Aufnehmen der Form des Gegenstandes. Des Menschen Vollkommenheit ruht mehr auf seinen passiven Fähigkeiten als auf der aktiven Vernunft, die sich mit bloßen Ideen, mit unwirklichen Schattenbildern beschäftigt; der Geist der Mathematik führt zum Fatalis- mus, zur Freiheitsleugnung. Die ersteren dagegen stehen in direktem Verkehr mit der Realität, die Sinne mit den äußeren, materiellen Ob- jekten, das Innerste des Gemüts, der Grund der Seele, die Intelligenz mit den geistigen Wahrheiten und mit Gott, dessen Existenz gewisser ist

1 Poiret: Gedanken über Gott, die Seele und das Böse, zuerst 1677, in den späteren Ausgaben (1685, 1715, in der 3. Aufl. ein Verzeichnis der Schriften) findet sich ein heftiger Angriff gegen den Atheismus des Spinoza; Göttliche Ökonomie 1687; Über die echte, die oberflächliche und die falsche Bildung, mit einer Einleitung über die wahre Methode 1692; Vorwort zu dem anonymen Werke: Glaube und Ver- nunft (gegen Locke) 1707. Posthttma Poireti 1721, darin eine Lebensbeschreibung. P. war in Metz geboren, studierte in Basel und Heidelberg, bekleidete 1672 76 ein Pfarramt in Anweiler, lernte in Hamburg die Bourignon (f 1680) kennen, deren steter Begleiter er wurde, lebte nach ihrem Tode acht Jahre in Amsterdam und starb in Rhynsburg bei Leyden. Von ihm rührt der anonyme Nekrolog auf die Bourignon her, der 1685 in den Nouvelles de la rcp. des lettres (lateinisch in G. Arnolds Kirchen- u. Ketzergeschichte, Teil 4) erschien. Über P. Erlanger Diss, v. Fleischer 1894.

9 *

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Weiterbildung der cartesianischen Philosophie.

als die unserige. An der Entwickelung des höchsten Geistesvermögens ist der Mensch nicht unbeteiligt, er soll sich in aufrichtiger Demut der göttlichen Erleuchtung hingeben. In Unterordnung unter die leidende Intelligenz soll auch das äußere Vermögen, die aktive Vernunft, kultiviert werden, in demselben Maße wie die Haut Pflege verdient. Das Böse besteht in dem Widersinn, daß das Geschöpf, welches ohne Gott nichts ist, sich ein selbständiges Dasein zuschreibt.

Zwischen den Begründern des Skeptizismus und seinem genialsten Vertreter Bayle vermitteln die bereits (S. 45) genannten Le Vayer und Huet, von denen der letztere eine Kritik der cartesianischen Philosophie 1689, außerdem einen erst nach seinem Tode herausgekommenen Traktat über die Schwäche des menschlichen Geistes, geschrieben hat. Er wendet sich unter anderem gegen das Wahrheitskriterium der Evidenz, da es auch eine von der des Wahren nicht zu unterscheidende Evidenz des Falschen gebe, sowie dagegen, daß Gott durch die A^erleihung einer schwachen und blinden Vernunft zum Betrüger werde, denn er gebe uns zugleich die Fähigkeit, die Trüglichkeit derselben zu erkennen. Über Huet: Barach 1862.

Als der letzte unter den von Descartes beeinflußten, aber über ihn hinausgehenden Männern sei der scharfsinnige Pierre Bayle (1647 1705, Professor in Sedan und Rotterdam; Werke 1725 1731) ^ genannt, der noch mehr als durch seine Flug- und Streitschriften durch die Monats- schrift Nouvelles de la i'epublique des Icttres seit 1684 und das zweibändige Dictionnaire historique et critique 1695 und 1697 die literarische Welt in die lebhafteste Erregung versetzte. Nirgends wohnen die härtesten Gegen- sätze so nahe beieinander wie im Kopfe Bayles. Er beherbergt neben stets wachem Zweifelstrieb den regsten Wissenseifer, neben aufrichtiger Gläubigkeit (welche Lange, Zeller und Pünjer mit Unrecht bean- standen) eine dämonische Lust an der Aufzeigung von Widersinnigkeiten in den Glaubenslehren, neben unbedingtem Vertrauen auf die Unfehl- barkeit des Gewissens eine vollkommen pessimistische Ansicht über die Sittlichkeit des Menschen. Seine Stärke ist die Kritik und die Polemik, die letztere richtet sich (außer gegen den Fanatismus und die Verfolgung Andersgläubiger) hauptsächlich gegen den Optimismus und die deistische Vernunftreligion, welche die christlichen Dogmen für beweisbar oder doch Glauben und Wissen für vereinbar hält. Die Glaubenslehren sind nicht nur übervernünftig, unbegreiflich, sondern widervernünftig: gerade hierauf beruht die Verdienstlichkeit ihrer Annahme. Die Mysterien des Evan- geliums wollen gar nicht vor dem Richterstuhl des Denkens bestehen, sie verlangen blinde Unterwerfung der Vernunft; wären sie Objekte des

1 Über Bayle: L. Feuerbach 1838, 2. Aufl. 1844; Eucken in der AUgem. Zeitung Beilage Nr. 251 252 vom 27. u. 28. Oktober 1891.

Bayle.

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Wissens, hörten sie ja auf, Geheimnisse zu sein. Man muß also zwischen Religion und Philosophie wählen, vereinigen lassen sie sich nicht. Für jemanden, der von der Unzuverlässigkeit der Vernunft und ihrer Inkompetenz in übernatürlichen Dingen überzeugt ist, ist es keineswegs ein Widerspruch und eine Unmöglichkeit, etwas, was jene für falsch er- klärt, dennoch für wahr zu halten; er wird Gott danken für die Wohl- tat eines Glaubens, der ganz unabhängig ist von der Klarheit der Objekte und seiner Übereinstimmung mit den philosophischen Axiomen. Auch in rein wissenschaftlichen Fragen will Bayle, wenn er überall Schwierig- keiten hervorhebt und Widersprüche nachweist, keineswegs das Wider- spruchsvolle als unrichtig, sondern nur als ungewiß hinstellen. ^ Die Vernunft so sagt er. Persönliches verallgemeinernd vermag nur niederzureißen, nicht aufzubauen, nur den Irrtum aufzudecken, nicht die Wahrheit zu finden, nur Gründe und Gegengründe aufzuspüren. Streit und Zweifel zu erregen, nicht Gewißheit zu gewähren. Solange sie sich mit der Widerlegung des Falschen begnügt, ist sie kräftig und heilsam, wenn sie aber, die göttliche Hilfe verschmähend, darüber hinausgeht, wird sie gefährlich, wie eine scharfe Medizin, die, nachdem sie das kranke Fleisch verzehrt hat, auch das gesunde angreift.

Wer die Skepsis widerlegen will, muß ein Kennzeichen der Wahr- heit aufzeigen. Gibt es ein solches, so ist es sicherlich das von Des- cartes aufgestellte der Evidenz, der einleuchtenden Klarheit eines Satzes. Wohlan, für evident gelten die Sätze, daß jemand, der nicht existiert, keine Schuld an einer bösen Tat tragen kann, daß zwei von einem dritten nicht verschiedene Dinge auch untereinander nicht verschieden sind, daß ich heute derselbe Mensch bin, der ich gestern war; die offen- barten Lehren von der Erbsünde und von der Trinität zeigen, daß das erste und zweite Axiom falsch, das kirchliche Dogma von der Er- haltung der Welt als einer fortdauernden Schöpfung, daß der letzte Satz ungewiß ist. Wenn wir also nicht einmal in der Evidenz ein Kriterium der Wahrheit besitzen, so gibt es überhaupt keins. Was ferner die Ent- stehung der Welt aus einem einzigen Prinzip, ihre Schöpfung durch Gott betrifft, so sprechen zwar die Gründe der reinen Vernunft und die Be- trachtung der Natur für diese Annahme, die Tatsache des Übels aber, der Mensch in seinem Elend und seiner Schlechtigkeit, dagegen. Ist es

1 So findet er es hinsichtlich des Freiheitsproblems schwer faßlich, wie die Kreatur, die nicht Urheber ihrer Existenz sei, Urheber ihrer Handlungen sein könne, zugleich aber unzulässig, Gott als Ursache des Bösen zu denken. Er will nur die Uubeweisbarkeit und Unbegreiflichkeit der Freiheit darlegen, nicht sie verwerfen. Denn er erblickt in ihr die Bedingung der Sittlichkeit und hebt hervor, daß die Schwierigkeiten, in die sich die Freiheitsleugner verstricken, noch weit größer sind. Dem Determinismus und Pantheismus des Spinoza zeigt er sich durchaus ab- geneigt.

134 Bayle. Locke.

denkbar, daß ein gütiger und heiliger Gott ein so unglückliches und böses Wesen schuf?

Was Bayle für den Glauben gegen das Wissen eintreten ließ, war einesteils persönliche Frömmigkeit, anderenteils die Überzeugung von der unantastbaren Reinheit der christlichen Sittenlehre. Hinsichtlich der Moral stimmen alle Sekten überein, sie ist es auch, die uns der Göttlichkeit der christlichen Offenbarung versichert. Gleichwohl verhehlt er sich nicht, daß der Besitz der theoretischen Seite der Religion keineswegs eine ihren Vor- schriften entsprechende Praxis verbürge. Weder führt der Glaube allein zur Sittlichkeit, noch ist die Ungläubigkeit der Grund der Unsittlichkeit. Ein Staat von Atheisten wäre durchaus nichts Unmögliches, wenn nur auf strenge Strafen und Ehrbegriffe gehalten würde.

So schwach und begrenzt sich die Fähigkeit der natürlichen Vernunft auf dem Gebiete der theoretischen Wissenschaft erweist, so sicher und irr- tumsfrei sind ihre Urteile über das Moralische. Die Idee der Sittlichkeit täuscht niemanden, das Moralgesetz ist jedermann angeboren. Wenn nun auch das Christentum unsere Pflichten am besten entwickelt hat, so kann doch das Sittengesetz ^on allen Menschen, auch von den Heiden und Atheisten, eingesehen und befolgt werden: man braucht nicht Christ zu sein, um tugendhaft zu handeln, die Einsicht des Gewissens hängt nicht von der Offenbarung ab. Allerdings vom Erkennen zum Ausführen des Guten ist noch ein gewaltiger Schritt, man kann von der sittlichen Wahrheit überzeugt sein, ohne sie zu lieben, und gegen die Macht der Leidenschaften vermag nur Gottes Gnade zu stärken, indem sie zur Er- leuchtung des Geistes eine Herzensneigung zum Guten hinzufügt, Tempe- rament, Gewohnheit, Eigenliebe bewegen die Seele stärker als allgemeine Wahrheiten.

So wie das Vergnügen im Leben weit überwogen wird von Schmerz und Verdruß, so werden weit mehr schlechte Handlungen vollbracht als gute: die Geschichte ist eine Sammlung von Untaten, auf tausend Ver- brechen kommt kaum eine tugendhafte Tat. Nicht die äußere Handlung macht den sittlichen Charakter der Tat aus, sondern das Motiv oder die Gesinnung; Almosen geben, wenn es aus Eitelkeit geschieht, ist ein Laster, und nur wenn aus Nächstenliebe, eine Tugend. Gott blickt allein auf den Willensakt, und die erste und ausnahmslose Pflicht ist, nie gegen das Gewissen zu handeln.

Viertes Kapitel. J. Locke.

Nachdem die cartesianische Philosophie die Tendenzen des modernen Denkens in entscheidender Form zum Ausdruck 2;ebracht und im Okka-

Locke.

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sionalismus ihre Fortbildung, im System des Spinoza ihre Vollendung er- halten hatte, bestand die Weiterentwickelung darin, daß die Grundsätze des Descartes, einseitig rationalistisch und abstrakt wissenschaftlich, wie sie waren, einerseits durch Hereinnahme des von jenem vernachlässigten empirischen Elementes ergänzt, andererseits durch popularisierende An- näherung an die Interessen des praktischen Lebens der allgemeinen Bildung zugänglich gemacht wurden. Für beide Aufgaben war das glücklicher und freier politischer Zustände sich erfreuende England der tauglichste Ort, und Locke, der Typus der gesunden, nüchternen, Extremen abholden Geistesart des Engländers, der geeignetste Kopf. Hatte der Rationalist Descartes die Erfahrung, der Empirist Baco die Mathematik verachtet, so will Locke zeigen, daß allerdings das Organ der Wissenschaft die Vernunft, ihre Form die Demonstration und der Bereich der Erkenntnis weiter ist, als der der Erfahrung, daß aber jenes Organ und diese Form ihren Inhalt nur der Zufuhr von Ideenmaterial aus den Sinnen verdanken. Der Nach- druck liegt freilich mehr auf der zweiten Hälfte, und vollends die Nach- welt hat bei der Beurteilung der Lockeschen Erkenntnislehre fast aus- schließlich die empiristische Seite im Auge gehabt.

John Locke (sprich Lock') ist am 2g. Aug. 1632 in Wrington un- weit Bristol geboren. In Oxford beschäftigt er sich mit Philosophie, Naturwissenschaft und Medizin, abgestoßen von der Scholastik, gefesselt von den Schriften des Descartes. Ein Jahr lang Gesandtschaftssekretär in Cleve (1664), lernt er, nach Oxford zurückgekehrt, Lord Anthony Ashley (seit 1672 Earl von Shaftesbury, f i^ Holland 1683) kennen, der ihn als Freund, Arzt und Erzieher seines Sohnes (des Vaters des Moralphilosophen Shaftesbury) in sein Haus aufnimmt und mit dessen w^echselnden Schicksalen die seinigen sich eng verknüpfen. Zweimal macht ihn sein Gönner (1672, wo er Lordkanzler, und 1679, wo er Premierminister geworden) zum Sekretär, beide Male verliert er mit dessen Sturze sein Amt. Im Jahre 1668 geht Locke einige Monate als Reisebegleiter nach Frankreich und Italien, die Jahre 1675 79 verlebt er in MontpeUier und Paris. In Holland, wohin er 1683 dem flüchtenden Shaftesbury gefolgt, bleibt er^ nachdem jener gestorben, bis ihm 1689 die Thronbesteigung Wilhelms von Oranien die Rückkehr nach England ermöglicht. Ihm wird das Amt eines Kommissärs der Appellationen, später des Handels und der Plantagen (bis 1700) über- tragen. Ein angenehmer Lebensabend war ihm im Hause des mit einer Tochter des Philosophen Cudworth verheirateten Sir Masham in Oates (Essex) beschieden, wo er am 28. Oktober 1704 gestorben ist.

Das Hauptwerk, „Untersuchung über den menschlichen Verstand", dessen Plan schon 1670 entstanden war, wurde, nachdem Le Clercs all- gemeine Bibliothek 1688 einen kurzen Auszug daraus in französischer Sprache gebracht hatte, 1689 1690 veröffentlicht. (Neue Ausgabe von

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Locke.

Fräser, Oxford 1894; deutsche Übersetzungen sind in Kirchmanns Philos. Bibliothek und bei Reclam erschienen.) Der theoretischen Philo- sophie gehören ferner an die beiden nachgelassenen Schriften: On the conduct of the understanding (sollte ursprünglich der vierten Auflage des Hauptwerkes einverleibt werden, die jedoch 1700 ohne dieses, wohl zu lang geratene, Kapitel erschien; deutsch von J. B. Meyer: Leitung des Verstandes, 1883) und Elements of natural philosophy. Zur Politik und Volkswirtschaft lieferte Locke die Two treatises on governmejit 1690 und drei Abhandlungen zur Münzreform 1692 95. 1689 1692 erschienen drei Briefe über Toleranz. Es folgten Some thoughts on editcation 1693 (deutsch von E. v. Sallwürck 1883, 2. Aufl. 1897) und The reasonableness of christiaiiity 1695. Die sämtlichen Werke erschienen zum ersten Male 17 14, in 9 Bänden 1853, die philosophischen (von St. John) sind in die Sammlung Bohns Standard Library aufgenommen worden (1867— 1868).

Über Lockes Leben haben Lord King 1829, Fox EouRNE 1876 und Ed. Fechtner Stuttg. 1897, über seine Lehre E. Schärer 1860 geschrieben. Über L. den Vorläufer Kants handelt Drobisch in der Zeitschrift für exakte Thilos. 1861, eine Vergleichung der Lockeschen Erkenntnislehre mit der Leibnizischen Kritik geben Hartenstein 1865 und v. Benoit (Preisschrift) 1869, eine Darstellung seiner Substanzenlehre de Fries 1879, eine Zusammenstellung und Untersuchung seiner Logik Ed. Martinak (1887 und) 1894. Victor Cousins Philosophie de Locke hat sechs Auflagen erlebt. Vergl. auch Th. Fowler, Locke 1880; A. C. Fräser, Locke (in Blackivood's philos. classics) 1890; E. Mattiesen, Über philosophische Kritik bei Locke und Berkeley, Leipziger Doktordiss., Dorpat 1897; W. P. Schumann, ünendlichkeitsbegriff bei Locke, Leipz. Diss. 1897; Fr. Lezius, Der Toleranzbegriff Lockes und Pufendorfs (in Bonwetsch u. Seebergs Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche) 1900; Georg Jaeger, Locke, eine kritische Untersuchung der Ideen des Liberalismus und des Ursprungs nationalökonomischer Anschauungs- formen (AGPh. Bd. 17) 1904.

1. Theoretische Philosophie oder Erkenntnislehre.

Die Erkenntnistheorie des Locke steht unter einem zwiefachen Impulse, dem einheimischen des baconischen Empirismus und dem kontinentalen der cartesianischen Frage nach dem Ursprung der Vorstellungen. Bacon hatte für den Gewinn eines fruchtbaren Wissens den engsten Anschluß an die Erfahrung gefordert. Locke begründet diese Empfehlung der Erfahrung durch eine ausgeführte Beschreibung dessen, was sie für das Wissen leistet, nämlich durch den Nachweis, daß die Wahrnehmung in den einfachen Ideen den Stoff liefert für die zusammengesetzten Ideen und das gesamte Erkenntnisgeschäft des Ver- standes. Descartes hatte die Vorstellungen nach ihrem Ursprung in selbst- gebildete, von außen kommende und angeborene eingeteilt (S. 81) und der letzten Klasse den höchsten Wert zugesprochen. Locke bestreitet, daß es einen uranfänglichen Vorstellungsbesitz des Verstandes gebe, und

Theoretische Philosophie oder Erkenntnislehre.

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läßt denselben die Elemente der Erkenntnis allein auf dem Wege der Sinnlichkeit, also von außen, empfangen. Er ist Vertreter des Sensualis- mus — nicht in dem erst von den Fortsetzern seiner Bestrebungen inten- dierten strengen Sinne, daß das Denken aus der Wahrnehmung ent- springe, ein umgewandeltes Empfinden sei, aber in dem weiteren Sinne, daß das Denken (freitätig) mit Vorstellungen operiere, die es weder schaffe noch ursprünglich in sich vorfinde, sondern von der Wahrnehmung sich geben lasse, demnach der Erkenntnisprozeß mit der Empfindung, also einem passiven Verhalten beginne. Auf Anlaß des cartesianischen Problems, welches er im entgegengesetzten Sinne beantwortet, ergänzt Locke den Empirismus des Baco durch den Unterbau einer psycholo- gischen Erkenntnislehre. Daß Locke im Verlauf der Untersuchung ein neues Prinzip einführt, das ihn vom empiristischen Wege abbiegen läßt, wird sich später zeigen.

Die Frage „woher stammen unsere Vorstellungen" wird zunächst (im ersten Buche des, Essay conceming human undersianding) T\&^dii\v he.- antwortet: es gibt keine angebornen Ideen oder Grundsätze {?io itinate principles in the mind)^. Die Lehre von dem Angeborensein gewisser Prinzipien stützt sich auf deren allgemeine Geltung. Die behauptete Übereinstimmung der Menschen hinsichtlich der logischen Gesetze, der sittlichen Vorschriften, der Existenz Gottes usw. ist weder als Be- weisgrund triftig, noch als Tatsache richtig. Erstens: selbst wenn es Erkenntnisse gäbe, denen jedermann zustimmte, so würde das noch nicht beweisen, daß dieselben der Seele anerschaffen seien; der Konsensus ließe sich anders erklären. Einmal zugestanden, daß es keine Atheisten gebe, so brauchte die allgemeine Überzeugung vom Dasein Gottes nicht an- geboren, sie könnte von jedermann durch allmählichen Vernunftgebrauch erworben, etwa aus der wahrgenommenen Zweckmäßigkeit der Weltein- richtung erschlossen sein. Zweitens: das Faktum, auf welches sich die Theorie von den angeborenen Ideen beruft, besteht gar nicht. Man kann uns keine moralische Regel nennen, die überall in Geltung stände; manche Sittenregeln werden nicht nur von Einzelnen, sondern von ganzen Völkern

1 Nach Fox Bourne ist dieses erste Buch später als die übrigen geschrieben worden. Geil (Über die Abhängigkeit Lockes von Descartes, Straßburg 1887, Kap. 3) hat nachzuweisen versucht, daß sich dasselbe, da die angegriffenen Argumente bei Descartes fehlen, nicht gegen diesen und seine Schule richte, sondern gegen ein- heimische Verfechter der angeborenen Ideen, nämlich Herbert von Cherbury und etwa die englischen Platoniker (Cudworth, More u. a.). Wie B. Erdmann in seiner Be- sprechung der Abhandlungen von G. Geil und R. SOMMER (Lockes Verhältnis zu Desc, Berlin 1887) im AGPh. IL, S. 99 121, und v. Hertling 1892 gezeigt haben, wendet sich Lockes Polemik dennoch hauptsächlich gegen die cartesianische Schule; irreführend war nur, daß Locke der gegnerischen Ansicht, ihr zu Hilfe kommend, sie gleichsam idealisierend, Beweisgründe leiht, die bei den Cartesianern nicht nach- weisbar sind.

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Locke.

verworfen. Angeboren sind nur das Verlangen nach Glück und die Scheu vor Unglück, die ohne Unterlaß all unser Handeln bestimmen, aber nicht Moralvorschriften, denn diese sind nicht selbstverständlich, sondern bedürfen eines Beweises zur Begründung ihrer Wahrheit und eines Grundes zur Erlangung ihrer Billigung; die Tugend aber wird ge- billigt, weil sie nützlich ist. Ferner: der Begriff der Selbigkeit ist den Laien und den Kindern völlig fremd. Wären die Prinzipien der Identität und des Widerspruches angeboren, so müßten sie vor allen übrigen Er- kenntnissen zum Bewußtsein kommen; aber lange bevor ein Kind den Satz erkennt „es ist unmöglich, daß ein Ding zugleich sei und nicht sei," weiß es, daß süß nicht bitter und schwarz nicht weiß ist. Die ersten Erkenntnisse sind nicht allgemeine Sätze und abstrakte Begriffe, sondern sinnliche Einzeleindrücke. Sollte die Natur eine so unleserliche Hand- schrift schreiben, daß die Seele erst spät zu entziffern vermöchte, was jene in sie eingetragen? Nun ist man mit der Ausrede bei der Hand, die angeborenen Begriffe und Grundsätze könnten durch Gewohnheit, Er- ziehung und ähnliche äußere Umstände verdunkelt und schließlich ganz erstickt werden. Wohlan, wenn sie allmählich entstellt werden und ver- schwinden, so müßten sie jedenfalls dort, wo jene trübenden Einflüsse noch nicht gewirkt haben, in ihrer vollen Reinheit anzutreffen sein; aber gerade bei den Kindern und Ungelehrten sucht man sie vergebens. Vielleicht aber. besitzen sie jene Sätze unbewußt; sie sind ihrem Verstände ein- geprägt, ohne daß sie auf dieselben achten? Das wäre ein Widerspruch. In der Seele oder im Verstände sein heißt so viel als verstanden oder gewußt werden: niemand kann eine Vorstellung haben, ohne von ihr zu wissen. Wollte man endlich den ursprünglichen Besitz in einer so weiten Bedeutung fassen, daß alle Wahrheiten darunter fielen, die der Mensch bei richtigem Gebrauch seiner Vernunft mit der Zeit zu erwerben oder zu entdecken fähig ist, so müßten nicht nur die mathematischen Erkenntnisse, sondern alle Wissenschaften und Künste für angeboren gelten; man würde sogar keinen Grund haben, Weisheit und Tugend davon auszuschließen. Also: entweder sind alle Vorstellungen an- geboren, oder keine. Diese Alternative ist wichtig. Während Locke sich für die zweite Hälfte entscheidet, tritt Leibniz für die erste ein mit feinsinniger Verwendung des Begriffs der unbewußten Vorstellung und des virtuellen Besitzes, den jener kurzer Hand verwirft.

Die positive Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Ideen gibt das zweite Buch. Sie liegen nicht von Anfang an im Verstände und werden nicht von ihm erzeugt, sondern aus der Empfindung em- pfangen. Der Verstand gleicht einem weißen Blatt Papier, auf welches die Wahrnehmung ihre Schriftzüge aufträgt. Alle Erkenntnis stammt aus der Erfahrung. Diese ist eine zwiefache, sie geschieht entweder durch die äußeren Sinne oder durch den inneren Sinn. Die Wahrnehmung

Theoretische Philosophie oder Erkenntnislehre. I og

äußerer Gegenstände heißt Sensation oder Empfindung, die der inneren Vorgänge (der eigenen Zustände des Geistes) Reflexion oder Selbst- wahrnehmung. Äußere und innere Wahrnehmung sind die einzigen Fenster, durch welche in die dunkle Kammer des Verstandes das Licht der Vorstellungen eindringt. Die beiden Fenster öffnen sich jedoch nicht zugleich, sondern das eine nach dem anderen; da die Wahrnehmungen der sinnlichen Eigenschaften der Körper nicht, wie die der eigenen Ver- standestätigkeiten, einer Anspannung der Aufmerksamkeit bedürfen, sind sie die früheren. Das Kind erhält eher Sensationsideen als Reflexions- ideen, die innere Wahrnehmung setzt die äußere voraus.

In der Scheidung von Sensation und refledion erkennen wir eine Nachwirkung des cartesianischen Dualismus von Körper und Geist. Aus dem Gegensatz der Substanzen ist eine Zweiheit von Wahrnehmungsver- mögen geworden. Während aber Descartes dem Geiste insofern den Vorrang eingeräumt hatte, als er die Selbstgewißheit des Ich für die oberste und einleuchtendste Erkenntnis, die Seele für bekannter als den Körper erklärte, hat sich bei Locke, der die Selbst\\'ahrnehmung von vor- heriger Empfindung äußerer Gegenstände abhängig macht, das Verhältnis umgekehrt. In der weitereu Entwickelung wird dieser Gegensatz noch verschärft, indem Condillac mit der bei Locke selbst ziemlich unwirksam bleibenden Priorität der Sensation vollen Ernst macht, Berkeley hin- gegen die äußere Wahrnehmung auf die innere reduziert. Locke ver- tritt noch nicht den vollen „Sensualismus", da er den inneren Sinn zwar später erwachen, aber nicht aus dem äußeren hervorgehen läßt: die Sensation ist bei ihm die ältere Schwester, nicht die IMutter der Reflexion.

Alle ursprünglichen Ideen sind Vorstellungen entweder der äußeren Sinne oder des inneren Sinnes oder beider. Da es nun bei den Ideen der Sensation einen Unterschied macht, ob sie nur durch einen äußeren Sinn oder durch mehrere perzipiert werden, so erhalten wir vier Arten von Elementarvorstellungen, i. Solche, die aus einem äußeren Sinne stammen, wie Farbe, Ton, Geruch, Geschmack, Wärme, Undurchdringlichkeit. 2. Solche, die aus mehreren äußeren Sinnen (Gesicht und Getast) ent- springen, wie Ausdehnung, Gestalt, Bewegung. 3. Die Reflexion auf die eigenen Tätigkeiten schenkt uns die Ideen des Denkens oder Vorstellens (mit seinen verschiedenen Arten: sich. Erinnern, Urteilen, Wissen, Glauben) und des Wollens oder Begehrens. 4. Auf allen Wegen der äußeren und inneren Wahrnehmung gelangen in die Seele die Vorstellungen der Lust und Unlust, des Daseins, der Kraft, der Einheit, der Sukzession. Dies ungefähr sind die Urvorstellungen, die sich zu unserer Erkenntnis verhalten wie die Buchstaben zur geschriebenen Rede: wie der ganze Homer aus nur 24 Buchstaben zusammengesetzt ist, so bilden diese wenigen einfachen Ideen den gesamten Stoff" unseres Wissens. Die Seele kann weder mehr noch kaim sie andere einfache Vorstellungen

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Locke.

haben, als die, welche ihr aus diesen beiden Quellen der Erfahrung zu- geführt werden.

Bezüglich der Ausdehnung und des Denkens gewahren wir eine zweite Abweichung von Descartes. Nicht die Ausdehnung macht das Wesen des Körpers, nicht das Denken das des Geistes aus. Aus- dehnung und Körper sind nicht dasselbe; sie wird von diesem als not- wendige Bedingung vorausgesetzt, aber sie allein ergibt erst den mathe- matischen Körper. Das Wesen des physischen Körpers besteht vielmehr in der Solidität: wo ich Undurchdringlichkeit habe, habe ich Körper und umgekehrt; beide sind schlechthin untrennbar. Anders die Räum- lichkeit. Ich kann mir zwar nicht einen unausgedehnten Körper, wohl aber eine unkörperliche Ausdehnung, einen unerfüllten Raum vorstellen. Bestände ferner das Wesen der Seele im Denken, so müßte sie, wie die Cartesianer behaupten, immer denken, müßte, sobald sie zu existieren anfängt, sogleich Ideen haben, was erfahrungsmäßig nicht der Fall ist. Das Denken ist für den Geist nur, was für den Körper die Bewegung, bloß eine Tätigkeit desselben, nicht sein konstituierendes IMerkmal. Die Seele erhält erst dadurch Vorstellungen, daß äußere Gegenstände durch ihre Eindrücke sie zu Wahrnehmungen veranlassen, deren sie sich nicht zu erwehren vermag. Der Verstand ist einem Spiegel vergleichbar, der ohne selbständige Tätigkeit und ungefragt die Bilder der Dinge auf- nimmt. Einige von den oben erwähnten einfachen Ideen spiegeln die Eigenschaften der Dinge so wieder, wie diese wirklich sind, andere nicht. Zur erstell Klasse gehören alle Vorstellungen der Reflexion (sind wir selbst doch das unmittelbare Objekt des inneren Sinnes), von denen der Sensation sind jedoch nur die aus verschiedenen Sinnen geschöpften, also Ausdehnung, Bewegung, Ruhe, Zahl, Figur und außerdem Solidität zu den primären Qualitäten zu rechnen, d. h. zu denen, welche wirkliche Kopien der körperlichen Beschaffenheiten sind. x\lle übrigen aber haben keine Ähnlichkeit mit den körperlichen Eigenschaften, sind nur Wirkungs- weisen, nicht Abbilder der Dinge. Die Vorstellungen der sekundären oder abgeleiteten Eigenschaften (hart und weich, heiß und kalt, farbig und tönend, riechend und schmeckend) werden gleich den primären letzthin durch Bewegungen verursacht, aber nicht als Bewegungen em- pfunden. Gelb und warm sind bloße Empfindungszustände in uns, die wir aus Mißverständnis auf die Objekte übertragen. INIit gleichem Rechte könnte man dem Feuer die Farbe- und Formveränderung, die es am Wachs, und den Schmerz, den es in dem nahegebrachten Finger hervor- bringt, als ihm selber zukommende Eigenschaften beilegen. Im Körper selbst existiert die Hitze und Helligkeit der Flamme, die Röte, der Wohlgeschmack und der würzige Duft der Erdbeere nur als eine Kraft, durch Reizung der Haut, des Auges, des Gaumens und der Nase in uns jene Empfindungen zu bewirken. Nimmt man die Wahrnehmung der- w

Theoretische Philosophie oder Ef kenntnislehre.

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selben hinweg, so verschwinden sie als solche und es bleibt nur ihre Ur- sache übrig: die Masse, Gestalt, Zahl, Verbindung und Bewegung der für uns nicht wahrnehmbaren kleinsten Teile der Körper. Der Grund der Täuschung liegt darin, daß die Qualitäten der Farbe usw. ihren wahren Ursachen vollkommen unähnlich sind, gar nicht auf sie hindeuten, in sich selbst nichts von Größe, Dichtigkeit, Gestalt und Bewegung enthalten, inid daß unsere Sinne zu schwach sind, um die materiellen Teilchen und ihre primären Eigenschaften wahrzunehmen. Die von der Atomistik des Altertums zuerst aufgestellte, von Galilei und Descartes an der Schwelle der Neuzeit erneuerte, von Locke festgehaltene und auch in der heutigen Naturwissenschaft noch übliche Unterscheidung von Eigen- schaften erster und zweiter Ordnung bildet das wichtige Übergangsglied ■von dem populären Standpunkt, der alle Sinnesqualitäten als Beschaffen- heiten der Dinge an sich behandelt, zu der Lehre Kants, daß auch die räumlichen und zeitlichen Qualitäten nur der Erscheinung anhaften, nur in der subjektiven Auffassungsweise des INIenschen begründet, die wahren Eigenschaften der Dinge an sich aber unerkennbar sind.

Bis hierher verhielt sich der Verstand rein passiv. Neben der Fähigkeit, die einfachen Ideen leidend zu empfangen, besitzt er die weitere Kraft, jene von außen hereingewanderten ursprünglichen Vor- stellungen mannigfach zusammenzusetzen und zu erweitern, das Em- pfindungsmaterial durch Vereinigung, Beziehung und Trennung der Ele- mente zu verarbeiten. Hierin ist er aktiv, aber nicht schöpferisch. Er ist nicht imstande, neue einfache Ideen zu bilden (ebensowenig, vor- handene zu vernichten), sondern nur die ohne sein Zutun von der Wahr- nehmung dargebotenen Elemente (im obigen Gleichnis: die einzelnen Buchstaben der Empfindung zu Silben und Wörtern) frei zu verbinden. Durch willkürliche Kombination der einfachen Vorstellungen {simple ideas) entstehen die zusammengesetzten {complex ideas).

Die Wahrnehmung war der erste Schritt zum Wissen. Das nach ihr unentbehrlichste Vermögen ist das Behalten, die längere Betrach- tung der gegenwärtigen und die Wiedererweckung der ^•e^schwundenen, gleichsam beiseite gelegten Vorstellungen. Eine Idee „ist im Gedächt- nis" heißt so viel als : die Seele hat die Fähigkeit, sie nach Belieben von neuem hervorzuholen, wobei sie dieselbe als vorher gehabte wieder- erkennt. Werden die Vorstellungen nicht mitunter durch neue gleichartige Eindrücke aufgefrischt, so verblassen sie allmählich, um endlich (wie die der Farben bei früh Erblindeten) vollständig zu \erschwdnden. Durch häufige Wiederholung befestigte Vorstellungen gehen selten ganz ver- loren. Das Gedächtnis ist die Unterlage für die Verstandestätigkeiten des Unterscheidens und Vergleichens, des Verbindens, Abtrennens und Benennens. Da es bei der zahllosen Menge von Ideen nicht möglich ist, jeder einzelnen ihr bestimmtes Zeichen zu geben, so ist die uner-

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Locke.

läßliche Bedingung für die Sprache die Gabe der Abstraktion, die Fähigkeit, Vorstellungen zu verallgemeinern, viele Ideen in eine zu- sammenzufassen und mit dem Worte für die abstrakten Begriffe {ge?ieral ideas) oder die Arten und Gattungen zugleich alle darunter enthaltenen Einzelvorstellungen zu bezeichnen. Hier öffnet sich die weite Kluft zwischen Mensch und Tier. Dem Tiere fehlt die Sprache, weil ihm (nicht der Verstand überhaupt, z. B. nicht eine, wenn auch mangelhafte Vergleichung und Verbindung, aber) das Vermögen des Absonderns und der Allgemeinvorstellung fehlt. Der Zweck der Sprache ist nur der, seine Gedanken anderen Menschen schnell und leicht mitzuteilen, nicht aber, das wirkliche Wesen der Gegenstände auszudrücken. Die Worte sind nicht Namen für Einzeldinge, sondern Zeichen für Allgemeinbegriffe, und die Abstrakta nichts als ein Kunstgriff zur Erleichterung des geistigen Verkehrs. Diese Abkürzung, welche den Gedankenaustausch begünstigt, führt die Gefahr mit sich, daß man die durch die Worte bezeichneten Gedankendinge für Bilder von wirklichen allgemeinen Wesen halte, die es in der Tat nicht gibt, es existieren in Wirklichkeit nur einzelne Dinge. Will ich verhüten, daß derjenige, zu dem ich rede, unter meinen Worten etwas anderes verstehe, als was ich mit ihnen auszudrücken be- absichtige, so muß ich die zusammengesetzten Vorstellungen durch Zer- legung in ihre Elemente definieren, die einfachen dagegen, die nicht definiert werden können, in der Erfahrung aufweisen oder durch Syno- nyma erläutern. Soviel aus der Sprachphilosophie, der Locke das dritte Buch gewidmet hat.

Die sehr große Anzahl der komplexen Ideen läßt sich in drei Gruppen ordnen: Modi, Substanzen, Relationen.

Modi (Zustände, Beschaffenheiten) heißen diejenigen Verbindungen einfacher Ideen, welche nicht als für sich bestehend, sondern als an einem anderen (einem Dinge als Träger derselben) vorkommend gelten. Sie zerfallen in zwei Arten, je nachdem sie aus gleichartigen oder un- gleichartigen Elementen zusammengesetzt sind: jene mögen reine oder einfache, diese gemischte [simple and mixed modes) genannt werden. Zu der ersten Klasse gehören z. B. Dutzend oder Schock, deren Vorstellung aus lauter Einheiten besteht, zu der zweiten Laufen, Kämpfen, Eigensinn, Buchdruck, Diebstahl, Vatermord. Auf die Schöpfung der gemischten Modi haben die Sitten der Völker großen Einfluß. Sehr komplizierte Vor- gänge (Kirchenraub, Triumph, Ostrazismus) erhalten, wenn oft an sie ge- dacht und von ihnen gesprochen wird, der Zeitersparnis halber einen zusammenfassenden Namen, der in der Sprache anderer Völker, denen die betreffende Gewohnheit fremd ist, nicht mit einem einzigen Wort wiedergegeben werden kann. Am häufigsten werden zur Bildung der ge- mischten Zustände die Ideen der beiden Grundtätigkeiten, Denken und Bewegung, sowie ihrer Quelle, der Kraft benutzt. Ausführlicher behandelt

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Theoretische Philosophie oder Erkenntnislehre.

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Locke die reinen Modi, und unter ihnen die aus den Vorstellungen Raum, Zeit, Einheit und Kraft abgeleiteten. Modifikationen des Raumes sind Entfernung oder Abstand, Figur, Ort, Längenmaß; da sich jeder beliebige Maßstab ins Unendliche wiederholen läßt, so erhalten wir auf diesem Wege den Begriff der Unermeßlichkeit. Als Besonderungen der Zeitempfindung werden aufgezählt: Zeitfolge (die wir allein an dem Ablauf der Vorstellungen in uns empfinden und messen), Dauer, Moment und Zeitmaß, dessen endlose Wiederholung die Idee der Ewigkeit ergibt. Aus der Einheit wird die Zahlenreihe, aus deren Unbegrenztheit die Vorstellung der Unendlichkeit entwickelt. Kein Begriff" aber ist reicher an Modifikationen als der des Vermögens. Von der tätigen Kraft ist das leidende Vermögen, die bloße Empfänglichkeit, zu unterscheiden. Während der Körper nicht Bewegung zu erzeugen, sondern nur die empfangene mitzuteilen vermag, bemerken wir in uns geistigen Wesen die Fähigkeit, Handlungen und Bewegungen von selbst anzufangen. Dem Körper eignet nur das passive Vermögen der Beweglichkeit, dem Geiste das aktive der bewegenden Kraft. Sie heißt „Wille". Bei dieser Gelegenheit wird die Freiheit des Willens weitläufig, aber keineswegs ganz klar und widerspruchsfrei erörtert (vgl. unten S. 154 155).

Die Modi waren Beschaffenheiten, die nicht für sich bestehen, sondern einer Unterlage, eines Trägers bedürfen; sie sind nicht ohiae ein Ding zu denken, dessen Eigenschaften oder Zustände sie sind. Wir bemerken, daß gewisse Qualitäten immer zusammen erscheinen, und legen denselben gewohnheitsmäßig als Grund ihrer Einheit ein Sub- strat unter, in oder an dem sie bestehen oder von dem sie ausgehen. Substanz bedeutet jenes für sich bestehende „wir wissen nicht was", welches die Attribute an sich hat oder trägt und deren Vorstellung in uns erweckt. Sie ist die Verbindung von mehreren einfachen Vorstellungen, die als einem Dinge anhängend betrachtet werden. Aus den Sensations- vorstellungen setzt der Verstand die Idee des Körpers, aus den Reflexions- vorstellungen die des Geistes zusammen. Die eine ist ebenso klar und ebenso dunkel wie die andere: wir kennen von beiden nur die Wirkungen und sinnlichen Eigenschaften, ihr Wesen ist uns gänzlich unerkennbar. Statt der gebräuchlichen Bezeichnung unkörperlicher und körperlicher Substanzen empfiehlt Locke die Namen denkende und undenkende {cogitative and incogitative stibstances), da es nicht widersprechend sei, daß der Schöpfer auch einem materiellen Wesen die Fähigkeit des Denkens verliehen habe (IV, 3, 6). Gott dessen Begriff" dadurch gewonnen wird, daß wir die Ideen Dasein, Kraft, Macht, Wissen, Glück mit der Vorstellung der Unendlichkeit verknüpfen ist schlechthin immateriell, weil unleidend, die (nicht bloß tätigen) endlichen Geister dagegen sind vielleicht nur denkfähige Körper.

Während die Substanzvorstellunffen auf ein Reales außerhalb der

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Seele als auf ihr Muster bezogen werden, sich nach demselben richten und es abbilden, darstellen sollen, sind die Relationen (Verhältnisse, Be- ziehungen, z. B. Gatte, größer) immanente und freie Produkte des Ver- standes. Sie sind nicht Abbilder von wirklichen Dingen, sondern stellen nur sich selbst dar, sind selbst Urbilder. Man fragt nicht, ob sie mit den Dingen, sondern umgekehrt, ob die Dinge mit ihnen übereinstimmen (IV, 4, 5). Die Vorstellung eines Verhältnisses gewinnt der Geist da- durch, daß er zwei Dinge nebeneinanderstellt und vergleicht. Bemerkt er, daß ein Ding oder eine Eigenschaft oder eine Vorstellung durch die Wirksamkeit anderer Dinge zu bestehen anfängt, so schöpft er hieraus die Idee des Kausalitätsverhältnisses, der umfassendsten aller Be- ziehungen, da alles Wirkliche und Mögliche unter diesen Gesichtspunkt gebracht werden kann. Ursache ist das, was macht, daß etwas anderes zu sein beginnt, Wirkung, was seinen Anfang von etwas anderem hat. Die Hervorbringung einer neuen Qualität heißt Veränderung, die eines Kunstproduktes Verfertigung, die eines lebenden Wesens Erzeugung; die eines neuen Stoffteiles würde Schöpfung sein. Die nächstwichtigste Be- ziehung ist die der Selbigkeit und Verschiedenheit. Da es unmög- lich ist, daß ein Ding zur selben Zeit an verschiedenen Orten und daß mehrere Dinge zur gleichen Zeit an demselben Orte seien, so ist jedes Ding, das in einem bestimmten Momente an einer bestimmten Stelle ist, mit sich selbst identisch, dagegen von jedem Dinge, das im selben Augenblicke an einem anderen Orte ist (und wäre es ihm noch so ähn- lich), verschieden. Somit sind Raum und Zeit das principium individuationis (der Grund der Einzelheit). Woran aber erkennt man die Selbigkeit des Individuums zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten? Die Identität der unorganischen Materie hängt von der gleichbleibenden Masse der Atome ab, die der lebenden Wesen von der stetig dauernden Organisation der Teile (verschiedene Körper werden durch dasselbe Leben zu einem Tiere geeint), die der Person besteht in der Einheit des Selbstbewußtseins, nicht in der (schon durch den Stoffwechsel aus- geschlossenen) Kontinuität der leiblichen Existenz. Die Identität der Person oder des Ich ist wohl von der der Substanz und der des Menschen zu unterscheiden. Es wäre iiicht unmöglich, daß beim Wechsel der Substanzen die Person dieselbe bliebe, sofern die verschiedenen Wesen (etwa die Seelen Epikurs und Gassendis) an demselben Selbst- bewußtsein teilnähmen, und ebenso umgekehrt, daß ein Geist, indem er das Bewußtsein seines früheren Daseins verlöre, in zwei Personen erschiene. Nur durch das Bewußtsein ist das Selbst oder die Identität der Person bedingt. Die Zeit- und Raumbestimmungen sind der Mehrzahl nach Beziehungen. Die Antworten auf die Fragen „Wann?", „Wie lange?", „Wie groß?" bezeichnen den Abstand eines Zeitpunktes von einem anderen (Christi Geburt), die Beziehung einer Dauer zu einer anderen (der des

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Umlaufs der Sonne), das Verhältnis einer Ausdehnung zu einer anderen bekannten, die als Maßstab gilt. Manche anscheinend positiven Vor- stellungen und Worte, wie jung und alt, groß und klein, stark und schwach, sind in der Tat relativ. Sie enthalten nur die Beziehung einer be- stimmten Lebensdauer, Größe und Kraft zu der für die betreffende Klasse von Objekten als Regel angenommenen. Ein zwanzigjähriger Mensch heißt jung, ein gleichaltriges Pferd alt; auf Sterne und Diamanten paßt keines von beiden. Von den moralischen Verhältnissen, denen die Vergleichuns; des menschlichen Wollens mit einem der drei sittlichen Gesetze zugrunde liegt, wird später die Rede sein.

Von dem Ursprung der Vorstellungen wendet sich die Untersuchung zu dem Erkenntniswerte oder der Geltung derselben, und zwar zu- erst (in den letzten Kapiteln des zweiten Buches) zu der Richtigkeit der einzelnen Vorstellungen, sodann lim vierten Buche, dem bedeutendsten des Werkes) zu der Wahrheit der Urteile. Real ist eine Vorstellung, wenn sie ihrem INIuster, sei dies ein wirkliches oder ein mögliches Ding oder die Vorstellung eines anderen, entspricht; adäquat, wenn sie dem- selben vollständig entspricht. Unreal oder eingebildet ist die Idee eines vierseitigen Dreiecks, einer tapferen Feigheit, da sie aus unvereinbaren Elementen besteht, die eines Zentauren, da sie einfache Vorstellungen so verbindet, wie sie in der Natur nicht vereinigt vorkommen. Real aber inadäquat sind die Vorstellungen, die sich der Laie von juristischen ^'erhältnissen und chemischen Stoffen bildet, da sie zwar eine ungefähre Ähnlichkeit mit den Begriffen des Fachmannes und eine Grundlage in der Wirklichkeit haben, aber ihr Muster nur unvollkommen darstellen. Ja, die Substanzvorstellungen sind durchweg unentsprechend, nicht nur, wenn man in ihnen eine Darstellung des inneren Wesens der Dinge sieht (da man dieses Wesen nicht kennt), sondern auch, wenn man sie nur als Zusammenfassung von Eigenschaften nimmt. Das Abbild enthält niemals alle Eigenschaften des Dinges, um so weniger, als dieselben ihrer INIehrzahl nach Kräfte sind, d. h. in Beziehungen zu anderen Dingen bestehen, und es schon bei einem Körper unmöglich ist, sämtliche Ver- änderungen zu erproben, welche er in anderen Substanzen hervorrufen oder von ihnen erleiden kann. Zustands- und Verhältnisvorstellungen sind an sich adäquat, denn sie sind Muster, sollen nichts anderes dar- stellen als sich selbst, sind Bilder ohne Vorbilder. Aber eine bei ihrer ersten Bildung vollkommene Vorstellung dieser Art kann im sprachlichen Verkehr fehlerhaft werden durch die erfolglos beabsichtigte Übereinstim- mung mit der Vorstellung eines anderen Wesens und durch ihre Be- zeichnung mit einem gebräuchlichen Worte. Bei den gemischten Modi und den Beziehungen genügt also zur Wirklichkeit und vollständigen Angemessenheit nicht die Verträglichkeit ihrer Bestandteile oder die Möglichkeit des Bestehens ihrer Gegenstände; vnn adäquat zu sein, müssen

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sie auch der Bedeutung, welche der erste Urheber oder der Sprach- gebrauch mit ihrem Namen verbunden hat, genau entsprechen. Sowohl hinsichtlich der Realität als der Adäquatheit sind die einfachen Vor- stellungen, nach Locke, am besten gestellt. Sie sind zwar meistenteils nicht getreue Abbilder der wirklichen Eigenschaften, sondern nur regel- mäßige Wirkungen realer Kräfte der Dinge. Obwohl daher die wirklichen Zustände nur die Ursachen und nicht die Muster der Empfindungen sind, so erfüllen die einfachen Ideen durch ihren beständigen Zusammen- hang mit den wirklichen Eigenschaften doch hinlänglich den von Gott angeordneten Zweck, uns als Mittel für die Erkenntnis, d. h. Unterschei- dung der Dinge zu dienen. Unrichtig wird eine unwirkliche und unadäquate Vorstellung erst dadurch, daß sie auf einen Gegenstand, sei es die Existenz oder das wahre Wesen eines Dinges oder die Vor- stellung anderer, bezogen wird. Wahrheit und Irrtum liegt immer in einer Bejahung oder Verneinung, also in einem (vielleicht verschwiegenen) Urteil. Unverknüpft, unbezogen, unausgesagt, bloß als Erscheinungen in der Seele, sind die Vorstellungen weder wahr noch falsch.

Erkenntnis wird definiert als die Wahrnehmung der Überein- stimmung oder des Widerstreites zweier Vorstellungen, Wahrheit als die richtige Verbindung oder Trennung von Zeichen, nämlich von Vor- stellungen oder Worten. Das Wissen hat zum Gegenstande weder die einzelnen Ideen noch deren Verhältnis zu den Dingen, sondern das Verhältnis von Ideen untereinander. Das war eine paradoxe und folgenreiche Einsicht. Wenn alles Wissen, wirft sich Locke ein, in der Erfassung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung unserer Vorstellungen besteht, so sind die Traumbilder eines Phantasten und die Argumentationen eines besonnenen Mannes gleich gewiß, so ist der Satz, daß eine Fee kein Zentaur und der Zentaur ein lebendes Wesen ist, ebenso wahr wie der, daß der Kreis kein Dreieck und die Summe der Dreieckswinkel gleich zwei Rechten ist. Die Seele erfaßt unmittelbar nur ihre eigenen Vorstellungen, aber sie verlangt nach einer Erkenntnis der Dinge! Wenn solche möglich ist, so ist sie eine mittelbare: sie erkennt die Dinge durch ihre Vorstellungen, und es gibt Kennzeichen dafür, daß ihre Vorstellungen mit den Dingen übereinstimmen.

Man muß zwei Fälle wohl unterscheiden: eine erhebliche Anzahl unserer Vorstellungen, nämlich alle zusammengesetzten mit Ausnahme der Substanzen, machen garnicht den Anspruch, Dinge darzustellen, und können sie demnach niemals falsch vorstellen. Für die mathematischen und moralischen Ideen und Sätze und ihre Wahrheit ist es vollkommen gleichgültig, ob es in der Natur Dinge und Zustände gibt, die ihnen entsprechen. Sie gelten, auch wenn sie nirgends verwirklicht sind; sie sind „ewige" Wahrheiten, nicht in dem Sinne, daß sie schon in der Wiege gedacht würden, sondern in dem, daß, wenn sie gedacht werden.

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sie sofort Zustimmung finden. ^ Anders allerdings die einfachen Ideen und die Substanz Vorstellungen, welche ihre Originale außerhalb der Seele haben und denselben entsprechen möchten. Bei den ersteren darf man stets sicher sein, daß sie mit den wirklichen Dingen übereinstimmen, denn da die Seele sie weder selbst willkürlich hervorbringen (z. B. nicht im Dunkeln Farbenempfindungen erzeugen) noch beliebig von sich abhalten, .sijndern nur von außen empfangen kann, sind sie keine Phantasiegebilde, Sfjiidera regelmäßige und natürliche Erzeugnisse der auf uns wirkenden äußeren Dinge. Bei den letzteren, den Substanzbegriffen, darf man es wenigstens dann sein, wenn die sie bildenden einfachen Vorstellungen in der Erfahrung so zusammenbestehend angetroffen werden. Die Wahr- nehmung hat eine äußere Ursache, deren Wirksamkeit die Seele nicht zu widerstehen vermag. Die gegenseitige Bestätigung der Aussagen der verschiedenen Sinne, die Schmerzhaftigkeit gewisser Empfindungen, der deutliche Unterschied der Wahrnehmung von der bloßen Gedächtnis- vorstellung, die Möglichkeit, durch selbstbewirkte Veränderungen in der Außenwelt (durch das Niederschreiben eines Wortes) in uns und anderen neue und zwar ganz bestimmte Empfindungen zu veranlassen und sie vorherzusagen, erhöht die Berechtigung des Vertrauens, das wir unseren Sinnen schenken. Niemand wird im Ernst so skeptisch sein, daß er das Dasein der Dinge, die er sieht und fühlt, bezweifeln und sein ganzes Leben für einen täuschenden Traum erklären sollte. Die Gewißheit, welche die Wahrnehmung hinsichtlich der Existenz der Außendinge ge- währt, ist zwar keine absolute, aber sie genügt für die Bedürfnisse des Lebens und die Regelung unseres Handelns, sie ist „so gewiß wie unser Elend und unser Glück, über das hinaus uns weder Sein noch Wissen etwas angeht". Nach der Vergangenheit hin wird das Zeugnis der Sinne durch das Gedächtnis ergänzt, wobei die Gewißheit sich in große Wahr- scheinlichkeit verwandelt, während sie hinsichtlich der sich der Wahr- nehmung ganz entziehenden Existenz anderer endlicher Geister, deren es vermutlich zahllose Arten gibt, zum bloßen, wenn auch wohlbegründeten, Glauben hinabsinkt.

Gewisser als das wahrnehmende (sensitive) Wissen von der Exi-

* So kommt es, daß die Erkenntnis, obwohl ihre Elemente sämtlich aus der Erfahrung stammen, doch weiter reicht als die Erfahrung. Der Verstand ist vollständig unfrei im Empfangen einfacher Vorstellungen, weniger gebunden in der Zusammensetzung derselben zu komplexen Ideen, absolut frei in dem Akt des Ver- gleichens, den er ebensogut zu unterlassen vermag, endlich wieder ganz gebunden in der Anerkennung des Verhältnisses, in welchem die beliebig verglichenen Vor- stellungen zueinander stehen. Nur in dem mittleren Stadium des Erkenntnispro- zesses also findet die Willkür eine Stätte; am Anfang (im Empfangen der einfachen Wahrnehmungsideen a, b, c, d) und am Ende desselben (im Urteil darüber, wie sich die Begriffe a b c und a b d zu einander verhalten) ist der Verstand vollkommen determiniert.

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stenz anderer Dinge ist das unmittelbare oder anschauliche (intuitive) von unserem eigenen Dasein und das vermittelte oder beweisende (demonstrative) vom Dasein Gottes. Jede Vorstellung, die wir haben, jeder Schmerz, jeder Gedanke versichert uns unserer eigenen Existenz. Das Dasein Gottes aber als der ewigen, mit Intelligenz, Willen und höchster Macht ausgestatteten Ursache alles Wirklichen wird aus der Existenz und Beschaffenheit der Welt und unser selbst erschlossen. Es gibt etwas Wirkliches, die wirkliche Welt besteht aus bewegten Stoffen und denkenden Wesen und ist harmonisch geordnet. Da das Nichts kein wirkliches Ding hervorbringen kann und die Frage nach dem Woher sich nicht eher beruhigt, bis wir an ein anfangslos Existierendes gelangen, so muß als Ursache des Seienden ein ewiges Wesen ange- nommen werden, das alle die Vollkommenheiten, die es den Geschöpfen verliehen hat, in höherem Grade selbst besitzt. Als Ursache des Stoffs und der Bewegung und als Quelle aller Macht muß es allmächtig, als Ursache der Ordnung und Schönheit der Welt und vor allem als Schöpfer denkender Wesen muß es allwissend sein. Dies aber ist es, was wir im Begriffe Gottes vereinigen.

Von den drei Graden der Erkenntnis ist das intuitive Wissen das höchste. Es findet dort statt, wo die Seele den Einklang oder Wider- streit zweier Vorstellungen auf den ersten Blick, ohne Zaudern und ohne Dazwischenkunft einer dritten vermittelnden Vorstellung gewahrt. Das unmittelbare Erkennen ist durch sich selbst evident, unwiderstehlich und keinem Zweifel ausgesetzt. Wo die Seele die Übereinstimmung der beiden Vorstellungen nicht durch Nebeneinanderstellung und direkte Ver- gleichung, sondern nur durch Zuhilfenahme anderer Vorstellungen erfassen kann, da ist das Wissen demonstrativ. Die Zwischenglieder heißen Beweisgründe, ihre Auffindung ist Sache der Vernunft, die Schnelligkeit ihrer Entdeckung wird Scharfsinn genannt. Je größer die Zahl der Ver- mittelungen, desto mehr nimmt die Klarheit und Bestimmtheit der Er- kenntnis ab und die Möglichkeit des Irrtums zu. Soll der Beweis (z. B. a = d) stringent sein, so muß jeder einzelne Schritt desselben (a = b, b = c, c = d) anschauliche Gewißheit haben. Die Mathematik ist nicht das einzige Beispiel des Wissens durch Beweis, aber es ist das voll- kommenste, da nur auf ihrem Gebiete mit Hilfe sichtbarer Zeichen die volle Gleichheit und die kleinsten Unterschiede der Vorstellungen genau gemessen und scharf bestimmt werden können.

Außer dem wirklichen Dasein zählt Locke, unsystematisch genug, noch drei andere Arten der Übereinstimmung zwischen Vorstellungen in deren Wahrnehmung ja das Erkennen besteht auf, nämlich Selbigkeit und Verschiedenheit (blau ist niclit gelb), Beziehung (Gleiches zu Gleichem addiert gibt Gleiches) und Koexistenz oder notwendigen Zusammenhang (Gold ist feuerbeständig). Am günstigsten

Theoretische Philosophie oder Erkenntnislehre.

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ist es mit der Erkenntnis hinsichtlich des ersten Verhältnisses, der „Identität" und des „Unterschiedes", bestellt, hier reicht nämlich unser anschauliches Wissen so weit als unsere Vorstellungen, indem es jede auftauchende Vorstellung sofort als sich selbst gleich und von anderen verschieden auf- faßt. Am ungünstigsten mit dem „notwendigen Zusammenbestehen". Wir wissen zwar einiges über die Unvereinbarkeit oder die Unzertrennlich- keit gewisser Eigenschaften (z. B. daß derselbe Gegenstand nicht gleich- zeitig zwei verschiedene Größen oder Farben haben, daß Gestalt nicht ohne Ausdehnung sein kann), aber nur bei wenigen Eigenschaften und Kräften der Körper vermögen wir durch Intuition oder Beweis die Ab- hängigkeit und notwendige Verknüpfung einzusehen, bei den meisten sind wir auf die Erfahrung angewiesen, die uns jedoch nur über das Einzelne belehrt und keine Garantie bietet, daß es sich auch über den Kreis der durch Beobachtung und Versuch festgestellten Fälle hinaus so verhalte. Da die Empirie kein sicheres allgemeines Wissen gewährt und die An- nahme, daß gleiche Körper in gleicher Lage auch gleiche Wirkungen haben werden, nur eine Vermutung aus Analogie ist, so gibt es im strengen Sinne keine Naturwissenschaft. In das Gebiet des demonstrativen Wissens von „Beziehungen" fällt die Mathematik und die JNIoral. Die Sätze der Sittenlehre sind einer gleichen exakten Beweisführung fähig, wie die der Zahlen- und Größenlehre, obwohl ihre Begriffe zusammengesetzter, verwickelter, daher leichter dem Mißverständnis ausgesetzt sind und der Hilfe sichtbarer Zeichen entbehren, Mängel, denen zum Teil durch sorg- fältige und streng festgehaltene Begriffsbestimmungen abgeholfen werden könnte und sollte. Die ethischen Sätze „wo kein Eigentum, da gibt es auch kein Unrecht" oder „in keinem Staate genießt der Bürger unbe- schränkte Freiheit" sind so sicher wie irgend ein Lehrsatz im Euklid. Der Vorzug der mathematischen und moralischen Wissenschaften vor den physikalischen besteht darin, daß bei jenen das wirkliche Wesen und das Wortwesen der Objekte zusammen-, bei diesen aber ausein- anderfallen und außerdem das wirkliche Wesen der Substanzen sich unserer Kenntnis entzieht. Die wahre innere Verfassung der Körper, die Wurzel, von der alle ihre Eigenschaften und deren Zusammenbestehen notwendig abfließen, ist uns völlig unbekannt, daher sind wir außer stände, diese aus ihr abzuleiten. Dagegen sind uns die mathematischen und moralischen Begriffe samt ihren Beziehungen vollkommen zugänglich, denn wir haben sie selbst frei gebildet. Sie sind nicht von den Dingen abge- lesen, sondern vorbildlich für die Wirklichkeit und bedürfen keiner Be- stätigung von Seiten der Erfahrung. Der Zusammenhang, den unser Verstand zwischen den Vorstellungen Verbrechen und Strafbarkeit stiftet (der Satz also: Verbrechen verdient Strafe), ist gültig, auch wenn niemals ein ^''erbrechen begangen und niemals eines bestraft worden wäre. Bei den allgemeinen Sätzen ist das Dasein gar nicht beteiligt, „das allgemeine

150 Locke. .

Wissen gehört nur unserem Denken an und besteht nur in der Be- trachtung unserer eigenen allgemeinen Vorstellungen und ihrer Verhält- nisse". Die Erkenntnisse der Mathematik und der Moral sind sowohl allgemein als sicher, während in der Naturwissenschaft die Einzel- beobachtungen und Experimente zwar sicher, aber nicht allgemein, die allgemeinen Sätze aber nur mehr oder minder wahrscheinliche Ver- mutungen sind. Jene wie diese haben unter Umständen großen Nutzen, entsprechen aber nicht den Forderungen eines umfassenden und sicheren Wissens.

Der Umfang unseres Wissens ist sehr beschränkt und viel geringer als der unseres Nichtwissens. Denn unser Wissen reicht nicht weiter als unsere Vorstellungen und die Möglichkeit, deren Übereinstimmung gewahr zu werden. Es gibt viele Dinge, von denen wir, namentlich wegen der begrenzten Anzahl und geringen Schärfe unserer Sinne, gar keine, und ebenso viele, von denen wir nur mangelhafte Vorstellungen haben; zudem vermögen wir derjenigen Vorstellungen, die wir wirklich besitzen oder doch erlangen könnten, oft nicht habhaft zu werden, noch ihre Verbindung miteinander zu erkennen. Die fehlenden, die unauffindbaren, die unverbundenen Vorstellungen sind die Ursachen der engen Grenzen des menschlichen Wissens.

Für die Erweiterung des Wissens stehen zwei Wege offen: einer- seits Erfahrung, andererseits Erhebung unserer Vorstellungen zur Klar- heit und Deutlichkeit, sowie Auffindung und methodische Ordnung jener vermittelnden Vorstellungen, welche das Verhältnis zwischen anderen nicht unmittelbar vergleichbaren Vorstellungen darlegen. Für die Erkenntnis der Übereinstimmung der Mittel- und Endglieder ist die künstliche Form des Syllogismus von geringem, für die Auffindung der ersteren von gar keinem Vorteil. Die analytischen und identischen Sätze, welche den Subjektsbegriff nur auseinanderlegen, aber nichts aussagen, was nicht schon vorher bekannt war, sind trotz ihrer unanfechtbaren Gewißheit für die Vermehrung der Erkenntnis wertlos und, wenn sie mehr sein sollen als Worterklärungen, lächerliche Possen. Auch jene allgemeinsten Sätze, jene „Prinzipien", mit denen man in den Schulen paradiert, haben nicht den Nutzen, welchen man ihnen beizulegen pflegt. Die Axiome sind wohl geeignete Mittel für die Mitteilung eines bereits erworbenen Wissens an Lernende und mögen in den gelehrten Disputationen zur Wider- legung des Gegners oder als Grundlage der ^"erständigung unentbehrlich sein ; zur Entdeckung neuer Wahrheiten tragen sie so gut wie nichts bei. Man täuscht sich, wenn man glaubt, daß von der Wahrheit der ab- strakten Regel (das Ganze ist gleich der Summe seiner Teile) die der einzelnen darunter gehörigen Fälle (5 = 2+3 oder = i -|- 4) abhänge, durch sie verstärkt werde und aus ihr abgeleitet werden müsse. Das Einzelne und Bestimmtere ist nicht nur ebenso klar und gewiß, sondern

Theoretische Philosophie oder Erkenntnislehre. icj

es ist bekannter und wird leicliter und früher aufgefaßt als der allgemeine Grundsatz. Bei \erworrenen Vorstellungen und schwankender Bedeutung der Worte hat der Gebrauch der Grundsätze sogar seine Gefahren, indem sie auch wohl entgegengesetzten Behauptungen den Schein bewiesener Wahrheiten leihen können.

Zwischen dem hellen Tageslicht sicheren Wissens und dem nächt- lichen Dunkel absoluten Nichtwissens vermittelt das Zwielicht der Wahr- scheinlichkeit. Auf das Meinen und Vermuten oder das Urteilen nach Wahrscheinlichkeit sehen wir uns dort verwiesen, wo Erfahrung und Demonstration uns im Stich lassen und dennoch durch Lebensbedürf- nisse, die keinen Aufschub vertragen, eine Entscheidung gefordert wird. Über Ereignisse, die er selbst nicht beobachtet, muß der Jurist und der Historiker aus den Berichten der Zeugen sich eine Überzeugung ver- schaffen, und jeden zwingen die Interessen des Lebens, der Pflicht- erfüllung und des ewigen Heiles, sich Ansichten zu bilden über Dinge, die außerhalb des Bereiches seiner eigenen Wahrnehmung und denkenden Erkenntnis, ja aller menschlichen Erfahrung und bündigen Beweisführung überhaupt liegen. Wollte man sein Urteil und sein Handeln bis zur Erlangung absoluter Gewißheit aufschieben, man würde kaum dazu kommen, auch nur den Finger zu heben. Wo es sich um vergangene, künftige oder örtlich entlegene Tatsachen handelt, verlassen wir uns auf das Zeugnis anderer (wobei die Aussage auf die Glaubwürdigkeit des Berichterstatters und auf ihre Übereinstimmung mit häufiger und gleich- mäßiger Erfahrung geprüft wird); betrifft die Frage schlechthin Unerfahr- bares, z. B. die höheren Geister oder die letzten Ursachen der Natur- erscheinungen, so ist die Regel der Analogie unser einziges Hilfsmittel. Streiten die Zeugnisse miteinander oder mit dem gewöhnlichen Lauf der Natur, so bedarf es sorgfältiger Abwägung der Gründe für und wider; häufig aber erreicht die Wahrscheinlichkeit einen so hohen Grad, daß unser Fürwahrhalten der vollen Gewißheit fast gleichkommt. Niemand zweifelt obwohl er es doch nicht „wissen" kann , daß Cäsar den Pompejus besiegt hat, daß auch in Australien das Gold biegsam ist, daß auch morgen das Eisen im Wasser untersinken werde. So ergänzt das kleinen den Mangel sicheren Wissens, und dient uns als Kompaß der Überzeugung und des Handelns überall, wo allgemeines INIenschenlos oder persönliche Lage eine absolute Gewißheit verwehrt.

Obwohl in dem Dämmerungsgebiete des Meinens statt zwingender Gründe nur ein „Anlaß" vorliegt, das Faktum oder den Gedanken „eher fürwahr als für falsch zu halten", so ist die Zustimmung doch keines- wegs, wie die cartesianische Schule behauptet, ein Akt der Willkür: beim Wissen wird sie durch klar erkannte Gründe, beim Meinen durch die stärkere Wahrscheinlichkeit determiniert. Frei ist der Verstand nur in der Verbindung der Ideen, nicht in dem Urteil über den Einklang oder

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Locke.

Widerstreit der verglichenen: ob er überlege und welche Vorstellungen er zur Überlegung heranziehe, das steht in seiner Gewalt; über das Resultat der Vergleichung aber hat er keine Macht, es ist ihm unmöglich, einer evidenten Wahrheit oder einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit seine Beistimmung zu versagen.

Mit solcher Anerkennung von Verhältnissen, die zwischen den Vorstellungen objektiv und allgemeingültig bestehen und von dem denkenden Subjekt durch willkürliches Nebeneinanderstellen nur als gültig entdeckt, vorgefunden, aber niclit geändert noch beanstandet werden können, verläßt Locke den Boden des Empirismus (vergl. S. 137) und nähert sich den platonisierenden Idealisten. Seine Untersuchung zerfällt in zwei höchst ungleiche Teile (eine psychologische Beschreibung der Entstehung unserer Vorstellungen und eine logische Bestimmung der Möglichkeit und der Ausdehnung des Wissens), von denen der zweite in des Philosophen Augen sich mit dem ersten vertragen, aber nimmer- mehr aus demselben erwachsen konnte. Die rationalistische Spitze wider- spricht dem sensualistischen Unterbau. Aus dem Ursprung der Vor- stellungen hofft Locke die Geltung und die Grenzen des Wissens zu erweisen, aber die Geltung und die Grenzen, die er für die Erkenntnis festsetzt, können nicht aus der aposteriorischen Herkunft der Ideen be- wiesen, sondern nur trotz derselben behauptet werden und bedürfen zu ihrer Stütze eines anderweitigen (rationalistischen) Prinzips. Von einem Denker, der alle einfachen Vorstellungen aus der äußeren und inneren Wahrnehmung herleitet, erwartet man, daß er jedes Hinausgreifen der Erkenntnis über das Gebiet des Erfahrbaren verbieten, die auf Grund der Empfindung entstandenen Ideenverbindungen für zuverlässig, die ohne Rücksicht auf die Wahrnehmung gebildeten für trüglich erklären oder mit Protagoras die Erkenntnis auf das einzelne empfindende Sub- jekt beschränken und somit deren Allgemeingültigkeit gänzlich ableugnen werde. Von alledem findet bei Locke das gerade Gegenteil statt. Wir erleben das merkwürdige Schauspiel, daß ein Philosoph, der keine andere Quelle der Vorstellungen gelten läßt, als Wahrnehmung und willkürliche Kombination des Wahrgenommenen, mit Beweisen fürs Dasein Gottes die Grenzen der Erfahrung überschreitet, die an der Hand der Erfahrung gebildeten Substanzvorstellungen mit Mißtrauen betrachtet, die Natur- erkenntnis in das Gebiet der bloßen Meinung verweist, dagegen den un- abhängig von der Wahrnehmung geschaffenen Vorstellungsverbindungen,, mit denen Mathematik und Moral operieren, Realität und ewige Gültig- keit beilegt und mit dem naiven Glauben an die unerschütterliche und jedem, der sich ihnen zuwendet, einleuchtende Geltung der Vorstellungs- verhältnisse gänzlich den Individualisten verleugnet. Der Grund der Allgemeingültigkeit sowohl der Beziehungen zwischen den Vorstel- lungen als ihrer Erkenntnis liegt natürlich nicht in dem empirischen Ur-

Religionsphilosophie.

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Sprung- der Ideen (denn meine Erfahrung belehrt nur mich und nur über den einzelnen Fall), sondern in der Gleichheit der menschlichen Vernunftanlage. Wenn zwei Menschen, so urteilt Locke, dieselben Vor- stellungen — nicht nur, da sie dieselben Worte gebrauchen, zu haben glauben, sondern wirklich haben, so ist es unmöglich, daß sie über deren Verhältnis verschiedener Meinung seien. Mit jener Überzeugung, daß die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis in der gleichen Vernunft- anlage der Menschen wurzele, und der weiteren, daß wir nur dort ein sicheres Wissen haben, wo sich die Dinge nach unseren Vorstellungen richten, steht Locke dicht bei Kant, während die Voraussetzung einer festen Ordnung der Beziehungen zwischen den Ideen, gegen deren An- erkennung der Verstand des Einzelnen sich nicht zu sträuben vermag, ^ sowie die Vorbildlichkeit der Mathematik ihn in die Gesellschaft des Malebranche und Spinoza bringt. Angesichts solcher Berührungen mit der rationalistischen Schule und mannigfacher Abhängigkeit von dem Stifter derselben wird man die Paradoxie wagen dürfen, daß Locke nicht nur ein cartesianisch gefärbter Baconianer, sondern beinahe ein von Baco beeinflußter Cartesianer heißen könnte. Freilich ist die Möglichkeit nicht außer acht zu lassen, daß ihm auch von Galilei, Hobbes und Newton rationalistische Anregungen gekommen seien; vergl. den S. 137' zitierten Artikel von B. Erdmann.

Zwischen W^issen und Meinen steht das Glauben in der Mitte als ein Fürwahrhalten, das sich nicht auf Gründe, sondern auf ein Zeugnis stützt, dessen Festigkeit aber, da dieses Zeugnis von Gott selbst ausgeht, der weder täuschen noch getäuscht werden kann, hinter derjenigen des Wissens nicht zurücksteht. Der Glaube und seine Gewißheit hängt in- sofern von der Vernunft ab, als nur diese entscheiden kann, ob wirklich eine göttliche Offenbarung vorliegt und was die Worte, in denen sie überliefert ist, bedeuten. Bei der Grenzbestimmung zwischen Glaube und Vernunft benutzt Locke die berühmt gewordene Unterscheidung von Sätzen, welche die Vernunft übersteigen, ihr gemäß sind oder ihr widersprechen [abovf reason , according to reasou, coiürary io reasoti). Die Überzeugung \on der Existenz Gottes ist vernunftgemäß, der Glaube, daß es mehrere Götter gebe, oder daß ein Körper sich zugleich an verschiedenen Orten be- finde, vernunftwidrig; jene ist ehie Wahrheit, die aus Vernunftgründen bewiesen werden kann, dieser eine Annahme, die sich mit unseren klaren und deutlichen Vorstellungen nicht verträgt. Im ersten Falle bestätigt die Offenbarung einen Satz, dessen wir schon ohne sie gewiß waren; im zweiten vermag vermeintliche Offenbarung unser sicheres Wissen nicht

1 Georg v. Hertling hat in seinem Werke „J. Locke und die Schule v. Cam- bridge", Freiburg i. B. 1892, wahrscheinlich gemacht, daß dieses Moment des Locke- schen Rationalismus aus einer Einwirkung von seilen der Cambridger Schule stammt.

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Locke.

zu entkräften. Über der Vernunft .sind solche Sätze, deren Wahrheit -und Wahrscheinlichkeit nicht durch natürliche Ableitung dargelegt werden kann, wie die Verheißung von der Auferstehung der Toten und die Er- zählung von dem Abfall eines Teiles der Engel. Zu demjenigen, was nicht gegen -die Vernunft ist, gehören die Wunder, denn sie widersprechen zwar der auf den gewohnten Naturlauf gegründeten Meinung, aber niclit unserem sicheren Wissen; sie verdienen und finden, wenn sie gut be- zeugt sind, trotz ihrer Übernatürlichkeit bereitwilligen Glauben, während widervernünftige Sätze schlechterdings nicht als göttliche Offenbarung gelten dürfen. Die von Locke verlangte Unterwerfung des Glaubens unter die Kritik der Vernunft sichert ihm eine ehrenvolle Stelle in der Geschichte des englischen Deismus. Die Religionsphilosophie hat er durch zwei eigene Schriften bereichert: „Die Vernunftmäßigkeit des Christentums" 1695 und die „Briefe über Toleranz", deren erster 1685 verfaßt und 1689 lateinisch und (übersetzt von Popple) englisch anonym erschienen ist; der zweite und dritte Brief (i6go, 1692 unter dem Pseudo- nym Philanthropus) sowie der nicht mehr vollendete vierte (1704) sind Antworten auf die Entgegnungen des Theologen J. Proast. Das größere Werk verlegt den Schwerpunkt der christlichen Religion aus der Ge- schichte in die Erlösungslehre, die Briefe fordern Religionsfreiheit, gegen- seitige Duldung der Konfessionell und Trennung von Kirche und Staat. Nur solche Religionsverbände sind von der Toleranz auszuschließen, welche selbst keine üben und das Wohl der Gesellschaft gefährden, des- gleichen die Atheisten, da sie keinen Eid leisten können. Im übrigen soll der Staat jedes Bekenntnis schützen und keines bevorzugen.

2. Praktische Philosophie: Moral, Staat, Erziehung.

Zur praktischen Philosophie hat Locke bedeutungsvolle Winke über Freiheit, Moralität, Politik und Pädagogik beigesteuert.

Freiheit ist das Vermögen, Handlungen (Gedanken und Bewegungen) zu hemmen oder fortzusetzen, zu beginnen oder zu unterlassen. Sie wird dadurch nicht aufgehoben, daß der Wille stets durch ein Verlangen, genauer durch ein Unbehagen {tmeasiness) am gegenwärtigen Zustande in Bewegung gesetzt und der Entschluß durch das Urteil der Vernunft determiniert wird. Wenn auch das Ergebnis der Überlegung an das unabänderliche Verliältnis der Vorstellungen gebunden ist, so steht es doch in unserer Macht, ob wir eine Überlegung anstellen und auf welche Ideen sich dieselbe erstrecke. Nicht der Gedanke, nicht der Willens- entschluß ist frei, wohl aber die Person, der Geist; er vermag die Aus- führung eines Begehrens aufzuschieben und durch sein Urteil den Willen auch gegen die Neigung zu bestimmen. Wir haben demnach vier Stadien des Willensprozesses auseinanderzuhalten: Begierde oder Unbehagen

Pr.\ktische Philosophie : Moral. j - -

überlegende Vorstellungskombination Vernunfturteil Entschluß. Die Freiheit hat ihren Platz am Beginn des zweiten Stadiums: es steht bei mir, ob ich es überhaupt zum Nachdenken und zum abschließenden Urteil über das zu Tuende kommen lasse, hierdurch das Begehren am direkten Ausbruch in Bewegungen verhindere und je nach dem Ausfall der Überlegung statt der ursprünglich begehrten Handlung vielleicht die entgegengesetzte eintreten lasse. Ohne Freiheit wäre sittliche Beurteilung und Zurechnung der Handlungen unmöglich. Dies scheint uns der sichere Kern der ^■ielfach schwankenden Ausführungen Lockes über die Freiheit (II, 21).

Die Begierde zielt auf die Lust, das Wollen gehorcht der über die Antriebe des Luststrebens und der Leidenschaften erhabenen Vernunft. Ein Gut im physischen Sinne ist alles, was in uns Lust erzeugt und vermehrt, Unlust beseitigt und \erringert oder zur Erlangung eines anderen Gutes und zur Abwehr eines anderen Übels beiträgt. Dagegen sittlich gut sind Handlungen, wenn sie mit einer Regel, nach der sie beurteilt werden, übereinstimmen. Wer ernstlich über sein Heil nach- denkt, wird den sinnlichen Gütern die moralischen oder die der Ver- nunft vorziehen, da sie allein wahres Glück gewähren. Gott hat das all- gemeine Glück aufs engste mit der Tugend verknüpft, indem er von ihrer Ausübung die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft abhängig machte.

^Merkmal eines Gesetzes für freie Wesen ist, daß es auf seine Be- folgung Lohn und auf seine Übertretung Strafe setzt. Solcher Gesetze, mit denen eine Handlung übereinstimmen muß, um das Prädikat „gut" zu verdienen, gibt es dreierlei (II, 28): nach dem göttlichen Ge- setze beurteilt man eine Handlung als pflichtmäßig oder sündhaft, nach dem bürgerlichen als unschuldig oder verbrecherisch (straffrei oder strafbar), nach dem der öffentlichen Meinung als tugendhaft oder lasterhaft. Das erste Gesetz bedroht die Unsittlichkeit mit jenseitigem Elend, das zweite mit juristischen Strafen, das dritte mit der Mißbilligung der Mitmenschen.

Das dritte Gesetz, das der Achtung oder der Sitte, auch das philo- sophische genannt, stimmt zwar nicht durchgängig, aber doch im großen und ganzen mit dem ersten, dem von Gott gegebenen, am reinsten im Christentum ausgeprägten Naturgesetze, dem wahren Probierstein für den sittlichen Charakter der Handlungen, überein. Hatte Locke in seiner Bestreitung der angeborenen Grundsätze auf die Verschiedenheit der sittlichen Anschauungen bei Völkern und Individuen Gewicht gelegt, vermöge deren am einen Orte verdammt wird, was man am andern als Tugend preist, so hebt er jetzt hervor, daß doch in der Hauptsache allerorten Übereinsthnmung herrsche, da es nur natürlich sei, daß jeder das durch Achtung und Lob ermuntere, was ihm Vorteil bringt, die Tugend aber sichtlich das Wohl aller, die mit dem Tugendhaften in Be-

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Locke.

rührung kommen, fördert. Bei noch so großer Abweichung der Sitten geht doch überall Lob mit der Tugend und Tadel mit dem Laster zu- sammen, und im allgemeinen wird wirklich das gelobt, was lobenswürdig ist: billigt doch sogar der Lasterhafte das Rechte und tadelt das Fehler- hafte, wenigstens an anderen. Locke hat zuerst auf die allgemeine Billigung als ein äußeres Erkennungszeichen der sittlichen Handlung hin- gewiesen, ein Wink, den sich später die schottischen Moralisten zu nutze gemacht haben. Der Vorwurf, daß er die Tugend zu etwas Konven- tionellem herabsetze, war ungerecht, denn das Gesetz der Meinung und Gewohnheit war ihm nicht das wahre Prinzip der Sittlichkeit, sondern nur 'dasjenige, unter dessen Herrschaft die Mehrzahl der Menschen steht. Wer da zweifeln wollte, ob auch Billigung und Verwerfung hin- reichende Antriebe zum Handeln seien, der kennt die Menschen schlecht: um die beständige Verachtung der Gesellschaft ruhig ertragen zu können, ist unter Zehntausenden kaum einer gefühllos genug. Und wenn der Gesetzesübertreter den staatlichen Strafen zu entgehen hofft und den Gedanken an künftige Vergeltung sich aus dem Sinne schlägt, niemals wird er für seine Freveltat der Mißachtung der Mitlebenden entrinnen. Mit dieser Ansicht harmoniert vollkommen der den Erziehern erteilte Rat, im Zögling von früh an den Ehrtrieb zu pflegen.

Von den vier Moralprinzipien, welche Locke nebeneinander und abwechselnd benutzt, ohne deren Verhältnis genauer zu erörtern Vernunft, Wille Gottes, allgemeines Wohl (und daraus abgeleitet: Billigung der Mitmenschen), Eigenliebe , haben die beiden letzteren nur eine akzessorische Bedeutung, während die beiden ersten einander derart in die Hände arbeiten, daß das eine den Inhalt des Guten bestimmt, das andere diesen bestätigt und ihm die verpflichtende Autorität hinzufügt. Die christliche Religion leistet der Vernunft einen dreifachen Dienst: sie gibt ihr eine Belehrung über unsere Pflichten, welche die Vernunft zwar auch ohne Hilfe der Oflenbarung, nur nicht so schnell und sicher, hätte erlangen können; sie umkleidet das Gute, indem sie es als Gottes Gebot verkündet, mit der Hoheit absoluter Verpflichtung; sie vermehrt die Antriebe zur Sittlichkeit durch ihre Lehre von der Unsterblichkeit und jenseitigen Vergeltung. Wenn Locke die Tugend so eng mit dem irdischen Glück und der ewigen Seligkeit verbindet, wenn er in der Aussicht auf Himmel und Hölle eine willkommene Unterstützung des Willens gegen die Macht der Leidenschaften begrüßt, so darf nicht ver- gessen werden, daß solcher Hinblick auf den Erfolg und Lohn der Tugend ihm doch schließlich nur die Bedeutung eines Erleichterungs- mittels, nicht die des eigentlich sittlichen Motives besitzt: die ewige Glückseligkeit ist gleichsam die „Aussteuer" der Tugend, welche den eigenen Wert derselben wohl in den Augen der Toren und Schwachen erhöht, aber nicht ihn ausmacht oder begründet. Dem Weisen erscheint

Praktische Philosophie: Politik.

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die Tugeiul auch ohne jene Mitgift schon au sich schön und begehrens- wert genug, doch verschaffen ihr die Empfehlungen der Philosophen nur wenige Bewerber. Die Menge wird allein dadurch für sie gewonnen, daß man ihr klar niacht, Tugend sei das „beste Geschäft".

In der Politik erscheint Locke als Bekämpfer der beiden Formen des Absolutismus, der despotischen des Hobbes und der patriarchalischen -des Fiimer (f 1647, sein Pafriarcha erklärte die erbliche Monarchie für eine göttliche Einsetzung), und als gemäßigter Fortsetzer der liberalen Tendenzen des Milton (1608 1674) und des A. Sidney (f 1683; Discourses concernmg govemvient). Die beiden „Abhandlungen über bürgerliche Regierung" 1689 entwickeln, die erste negativ, die zweite positi\', mit direkter Bezugnahme auf die damaligen politischen Zustände Englands, die Theorie des Konstitutionalismus. Alle Menschen werden frei und gleich an Fähigkeiten und Rechten geboren. Jeder soll sich selbst erhalten, ohne die anderen zu verletzen. Das Recht, von jeder- mann als ein vernünftiges Wesen behandelt zu werden, gilt schon vor der Gründung des Staates, aber es fehlt da noch an einer autoritativen Macht, Streitigkeiten zu entscheiden. Der Naturzustand ist nicht an sich ein Zustand des Krieges, aber er würde zu einem solchen führen, . wenn jeder sein Recht, sich gegen Verletzungen zu wahren, selbst aus- üben wollte. Zur Verhütung von Gewaltsamkeiten ist durch freien Ver- trag eine bürgerliche Gesellschaft zu gründen, der jedes Glied seine Freiheit und Macht überträgt. Die Unterwerfung unter die Staatsgewalt ist eine freiwillige, durch den Vertrag werden die natürlichen Rechte geschützt, nicht aufgehoben; politische Freiheit ist Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz, Unterordnung unter den durch Majorität sich kundgebenden gemeinsamen Willen. Die politische Gewalt ist weder eine tyrannische, denn Willkürherrschaft ist um nichts besser als der Naturzustand, noch eine väterliche, denn zwischen Obrigkeit und Unter- tanen findet, was zwischen Eltern und Kindern nicht der Fall ist, Gleichheit des Vernunftgebrauches statt. Die oberste Gewalt ist die gesetzgebende, welche die Gesamtheit gewählten Vertretern anver- traut; die Gesetze sollen das allgemeine Wohl zum Ziele haben. Der legis- lativen untergeordnet und von ihr zu trennen sind die beiden ausführen- den Gewalten, die am besten in einer Hand (der des Königs) vereinigt werden: die exekutive (die Verwaltung und Jurisdiktion), welche die Gesetze vollstreckt, und die föderative, welche das Gemeinwesen nach außen verteidigt. Der Fürst steht unter dem Gesetz. Wenn die Regie- rung durch die Übertretung des Gesetzes sich der ihr übertragenen INIacht unwürdig und verlustig gemacht hat, kehrt die Souveränität dort- hin zurück, von wo sie ausgegangen ist: zum Volk. Das Volk entscheidet •darüber, ob die Repräsentanten und der Monarch das ihnen geschenkte Vertrauen rechtfertigen, und ist befugt, sie bei Verletzung ihrer Vollmacht

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Locke: Erziehung.

abzusetzen. Da der eidlich gelobte Gehorsam nur dem Gesetz gilt, so hat der Fürst, der diesem zuwiderhandelt, das Recht zu befehlen ver- loren, er setzt sich in Kriegszustand zum Volk, und die Revolution ist nur Notwehr gegen einen Angreifer.

Montesquieu hat diese politischen Ideen Leckes zum Gemeingut Europas gemacht. ^ Das gleiche Verdienst hat sich Rousseau um die in den anspruchslos auftretenden, aber bedeutenden „Gedanken über Erziehung" 1693 niedergelegten pädagogischen Ansichten erworben. Die Erziehung soll nichts in den Zögling hineintragen, sondern alles aus ihm herauslocken, soll ihn leiten, aber nicht meistern, seine Anlagen naturgemäß entwickeln, seine Selbsttätigkeit wecken, nicht ihn zur Gelehrsamkeit abrichten. Hierzu ist eingehende und liebevolle Berück- sichtigung seiner Individualität erforderlich, und aus diesem Grunde die Privaterziehung der öffentlichen vorzuziehen. Ein brauchbares Mit- glied der Gesellschaft soll die Erziehung aus dem Menschen machen^ daher darf sie auch die körperliche Ausbildung nicht vernachlässigen. Spielendes Lernen und Anschauungsunterricht machen dem Kinde die Arbeit zu einer lustvollen Tätigkeit; die modernen Sprachen müssen mehr durch Sprechen als nach systematischer Methode gelernt werden. Der Hauptunterschied zwischen Locke und Rousseau besteht darin, daß der erstere großen Wert auf die Weckung des Ehrgefühls legt, der letztere dieses Erziehungsmittel gänzlich verwirft und daß jener dem Er- zieher empfiehlt, an die Vernunft des Zöglings zu appellieren, worin Rousseau einen Fehler erblickt, da dies hieße, die Erziehungsarbeit mit dem Ende beginnen. (Die Pädagogik Lockes und Rousseaus werden \erglichen in den Dissertationen von Vas. Saftu, Bukarest 1889; R. N. CoRviN, Heidelberg 1894; G. Wilke, Scheinfeld 1898.) Über die negative Erziehung urteilt Höffding (Rousseau, S. 147) treffend: „Rousseau hat hier tiefer gegraben, wenngleich Locke ihm gezeigt hatte,, wo er s;raben solle."

Fünftes Kapitel. Die englische Philosophie des XVIII. Jahrhunderts.

Locke hatte neben der Erkenntnistheorie, die im Mittelpunkte seiner Lehre steht, auch die übrigen Zweige der Philosophie, obwohl nicht in gleicher Ausführlichkeit, behandelt und durch vielseitige Anregungen der

* Vergl. Theod. Pietsch, Über das Verhältnis der politischen Theorien Lockes zu Montesqnieus Lehre von der Teilung der Gewalten, Berliner Diss., Breslau 1887^

Newton. j cq

englischen und französischen Aufklärung ihre Themata gestellt. Nun trennnen sich die verschiedenen Disziplinen, aber allenthalben wirkt sein mächtiger Geist nach. Die Entwickelung des Deismus seit Toland steht direkt unter dem Einfluß seines „vernünftigen Christentums", Shaftes- burys Ethik knüpft polemisch an seine Leugnung alles Angeborenen an, und während Berkeley und Hume die Konsequenzen seiner Erkennt- nislehre ziehen, empfängt Hartley aus seinem Kapitel über die Ideen- assoziation den Impuls zu einer neuen Form der Seelenlehre.

1. Naturphilosophie und Psychologie.

Mit Lockes großem Landsmann Isaak Newton (1642 1727) ^ er- reicht die moderne Xaturforschung das Niveau, dem sie seit dem Ausgang des Mittelalters zuerst in Wünschen und Forderungen, allmählich auch in Erkenntnissen und Taten zustrebte. Nicht mit einem Schlage vermochte sich die ]Menschheit der eingewöhnten Naturanschauung des Aristoteles, welche die Dinge mit inneren, geistartigen Kräften belebte, zu entledigen. Zwischen Telesius und Newton liegt ein volles Jahrhundert: solange Zeit brauchte der Begriff des Naturgesetzes, um aus der Eierschale zu schlüpfen. Ehe Newton das große Wort „Lasset die substantiellen For- men und die verborgenen Qualitäten beiseite und führt die Naturerschei- nungen auf mathematische Gesetze zurück" gelassen aussprechen, ehe er Galileis und Keplers Entdeckungen durch die seinige krönen konnte, mußte sich eine ungeheure ^^eränderung der Ansichten durch- gesetzt haben. Denn jene erfolgreiche ^'ereinigung der experimentierenden Induktion Bacos und der mathematischen Deduktion des Descartes, der analytischen und der synthetischen Methode, wie sie in der Forderung und dem Nachweis mathematisch formulierter Naturgesetze vorliegt, setzt voraus, daß die Natur alles inneren Lebens - und aller qualitativen Unterschiede beraubt, alles Sein als aus gleichmäßig wirkenden Teilen zusammengesetzt, alles Geschehen als Bewegung begriffen werde. Damit ist das Hobbessche Programm der mechanischen Naturwissenschaft er- füllt. Himmel und Erde sind dem gleichen Gesetze der Gravitation unterworfen. Wie sehr übriiiens die encere Bedeutung von Mechanis-

' 1669 1695 Professor der Mathematik in Cambridge, seitdem in London; 1672 Mitglied, 1703 Präsident der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. Haupt- werk: Naturalis philosophlae principia matheiitatica 1687, deutsch von WoLFERS 1872. Werke 1779 ff. Über ihn: K. Snell 1843; Durdik, Leibniz und Newton 1869; Lange, Gesch. d. Mat. S. 220 ff.

2 Daß die mathematische Naturbetrachtung, da sie nur quantitative Unterschiede gelten lassen darf, einer Entseelung der Natur gleichkomme, hatte Poiret deutlich erkannt. Bezeichnend ist sein Ausspruch: die Prinzipien der cartesianischen Physik betreffen nur den „Kadaver" der Natur (enid. p. 260).

j5o Hartley und Priestley.

mus (Bewegung aus Druck und Stoß) auch bei Newton noch in Geltung stand, geht daraus hervor, daß er, den man oft als Schöpfer der dyna- mischen Naturauffassung gefeiert hat, eine Fernewirkung als widersinnig ablehnend, die Annahme einer (vermutlich im Stoße imponderabler Stoff- teile bestehenden) „Ursache" der Schwere für unerläßlich hielt. Erst seine Schüler (so Roger Cotes in der Vorrede zu der zweiten Auflage der Prinzipien 17 13) wagten es, die Schwere als allgemeine Kraft der Materie, als „primäre Qualität aller Körper" zu proklamieren.

Gleich Boyle mit der Strenge physikalischen Denkens eine tiefe Reli- giosität verbindend, sieht Newton in der wundervollen, einer verbessern- den Nachhilfe seitens des Schöpfers (von besonderen Ausnahmefällen abgesehen) nicht bedürftigen Einrichtung der Weltmaschine deren Zweckmäßigkeit er ebenso begeistert preist, wie er die Einmischung teleo- logischer Gesichtspunkte in die Erklärung der physischen Ereignisse un- bedingt verwirft, den sichersten Beweis eines intelligenten Welt- urhebers; mit diesen „physiko-theologischen" Argumenten dem Deismus eine willkommene Stütze bietend. Während der endliche Geist im Sen- sorium des Gehirns die von den Sinnen heranwandernden Bilder der Gegenstände wahrnimmt, hat Gott alle Dinge in sich, ist in allen un- mittelbar gegenwärtig und erkennt sie ohne Sinnesorgane, sein Sensorium ist der Weltraum.

Die nach dem Vorgang von Gay durch den Mediziner David Hartley ^ in Cambridge (1705 1757) und dessen Schüler, den Dissenter- prediger und Naturforscher Joseph Priestley- (geb. 1733, gest. in Philadelphia 1804, entdeckte 1774 den Sauerstoff), unternommene Über- tragung der mechanischen Anschauung auf die psychischen Er- scheinungen war gleichfalls von der Überzeugung begleitet, daß von ihr aus dem Gottesglauben keine Gefahr, eher eine Hilfe, erwachse.

In zwei Sätzen ist die Grundanschauung dieser Psychologen aus- gedrückt: l) alles Vorstellungs- und Triebleben beruht auf der Mechanik psychischer Elemente, die höchsten und verwickeltsten inneren Phäno- mene (Gedanken, Gefühle, Entschlüsse) sind Produkte aus der Zusammen- setzung einfacher Vorstellungen oder entstehen durch „Ideenassoziation"; 2) alle inneren Vorgänge, die zusammengesetzten wie die einfachen,

1 Hartley: Betrachtungen über den Menschen, seinen Bau, seine Pflicht und seine Erwartungen 1749, 4. Aufl. 1801; Untersuchung über den Ursprung der menschlichen Begierden und Affekte 1747, ^TS^-

2 Priestley: Hartleys Theorie des menschlichen Geistes nach den Prinzipien der Ideenassoziation 1775; Untersuchungen über Materie und Geist 1777; Die Lehre von der philosophischen Notwendigkeit 1777; Freie Erörterungen der materialistischen Lehren (gegen R. Prices Briefe über Materialismus und philosophische Notwendig- keit) 1778. Über beide vergleiche die Dissertation von Schoenlank: Hartley und Priestley, die Begründer des Assoziationismus in England, 1882.

Die Assoziationspsychologie. jgi

sind begleitet von resp. beruhen auf mehr oder minder komplizierten körper- lichen Vorgängen, nämlich Nervenprozessen und Gehirnschwingungen. Wenn Hartley und Priestley gleicherweise eine assoziative und physiologische Behandlung der .Seelenlehre fordern und in Angriff nehmen, so unterscheiden sie sich dadurch, daß der erstere vorsichtig nur von einem Nebeneinandergehen, einer Korrespondenz der beider- seitigen Prozesse redet, eine Materialisierung der inneren Erscheinungen aber mit dem Hinweis darauf ablehnt, daß die Heterogenität von Be- wegung und Vorstellung eine Reduktion dieser auf jene verbiete und die psychologische Analyse niemals zu körperlichen, sondern immer nur zu psychischen Elementen gelange, auch nur ungern, im Gefühl der Bedenklichkeit solcher Folgerung, die Abhängigkeit der Gehirnvibrationen von den mechanischen Gesetzen der Körperwelt und die durchgängige Bestimmtheit des menschlichen Willens zugesteht und sich damit tröstet, daß trotzdem die moralische Verantwortlichkeit bestehen bleibe ; der letztere dagegen sich unerschrocken zu den materialistischen und deter- ministischen Konsequenzen seines Standpunktes bekennt, die seelischen Vorgänge nicht bloß von materiellen Bewegungen begleitet sein, sondern in solchen bestehen läßt (Denken ist Gehirntätigkeit) und die Psycho- logie als Nervenphysik zu einem Teile der Physiologie macht. Die Leug- nung der Unsterblichkeit und des göttlichen Ursprungs der Welt soll jedoch keineswegs aus dem Materialismus folgen: Priestley hat nicht nur den Atheismus Holbachs bekämpft, sondern ist auch mit eigenen Schriften über die natürliche Religion und über die Entstellungen des Christen- tums in die Reihen der Deisten eingetreten.

Schon bei Hartley taucht (vergl. Jodl, Gesch. d. Ethik I, S. 197 f.) der für die Sittenlehre wichtige Satz auf, daß durch Assoziation Dinge und Handlungen (z. B. Beförderung fremden Wohles), die anfänglich nur als Mittel des eigenen Genusses begehrt und getan wurden, mit der Zeit einen unmittelbaren Wert an sich selbst losgelöst von dem ur- sprünglichen egoistischen Zwecke erlangen. Diesen Gedanken hat später James Mill (182g) wiederholt. Wie für den Ehrgeizigen der Ruhm, für den Habsüchtigen das Geld direkte Begehrungsobjekte ge- worden sind, so kann sich mittels der Assoziation das Streben nach dem, was Lob erntet, in ein Streben nach dem, was Lob verdient, verwandeln.

Von den späteren Assoziationspsychologen sei Erasmus Darwin (Zoonomie oder die Gesetze des organischen Lebens 1794 1796) an- geführt. Für die deutsche P.sychologie wurde nach Dessoir S, 119 f. wichtig namentlich durch den Begriff der mit der Einbildungskraft gleichgesetzten „Seelenorgane" Edward Search, Pseudonym für Abraham Tucker: Das Licht der Natur 1768 f, deutsch von Erx- LEBEN 1771 72.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. II

l62 Der englische Deismus.

2. Deismus.

Wie Baco und Descartes die Naturerkenntnis, Hobbes den Staat, Grotius das Recht von der kirchlichen Autorität befreit und auf sich selbst, d. h. auf Natur und Vernunft gestellt hatten, so will der Deismus ' die Religion von der Kirchenlehre und dem blinden Geschichtsglauben loslösen und aus der natürlichen Erkenntnis ableiten. Sofern er in der Vernunft sowohl die Quelle als den Prüfstein der wahren Religion er- blickt, ist er Rationalismus; sofern er von dem übernatürlichen Licht der Offenbarung und Inspiration an das natürliche Licht der Vernunft appelliert, ist er Naturalismus; sofern er die Offenbarung nebst ihren Urkunden nicht nur keine Schranke für die prüfende Vernunft sein läßt, sondern sie zu einem Hauptobjekt derselben macht, sind seine Anhänger Freidenker.

Die allgemeinen Grundsätze des Deismus lassen sich in wenige Thesen zusammendrängen. Es gibt eine natürliche Religion, deren wesent- lichen Inhalt die Moral bildet; sie umfaßt nicht viel mehr als die beiden Gebote: Glaube an Gott und tue deine Pflicht. Nach ihr sind die positiven Religionen zu beurteilen. Was in den letzteren zur natürlichen Religion hinzukommt oder gar ihr widerstreitet, ist überflüssige und schädliche Zutat, willkürliche Menschensatzung, das Werk schlauer Fürsten und betrügerischer Priester. Das Christentum, in seiner ursprünglichen Gestalt der vollkommene Ausdruck der reinen Vernunftreligion, hat in seiner kirchlichen Ausbildung grobe Verunreinigungen erfahren, von denen es nunmehr geläutert werden muß.

Die Begründung dieser obersten Sätze ist folgende. Es gibt nur eine Wahrheit und nur eine wahre Religion. Wenn an der Erfüllung ihrer Gebote die Seligkeit des Menschen hängt, so müssen sie jedem faßlich und jedem mitgeteilt sein, und da eine besondere Offenbarung und Gesetzgebung nicht zu aller Kenntnis gelangt, so können sie keine anderen als die dem Menschen ins Herz geschriebenen Gesetze der Pflicht sein. Zum Heil bedarf es nur der Erkenntnis Gottes als Schöp- fers und Richters und der Erfüllung seiner Gebote, d. h. der sittlichen Lebensführung. Die eine wahre Religion ist den Menschen in doppelter Form mitgeteilt worden, durch die innere, natürliche Offenbarung der Vernunft und durch die äußere, geschichtliche des Evangeliums. Da beide Lichter von Gott kommen, können sie einander nicht wider- sprechen. Die natürliche Religion und die wahre unter den positiven sind demnach nicht durch ihren Inhalt, sondern nur durch die Art der Bekanntmachung unterschieden. Die Vernunft mißt die geschichtliche

1 Vergl. die streng quellenmäßige Darstellung von G. V. Lechler, Geschichte des englischen Deismus, 1841.

Der englische Deismus.

163

Religion an der Norm der natürlichen nnd unterscheidet die wirkliche Offenbarung \on der vermeintlichen durch die Übereinstimmung ihres Inhaltes mit der Vernunft: der Deist glaubt an die Schrift wegen ihrer Aemünftigen Lehre, nicht aber hält er ihre Lehre für wahr, weil sie in der Bibel steht. Enthält die positive Religion weniger, als die natürliche, so ist sie unvollständig; enthält sie mehr, ist sie tyrannisch, indem sie unnötige Dinge auferlegt. Die Berechtigung der Vernunft, das Richter- amt über die Glaubwürdigkeit der Offenbarung zu üben, steht außer Zweifel; gibt es doch außer ihr kein Mittel, zur Wahrheit zu gelangen, und die Annahme einer äußeren Offenbarung als einer echten, nicht bloß vorgeblichen, ist selbst nur möglich für denjenigen, der schon durch das innere Licht der Vernunft von dem Dasein Gottes überzeugt ist. An diese begriffliche Überlegung schließt sich eine, anfangs nur flüchtig angedeutete, im weitem Verlauf der deistischen Bewegung immer aus- führlicher dargelegte geschichtliche Ansicht. Die natürliche Religion ist stets und überall dieselbe, ist allgemein und notwendig, ist vollkommen, ewig und ursprünglich. Als ursprünglich ist sie die früheste Religion und so alt wie die Welt; als vollkommen ist sie keines Fortschritts, sondern nur der Verderbnis und der Wiederherstellung fähig. Zweimal hat sie in voller Reinheit bestanden, als Religion der ersten ^lenschen und als Religion Christi. Zweimal ist sie entstellt worden, in der vorchristlichen Zeit durch Götzendienst, der von der Totenverehrung Ägyptens ausging, in der nachchristlichen durch Wundersucht und blinden Autoritätsglauben; beidemal geschah die Trübung durch herrschsüchtige Priester, die mit unverständlichen Dogmen und prunkenden, geheimnisvollen Zeremonien das Volk zu schrecken und zu zügeln wünschten und bei dem Aber- glauben der Menge ihren Vorteil fanden: jede neue Gottheit, jedes neue ^lysterium war ihnen ein Gewinn. Wie sie die Urreligion zum Polytheis- mus verderbt hatten, so wurde das Christentum durch Anbequemung an die Vorurteile der zu Bekehrenden verunreinigt, in deren Augen der neuen Lehre ihre Einfachheit nicht zur Empfehlung gedient hätte. Der Jude wollte sein Gesetz, der Heide seine Feste und seine schwerverständ- liche Philosophie in ihr wiederfinden, so wurde sie mit unnützen Kultus- handlungen und unnützem Tiefsinn belastet, wurde verjudet und ver- heidnischt. Besonders anstößig mußten dem rein verständigen Sinne der Deisten die Dogmen von der Erbsünde, der Genugtuung und Ver- söhnung sein. Es kann uns weder fremde Schuld (die Sünde der Vor- fahren) noch fremde Sühne (der Kreuzestod Jesu) zugerechnet werden: nur metaphorisch ist Christus der Erlöser zu nennen, sofern das Beispiel seines Todes uns zu eigenem Glauben und Gehorsam anleitet. Dagegen war der Name des Atheismus, den freilich die Orthodoxie für jeden nicht in ihrem Sinne korrekten Glauben bereit hielt, unverdient. An der christlichen Offenbarung haben sie nicht gerüttelt, noch weniger an dem

II*

164 Dek englische Deismus.

Gottesglauben. Ein Gottesleugner galt ihnen für vernunftberaubt, und die historische Offenbarung hielten sie keineswegs für überflüssig. Der Zweck der letzteren war, die Gemüter zu erschüttern, zur Einkehr und Umkehr zu bewegen, die Sitten umzugestalten, und wer sie für entbehr- lich erklären möchte, weil sie nur natürliche Wahrheiten gebracht, der wird auf die Bücher Euklids verwiesen, die gewiß auch nichts enthalten, was nicht in der Vernunft begründet wäre, und von denen doch nur ein Tor behaupten wird, daß er ihrer zur Erlernung der Mathematik nicht bedürfe.

Was wir hier als Gesamtanschauung des Deismus zusammengefaßt haben, gelangte in regelrechter Entwickclung und Spezialisierung der Gedanken durch die einzelnen Vertreter der Richtung nacheinander zum Ausdruck. Die Höhepunkte und Epochen derselben werden durch To- lands ,.geheimnisloses Christentum" 1696, Collins' „Abhandlung über das Freidenken" 1713, Tind als „Christentum so alt wie die Schöpfung" 1730 und Chubbs „wahres Evangelium Jesu Christi" 1738 bezeichnet. Der erste fordert eine Kritik der Offenbarung, der zweite verteidigt das Recht der freien Forschung, der dritte erklärt die von Christus nur er- neuerte natürliche Religion für die älteste, der vierte führt sie ganz und gar auf sittlichen Wandel zurück.

Die deistische Bewegung war von Herbert v. Cherbury (S. 70 bis 71) ins Leben gerufen und von Locke (S. 153 154) fortgesetzt worden, sofern derselbe die Unterscheidung der wahren von der falschen Offen- barung der Vernunft anvertraut und im Christentum zwar Übervernünf- tiges, aber nichts Widervernünftiges zugestanden hatte. Einen Schritt weiter geht, an ihn anknüpfend, John Toland (1670 1722) mit dem Nachweise, daß im Evangelium nicht bloß nichts Widervernünftiges, sondern auch nichts Übervernünftiges enthalten sei und keine christliche Lehre ein Geheimnis genannt werden dürfe [Christianiiy not mysterious). Der Zumutung, daß man anbeten solle, was man nicht begreife, erwidert er, daß die Vernunft das einzige Fundament der Gewißheit sei und sie allein über die Göttlichkeit der Schrift aus ihrem Gehalt entscheide. Das Motiv, das uns einer Wahrheit zuzustimmen bewegt, kann immer nur in der Vernunft liegen, nicht in der Offenbarung, die, wie alle Autorität und Erfahrung, bloß der Weg ist, auf dem wir zur Kenntnis der Wahr- heit gelangen: sie ist Unterrichtsmittel, nicht Überzeugungsgrund. Alles Glauben hat ein Wissen und Verstehen zur Bedingung und ist eine ver- ständige Überzeugung. Ehe wir uns auf die heiligen Schriften verlassen können, müssen wir überzeugt sein, daß sie in der Tat ihren angeb- lichen Autoren angehören, und überlegen, ob diese Männer, ihr Tun und ihre Werke Gottes würdig seien. Daß uns das innere Wesen Gottes unerforschlich ist, macht ihn nicht zum Geheimnis, denn von den ge- wöhnlichen Dingen der Natur kennen wir auch nur die Eigenschaften.

TOLAND, COLLINS.

165

Auch die Wunder sind nichts an sich Unbegreifliches, sie sind nur Steigerungen der Naturgesetze über ihre gewöhnlichen Wirkungen hinaus durch übernatürliche Assistenz, die Gott jedoch sparsam und nur für außerordentliche Zwecke gewährt. Die in die christliche Moralreligion eingeschmuggelten Mysterien erklärt Toland aus der Schonung jüdischer und heidnischer Gebräuche, dem Eindringen gelehrter Spekulation und eigennütziger Erfindung des Klerus und der Obrigkeit. Auch durch die Reformation ist die ursprüngliche Reinheit und Einfachheit noch nicht ganz restituiert.

Soweit der Deist Toland. In seinen späteren Schriften, den fünf an die preußische Königin Sophie Charlotte gerichteten „Briefen an Serena" 1704 und dem „Pantheistikon" (Kosmopolis 1720) schreitet er zu einem hylozoistischen Pantheismus fort.

Von den Briefen handelt der erste von den Vorurteilen der Men- schen, der zweite von der heidnischen Unsterblichkeitslehre, der dritte von der Entstehung des Götzendienstes, der vierte und fünfte beschäf- tigt sich mit Spinoza und bezeichnet als Hauptmangel seiner Philosophie, daß sie die Bewegung unerklärt lasse. Die Bewegung gehört ebenso notwendig zum Begriff" der Materie, wie Ausdehnung und Undurchdring- lichkeit. Der Stoff" ist immer bewegt, Ruhe ist nur gegenseitige Hemmung zweier bewegender Kräfte. Auf der mannigfaltigen Bewegung der Stoß"- teilchen beruht die Verschiedenheit der Dinge, so daß es die Bewegung ist, welche die allgemeine Materie zu den Einzelwesen individuiert. Wie die Briefe den planvollen Bau der Organismen einer göttlichen Vernunft zuschreiben, so hält sich auch das Pantheistikon von der Konsequenz des nackten Materialismus fern. Alles ist aus dem Ganzen, das Ganze ist unendlich, eins, ewig, allvernünftig, Gott ist die Kraft des Ganzen, die Seele der Welt, das Gesetz der Natur. Das Büchlein enthält eine Liturgie der pantheistischen Gemeinde mit vielen Stellen aus alten Dichtern.

Anthony Collinsi (1676 1729) erweist in seinem Discourse of free-thinking 17 13 das Recht des freien Denkens (d. h. des Urteilens nach Beweisen) im allgemeinen aus dem Grundsatze, daß uns keine Wahrheit zu erkennen verboten ist und wir auf keinem anderen Wege zu ihr kommen und den Aberglauben loswerden können, und das Recht seiner Anwendung auf Gott und Bibel im besonderen aus dem Umstände, daß die Priester über die wichtigsten Dinge geteilter Ansicht sind. Die Besorgnis, daß die aus dem Freidenken entspringenden Meinungsver- schiedenheiten den Frieden der Gesellschaft gefährden würden, ist unbe- gründet; im Gegenteil, Unordnungen hat nur die Beschränkung der

^ A. Collins: A philosophical enqitiry conceriiing htmian liherty and necessiiy 1715; A dissertation on liberly and necessity 1729.

l66 Der englische Deismus.

Denkfreiheit zur Folge, indem sie den Eifer in sittlichen Dingen schwächt. Die Geistlichen sind die einzigen, welche das freie Denken verdammen. Es ist ein Frevel, zu meinen, daß Irrtum nützlich und Wahrheit schäd- lich sein könne. Zum Beweis, daß das freie Denken keineswegs den Charakter verderbe, gibt Collins zum Schluß ein Verzeichnis edler Frei- denker von Sokrates bis zu Locke und Tillotson. Von den Gegen- schriften seien die ruhig und sachlich gehaltenen Boyleschen Predigten von B. Ibbot und der scharfe und derb witzige Brief des berühmten Philologen Richard Bentley genannt. Beide bekämpfen nicht den obersten Grundsatz des Collins, sondern gestehen das Recht des unbe- schränkten Vernunftgebrauches auch für religiöse Fragen in vollem Maße zu; aber sie wenden sich gegen die Unterstellung, als sei frei denken so viel als Opposition machen. Auf der einen Seite sei Collins' Frei- denken zu frei, nämlich zügellos, voreilig, anmaßend und paradox; auf der andern nicht (vorurteils-) frei genug.

Nachdem Shaftesbury die Sittlichkeit auf den Naturinstinkt des Schönen gegründet und von der Religion unabhängig gemacht, auch durch einen mit feinem Spott geführten Feldzug gegen Schwärmerei und Orthodoxie der freidenkerischen Sache gedient, und Clarke in der objektiven Vernunft der Dinge den Vertretern der natürlichen Religion ein brauchbares Moralprinzip dargeboten hatte, drohte die deistische Be- wegung mit der Debatte über die Weissagungen und über die Wunder ^

1 Der Hauptkämpfer in dem durch Whistons Verfälschungshypothese hervor- gerufenen Streit über den Weissagungsbeweis war Collius (Über die Gründe und Beweise der christlichen Religion 1724). Das Christentum ist auf das Juden- tum gegründet, sein Grundartikel, daß Jesus der prophezeite Messias der Juden sei, sein Hauptbeweis der aus den Weissagungen des Alten Testaments, der .allerdings auf typischer und allegorischer Auslegung der betreffenden Stellen beruht. Wer diese verwirft, der zieht der christlichen Offenbarung, die nur der allegorische Sinn der jüdischen ist, den Boden unter den Füßen weg. Den zweiten Offenbarungs- beweis, den aus den Wundern, erschüttert Thomas Woolston (Sechs Diskurse über die Wunder unseres Heilands, 1727 1729) dadurch, daß er auch auf sie die allegorische Deutung ausdehnt. Er stützt sich dabei auf die Autorität der Kirchen- väter und vor allem darauf, daß jene Erzählungen, wenn man sie wörtlich nimmt, allem Sinn und Verstand widersprechen. Die unabweisbaren Bedenken, die sich gegen die buchstäbliche Auslegung der Totenerweckungen, Krankeuheilungen, Dämonen- austreibungen und der übrigen Wunder erheben, beweisen, daß dieselben nur sym- bolische Darstellungen der geheimnisvollen und wunderbaren Wirkungen, die Jesus verrichten werde, sein sollen. So bedeutet Jairi Töchterlein die jüdische Kirche, die bei Christi Wiederkunft neu belebt, Lazarus versinnbildlicht die Menschheit, die am üngsten Tage auferweckt werden wird, die Geschichte von der leiblichen Auf- erstehung Jesu ist ein Symbol seiner geistigen Auferstehung aus dem Grabe des Buch- stabens der Schrift. Gegen Sherlock, dessen ,, Zeugenverhör über die Aufer- stehung Jesu" lauge Zeit für eine bündige Widerlegung der Angriffe Woolstons galt, trat P. Ann et auf, der, ohne die Hintertür der sinnbildlichen Auslegung offen zu

WOOLSTON, TiNDAL, CHUBB.

167

in zerstreute theologische Kleingefechte auseinanderzugehen. Da wairde sie durch Matthews Tindal (1656— 1733) auf die Hauptfrage zurück- gelenkt. Sein Cristianity as old as creation ist das Grundbuch des Deismus. Es enthält alles, was wir als den Kern dieser Religionsansicht vorangestellt haben. Christus ist erschienen, nicht um eine neue Lehre zu bringen, sondern um zur Reue und Buße zu ermahnen und das Gesetz der Natur wiederherzustellen, das so alt ist wie die Schöpfun«- so allgemein wie die Vernunft und so unveränderlich wie Gott, die menschliche Natur und die Verhältnisse der Dinge zueinander, die wir im Handeln respektieren sollen. Religion ist Sittlichkeit, genauer: sie ist die freie, beständige Neigung, so viel als möglich Gutes zu tun und hierdurch die Ehre Gottes und das eigene Wohl zu fördern. Denn die Übereinstimmung unseres Handelns mit den Vernunftregeln macht unsere Vollkommenheit aus und auf dieser beruht unsere Glückseligkeit. Da Gott unendlich selig und selbstgenügsam ist, hat er bei den Pflichto-e- boten nur das Glück der Menschen im Auge. Was eine positive Religion außer dem Sittengesetz enthält, ist Aberglaube, der auf Kleinigkeiten Wert legt, die keinen haben. Die wahre Religion steht in der glücklichen Mitte zwischen dem trostlosen Unglauben auf der einen und dem ängst- lichen Aberglauben, der wilden Schwärmerei und dem frömmelnden Eifer auf der anderen Seite. Wenn wir die Souveränität der Vernunft auch auf religiösem Gebiet verkünden, so fordern wir nur offen dasselbe, was die Gegner in der Praxis (z. B. der allegorischen Auslegung) \o\\ jeher stillschweigend anerkannt haben. Gott hat uns die Ver- nunft gegeben, damit wir durch sie das Wahre vom Falschen unter- scheiden sollen.

Thomas Chubb (1679— 1747), ^ii^ Mann aus dem Volke (er war Handschuhmacher und Lichtzieher), seit 17 15 an der deistischen Literatur beteiligt und bemüht, die neuen Ideen seinen Standesgenossen mundge- recht zu machen, predigt in dem True gospel of Jesus Christ 1738 ein ehrenwertes Handwerkerchristentum. Glauben heißt, das von Christus eingeschärfte Vernunftgesetz beobachten, nicht, die über ihn berichteten Tatsachen für wahr halten. Das Evangelium Christi wurde den Armen gepredigt, bevor er gestorben und, wie es heißt, auferstanden und gen Himmel gefahren war. Daß Christus gelebt, ist wahrscheinlich wegen

lassen, noch rücksichtsloser in der Aufdeckung von Unglaubhaftigkeiten und Wider- sprüchen in den evangelischen Berichten vorging und die christlichen Schriftsteller insgesamt für Lügner und Verfälscher erklärte. Wer Wunder, als übernatürliche Ein- griffe in den gesetzlichen Xaturlauf, behauptet (und so muß man sie nehmen, wenn sie die Göttlichkeit des Evangeliums beglaubigen sollen), der macht Gott zu einem veränderlichen Wesen und die Naturgesetze zu unvollkommenen, der Korrektur be- dürftigen Einrichtungen. Die Wahrheit der Religion ist unabhängig von aller Historie.

l68 Der englische Deismus.

der großen Wirkung seiner Botschaft; aber er war ein Mensch wie andere. Sein Evangelium ist seine Lehre, nicht seine Geschichte; seine eigene Lehre, nicht die seiner Anhänger: die Reflexionen der Apostel sind Privat- meinungen. Sie kommt auf drei Grundwahrheiten hinaus: i. befolo-e das sittliche Vernunftgesetz der Liebe Gottes und des Nächsten, das ist der einzige Grund des göttlichen Wohlgefallens; 2. nach Verletzung des Gesetzes ist Buße und Besserung der einzige Grund der göttlichen Gnade und Vergebung; 3. am Tage des Gerichts wird dir nach deinen Werken vergolten werden. Indem Christus diese Lehrsätze verkündete, sie in seinem eigenen reinen Leben und vorbildlichen Tode bewährte und religiös-sittliche Vereine nach dem Grundsatze brüderlicher Gleichheit stiftete, hat er die angemessensten Mittel gewählt für seinen Zweck, die Errettung der Menschenseelen. Er wollte die Menschen der künftigen (und der mit ihr verbundenen irdischen) Glückseligkeit versichern und würdig machen, die allein dadurch erlangt wird, daß man sich aus freier Überzeugung dem auf die moralische Schicklichkeit der Dinge gegrün- deten natürlichen Sittengesetz unterwirft. Alles, was den Wahn erweckt, daß man durch irgend etwas anderes als durch Rechtschaff'enheit und Reue Gottes Gunst erwerbe, ist verderblich; desgleichen die Vermischung der christlichen Gesellschaften mit den ganz andere Zwecke verfolgenden rechtlichen und bürgerlichen.

Thomas Morgan (f 1743; Der Moralphilosoph, ein Dialog zwischen dem christlichen Deisten Philalethes und dem Judenchristen Theophanes, 1737 f.; Physikotheologie 1741) steht mit den Prinzipien, daß die mo- ralische Wahrheit der Dinge das Kennzeichen der Göttlichkeit einer Lehre, die christliche Religion nur eine Wiederherstellung der natürlichen sei, die Apostel nicht unfehlbar waren, auf dem Boden seiner Vorgänger. Ihm eigentümlich ist die Anwendung des erstgenannten Grundsatzes auf das Mosaische Gesetz mit dem Ergebnis, daß dasselbe keine Off"en- barung gewesen, die völlige Abtrennung des Neuen Testaments vom Alten (die Kirche Christi und das erwartete Reich des jüdischen Messias sind einander so entgegengesetzt, wie Himmel und Erde) und das Be- mühen, die Entstehung des Aberglaubens genauer zu erklären, wobei er den vorchristlichen Aberglauben auf den Fall der Engel, den nach- christlichen auf Beimengung jüdischer Elemente zurückführt. Er sucht seine Aufgabe durch eine ausführliche Kritik der israelitischen Ge- schichte zu lösen, die, ohne Wohlwollen, aber nicht ohne Geist und moderne Verhältnisse in die frühesten Zeiten hineintragend, die alt- testamentarischen Wunder teils mythisch, teils natürlich deutet und die jüdischen Helden ihres sittlichen Glanzes entkleidet. Die jüdischen Ge- schichtsschreiber werden zu den Poeten gestellt, der Gott Israels zu einem untergeordneten lokalen Schutzgott herabgesetzt, das Sittengesetz des Moses als ein auf das äußere Benehmen, auf die Nation und das Dies-

Morgan, Bolingbroke. jga

seits beschränktes bürgerliches Gesetz mit nur zeitHcher Sanktion, sein Zeremonialgesetz als ein Akt weltlicher Politik charakterisiert, David für einen hervorragenden Dichter, Musiker, Heuchler und Feigling erklärt^ die Propheten zu Professoren der Theologie und Moralphilosophie ge- macht und Paulus als der große Freidenker seiner Zeit gepriesen, der die Vernunft gegen die Autorität verteidigt und das jüdische Ritualgesetz als gleichgültig verworfen habe. Alles Unechte im Christentum sind Überbleibsel aus dem Judentum, alle Geheimnisse unverstandene und falsch (nämlich buchstäblich) angewandte Allegorie. Aus Schonung jüdischer Vorurteile wurde der Tod Christi bildlich als Opfer bezeichnet, so wie schon Moses sich dem ägyptischen Aberglauben seines Volkes akkommodieren mußte. Morgan hofft auf den endlichen Sieg der Ver- nunftmoral des reinen paulinischen oder deistischen Christentums über das orthodoxe Judenchristentum. Unter den Gegenschriften verdienen W. Warburtons „Göttliche Sendung des Moses" und S. Chandlers „Rettung der Geschichte des Alten Testaments" Erwähnung.

Bei Bolingbroke (1698 1751, vergl. S. 179) kann man zweifeln, ob er zu den Deisten oder zu ihren Gegnern zu stellen sei. Einerseits sieht er im Monotheismus die ursprüngliche wahre Religion, die durch Pfaffenlist und phantastische Philosophie zum Aberglauben entartet, im Urchristentum das System der natürlichen Religion, das durch schwache, wahnsinnige oder betrügerische Anhänger zu einer verwickelten und streitigen Wissenschaft gemacht worden sei, in der Theologie das Ver- derben der Religion, in Baco, Descartes und Locke die Vorbilder freier Forschung. Andererseits will er die Offenbarung vor der Vernunft, deren Ausbildung er soeben noch empfohlen, schützen, Glauben und Wissen voneinander fernhalten, und verlangt, daß die Bibel auf ihre eigene Autorität hin mit allem, was sie Unbeweisbares und Ungereimtes enthält, hingenommen werde. Die Religion ist ein unentbehrliches Mittel für die Regierung, das Volk im Gehorsam zu erhalten. Die Masse bän- digt nur die Furcht vor einer höheren Macht, nicht die Vernunft; und die Freidenker tun übel, ein Gebiß herauszunehmen aus dem Maule der sinnlichen Menge, der es besser wäre, es würden ihr noch einige mehr angelegt.

Wie der Skeptiker Hume den Empirismus, so führt der Religions- philosoph (siehe M-eiter unten) den Deismus seiner Auflösung entgegen. Von den Männern, welche das offenbarte Christentum gegen die deisti- schen Angriffe verteidigten, führen wir Conybeare (1732) und Josef Butler (1736) an. Der erstere schließt von der UnvoUkommenheit und Veränderlichkeit unserer Vernunft auf die gleiche Beschaffenheit der natürlichen Religion. Butler (vergl. S. 181) gibt nicht zu, daß natür- liche und offenbarte Religion einander ausschließen. Die christliche Offenbarung verleiht der natürlichen Religion, an der sie ihre Grundlage

jyQ Deismus. Moralphilosophie.

hat, eine höhere Autorität uu<l paßt sie den gegebenen Verhältnissen mid Bedürfnissen der Menschheit an, fügt jedoch dem Vernunftgesetz der Tugend noch neue Pflichten gegen Gott den Sohn und den heiligen Geist hinzu. Man sieht, die Apologeten müssen sich, um nur mit den Gegnern verhandeln zu können, selbst dem deistischen Grundsatz einer Vernimftkritik der Offenbarung bequemen.

Dieser Grundsatz, der, wie sehr er die Zeitgenossen anfangs erschreckte, bald auch die Denkweise der Gegner durchdrang und durch die Kanäle der Aufklärung in die allgemeine Bildung überging, macht, obwohl er vielfach mit Ungestüm und mit überflüssigem Haß gegen die Geistlich- keit verfochten und angewandt wurde, das Berechtigte an den Be- mühungen des Deismus aus. Heute ist es eine Trivialität, daß alles, was Anspruch auf Wahrheit und Gültigkeit macht, sich vor der prüfenden Vernunft zu rechtfertigen habe; damals wirkte dies Prinzip nebst der darauf basierten Trennung der natürlichen und der positiven Religion erleuchtend und befreiend. Das wirklich Mangelhafte an der deistischen Theorie, das selbst von ihren Bestreitern kaum als solches empfunden wurde, war das Fehlen des religiösen Gefühles und jegliches geschicht- lichen Sinnes, vermöge dessen die Vorstellung nichts Anstößiges hatte, daß Religionen „gemacht" und Priesterlügen weltbewegende Mächte werden könnten. Hume war der erste, der aus dieser unsäglichen Dürftigkeit herausstrebte. Ein sonderbarer Zwiespalt war es, einerseits dem Menschen in der Vernunft einen sicheren Schatz religiöser Erkenntnis zuzusprechen, andererseits ihn dem Gaukelspiel listiger Pfaffen und Despoten preiszu- geben. So haben die Deisten weder für die Eigentümlichkeit einer in- nigen religiösen Empfindung, die -sich in beglückender Ahnung über den irdischen Kreis moralischer Pflichten ins Jenseits aufschwingt, noch für das unwillkürliche, historisch notwendige Werden und Wachsen der indi- viduellen Religionsformen ein x\uge gehabt. Hier wirkt jene Wegwendung vom Wollen und Fühlen zum Denken, von der Geschichte zur Natur, von den bedrückenden Verwickelungen des Gewordenen zur Einfachheit des Ursprünglichen nach, die wir als einen der hervorstechendsten Charakterzüge der neueren Zeit erkannt haben.

3. Moralphilosophie'.

Das Losungswort des Deismus war „Selbständigkeit der Religion", das der modernen Moralphilosophie lautet „Selbständigkeit der Sittlichkeit". Hobbes hat es ausgegeben wider die mittelalterliche Abhängigkeit der Moral von der Theologie; nun wurde es gegen ihn selbst gekehrt, denn er hatte die Sittlichkeit aus der kirchlichen Herrschaft nur befreit, um

1 Schätzbare Auszüge gibt Selby-Bigge, British Moralisis, 2 BüihIc 1S97.

CUMBERLAND.

171

sie unter das nicht minder drückende und unwürdige Joch der Staats- gewalt zu beugen. Selbstsüchtige Überlegung, so hatte er gelehrt, führt die Menschen dazu, durch Vertrag alle Macht auf den Fürsten zu über- tragen. Recht ist, was der Souverän gebietet, unrecht, was er verbietet. Hiermit war die Sittlichkeit rein negativ, als Gerechtigkeit, gefaßt und zu ihrer Grundlage Interesse und Übereinkunft gemacht. Die erste Einseitigkeit erkennend, verkündet Cuniberland das Prinzip des allgemeinen Wohlwollens, worin ihm Baco andeutend vorausgegangen war und die Shaftesburysche Schule nachfolgt. Gegen die Begründung der Moral auf Selbstliebe und Konvention erhebt sich eine dreifache Opposition, eine idealistische, eine logische und eine ästhetische. Die moralischen Begriffe sind nicht künstlich aus kluger Berechnung und Verabredung entstanden, sondern haben einen natürlichen Ursprung. Cudworth behauptet, auf Piaton und Descartes zurückgreifend, eine an- geborene Idee des Guten. Clarke und Wollaston gründen die sitt- lichen Unterschiede auf die vernünftige Ordnung der Dinge und ■charakterisieren die moralisch gute Handlung als eine ins Praktische über- setzte logische Wahrheit. Shaftesbury leitet die sittlichen Begriffe und Handlungen aus einem natürlichen Instinkte der Beurteilung des Guten und Schönen ab. Daneben erfährt die Hobbessche Moral des Interesses zunächst eine Verbesserung durch Locke (der, mit voller Anerkennung des „gesetzlichen" Charakters des Guten, das Gebiet des Sittlichen von dem des bloß Rechtlichen abscheidet und dem „Gesetz der Meinung", also einer „stillschweigenden" Übereinkunft, unterstellt), sodann eine frivole Zuspitzung durch ^landeville und Bolingbroke. Ein vorläufiger Abschluß wird mit Humes und Smiths ethischen Arbeiten erreicht.

Richard Cuniberland 1, Bischof von Peterborough (1622 17 18, De legibus naturae 1672, englisch von John Maxw'ell 1727), wendet sich mit den Fragen, worin die Sittlichkeit bestehe, woraus sie entspringe und wodurch wir zu ihr verpflichtet seien, an die Erfahrung, und läßt sich von ihr antworten: Gut oder dem moralischen Naturgesetz entsprechend sind die Handlungen, welche das allgemeine Beste bewirken (commune bonum summa lex). Dem Wohl aller muß das eigene Wohl, das nur einen Teil desselben bildet, untergeordnet werden. Die psychologische Wurzel des tugendhaften Handelns sind die geselligen und wohlwollenden Neigungen, welche die Natur allen Wesen und insbesondere den ver- nünftigen eingepflanzt hat. Es gibt nichts Gott Wohlgefälligeres im Menschen, als die Liebe. Daß wir zur Tugend des Wohlwollens ver- pflichtet sind oder daß Gott sie uns gebietet, erkennen wir aus den Be-

1 Über Cumberland als Begründer der englischen Ethik F. E. Spaulding, Leipziger Dlss. 1894.

172 Die englische Moralphilosophie.

lohnungen und Strafen, die wir auf die Erfüllung und Nichtachtung des Gesetzes erfolgen sehen: die Überordnung des allgemeinen Wohles übei das individuelle ist das einzige Mittel, wahrhaft glücklich und zufrieden zu werden. Die Menschen sind auf gegenseitiges Wohlwollen angewiesen. Wer auf das Beste des ganzen Systems der vernünftigen Wesen hin-, arbeitet, befördert damit zugleich das der einzelnen Teile, worin sein eigenes mit enthalten ist; die Glückseligkeit des Einzelnen kann von der des Ganzen nicht getrennt werden. Alle Pflichten sind in der höchsten inbegriffen: gib anderen und erhalte dich selbst, Das von Cumber- land mit schlichter Einfalt aufgestellte Prinzip des Wohlwollens erhielt in der Weiterentwickelung der englischen Moralphilosophie, für die es wegweisend wurde, eine sorgfältigere Begründung.

Die Reihe der Emanzipationen des Sittlichen nimmt ihren Anfang mit dem Intellektualsystem des Ralph Cudworth^ (1617 88). Die sittlichen Begriffe haben weder in der Erfahrung, noch in der bürger- lichen Gesetzgebung, noch in dem Willen Gottes ihren Ursprung, sondern sind notwendige Ideen der göttlichen und der menschlichen Vernunft. Wegen ihrer Einfachheit, Allgemeinheit und Unwandelbarkeit können sie nicht aus der Erfahrung stammen, die immer nur Einzelnes und Ver- änderliches darbietet. Ebensowenig aus den zeitlich entstandenen, ver- gänglichen und voneinander abweichenden politischen Verfassungen. Denn wenn Gehorsam gegen das positive Gesetz gerecht und Ungehorsam gegen dasselbe ungerecht ist, so müssen diese moralischen Unterschiede schon vor dem Gesetz bestanden haben; ist es aber gleichgültig, ob man dem Staatsgesetz gehorcht oder nicht, so kann dasselbe erst recht nicht der Grund jener Unterschiede sein. Verpflichten kann uns ein Gesetz nur kraft dessen, was notwendig, absolut oder an sich recht ist; darum ist das Gute auch von der Willkür Gottes unabhängig. Das schlechthin Gute ist eine ewige Wahrheit, die Gott nicht durch seinen Willen schaff't, sondern in seiner Vernunft vorfindet und, wie die übrigen Ideen, den geschaffenen Geistern eindrückt. An den apriorischen Ideen hängt die Möglichkeit der Wissenschaft, denn Wissen ist Erkennen dessen, was notwendig ist.

Mit Cudworth einverstanden, daß das Sittengebot weder von mensch-

1 The iriie i-i2tellecttial systeni of the 7tniverse it'i'i^ Treaiise concerning eternal and imniutable morality 1731, beide lateinisch von MosHElM: Systenia intellechiale 1733. Cudworth und Henry More (f 1687) waren die Häupter der von Benj. Which- cote (f 1683) und John Smith ("j- 1652) begründeten Schule der Cambridger Platoniker oder Latitudinarier. Über diese vergl. den zweiten Band von JOHN TuLi OCH, Rational theology and Christian philosophy in England in the XVII. Century, London 1872, das zweite Kapitel von G. v. Hertling, Locke und die Schule von Cambridge, Frei- burg i. B. 1892, und The Cambridge Platonists: Selections frovi Ulrich cote, Smiik and Culverivel, ed. by Campagnac 1901.

CUDWORTH, CLARKE, WOLLASTON.

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lieber Übereinkunft noch vom göttlichen Willen abhängig sei, sieht Samuel Clarke^ (1675 1729) die ewigen Gesetze der Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit, welche Gott in seiner Weltregierung respektiert und die auch die Richtschnur des menschlichen Handelns sein sollen, ver- körpert in der Natur der Dinge oder ihren Eigenschaften, Kräften und Beziehungen, vermöge deren gewisse Dinge, Verhältnisse und Handlungs- weisen zueinander passen, andere nicht. Sittlichkeit ist die subjektive Angemessenheit des Benehmens zu dieser objektiven Angemessenheit der Dinge {fitness of tliings), das Gute ist das Schickliche. Die Sitten- regel, zu der uns Gewissen und vernünftige Einsicht verpflichten, gilt unabhängig von dem Befehl Gottes und von aller Furcht und Hoff'nung hinsichtlich des jenseitigen Lebens, wenn sie auch durch die religiösen Vorstellungen eine wirksame und bei der Schwäche des Menschen kaum entbehrliche Unterstützung empfängt. Sie wird zwar nicht allgemein befolgt, aber doch allgemein anerkannt; selbst der Unsittliche kann nicht umhin, die Tugend an anderen zu loben. Wer, der Leidenschaft ge- horchend, den ewigen Verhältnissen oder der Harmonie der Dinge zu- widerhandelt, widerspricht, indem er die Ordnung des Universums zu stören unternimmt, seiner eigenen Vernunft; er begeht die Absurdität, zu wollen, daß die Dinge seien, was sie nicht sind. Die Ungerechtigkeit ist in der Praxis, was Falschheit und Widerspruch in der Theorie. In dem bekannten Streite mit Leibniz verficht Clarke, ein Anhänger New- tons, die Freiheit des Willens gegen den Determinismus des deutschen Philosophen.

In der Überzeugung, daß das subjektive Moralprinzip der Lust und des Nutzens unzulänglich, daher ein objektives zu suchen sei, daß Sitt- lichkeit in der Angemessenheit der Handlung zur Natur und Bestimmung des Gegenstandes bestehe und letzthin mit der Wahrheit zusammenfalle, fand Clarke einen Gesinnungsgenossen an Will. Wollaston^ (1659 bis 1724), bei dem der logische Gesichtspunkt noch deutlicher hervortritt. Die höchste Bestimmung des Menschen ist, die Wahrheit einerseits zu erkennen, andererseits in Handlungen auszudrücken. Diejenige Handlung ist gut, deren Ausführung die Bejahung (und deren Unterlassung die Verneinung) einer Wahrheit in sich schließt. Nach dem Gesetz der Natur soll das vernünftige Wesen sich so betragen, daß es durch sein Tun niemals einer Wahrheit widerspricht, d. h. jedes Ding als das be- handelt, was es ist. Jede unmoralische Handlung ist ein falsches Urteil,

1 Clarke: Discotirse concerning the tinchangeable obligaiions of natural reli- gion 1706, 4. Aufl. 17 16; A collecüo7t of papers which passed between Dr. Clarke and Mr. Leibniz 17 17, französisch 1720; Werke in 4 Bänden mit Lebensbeschreibung von 15. HoADLEY 1738. Über ihn Le Rossignol, The ethical philosophy of S. Clarke, Leip/.ig 1892.

- Wollaston: Xatiirliche Religion im Umriß 1724, 8. Aufl. 1759, deutsch 1728.

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Die englische Moralphilosophie.

die Verletzung eines Vertrags eine praktische Leugnung desselben. Der Tierquäler erklärt durch seine Tat das mißhandelte Tier für etwas, was es nicht ist, für ein empfindungsloses Wesen, Der Mörder handelt wie einer, der dem Erschlagenen das Leben wiederzugeben imstande ist. Wer im Ungehorsam gegen Gott mit den Dingen anders umgeht, als ihrer Natur gemäß ist, benimmt sich so, als wäre er mächtiger als der Urheber der Natur. Zur Gleichstellung von Wahrheit und Sittlichkeit kommt als drittes identisches Glied die Glückseligkeit hinzu. Ein Wesen ist um so glücklicher, je mehr seine Vergnügungen wahr sind; eine Lust aber ist unwahr, sobald für sie mehr (Unlust) bezahlt wird, als sie wert ist. Ein vernünftiges Wesen widerspricht sich selbst, wenn es einem un- vernünftigen Vergnügen nachjagt. Wer über seine Mittel lebt, lebt eine Lüge. Die Entwicklung der Moralphilosophie ist über die logische Ethik des S. Clarke und des Wollaston als über eine abstrakte und un- fruchtbare Sonderbarkeit hinweggegangen, und gewiß war das Bestreben der beiden Männer größer als ihre Leistung. Aber das Suchen nach einer allgemeingültigen, über die individuelle Willkür hinausgehobenen Norm des Sittlichen war nicht unberechtigt gegenüber dem Subjektivis- mus der beiden anderen gleichzeitigen Schulen, der des Interesses und der des Wohlwollens, welche die Tugend zu einer Sache der Berechnung oder des Gefühls machten.

Unter den Späteren gehört zur intellektualistischen Schule John Baiguy (1686 1748; Die Grundlage moralischer Güte 1728 29). Menschen wie Tiere und Tiere wie Steine behandeln ist ein Widerspruch gegen die Natur und Vernunft der Dinge. Natürliche Güter sind gut, weil sie befriedigen; sittliche befriedigen, weil sie gut sind. Wir ge- horchen der Vernunft nicht um unserer Mitmenschen willen, sondern wir dienen den Mitmenschen, weil Vernunft es gebietet.

Ihren Höhepunkt erreicht die englische Sittenlehre in Shaftesbury (1671 17 13), der, nach den Grundsätzen des seinem Großvater be- freundeten Locke erzogen, seinen künstlerischen Sinn an den Mustern des klassischen Altertums bildete, um seinem Zeitalter das griechische Ideal schöner Menschlichkeit ins Gedächtnis zurückzurufen. Die Philo- sophie, als Erkenntnis unserer selbst und des wahren Gutes, eine An- leitung zur Sittlichkeit und zum Glücke, die Welt und die Tugend eine Harmonie; das Gute zugleich das Schöne; das Ganze eine beherrschende Macht im einzelnen diese Anschauungen, dazu die geschmackvolle Darstellungsweise machen Shaftesbury zu einem modernen Griechen; nur in der Bitterkeit gegen das Christentum verrät sich der Sohn der Neuzeit. Von den unter dem Titel „Charakteristiken" 1 17 11 gesammelten

' Shaftesbury: Characteristics of men, iiianners, opinions, times, 6. Aufl. 1737) iieue Ausgabe von J. M. Robertson 1900; deutsch 17765.

WOLLASTOK, BaLGUY, ShAFTESEURY.

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Studien sind die über den Enthusiasmus, über Witz und Humor, über Tugend und Verdienst (1699), sowie die Moralisten (1709) die wichtigsten. Über seine Philosophie handeln Georg v. Gizycki 1876 und Fowler, Shaftesbiiry and Hutcheso?i 1882. Neuerdings erschien The life (by his son, the foiirth earl of Sk.), unpicblished letters and philosophical regiinen of Anthony earl of Shaftesbiiry , ed. bv Bexj. Rand, 1900.

Der metaphysische Grundbegriff des Shaftesbury ist ein ästheti- scher: Einheit in der Mannigfaltigkeit ist ihm das durchgehende Gesetz der Welt. Überall, wo Teile in gegenseitiger Abhängigkeit zu einem gemeinschaftlichen Erfolge zusammenarbeiten, waltet eine zentrale, die Glieder bindende und beseelende Einheit. Die niedrigste dieser sub- stantiellen Einheiten ist das Ich, die gemeinschaftliche Quelle unserer Gedanken und Gefühle. Wie aber die Teile des Organismus durch die Seele beherrscht und zusammengehalten werden, so sind die Individuen untereinander durch höhere Einheiten zu Arten und Gattungen ver- bunden. Jedes Einzelwesen ist Glied eines Systems von Geschöpfen, die eine gemeinschaftliche Natur verknüpft. Da ferner überall in der Welt Ordnung und Harmonie verbreitet ist und es kein Ding gibt, das nicht eine Beziehung zu allen übrigen und zum Ganzen hätte, so ist auch das Universum von einer formgebenden und mit Absicht wirken- den Kraft belebt zu denken; diese allbeherrschende Einheit ist die Seele des Weltganzen, der Allgeist, die Gottheit. Die Zweckmäßigkeit und Schönheit des für uns überblickbaren Teiles der Welt erlaubt einen Schluß auf die gleiche Beschaffenheit der uns unzugänglichen Teile, so daß wir sicher sein dürfen, daß die zahlreichen Übel, die wir im ein- zelnen antreffen, zum Wohle eines übergeordneten Systems dienen, und alle scheinbaren UnvoUkommenheiten zur Vollkommenheit des Ganzen beitragen. So wie unser Philosoph den Gedanken der Weltharraonie be- nutzt, um den Theismus und die Theodizee zu stützen, so leitet er weiterhin aus ihm den Inhalt der Sittlichkeit ab und gibt ihr damit eine von der Selbstsucht und den Launen der Mode unabhängige Grundlage in der Natur.

Gut ist ein Wesen, wenn in ihm der auf Erhaltung und Wohlfahrt der Gattung gerichtete Trieb stark und der auf das eigene Wohl ge- richtete nicht zu stark ist. Von der Güte des bloß empfindenden Wesens unterscheidet sich die Tugend des vernünftigen dadurch, daß der Mensch nicht nur Triebe hat, sondern über sie reflektiert, sein und an- derer Tun billigt oder mißbilligt und hiermit seine Neigungen zum Gegenstand einer höheren, reflektierenden, beurteilenden Neigung macht. Diese sittliche Unterscheidungsgabe, der Sinn für recht und unrecht oder, was dasselbe ist, für schön und häßlich, ist uns angeboren: von Natur, nicht erst durch Konvention, geben wir der Tugend Beifall und ver- werfen das Laster, und aus diesem natürlichen Gefühl für gut und böse

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Die englische Moralphilosophie.

entwickelt sich durch Übung ein ausgebildeter moralischer Geschmack oder Takt. Indem dann weiter vermittels jenes Beurteilungsvermögens die Vernunft eine Herrschaft über die Leidenschaften gewinnt, wird der Mensch zum moralischen Künstler, zum Tugendvirtuosen.

Die Tugend gefällt durch sich selbst, durch ihre eigene Schönheit und Würde, nicht wegen eines äußeren Gewinnes. Man soll die Liebe zum Guten um des Guten willen nicht durch die Aussicht auf künftige Vergeltungen verunreinigen, die höchstens als Gegengewicht gegen böse Leidenschaften zuzulassen ist. Wo Shaftesbury von der jenseitigen Seligkeit spricht, weiß er das Leben im Himmel nicht köstlicher zu be- schreiben, denn als eine ununterbrochene Freundschaft, Hochherzigkeit und Großmut, als ein beständiges Belohntwerden der Tugend durch neue Tugend.

Das Gute ist das Schöne, und das Schöne ist das Harmonische, Symmetrische; daher besteht im Gleichgewicht der Neigungen und Leidenschaften das Wesen der Tugend. Von den drei Klassen der Passionen, die Shaftesbury unterscheidet, ist die eine, die der unnatür- lichen oder unsozialen, welche weder das eigene Wohl noch das an- derer bezwecken, wie Bosheit, Neid und Grausamkeit, stets und durch- aus böse. Die beiden anderen, die geselligen (oder natürlichen) und die selbstischen können tugendhaft und lasterhaft sein, je nach ihrem Grade, d. h. nach dem Verhältnis ihrer Stärke zu der der anderen Affekte. An sich ist eine Neigung des Wohlwolletis nie zu stark, sie kann es immer nur sein im Vergleich zu der der Selbstliebe, oder in Rücksicht auf die Konstitution dieses bestimmten Individuums; ebenso umgekehrt. Das Gewöhnliche ist, daß die sozialen Neigungen hinter dem natürlichen Maße zurückbleiben, die selbstischen es überschreiten; doch kommt auch das Entgegengesetzte vor. Überspannte Zärtlichkeit der Eltern, erschlaffendes, zur Hilfe untauglich machendes Mitleid, religiöse Bekehrungssucht, leidenschaftlicher Parteigeist sind Beispiele eines zu heftigen, die Tätigkeit der übrigen Neigungen hemmenden geselligen Affektes. Ebenso fehlerhaft ist andererseits die Vernachlässigung des eigenen Wohles. Denn wenn auch der Besitz der selbstischen Neigungen nicht tugendhaft macht, so ist doch ihr Fehlen ein sittlicher Makel, da sie für das allgemeine Wohl unentbehrlich sind. Niemand kann anderen nützen, der nicht sich selbst in tauglichem Zustande erhält. Soweit die Neigung für unser privates Wohl mit dem allgemeinen sich verträgt oder zu demselben beiträgt, ist sie gut und notwendig. Die richtige Proportion zwischen den sozialen Passionen, welche die eigentliche Quelle des Guten bilden, und den eigenliebigen besteht darin, daß diese sich jenen unterordnen. Die Verwandtschaft dieser harmonistischen Ethik mit den sittlichen Anschauungen des Altertums ist leicht zu erkennen. Sie wird vervollständigt durch den eudämonistischen Abschluß.

Shaftesbury. y'7'7

Die Harmonie der Triebe, wie sie das Wesen der Tugend ausmacht, ist zugleich der Weg zur wahren GlückseUgkeit. Die Erfahrung zeigt, daß ungesellige, teilnahmlose, lasterhafte Menschen elend sind, Liebe zur Gesellschaft die reichste Quelle des Glückes ist, selbst das Mitgefühl mit fremdem Leid mehr Lust als Schmerz bereitet. Tugend verschafft uns die Liebe und Achtung anderer, verschafft uns vor allem die Billigung des eigenen Gewissens, und in der Zufriedenheit mit uns selbst besteht das wahre Glück. Die edle, reine, beständige, nie von Sättigung und Ekel begleitete geistige Lust am Guten suchen, nenne man nicht Selbst- sucht: nur wer schon gut ist, findet am Guten Gefallen.

Dem positiven Christentum ist Shaftesbury nicht hold, weil es durch himmlische Verheißungen die Tugend lohnsüchtig gemacht, die sittlichen Aufgaben aus dieser Welt ganz ins Jenseits hinausgerückt und die Menschen gelehrt habe, aus lauter übernatürlicher Bruderliebe einander höchst andächtig zu plagen. Solcher Transzendenz gegenüber weist Shaftesbury, ein Priester der modernen Weltanschauung, der Tugend auf Erden ihre Heimat an, sucht in der gegenwärtigen Welt den Finger der Vorsehung und lehrt aus der begeisternden Anschauung des schön ge- ordneten Alls den Glauben an Gott gewinnen. Wohl ist Tugend ohne Frömmigkeit möglich, aber nicht ohne sie vollendet. Das Erste und Feste aber ist die Sittlichkeit, darum sie Bedingung und Prüfstein der echten Religion. Die Offenbarung braucht die Kritik der freien Ver- nunft nicht zu scheuen, die Schrift ist durch ihren Inhalt gerechtfertigt. Neben der Vernunft dient dem Shaftesbury der Spott, das Echte vom Unechten zu sondern: das Lächerliche ist die Probe des Wahren, und Schwärmerei nvu* durch Witz uiid Humor zu heilen. So geißelt er die Überfrommen, die Schmarotzer der Andacht, die der Sicherheit halber lieber zu viel als zu wenig glauben wollen.

Ehe Shaftesburys Theorie des moralischen Sinnes und der wohl- wollenden Neigungen Anhänger und Weiterbildner fand, rief sie durch die allerdings nicht vermiedene Gefahr, daß der Mensch mit dem Ge- nüsse, sich mit edlen Neigungen begabt zu wissen, sich begnüge, ohne für die Betätigung derselben in nützlichen Handlungen viel Sorge zu tragen, als Rückschlag den paradoxen Versuch einer Ehrenrettung des Lasters hervor. Mandeville,! ein in Holland geborener, von franzö- sischen Eltern stammender Londoner Arzt (1670 1733), hatte durch

' Paul Sakmann, Bernard de Maudeville und die Bienenfabel-Kontroverse, Freibiirg i. B. 1897. Mandeville veröffentlichte ferner „Freie Gedanken über Religion. Kirche und Nationalwohl" 1720, deutsch 1726, und eine Verteidigung der Bienenfabel gegen Berkeleys Alciphron: Ein Brief an Dion 1732. Gegen Mandeville traten 1724 26 auf: W. Law, J. Dennis, R. Fiddes, Bluett, J. Thorold u. a. Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 12

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Die englische Morai,philosophie.

das Gedicht „Der summende Bienenstock oder Rechtfertigung der Un- tugend" 1705 Aufsehen erregt und zur Abwehr von Angriffen, die es erfahren, der zweiten Ausgabe einen Kommentar in Prosa {A?i ejiqidry into the origin of moral virtue) beigefügt: „Die Bienenfabel, oder der Nutzen der Privatlaster für das öffentliche Wohl" 17 14, vermehrt 1723. Die Moral der Fabel ist, daß der Wohlstand des Volkes auf der Be- triebsamkeit der Mitglieder, diese aber auf ihren Leidenschaften und Lastern beruhe. Habsucht, Verschwendung, Neid, Ehrgeiz und Wett- eifer sind die Wurzeln des Erwerbstriebes und tragen zum öffentlichen Wohl mehr bei, als Wohlwollen und Beherrschung der Begierden. Für den einzelnen zwar ist die Tugend gut, sie macht ihn zufrieden mit sich selbst und angenehm vor Gott und Menschen, aber zur Blüte großer Staaten bedarf es stärkerer Antriebe zur Arbeit und Emsigkeit. Ein Volk, in welchem Sparsamkeit, Selbstverleugnung und Seelenruhe herrsch- ten, würde arm und unwissend bleiben. Zu dem Irrtum, daß die Tugend das Glück der Gesellschaft fördere, kommt bei Shaftesbury der zweite, daß die menschliche Natur uneigennützige Neigungen einschließe. Niclit angeborene Liebe und Güte, sondern unsere Leidenschaften und Schwachheiten (\or allem die Furcht) machen uns gesellig, der natür- liche Mensch ist der selbstsüchtige. Alle Handlungen mit Einschluß der sogenannten Tugenden entspringen aus Eitelkeit und Egoismus; so war's zu allen Zeiten, so ist's in allen Ständen. Freilich dürfen im Zu- sammenleben jene Begierden nicht offen zur Schau getragen und nicht rücksichtslos befriedigt werden. Kluge Gesetzgeber lehrten die Menschen, ihre natürlichen Leidenschaften zu verbergen und durch künstliche ein- zuschränken, indem sie ihnen einredeten, Begnügsamkeit und Entsagung sei das wahre Glück, denn durch sie erwerbe man das höchste Gut: Ruhm und Achtung bei den Genossen. Seitdem wurden Ehre und Schande die mächtigsten Beweggründe und ermunterten zu dem, was man Tugend nennt, nämlich zu Handlungen, welche scheinbar mit Auf- opferung selbstsüchtiger Neigungen zum Besten der Gesellschaft, in der Tat aber bloß aus Stolz und Eigenliebe geschehen. Indem der Mensch fortwährend vor anderen erhabene Gefühle heuchelt, täuscht er endlich sich selbst und hält sich für ein Wesen, das im Verzicht auf sich und alles Irdische und in der Vorstellung seiner sittlichen Vortrefflichkeit sein Glück finde. Die groben Unterstellungen in der Argumentation des Mandeville springen in die Augen: nachdem er die Tugend in die Unterdrückung der Begierden gesetzt, den Trieb der sittlichen Ehre zur Eitelkeit, die erlaubte Selbstliebe zum Egoismus, den vernünftigen Er- werbstrieb zur Habgier gestempelt, hat er es leicht, zu beweisen, daß das Laster den einzelnen betriebsam und den Staat blühend mache, die Tugend selten vorkomme und, wenn sie allgemein wäre, der Gesellschaft verderblich werden würde.

ßOLINGBROKE. HUTCHESON. t 'rr\

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In anderer Färbung und minder einseitig vertritt Bolingbroke (vergl. S. i6g) den Standpunkt des Naturalismus. Gott hat uns zu o-e- meinschaftlichem Glück erschaffen, wir sind bestimmt, einander beizu- stehen. Glück ist nur in der Gesellschaft erreichbar, die Gesellschaft kann nicht ohne Gerechtigkeit und Wohlwollen bestehen. Wer Tugend übt, d. h. das Wohl der Gattung fördert, fördert damit zugleich das eigene Wohl. Alle Handlungen entspringen aus der Selbstliebe, die, zunächst vom unmittelbaren Instinkt, später von der an der Erfahrung sich entwickelnden Vernunft geleitet, sich auf immer weitere Kreise aus- dehnt: wir lieben uns selbst in unseren ^'erwandten, in unseren Freunden, weiterhin im Vaterlande, endlich in der Menschheit, so daß Selbstliebe und soziale Liebe zusammenfallen und wir zur Tugend durch die ver- einigten Motive des Interesses und der Pflicht getrieben werden. Eine !Moral des gesunden Menschenverstandes vom Standpunkte des gebildeten Weltmannes, die zur passenden Stunde wohl das Recht hat, sich Gehör zu verschaffen.

Inzwischen hatten Shaftesburys Ideen auf Hutcheson und Butler, auf jeden in eigentümlicher Weise, Eindruck gemacht. Beide halten es für nötig, die Unterscheidung von wohlwollenden und selbstischen Nei- gungen durch Zusätze zu erläutern und zu berichtigen, die für Humes Ethik von Einfluß wurden; beide widmen ihren Eifer der neuen Lehre von den Reflexionsempfindungen oder dem sittlichen Geschmack, an welchem der erstere mehr das ästhetische, nur beurteilende, der letztere das aktive oder befehlende Moment hervorhebt.

Francis Hutcheson ^ (1694 1747), Professor in Glasgow, verfolgt in seinem posthumen „System der Moralphilosophie" 1755 (deutsch von Lessing 1756), dem eine „Untersuchung über den Ursprung unserer Vor- stellungen von Schönheit und Tugend" 1725 (deutsch 1762) und ein Essay über die Leidenschaften und Gemütsbewegungen 1728 vorausgegangen war, das doppelte Ziel, gegen Hobbes und Locke die Ursprünglichkeit und Uninteressiertheit sowohl des Wohlwollens als der sitt- lichen Billigung nachzuweisen. Die Tugend wird weder deshalb geübt, weil sie dem Besitzer, noch deshalb gelobt, weil sie dem Beurteiler Vor- teil bringt.

I. Die wohlwollenden Neigungen sind vollkommen unabhängig von der Selbstliebe und der Rücksicht auf die Belohnungen Gottes sowohl als der Menschen, ja selbst von der hohen BefriedigLing, welche die Selbstbilligung gewährt. Wird uns doch diese nur zuteil, wenn wir das Wohl der anderen ohne persönliche Nebenabsichten verfolgen: das Glück der inneren Billigung ist die Folge, nicht das Motiv der Tugend. Wäre

1 Über ihn Fowler in der bei Shaftesbury fS. 175) zitierten Schrift und Will. RoB. Scott, Cambridge 1900.

12*

l80 I^IE ENGLISCHE MORALPHILOSOPHIE.

wirklich die Liebe ein versteckter Egoismus, so müßte sie sich komman- dieren lassen, wo sie Vorteil verspräche, was erfahrungsgemäß nicht der Fall ist. Das Wohlwollen ist etwas durchaus Natürliches und so all- gemein in der sittlichen Welt, wie in der körperlichen die Gravitation; auch darin mit der Schwerkraft vergleichbar, daß die Intensität mit der Annäherung zunimmt : je näher die Personen, desto stärker die Liebe. Wohlwollen ist verbreiteter als Grausamkeit, selbst der Verbrecher ver- richtet in seinem Leben mehr unschuldige und freundliche Handlungen, als verbrecherische: nur die Seltenheit der letzteren macht, daß soviel von ihnen geredet wird.

2. Auch das sittliche Urteil ist gänzlich unbeeinflußt durch Er- wägungen der vorteilhaften oder nachteiligen Folgen für den Täter oder den Betrachter. Die Schönheit der guten Handlung erweckt ein un- mittelbares Wohlgefallen. Vermöge des moralischen Sinnes [f}toral se?ise) empfinden wir bei der Betrachtung einer tugendhaften Handlung Lust, beim Anblick einer unedlen Unlust, Gefühle, die ganz unabhängig sind von dem Gedanken an die von Gott verheißenen Belohnungen und Strafen, sowie von dem an den Nutzen oder Schaden für uns selbst. Daß die moralische Billigung total verschieden ist von der Wahrnehmung des Angenehmen und Nützlichen, wird daraus erwiesen, daß wir eine gezwungen oder aus Eigennutz erwiesene Wohltat ganz anders beurteilen als eine aus Liebe dargebrachte; daß wir dem hochherzigen Charakter Achtung schenken, gleichviel ob es ihm wohl oder übel ergehe; daß wir sie bei fingierten, etwa im Schauspiel dargestellten, Handlungen gleich lebhaft empfinden, wie bei wirklichen.

3. Aus der umfassenden Systematisierung, die Hutcheson mit Fleiß und Besonnenheit den Shaftesburyschen Gedanken hat angedeihen lassen, seien noch einige Einzelheiten hervorgehoben. An zwei Punkten erkennen wir den Vorläufer Humes. Erstens darin, daß er der Vernunft bei der sittlichen Arbeit nur eine unterstützende Rolle zuweist. Zum Handeln bewegt uns niemals das Wissen eines wahren Satzes, sondern immer nur ein Wunsch, Affekt oder Trieb. Die letzten Zwecke gibt stets das Gefühl, nur die Mittel vermag die Vernunft ausfindig zu machen. Zweitens in der Unterscheidung der stürmischen, blinden, schnell vorübergehenden Leidenschaften von den ruhigen, durch Erkenntnis vermittelten, dauernden Neigungen. Die letzteren sind die edleren, unter ihnen stehen wiederum die gemeinnützigen am höchsten, deren Wert noch weiter durch den Umfang ihrer Objekte bestimmt wird. Hieraus ergibt sich das Gesetz : eine liebreiche Neigung wird um so lebhafter gebilligt, je ruhiger und überlegter sie ist, je höher der Grad des Glückes der davon Betroffenen, und je mehr Personen durch sie beglückt werden. Allgemeine Menschenliebe und Patriotismus sind höhere Tugenden als die Zuneigung zu Freunden und Kindern. Als Ziel der auf uns selbst

Butler. Adam Smith. jgj

gerichteten Affekte taucht neben der Glückseligkeit das erste Mal in der englischen Ethik die Vollkommenheit auf.

Josef Butler i (1692 1752), Bischof von Durham, nimmt es mit der Unmittelbarkeit sowohl der Neigungen als ihrer moralischen Be- urteilung noch strenger als Hutcheson, indem er auch die auf das eigene Wohl gerichteten Triebe als solche für unegoistisch erklärt und, während jener die Güte der Handlungen in ihre wohltätigen Wirkungen (nicht für den Handelnden und den Beurteiler, aber für den Betroffenen und) für die Gesellschaft gesetzt hatte, das sittliche Urteil von allen vor- aussichtlichen oder eingetretenen Folgen absehen läßt. Das Ge- wissen, so nennt er den Moralsinn, billigt oder mißbilligt die Charak- tere und die Taten unmittelbar an sich, gleichviel, was für Heil oder Unheil in der Welt durch sie angestiftet wird. Wir beurteilen eine Handlungsweise als gut nicht danmi, weil sie der Gesellschaft nützt, sondern weil sie den Forderungen des Gewissens gemäß ist. Diesen muß unbedingt gehorcht werden, was auch daraus erfolge. Wir dürfen auch dann nicht gegen Wahrheit und Gerechtigkeit handeln, wenn dies mehr Glück als Elend herbeizuführen schiene. Auch Butler liefert einen Baustein zu Humes Ethik, und zwar mit der Erneuerung der schon von den Stoikern befürworteten Abtrennung der Begierde und Leidenschaft von der Selbstsucht oder dem Interesse. Die Selbstsucht begehrt etwas deshalb, weil sie sich davon Genuß verspricht; die natürlichen Triebe aber ziehen unmittelbar, d. h. ohne die Vorstellung zu erlangender Lust, zu ihrem Gegenstande hin, und erst im Wiederholungsfalle kann zu der natürlichen Triebfeder der angeborenen Begierde die künstliche des egoistischen Luststrebens hinzukommen. Die Selbstsucht Hat überall ursprüngliche direkte Neigungen zur Voraussetzung.

Die englische Moralphilosophie wird durch A d a m Smith (1723 go), den berühmten Schöpfer der Nationalökonomie, - zum Abschluß gebracht, indem derselbe nicht nur, wie sein großer Freund D. Hume, alle von den Vorgängern aufgeworfenen Probleme berücksichtigt, sondern überdies (in der „Theorie der moralischen Empfindungen" 1759, die er als Pro- fessor in Glasgow herausgab) die vorhandenen Lösungsversuche nicht in eklektischer Nebeneinanderstellung, sondern in selbständiger Verarbeitung zusammenfaßt und auf den Faden eines einheitlichen Prinzips aufreiht,.

* Butler: Fünfzehn Predigten über die menschliche Xatur 1726, vergl. S. 169 70; über ihn W. L. COLLINS in den Philosophical Classics 1889. The works of bishop Butler hat der berühmte Staatsmann Gladstone in 2 Bänden (nebst 5/«- dies subsidiary) 1896 herausgegeben.

- Das epochemachende Werk, mit dem er die Volkswirtschaftslehre ins Leben rief, der „Reichtum der Nationen", erschien 1776. Vergl. WiLH. Hasseach, Unter- suchungen über Adam Smith, Leipzig 1891 ; J- Schubert, A. Smiths Moralphilosophie, im sechsten Bande von WPhSt. 1890.

l82 Die englicshe Moralphilosophie.

eine Leistung, die außerhalb des Vaterlandes des Philosophen noch nicht in gebührendem Maße Anerkennung gefunden hat. Jenes umfassende IMoralprinzip gewann er dadurch, daß er den von Hume gelegentlich geäußerten Gedanken, die sittliche Beurteilung beruhe auf einem Sich- hineinversetzen in die Gefühle des Handelnden, in seiner vollen Trag- weite erkannte und mit guter psychologischer Beobachtung cUeses Mit- einanderfühlen der Menschen bis in seine ersten und letzten Äuße- rungen verfolgte. Hierbei enthüllte sich ihm eine zwiefache Art von Sittlichkeit: die bloße Schicklichkeit des Betragens und die wirkliche Ver- dienstlichkeit des Handelns. Das Mitgefühl des Zuschauers nämlich erstreckt sich einerseits was Hume einseitig hervorgehoben hatte auf die Nützlichkeit der Folgen (oder das „Verdienst") der Handlung, andererseits auf die Angemessenheit der Beweggründe (oder die „Schicklichkeit") derselben. Schicklich ist eine Handlung, wenn der unparteiische Betrachter mit ihrem Motive, verdienstlich, wenn er außerdem mit ihrem Zwecke oder ihrer Wirkung zu sympathisieren vermag ; d. h. wenn im ersten Falle die Gefühle ihren Gegenständen angemessen (weder zu stark noch zu schwach) sind, im zweiten Falle die Folgen der Tat für andere nutzbringend sind. Merit = propriety -\- idility. Das Hauptresultat aber ist dies: die Sympathie ist sowohl dasjenige, wodurch Tugend erkannt und gebilligt wird, als auch dasjenige, was als Tugend gebilligt wird; sie ist sowohl Erkenntnis- als Realgrund, sowohl Kriterium als Quelle der Sittlichkeit. So versucht Smith, die beidoi Hauptfragen der englischen Ethik wodurch wird Tugend beurteilt und wodurch kommt sie zustande mit einer gemeinschaftlichen Ant- wort zu Ibsen.

Zunächst bezeichnet „Sympathie" nichts weiter als das angeborene rein formelle Vermögen, die Gefühle anderer bis zu einem gewissen Grade in uns nachzuahmen. Aus diesem unscheinbaren Keim erwächst in fort- schreitender Entwickelung der umfangreiche Baum der Moralität: das sitt- liche Urteil, die sittliche Forderung nebst ihrer religiösen Sanktion und der sittliche Charakter. Wir unterscheiden demgemäß verschiedene Ent- wickelungsstadien der Sympathie : das psychologische Stadium des bloßen ]\Iitempfindens, das ästhetische der moralischen Wertschätzung, das Impera- tivische sittlicher Regeln, die weiterhin als Gebote Gottes angesehen werden (die berühmte Kantische Begriffsbestimmung der Religion wurde in Glasgow ein Menschenalter früher ausgesprochen, als in Königsberg), endhch das abschließende Stadium der Aufnahme jener Pflichtgesetze in die Gesinnung. Außerdem ergeben sich aus dem Mechanismus der sympathetischen Gefühle eine Reihe von Erscheinungen, die, obwohl sie mit dem sittlichen Maßstabe nicht ganz übereinstimmen, dennoch für den Bestand der Gesellschaft von heilsamer Wirkung sind, z. B. die exzeptio- nelle Beurteilung des Tuns der Großen, Reichen und Glücklichen, so-

Adam Smith.

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wie der höhere Wert, welcher der glückUch ausgeführten guten (resp. die größere Schuld, welche der zur Tat gewordenen bösen) Absicht vor der erfolglos gebliebenen beigemessen wird.

Das erste, rein ps3^chologische Stadium umfaßt drei Fälle. Der Be- obachter sympathisiert i. mit den Affekten des Handelnden, 2. mit der Dankbarkeit oder dem Zorn des von der Handlung Betroffenen, 3. der Beobachtete sympathisiert rückwärts mit den nachahmenden und be- inieilenden Gefühlen des Zuschauers. Die Grundgesetze der Sympathie sind folgende.

Die Nachahmung einer Empfindung wird erweckt durch die Wahr- nehmung entweder ihrer Anzeichen (ihrer natürlichen Folgen oder Äußerungen in sichtbaren oder hörbaren Gebärden) oder ihrer Anlässe (der sie erzeugenden Lage und Erlebnisse); und zwar durch die der letzteren zwingender als durch die der ersteren. Der Stelzfuß des Bettlers wirkt eindringlicher auf unser Mitleid, als seine bekümmerte Miene, der Anblick chirurgischer Instrumente spricht beredter, als das Wimmern des von Zahnschmerz Geplagten. Um in uns die Gefühle jemandes lebendig nachbilden zu können, müssen wir deren Ursachen kennen. Die Empfindung des Beobachters ist durchschnittlich minder stark, als die des Beobachteten, solange der letztere nicht die seinige, durch Rücksicht auf die Kühle des ersteren, beherrscht und herabstimmt. Der Abstand zwischen der Höhe der sympathetischen Empfindung und der der ursprünglichen ist bei den verschiedenen Arten der Gemütsbewegungen sehr verschieden. Wir versetzen uns schwer in solche Gefühle, die aus körperlichen Zuständen entspringen, leicht in solche, zu deren Erzeu- gung Einbildungskraft mitwirkt, also leichter in Hoffnung und Furcht, als in Lust und Schmerz. Wir sympathisieren bereitwilliger mit den- jenigen Empfindungen, die für den Betrachter, den Betrachteten und sonst Beteiligte angenehm, als mit denen, die es nicht sind, also lieber mit Heiterkeit, Liebe, Wohlwollen, als mit Trauer, Haß, Miß- gunst. Dies gilt nicht bloß für Augenblicksgefühle, sondern vorzugsweise für die von der mehr oder minder glücklichen Lebenslage abhängenden allgemeinen Stimmungen: man sympathisiert lebhafter mit den Schicksalen des Reichen und Vornehmen, weil man ihn für glücklicher hält als den Armen und Niedrigen. Reichtum und hoher Rang sind hauptsäch- lich deshalb der Gegenstand allgemeinen Verlangens, weil deren Besitzer den Vorzug genießt, von allem, was ihm Freude oder Leid schafft, beständig unzählige andere gleichartig erregt zu wissen. Die Wurzel alles Ehrgeizes ist der Wunsch, über die Herzen der Mitmenschen zu herrschen, indem wir sie zwingen, unsere Gefühle zu den ihrigen zu machen; der innerste Nerv alles Glückes besteht darin, die eigenen Empfindungen von der Umgebung geteilt und gleichsam aus vielfachen Spiegeln zurückgestrahlt zu sehen. Kleine Verdrießlichkeiten wirken

l34 Die englische Moralphilosophie.

auf den Zuschauer oft belustigend, großes Glück erregt leicht seinen Neid, dagegen sind große Leiden und geringe Freuden stets unserer Teilnahme sicher. Darum ist der Mürrische, der in allem einen Anlaß zum Mißmut findet, nirgends gern gesehen, der Muntere, der sich über jede Kleinigkeit freut und die Umgebung mit seinem Frohmut ansteckt, überall willkommen.

Nicht minder bewunderungswürdig als die feine Beobachtungsgabe, die unseren Philosophen in der Aufspürung der primitiven Äußerungen der Sympathie und ihrer Gesetze leitet, ist das Geschick, mit dem er aus dem Austausch der Mitempfindungen die Erscheinungen der Sittlich- keit von den einfachsten bis zu den kompliziertesten ableitet: das mora- lische Urteil, das Sittengesetz, die Anwendung auf das eigene Betragen, das Gewissen. Aus der unwillkürlichen Vergleichung des imaginären Gefühls im Zuschauer mit dem ursprünglichen des Beobachteten ent- springt ein angenehmes oder unangenehmes Schätzungsgefühl, ein aner- kennendes oder wegwerfendes Werturteil über das letztere. Dasselbe ist ein lobendes, wenn das Original mit der Kopie im Gefühlsgrade harmo- niert, ein tadelndes, wenn das beurteilte Gefühl das beurteilende übersteigt oder hinter ihm zurückbleibt. Dort wird die Gemütsbewegung als dem sie veranlassenden Objekte angemessen, hier als zu heftig oder zu schwach be- urteilt. Immer ist es eine gewisse Mitte der Leidenschaft, die als „schicklich" Billigung (Achtung, Liebe oder Bewunderung) findet. Bei den geselligen Passionen wird das Übermaß, bei den ungeselligen und selbstischen der Mangel eher verziehen, daher der Überzärtliche milder beurteilt, als der allzu Rachsüchtige. Der Zorn muß wohlbegründet sein und sich sehr gemäßigt äußern, um im Betrachter den gleichen Grad des s\mpathetischen Unwillens zu erwecken. Denn da spaltet sich die Sympathie des Zu- schauers zwischen zwei Parteien und das Mitgefühl mit dem Zornigen wird geschwächt durch die Mitfurcht mit der durch diesen bedrohten Person, während bei freundlichen Affekten die Sympathie durch Ver- doppelung verstärkt wird. Wenn die Beurteilung der Schicklichkeit oder des Anstandes auf der einfachen Mitempfindung der Affekte des Han- delnden beruhte, so gründet sich das Urteil über Verdienst und Schuld außerdem auf die Sympathie mit den freundlichen oder feind- lichen Vergeltungsgefühlen der Person, auf welche die Handlung geht. „Verdienstlich" ist diejenige Handlung, die uns Dank und Lohn, schuldvoll diejenige, die uns Groll und Strafe zu verdienen scheint. Die Natur hat uns eine, von allen Reflexionen auf den Nutzen der Strafe unab- hängige, unmittelbare und instinktive Billigung des heiligen Gesetzes der Vergeltung ins Herz gelegt. Hier ist der Punkt, wo die bis dahin rein betrachtende Sympathie in einen aktiven Trieb umschlägt, der uns bereit macht, dem Angegriffenen und Beleidigten in seiner Abwehr und Rache beizustehen.

Adam Smith,

185

Das Sichversetzen in die Lage und die Gefühle des anderen geschieht wechselseitig. Der Betrachter bemüht sich, die Empfindungen des Be- trachteten zu teilen, dieser aber versucht auch seinerseits, die ihn be- wegenden Affekte auf den Grad zu reduzieren, der es dem ersteren mög- lich macht, sie mitzuempfinden. In diesen beiderseitigen Anstrengungen haben wir die Anfänge der beiden Klassen von Tugenden: der sanften, liebenswürdigen der Teilnahme und des Zartgefühls [sensibility) und der erhabenen, achtungerweckenden der Selbstverleugnung und Selbst- beherrschung {selfcommanct). Doch gelten jene beiden Gemütsverfas- sungen als Tugenden nur dort, wo sie in ungewöhnlicher Stärke auftreten: Menschlichkeit ist eine bewundernswert feine Mitempfindung, Seelengröße ein seltener Grad von Selbstbeherrschung. (Die sittlich geforderte Rück- sichtnahme auf die Umgebung findet übrigens bis zu einem gewissen Grade schon ganz unwillkürlich statt. Der Betrübte wie der Fröhliche nehmen sich in der Gesellschaft Gleichgültiger oder entgegengesetzt Ge- stimmter zusammen, während sie sich unter Gleichgestimmten gehen lassen. Durch Teilnahme wird die Freude erhöht, der Schmerz erleichtert.) Die Vollkommenheit der menschlichen Natur und die vom Schöpfer ge- wollte Übereinstimmung unter den Gefühlen der Menschen beruht somit darauf, daß jeder wenig für sich und viel für andere empfinde, daß er die selbstsüchtigen Neigungen in Zaum halte und den wohl- wollenden freien Lauf lasse. Dies ist das Gebot sowohl des Christentums als der Natur. Ist hiermit einerseits der Inhalt des Sittengesetzes aus der Sympathie abgeleitet, so ergibt sich aus ihr andererseits das formelle Kriterium des Guten: Betrachte dein Fühlen und Tun in dem Lichte, in welchem der unparteiische Zuschauer es sehen würde. Das Gewissen ist der in die eigene Brust aufgenommene Zuschauer. Es bleibt noch die Entstehung dieses dritten Imperativischen Stadiums zu betrachten.

Aus der täglichen Erfahrung, daß wir das Betragen anderer, andere das unserige beurteilen, und dem Wunsche, ihre Billigung zu finden, er- zeugt sich die Gewohnheit, unsere eigenen Handlungen der Kritik zu unterziehen. Wir lernen uns mit fremden Augen beobachten, gewähren dem Zuschauer und Richter einen Platz im eigenen Herzen, eignen uns seine kühle, objektive Beurteilung an und hören den Menschen darinnen uns zurufen: du bist verantwortlich für deine Absichten und Taten. Auf diesem Wege werden wir instand gesetzt, zwei große Verblendungen zu überwinden: die der Leidenschaft, welche die Gegenwart überschätzt auf Kosten der Zukunft, und die der Selbstliebe, welche die eigene Person überschätzt auf Kosten der anderen Menschen, Täuschungen, von denen der Zuschauer frei ist; denn ihm erscheint die augenblickliche Lust nicht begehrenswerter, als die zukünftige, ihm ist die eine Person so viel wert wie die andere. In der Übung der Selbstprüfung bilden

jg5 Die englische Moralphilosophie,

sich durch Vergleichung ähnlicher Fälle gewisse Regeln oder Grund- sätze über das, was recht und gut ist. Die Ehrfurcht vor diesen all- gemeinen Lebensregeln heißt Pflichtgefühl. Der letzte Schritt be- steht darin, daß wir die verpflichtende Autorität der Sittenregeln dadurch erhöhen, daß wir sie als göttliche Gebote betrachten. Hieran schließen sich feinsinnige Erörterungen darüber, in welchen Fällen es 'gebilligt wird, daß die Handlung allein aus Rücksicht auf jene abstrakten Maximen geübt werde, in welchen anderen man gern außer derselben einen natürlichen Antrieb, eine Leidenschaft mitwirken sieht. Zürnen und strafen soll man ohne Aufwallung, bloß weil die Vernunft es verlangt, dagegen soll man wohlwollend und dankbar sein aus Affekt; die Frau ist keine Mustergattin, die nur aus Pflichtgefühl und nicht zugleich aus Zuneigung ihre Pflichten erfüllt. Ferner muß der Achtung vor den Regeln überall, wo dieselben nicht, wie bei der Gerechtigkeit, vollkommen genau und bestimmt formulierbar sind und schlechthin ausnahmslos gelten, ein natürlicher Geschmack zur Modifizierung und Ergänzung der allgemeinen Maximen für den einzelnen Fall zu Hilfe kommen.

In unserer Skizze des Gedankenganges der Smithschen Moralphilo- sophie mußte vieles Feine und Bedeutende die vortreffliche Klar- legung des Verhältnisses von Wohlwollen und Gerechtigkeit, eine Menge charakterologischer Schilderungen, z. B. eine geistreiche Parallele zwischen Stolz und Eitelkeit übergangen werden. Es mag zum Schluß noch flüchtig dessen gedacht werden, was er über die Unregelmäßigkeiten der moralischen Beurteilung beibringt. Glück und Erfolg üben auf die- selbe einen Einfluß, der ihrer Reinheit schädlich, trotzdem aber als für die Menschheit im großen und ganzen nützlich anzusehen ist. Daß wir den Fürsten, Vornehmen und Reichen ihre Verfehlungen leichter hingehen lassen, ihre Vorzüge lauter preisen, ist vom moralischen Stand- punkt aus eine Unbilligkeit, die jedoch die Vorteile hat, den Ehrgeiz und die Betriebsamkeit der Menschen zu ermuntern und die Rangord- nung der Gesellschaft, die ohne Loyalität und Respekt vor Höherstehen- den sich auflösen würde, aufrecht zu erhalten. Für die meisten Menschen fällt der Weg zum Glück mit dem zur Tugend zusammen. Ferner: daß wir die erfolgreich ausgeführte Wohltat höher schätzen und belohnen als die unausgeführte freundliche Absicht, die beschlossene, aber unter- bliebene Schandtat milder beurteilen und bestrafen als die vollführte, und sogar die unbeabsichtigte Wohl- und Wehetat bis zu einem gewissen Grade anrechnen, ist gleichfalls, obwohl der Moralist darin eine sittlich nicht zu rechtfertigende Bestechung des Urteils durch den außer der Macht des Handelnden stehenden äußeren Erfolg oder Mißerfolg er- blicken muß, eine segensreiche Einrichtung der Natur. Das erste er- laubt dem Gutwilligen nicht, sich bei bloßen edlen Wünschen zu beruhigen, sondern spornt ihn zu erhöhter Anstrengung an, sie zu ver-

Adam Smith. Berkeley. jgy

wirklichen, der Mensch ist zum Handeln geschaffen; das zweite schützt uns ^■or inquisitorischer Gedankenrichterei, denn der Unschuldigste kann in schweren Verdacht kommen. Jener Inkonsequenz der Empfindung verdankt man den notwendigen juristischen Grundsatz, daß nur die Tat, iiicht der Wille bestraft werden darf Das Gericht über die Gesinnungen hat sich Gott vorbehalten. Die dritte Unregelmäßigkeit, daß der ab- sichtslos jemanden Schädigende auch in seinen eigenen Augen zwar nicht schuldig, aber doch sühnebedürftig und zum Ersatz verpflichtet erscheint, ist insofern nützlich, als sie jedermann zur Vorsicht mahnt, während die entsprechende Täuschung, vermöge deren wir dem ab- sichtslosen Wohltäter, etwa dem Überbringer guter Zeitung, dankbar sind und ihn belohnen, wenigstens unschädlich ist; für die Erweisung freund- licher Gesinnungen und Taten scheint jeder Grund hinreichend.

Das Verhältnis der Moraltheorie des Adam Smith zu seiner National- ökonomie kann nicht in Kürze abgemacht werden. Sein Verdienst hinsichtlich der ersteren besteht in der knappen und eigenartigen Zu- sammenfassung der Leistungen seiner Vorgänger und in der Vorbereitvmg Kantischer Anschauungen, soweit solche auf dem empiristischen Boden der Engländer möglich war. Sein unparteiischer Zuschauer war der A'orläufer des kategorischen Imperativs.

Was nach Smith an ethischen Lehren in England aufkam, darf fast ausnahmslos als Eklektizismus bezeichnet werden. Dies gilt für Adam Ferguson (Grundsätze der Moralphilosophie 176g, deutsch von Garve 1772), für Will. Paley (1785, 12. Aufl. 1799), für die schottische Schule (D. Stewart 1793). Erst Benthams Utilitarismus brachte eine neue Wenduns:.

4. Erkenntnislehi'e..

Berkeley.

Der Irländer George Berkeley' (1685 1753), Bischof von Cloyne, verhält sich zu Locke ähnlich wie Spinoza zu Descartes. Er bemerkt Un- fertigkeiten und Widersprüche, die der Vorgänger stehen gelassen, und da er erkennt, daß dem Übel nicht durch kleine Reparaturen und

1 An essay toivards a neiv theory of vision 1709. A treatise concerning ihe principles of hjiman knowledge 1710. Three dialogues between Hylas and Philonotis 1713. AlcipJij'on or the 7)iimite philosopher 1732, gegen die Freidenker, namentlich gegen Mandeville gerichtet. Works 1784. Die FRASERsche Gesamtausgabe in vier Bänden erschien 1871 und in neuer Auflage 1901. Das Hauptwerk „Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis" hat Überweg 1869, die Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous R. RICHTER 1901 für die Kirchmannsche Bibliothek übersetzt. Über B.: Fräser in den Philosoph ical classics 1881.

1 88 Berkeley.

künstliche Hilfshypothesen abzuhelfen ist, geht er auf die Grundgedanken zurück, die er ernster nimmt als ihr Schöpfer, und gelangt bei deren strengerer Durchführung zur Ausgestaltung eines neuen Weltbildes. Die Punkte an der Lockeschen Lehre, die zum Weitergehen aufforderten, waren folgende. Locke verkündet, daß unsere Erkenntnis nicht weiter reiche als unsere Vorstellungen, und daß die Wahrheit in der Überein- stimmung der Ideen untereinander, nicht der Ideen mit den Dingen bestehe. Kaum ausgesprochen, wird dieser Grundsatz schon verletzt. Trotz der Beschränkung des Wissens auf die Vorstellungen statuiert Locke eine Erkenntnis (wenn auch nicht der inneren Beschaffenheit, so doch) der Eigenschaften und Kräfte und eine „sensitive" Gewißheit von der Existenz der Dinge außer uns. Dagegen ist zu sagen, daß es primäre Eigenschaften, solche, die außer uns ebenso existieren wie in unsrer Vorstellung, gar nicht gibt. Ausdehnung, Bewegung! Solidität, die man als solche anführt, sind ebensosehr bloß subjektive Zustände in uns wie Farbe, Wärme und Süßigkeit. Undurchdringlichkeit ist nichts weiter als das Gefühl des Widerstandes, eine Vorstellung demnach, die selbstverständlich nirgends anders sein kann als im fühlenden Geiste. Ausdehnung, Größe, Entfernung und Bewegung sind nicht einmal Empfindungen (wir sehen nur Farben, keine quantitativen Bestimmungen), sondern Verhältnisse, die wir denkend den sinnlichen (sekundären) Qualitäten hinzufügen und nicht ohne diese vorzustellen vermögen ; schon ihre Relativität verbietet, sie als Objektives zu betrachten. Die körperlichen Substanzen aber, die von den Philosophen erdichteten „Träger" der Eigenschaften, sind nicht nur unbekannt, sondern sie exi- stieren gar nicht. Die allgemeine Materie ist ein Wort ohne Sinn, der einzelne Körper eine Vorstellungsverbindung in uns, nichts -weiter. Zieht man von einem Dinge alle sinnlichen Eigenschaften ab, so bleibt schlechter- dings nichts übrig. Unsere Ideen sind nicht allein das einzig Erkenn- bare, sondern auch das einzig Existierende: es gibt nichts als Geis- ter und deren Vorstellungen. Nur Geister sind tätige . Wesen, nur sie sind unteilbare Substanzen, haben wahrhafte Existenz, während das Sein der Körper (als unselbständiger, träger, veränderlicher, immer nur werdender Wesen) allein darin besteht, daß sie Geistern erscheinen, von ihnen vorgestellt werden. Undenkende, also passive Wesen sind weder Substanzen noch können sie Vorstellvmgen in uns bewirken. Die- jenigen Ideen, die wir nicht selbst hervorbringen, sind Wirkungen eines Geistes, der mächtiger ist als wir. Hiermit war eine zweite Inkonsequenz beseitigt, die Locke übersehen hatte, der die aktive Kraft den Körpern ab- und nur den Geistern zusprach, daneben aber doch diese von jenen affiziert werden ließ. Soll der äußere Sinn das Vermögen sein, durch Einwirkung äußerer körperlicher Dinge zu Vorstellungen veranlaßt zu werden, so gibt es gar keinen äußeren Sinn. Ein dritter Punkt, an

Berkeley.

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dt^m Locke seinem Nachfolger nicht weit genug gegangen war, betrifft den in England einheimischen Nominalismus. Locke hatte mit seinen Vorgängern behauptet: alles Wirkliche ist individuell, allgemeine Wesen gibt es nur im abstrahierenden Verstände. Von hier aus geht Berkeley noch einen Schritt weiter, den letzten, der in dieser Richtung möglich war, indem er selbst die Möglichkeit abstrakter Vorstellungen in Abrede stellt. Wie alle Wesen Einzeldinge, so sind alle Ideen Einzel- vorstellungen.

In der Widerlegung dieser beiden Grundirrtümer, der Annahme von Allgemeinbegriffen in unserem Geiste und des Glaubens an die Existenz einer Körperwelt außerhalb desselben, als der Hauptquellen der Gottes- leugnung, Zweifelsucht und Uneinigkeit in der Philosophie, erblickt Berkeley seine Lebensaufgabe. Der erste Irrtum ist durch die Sprache veranlaßt worden. Daraus, daß wir Worte gebrauchen, welche mehr als ein Objekt bezeichnen, glaubte man schließen zu dürfen, daß wir Vorstellungen haben, welche dem Umfange jenes Wortes entsprechen und nur die- jenigen Merkmale enthalten, welche in allen gleichbenannten Objekten übereinstimmend vorkommen. Das ist jedoch nicht der Fall. ^ Wir sprechen von manchen Dingen, die wir nicht vorstellen können, die Namen vertreten nicht immer Ideen. Die Definition des Wortes Dreieck = geradlinige dreiseitige Figur ist eine Forderung, die unser A^orstellen niemals genau zu erfüllen vermag; das Dreieck, das wir uns vorstellen, wird immer entweder rechtwinklig oder schiefwinklig, nicht aber wie man es von dem abstrakten Begriff verlangen müßte beides und zugleich keins von beidem sein. Der Name „Mensch" umfaßt Männer und Weiber, Kinder und Greise, aber vorzustellen vermögen wir den Menschen immer nur als ein Individuum von bestimmtem Geschlecht und Alter. Trotzdem sind wir imstande, mit jenen unvorstellbaren, aber nützlichen Abbreviaturen sicher zu operieren und an einer Einzel- \orstellung Wahrheiten zu entwickeln, die nicht bloß für sie gültig sind. Dies geschieht dann, wenn in dem Beweise diejenigen Eigenschaften nicht in Betracht kommen, durch die sie sich von den gleichnamigen unterscheidet. In solchem Falle vertritt die bestimmte Vorstellung alle übrigen, die mit demselben Worte bezeichnet werden: die repräsentierende Idee ist nicht allgemein, aber sie gilt allgemein. So brauche ich den Satz, daß die Summe der Dreieckswinkel gleich zwei Rechten sei, nach- dem ich ihn an einem bestimmten Dreieck dargetan, nicht noch für jedes andere zu beweisen. Denn nicht nur Farbe und Größe des Dreiecks

1 Gegen Berkeleys Leuguung abstrakter Begrifie hat der Popularphilosoph Joh. Jak. Eng el eine Abhandlung „Über die Realität allgemeiner Begriffe" (Engels Schriften, Bd. 10) gerichtet, auf die O. Liebmann, Analysis der Wirklichkeit*2. Aufl. S. 473 (3. Aufl. S. 4S0 481) aufmerksam macht.

igo

Berkeley.

ist gleichgültig, sondern auch seine anderen Bestimmtheiten, ob es recht-, spitz- oder stumpf-winklig, gleichseitig, gleichschenklig oder ungleich- schenklig war, sind im Beweise nicht erwähnt worden und haben auf denselben keinen Einfluß gehabt. Nur in diesem Sinne gibt es Abstrakta. Ich kann in der Betrachtung des Individuums Paul meine Aufmerksam- keit ausschließlich den Merkmalen zuwenden, die es mit allen Menschen oder mit allen Lebewesen gemein hat, aber es ist unmöglich, den Komplex dieser gemeinschaftlichen Eigenschaften losgelöst von den individuellen Besonderungen vorzustellen. Die Selbstbeobachtung zeigt, daß wir keine Allgemeinbegriffe haben, die Vernunft, daß wir keine haben können, denn es ist widersprechend, in einer Vorstellung entgegengesetzte Bestandteile zusammenzudenken. Eine Bewegung überhaupt, die weder schnell noch langsam, eine allgemeine Ausdehnung, die sowohl groß als klein wäre, eine abstrakte Materie ohne sinnliche Bestimmtheiten kann weder sein noch vorgestellt werden.

Die „materialistische" Hypothese so nennt Berkeley die Annahme, daß eine Welt von Körpern außerhalb der sie perzipierenden Geister und unabhängig von ihrem Vorgestelltwerden existiere ist erstens überflüssig, denn die Tatsachen, zu deren Erklärung sie dienen soll, lassen sich ebensogut und besser ohne sie erklären; sie ist zweitens falsch, denn es ist ein widerspruchsvoller Gedanke, daß ein Gegenstand unwahr- genommen existiere und daß eine Empfindung oder Idee die Kopie von Etwas sei, was selbst nicht Empfindung oder Idee ist. Das einzige Objekt des Verstandes sind Ideen. Sinnliche Eigenschaften (weiß, süß) sind subjektive Zustände der Seele, Sinnendinge (Zucker) Komplexe von Em- pfindungen. Bedürfen die Empfindungen eines substantiellen Trägers, so ist dies nicht ein Außending, das weder vorstellt noch vorgestellt wird, sondern die Seele, die sie perzipiert. Die einzelnen oder zu Ob- jekten verbundenen Ideen können nirgends anders als in einem Geiste existieren, das Sein der sinnlichen Dinge ist ihr Wahrgenommenwerden (esse est percipi). Ich sehe hell und fühle warm und setze jene Gesicht- und diese Tastempfindung zu der Substanz Feuer zusammen, weil ich durch Erfahrung weiß, daß sie einander stets begleiten und ankündigen.' Die Annahme eines „Gegenstandes" außer der Vorstellung ist so nutz- los, wie dessen Existenz sein würde. Wozu soll Gott eine Welt realer Körper außerhalb der Geister schaffen, da sie weder in die Geister hinein- wandern noch (weil unvorgestellt) durch deren Vorstellungen kopiert

1 Das Feuer, das ich sehe, ist nicht die Ursache des Schmerzes, den ich bei der Annäherung empfinde, sondern das Gesichtsbild des Leuchtens ist nur ein Zeichen, das mich warnt, zu nahe zu kommen. Wenn ich durch ein Mikroskop blicke, so sehe ich einen anderen Gegenstand, als den, den ich mit bloßem Auge wahrnahm. Zwei Personen sehen nie dasselbe Objekt, sondern haben nur gleiche Empfindungen.

Berkeley. jqj

werden, noch (weil selbst nicht vorstellend und nicht tätig) in ihnen Ideen erzeugen können? Die Vorstellungen bedeuten nichts anderes als sich selbst, d. h. AfTektionen des Subjekts. Es fragt sich weiter, wo stammen sie her?

Was die Menschen zu jenem irrtümlichen Glauben an die Realität der materiellen Welt verleitete, war die Tatsache, daß gewisse Ideen nicht, wie andere, unserer Willkür unterworfen sind. Von den Phantasie- vorstellungen, die wir nach Gefallen her\orrufen und verändern können, unterscheiden sich die Empfindungen durch ihre größere Stärke, Leb- haftigkeit und Deutlichkeit, durch ihre Stetigkeit, regelmäßige Ordnung und Verknüpfung und dadurch, daß sie ohne unser Zutun und unab- weisbar auftreten. Wenn wir diese Ideen niclit selbst erzeugen, so müssen sie eine äußere Ursache haben. Diese aber kann nur ein wollendes und denkendes Wesen sein; denn ohne Willen könnte es nicht tätig sein und auf mich wirken, ohne selbst Vorstellungen zu haben, könnte es mir keine mitteilen. Wegen der Mannigfaltigkeit und Regelmäßigkeit unsrer Empfindungen muß ferner jenes Wesen, das sie in uns wirkt, unendliche Macht und Intelligenz besitzen. Die Einbildungen werden von uns selbst, die wirklichen Wahrnehmungen von Gott hervorge- bracht. Das zusammenhängende Ganze der gottgewirkten Ideen nennen wir Natur, die beharrliche Ordnung ihrer Sukzession Naturgesetz. In der Unveränderlichkeit des göttlichen Wirkens und der planvollen Har- monie der Schöpfung offenbart sich die Weisheit und Güte des Allmäch- tigen deutlicher als durch überraschende Ausnahmewirkungen. Wenn wir einen Menschen sprechen hören, so schließen wir von dieser Tätig- keit auf seine Existenz. Um wieviel weniger dürfen wir am Dasein Gottes zweifeln, der durch die tausendfältigen Werke der Natur zu uns redet!

Die natürhchen oder geschaffenen Ideen, die uns Gott einprägt, sind Abbilder der ewigen Ideen, die er selbst vorstellt, allerdings nicht durch passive Sinne, sondern durch seine schöpferische Vernunft. Wenn dem- nach behauptet wurde, daß die Dinge nicht unabhängig vom Vorstellen existieren, so war dabei nicht an den einzelnen, sondern an alle Geister gedacht. Wenn ich meine Augen von einem Gegenstande wegwende, so existiert er allerdings nach dem Aufliören meiner Wahrnehmung fort in dem Geiste anderer Menschen und dem des Allgegenwärtigen, Den pantheistischen Abschluß dieser Gedanken im Geiste des Geulincx und Malebranche ^, den man erwartet, hat Berkeley wirklich angedeutet:

1 Daß man vom rationalistischen Standpunkt aus zu dem gleichen Ergebnisse gelangen konnte, wie Berkeley vom empiristischen, beweist A. Collier. Er hafte, an Malebranche anknüpfend und dessen Idealistische Tendenzen weiterverfolgend, die Lehre von der „Nichtexistenz oder Unmöglichkeit einer Außenwelt" unabhängig von Berkeley konzipiert, aber erst nach dem Erscheinen von dessen Hauptwerk und

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Berkeley.

Alles existiert nur durch seine Teilnahme an dem einen, bleibenden, allumschließenden Geiste, die einzelnen Geister sind wesensgleich mit der allgemeinen Vernunft, nur daß sie minder vollkommen, begrenzt und nicht reine Tätigkeit, Gott aber leidenloser Verstand ist. Wenn Gott letzten Endes alles bewirkt, so doch nicht die freien Handlungen der Menschen, am wenigsten die bösen. Die Freiheit des Willens darf man nicht wegen der Widersprüche, in die ihre Annahme verwickelt, verwerfen; auch die Bewegung und das Unendliche der Mathematik enthalten Unbegreiflichkeiten. In der Naturphilosophie begünstigt Berkeley die teleologische Betrachtung vor der mechanischen, welche nur die Regeln des Geschehens, aber nicht dessen wirkende und Endursachen zu ent- decken vermag. Sinn und Erfahrung macht uns bloß mit dem Verlauf der erscheinenden Wirkungen bekannt, der einzige sichere Führer zur Wissenschaft und Wahrheit ist allein die Vernunft, die uns das Reich der Ursachen, des Geistigen erschließt. Der Verstand empfindet nicht, der Sinn erkennt nicht. Von fremden Geistern haben wir nur einen Begriff, aber keine (sinnliche) Idee, wir nehmen statt ihrer selbst bloß ihre Tätigkeiten wahr, von denen wir auf Seelen gleich der unsrigen schließen, während wir unseres eigenen Geistes durch unmittelbare Selbst- wahrnehmung bewußt sind.

Neben der Unerschrockenheit, mit der Berkeley seinen Spiritualismus vorträgt, erscheint auffallend das ängstliche Bemühen, seiner immateriaU- stischen Doktrin den Anschein der Paradoxie zu nehmen und ihre völlige Übereinstimmung mit der Auffassung des gesunden Menschenverstandes nachzuweisen. Auch der gemeine Mann verlange nichts weiter als die Realität seiner Empfindungen, die Trennung von Vorstellung und Gegen- stand sei eine Erfindung der Philosophen. Man kann Berkeley hier nicht von einer sophistischen Spielerei mit dem in der Tat zweideutigen Be- griff der „Vorstellung" freisprechen. Er versteht darunter das, was die Seele vorstellt (ihr inneres unmittelbares Objekt), das populäre Bewußt- sein aber das, wodurch die Seele einen Gegenstand vorstellt. Die Wirk- lichkeit der Vorstelluns: in uns ist etwas anderes als die Vorstellung

nicht ohne Berücksichtigung desselben in seinem ,, Universalschlüssel" 17 13 aus- gearbeitet. Gesamtauschauung und Argumente sind die nämlichen: Körper sind be- harrliche Empfindungskomplexe, existieren bedeutet von Gott vorgestellt werden, die Erschaffung einer realen Körperwelt außer der idealen in Gott und den sinnlichen Empfindungen in uns wäre ein überflüssiger Umweg gewesen usw. Zu den Vorläufern Berkeleys darf auch der von FREUDENTHAL (Beiträge zur Gesch. der engl. Philos., AGPh. Bd. 6, 1893) wieder entdeckte Rob. Greville, LordBrooke (Die Natur der Wahrheit 1641) gezählt werden, der mit den Neuplatonikern alle Ver- schiedenheit der Dinge in der Einheit des göttlichen Seins begräbt, die Identität der Seele, der Erkenntnis und der Wahrheit als unmittelbarer Ausstrahlungen gött- lichen Lichtes lehrt, die Subjektivität der Zeit und des Raumes behauptet und die Körper in geistiges Sein umwandelt.

Berkeley. Hume. jq.

eines Wirklichen, resp. die Wirklichkeit des durch sie Voro-estellten außer uns, und die letztere eben ist es, die der gesunde Menschenver- stand behauptet, Berkeley leugnet. Jedenfalls war es ein hohes Verdienst die Existenz von Gegenständen außerhalb der Vorstellungen, von Dino-en an sich, aus der Sphäre des Selbstverständlichen in die des Problematischen hinausgerückt zu haben. Wir kommen nie über den Kreis unserer A'^Drstellungen hinaus, und wenn wir als Grund und Gegenstand der Vorstellung ein Ding an sich statuieren, so ist dies eben auch ein Gedanke, eine Vorstellung. Für uns gibt es kein Sein als das des Vorstellenden und Vorgestellten. Noch zwei Formen des Idealismus werden uns begegnen: bei Leibniz und bei Fichte. Beide sind mit Berkeley da- rüber einig, daß nur geistige Wesen tätig, nur tätige wirklich sind, das Sein der nicht tätigen in ihrem Vorgestelltwerden besteht. Während aber Berkeley die gegenständUchen Vorstellungen den endlichen Geistern von dem unendlichen jede einzeln von außen eingedrückt werden läßt, erscheinen sie bei Leibniz als eine Fülle von Keimen, welche Gott den [Monaden am Anfang allesamt einpflanzt und die das Individuum zum Bewußtsein entwickelt, bei Fichte aber als unbewußte Produktionen des in den Einzelichen tätigen absoluten Ich. Für die beiden ersteren gibt es so viele Welten als Einzelgeister, für deren Übereinstimmun<^ dort die Konsequenz der Wirkung Gottes, hier seine Voraussicht garan- tiert; Für Fichte gibt es nur eine Welt, denn das Absolute steht nicht außerhalb der Einzelgeister, sondern ist die in ihnen gleichmäßig wirkende Kraft. Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß Fichte die Setzung einer Außenwelt aus dem Zweck des sittlichen Handelns be- gründet.

H u m e.

David Hume (sprich Juhm) ist am 26. April 171 1 in Edinburgh geboren und ebendort am 25. August 1776 gestorben. Der Posten eines Bibliothekars, den er 1752 1757 in seiner Vaterstadt bekleidete, gab die Anregung zu seiner Geschichte Englands (1754 1762). Während seines ersten Aufenthaltes in Frankreich 1734 1736 verfaßte er sein Hauptwerk, den Traktat über die menschliche Natur, der jedoch wenig Leser fand. Später arbeitete er den ersten Teil desselben zu dem Versuch über den menschlichen Verstand (1748) um, den zweiten zu einer Dissertation über die Leidenschaften, den dritten zu der Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Diese und andere seiner Essays fanden so viel Beifall, daß er, als er zum zweiten Male 1763 1766, als Sekretär des Lord Hertford, in Frankreich weilte, bereits als weltberühmter Philosoph gefeiert wurde. Daß er von dort heimkehrend dem von der Berner Re- gierung ausgewiesenen Rousseau eine Zuflucht bereitete, wurde ihm von

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. I3

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HXJME.

dem argwöhnischen, an Verfolgungswahn leidenden Manne übel ver- golten {Account of the controversy betzveen Huine and Rousseau, 1766). Nachdem Hume einige Jahre als Unterstaatssekretär im auswärtigen Amte fungiert, zog er sich privatisierend in die Heimat zurück.

Die drei Teile des 1739 1740 herausgekommenen Treatise ofi htiman fia- ture sind überschrieben Of the unders/anding, 0/ t/ie passions , Of morals. Den ganzen Traktat über die menschliche Natur hat L. H. Jacob, Halle 1790 92, den ersten Teil über den Verstand E. Köttgen (überarbeitet und mit Anmerkungen von Th. Lipps) Hamburg 1895 übersetzt. In den vier Bänden der „Essays" vereinigte Hume später die zuerst gesondert erschienenen Essays mo7-al and political 1741 42, die Enquiry concerning hiinnvi imder s tandin g 1748 (deutsch von KIRCHMANN 1869, von NathaNSON 1893), die Enquiry concerning the principles of morals 1751 (deutsch von Masaryk 1883), die Political discourses 1752 (deutsch von Nieder- MÜLLER: Nationalökonomische Abhandlungen 1877) und die Eotir dissertations 1757, worunter die über die Passionen und die zuerst 1755 gedruckte /Natural history of religion. Nach Humes Tode erschienen die Autobiographie 1777, die Dialoge über die natürliche Religion 1779 (deutsch von Paulsen 1877) und die beiden kleinen Abhandlungen über den Selbstmord und die Unsterblichkeit der Seele 1783; die philosophischen Werke 1827, 1854 u. ö. Green und Grose haben London 1874 den Treatise mit den Dialogues concerning natural religion und 1875 die Sammlung der Essays neu herausgegeben; zweite Auflage der Philosophical Works ed. Green and Grose 1886. Gute Ausgaben des Treatise (2. Aufl. 1896) sowie der Enquiry conc. h. nnderst. und der Efiqiiiry conc. the pr. of morals (zusammen) 1894 von Selby- BlGGE.

Von den Arbeiten über Hume seien erwähnt BuRTONs Life and corre^pondence of D. H. 1846 50, die Preisschrift von Jodl 1872, die Werke von G. Compayre, Toulouse 1873, E. Pfleiderer (Empirismus und Skepsis in Humes Philos.) 1874, HUXLEY 1879, Knight 1886, Calderwood {Famous Scots series) 1898 und Ai,. Meinongs Humestudien 1877 82. Ferner Heinr. Goebel, Das Philosophische in Humes Geschichte von England 1897; JuL. Goldstein, Die empiristische Geschichts- auffassung Humes 1903; Otto Quast, Der Begriff des Belief bei Hume (B. Erd- manns „Abhandl. zur Philos.", Heft 17) 1903; JUL. ZiMELS, Humes Lehre vom Glauben und ihre Entwicklung vom Treatise zur Inqjiiry (Erlanger Diss.) 1903. Vergl. auch unten S. 200 Anm. 2.

Humes Absicht ist, gleich derjenigen Berkeleys, auf eine Verbesserung der Lockeschen Erkenntnislehre gerichtet. Er gellt hierbei in mancher Hinsicht nicht soweit wie jener, in anderer sehr viel weiter. Einver- standen mit Berkeleys Ultranominalismus, der sogar die Möglichkeit ab- strakter Ideen bestreitet, folgt er ihm doch nicht bis zur Leugnung der äußeren Wirklichkeit, führt dagegen dessen Andeutung, daß die unmittel- bare Empfindung weniger enthalte, als ihr zuerkannt werde (daß wir z. B. durch das Gesicht nur Farben, nicht aber Entfernung usw. wahr- nehmen), sowie den die Sicherheit des Naturerkennens aufhebenden Grundsatz, daß zwischen Erscheinungen keine Kausalität stattfinde, konse- quenter durch und bringt die Substanzfrage zu dem negativen Abschluß, daß es überhaupt keines Trägers für Eigenschaftsgruppen bedürfe und demnach.

Eindrücke und Ideen. Assoziationsgesetze. jqi-

wie den körperlichen Wesen, so auch den immateriellen die Substantialität abzusprechen sei. An der Lockeschen Philosophie aber waren es andere Punkte, die Hume der Ergänzung bedürftig schienen, als die, an denen Berkeley eingesetzt hatte. Der Gegensatz der Vernunft- und Erfahrungs- erkenntnis wird schärfer gefaßt, die Verbindung der Vorstellungen der Willkür des Verstandes entrückt und unter die Herrschaft psychologischer Gesetze gestellt, und zu der Unterscheidung der äußeren und inneren Erfahrung (von denen der ersteren die Priorität eingeräumt wird, da man vorher eine äußere Empfindung gehabt haben müsse, ehe man sich der- selben reflektierend als eines inneren Vorgangs bewußt werden könne) tritt, gleich wichtig und mit ihr sich kreuzend, die zwischen Wahrnehmung und A^orstellung hinzu, von denen ebenfalls die erste von der zweiten vorausgesetzt wird.

Den erheblichen Unterschied zwischen einer wirklichen gegenwärtigen Empfindung (etwa der Wärme) und der bloßen Vorstellung einer früher gehabten oder demnächst zu habenden wird jedermann zugestehen. Derselbe besteht in der größeren Stärke, Lebhaftigkeit und Frische der ersteren. Obwohl daher die beiden Klassen von Zuständen (die Vor- stellung einer vom Dichter geschilderten und die Wahrnehmung einer wirklichen Landschaft, Zornigsein und an den Zorn denken) sich nur quantitativ unterscheiden, sind sie doch kaum je in Gefahr, miteinander verwechselt zu werden: die lebhafteste Vorstellung bleibt immer hinter der schwächsten Wahrnehmung zurück. Die wirklichen, äußeren oder inneren, Empfindungen mögen Eindrücke, die schwächeren Erinnerungs- oder Phantasiebilder, die sie nach ihrem Verschwinden zurücklassen, mögen Ideen heißen. Da nichts in die Seele gelangen kann außer durch die beiden Tore der äußeren und inneren Erfahrung, so gibt es keine idea, die nicht aus einer iiyipression oder mehreren solchen ent- standen wäre: jede Idee ist das Nach- und x\bbild einer Impression. Indem nun Phantasie und Verstand die von der Sinnlichkeit gelieferten und im Gedächtnis nachklingenden Elemente mannigfach zusammensetzen, trennen und umstellen, entsteht die Möglichkeit des Irrtums. Eine ver- steckte und um so gefährlichere Art des Irrtums besteht darin, daß man eine Idee auf einen anderen Eindruck bezieht, als auf den, dessen Kopie sie in Wahrheit ist. Die Begriffe Substanz und Kausalität sind Beispiele solcher falschen Beziehung.

Die Kombination der Vorstellungen geschieht ohne Freiheit, rein mechanisch nach bestimmten Regeln, die letzthin auf drei fundamentale Assoziationsgesetze hinauslaufen: die Ideen vergesellschaften sich I. nach ihrer Ähnlichkeit (und ihrem Kontraste), 2. nach ihrer räumlichen und zeitlichen Nachbarschaft (ihrem Neben- und Nacheinander), 3. nach ihrer kausalen Verknüpfung. Auf dem Wirken des ersten Gesetzes, auf der unmittelbaren oder vermittelten Erkenntnis der Gleichheit, der Ver-

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HUME.

schiedenheit, des Gegensatzes und der quantitativen Verhältnisse der Vorstellungen, beruht die Mathematik, auf dem des zweiten die Wissen- schaften von der Natur und dem Menschen in ihrem beschreibenden und experimentalen Teile, auf dem des dritten die Religion, die Meta- physik und der über die bloße Beobachtung hinausgehende Teil der Physik und Moral. Die Erkenntnistheorie hat die Grenzen des mensch- lichen Verstandes und den Grad der Zuverlässigkeit jener Wissenschaften festzustellen.

Gegenstand des menschlichen Denkens und Forschens sind entweder Vorstellungsverhältnisse oder Tatsachen. Zur ersten Klasse gehören die Objekte der Mathematik, deren Erkenntnisse, da sie analytisch sind (d. h. in dem Prädikate nur solche Merkmale herausheben, die be- reits im Subjekt enthalten sind, nicht aber diesem etwas Neues hinzu- fügen) und sich allein auf mögliche Verhältnisse, nicht auf Wirkliches beziehen, eine anschauliche oder eine beweisbare Gewißheit haben. Nur Sätze über Größe und Zahl können a priori durch reine Denk- tätio-keit, ohne Bezugnahme auf reale Existenz , entdeckt und aus der Unmöglichkeit des Gegenteils bewiesen werden: die Mathematik ist die einzige demonstrative Wissenschaft.

Von Tatsachen erlangt man Gewißheit durch eigene Empfindun g oder, wo sie über das Zeugnis unserer Sinne und unseres Gedächtnisses hinausgehen, durch Schlüsse von anderen Tatsachen aus. Diese Er- fahrungsbeweise sind von ganz anderer Art als die mathematischen Vernunftbeweise; da das Gegenteil einer Tatsache immer denkbar bleibt (die Behauptung, daß die Sonne morgen nicht aufgehen wird, enthält keinen logischen Widerspruch), so bieten sie, wie groß auch unsere Über- zeugung von ihrer Richtigkeit sein mag, streng genommen nur Wahr- scheinlichkeit. Indessen empfiehlt es sich, diese Art der Folgerungen aus Erfahrung, deren Sicherheit außer von selten des Philosophen keinem Zweifel begegnet, von den unsicheren Wahrscheinlichkeiten als eine zwi- schen ihnen und der demonstrierbaren Wahrheit die Mitte haltende Klasse abzusondern {demonstrations proofs probabilitics). Alle Schlüsse von Tatsachen auf Tatsachen gründen sich auf das Verhältnis der Kausalität. Woher erlangen wir die Erkenntnis von Ursache und Wirkung? Durch Denken a priori nicht. Reine Vernunft vermag nur Begriffe in ihre Bestandteile aufzulösen, nicht neue Prädikate mit ihnen zu verknüpfen. Ihre Urteile sind sämtlich analytisch, synthetische Urteile beruhen auf Erfahrung. Zur letzteren Klasse gehören die kausalen, denn die Wirkung ist von der Ursache gänzlich verschieden, es ist weder jene in dieser, noch diese in jener enthalten. Einer vorher nicht bekannten Erscheinung sieht niemand an, aus welchen Ursachen sie entstanden ist und welche Wirkungen aus ihr hervorgehen werden. Wir schließen von der Flamme auf Wärme, vom Brot auf Ernährung, weil wir beide

Kausalität.

197

häufig in räumlicher und zeitlicher Verknüpfung wahrgenommen haben. Aber auch die Erfahrung gewährt noch nicht alles, was wir verlangen. Sie zeigt nichts weiter, als das Beisammen oder die Sukzession der Er- scheinungen und Vorgänge, das Urteil aber, die Bewegung des einen Körpers stehe in kausalem Zusammenhange mit der des anderen, be- hauptet mehr als nur deren räumlich-zeitliche Nachbarschaft, es sagt aus, daß die erste nicht bloß der zweiten vorhergehe, sondern sie hervor- bringe, die zweite nicht bloß auf die erste folge, sondern aus ihr er- folge. Das Band, welches beide Ereignisse verknüpft, die Kraft, die das zweite aus dem ersten hervortreibt, der notwendige Zusammen- hang zwischen beiden wird nicht wahrgenommen, sondern zur Wahr- nehmung hinzugedacht, ihr untergelegt.^ Was veranlaßt und was berechtigt uns, aus der zeitlichen Folge, die wir empfinden, eine kausale zu machen, dem Ist ein Muß unterzuschieben, den beobach- teten faktischen Zusammenhang in einen nie beobachtbaren notwendigen umzudeuten?

Nicht jedes beliebige aufeinanderfolgende EreignispaaCr wird kausal verknüpft, sondern nur ein solches, dessen Verbindung wiederholt wahr- genommen worden. Das Wunderbare ist nun, daß wir durch mehrfach wiederholte Beobachtung gewisser Gegenstände auch über das Verhalten anderer ähnlicher und über das fernere Verhalten derselben Gegenstände etwas zu wissen meinen. Daraus, daß ich einen bestimmten Apfel zehn- mal habe zu Boden fallen sehen, schließe ich, daß alle Äpfel der Welt, wenn man sie losläßt, statt, was an sich ebensogut denkbar wäre, in die Höhe zu fliegen, auf die Erde hinabfallen, daß dies von jeher so ge- wesen sei und in alle Ewigkeit so bleiben werde. Wo ist das Zwischen- glied zwischen dem Satze: „Ich habe gefunden, daß dieses Ding immer mit dieser Wirkung verbunden gewesen ist", und dem anderen: „Ich sehe voraus, das dieses und alle ähnlichen Dinge mit ähnlichen Wir- kungen verbunden sein werden?" Diese Voraussetzung, daß das Kommende dem Vergangenen gleichen und daß ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen haben werden, hat einen rein psychologischen Grund. Vermöge der Assoziationsgesetze ruft der Anblick eines Gegenstandes oder Vorganges in lebhafter Weise das Erinnerungsbild eines zweiten.

1 Die Schwäche des Ursachbegriffs war schon vor Hume durch den Skeptiker Jos. Glanvil (1636 1680; über ihn Greenslet 1900) erkannt worden. Die Kau- salität selbst ist unwahrnehmbar, wir erschließen sie aus dem beständigen Nacheinan- der zweier Erscheinungen, ohne die Berechtigung der Umwandlung des Hiernach in ein Hierdurch erweisen zu können. M. Worms, Anfangslosigkeit der Welt bei den arabischen Philosophen des Orients (Erl. Diss. ; Bäumkers Beiträge zur Gesch. der Philos. des MA., Bd. 3, Heft 4), Münster 1900, S. 57, hat unter Hinweis auf Renan, AverroesS p. 97, gezeigt, daß bereits Al-Gazali Humes Kritik des Kausalitäts- begriffs vorweggenommen hat.

198 HUME.

häufig mit ihm verbunden gesehenen hervor und läßt uns unwillkürlich dessen Eintritt abermals erwarten. Der Begriff des ursächlichen Zu- sammenhanges gründet sich auf ein Gefühl (das der inneren Nötigung, von einer Vorstellung zu einer anderen überzugehen), nicht auf Einsicht, er ist ein Erzeugnis der Einbildungskraft, nicht des Verstandes. Aus der Gewohnheit, zwei Ereignisse (Sonnenschein und Wärme) verknüpft zu sehen, entspringt der psychische Zwang, bei der Wahrnehmung des einen an das andere zu denken und, den Sinnen vorgreifend, auf dessen Eintreten zu rechnen. Jetzt läßt sich sagen, von welcher Impression die Idee des Kausalnexus die Kopie ist: der ihr zugrunde liegende Eindruck ist das gewohnheitsmäßige Übergehen von der Vorstellung eines Dinges zu der seines gewöhnlichen Begleiters. Daher hat die Idee der Kausalität eine rein subjektive Bedeutung und nicht die objektive, die man ihr beilegt. Ob der gefühlten Notwendigkeit des Vorstellens eine reale des Geschehens entspreche, läßt sich nicht entscheiden. Im Leben zweifeln wir nicht daran, aber für die Wissenschaft bleibt die Überzeugung von der Gleichförmigkeit der Natur immer nur eine (wenn auch in hohem Grade) wahrscheinliche Überzeugung. Vollkommene Gewißheit gewährt allein der Beweis aus Vernunftgründen und die un- mittelbare Erfahrung. Das notwendige Band aber zwischen Ursache und Wirkung, das wir voraussetzen, kann weder demonstriert noch empfunden werden.

AVenn alle Erfahrungsschlüsse auf dem Begriff der Ursächlichkeit beruhen und dieser keine andere Stütze hat als die subjektive Gewohn- heit des Vorstellens, so folgt, daß alle Naturerkenntnis, welche über den Boden der nackten Tatsächlichkeit hinausschreitet, kein Wissen (weder ein demonstratives noch ein faktisches), sondern ein Glauben^ ist. Die Wahrscheinlichkeit des Glaubens an die Gesetzmäßigkeit des Ge- schehens wächst zwar mit jeder neuen Bestätigung der darauf gegründeten Voraussetzungen, erhebt sich aber, wie gezeigt, niemals zur absoluten Sicherheit. Trotzdem sind die Schlüsse aus Erfahrung vertrauenswürdig nnd für das praktische Leben vollkommen hinreichend, und die Ab- sicht jener skeptischen Ausführungen war nicht, den Glauben zu er- schüttern — nur ein Narr oder ein Wahnsinniger kann im Ernste an der Unveränderlichkeit der Natur zweifeln , sondern nur klarzu- machen, daß er bloß Glaube und nicht, wofür man ihn bisher gehalten, ein beweisbares oder tatsächliches Wissen sei. Unser Zweifel sollte

1 Man muß sich hüten, mit diesem Glauben als Erkenntnisart [belief) den reli- giösen zu vermengen, für welchen Hume den Ausdruck faith bevorzugt. Dem erste- ren wird im Treaiise in der Enqiiiry fehlt dieser Passus auch die Überzeu- gung vom äußeren Dasein des Wahrgenommenen zugeschrieben, woran später Jacobi anknüpfte. Der religiöse Glaube wird an die Offenbarung verwiesen.

Kausalität. Substanz.

199

nur die Grenze zwischen Wissen und Glauben abstecken und jene un- bedingte Sicherheit zerstören, welche die Forschung hemmt, statt sie zu fördern. Wir haben darin eine weise Veranstaltung der Natur zu verehren, daß sie die Regelung unserer Gedanken und den Glauben an die objektive Gültigkeit unserer Vorausberechnung nicht der schwa- chen, unbeständigen, trägen und trügerischen Vernunft, sondern einem zwingenden Instinkte anvertraute. Im Leben und Handeln beherrscht uns, trotz aller Bedenken der zweifelsüchtigen Vernunft, der Na- turtrieb.

In dem früheren Werke findet sich neben der zersetzenden Kritik der Kausalitätsidee eine im gleichen Geiste gehaltene Ausführung über den Substanzbegriff, die in die kürzere Bearbeitung nicht mit auf- genommen wurde. Durch Eindrücke wahrgenommen werden nicht Substanzen, sondern nur Zustände und Tätigkeiten. Das unbekannte Etwas, das die Eigenschaften haben oder dem sie anhaften sollen, ist eine überflüssige Fiktion unserer Einbildungskraft. Die beharrliche Gleichheit der Attribute fordert keineswegs einen mit sich identischen Träger derselben. Ein Ding ist weiter nichts als eine Summe von Eigenschaften, für die wir, da sie stets beisammen angetroffen wird, einen besonderen Namen schaffen. Die Idee der Substanz liat ihren Grund gleich der der Ursächlichkeit in einer subjektiven Gewohnheit, die wir irrtümlich objektivieren. Der Eindruck, aus dem sie entstanden, ist die innere Wahrnehmung, daß unser Vorstellen sich gleichbleibt bei der mehrmaligen Empfindung derselben Merknialgruppe (immer, wenn ich Zucker sehe, tue ich dasselbe, nämlich ich verknüpfe die Eigen- schaften der weißen Farbe, des süßen Geschmacks, der Härte usw. mit- einander), oder die Impression einer gleichmäßigen Ideenverbindung. Irrtümlich wird die Substanzidee dadurch, daß wir sie nicht auf die innere Tätigkeit des Vorstellens, zu der sie rechtmäßig gehört, sondern auf die äußere Eigenscliaftsgruppe beziehen und ein reales beharrliches Substrat der letzteren daraus machen. Mit den materiellen Substanzen fallen auch die geistigen dahin. Die Seele oder der Geist ist tat- sächlich nichts als die Summe aller inneren Zustände, eine Sammlung von Vorstellungen, die in unaufhörlichem und gesetzmäßigem Flusse dahinziehen; sie gleicht einer Schaubühne, auf der sich Gefühle, Wahr- nehmungen, Gedanken, Willensakte abspielen, ohne daß sie selbst sicht- bar würde. Ein beharrliches Selbst oder Ich als Substrat der Vorstel- lungen wird nicht wahrgenommen, es gibt keinen unveränderlich be- harrenden Eindruck. Was zu der Annahme der Identität der Person ^•erleitet, ist einzig die häufige Wiederholung ähnlicher Vorstellungsreihen und die leicht mit ununterbrochener Fortdauer zu verwechselnde All- mählichkeit der Veränderung unserer Ideen. So der Substantialität be- raubt, hat die Seele auch keinen Anspruch mehr auf Unkörperlichkeit

200 HUME.

und Unsterblichkeit, und der Selbstmord verliert den Charakter des Ver- botenen. 1

Darf Hume rundweg ein Skeptiker^ genannt werden? Die Gültig- keit der mathematischen Beweise und die tatsächlichen Wahrheiten der Erfahrung hat er nicht angefochten: in erster Hinsicht denkt er rationalistisch, in zweiter empiristisch, genauer sensualistisch. Zur em- pirischen Natur- und Geisteswissenschaft, sofern sie über die Konsta- tierung von Tatsachen zum Nachweise von gesetzmäßigen Zusammen- hängen und zu Schlüssen auf Zukünftiges fortschreitet, verhält er sich als Halbskeptiker oder Probabilist. Die Gewohnheit ist ihm, obwohl sie es nur zu AVahrscheinlichkeiten bringt, ein sicherer Führer fürs Leben; ab- solutes Wissen ist hier unerreichbar, aber auch entbehrlich. Eine gänzlich ablehnende Haltung nimmt er gegenüber der Metaphysik als einer vermeintlichen Wissenschaft vom Übersinnlichen ein. Soll dem Erfahrungsbeweis auch nur die für den Glauben hinlängliche Wahr- scheinlichkeit gesichert sein, so muß derselbe nicht nur zu seinem Aus- gangspunkte ein gut konstatiertes Faktum (einen Eindruck oder ein Gedächtnisbild) haben, sondern auch mit seinem Endpunkte sich inner- halb möglicher Erfahrung halten. Die Grenze des Erfalirbaren ist zugleich die des Erkennbaren: Schlüsse auf die Fortdauer der Seele nach dem Tode und auf das Wesen Gottes sind eitel Spitzfindigkeit und Blendwerk. Nach den berühmten Schlußworten des Essay ver- dienten alle Bücher, die etwas anderes enthalten als exakte Unter- suchungen über Größe und Zahl oder über faktische Existenz, ins Feuer geworfen zu werden. Im Hinblick auf solche Beschränkuns; der Er-

1 Vergl. die Essays on suicide and the iinmortaliiy of the soitl 1783, bei deuen die Autorschaft Humes allerdings nicht absolut feststeht.

2 Hume selbst bezeichnet im Essay seinen Standpunkt als einen gemäßigten oder akademischen Skeptizimus im Gegensatz zu dem cartesianischen, der vom Zweifel aus und durch denselben zu etwas Unbezweifelbarem zu gelangen hofl't, und dem über- triebenen pyrrhoneischen, der den Forschungstrieb lähmt. Jener maßvolle Skeptizis- mus verlangt nur, daß wir der Neigung zu unvorsichtigen Entscheidungen wider- stehend uns Besonnenheit und Behutsamkeit im Urteilen zur Pflicht machen und die Forschung innerhalb derjenigen Gebiete halten, welche unserer Erkenntnis zugänglich sind, d. h. der Gebiete der Mathematik und der empirischen Tatsachen. Im Treatise hatte Hume einer schärferen Skepsis gehuldigt und seine Zweifel weiter, z. B. auch auf die Zuverlässigkeit der Geometrie ausgedehnt. Vergl. hierzu Ed. Grimm, Zur Gesch. des Erkenntnisproblems 1890, S. 559 f. und WiLH. Brede, Der Unterschied der Lehren Humes im Treatise und in der Inquirv, Halle 1896, siebentes Heft der von B. Erdmann herausgegebenen „Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Ge- schichte", welche außerdem als Xr. i und 3 Arbeiten von P. Richter über Humes Kausalitätstheorie 1893 und von Eugen Meyer über Humes und Berkeleys Philoso- phie der Mathematik 1894 sowie die oben S. 194 angeführte Schrift von Quast enthalten. Auch Ed. v. Hartmanns Darstellung und Kritik (Gesch. der Metaph., I S. 529 f.) verdient Beachtung.

Religionsphilosophie. 20 1

kenntnis auf das exakt Meßbare und das in der Erfahrung Vorliegende sowie auf den Grundsatz, von dem positiv Gegebenen (den unmittelbaren Tatsachen der Wahrnehmung) die Zutaten des Denkens scharf abzu- trennen, muß man denen beistimmen, welche Hume als den Vater des modernen Positiv ismus bezeichnen. (So Volkelt, Erfahrung und Denken 1886, S. 105).

Als Religionsphilosoph ist Hume der Vollender und Zerstörer des Deismus. Von den drei Thesen der Deisten die Religion, ihre Entstehung und ihre Wahrheit ist ein Objekt wissenschaftlicher Prüfung; die Religion hat ihren Ursprung in der Vernunft und dem Pflicht- bewußtsein; die natürliche Religion ist die älteste, die positiven Reli- gionen sind eine Entartung oder Wiederherstellung derselben akzeptiert er die erste mit Verwerfung der beiden anderen. Die Religion kann der Vernunft entsprechen oder widersprechen, aber nicht aus ihr ent- springen. Sie hat ihren Grund in der menschlichen Natur, aber nicht in der vernünftigen, sondern in der sinnlichen Seite derselben, nicht in spekulativer Wißbegierde, sondern in praktischen Bedürfnissen, nicht in der Betrachtung der Natur, sondern in der bangen oder frohen Erwar- tung der Wechselfälle des menschlichen Lebens. Besorgnis und Hoffnung hinsichtlich künftiger Ereignisse lassen uns unsichtbare Mächte als Lenker unserer Geschicke voraussetzen und uns um ihre Gunst be- mühen. Die Launenhaftigkeit des Glückes weist auf eine Mehrzahl von Göttern; die Neigung, in allem uns selbst wiederzufinden, leiht ihnen menschenähnliche Eigenschaften; der starke Eindruck alles Sinnfälligen reizt zur Anknüpfung der göttlichen Macht an sichtbare Dinge; allegorische Ausmalung und Vergötterung hervorragender Menschen vollenden den Polytheismus. Daß er, und nicht der (Mono-) Theismus, die ur- sprüngliche Religion gewesen, behauptet Hume als Tatsache für die geschichtliche, als wohlbegründete Vermutung für die prähistorische Zeit. Wer die Menschheit mit der vollkommenen Religion beginnen läßt, kommt in Verlegenheit, wie er die Verdunkelung der Wahrheit erklären solle, stattet unreife Zeiten mit einer Vollkommenheit des Vernunft- gebrauches aus, den sie schwerlich besaßen, läßt mit wachsender Bildung den Irrtum sich vergröbern und widerspricht dem sonst allenthalben beobachteten Fortschritt der Geschichte zum Besseren. Die philoso- phische Gotteserkenntnis ist ein sehr spätes Produkt gereiften Nach- denkens; auch der Monotheismus als Volksreligion ist, obwohl sein oberster Grundsatz mit dem Ergebnis der Philosophie übereinstimmt, keineswegs aus vernünftiger Überlegung, sondern aus denselben unvernünftigen ^Motiven wie die Vielgötterei entstanden. Sein Hervorgang aus dem Polytheismus vollzieht sich dadurch, daß der oberste Gott (der König der Götter oder der nationale Schutzgott) durch Furcht und w^etteifernde

202 HuME.

Schmeichelei seiner Anbeter in den einen unendlichen geistigen Welt- beherrscher verwandelt wird. Bei der Torheit der abergläubischen Menge bleibt jedoch diese verfeinerte Vorstellung nicht lange rein erhalten: je erhabener die höchste Gottheit gedacht wird, um so dringender macht sich das Bedürfnis geltend, zwischen sie und den Menschen Mittler und Halbgötter einzuschieben, die der menschlichen Natur des Betenden verwandter und anheimelnder sind. Später tritt dann wiederum eine Läuterung ein, so daß die Geschichte der Religion einen fortwährenden Wechsel zwischen der niederen und höheren Form zeigt.

Nachdem Hume dem Theismus das Vorrecht der Ursprünglichkeit geraubt, nimmt er' ihm auch den Ruhm, in jedem Betracht die beste Religion zu sein. Derselbe unterscheidet sich von dem Polytheismus zu seinem Nachteil dadurch, daß er unduldsamer ist, seine Anhänger ver- zagt macht und ihren Glauben durch unbegreifliche Dogmen auf eine härtere Probe stellt, und steht ihm gleich darin, daß die meisten seiner Bekenner 'den Glauben an törichte Geheimnisse, Schwärmerei und Be- obachtung nutzloser Gebräuche der Tugendübung überordnen.

Die „natürliche Geschichte der Religion", welche die Leistungen der Deisten weit überflügelt durch den Versuch, die Religion nicht rationell, sondern psychologisch und historisch zu erklären und sie durch die Verweisung ins praktische Gebiet ganz von der Erkenntnis loszu- lösen, läßt die Möglichkeit einer philosophischen Gotteserkenntnis offen. Die „Gespräche über natürliche Religion" stimmen diese Hoff'nung sehr herab. Der überredendste Beweis für die Intelligenz des Weltgrundes, der teleologische, ist eine H}pothese, die große Schwächen hat und der viele andere gleich wahrscheinliche gegenübergestellt werden können. Aus der endlichen, bei aller Ordnung und Zweckmäßigkeit doch mangelhaften und von unsäglichem Elend erfüllten Welt ist nimmermehr eine unendliche, vollkommene, einheitliche Ursache, eine allmächtige, weise und gütige Gottheit zu erschließen. Dem fügt das elfte Kapitel der Enquiry hinzu, es sei unstatthaft, der erschlossenen Ursache andere Eigenschaften zuzusprechen, als die, welche zur Erklärung der beob- achteten Wirkung notwendig sind. Das zehnte Kapitel desselben Essays legt dar, daß es kein Wunder gebe, das von einer genügenden Anzahl durch Bildung und Ehrlichkeit glaubwürdiger Zeugen bekräftigt werde und dem nicht eine Überzahl widersprechender Erfahrungen und Zeug- nisse ^■on stärkerer Wahrscheinlichkeit gegenüberstehe. Kurz die Vernunft ist weder imstande, clurch sichere Schlüsse das Wesen Gottes zu er- reichen, noch die Wahrheit der christlichen Religion mit den sie be- gleitenden Wundern zu begreifen. Unerfahrbares kann niclit bewiesen und gewußt, sondern nur ^edaubt werden. Ein fortdauerndes Wunder erlebt der an sich selbst, den sein Glaube zur Zustimmung nötigt bei Dingen, die aller Erfahrung und Gewohnheit widersprechen.

Religions- und Moralphilosophie.

203

Das Dasein Gottes hat Hume nie geleugnet, die Offenbarung nie direkt bestritten. Sein letztes Wort ist Zweifel und Ungewißheit, Der Rat, in Religionssachen der Vernunft das Wort zu verbieten und sich der Macht des Instinktes und der allgemeinen Meinung zu überlassen, war sicher weniger ernst gemeint und weniger der Natur des Philo- sophen entsprechend, als der andere, aus dem Hader der verschiedenen Arten des Aberglaubens sich in die ruhigeren, aber dunkleren Regionen der Philosophie, der skeptischen natürlich, zu flüchten. Humes Origina- lität und Größe auf diesem Gebiet besteht in der genetischen Be- trachtung der geschichtlichen Religionen. Sie sind ihm Irrtümer, aber natürliche, im Wesen des Menschen begründete Irrtümer, „Träume eines Fieberkranken", deren Entstehung und Verlauf er mit der erschreckenden Kaltblütigkeit und dem leidenschaftslosen Interesse eines sezierenden Arztes nachspürt.

In der Moralphilosophie^ zeigt sich Hume nur als Empirist, nicht als Skeptiker. Die Gesetze der menschlichen Natur sind einer ebenso genauen Untersuchung durch Erfahrung fähig, wie die der äußeren Natur; Beobachtung und Analyse verheißen sogar in diesem wichtigsten und doch bisher so arg vernachlässigten Wissenszweige noch glänzendere Erfolge, als in der Physik. Wenn sich das Wissen und Meinen auf das assoziative Spiel der Ideen und der Schatz der Vorstellungen wiederum auf ursprüngliche Eindrücke zurückführen und daraus ableiten ließ, so stellt sich das Wollen und Handeln des Menschen als ein Ergebnis des mechanischen Getriebes der Leidenschaften dar, welche selbst noch weiter auf ursprünglichere Prinzipien zurückweisen. Die letzten Trieb- federn alles Tuns sind Lust und Unlust, denen wir unsere Vorstellungen von Gütern und Übeln verdanken. Unmittelbare Wirkungen dieser Ur- elemente sind diedirekten Leidenschaften : Verlangen und Abscheu (oder Zu- und Abneigung), Freude und Betrübnis, Furcht und Hoffnung. Aus ihnen entstehen unter gewissen Umständen die indirekten Passionen : Stolz und Kleinmut, Liebe und Haß (nebst Achtung und Verachtung); jene, wenn die gefühlserregenden Objekte unmittelbar mit unserem Selbst verbunden sind, diese, wenn Lust und Unlust durch die Vorzüge oder Mängel anderer erweckt werden. Während sich an Liebe und Haß stets eine Bereitschaft zum Handeln, ein Wohl- oder Übelwollen an- knüpft, sind Stolz und Demut reine, in sich selbst beharrende, unaktive Gemütsbewegungen.

Alle sittlichen Phänomene, Wille, moralisches Urteil, Gewissen, Tugend, sind nicht einfache und ursprüngliche Data, sondern zusammen- gesetzter oder abjreleiteter Natur. Sie sind insgesamt Produkte des

I Vergl. G. V. GiZYCKi, Die Ethik D. Humes, 1S78.

204

HUME.

regelmäßigen Zusammenwirkens der Leidenschaften. Bei solcher An- schauung kann von einer Freiheit des Willens nicht die Rede sein. Wer gegen den Determinismus einwerfe, daß Tugenden und Laster, wenn sie unwillkürlich und notwendig seien, nicht gelobt und getadelt werden dürfen, sei auf den Beifall zu verweisen, der der Schönheit und dem Talente gezollt werde; sie gelten als verdienstlich, obwohl sie nicht von unserer Wahl abhängen. Erst der theologische und juristische Gesetzes- standpunkt habe alles Verdienst auf Freiwilligkeit gegründet, während die alten Philosophen unbedenklich von intellektuellen Tugenden sprachen.

Die bestimmenden Gründe des Wollens sieht Hume nicht, wie fast alle seine Vorgänger und Zeitgenossen, in den Vorstellungen, sondern in den Gefühlen. Nachdem er die Vernunft auf theoretischem Felde zu- gunsten der Gewohnheit und des Instinktes in ihren Rechten ge- schmälert, depossediert er sie auch auf praktischem Gebiete. Das Denken leitet uns zwar bei der Auswahl der Mittel für einen gewollten Zweck,, auf das Wollen der Zwecke selbst aber wirkt es nicht ein. Die kühle Vernunft, die nur über wahr und falsch urteilt, ist ein untätiges Ver- mögen, das uns allein niemals mit Lust und Begierde zu einem Gegen- stande erfüllen, niemals selbst ein Motiv sein kann. Nur indirekt, mit Hilfe einer Neigung, vermag sie Einfluß auf den Willen zu gewinnen. Abstrakte Vorstellungsverhältnisse lassen uns völlig gleichgültig, ebenso Tatsachen, solange sie nicht durch ihre Beziehung auf unseren Gemüts- zustand einen Gefühlswert erlangen. Wo man von einem Siege der Vernunft über die Leidenschaft spricht, da hat tatsächlich nur eine Leidenschaft über die andere, und zwar eine ruhige über eine heftige, gesiegt Was man so im Leben Vernunft nennt, ist nichts als nur einer von jenen allgemeinen und stillen Affekten, welche (wie z. B. die Liebe zum Leben) den Willen, ohne eine merkliche Unruhe im Gemüte hervorzurufen, zu einem entfernten Gute hinlenken; unter Leidenschaft versteht man gemeinhin nur die stürmischen Erregungen, die eine merkbare Verwirrung in der Seele anrichten und zu deren Erzeugung eine gewisse Nähe des Gegenstandes erforderlich ist. Jemand heißt fleißig „aus Vernunft", wenn ihn ein ruhiges Verlangen nach Gelderwerb arbeitsam macht. Man irrt, wenn man alle heftigen Leidenschaften für stark, alle ruhigen für schwach hält. Das Übergewicht der ruhigen Affekte macht das Wesen der Seelenstärke aus.

Wie die Vernunft von einer Lenkerin des Willens zu einer „Sklavin der Leidenschaften" degradiert worden, so wird ihr auch das Urteil über Recht und Unrecht entzogen. Über die moralischen Unterschiede entscheidet der Sinn des Angenehmen und Unangenehmen. Wir fällen über die Handlungen der Mitmenschen ein unmittelbares Geschmacks- urteil: das Gute gefällt, das Böse mißfällt. Der Anblick der Tugend

MORALPHILOSOPHIE.

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erfreut, der des Lasters stößt ab. Tugendhaft ist demnach eine Handlung oder Eigenschaft des Geistes, die im Betrachter das ange- nehme, uninteressierte Gefühl der B illigung hervorruft. Welche Hand- lungen sind es, denen solche allgemeine Billigung zuteil wird, und wo- raus ist der Beifall zu erklären, den ihnen der Zuschauer schenkt?

Wir billigen diejenigen Charaktereigenschaften, welche entweder für die Person selbst oder für andere unmittelbar angenehm oder nütz- lich sind. Das gibt vier Klassen löblicher Eigenschaften. Für den Besitzer angenehm (noch abgesehen von dem Nutzen für ihn und andere) sind Frohsinn, Charakterwürde, Mut, Selbstvertrauen und Wohl- wollen; für andere unmittelbar angenehm: Bescheidenheit, gute Sitten, Höflichkeit und Witz; uns selbst nützlich: Willenskraft, Fleiß, Spar- samkeit, Körperkraft, Verstand und andere Geistesgaben. Die vierte Klasse umfaßt die höchsten Tugenden, die für andere nützlichen Eigen- schaften: Wohlwollen und Gerechtigkeit. Überall sind Lust und Nutzen der Maßstab des Verdienstes. Die Mönchstugenden der Demut und Kasteiung, die weder ihrem Besitzer noch der Gesellschaft Lust oder Vorteil verschaffen, hält kein Verständiger für verdienstlich.

Wenn so der sittliche Wert der Handlungen in ihre Wirkungen ge- setzt wird, so ist bei der moralischen Beurteilung die Mithilfe der Ver- nunft freilich nicht zu entbehren, indem sie allein uns über diese Folgen der Handlung aufklären kann. Sie reicht jedoch nicht aus, uns zu einem Lobe oder Tadel zu bestimmen. Nur ein Gefühl kann uns veran- lassen, dem wohltätigen und nützlichen Erfolge den Vorzug vor dem verderblichen zu geben. Dieses Gefühl ist offenbar kein anderes als Freude über das Glück der Menschen und Unwille über ihr Elend, kurz, die Sympathie. Vermittels der Phantasie versetzen wir uns in fremde Zustände und erleben anderer Leid und Lust mit. Was sie mißmutig, freudig, stolz macht, erfüllt auch uns mit gleichen Empfin- dungen. Aus der Gewohnheit, durch Sympathie die Handlungen anderer moralisch zu beurteilen und die unsrigen von ihnen beurteilt zu sehen, entwickelt sich die andere, uns selbst beständig zu überwachen und unsere Gesinnungen und Taten unter dem Gesichtspunkt des fremden Wohles zu betrachten. Sie heißt Gewissen. Verwandt mit ihr ist die Ruhmesliebe, die uns fortwährend fragen läßt: wie wird unser Betragen in den Augen derer erscheinen, mit denen wir umgehen?

Innerhalb der vierten und wichtigsten Klasse, der sozialen Tugen- den, unterscheidet Hume zwischen den natürlichen Tugenden der Menschlichkeit und des Wohlwollens und den künstlichen der Gerechtigkeit und Treue. Die ersteren gehen aus der angeborenen Sympathie mit dem Wohle anderer hervor, die letzteren dagegen sind nicht aus einer natürlichen Leidenschaft, einem Instinkt der Menschen-

206 HUME.

liebe abzuleiten, sondern sind ein Werk der Überlegung und Kunst und haben ihren Ursprung in der Übereinkunft der Gesellschaft.

Außer den heilsamen Wirkungen der Handlung ist, damit dieselbe die Billigung des Zuschauers finde, noch zweierlei erforderlich: daß sie Zeichen eines Charakters, einer beharrlichen Gesinnung sei, und daß sie aus uneigennützigen Beweggründen entspringe. Das letztere legt Hume die Verpflichtung auf, zu zeigen, daß es wirklich uninteressiertes Wohlwollen gebe, daß die selbstlosen Affekte nicht versteckterweise aus der Selbstliebe stammen. Um von den tausend Beispielen des Wohlwollens, bei denen kein sichtbares Interesse im Spiele ist, nur eines anzuführen: wir wünschen das Glück des Freundes, selbst wenn wir gar keine Aussicht haben, an demselben teilzunehmen. Die menschliche Selbstsucht wird sehr übertrieben dargestellt, und diejenigen, die alle Handlungen aus ihr ableiten, machen den Fehler, daß sie die unaus- bleiblichen Folgen der Tugend die Lust der Selbstbilligung und der Achtung anderer als die einzigen Motive derselben ansehen. Dar- aus, daß die Tugend nachträglich innere Befriedigung schafft und von anderen gelobt wird, folgt noch nicht, daß sie bloß um dieser angenehmen Wirkungen willen geübt werde. Die Selbstsucht ist ein sekundärer Trieb, welchem, damit er überhaupt entstehen könne, primäre Triebe vorangehen müssen. Erst nachdem man erfahren hat, daß die Befrie- digung eines solchen ursprünglichen Triebes (z. B. des Ehrgeizes) Lust gebracht hat, kann sie Gegenstand des bewußten, reflektierten Lust- strebens oder des Egoismus werden. Wer nicht von Natur ehrgeizig ist, dem gewährt Macht keinen Genuß, und wer es ist, der begehrt nicht den Ruhm, weil ihm dieser Lust gewährt, sondern umgekehrt, der Ruhm gewährt ihm Lust, weil er ihn begehrt. Der Naturtrieb, der direkt auf das Objekt losgeht, ohne Kenntnis und Voraussicht der lustvollen Fol- gen, ist das Erste und erst aus seiner Befriedigung kann sich die selbst- süchtige Reflexion auf den erhoff^ten Genuß entwickeln. Wie mit der Neigung zum Ruhme, so verhält es sich mit dem Wohlwollen. Es ist in der Organisation unseres Gemüts als ein ursprünglicher und unmittel- bar auf das Glück anderer gerichteter Trieb angelegt. Nachdem er ge- wirkt hat und seine Äußerungen durch Selbstzufriedenheit, Bewunderung, Dank und Erwiderung belohnt worden, ist es allerdings möglich, daß die Erwartung solcher angenehmen Folgen uns zur Wiederholung wohl- tätiger Handlungen antreibt. Aber das ursprüngliche Motiv ist die egoi- stische Rücksicht auf die für uns nützlichen Wirkungen nicht. Wenn sogar die Rache aus der Kraft der Leidenschaft allein so eifrig verfolgt werden kann, daß dabei jede Erwägung der eigenen Ruhe und Sicher- heit verstummt, so wird man auch der Menschenliebe einräumen dürfen, daß sie uns häufig unser Interesse vergessen macht. Ja noch mehr: die sozialen Neigungen sind, wie Shaftesbury bewiesen, die stärksten von

Moralphilosophie.

207

allen, und selten wird ein Mensch zu treffen sein, in welchem nicht die Summe der wohlwollenden Triebe die der selbstischen überwöge.

In dem Abschnitt über die Gerechtigkeit polemisiert Hume gegen die Vertragstheorie. Erst in der Gesellschaft, aber nicht erst im Staat, gibt es Recht, Eigentum und Heiligkeit des Versprechens. Durch Staats- gesetz und Obrigkeit wird die Verpflichtung, Verträge zu halten, zwar zu einer strengeren erhoben, aber nicht geschaffen. Das Recht entstellt aus Konvention, d. h. nicht einem förmlichen Vertrage, sondern einer stillschweigenden Übereinkunft, einem Gefühl gemeinschaftlichen In- teresses, und diese Übereinkunft wiederum erwächst aus einer ursprüng- lichen Neigung, sich in Gesellschaft zu begeben. Der ungesellige und rechtlose Naturzustand ist eine Fiktion der Philosophen, er hat nie exi- stiert, die Menschen waren immer gesellig. Werden sie doch alle min- destens in die Gesellschaft der Familie hineingeboren und kennen keine furchtbarere Strafe als Einsamkeit. Die Staaten aber gehen nicht aus einem Akte der Willkür hervor, sondern wurzeln in der Geschichte. Die Streitfrage zwischen Hobbes und Hume wird später von Kant so geschlichtet: der Staat ist zwar nicht historisch aus einem Vertrage ent- standen, dennoch ist es erlaubt und vorteilhaft, ihn unter dem Gesichts- punkt des Vertrages als einer regulativen Idee zu betrachten.

Nur noch einmal, in Herbert Spencer, hat die englische Nation einen Geist von der umfassenden Kraft hervorgebracht, wie David Hume es war. Er und Locke bilden die Höhepunkte des englischen Denkens. Sie sind nationale Typen insofern, als sich in ihnen die beiden Grund- triebe des englischen Denkens, Verstandesklarheit und praktischer Sinn, gleich mächtig erweisen. In Locke arbeiten beide versöhnlich mit- und ineinander. In Hume löst sich der friedliche Bund, die gemeinschaft- liche Arbeit hört auf, jeder von beiden fordert sein ungeschmälertes Recht, ein peinlicher Zwiespalt zwischen Wissenschaft und Leben tut sich auf Die Vernunft führt unausweichlich zum Zweifel, zur Einsicht in ihre eigene Schwäche; das Leben aber fordert Überzeugung. Der Zweifelnde kann nicht handeln, der Handelnde nicht wissen. Zwar wird für das mangelnde Wissen Ersatz geschafft durch ein auf Instinkt und Gewohnheit gegründetes Glauben, aber das ist keine Lösung, sondern ein Notbehelf, keine Heilung, sondern ein Eingeständnis des Übelstandes. Auch besteht Humes Größe nicht darin daß er den streitenden Parteien Bescheidenheit predigte, die zweifelnde Vernunft in die Studierstube ver- bannte und das Leben aufden Glauben an Wahrscheinlichkeiten beschränkte; sondern in der Kraft seines Geistes, den einschneidenden Widerspruch auszuhalten, und, statt einer vorschnellen und bequemen Vermittelung, den einen Trieb so lange zu suspendieren, bis der andere seine Forde- rungen gründlich, vollständig und rücksichtslos geltend gemacht. Unter- scheidet er sich von anderen Skeptikern dadurch, daß er die Grund-

2o8 l^IE SCHOTTISCHE SCHULE.

begriffe des Naturerkemiens und die Sätze der Religion nicht bloß als unsicher und irrtümlich nachweist, sondern in ihnen notwendige Irr- tümer erkennt und scharfsinnig ihre Entstehung aus dem gesetzlichen Getriebe des Seelenlebens aufdeckt, so beruht doch seine geschichtliche Wirkung wesentlich auf der Skepsis. Im Vaterlande des Philosophen weckte sie in der „schottischen Schule" die Reaktion des gesunden Menschenverstandes, während sie in Deutschland einem verwandten, aber größeren Geiste die Bande des dogmatischen Schlummers zerreißen und sich zur kritischen Tat ermannen half

Die schottische Schule.

Die Assoziationspsychologie Priestleys, der Idealismus Berkeleys und der Skeptizismus Humes sind richtige Folgerungen aus der Lockeschen Voraussetzung, daß die unmittelbaren Gegenstände des Denkens nicht Dinge, sondern Vorstellungen seien und daß Urteile oder Erkenntnisse aus der Verbindung ursprünglich vereinzelter Ideen entstehen. Die Ab- surdität der Konsequenzen beweist die Falschheit der Prämissen. Die wahre Philosophie darf dem gesunden Menschenverstände nicht wider- sprechen. Es ist nicht richtig, den Geist als ein unbeschriebenes Blatt anzusehen, auf welches die Erfahrung einzelne Schriftzüge auftrage, den vergleichenden Verstand diese zunächst unverbundenen Elemente nach- träglich zu Urteilen zusammensetzen und die Überzeugung von der Existenz des Gegenstandes als Resultat einer Überlegung zur Vorstel- lung hinzutreten zu lassen: die Elemente, in die unsere Analyse die Er- kenntnisakte zerlegt, sind keineswegs das Ursprüngliche, woraus dieselben entstehen. Das Erste sind nicht isolierte Ideen, sondern Urteile, an sich selbst evidente Grundsätze»des Verstandes, welche einen Teil der uns von Gott verliehenen geistigen Konstitution ausmachen, und mit der Empfindung ist unmittelbar der Glaube (belief) an die Wirklichkeit des Gegenstandes gegeben, dem sich wie Hume eingeräumt hatte kein Mensch, selbst der verwegenste Skeptiker nicht, zu entziehen ver- mag. Die Empfindung verbürgt das Vorhandensein eines äußeren Dinges und einer bestimmten Beschaffenheit desselben, obwohl sie kein Bild dieser Eigenschaft, sondern nur ein Zeichen für etwas ihr keineswegs Ähnliches ist. Sie verbürgt ebenso die Existenz der empfindenden Seele.

Dies der Standpunkt des Stifters der schottischen Schule Thomas Reid (1710 1796, Professor in Aberdeen und Glasgow).^ Man kann

1 Untersuchungen über den menschlichen Geist nach Prinzipien des gesunden Menschenverstandes [commott sense) 1764; 1785 und 1788 Versuche über die intellek- tuellen und über die aktiven Kräfte des Menschen, zusamnaen unter dem Titel

Th. Reid.

209

darin ebensowohl eine Erneuerung der Gemeinbegriffe des Herbert als eine Übertragung des von den Moralisten und Ästhetikern gelehrten an- geborenen Beurteilungsvermögens vom praktischen auf das theoretische •Gebiet erkennen: der „gesunde Menschenverstand" ist ein ursprünglicher Sinn für das Wahre, wie der „Geschmack" des Shaftesbury und Hutcheson ein natürlicher Sinn für das Gute und Schöne war. Wie später Jacobi, so weist Reid darauf hin, daß das durch Schlüsse vermittelte Wissen ein vmmittelbares Wissen, alles Folgern und Beweisen feste, unbeweisbare, immittelbar gewisse Grundwahrheiten voraussetze. Man findet die Grund- urteile oder Prinzipien des gesunden Menschenverstandes durch Beobach- tung (empiristischer Rationalismus). Bei ihrer Aufstellung ist eine doppelte Gefahr zu vermeiden: es dürfen weder zufällige Ansichten zu Axiomen erhoben, noch darf aus übertriebenem Einheitsbedürfnis die Zahl der selbstevidenten Sätze zu gering bemessen werden. Reid selbst verfährt dabei immer noch sparsamer, als seine Schüler. Er unterscheidet zwei Klassen, die Grundlagen der notwendigen und die der zufälligen oder faktischen Wahrheiten. Als Grundlagen der notwendigen Wahrheiten führt er neben den Axiomen der Logik und der Mathematik grammati- sche, ästhetische, moralische und metaphysische Prinzipien an (zu den letzten gehören die Grundsätze: die äußeren Eigenschaften haften einer körperlichen, die inneren einer geistigen Substanz an; jedes Entstehen muß eine Ursache haben). Der unserem tatsächlichen Wissen zu gründe liegenden Prinzipien statuiert er zwölf, bei denen die Rücksicht auf Berkeleys und Humes Zweifel sichtbar wird. Die wichtigsten davon lauten: Die Zustände, deren ich mir bewußt bin, sind wirklich. Mein Denken verbürgt die Existenz meines Ich, Meine Erinnerung bezeugt mir die Identität meiner Person. Die Dinge sind so, wie wir sie perzi- pieren. Wir haben eine gewisse Macht über unser Handeln. Meine Mitmenschen haben Leben und Vernunft. Die Autorität anderer hat ein gewisses Gewicht. Im Naturverlauf findet eine Übereinstimmung statt zwischen dem, was früher geschah, und dem, was jetzt geschieht. Daß diese Theorie, die dazu einlud, auf dem Faulbett des gesunden Menschenverstandes aller ernstlichen Arbeit an den philosophischen Pro- blemen zu vergessen, so allgemeinen und andauernden Anklang fand, be- kundet, daß nach der energischen Anstrengung, die Hume sich und seinen Lesern zugemutet hatte, eine allgemeine Ermattung eingetreten war. Mit der Unfehlbarkeitserklärung des Laienbewußtseins war die so glücklich begonnene Erkenntnistheorie kurzer Hand zur Seite geschoben, während

Essays on the power s of the htiman mind. Werke 1804 u. ö. Vergl. J. Mc COSH, The Scottish philosophy, London 1875; ^^- Kappes, Tiex common sense hQ\ Th.. Reid, München 1890; A. S. Pringle-Pattison, The Scottish philosophy , 2. Aufl. 1890 ; A. C. Fräser, Th. Reid [Famous Scots series) 1898; H. Laurie, Scottish philoso- phy in its national development 1902.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. I4

210 Die schottische Schule.

allerdings die empirische Seelenkunde bei der fleißigen Durchforschung des Innenlebens mittels der Selbstbeobachtung ihren Vorteil fand. James Beattie (sprich Bihti) setzte in seinem Buche „über das Wesen und die Unveränderlichkeit der Wahrheit im Gegensatz zu Sophistik und Skeptizismus" 1770 nach dem Grundsatze, daß die Weisheit nie- mals der Natur widersprechen dürfe und , was zu glauben unsere Na- tur uns nötige, worüber folglich alle übereinstimmen, wahr sei, die Polemik gegen Hume fort und handelte in kleineren Aufsätzen über Ge- dächtnis und Phantasie, über Fabel und Roman, über die Wirkung der Poesie und Musik, über das Lachen, über das Erhabene u. ä. m. Hatte der auch als Dichter bekannte Beattie psych* »logische und ästhetische Fragen be- vorzugt, so appellierte James Oswald (1772) in Angelegenlieiten der Religion an den cot?imon sensc, den er als ein instinktives Urteilsvermögen über Wahr und Falsch beschreibt. Der hervorragendste unter den An- hängern Reids ist Dugaid Stewart (Professor in Edinburgh; Ele- mente der Philosophie des menschlichen Geistes 1792 1827; gesammelte Werke, besorgt von Hamilton, 1854 1858), der die Lehre des Meisters ausgebaut und an einigen Punkten modifiziert hat. Durcii den von Mill, Spencer und Bain geschätzten Thomas Brown (1778 1820) wurde die Lehre Reids und Stewarts derjenigenHumes angenähert. Die Philosophie der schottischen Schule hat in England wie in Frankreich, wo sie als Waffe gegen den Materialismus benutzt wurde, lange Zeit in Ansehen gestanden.

Anhangsweise mag der Anfänge einer psychologischen Ästhetik bei Henry Home ^ (Lord Kames, 1696 1782) und Edmund Burke- (1728 1797) Erwähnung geschehen. Home, in der Ethik ein An- hänger Hutchesons, belegt seine ästhetischen Ansichten gern mit Bei- spielen aus Shakespeare. Schönheit (Kap. 3) scheint dem Gegenstande selbst zuzukommen, in Wahrheit ist sie nur eine Wirkung, eine „sekun- däre" Eigenschaft desselben, ist wie die Farbe nichts anderes als eine Vorstellung in der Seele, „denn man sagt aus keinem andern Grunde, daß ein Gegenstand schön ist, als weil er dem Zuschauer schön vor kommt." Sie entspringt aus Regelmäßigkeit, Proportion, Ordnung, Ein- falt; Eigenschaften, die auch zur Erhabenheit (Kap. 4) gehören, ihr aber bei weitem nicht so wesentlich sind, indem sie mit einem geringeren Grade derselben zufrieden ist. Während das Schöne sanfte und muntere

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1 Home: Essays über die Prinzipien der Moral und der natürlichen Religion 1751, übers, v. Rautenberg 1768; Grundsätze der Kritik 1762, deutsch v. Meinhard, neue Ausgabe nach der vierten Auflage des Originals 1772. Homes Ästhetik haben Wohlgemuth, Rostocker Diss., Berlin 1893, und W. Neumann, Hallenser Diss. 1894, seine Ethik J. Norden, Hallenser Diss. 1895 behandelt.

2 Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen des Erhabenen und Schönen 1756, deutsch von Garve 1773.

Die französische Aufklärung. 211

Gemütsbewegungen erregt, erzeugt das Erhabene zwar ergötzende, aber nicht süße und fröhliche, sondern starke und mehr ernsthafte Empfin- dungen. Tiefer geht Burkes Erklärung. Er leitet den Gegensatz des Erhabenen und Schönen aus den beiden Grundtrieben der menschlichen Natur her, dem der Selbsterhaltung und dem der Geselligkeit. Was dem ersten zuwider ist, macht einen starken und schrecklichen, was den zweiten begünstigt, einen schwachen aber angenehmen Eindruck auf die Seele. Das Schreckliche wirkt dann ergötzend (und zwar zuerst niederdrückend, dann erhebend), wenn wir es bloß vorstellen, ohne selbst von Schmerz oder Gefahr betroffen zu sein; dies ist das Erhabene. Schön ist dagegen dasjenige, was Zvineigung und Zärtlichkeit einflößt, ohne daß wir es zu besitzen begehrten. Zur Erhabenheit ist eine ge- wisse Größe, zur Schönheit eine gewisse Kleinheit erforderlich. Das Wohl- gefallen an beiden gründet sich auf leibliche Vorgänge. Der gemäßigte Schreck wirkt wohltätig erregend und anspannend, der sanfte Eindruck des Schönen beruhigend auf die Nerven. Jene Erschütterung und diese Erholung sind beide der Gesundheit förderlich und werden deshalb als Lust empfunden.

Sechstes Kapitel. Die französische Aufklärung.

In dem letzten Dezennium des XVII. Jahrhunderts hatte Frankreich die philosophische Führerrolle an England abgetreten. Wenn Hobbes sich in Paris mit dem Geiste der galileischen und cartesianischen For- schung erfüllte, desgleichen Baco, Locke und noch Hume nicht ohne Förderung Frankreich besuchten, so holen sich jetzt die französischen Denker die Parole aus England. Montesquieu und Voltaire, gleichzei- tig (1729) von dort zurückkehrend, machen ihre Landsleute mit den Ideen Lockes und seiner Zeitgenossen bekannt. Dieselben werden be- gierig ergriffen, mit der logischen Herzhaftigkeit der französischen Denk- art schrittweise bis zu den letzten Konsequenzen entwickelt, zugleich aber in dieser verschärften Form über die gelehrten, ja über die ge- bildeten Kreise hinaus ins Volk getragen. Im englischen Charakter liegt weder jenes Fortgehen zu verwegenen und umstürzlerischen Folge- rungen, noch dieses agitatorische Wesen. Locke verbindet mit seiner halb sensualistischen Erkenntnistheorie eine rationalistische Ethik, New- ton sieht in der mechanistischen Physik nichts weniger als eine Gefahr für die Überzeugungen des frommen Gemütes, die Deisten behandeln die Zutaten der positiven Religion mehr als einen überflüssigen Ballast

14*

212 Die französische Aufklärung.

denn als einen des Hasses würdigen Widersinn, Bolingbroke wünscht die aufklärerischen Ideen, die er der höheren Gesellschaft darbietet, wenigstens vor dem Volke verschwiegen. Solches Haltmachen an Punkten, wo ein Weitergehen sittengefährlich zu werden droht, ge- reicht mehr dem moralischen als dem logischen Charakter des Philo- sophen zur Ehre. Bei der Übertragung nach Frankreich fällt der Riegel, den der brave Sinn der Engländer den Kühnheiten des Denkens vorge- schoben hatte, die Scheidewand zwischen Erkenntnis- und Sittenlehre, zwischen Natur- und Religionsphilosophie wird eingerissen, der Sensua- lismus dringt vom theoretischen Gebiet ins praktische hinein und der Mechanismus wird aus einer Maxime physikalischer Erklärung eine metaphysische Weltanschauung atheistischen Charakters. Überall will sich der Naturalismus durchsetzen: wenn die Erkenntnis aus den Sinnen stammt, so kann die Sittlichkeit ihre Wurzel nur in der Selbstsucht haben; wer der Naturforschung nur nach mechanischen Ursachen zu suchen erlaubt, der darf auch für den Ursprung der Dinge und den Beginn der Bewegung keine intelligente, nach Zwecken wirkende Macht postulieren, der hat kein Recht, von einem freien Willen, einer unsterblichen Seele und einer weltschaffenden Gottheit zu reden. Da ferner Bayles Nachweis, daß die Kirchenlehre in allen Punkten der Vernunft wider- spreche, gegen des Philosophen persönliche Tendenz religionsfeindlich wirkte, außerdem die staatlichen und gesellschaftlichen Zustände zur Auflehnung und zum Bruche mit allem Bestehenden anreizten, so dräng- ten die über den Kanal herüberwandernden Philosopheme und die ein- heimischen Verhältnisse gleichmäßig auf eine revolutionäre Zuspitzung der modernen Gedanken hin, welche in der Atheistenbibel, dem „System der Natur" des Baron Holbach 1770, zu einem zusammenfassenden Ausdruck gelangte. Die Bewegung nimmt Mitte der dreißiger Jahre ihren Anfang, wo Montesquieu die Lockesche Politik, Voltaire ^ die Erkenntnislehre Lockes und die bereits von Maupertuis empfohlene Na- turphilosophie Newtons in Frankreich einzubürgern begannen. Das Jahr 1748 bringt, gleichzeitig mit Humes Essay, Montesquieus Haupt- werk und Lamettries „Der Mensch eine Maschine". Während die 1751 begonnene „Enzyklopädie", der Herold der Aufklärung, ihrer Voll- endung (1772 resp. 1780) entgegengeht, bilden Condillac (1754) und Bonnet (1755) den theoretischen, Helvetius (1758 Über den Geist; gleichzeitig d'Alemberts Elemente der Philosophie) den praktischen Sensualismus aus. Rousseau, seit 1751 schriftstellerisch tätig, bis 1757 Mitarbeiter der Enzyklopädie, tritt 1762 mit seinen beiden Hauptwerken, dem Emil und dem Gesellschaftsvertrag, hervor. Nebenher gehen inter-

1 Voltaires Briefe über die Engländer kamen englisch 1732, französisch 1734 heraus; sie wurden in Paris von Henkershand verbrannt.

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Montesquieu.

213

essante Erscheinungen auf nationalökonomischem Gebiete: Morellys kommunistischer Naturkodex (1755), die Arbeiten Quesnays (1758), des Hauptes der Physiokraten, und Turgots (1774).

Wir behandeln zuerst die Einführung und Popularisierung der eng- lischen Ideen, sodann die Weiterführung derselben zum konsequenten Sensualismus, zur Moral des Interesses und zum Materialismus, endlich den Rückschlag gegen die Verstandesaufklärung in der Gefühlsphilosophie Rousseaus. ^

1, Die Einwanderung der englischen Lehren.

Charles de Secondat, Baron de Breda et de Montesquieu'- (1689 1755) hat Lockes Lehre von der konstitutionellen Monarchie und der Trennung der Gewalten (S. 157 158), mit der er die ge- schichtliche Betrachtungsweise des Bodinus und die naturalistische Grund- ansicht seiner Zeit verbindet, zum Gemeingute der gebildeten Welt ge- macht. Die Gesetze müssen der Anlage und dem Geiste der Nation angepaßt sein, der Volksgeist aber ist ein Resultat der Natur, der Ver- gangenheit, der Sitten, der Religion und der politischen Einrichtungen. Die Natur hat den südlichen Völkern viel, den nördlichen wenig ge- geben, daher bedürfen diese der Freiheit, deren jene leicht entraten. Das heiße Klima erzeugt erhöhte Sensibilität und Leidenschaftlichkeit, das kalte Muskelkraft und Arbeitsamkeit, in den gemäßigten Zonen sind die A^ülker weniger beständig in ihren Gewohnheiten, Lastern und Tugenden. Die religiösen Gesetze gelten für den Menschen, die des Staats für den Bürger; die ersteren bezwecken die moralische Güte des Einzelnen, die letzteren das Wohl der Gesellschaft; jene gehen auf das unveränderliche Beste, diese auf das veränderliche Gute. Gesetze und Sitten stehen in enger Wechselwirkung. Das Recht ist älter als der Staat, das Gesetz der Gerechtigkeit gilt schon im Naturzustande; zur Sicherung des Friedens jedoch bedarf es eines positiven Rechtes in der dreifachen Gestalt: Völker-, Staats- und bürgerliches Recht.

Jeder der vier Staatsformen liegt als Prinzip eine Leidenschaft zu- grunde: der Despotie die Furcht, der Monarchie die Ehre (das persön- liche und das Standesvorurteil), der Aristokratie die Mäßigung des Adels, der Demokratie die politische Tugend, welche das eigene Interesse dem allgemeinen unterordnet, insbesondere die Neigung zur Gleichheit und zu sparsamer Wirtschaft. Während die Republiken durch Verschwendung,

1 Zu dem ganzen Kapitel vergl. Damiron, Mimoires pozir servir a l'/iistoire de la Philosophie ati XVIII. siede, 3 Bde. 1858—64 und JOHN MoRLEYS Voltaire 1872, Rousseau 1873 und Diderot and the Encyclopaedists 1878, neue Aufl. 1S86.

2 Montesquieu: Persische Briefe 1721, Betrachtungen über die Ursachen der Größe und des Verfalles der Römer 1734, Der Geist der Gesetze 1748.

214

Die französische Aufklärung.

Wollust und Selbstsucht zugrunde gehen, kann die Monarchie der Bürgertugend, der Vaterlandsliebe und der sittlichen Selbstlosigkeit ent- behren, in ihr dienen falsche Ehre, Luxus und Üppigkeit dem öffent- lichen Wohle. Große Staaten neigen zur Despotie, kleine zur aristokra- tischen oder demokratischen Republik, für mittelgroße ist die zwischen jenen Formen die Mitte haltende Monarchie die geeignetste Verfassung. Zeigt sich Montesquieu in den Lettres persanes für die Bundesrepubliken der Schweiz und der Niederlande begeistert, so denkt er seit seiner Rückkehr von England anders und feiert in dem Esprit des lois die eng- lische Staatsform als das Ideal bürgerlicher Freiheit.

Die politische Freiheit besteht darin, daß man tun kann (nicht was man will, sondern) was man tun soll, oder daß man tut, was die Gesetze erlauben. Solche gesetzliche Freiheit ist nur dort möglich, wo Staatskonstitution und Kriminalgesetzgebung dem Bürger die Überzeugung von seiner Sicherheit gewähren. Dem Mißbrauch der höchsten Macht vorzubeugen, müssen die verschiedenen Staatsgewalten getrennt werden, so daß eine die andere in Schranken hält. Namentlich fordert Montes- quieu die absolute Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt von der exekutiven 1 wie von der legislativen. Die letztere liegt dem Parlamente ob, welches in seinen beiden Häusern ein aristokratisches und ein demo- kratisches Element umfaßt.

Voltaire- (1694 1778) dahin hatte er selbst durch Umstellung der Buchstaben seinen Namen Arouet l(e) j(eune) geändert war durch seine vielseitige Rezeptivität zum Dolmetscher der englischen Ideen wie geschaffen: er „vereinigt Newtons mechanische Naturphilosophie, Lockes erkenntnis-theoretischen Empirismus und Shaftesburys Moralphilosophie unter dem Gesichtspunkte des Deismus" (Windelband). Dieselben Eigenschaften, durch die er der erste Journalist wurde, ermöglichen es ihm, die Philosophie vom schulmäßigen Gewände zu befreien und durch Konzentration auf die für den Laien dringendsten Probleme (Gott, Frei- heit, Unsterblichkeit) zu einer Lebensmacht fürs Volk zu machen. Seine Oberflächlichkeit, sagt Erdmann treffend, war seine Stärke. Die wahre Religion, so lehrt uns die Vernunft, besteht darin, daß man Gott liebt und gegen seine Mitmenschen als gegen seine Brüder gerecht und nach- sichtig ist; die Moral ist etwas so Natürliches und Notwendiges, daß es kein Wunder ist, wenn alle Philosophen seit Zoroaster dieselbe Moral

' Locke hatte von der exekutiven Gewalt die föderative abgesondert, die in Montesquieus Einteilung keine Stelle findet oder die er in jene einzubeziehen scheint. Dagegen hatte Locke die richterliche Gewalt der exekutiven untergeordnet, wäh- rend Montesquieu sie von ihr trennt. Vergl. Mont., Esprit des lois XI, r6 18 mit Locke, Civil government 12.

2 David Friedrich Strauss, Voltaire, sechs Vorträge, 1870; Dr. Käthe SCHIRMACHER, Voltaire, eine Biographie, 1898.

Voltaire. Condillac.

215

lehren. Je weniger Dogmen, desto besser die Religion; schlimmer als der Atheismus ist der Aberglaube, der mit ruhigem Gewissen Untaten verüben lehrt. Diese beiden unseligen Irrtümer zu vernichten, war ihm die Hauptaufgabe seines Lebens. Den Atheismus hat er mit Vernunft- gründen zu widerlegen gesucht, das positive Christentum und die Geist- lichkeit, die ihn verfolgte, mit leidenschaftlichem Haß und höhnischem Witz bekämpft. Das Dasein Gottes ist ihm nicht bloß ein moralisches Postulat, sondern ein Resultat wissenschaftlicher Beweisführung. Bekannt ist das Wort: gäbe es keinen Gott, man müßte einen erfinden; aber die ganze Natur ruft uns vernehmlich genug zu, daß er existiert. Die Un- sterblichkeit hält er, wenigstens nach außen, trotz theoretischer Schwierig- keiten, wegen ihrer praktischen Unentbehrlichkeit aufrecht; der Willens- freiheit gegenüber, die er anfangs energisch verfochten, verhält er sich mit zunehmendem Alter immer skeptischer. Eine ähnliche Wandlung erfuhr seine Stellung zu der Frage des Übels: das Erdbeben von Lissabon machte ihn zum Gegner des Optimismus, dem er vormals selber gehul- ■d igt. ( Candide 1757-)

2. Theoretischer und praktischer Sensualismus.

Von der popularisierenden, den Inhalt unverändert lassenden Her- übernahme und Verbreitung der Lehren Lockes und verwandter Denker wenden wir uns zu der prinzipiellen Fortbildung derselben durch die französischen Sensualisten. Condillac (1715 1780) fühlt sich durchaus als den Ergänzer Lockes, dessen Untersuchung nicht bis zur ersten Wurzel des Erkenntnisprozesses hinabsteige. Locke sei in der Verwerfung des Angeborenen nicht weit genug gegangen, er habe unterlassen, der Entstehung des Wahrnehmens, Reflektierens, Erkennens und Wollens, sowie dem Verhältnis zwischen dem äußeren Sinn, dem inneren Sinn und dem kombinierenden Verstände, die er als getrennte Quellen, jene der einfachen, diesen der komplexen Vorstellungen behandelte, kurz, der ersten Handlung der Seele nachzuforschen. Berkeley hatte das richtige Gefühl, daß hier eine Vereinfachung einzutreten habe; indem er jedoch irrigerweise die äußere Wahrnehmung auf die innere reduzierte, ge- langte er zu der absurden Konsequenz der Leugnung der Außenwelt. Der richtige Weg ist der bereits von dem Bischof von Cork Peter Brown (f 1735; Verfahren, Ausdehnung und Grenzen des menschlichen Verstandes, 1729) eingeschlagene umgekehrte: Verstand und Reflexion müssen auf die Sensation zurückgeführt werden. iVlle psychischen Tätigkeiten sind umgeformte Empfindungen. Die Seele hat nur eine ursprüngliche Fähigkeit, die des Empfindens; die übrigen, die theoretischen wie die praktischen, sind sämtlich erworben, d. h. sie haben sich allmählich aus jener entwickelt. Condillac verhält sich zu

2i6 Die französische Aufklärung.

Locke ähnlich wie Fichte zu Kant; dort wird der Übergang durch Brown, hier durch Reinhold vermittelt. Beide krönen das Lehrgebäude des Vorgängers durch eine einigende Spitze, beide fordern und geben eine genetische Psychologie, welche alle geistigen Funktionen von der Sinnes- empfindung und dem Gefühl der Lust und Unlust bis hinauf zur Ver- standeserkenntnis und zum sittlichen Willen aus einer einzigen Grund- kraft der Seele entstehen läßt. Aber sachlich wie formell besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen den verwandten Unternehmungen, ent- sprechend dem Unterschiede zwischen dem Empirismus Lockes und dem Idealismus Kants. Bei Condillac fehlt der Zweckbegriff gänzlich, der bei Fichte wie bei Leibniz die Entwickelung beherrscht; für die Wissenschafts- lehre und die Monadologie ist das zeitlich Erste, die Empfindung, nur der Beginn, nicht das Wesen der Seelentätigkeit, während Condillac zwischen Anfang und Grund keinen Unterschied macht, sondern aus- drücklich principe mit conimencement identisch setzt. Bei Fichte und Leibniz ist die Empfindung ein unreifes Denken, bei Condillac das Denken ein verfeinertes Empfinden. Jene lehren einen teleologischen, dieser einen mechanischen Monodynamismus. Außerdem nimmt es die Wissenschafts- lehre mit der Ableitung der einzelnen Seelentätigkeiten aus der Urkraft sehr ernst, während sich Condillac seine Aufgabe außerordentlich leicht macht. Für seine Art, die Unterschiede zu verwischen, statt sie zu er- klären, sind sehr bezeichnend die in ermüdender Eintönigkeit wieder- kehrenden Redensarten : Gedächtnis ist „nichts als" modifizierte Empfindung, Vergleichen und gleichzeitig auf zwei Ideen achten ist „die nämliche Sache", die Empfindung „wird allmählich" Vergleichung und Urteil, die Reflexion ist „in ihrem Ursprünge" die Aufmerksamkeit selbst, Sprechen, Denken und Allgemeinbegriffe bilden ist „im Grunde dasselbe", die Leidenschaften sind „nur" verschiedene Arten des Verlangens, Verstand und Wille sind „in der Wurzel eins" usw.

Die Forderung einer einheitlichen Grundkraft der Seele stammt von Descartes, und selbst das Wort penser als allgemeine Bezeichnung für alle Seelenhandlungen nimmt Condillac keinen Anstand beizubehalten. Des- gleichen hält er an dem Dualismus von Ausdehnung und Empfindung als miteinander unverträglichen Eigenschaften fest, stellt der „teilbaren" Materie die Seele als das „einfache" Subjekt des Denkens gegenüber und erblickt in den AfiFektionen der körperlichen Organe nur die „Veranlassung", auf die hin die Seele selbst und allein ihre Empfindungstätigkeit ausübe. Auch die Freiheit die Herrschaft des Denkens über die Leidenschaften behauptet er, in sonderbarem Widerspruche zu der ganzen Tendenz seiner Lehre und dem offen ausgesprochenen Grundsatz, daß die Lust die Aufmerksamkeit lenke und all unser Tun regiere. Ebensowenig kommt es ihm in den Sinn, das Dasein Gottes zu bezweifeln. Von Gott ist alles abhängig, er ist unser Gesetzgeber, seiner Weisheit verdanken

CONDILLAC.

217

wir es, daß unter des Menschen Händen aus unscheinbaren Anfängen Wahrnehmung und Bedürfnis das Herrlichste, Wissenschaft und Sittlichkeit, sich entwickelt. Wer da Klage führen wollte, daß er uns das Wesen der Dinge verborgen und nur Verhältnisse zu erkennen gewährt hat, vergäße, daß wir nicht mehr bedürfen. Wir sind nicht des Wissens wegen da, Leben ist Genießen.

Das Thema des Traite des sensations (1754, deutsch von Ed. Johnson 1870) lautet: Erinnerung, Vergleichung, Urteil, Abstraktion und Reflexion oder Erkenntnis sind nichts als verschiedene Arten der Aufmerksam- keit; desgleichen die Affekte, die Begierden und der Wille nichts als Modifikationen des Verlangens; diese beiden aber haben ihren Ur- sprung im Empfinden. Die Empfindung ist der einzige Quell und der einzige Inhalt des gesamten Seelenlebens. Zum Beweise dieser Thesen bedient er sich der Fiktion einer Statue, in welcher ein Sinn nach dem andern erwacht, zuerst der niedrigste, der des Geruches, zuletzt der wertvollste, der Tastsinn, der (durch die Wahrnehmung der Dichtheit oder des Widerstandes, der einzigen Qualität, die Condillac als primäre beibehält) uns zwingt, unsere Empfindungen aus uns hinaus zu verlegen, und damit die Vorstellung einer Außenwelt erweckt. Zunächst sind die Empfindungen nur subjektive Zustände , Arten unseres eigenen Seins; ohne Tastsinn würde der Mensch sich selbst für Geruch, Ton, Farbe halten. Von der Empfindung unterscheidet Condillac die Idee in einer doppelten Bedeutung, als bloße Vorstellung (Erinnerung oder Einbildung eines nicht Gegenwärtigen) und als Vorstellung eines Gegenständlichen (Bild, Repräsentant eines Körpers); im letzteren Sinne ist es gemeint, wenn er sagt, nur die Tastempfindungen seien zugleich Ideen.

Betreffs der Einzelheiten der Ableitung, welche ein reiches psycho- logisches Material oft sehr glücklich verwertet, muß auf ausführlichere Darstellungen und auf Johnsons Übersetzung der Abhandlung über die Empfindungen (1870, Philos. Bibl.) verwiesen werden. Beispielshalber hier nur die hauptsächlichsten von den genetischen Definitionen. Perzeption (Eindruck, Wahrnehmung) und Bewußtsein sind dieselbe Sache unter zwei Namen. Die lebhafte Empfindung, bei der die Seele „ganz dabei" ist, wird Aufmerksamkeit, ohne daß es der Annahme noch eines besonderen Vermögens in der Seele bedürfte; diese wird durch ihre zurückhaltende Wirkung auf die Empfindung Gedächtnis. Doppelte Aufmerksamkeit auf die neue Empfindung und auf die zurückgebliebene Spur der früheren ist Vergleichung, das Gevvahr- werden einer Beziehung (Ähnlichkeit oder Verschiedenheit) zweier Ideen Urteil, das durch willkürliche Wortzeichen unterstützte Abtrennen einer Vorstellung von einer anderen, die mit ihr in natürlicher Verbindung steht, Abstraktion, eine Reihe von Urteilen Reflexion, die Gesamt- heit der inneren Vorgänge, das, worin die Vorstellungen aufeinander

2i8 Die französische Aufklärung.

folgen, das Ich oder die Person. Alle Wahrheiten betreffen Verhältnisse zwischen Ideen. Die Tastvorstellung der Solidität gewöhnt uns daran, auch die Empfindungen anderer Sinne nach außen zu beziehen, sie dorthin zu versetzen, wo sie nicht sind; daraus entspringt die Idee unseres Leibes, der äußeren Gegenstände und des Raumes. Nehmen wir mehrere nach außen projizierte Qualitäten zusammen wahr, so legen wir ihnen ein Substrat unter die Substanz, von der wir wissen, daß, aber nicht, was sie ist. Kraft nennen wir die unbekannte, aber ohne Zweifel existierende Ursache der Bewegung.

Es gibt keine gleichgültigen Seelenzustände, jede Empfindung führt Lust oder Unlust bei sich. Freude und Schmerz sind das bestimmende Gesetz für das Agieren unserer Fähigkeiten. Bei angenehmen Empfin- dungen verweilt die Seele länger, ohne Interesse würden die Ideen wie Schatten vorüberschwinden. Erinnerung früherer Eindrücke, bei denen wir uns wohler fühlten als jetzt, ist Bedürfnis; aus diesem entsteht die Begierde {de'sir), weiterhin die Affekte der Liebe, des Hasses, der Hoffnung, der Furcht und des Erstaunens, endlich der Wille als ein unbedingtes und mit dem Gedanken seiner Erfüllbarkeit begleitetes Ver- langen. Alle Neigungen, die schlimmen wie die sittlichen, stammen aus der Selbstliebe. Die Prädikate „gut" und „schön" bezeichnen die uns Lust gewährenden Eigenschaften der Dinge, das erste das, was dem Geruch und Geschmack (und den Leidenschaften) schmeichelt, das zweite das, was dem Gesicht, Gehör und Gefühl (und dem Geiste) gefällt. Moralität ist Konformität unserer Handlungen mit Gesetzen, welche die INIenschen nach Übereinkunft mit wechselseitiger Verpflichtung festgesetzt haben. So wird das Gute, das anfangs nur der Diener der Leidenschaften war, zu ihrem Herrn. Die Überlegenheit des Menschen über das Tier beruht auf der größeren Vollkommenheit seines Tastsinnes, der größeren Mannigfaltigkeit seiner Bedürfnisse und seiner Ideenassoziationen, der Vorstellung des Todes, die ihn nicht nur die Vermeidung des Schmerzes, sondern die Selbsterhaltung suchen läßt, und dem Besitz der Sprache. Ohne Bezeichnung keine Abstraktionen, kein Denken, keine Fortpflan- zung der Kenntnisse. Wenn alles Geistige seinen Ursprung letzthin in einfachen Empfindungen hat, so bedarf es doch zu seiner Entwickelung einer Loslösung vom Sinnlichen, und die Sprache ist das Mittel, uns durch Verallgemeinerung und Verbindung der Ideen von dem Druck der Empfindungen zu befreien.

Ein maßvollerer Vertreter des Sensualismus ist Charles Bonnet^

1 Bonnet: Psychologischer Versuch oder Betrachtungen über die Tätigkeiten der Seele (anonym) 1755, Analytischer Versuch über die Fähigkeiten der Seele 1760, Betrachtung der Natur 1764, Philosophische Palingenesie oder Gedanken über den früheren und den künftigen Zustand der lebenden Wesen 1769, darin eine Verteidi-

Bonnet. Helvetius. 21Q

(1720— 1793), der später in Deutschland, besonders auf Lossius, Tetens, Irwing, Hißmann und Hennings, großen Einfluß geübt hat. Die Em- pfindungen, auf die auch er das gesamte geistige Leben zurückführt, sind ihm Reaktionen der immateriellen Seele auf sinnliche Reize, die bloß als Okkasionalursachen wirken. Anderseits betont er stärker als Condillac die physiologische Bedingtheit der Seelenvorgänge und sucht nicht nur für Gewohnheit, Gedächtnis und Ideenassoziation, sondern auch für die höheren Geistesoperationen bestimmte Gehirnoszillationen als Basis nachzuweisen. Konsequenterweise bekennt er sich zum Determinismus, sieht in der Eigenliebe den Beweggrund, in der Glückseligkeit das End- ziel alles Strebens. Für die letztere ist die Hoffnung der Unsterblichkeit unentbehrlich. Das Bindeglied zwischen Bonnets Theorie von der durch- gängigen Abhängigkeit der Seele vom Körper und seinen rechtgläubigen Überzeugungen bildet die Vorstellung eines unverlierbaren ätherischen Leibes, welcher der Seele im Jenseits eine Erinnerung an das irdische Leben und nach der Auflösung des jetzigen die Erwerbung eines neuen materiellen Leibes ermöglicht. Auch die Tiere nehmen an der Fortdauer und dem Übergange in eine erhöhte Existenz teil.

Gegen den sachlichen Ernst dieser Männer sticht sehr ab die ober- flächliche und frivole Art, mit der Helvetius (1715 1771) den Sensua- lismus auf ethischem Gebiete durchführt. Das Hauptwerk: De resprit kam 1758 heraus; ein Jahr nach seinem Tode erschien das Buch über den Menschen, seine Fähigkeiten und seine Erziehung, ins Deutsche über- setzt von Lindner 1877. Das Streben nach Lust oder die Selbstliebe ist, wie er zuerst entdeckt zu haben meint', der einzige Beweggrund un- serer Handlungen, die Gesetze des Interesses herrschen in der mora- lischen Welt, wie in der physischen die der Bewegung; Gerechtigkeit und Nächstenliebe beruhen auf dem Nutzen, man will Freunde haben, um von ihnen amüsiert, unterstützt und im Unglück beklagt zu werden, der Menschenfreund wie der Unmensch suchen beide nur ihr Ver- gnügen.

Die Begründung entnimmt er dem Condillac. Sich erinnern und urteilen ist Empfinden. Die Seele ist ursprünglich nichts als die Fähig- keit des Empfindens, sie empfängt den Antrieb zu ihrer Entwickelung

guiig des Christentums, im selben Jahre von Lavater übersetzt; Werke 1779. Über B.s Psychologie handelt Max Offner (Schriften der Gesellschaft für psychol. For- schimg, Heft 5), Leipzig 1893, über ihre Einwirkung auf die deutsche Psychologie JoH. Speck (AGPh. Bd. 10 u. 11.) 1897—98.

^ Tatsächlich sind ihm nicht nur englische, sondern auch einheimische Moralisten mit der Behauptung vorangegangen, daß alle Handlungen aus der Selbst- sucht entspringen und die Tugend nur ein verfeinerter Egoismus sei. So La Roche- foucauld in seinen Maximen [Reßexions oii sentences et maximes morales 1665), La Bruyere (Charaktere oder die Sitten dieses Jahrhunderts 1687) und La Mettrie (s. u. S. 221 22).

220 Die französische Aufklärung.

durch die Eigenliebe, nämlich einerseits durch starke Leidenschaften, wie die Ruhmliebe, anderseits durch Haß gegen Langeweile, welche die dem Menschen natürliche Faulheit überwinden und ihn sich der lästigen An- strengung der Aufmerksamkeit unterziehen läßt; ohne Leidenschaft bliebe er dumm. Das Ganze der in ihm angesammelten Gedanken nennt man Geist. Alle Unterschiede unter den Menschen sind erworben und be- treffen nur den Geist, nicht die Seele: das Angeborene die Sensibili- tät und die SelbstUebe ist bei allen gleich; die Verschiedenheit ent- steht lediglich durch äußere Umstände, durch Erziehung. Der Mensch ist der Zögling aller ihn umgebenden Dinge, seiner Lage, seiner zufälligen Erlebnisse. Das wichtigste Erziehungsmittel sind die Gesetze; der Gesetz- geber hat die Aufgabe, durch Belohnungen und Strafen das persönliche Wohl mit dem öffentlichen zu verknüpfen und hiermit die Sittlichkeit zu heben. Tugendhaft heißt derjenige, dessen stärkere Leidenschaften mit dem allgemeinen Interesse übereinstimmen. Leider werden bei den meisten Völkern die Tugenden des Vorurteils, die nicht zum öffentlichen Wohle beitragen, mehr geehrt als die politischen, denen allein wirkliches Verdienst zukommt. Stets aber ist der Eigennutz das einzige Motiv der gerechten und edelmütigen Handlung; man dient nur dem eigenen Vorteil, indem man den der Gesamtheit fördert. Da der Verkünder dieser Lehren ein gutmütiger und freigebiger Mann war, durfte ihm Rousseau mit Recht entgegnen: vergebens suchst du dich unter dich selbst zu erniedrigen, dein Geist zeugt wider deine Grundsätze, dein wohltätiges Herz verleugnet deine Lehre.

In milderer Form tritt die Moral der aufgeklärten Selbstliebe oder des „wohlverstandenen Interesses" bei Maupertuis (seit 1746 Präsident der Berliner Akademie; Philos. Werke 1752 56) und Friedrich dem Großen^ auf, welchem letzteren d'Alembert brieflich einwirft, daß das Interesse niemals das Gefühl der Pflicht und die Achtung vor dem Ge- setz zu erzeugen vermöge.

3. Skeptizismus und Materialismus.

Die bisher entwickelten Gedanken bewegen sich in einer Richtung, in deren Verfolg man zum Materialismus gelangen mußte. DenisDiderot, der Herausgeber der Enzyklopädie der Wissenschaften, Künste und Gewerbe (1751 T^-)-, welche alle Gewässer der Aufklärung in einen großen Strom zusammenleitete und dem offenen Meere der allgemeinen Bildung zuführte, spiegelt in seinem Entwickelungsgange die Dialektik der Standpunkte vom Deismus durch den Skeptizismus zum Atheismus und Materialismus

1 Friedrich d. Gr.: Versuch über die Eigenliebe als Prinzip der Moral. 1770 in den Abhandlungen der Akademie gedruckt. Über ihn Ed. Zellek 1886.

Lamettrie, 22 1

wieder und hat an dem die gesamte Bewegung abschließenden Natur- system des' Holbach mitgearbeitet. Doch hatte schon reichlich zwei Jahr- zehnte, bevor das letztere, die Konsequenz einer langen Ideenentwicke- lung, hervortrat, der Arzt La Mettrie^ (1709 1751) den Materialismus mehr in anthropologischer Form denn als Weltsystem und mit zynischem Behagen an der Verletzung herkömmlicher Überzeugungen aufgestellt verblümt in der Naturgeschichte der Seele 1745, unverhüllt in L'homtne tnachine 1748, deutsch von A.Ritter 1875 "'^d gleichzeitig (Antiseneca oder Untersuchung über das Glück 1748) dem Helvetius die Grundzüge der sensualistischen Interessenmoral vorgezeichnet. An einem starken Fieber erkrankt, beobachtete er die Wirkung der Blutwallungen auf die Stimmung seines Geistes und zog daraus den Schluß, daß das Denken das Resultat der körperlichen Organisation sei. Die Seele kann nur aus dem Leibe erkannt werden. Die Sinne, die besten Philosophen, lehren uns, daß die Materie nie ohne Form und ohne Bewegung ist; ob nun alle Materie empfindend ist oder nicht, sicherlich ist alles Empfindende materiell, und jeder Teil des Organismus hat ein Lebensprinzip in sich (das herausgelöste Herz des Frosches pulsiert noch eine Stunde lang; die Teile der zerschnittenen Polypen ergänzen sich zu vollständigen Tieren). Alle Vorstellungen stammen von außen, von den Sinnen: ohne sinnliche Eindrücke keine Ideen, ohne Erziehung wenig Ideen, der Geist des in der Einsamkeit Aufgewachsenen bleibt völlig unentwickelt; und da die Seele durchaus von den leiblichen Organen abhängt, mit denen sie entsteht, wächst und abnimmt, ist sie auch dem Lose der Sterblichkeit unterworfen. Nicht bloß das Tier, wie Descartes gezeigt hat, auch der nur graduell von ihm unterschiedene Mensch ist nichts als eine Maschine. Seele nennt man den Teil des Körpers, welcher denkt, das Gehirn hat seine feinen Muskeln fürs Denken wie das Bein seine groben fürs Schreiten.

Wenn der Mensch nichts als Körper ist, so gibt es keine andere als körperliche Lust. Doch besteht ein Unterschied zwischen der sinn- lichen Lust, welche stark und kurz, und der geistigen, welche ruhig und dauernd ist. Der Gebildete wird die letztere vorziehen und darin ein edleres und höheres Glück finden; aber die Natur war gerecht genug, der großen Menge in der gröberen Lust ein leichter erringbares Glück zu gönnen. Genieße den Moment, bis die Posse des Lebens ausgespielt ist! Tugend gibt es nur in der Gesellschaft, welche durch Gesetze vom Bösen abschreckt, durch Weckung des Ehrgeizes zum Guten hinlenkt. Der Gute, der das Allgemeinwohl über das Eigenwohl stellt, handelt unter

1 Lamettrie, geb. in St. Malo, gebildet in Paris und in Leyden bei Boerhave, gest. in Berlin, wohin Friedrich IL den aus seinem Vaterlande und aus Holland Vertriebenen berufen hatte. Über ihn Lange, Gesch. d. Mat. S. 270 303; E. Du Bois-Reymond, Rede 1875; Poritzky, Lam. 1900.

222 I^IE FRANZÖSISCHE AUFKLÄRUNG,

der gleichen Notwendigkeit wie der Schlechte, daher sind Reue und Ge- wissensbisse, welche die Unlust in der Welt vermehren, aber unfähig sind, Besserung zu bewirken, nutzlos und verwerflich; der Verbrecher ist ein Kranker und darf nicht härter bestraft werden, als die Sicherheit der Gesellschaft es gebietet. Der Materialismus macht menschenfreundlich und wirkt auf das Gemüt ebenso beruhigend, wie die haßstiftende reli- giöse Weltansicht beängstigend, er befreit uns vom Gefühl der Schuld und Verantwortlichkeit und von der Furcht vor jenseitiger Pein. Ein Staat von Atheisten ist nicht nur möglich, wie Bayle behauptet, er wäre sogar der glücklichste von allen.

Von den Herausgebern der Enzyklopädie ist der Mathematiker cY Alemhert^ {E/emenfs de philosopliie 1758) dem skeptischen Standpunkt treu geblieben. Weder Materie noch Geist sind ihrem Wesen nach er- kennbar; vermutlich ist die Welt in Wirklichkeit ganz anders, als sie unserer sinnlichen Auffassung erscheint. Als Diderot (1713 1784) und mit ihm die Enzyklopädie die Schwenkung von der Skepsis zum Materialis- mus machte, trat er aus der Redaktion aus (1757), nachdem auch Rousseau bereits seinen Weg von dem der Enzyklopädisten getrennt hatte. Wie in der ersten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts Voltaire, so ist in der zweiten Diderot- der Führer der Geister, zu dieser Rolle durch lebendige und vielseitige Empfänglichkeit, geschäftigen Fleiß, geistreiche und schlagfertige Beredsamkeit und enthusiastische Gemütsart vor allen Mitlebenden befähigt, die seinem anregenden Gespräche noch mehr als seinen Schriften zu ver- danken bezeugen. Er begann damit, seine Landsleute mit Shaftesburys Essay über Verdienst und Tugend bekannt zu machen, schwang sodann sein Schwert einerseits gegen die Gottesleugner, die ein Blick ins Mikroskop widerlege, anderseits gegen den herkömmlichen Glauben an einen Gott des Zorns und der Rache, der Lust daran finde, sich in den Tränen der Menschen zu baden. Es folgt eine skeptische Periode, für welche das Gebet in den „Gedanken über die Erklärung der Natur" 1754 charak- teristisch ist: O Gott, ich weiß nicht, ob du bist, aber ich will in meinen Gesinnungen und Taten so verfahren, als ob du mich denken und handeln sähest usw. Unter dem Einfluß des Holbachschen Kreises gelangte er schließlich (in dem 1769 verfaßten, aber erst 1830 in den Memoiren usw. erschienenen Gespräch zwischen d'Alembert und Diderot und d'Alemberts Traum) zum naturalistischen Monismus: es gibt nur ein einziges großes Individuum, das All. Hatte er früher die denkende Sub-

1 Über d'Alembert, Turgot und Saint-Simon als Vorläufer Comtes handelt Georg Misch, Die Entstehung des französischen Positivismus, im 14. Bande des AGPh. 1900 Ol.

2 Werke in 22 Bänden Paris, Briere 1821; neueste Ausgabe in 20 Bänden von J. AsSEZAT 1875. Über ihn vergl. das schöne Buch von Karl Rosenkranz: Dide- rots Leben und Werke, 1866.

Diderot. Holbach.

stanz von der körperlichen unterschieden und die Unsterblichkeit der Seele auf die Einheit der Empfindung und die Einheit des Ich gegrün- det, so macht er jetzt die Empfindung zu einer allgemeinen und wesent- lichen Eigenschaft der Materie {la pierre sent), erklärt das Gerede \o\\ der Einfachheit der Seele für metaphysisch-theologischen Unsinn, nennt das Gehirn ein sich selbst spielendes Klavier, verlacht Selbstachtung, Scham und Reue als alberne Torheit eines Wesens, das sich notwendige Handlungen als Verdienst und Schuld beimißt, und kennt keine andere Unsterblichkeit als die des Nachruhms. Aber selbst bei so weitgehenden Folgerungen bleibt seine Tugendbegeisterung zu stark, als daß sie ihm den kecken Theorien Lamettries und Helvetius beizustimmen erlaubte. Die französische Naturforschung steuerte gleichfalls auf den Materialis- mus zu. Buffon (Naturgeschichte 1749 AT.) sucht die mechanische Er- klärung der organischen Erscheinungen durch die Annahme lebendiger Moleküle, aus denen sich die sichtbaren Organismen aufbauen, zu erleichtern. Noch weiter geht, mit Benutzung Spinozistischer und Leibnizischer Ideen. Robin et (Über die Natur, seit 1761), indem er jedes Stoffteilchen mit Empfindung ausstattet, die ganze Welt als eine Stufenfolge belebter Wesen mit wachsender Geistigkeit betrachtet und sowohl die Wechselwirkuno; zwischen der materiellen und der seelischen Seite des Individuums als auch das Verhältnis von Lust und Schmerz im Universum einem Gesetze harmo- nischer Ausgleichung unterwirft.

Das Systeme de la natiire 1770, das auf dem Titel den Namen des 1760 verstorbenen Mirabaud trug, ging aus der Gesellschaft von Frei- geistern hervor, welche sich in dem gastlichen Hause des aus der Pfalz gebürtigen Baron Dietrich von Holbach (f 1789) zu versammeln pflegte. Der eigentliche Verfasser war Holbach selbst, doch scheinen seine Freunde Diderot, Naigeon, der Mathematiker Lagrange und der geistreiche Melchior Grimm (f 1807) an einigen Abschnitten mitgearbeitet zu haben. Der schwerfällige Ernst und der trockene Ton, mit welchem hier zum System verbunden wurde, was das Jahrhundert an radikalen Ideen erzeugt hatte, trug wohl die Hauptschuld an der ablehnenden Haltung des Publikums. Ebenso erfolglos blieb die populärere Darstellung des Materialismus, die Holbach 1772 folgen ließ, und Helvetius' Auszug aus dem System der Natur 1774.

Holbach begibt sich an die Entgeistung der Natur und die Zer- störung der religiösen Vorurteile in aufrichtigem Glauben an die heilige Mission des Unglaubens : am Atheismus hängt das Glück der Menschheit. „O Natur, Beherrscherin aller Wesen, und ihr, deren Töchter, Tugend, Vernunft und Wahrheit, seiet ihr für immer unsere einzigen Gottheiten!" Was hat die Tugend so erschwert und so selten gemacht? die Religion, welche die Menschen trennt, statt sie zu einigen. Was hat die Aufklärung der Vernunft und die Entdeckung der Wahrheit solange aufgehalten? die

224

Die französische Aufklärung.

Religion mit ihren unheilvollen Irrtümern: Gott, Geist, Freiheit, Unsterb- lichkeit. Eine Unsterblichkeit gibt es nur im Gedächtnis der kommen- den Geschlechter, der Mensch ist ein Eintagsgeschöpf, nichts ist dauernd, als das große Ganze der Natur und das ewige Gesetz, daß alles sich verändert. Kann eine in tausend Stücke zerbrochene Uhr fortfahren, die Stunden zu zeigen? Das sinnlose Dogma von der Freiheit wurde nur erfunden, um das sinnlose Problem der Rechtfertigung Gottes wegen des Übels zu lösen. Der Mensch ist in jedem Augenblicke seines Lebens ein passives Instrument in der Hand der Notwendigkeit, das Universum eine unermeßliche und ununterbrochene Kette von Aktionen und Reaktionen, ein ewiger Kreis ausgetauschter Bewegungen, beherrscht von Gesetzen, deren Änderung sogleich das Wesen aller Dinge verändern würde. Der verhängnisvollste Irrtum ist der von Philosophen aufgebrachte, von den Toren beifällig aufgenommene Begriff eines menschlichen und eines gött- lichen Geistes. Daß sich der Mensch in zwei Substanzen spaltete, hat seinen Grund darin, daß wir von den Veränderungen unseres Körpers nur die äußeren Massenbewegungen direkt wahrnehmen, dagegen die inneren Bewegungen der unsichtbaren Moleküle nur aus ihren Wirkungen erkennen. Die letzteren schrieb man dem Geiste zu und schmückte diesen mit Eigenschaften, deren Leerheit daraus einleuchtet, daß sie sämtlich nur Negationen dessen sind, was wir kennen. Die Erfahrung zeigt uns nur Ausgedehntes, Körperliches, Teilbares von alledem nun soll der Geist das Gegenteil sein, zugleich aber (wie? weiß man nicht zu sagen) die Fähigkeit haben, auf das Materielle einzuwirken und von demselben Wirkungen zu erfahren. Indem der Mensch sich in Leib und Seele trennte, hat er tatsächlich nur sein Gehirn von sich selbst unterschieden. Der Mensch ist ein rein physisches Wesen. Alle sogenannten geistigen Vorgänge sind Gehirntätigkeiten, Spezialfälle der Wirkung der allgemeinen Naturkräfte. Denken und Wollen ist Empfinden, Empfindung ist Bewegung. Die bewegenden Kräfte sind in der sitt- lichen Welt dieselben wie in der physischen, hier heißen sie Anziehung und Abstoßung, dort Liebe und Haß; was der Moralist Eigenliebe nennt, ist der nämliche Selbsterhaltungstrieb, der in der Physik als Trägheitskraft bekannt ist.

Wie sich selbst, so verdoppelte der Mensch auch die Natur. Den ersten Anstoß zur Bildung der Gottesidee gab das Übel, Schmerz und Unwissenheit waren die Eltern des Aberglaubens: das Leiden wurde unbekannten Mächten zugeschrieben, die man fürchtete, zugleich aber durch Gebet und Opfer günstig zu stimmen hoffte. Weisere wandten sich mit ihrer Anbetung und Verehrung an ein würdigeres Objekt, an das große All, und in der Tat, will man mit dem Worte Gott einen annehmbaren Sinn verbinden, so bezeichnet es die tätige Natur. Das Fehlerhafte lag in dem Dualismus, darin, daß man die Natur von sich

Holbach.

225

selbst, d. h. von ihrer Tätigkeit unterschied und zur Erklärung der Be- wegung eines besonderen, immateriellen Bewegers zu bedürfen glaubte. Diese Annahme ist erstens falsch, denn da das All der Komplex alles Existierenden ist, so kann es nichts außerhalb desselben geben; die Be- wegung folgt ebenso notwendig aus der Existenz des Universums, wie seine sonstigen Eigenschaften, es empfängt sie nicht von außen, sondern gibt sie sich selbst aus eigener Kraft. Jene Annahme ist zweitens un- nütz, sie erklärt nichts, sondern verwirrt die Aufgaben der Naturwissen- schaft bis zur Unlösbarkeit. Sie ist drittens sich selbst widersprechend, denn nachdem die Theologie die Gottheit durch die negativen meta- physischen Prädikate möglichst weit vom Menschen entfernt hat, sieht sie sich gezwomgen, sie ihm durch die moralischen Attribute, die weder untereinander noch mit jenen vereinbar sind, wieder a'nzunähern, und krönt den Widersinn durch die Versicherung, daß man sich durch An- nahme des Unbegreiflichen Gott wohlgefällig mache. Sie ist endlich gefährlich, sie zieht die Menschen von der Gegenwart ab, stört ihre Ruhe und ihren Genuß, schürt den Haß und macht so Glück und Sittlich- keit unmöglich. Ist aber die Nützlichkeit das Kennzeichen der Wahr- heit, so ist der Theismus auch in der milden Form des Deismus durch seine schädlichen Folgen als Irrtum erwiesen. Jeder Irrtum ist Gift.

Materie und Bewegung sind gleich ewig. Die Natur ist ein tätiges, sich selbst bewegendes, lebendiges Ganze, eine unendliche Kette von Ursachen und Wirkungen. Alles ist in unaufhörlicher Bewegung, alles ist Ursache (nichts ist tot, nichts ruht), alles ist Wirkung (es gibt keine spontane, keine auf einen Zweck hinzielende Bewegung). Ordnung und Unordnung sind nicht in der Natur, sondern nur in unserem A'erstande, abstrakte Vorstellungen zur Bezeichnung dessen, was unserem Wesen kon- form oder entgegengesetzt ist. Das All hat zum Zweck nur sich selbst, das Leben, die Tätigkeit; das allgemeine Ziel der einzelnen Wesen wie das des Weltganzen ist die Erhaltung des Seins.

Die Anthropologie reduziert sich für Holbach im wesentlichen auf die doppelte Aufgabe, aus der Bewegung das Denken, aus dem physischen Selbsterhaltungsstreben die Sittlichkeit abzuleiten. Die Kräfte der Seele sind keine anderen als die des Körpers. Alle geistigen Fähigkeiten ent- wickeln sich aus der Empfindung, die Empfindungen sind Bewegungen im Gehirn, welche uns Bewegungen außerhalb desselben kundgeben. Alle Leidenschaften lassen sich auf Lieben und Hassen, Suchen und Fliehen zurückführen und hängen vom Temperament, von der individuellen Mischung der flüssigen Teile ab. Tugend ist Gleichgewicht der Flüssigkeiten. Alle menschlichen Handlungen gehen aus dem Interesse hervor. Die guten und schlechten Menschen unterscheiden sich nur durch ihre Organisation und durch die Gedanken, die sie sich über das Glück machen. Mit

Falckenberg, Neuere Philos V. Aufl. IC

220 I5lE FRANZÖSISCHE AUFKLÄRUNG.

gleicher Notwendigkeit wie die Tat tritt die Liebe und Verachtung der Mitmenschen, die Lust der Selbstachtung und die Pein der Reue (Schmerz über die schlimmen Folgen, also kein Beweis für die Freiheit) ein. Weder Zurechnung noch Strafe wird durch die Notwendigkeit aufgehoben: haben wir nicht das Recht, uns gegen den Fluß, der die Felder beschädigt, zu schützen, indem wir Dämme errichten und seinen Lauf ablenken? Das Ziel des Strebens ist dauernde Glückseligkeit, es kann nur durch die Tuo-end erreicht werden. Die der Gesellschaft nützlichen Leiden- Schäften erzwingen die Neigung und Billigung der Genossen, Um die anderen für unser Wohl zu interessieren, müssen wir uns für das ihrige interessieren, nichts ist dem Menschen unentbehrlicher als der Mensch. Wer klug ist, handelt sittlich, das Interesse verpflichtet uns zum Guten; einen anderen lieben heißt die Mittel der eigenen Glückseligkeit lieben. Tugend ist die Kunst, sich selbst glücklich zu machen durch das Glück anderer. Die Natur selbst züchtigt die Unsittlichkeit, indem sie den Unmäßigen unglücklich macht. Die Religion hat die Erkenntnis dieser Regeln verhindert, die Krankheiten der Seele verkannt und falsche, un- wirksame Heilmittel angewandt; die Entsagung, die sie verlangt, wider- strebt der menschlichen Natur. Der wahre Moralist erkennt in der Medizin den Schlüssel zum menschlichen Herzen, er wird den Geist durch den Körper kurieren, die Leidenschaften statt durch Predigten durch andere Leidenschaften lenken und im Gleichgewicht erhalten und die Menschen darüber aufklären, daß sie ihren Privatnutzen am sichersten erreichen, indem sie für den öffentlichen arbeiten. Die Aufklärung ist der Weg zur Tugend und zum Glück.

Zu den Moralisten der Selbstliebe gehört Volney (Chasseboeuf t 1820; Katechismus des französischen Bürgers 1793, später unter dem Titel: Das Naturgesetz oder physische Prinzipien der Moral, abgeleitet aus der Organisation des Menschen und des Universums; ferner: Die Ruinen; Werke 1821), obwohl er neben den egoistischen Interessen auch die natürlichen Triebe der Sympathie berücksichtigt. Dies geschieht noch mehr bei dem gleich sehr durch Condillac wie durch Turgot be- einflußten Condorcet (Skizze eines historischen Überblickes der Fort- schritte des menschlichen Geistes, 1794), welcher im einzelnen wie im Menschengeschlecht einen Trieb allseitiger Vervollkommnung statuiert.' In der menschlichen Organisation liegt neben den selbstischen Neigungen, die gleich sehr auf Schädigung wie Unterstützung anderer gerichtet sind, eine beständig zum Guten tendierende Kraft in Form ursprünglicher Gefühle des Mitleids und Wohlwollens, aus denen sich mit Hilfe der Reflexion die moralische Selbstbeurteilung entwickelt. Der Zweck der wahren Moral und sozialen Kunst ist der, die „großen" Tugenden nicht allgemein, sondern unnütz zu machen; je mehr die Nationen sich der geistigen und sittlichen Vollkommenheit nähern, um so weniger bedürfen

Hole ACH. Rousseau. 227

sie derselben: glücklich das Volk, in welchem die guten Handlungen so gewöhnlich sind, daß für heroische kaum noch Gelegenheit vorhanden ist. Die Hauptmittel der moralischen Volksbildung sind die Entwickelung der Vernunft, des Gewissens und der wohlwollenden Neigungen. Die Gewöhnung an Handlungen der Güte ist eine Quelle reinsten und unerschöpflichen Glückes. Das Mitgefühl mit dem Wohle anderer muß so gepflegt werden, daß das Opfer eines persönlichen Genusses eine süßere Freude werde, als dieser Genuß selbst. Früh schon lerne das Kindergemüt die Wonne, zu lieben und geliebt zu werden, genießen. Man muß endlich dahin streben, daß die Ungleichheiten der Fähigkeiten, des Besitzes und der Regierenden und Regierten sich allmählich ver- mindern, denn sie aufheben ist unmöglich.

Von den übrigen Philosophen der Revolutionszeit seien der Arzt Cabanis (Die Beziehungen zwischen dem Physischen und dem Moralischen im Menschen, 1799) und Destutt de Tracy (Elemente der Ideologie, 1801 f.) genannt. Der erstere ist in der Psychologie Materialist (die Nerven sind der Mensch; die Gedanken sind Absonderungen des Gehirns), betrachtet das Bewußtsein als Eigenschaft der organischen Materie (die Seele ist kein Wesen, sondern eine Fähigkeit) und läßt die moralische Sympathie sich aus den animalischen Instinkten der Erhaltung und Ernährung ent- wickeln. Auch der letztere leitet alle geistige Tätigkeit aus der Organi- sation und der Empfindung ab. Interessant ist die nur kurz skizzierte Willenslehre. Die Begehrungen haben eine passive und eine aktive Seite (entsprechend der doppelten Wirkung der Nerven: auf sich selbst und auf die Muskeln), sie sind einerseits Gefühle der Lust oder Unlust und veranlassen uns anderseits zu Handlungen: der Wille ist Bedürfnis und gleichzeitig die Quelle der Mittel zu ihrer Befriedigung. Vermutlich liegen sowohl jenen Gefühlen wie diesen äußeren Bewegungen unbe- wußte organische Bewegungen zugrunde. Der Wille wird mit Recht der Persönlichkeit gleichgesetzt, er ist das Ich selbst, das zum Selbst- bewußtsein gelangende physisch-geistige Gesamtleben des Menschen. Das innere oder organische Leben besteht in den Funktionen der Erhaltung des Individuums, das äußere oder animalische in den Funktionen des Verhältnisses (der Sinne, der Bewegung, der Sprache, der Fortpflanzung); in jenem wurzeln die Sonderinteressen, in diesem die Sympathie. Das ursprünglichste Gut ist die Freiheit oder die Macht, zu tun, was wir wollen, das Höchste im Leben die Liebe. Um glücklich zu sein, muß man Strafe, Tadel und Gewissensbisse vermeiden.

4. Rousseaus Kampf gegen die Aufklärung.

In einem ähnlichen oppositionellen Verhältnis, wie die schottische Schule zur i^nglischen, Herder und Jacobi zur deutschen, steht der Genfer

15*

228 Die Opposition gegen die Aufklärung.

Jean Jacques Rousseau ' (1712 1778) zur französischen Aufklärung. Wir werden von den kühlen und sophistischen Schlußfolgerungen des Verstandes auf die unmittelbare Überzeugung des Gefühls, von den Ein- bildungen der Wissenschaft auf die untrügliche Stimme des Herzens und des Gewissens, von den verkünstelten Zuständen der Kultur auf die ge- sunde Natur verwiesen. Die gepriesene Aufklärung ist nicht der Hebel des Fortschritts, sondern die Quelle alles Verfalles, die Sittlichkeit gründet sich nicht auf die kluge Berechnung des Eigennutzes, sondern auf ur- sprüngliche gesellige und wohlwollende Neigungen (die Liebe zum Guten ist dem menschlichen Herzen ebenso natürlich wie die Selbstliebe, die Begeisterung für die Tugend hat mit unserem Nutzen nichts zu tun, was soll es heißen, seines Vorteils wegen in den Tod gehen ?), die religiösen Wahrheiten sind nicht Gegenstände des Denkens, sondern der frommen Empfindung. Das Gefühl ist ursprünglicher als die Vernunft.

Rousseau begann seine schriftstellerische Laufbahn mit Unter- suchungen über den Einfluß der Wissenschaften und Künste 1750 (ge- krönte Bearbeitung einer Preisfrage der Akademie zu Dijon), den er als einen durchaus verderblichen schildert, und über Ursprung und Gründe der Ungleichheit unter den Menschen 1753. Von Natur war der Mensch unschuldig und gut und ist erst in der Gesellschaft schlecht geworden. Reflexion, Kultur und Egoismus sind etwas Unnatürliches. Im glück- lichen Naturzustande herrschten das Mitleid und die unschuldige Selbst- liebe [amour de soi), die erst im Laufe der geselligen Entwickelung durch die Vernunft zu dem künstlichen Gefühle der Selbstsucht {atnoitr propre) verderbt wurde 2; der denkende Mensch ist ein entartetes Tier. Durch das Eigentum sind die Menschen in Reiche und Arme, durch die Obrigkeit in Starke und Schwache, durch die Willkürherrschaft in Herren und Knechte geteilt worden. Der Reichtum zeugte den Luxus mit seinen künstlichen Freuden der Wissenschaft und des Theaters, die uns noch unglücklicher und schlechter machen, als wir ohnedies sind; die Wissenschaft, das Kind von Lastern, wird wiederum die Mutter neuer

1 Über ihu BROCKERHOFF, Leipzig 1863—74; L. MoREAU, Paris 1870; ALBERT Jansen, R. als Botaniker, Berlin 1885; P. Moebius, R.s Krankheitsgeschichte, Leipzig 1889; H. Höffding, Frommanns Klassiker der Philos. Bd. 4, Stuttgart 1897, 2. Aufl. 1902; Franz Haymann, R.s Sozialphilosophie, Leipzig 1898.

2 Aus der berechtigten Selbstliebe, die nur wenige und leicht zu befriedigende Bedürfnisse kennt, entsteht die unnatürliche und stets unzufriedene Selbstsucht (oder aus der Natur die Kultur) durch den Eintritt in die verwickelten Verhältnisse der Geselligkeit (wo viele zusammen sind, wird die Luft schlecht), dadurch, daß der Mensch sich mit anderen vergleicht, sie zu übertreffen und von ihnen geehrt zu werden wünscht, so daß sich nun Abhängigkeit von der Meinung anderer, ein Zwie- spalt zwischen Begehren und Können, damit aber Unsicherheit und Schwäche ein- stellt. Gut, glücklich und frei sein fallen also zusammen, ebenso böse, unglücklich und unfrei sein.

Rousseau.

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Laster. Mit der fortschreitenden Kultur ist alle Natur, alle Eigentümlich- keit, alles Gute verschwunden, Hilfe gegen die allgemeine Entartung ist nur von der Rückkehr der Einzelnen wie der Gesellschaft zur Natur zu hoffen: von einer naturgemäßen Erziehung und von einem natur- gemäßen Staate. Der pädagogischen- Aufgabe ist der Roman „Emile" (deutsch von Denhakdt, in der Reclamschen Bibliothek), der politischen „Der Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts" (deutsch von dems. , ebenda) gewidmet. Beide erschienen 1762, zwei Jahre darauf folgten die ^,Briefe vom Berge", eine Verteidigung gegen die Angriffe der Geistlichkeit. In diesen späteren Schriften zeigt sich der naturalistische Vernunfthaß wesentlich gemildert.

Die gesellschaftliche Ordnung ist ein geheiligtes Recht, welches die Grundlage aller übrigen bildet. Es entspringt jedoch nicht aus der Natur kein Mensch hat eine natürliche Gewalt über Seinesgleichen, und die Stärke gewährt kein Recht , folglich beruht es auf einem Vertrage. Nicht zwischen Fürst und Volk. Dem Akte, durch welchen das Volk einen König wählt, geht voraus der Akt, durch den es ein Volk ist. Im Gesellschaftsvertrage gibt sich jeder mit seinen Kräften und Gütern der Gesamtheit hin, um deren Schutz zu gewinnen. Mit diesem Akte entsteht der geistige Gesamtkörper des Staates und erhält seine Einheit, sein Ich, seinen Willen. Die Summe der Mitglieder heißt Volk, jedes Mitglied als Teilhaber der obersten Gewalt Bürger, als zum Gehorsam gegen das Gesetz verpflichtet Untertan. Der Einzelne verliert seine natürliche Freiheit und tauscht dafür die durch den all- gemeinen Willen beschränkte bürgerliche ein, dazu das Eigentumsrecht auf alles, was er besitzt, Gleichheit vor dem Gesetz und die sittliche Freiheit, die ihn erst wirklich zum Herrn seiner selbst macht. Der Trieb der bloßen Begierde ist Sklaverei, der Gehorsam gegen das selbst gegebene Gesetz Freiheit. Der Souverän ist das Volk, Gesetz der auf das gemeinsame Wohl gerichtete allgemeine Wille desselben, die höch- sten Güter „Freiheit und Gleichheit" die Hauptgegenstände der Gesetz- gebung. Die gesetzgebende Macht ist der moralische Wille des Staats- körpers, die Regierung (Obrigkeit, Fürst) die ausführende physische Kraft desselben; jene sein Herz, diese sein Gehirn. Rousseau bezeichnet die Regierung als die mittlere Proportionale zwischen dem Staatsober- haupt und dem Einzelnen, oder dem Bürger als Gesetzgeber und als Untertan: der Souverän (das Volk) befiehlt, die Regierung vollzieht, der Untertan gehorcht. Der Akt, durch welchen sich das Volk seinen Häuptern unterwirft, ist kein Vertrag, sondern lediglich ein Auftrag; es kann die übertragene Macht, sobald es ihm gefällt, beschränken, abändern und ganz zurücknehmen. Zur Sicherung gegen ungesetzliche Übergriffe der Regierung empfiehlt Rousseau regelmäßige Volksversammlungen, in denen, unter Suspension der Regierungsgewalt, über Bestätigung, Auf-

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Die Opposition gegen die Aufklärung.

hebung oder Änderung der Verfassung beschlossen wird. Auch die Festsetzung sozialer Glaubensartikel ist Aufgabe des souveränen Volkes. Staaten kleineren Umfanges haben den Vorzug, daß in ihnen größere Freiheit, ein stärkerer Gemeingeist und leichtere Überwachung der Regierung durch das Volk möglich ist. Soeialistisch ist an Rousseaus Staatstheorie die Hervorhebung der üblen Folgen der Arbeitsteilung, die den Menschen abhängig und einseitig macht, und das Verlangen, der Staat solle die Ungleichheit zwischen den Menschen nach INIöglichkeit verringern. Ihr wesentlicher Unterschied von derjenigen Lockes und Montesquieus be- steht in der Ablehnung einer Trennung der Gewalten und einer Ver- tretung durch Abgeordnete, also in ihrem ausgesprochen demokratischen Charakter. Ein Menschenalter, nachdem sie der Welt vorgelegt worden, machte die französische Revolution den Versuch, sie in die Praxis zu übersetzen. Die Masse „vollzog, was Rousseau selbst zwar gedacht, aber nie gewollt hatte" (Windelband).

Rousseaus Erziehungslehre schließt sich sehr eng an diejenige Lockes (vgl. S. 158) an, deren Grundgedanke Ausbildung der Indivi- dualität — dem Subjektivismus des Gefühlsphilosophen durchaus konform war. Es war für die Nachwelt keine schwere Aufgabe, den gesunden Kern derselben von den ihn umhüllenden Übertreibungen und Sonder- barkeiten zu befreien. Zu den letzteren gehören die Bevorzugung der körperlichen vor der intellektuellen Entwickelung und der unbegrenzte Glaube an die Güte der menschlichen Natur, Übe den Körper, die Organe, die Sinne des Zöglings und halte seine Seele solange als möglich müßig; sorge zunächst nur dafür, daß sein Geist von Irrtum, sein Herz von Laster frei bleibe. Dies nennt Rousseau „negative" Erziehung: man beschränke sich auf Fernhaltung von Hemmnissen und schlimmen Ein- flüssen, warte ab, bis die erwachenden Anlagen von selbst zur Betätigung drängen, und lasse den Zögling seine Kenntnisse mittels eigener Erfahrung und eigener Arbeit gewinnen, ihn durch die Dinge selbst belehrt werden. Um die völlige Ungestörtheit der Entwickelung zu sichern, empfiehlt Rous- seau, das Kind von der Gesellschaft, ja von der Familie ganz abzuschließen und in der Einsamkeit unter Leitung eines Privatlehrers aufwachsen zu lassen; wenn nämlich diese Isolierung ernsthaft gemeint ist und nicht etwa bloß die Bedeutung eines Gedankenexperimentes hat, zu dem Zwecke, am fingierten „reinen Falle" bequemer demonstrieren zu können.

Sprach aus Rousseaus Politik der schweizerische Republikaner, so verrät seine Religionslehrei den Genfer Calvinisten. Das „Glaubens- bekenntnis des savoyardischen Vikars" (im Emil) verkündet den Deismus als Gefühlsreligion. Die beigebrachten Vernunftbeweise für das Dasein Gottes aus der Bewegung der an sich ruhenden Materie und aus

1 Vergl. Ch. BoRGEAUD, Rousseaus Religionsphilosophie, Genfund Leipzig 18S3.

Rousseau.

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der Zweckmäßigkeit der Welt haben, nach brieflicher Erklärung, nur den Zweck, die Materialisten zu widerlegen, und empfangen ihre Un- überwindlichkeit allein durch den inneren Beweis des Gefühls, welches bei dem Schwanken der Vernunft zwischen Für und Wider endgültig den Ausschlag gibt.

Beschränken wir unsere Untersuchung auf das, woran uns einzig ge- legen sein kann, und vertrauen wir der Evidenz des Gefühls, so läßt sich nicht daran zweifeln, daß ich selbst existiere und empfinde, daß eine mich affizierende Außenwelt vorhanden ist, daß das Denken, Vergleichen oder Beurteilen von Verhältnissen etwas anderes ist als das Empfinden oder das Wahrnehmen von Gegenständen denn dieses ist ein passives, jenes ein aktives Verhalten , daß ich die Tätigkeit des Aufmerkens oder Überlegens selbst hervorbringe, somit nicht nur ein empfindendes oder leidendes, sondern auch ein tätiges oder verständiges Wesen bin. Die Freiheit meines Denkens und Handelns verbürgt mir die Immate- rialität meiner Seele, sie ist es, die mich vom Tier unterscheidet. Des Fortlebens der Seele nach dem Verfall des Leibes versichert mich die Tatsache, daß in dieser Welt der Schlechte triumphiert, während der Gute unterdrückt wird. Die bevorzugte Stellung, die der Mensch in der Ordnung der Wesen einnimmt, er vermag das Universum zu über- schauen und dessen Urheber zu verehren, Ordnung und Schönheit zu erkennen, das Gute zu lieben und zu tun, und er sollte sich dem Tiere vergleichen? erfüllt mich mit Rührung und mit Dank gegen den wohltätigen Schöpfer, der da vor allen Dingen war und sein wird, wenn sie alle vergangen sind, vor dem alle Wahrheiten eine einzige Idee, alle Räume ein Punkt, alle Zeiten ein Augenblick sind. Das Wie der Frei- heit, der Schöpfung, der Einwirkung eines Willens auf die Materie usw. ist mir freilich unbegreiflich, aber über ihr Daß macht mich mein Ge- fühl gewiß. Der würdigste Gebrauch meiner Vernunft ist, sich vor Gott zu vernichten. „Je mehr ich mich anstrenge, sein unendliches Wesen zu ergründen, um so weniger begreife ich es; aber es ist, das genügt mir; je weniger ich es begreife, um so andächtiger bete ich es an."

Im Grunde meines Herzens finde ich die Regeln meines Handelns von der Natur mit unaustilgbaren Zügen eingegraben. Gut ist alles, was ich als gut empfinde. Das Gewissen ist der aufgeklärteste aller Philo- sophen und ein ebenso sicherer Führer für die Seele, wie der Instinkt für den Körper. Die Unfehlbarkeit seines Urteils bezeugt sich in der Übereinstimmung der Völker: unter der erstaunlichen Verschiedenheit der Sitten werdet ihr doch überall dieselbigen Ideen von Gerechtigkeit, dieselbigen Begriffe vom Guten und Bösen finden. Zeigt mir ein Land, wo es ein Verbrechen ist, Wort zu halten, barmherzig, wohltätig, groß- mütig zu sein, wo der Rechtschaffene verachtet und der Treulose geehrt wird! Das Gewissen a;ebietet Beschränkung: der Begierden auf den unserer

232 Die Opposition gegen die Aufklärung.

Fähigkeit, sie zu befriedigen, angemessenen Grad, nicht völHge Unter- drückung derselben: alle Leidenschaften sind gut, wenn wir sie, schlecht, wenn sie uns beherrschen.

Im zweiten Teile der Profession de foi du vicaire savoyard wendet sich Rousseau von der Bekämpfung des Sensualismus, Materialismus, Atheismus und der Interessenmoral zur Kritik der Offenbarung. Warum sollten neben der natürlichen Religion mit ihren drei Grunddogmen Gott, Freiheit, Unsterblichkeit noch besondere Glaubenslehren nötig sein, welche die Begriffe von dem großen Wesen mehr verwirren als aufklären, uns die Annahme von Ungereimtheiten zumuten, und den Menschen stolz, unduldsam und grausam machen, da doch Gott keinen anderen Dienst als den des Herzens verlangt? Jede Religion ist gut, in der man Gott auf geziemende Art dient. Hätte uns Gott eine einzige Religion vorge- schrieben, so würde er sie mit untrüglichen Kennzeichen der alleinigen Echtheit versehen haben. Die Autorität der Väter und der Priester kann nicht entscheiden, denn jede Religion erklärt sich für offenbart und für die einzig wahre: der Muhamedaner hat das gleiche Recht, bei der Religion seines Vaters zu verharren, wie der Christ bei der des seinigen. Da alle Offenbarung durch menschliche Überlieferung an uns herankommt, so kann nur die Vernunft der Richter über ihre Göttlichkeit sein. Die sorgfältige Prüfung der in alten Sprachen abgefaßten Urkunden würde eine umfassende Gelehrsamkeit erfordern, die unmöglich Bedingung des Heiles und der Gottgefälligkeit sein kann. Wunder und Prophezeiungen sind nicht beweiskräftig, wie soll man die wahren von den falschen unter- scheiden? Wenden wir uns von den äußeren zu den inneren Kenn- zeichen der Lehre selbst, so ist auch hier eine Entscheidung zwischen den Gründen und Gegengründen (der Verfasser legt jene einem inspire, diese einem raisonneur in den Mund) nicht zu treffen ; auch bliebe, beim Übergewicht der ersteren, immer noch die Schwierigkeit bestehen, wie es sich mit Gottes Güte und Gerechtigkeit vereine, daß das E\'angelium zu so vielen Menschen nicht hingelangt ist, und wie diejenigen, denen heute die Gottheit Christi verkündet wird, sich von ihr überzeugen können, da doch die Zeitgenossen ihn verkannt und getötet haben. Nach meiner Einsicht vermag ich die Wahrheit der christlichen Offenbarung und den Nutzen derselben für ihre Bekenner nicht zu ergründen. Die Unter- suchung der Vernunft endigt bei einem „ehrfurchtsvollen Zweifel": ich nehme die Offenbarung weder an, noch verwerfe ich sie, aber ich ver- werfe die Verbindlichkeit, sie anzuerkennen. Anders jedoch, als die ver- ständige Überlegung, urteilt mein Herz: für dieses ist die heilige Majestät und erhabene Einfalt der Schrift der bündigste Beweis, daß sie mehr als Menschenwerk, und derjenige, dessen Geschichte sie enthält, mehr als ein Mensch ist. Die rührende Anmut und tiefe Weisheit seiner Rede, die Sanftheit seiner Sitten, die Hoheit seiner Grundsätze, die Beherrschung

Rousseau. Leibniz.

seiner Leidenschaften bezeugen hinlänglich, daß er weder ein Schwärmer noch ein ehrgeiziger Sektierer war. Sokrates lebte und starb wie ein Philosoph, Jesus wie ein Gott. Die Tugenden der Gerechtigkeit, Vater- landsliebe und Nüchternheit, die jener lehrte, waren von den großen Männern Griechenlands geübt worden, ehe er sie empfahl. Woher aber sollte Jesus in seiner Zeit und seinem Lande jene erhabene Moral schöpfen, von der er allein die Lehre und das Beispiel gab? Dergleichen erdichtet sich nicht. Der Erfinder solcher Taten wäre noch erstaunlicher als ihr Täter. So siegt auch in der Frage nach der geoffenbarten Religion die Stimme des Herzens über die Zweifel der Vernunft, wie sie in der nach der natürlichen Religion über die Einwürfe der Gegner triumphiert hatte. Allerdings gilt diese Begeisterung nicht dem heutigen Christentum der Priester, sondern nur dem wahren des Evangeliums.

Rousseau war das Gewissen Frankreichs, das sich gegen die Nega- tionen und die kahle Leerheit der materialistischen und atheistischen Doktrinen empörte. Indem er der einseitigen Verstandesaufklärung gegenüber die Beteiligung des ganzen Menschen an den höchsten Fragen mit warmer Beredsamkeit zur Geltung brachte, wurde er ein Vertreter des praktischen Vernunftglaubens vor Kant. Besonders in Deutschland, in den Herzen Goethes, Kants, Fichtes, hat sein emphatischer Ruf einen lauten und andauernden Nachhall geweckt.

Siebentes Kapitel. Leibniz.

In den Altersgenossen Spinoza und Locke hatten die beiden Reihen der neueren Philosophie, die von Descartes ausgehende kontinentale und die an Baco anknüpfende anglikanische, die äußersten Punkte der Entfer- nung und Entgegensetzung erreicht. Jener war rationalistischer Pantheist, dieser empiristischer Individualist. Mit Leibniz tritt in zwiefacher Be- ziehung eine Annäherung ein. Als Rationalist steht er auf selten des Spinoza gegen Locke, als Individualist auf selten des Locke gegen Spinoza. Aber er hat den Rationalismus nicht nur vom Pantheismus losgelöst, sondern denselben auch durch die (schon durch seine historischen Neigungen ihm nahe gelegte) Anerkennung einer relativen Berechtigung der Empirie gemildert, indem er von den notwendigen Wahrheiten der Vernunft die tatsächlichen der Erfahrung unterschied, den letzteren in dem Satz vom Grunde ein eigenes Erkenntnisprinzip einräumte und die Empfindung zur unentbehrlichen Vorstufe des Denkens machte.

Die hierin sich kundgebende Tendenz eines gerechten Abwägens und

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Leibniz.

milden Versöhnens zwischen entgegengesetzten Standpunkten hat Leibniz auf allen Gebieten, denen er seine Tätigkeit zuwandte, bewährt. So auch auf religiösem: er hat an den Verhandlungen über die Wieder- vereinigung der protestantischen mit der katholischen Kirche, wie an denen über die Union der lutherischen und der reformierten Konfession lebhaften Anteil genommen. Selbst eine anregende Natur, bedurfte auch er der Anregung von außen. Er las erstaunlich viel und versicherte, kein Buch gefunden zu haben, das nicht irgend etwas Gutes enthielte. Mit der geschmeidigen Anfühlung an fremde Gedanken verband er eine ungemeine Kraft umwandelnder Aneignung, er las Besseres in die Bücher hinein, als darin stand. Die Vielseitigkeit seines Geistes war unbegrenzt: Jurist, Historiker, Diplomat, Mathematiker, Physiker, Philosoph, dazu fast noch Theolog und Philolog, ist er auf allen diesen Gebieten nicht bloß als Gelehrter heimisch gewesen, sondern hat auch überall durch originelle Gedanken und Pläne an der Weiterentwickelung mitgearbeitet. In solcher Vereinigung von produktivem Genie und Kenntnisreichtum stehen Aristoteles und Leibniz unerreicht da.

Gottfried Wilhelm Leibniz, geboren am 6. Juli 1646 in Leipzig, wo sein Vater (Friedrich Leibnütz, f 1652) Professor der Moralphilosophie und Notar war, besucht fünfzehnjährig die Universität seiner Vaterstadt, studiert als Hauptfach die Rechte, daneben mit nicht geringerem Eifer unter Jacob Thomasius (f 1684, dem Vater von Christian Thomasius) Philosophie und unter E. Weigel in Jena Mathematik, wird 1663 mit einer Dissertation De principio //za'zz^zVz«' Baccalaureus, 1664 Magister, 1666 in Altorf Doctor juris, schlägt die ihm dort angebotene außerordentliche Professur aus, macht in Nürnberg die Bekanntschaft des früheren kur- mainzischen Ministers Freiherrn v. Boineburg, geht nach kurzem Aufent- halt in Frankfurt a. M. nach Mainz an den Hof des Kurfürsten, auf dessen Wunsch er sich an der Verbesserung der Gesetzgebung beteiligt, schriftstellert dort über die verschiedensten Gegenstände und reist 1672 nach Paris, wo er, einen kurzen Aufenthalt in London abgerechnet, vier Jahre verweilt. Der eigentliche Zweck der Reise nach Paris Lud- wig XIV. zu einem Feldzug nach Ägypten zu überreden, um seine Eroberungsgedanken von Deutschland abzulenken bleibt unerfüllt, aber ihn fesselt der Umgang mit den dortigen Gelehrten, u. a. mit dem Mathe- matiker Christian Huygens (162g 95). Seit Ende 1676 bis zu seinem Tode (14. November 17 16) lebt Leibniz in Hannover, wohin er durch Johann Friedrich als Hofrat und Bibliothekar berufen worden. Dessen Nachfolger Ernst August, der nebst seiner Gemahlin Sophie und seiner Tochter Sophie Charlotte dem Philosophen großes Wohlwollen bezeigt, wünscht von ihm eine Geschichte des braunschweigischen Fürstenhauses geschrieben; eine diesem Zwecke dienende Studienreise dehnt sich bis Wien und Rom aus. Zurückgekehrt übernimmt er auch noch die Leitung

Leibniz.

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der Wolfenbüttler Bibliothek. Durch die Vermählung der Prinzessin Sophie Charlotte mit Friedrich von Brandenburg, dem ersten preußischen Könige, kommt Leibniz in engere Beziehungen zu Berlin Auf seine Anregung wird dort 1700 die Akademie (Sozietät) der Wissenschaften gestiftet, er selbst war ihr erster Präsident. In Charlottenburg arbeitet er an seinem Hauptwerk, den gegen Locke gerichteten Noiiveaux essais stir rentendement humain, deren Veröffentlichung damals wegen des in- zwischen eingetretenen Todes des Angegriffenen (1704) unterblieb und erst 1765 in der RASPEschen Sammlung erfolgte. Der Tod der preu- ßischen Königin 1705 unterbrach für mehrere Jahre die auf ihre Bitte tmternommene The'odice'e, die erst 17 10 erschien. In Wien, wo er sich 1713 1714 aufhielt, verfaßte er für den Prinzen Eugen eine kurze Darstellung seines Systems; dies war nach Gerhardt nicht der unter dem Titel „Monadologie" bekannte Abriß in neunzig Paragraphen, der in der Urschrift zuerst von JoH. Ed. Erdmann in seiner vorzüglichen Gesamtausgabe der philosophischen Werke des Leibniz 1840 veröffentlicht worden ist, sondern die zwei Jahre nach dem Tode des Verfassers in der L' Europe savante erschienenen „Prinzipien der Natur und der Gnade'". Während Ernst August, ebenso der deutsche Kaiser und Peter der Große, den für solche Ehren nicht unempfänglichen Philosophen durch Verlei- hung von Titeln und Würden auszeichnete, erkaltete das bis dahin so herzliche Verhältnis zum Hofe, seitdem der Kurfürst Georg Ludwig als Georg I. den englischen Thron bestiegen. Die Korrespondenz, die Leibniz mit dessen Schwiegertochter führte, gab den Anlaß zu dem durch seinen Tod unterbrochenen Briefwechsel mit Clarke, der gegen ihn die Theologie Newtons verteidigte. Der Prioritätsstreit zwischen Leibniz und Newton über die Erfindung der Differentialrechnung ist dahin entschieden worden, daß der letztere seine Fluxionsmethode früher gefunden, der erstere seinen Differentialkalkül früher und in vollkommenerer Form ver- öffentlicht hat. Die Vielgeschäftigkeit des Leibniz war der Ausgestaltung und Wirkung seiner Philosophie insofern ungünstig, als sie ihn an der systematischen Ausarbeitung seiner bahnbrechenden Gedanken hinderte und ihm nur für die Niederschrift kleinerer Abhandlungen Muße ließ. Außer den beiden oben angeführten größeren Werken, den Neuen Ver- suchen und der Theodizee, besitzen wir von Leibniz an philosophischen Arbeiten nur eine Reihe von Privatbriefen und von Aufsätzen für gelehrte Zeitschriften (das Journal des savants in Paris, die Acta eruditonim in Leipzig u. a.), unter welchen als besonders wichtig hervorgehoben sein mögen der nur für einen engeren Kreis bestimmte Discours de metaphysique 1Ö86, das „Neue System über die Natur und über die Mitteilung zwischen den Substanzen im allgemeinen und über die Verbindung von Leib und Seele im besonderen" 1695, dem im nächsten Jahre drei Erläuterungen folgten, und die Abhandlung De ipsa natura 1698.

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Leibniz.

Um die Herausgabe Leibnizischer Werke haben sich vor JOH. Erdmann (1840) verdient gemacht Feller, Kortholt, Gruber, Raspe, Dutens, Feder, Guhrauer (die deutschen Schriften 1838 40); nach ihm Pertz, Foucher DE Careil, Onno Klopp, L. Couturat {Opiiscules et fraginents inedits de Leibniz 1903) und nament- lich C. J. Gerhardt. Letzterer hat 1849 63 in sieben Bänden die mathematischen \ind neuerdings, Berlin 1875 90, in sieben Bänden die philosophischen Schriften herausgegeben. Im AGPh. (B. 4, S. 32of.) hat B. Erdmann eine dankenswerte Tabelle veröffentlicht, aus welcher ersichtlich ist, wo man das in der JOH. ERDMANNschen Ausgabe Gedruckte und nach ihr Zitierte bei Gerhardt zu suchen hat. Den Brief- wechsel (1889) und die Leibniz-Handschriften der Bibliothek zu Hannover (1895) ^^^ E. Bodemann beschrieben. Eine Lebensbeschreibung des L. besitzen wir von G. E. Guhrauer, Jubiläumsausgabe Breslau 1846. Für die philosophische Bibliothek hat SCHAARSCHMIDT die Noiiveaux essais 1873, v. KlRCHMANN die Theodizee und 26 von den kleineren Schriften 1879 übersetzt, eine Auswahl der letzteren hatte schon 1846 G. Schilling in deutscher Übertragung herausgegeben. Die Reclamsche Biblio- thek hat die kleineren Schriften und die Theodizee aufgenommen.

Über Leibniz: Karl Günther Ludovici, Ausführlicher Entwurf einer voll- ständigen Historie der leibnizschen Philosophie 1736 f. E. Pfleiderer, L. als Patriot, Staatsmann und Bildungsträger 1870. Fr. Kirchner, L.s Psychologie 1876. Jon. Theod. Merz, Leibniz 1884, deutsch 1886. Ludwig Stein, Leibniz und Spinoza, Berlin 1890, worin mit Benutzung vorher unedierten Materials die Beziehungen des Denkers zu Spinoza (den er auf der Heimreise von Paris im Haag besucht hat) er- örtert und der Versuch einer Entstehungsgeschichte der Monadenlehre bis 1697 unter- nommen wird. Der Entwickelung der leibnizischen Monadenlehre hatten schon vor- her S. Auerbach 1884, D. Selver 1885 und E. Wendt 1886 Arbeiten gewidmet. Über Ed. Dillmanns Neue Darstellung der Leibnizischen Monadenlehre 1891 siehe Max Schornstein, Erlanger Diss. 1894. R. v. Nostiz-Rieneck (Philos. Jahrb. 7, i) 1894 weist nach, daß L. die Scholastiker nur oberflächlich gekannt hat; dieselbe Frage behandelt Fritz Rintelen, L.s Beziehungen zur Scholastik (AGPh. Bd. 16) 1903. G. Wanke, Das Stetigkeitsgesetz bei L., Erlanger Diss. 1892. " VoLZ, Die Er- kenntnistheorie bei Leibniz und Kant, Rostock 1895. C. LÜLMANN, Leibniz' An- schauung vom Christentum (ZPhKr. Bd. iii) 1S97. H. BrÖMSE, Das metaphysische Kausalproblem bei Leibniz, Rostocker Diss. 1897. B. Frenzel, Der Assoziations- begriff bei Leibniz, Leipziger Diss. 1898. RuD. Hahn, Die Entwicklung der L. sehen Metaphysik und der Einfluß der Mathematik auf dieselbe, Hallenser Diss. (zugleich Beilage zum Programm des Gymn. in Torgau) 1899. H. Frank Rall, Der Leib- nizische Substanzbegriff, Halle 1899. W. Werckmeister, Der Leibnizische Substanz- begriff, Halle 1900. Anton Sticker, Die leibnizschen Begriffe der Perzepjion und Apperzeption, Bonn 1900. H. Hoffmann, Die Leibnizsche Religionsphilos. in ihrer geschichtlichen Stellung, Tüb. 1903.

G. Hartenstein, Über L.s Lehre von dem Verhältnis der Monaden zur Körper- welt (Historisch-philos. Abh., Lpzg. 1870, S. 469 537), widerspricht der herkömm- lichen idealistischen Deutung der L.schen Lehre, wonach die Körperwelt allein aus unausgedehnten einfachen Substanzen besteht, und sucht (vergeblich) nachzuweisen, für die Körper habe L. die ,, Voraussetzung eines materiellen Substrats niemals auf- gegeben"; vergl. W. VoLP, Die Phänomenalität der Materie bei L., Erlanger Diss. 1903. Auch Ed. V. Hartmann (Gesch. der Metaph. I S. 444 450) stimmt der rein idealistischen Auffassung des Systems nicht zu, sondern läßt in L.s Werken eine realistische und eine idealistische Gedankenströmung sich kreuzen und miteinander ringen; L. habe geglaubt, beide Seiten vereinigen zu können, aber die Absicht ihrer Verschmelzung sei gescheitert. Xach unserer Meinung jedoch dürfte L., wo er auch

Leibniz.

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noch in seiner monadologischen Periode Materie und Bewegung (sowie die Beziehungen der Monaden untereinander) als real behandelt, sich nur dem populären Bewußtsein resp. dem Sprachgebrauch der Physik anbequemt haben, ohne diesen realistischen Standpunkt ernstlich als letzte metaphysische Überzeugung oder als Moment derselben zu vertreten; so wie ja auch Lotze häufig die Sprache des physikalischen Realismus redet, ohne sich damit endgültig zu ihm bekennen zu wollen.

Ernst Cassirer, Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Mar- burg 1902, läßt die mathematisch-dynamischen Motive der Systembildung, die in den bisherigen Darstellungen zurückgedrängt waren, an die erste Stelle treten ; im Nach- trag kritisiert er die Werke von BERTRAND RusSELL, A critical exposition of the philosophy of Leibniz, Cambridge 19OO, und LouiS CÖUTURAT, La logique de Leibniz d^ apres des documents inedits, Paris 1901. In der Philos. Bibl. hat E. Cassirer Leibniz' Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übers, von A. BüCHENAU, mit Einleitungen und Erläuterungen herausgegeben, 2 Bände 1904.

In der Darstellung der Leibnizischen Philosophie gehen wir von den metaphysischen Grundbegriffen aus, lassen diesen die Lehre vom Leben- digen und vom Menschen (Erkenntnistheorie und Ethik) folgen und schließen mit den religionsphilosophischen Fragen.

1. Die Metaphysik: Monade, Vorstellung, vorherbestimmte Harmonie; Denk- und Weltgesetze.

Leibniz entwickelt seinen neuen Substanzbegriff, den der Monade 1, im Anschluß an und im Gegensatze zu dem cartesianischen und dem atomistischen. Die Cartesianer haben recht, wenn sie den Begriff der Substanz zum Angelpunkte der Äletaphysik machen und ihn durch den der Unabhängigkeit erläutern. Aber in der weiteren Bestimmung dieses letzteren Begriffs irrten sie. Nimmt man die Selbständigkeit im Sinne der Unbeschränktheit und Aseität, so darf man, wie Spinozas Beispiel zeigt, nur von einer Substanz, der göttlichen, reden. Soll die spino- zistische Konsequenz umgangen werden, so muß an die Stelle des un- abhängigen Seins das unabhängige T u n , an die Stelle der Selbständigkeit die Selbsttätigkeit gesetzt werden. Substanz ist nicht, was durch sich ist (sonst gäbe es keine endlichen Substanzen), sondern das, was durch sich handelt, oder was den Grund der Veränderung seiner Zustände in sich selbst hat. Die Substanz ist durch die tätige Kraft- zu definieren, worunter wir etwas anderes imd Besseres verstehen als die bloße Mög- lichkeit oder Fähigkeit der Scholastik. Die potentia sive facultas braucht, um zur Aktion zu gelangen, eine positive Reizung von außen, während

1 Den Ausdruck Monade, den Leibniz seit 1696 (an Fardella) gebraucht, hat er nach L. Steins Vermutung vom jüngeren (Franz Mercur) van Helmont entlehnt.

2 Schon Francis Glisson (1596 1677, Professor der Medizin in Cambridge und London) hatte in dem Traktat de naittra stibstaniiae energetica 1672 die Sub- stanzen als Kräfte gefaßt. Der von H. Marion (Paris 1880) behauptete Einfluß von Glisson auf Leibniz ist nicht erwiesen; vergl. L. Stein, S. 1S4.

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Leibniz.

die vis activa (gleich einem elastischen Körper) sich selbst in Bewegung setzt, sobald kein äußeres Hindernis entgegensteht. Substanz ist ein des Handelns fähiges Wesen {la siibstance est im ctre capable d'action). Mit der Gleichstellung von Tätigkeit und Existenz {cjuod non agit, non existii) ist den Einzeldingen die ihnen von Spinoza entrissene Substantialität wiedergewonnen: sie sind tätige, folglich, trotz ihrer Beschränktheit, substantielle Wesen [qtiod agit, est siibstantia singiilaris). Durch die innere Tätigkeit ist jedes Seiende ein bestimmtes, von anderen Seienden ver- schiedenes Individuum. Substanz ist kraftbegabtes Einzelwesen.

Die Atomisten haben recht, wenn sie zur Erklärung der erschei- nenden Körper einfache, unteilbare, ewige Einheiten fordern, denn alles Zusammengesetzte besteht aus Einfachem. Aber sie irren, wenn sie jene unsichtbar kleinen Korpuskeln, welche ihnen diesen Dienst leisten sollen, für unteilbar halten: alles Materielle, und wäre es noch so klein, ist ins Unendliche teilbar, sogar wirklich bis ins Endlose geteilt. Will man unteilbare Einheiten finden, so muß man ins Gebiet des Immateriellen über- treten und sich zu dem Gedanken entschließen, daß die Körper aus unkörperlichen Bestandteilen zusammengesetzt seien. Die physischen Punkte, die Atome, sind physisch, aber keine Punkte; die mathematischen Punkte sind unteilbar, aber nicht real; nur die metaphysischen oder substantiellen Punkte, die unkörperlichen seelenähnlichen Einheiten,, vereinigen in sich Unteilbarkeit und Realität: die Monaden sind die wahren Atome. Mit der Unteilbarkeit eignet ihnen die Ewigkeit: da es- unmöglich ist, daß sie durch Verbindung und Trennung von Teilen ent- stehen und vergehen, so können sie überhaupt nicht auf natürlichem Wege, sondern nur durch Schöpfung und Vernichtung ins Dasein ein- treten und aus demselben verschwinden. Mit der Unräumlichkeit oder Punktualität ist die Unmöglichkeit jedes Einflusses von außen gesetzt, die Monade entwickelt ihre Zustände aus ihrem eigenen Innern, bedarf keines anderen, ist sich selbst genug und verdient dieserhalb den ari- stotelischen Namen der Entelechie.

So laufen zwei Gedankengänge in dem Begriffe der Monade zu- sammen. Die beiderseitige Anregung dankbar anerkennend, hat Leibniz den Cartesianismus als das Vorzimmer der wahren Philosophie und die Atomistik als Vorbereitung zur Monadenlehre bezeichnet. Von dorther ergab sich, daß die Substanzen selbsttätige Kräfte, von hier, daß sie immaterielle Einheiten seien. Durch Zusammenstellung beider Bestim- mungen erhalten wir Aufschluß über die Art der Kraft oder Tätigkeit, die das Wesen der Monade ausmacht: die Monaden sind vorstellende Kräfte. Es gibt in der Welt nichts wahrhaft Wirkliches außer den INIonaden und ihren Vorstellungen.

Bei dem Vorstellen, in welchem Wesen und Tätigkeit der Monaden bestehen soll, darf man nicht sogleich an die bewußte Tätigkeit der

Metaphysik: die Monade. 2^0

menschlichen Seele denken. Vorstellung hat bei Leibniz eine weitere Bedeutung als die gewöhnlich mit dem Worte verbundene. Der für die Psychologie höchst wichtig gewordene Unterschied zwischen bloßer Vor- stellung und bewußter Vorstellung oder perception und apperception^ wird am besten durch das Beispiel vom Wellengeräusch erläutert. Das Gebrause, das wir in der Nähe des Meeresufers vernehmen, setzt sich aus den vielen Geräuschen der einzelnen Wellen zusammen. Jedes der Einzel- geräusche für sich ist zu klein, um gehört zu werden; dennoch muß es einen, wenn auch geringen, Eindruck auf uns machen, da sonst auch ihre Gesamtheit als eine Summe von lauter Nichtsen nicht gehört werden könnte. Die Empfindung, welche die Bewegung der einzelnen Welle verursacht, ist eine schwache, verworrene, unbewußte, unmerklich kleine Vorstellung {petite, itisensible perception), die der Vereinigung mit vielen gleichen kleinen Empfindungen bedarf, um eine starke und deut- liche zu werden oder um die Schwelle des Bewußtseins zu überschreiten. Das Geräusch der einzelnen Welle wird empfunden, aber nicht bemerkt, wird perzipiert, aber nicht apperzipiert. Diese dunklen Zustände des unbewußten Vorstellens, die sich im Geiste des Menschen neben denen des deutlichen Bewußtseins vorfinden, füllen auf der niedrigsten Daseins- stufe das ganze Leben der Monade aus. Es gibt Wesen, die sich niemals über den Zustand des tiefen Schlafes oder der Betäubung er- heben.

Gemäß jener umfassenderen Bedeutung wird die Vorstellung definiert als das Enthaltensein des Äußeren im Inneren, des Vielen im Einen (i-epraesentatio multitudinis in unitate). Das vorstellende Wesen trägt, un- beschadet seiner Einfachheit, eine Vielheit von Beziehungen zu äußeren Dingen in sich. Und was ist das Viele, das in dem Einen, der Monade, ausgedrückt, vor- oder dargestellt wird? Die ganze Welt. Jede Monade repräsentiert alle anderen in sich, sie ist ein konzentriertes All, das Universum im kleinen. Jedes Individuum enthält eine Unendlichkeit in sich {substantia infinitas actiones simul exercei), und eine höchste Intelli- genz, für welche jede dunkle Vorstellung sich sofort in eine deutliche verwandelte, vermöchte in einer einzigen JNIonas das ganze Weltall und das gesamte Weltgeschehen, alles was ist, was war und was sein wird, abzulesen; denn das Vergangene hat seine Spuren zurückgelassen, und

1 Gegen O. STAUDE (Der Begriff der Apperz., in WPhSt. I, S. 149 ff., 1881) hat |. Capesius (Der Apperzeptionsbegriff bei Leibniz, Progr. Hermannstadt 1894) nach- gewiesen, daß Apperzeption bei L. als Bewußtsein, bewußte Vorstellung, nicht als Selbstbewußtsein oder Reflexion zu fassen ist (trotz der Stelle Principes de la nähere § 4). Den Tieren wird zwar die reflexive Tätigkeit, auf der das Ichbewußtsein, das Denken, die Erkenntnis der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten beruht, aber nicht das bewußte Vorstellen, das s'appercevoir abgesprochen. Vergl. Nouveaux essais II, 21, § 5; Erdm. p. 261.

240

Leibniz.

die Zukunft bringt nichts, was nicht in der Gegenwart schon angelegt wäre: die Monade ist belastet mit der Vergangenheit und trägt das Künftige im Schöße. So ist jede Monade ein Spiegel des Universums ^ aber ein lebendiger {jniroir vivant de l'nnivers), der die Bilder der Dinge durch eigene Tätigkeit erzeugt oder aus inneren Keimen ent- wickelt, ohne einen Einfluß von außen zu erfahren. Die Monade hat keine Fenster, durch die etwas in sie hineinwandern oder von ihr aus- gehen könnte, sie ist in ihrem Handeln allein von Gott und sich selbst abhängig.

Alle Monaden stellen dasselbe Universum, aber jede stellt es ver- schieden, nämlich von ihrem besonderen Gesichtspunkte aus, vor, das Nahe deutlich, das Ferne verworren. Da sie sämtlich den gleichen In- halt oder Gegenstand abspiegeln, so fällt ihre Verschiedenheit allein in die Energie oder den Klarheitsgrad der Vorstellungen. Sofern nun ihr Tun im Vorstellen besteht, so fällt offenbar das deutliche Vorstellen mit voller, ungehemmter Tätigkeit, das unklare mit gehemmter Tätig- keit oder mit dem Leiden zusammen. Eine Monade ist um so tätiger, je klarer ihre Vorstellungen sind. Nur klare und deutliche Vorstellungen zu haben, ist das Vorrecht Gottes, für den Allgegenwärtigen ist alles gleich nah. Er allein ist reine Tätigkeit, alle endlichen Wesen aber sind zugleich leidend, nämlich soweit ihre Vorstellungen nicht klar und deut- lich sind. Mit Beibehaltung der aristotelisch-scholastischen Terminologie nennt Leibniz das tätige Prinzip Form, das leidende Materie und läßt die Monade, da sie nicht gleich Gott piiriis actus und reine Form ist, aus Form (Entelechie, Seele) und Materie bestehen. Diese Materie als Bestandteil der Monade bedeutet nicht etwa Körperlichkeit, sondern nur den Grund der Hemmung ihrer Tätigkeit. Die materia prima (das Prinzip des Leidens in der Monade) ist der Grund, die materia secimda

1 Man hat dem Leibniz nicht ohne Grund eingeworfen, daß für das Vorstellen der Monaden eigentlich gar kein Inhalt vorhanden sei, obwohl er ihm den reichsten, die ganze Welt, zu bieten scheine. Das „Alles", was er sie vorstellen läßt, ist selbst nichts anderes als eine Summe von ebenfalls vorstellenden Wesen. Das Objekt der Vorstellung sind lauter vorstellende Subjekte, die Monade A stellt die Monaden B bis Z vor, die auch weiter nichts tun, als sich gegenseitig vorzustellen. Die Monade spiegelt Spiegel wo ist das Ding, das gespiegelt wird ? Das Wesen der Substanz ist ein in Beziehung Stehen zu anderen, die selbst auch nur Beziehungs- punkte sind: wir kommen vor lauter Bezogenheiten zu keinem Realen. Was Leibniz selbst über diesen leeren Formalismus hinwegtäuschte, war wohl dies, daß ihm die bloße Form des Vorstellens sich sogleich mit einem mannigfaltigen Erfahrungsinhalt, mit dem ganzen Reichtum des Seelenlebens erfüllte und die quantitativen Unterschiede des Vorstellens,, die ihm zugleich Grade des Fühlens, Begehrens, Tuns und Fort- schreitens bedeuteten, unvermerkt die qualitative Lebendigkeit individueller Charaktere annahmen. Außerdem ist nicht zu übersehen, daß die geistigen Wesen nicht bloß das All, sondern auch die Gottheit, also ein sehr inhaltreiches Objekt, vorstellen.

Metaphysik: die Vorstellung.

241

(die Erscheinung der körperlichen Masse) die Folge der Undeutlichkeit der Vorstellungen. Denn als Körper erscheint eine Monadengruppe, wenn sie verworren aufgefaßt wird. Wer die Monade der Tätigkeit be- raubt, gerät in den Irrtum des Spinoza; wer ihr das Leiden oder die Materie wegnimmt, verfällt in den entgegengesetzten Irrtum, er vergöttert die Einzelwesen.

Keine Monade stellt das gemeinsame Universum und dessen einzelne Teile genau so gut vor, wie die anderen, sondern besser oder schlechter. Es gibt so viele Unterschiede der Klarheit und Deutlichkeit, als es Mo- naden gibt. Dennoch lassen sich einige Klassen festsetzen. Indem Leibniz zwischen dunklen und klaren Vorstellungen und innerhalb der letzteren zwischen verworrenen und deutlichen unterscheidet klar ist eine Vorstellung, wenn sie von anderen, deutlich, wenn auch ihre Bestandteile voneinander hinlänglich unterschieden werden , gelangt er zu drei Hauptstufen. Auf der untersten stehen die bloßen oder nackten Monaden, die es nie über unklare und unbewußte Vorstel- lungen hinausbringen und sozusagen ihr Lebtag in Ohnmacht oder im Schlummer liegen. Steigert sich die Vorstellung zur bewußten und von Gedächtnis begleiteten Empfindung, so verdient die Monade den Namen der Seele. Und wenn die Seele sich zum Selbstbewußtsein und zur Vernunft oder der Erkenntnis des Allgemeinen erhebt, heißt sie Geist. Die höhere Stufe begreift die niedere in sich, denn auch in den Geistern bleiben viele Vorstellungen dunkel und verworren. Darum war es ein Irrtum, wenn die Cartesianer das Denken oder die bewußte Tätigkeit, wodurch sich der Geist allerdings von den niederen Wesen unterscheidet, dergestalt zum Wesen desselben machten, daß sie ihm alle unbewußten Vorstellungen absprechen zu müssen glaubten.

Aus dem Vorstellen ergibt sich, nicht als selbständige Tätigkeit, sondern als Modifikation desselben, das Streben; es ist nichts anderes als die Tendenz, von einer Vorstellung zur anderen überzugehen {Tappetit est la tendance d'une perception ä iine autre), Trieb ist werdende Vorstellung. Wo die Vorstellungen bewußte, vernünftige sind, erhebt sich das Streben zum Willen. Alle Monaden sind selbsttätig oder handeln spontan, doch nur die denkenden sind frei. Freiheit ist die Spontaneität der Geister. Freiheit besteht nicht in der Willkür, sondern darin, daß ohne Zwang von außen gemäß dem Gesetze des eigenen, vernünftigen Wesens gehandelt werde.

Aus sich selbst, aus den ihre Natur bildenden Keimen, entwickelt die Monade ihre Vorstellungen. Die Übereinstimmung der verschiedenen Weltbilder aber hat ihren Grund in einer göttlichen Veranstaltung, ver- möge deren die Naturen der Monaden von Anfang an derart einander angepaßt worden sind, daß die Veränderung ihrer Zustände, obwohl sie sich in jeder nach immanentem Gesetz und ohne äußere Einwirkung voll-

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 16

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Leibniz.

zieht, genau parallel läuft und der Effekt derselbe ist, als ob ein bestän- diger gegenseitiger Einfluß stattfände. Eine spezielle Anwendung findet dieser allgemeine Gedanke der prästabilierten Harmonie auf das Problem der Wechselwirkung von Leib und Seele. Leib und Seele gleichen zwei Uhren, welche so vorzüglich gearbeitet sind, daß sie, ohne daß die eine nach der anderen reguliert zu werden brauchte, genau die gleiche Zeit angeben. Vor den unzähligen kleinen Wundern, welche der Okka- sionalismus der Gottheit aufbürdet, hat das eine große Wunder der vorausbestimmten Harmonie einen unleugbaren Vorzug. Als ein großes Wunder ist es der göttlichen Weisheit würdiger, als die vielen kleinen, ja es ist im Grunde gar kein Wunder, denn die Harmonie unterbricht nicht die Naturgesetze, sondern gibt sie. Der Gedanke läßt sich sogar aus der theologischen Einkleidung herausschälen und auf den rein meta- physischen Ausdruck bringen, daß die Naturen der Monaden, durch welche die Aufeinanderfolge ihrer Vorstellungen gesetzlich bestimmt ist, in nichts anderem bestehen , als in der Summe von Beziehungen, in welchen dieses Einzelding zu allen übrigen Teilen der Welt steht, wobei jedes Glied auf alle anderen Rücksicht nimmt und zugleich von ihnen berücksichtigt wird, also sowohl Einflüsse ausübt als empfängt. Damit ist die äußerliche Vorstellung eines künstlichen Anpassens vermieden. Das Wesen jedes Dinges ist eben die Stellung, die es in dem organischen Ganzen des Universums einnimmt; jedes Glied des Systems ist auf jedes andere bezogen, lebt wirkend und leidend das Leben aller übrigen mit. Das Weltgeschehen ist ein einziger großer Prozeß in unzähligen Spiegelungen.

Die Leibnizische Metaphysik beginnt mit dem Begriif der Vorstellung und schließt mit dem der Weltharmonie. Die Vorstellung war Mannig- faltigkeit (die unendliche Vielheit des Vorgestellten) in der Einheit (der vorstellenden Monade); die Harmonie ist Einheit (Ordnung, Übereinstim- mung des Weltbildes) in der Mannigfaltigkeit (der unendlichen Vielheit der Klarheitsgrade der Vorstellungen). Alle Monaden repräsentieren das- selbe Weltall, jede spiegelt es verschieden ab. Jene Einheit sowohl wie diese Verschiedenheit könnte nicht größer sein, als sie ist: jeder mögliche Deutlichkeitsgrad der Vorstellung ist in je einer Monade vertreten, und zugleich ist es ein einziger harmonischer Akkord, zu welchem die un- zähligen Stimmen zusammenklingen. Nun ist Ordnung des Verschiedenen, Einheit des Mannigfaltigen der Begriff" der Schönheit und Vollkommen- heit. Zeigt also diese Welt, wie sie es tut, die höchste Einheit in der höchsten Mannigfaltigkeit, so daß nichts fehlt und nichts zuviel ist, so ist sie die vollkommenste, die beste unter allen möglichen. Auch die niedrigsten Grade tragen zur Vollkommenheit des Ganzen bei, ihr Ausfall würde eine Lücke bedeuten, und wenn die unklaren und verworrenen Vorstellungen für sich betrachtet als Unvollkommenheiten erscheinen, so

Metaphysik: die prästabilierte Harmonie; die Schöpfung. 24^

sind sie es doch nicht für das Ganze; denn gerade darauf, daß die ]Monade in ihrem Vorstellen gehemmt ist oder leidet, d. h. sich nach den andern richtet, sich ihnen unterordnet, beruht die Ordnung und der Zusammenhang der Welt. So schlägt der Begriff der Harmonie die Brücke von der Monadologie zum Optimismus.

Wie wir in betreff der Harmonie des Weltalls eine halbmythische, erzählende Darstellungsform von einer rein begrifflichen Fassung unter- scheiden konnten, so ist dies auch bei der Lehre von der Schöpfung möglich. Diese wirkliche Welt ist als die beste unter vielen anderen denkbaren von Gott ausgewählt worden. Durch Gottes Willen erlangten diejenigen Monaden, aus denen sie besteht, ihre Wirklichkeit; als Möglich- keiten oder Ideen waren sie (gleichsam vor ihrer Verwirklichung) in Gottes Verstände vorhanden, und zwar mit allen den unterscheidenden Eigenschaften und Vollkommenheiten, die sie jetzt als realisierte zeigen, so daß ihr nur mögliches oder denkbares Wesen inhaltlich dasselbe ent- hielt, was das wirkliche enthält, und ihre Essenz durch die Existenz nicht verändert noch vermehrt worden ist. Da nun jeder möglichen Essenz der Drang zum Wirklichwerden innewohnt und ein desto be- rechtigterer, je vollkommener sie ist, so spielt sich vor Gott ein Wett- streit ab, in welchem zunächst diejenigen Monadenmöglichkeiten sich vereinigen, die miteinander verträglich oder zusammen möglich (kompos- sibel) sind, dann aber unter den verschiedenen denkbaren Monaden- kombinationen oder Welten diejenige zum Eintritt ins Dasein bestimmt wird, welche die größtmögliche Summe von Vollkommenheit darstellt. Es ist somit nicht die Vollkommenheit der einzelnen Monade, sondern die des Systems, von dem sie einen unentbehrlichen Teil ausmacht, welche bei ihrer Zulassung zur Existenz maßgebend war. Die beste der Welten wurde durch Gottes Weisheit erkannt, durch seine Güte erwählt, durch seine Macht realisiert. 1 Die Wahl ist nicht etwa willkürlich, sondern durchaus determiniert durch das Gesetz der Zuträglichkeit oder des Besseren {principe du meilleur); Gottes Wille muß das verwirklichen, was sein Verstand als das Vollkommenste erkennt. Man sieht sogleich, daß in der Konkurrenz der möglichen Welten der Sieg der besten, auch ohne göttliche Entscheidung, schon durch die lex melioris gesichert war.

Dieses Gesetz ist der speziellere Ausdruck eines allgemeineren, des Satzes vom zureichenden Grunde, den Leibniz den aristotelischen

1 Hinsichtlich der Abhängigkeit der Welt von Gott ist bei Leibniz ein ge\visser Zwiespalt zwischen dem metaphysischen Interesse der Substantialität der Einzelwesen, mit dem sich das moralische der Abwehr des Fatalismus verbindet, und dem ent- gegengesetzten religiösen Interesse bemerkbar. Einerseits ist ihm Schaffen nur ein Wirklichmachen fertiger und unveränderlicher Möglichkeiten, anderseits lehrt er mit den Philosophen des Mittelalters, es sei mit einem einmaligen Verwirklichungsakte nicht getan, die Welt bedürfe der Erhaltung, d. h. einer fortdauernden Schöpfung.

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Leibniz.

Denkgesetzen als gleichberechtigt hinzugesellt. Dinge oder Ereignisse sind wirklich (und Behauptungen wahr), wenn für ihr Sein und Sosein ein zureichender Grund vorhanden ist. Das prindpium rationis sn/ßcie7itis beherrscht unsere empirische Erkenntnis der zufälligen oder tatsächlichen Wahrheiten, wogegen die reine Vernunfterkenntnis der notwendigen oder ewigen (der mathematischen und metaphysischen) Wahrheiten auf dem principium contradictionis beruht. Der Satz des Widerspruchs besagt nämlich: was einen Widerspruch enthält, ist falsch oder unmöglich; was keinen, ist möglich; dasjenige, dessen Gegenteil einen Widerspruch ein- schließt, ist notwendig. Oder positiv, als Satz der Identität formuliert: jedes Ding und jeder Vorstellungsinhalt ist mit sich selbst identisch. ' Auf den Gegensatz der Denkgesetze des Widerspruches und des Grundes der übrigens nur für uns Menschen ein Gegensatz ist, während der göttliche Geist, der alles a priori erkennt, auch die faktischen Wahrheiten auf die ewigen -zurückzuführen vermag gründet Leibniz die Unter- scheidung einer zwiefachen Notwendigkeit. Metaphysisch notwendig ist das, dessen Gegenteil einen Widerspruch involviert, moralisch not- wendig oder zufällig das, was wegen seiner Zweckmäßigkeit seinem eben- falls denkbaren Gegenteil von Gott vorgezogen worden ist. Zur letzten Klasse gehört auch das physisch Notwendige: die Notwendigkeit der Naturgesetze ist nur eine (durch die Wahl des Besseren) bedingte, sie sind faktische oder zufällige Wahrheiten. Der Satz vom Grunde gilt sowohl für die wirkenden als für die Zweckursachen, und zwischen beiden Reichen findet nach Leibniz die vollkommenste Übereinstimmung statt. In der materiellen Welt muß alles Einzelne rein mechanisch erklärt werden, aber das Ganze der Naturgesetze, der allgemeine Mechanismus selbst kann nicht wiederum mechanisch, sondern allein aus Zweckmäßig- keitsgründen erklärt werden, so daß sich der mechanische Gesichtspunkt dem teleologischen ein- und unterordnet. So wird es verständlich, wenn Leibniz bei der ratio sufficiens in erster Linie die Zweckursachen im Auge hat.

Dem für das Leibnizische Denken charakteristischen Zuge ins Weite und Umfassende verdankt die Philosophie noch eine Reihe allgemeiner

1 Innerhalb der Vernunft- wie der Erfahrungserkenntnis wird weiter unterschieden zwischen unmittelbaren (keines Beweises bedürftigen) und abgeleiteten Wahrheiten. Die obersten Wahrheiten der Vernunft sind die identischen Sätze, die durch sich selbst einleuchten; aus diesen intuitiven Erkenntnissen sind alle übrigen durch Demon- stration abzuleiten, Beweisen ist Analysieren und als widerspruchsfrei Darlegen. Die ursprünglichen Wahrheiten der Erfahrung sind die unmittelbaren Tatsachen des Bewußtseins; was aus ihnen gefolgert wird, ist minder sicher als das demonstrative Wissen. Dennoch ist die Erfahrung nicht gering zu schätzen, durch sie allein kann man sich von der Wirklichkeit des Gedachten überzeugen, während die notwendigen Wahrheiten uns nur verbürgen, daß einem Subjekt (z. B. dem Kreise) ein bestimmtes Prädikat zukommen müsse, aber nichts darüber aussagen, ob jenes Subjekt existiere.

Denk- und Weltgesetze.

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Gesetze, die alle untereinander und mit dem monadologischen und harmonistischen Grundgedanken in engster Beziehung stehen: das Gesetz der Kontinuität, das der Analogie, das von der durchgängigen Verschieden- heit der Dinge oder der Identität des Nichtzuunterscheidenden, endlich das von der Erhaltung der Kraft.

Das fundamentalste dieser Gesetze ist die lex continui. Sie verbietet einerseits jeden Sprung, anderseits jede Wiederholung in der Reihe der Wesen und in der Reihe der Ereignisse. Lückenlos und ohne überflüssige Verdoppelung muß sich Glied an Glied anschließen, in der Stufenordnung der Kreaturen wie in dem Ablauf des Geschehens herrscht absolute Stetigkeit. So wie sich innerhalb der Monade unaufhörlich Zustand aus Zustand entwickelt, der gegenwärtige den kommenden gebiert, so wie er selbst aus dem vorhergegangenen heran s\Michs, nichts beharrt, nichts plötzlich und unvorbereitet eintritt und alle Extreme durch Mittel- glieder und allmähliche Übergänge verknüpft sind, so steht die Monade selbst in einer kontinuierlichen Stufenreihe von Wesen, von denen jedes mit jedem verwandt und jedes von jedem verschieden ist. Da die Wesen und die Begebenheiten eine einzige, ununterbrochene Reihe bilden, so gibt es in der Welt keine Art-, sondern nur Gradunterschiede. Ruhe und Bewegung sind keine Gegensätze, denn Ruhe läßt sich als unendlich kleine Bewegung in Rechnung bringen; Ellipse und Parabel sind nichts qualitativ Verschiedenes, denn die für jene geltenden Gesetze lassen sich auf diese übertragen. Gleichheit ist verschwindende Ungleichheit, das Leiden gehemmte Tätigkeit, das Schlechte ein geringeres Gutes, die verworrene Vorstellung nur eine minder deutliche, das Tier ein Mensch mit unendlich kleiner Vernunft, die Pflanze ein Tier mit verschwindendem Bewußtsein, die Flüssigkeit ein niedriger Grad der Festigkeit usw. In der ganzen Welt herrscht Ähnlichkeit und Übereinstimmung, es ist aller- orten so wie hier, zwischen dem scheinbar entgegengesetztesten findet bloß gradueller Unterschied und folglich Analogie statt. Im Makrokos- mus des Universums geht es ebenso her wie im ^Mikrokosmus der Monade; jeder spätere Weltzustand ist in dem früheren vorgebildet usw. Wenn sich aus dem Gesetz der Stetigkeit nach der einen Seite als Folge- satz das der Analogie ergibt, so nach der anderen Seite das principium (identitatis) indiscernibiliiim . Wie die Natur die Lücken haßt, so vermeidet sie auch das Überflüssige. Jeder Grad in der Reihe muß vertreten sein, aber jeder darf nur einmal vorkommen. Es gibt nicht zwei Dinge, nicht zwei Ereignisse, die einander völlig gleich wären. Wären sie genau gleich, so wären sie nicht zwei, sondern eins. Der Unterschied ist niemals ein bloß numerischer oder bloß lokaler und temporaler, sondern stets ein innerlicher: durch sein eigentümliches Wesen ist jedes Ding von jedem verschieden. Dieses Gesetz gilt sowohl für das wahrhaft Wirkliche (die Monaden) als auch für die Erscheinungswelt: man wird nie zwei einander

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Leibniz.

völlig gleichende Baumblätter finden. Durch das Gesetz von der Erhaltung der Kraft korrigiert Leibniz die cartesianische Lehre von der Erhaltung der Bewegung und nähert sich der heutigen Anschauung. Nach Descartes ist es die Summe der wirklichen Bewegung, die sich unverändert erhält, nach Leibniz die Summe der lebendigen Kräfte, nach der modernen Lehre die der lebendigen und der latenten oder Spannkräfte, ein Unterschied übrigens, von welchem Leibniz selbst schon Gebrauch macht.

Wenden wir uns von dem Formengerüste der allgemeinen Gesetze zu dem Wirklichen, das, ihnen gehorchend, den lebendigen Inhalt der Welt ausmacht.

2. Das Organische.

Das lebendige Wesen ist eine aus unendlich vielen Organen zusammen- gesetzte Maschine. Die natürlichen von Gott hervorgebrachten Maschinen unterscheiden sich von den künstlichen, durch Menschenhand verfertigten dadurch, daß sie bis in ihre kleinsten Teile hinab aus Maschinen be- stehen. Die Organismen sind Komplexe von Monaden, von denen eine, die Seele, die herrschende ist, während die übrigen ihr dienenden deren Leib bilden. Die herrschende Monade ist vor den sie als Leib um- gebenden durch die größere Deutlichkeit ihrer Vorstellungen ausgezeichnet. Allein in dieser Überlegenheit, daß sie die tätigere und vollkommenere ist und das klar spiegelt, was die Leibesmonaden nur dunkel vorstellen, besteht die Herrschaft der Seelenmonade. Eine unmittelbare Wechsel- wirkung zwischen Seele und Leib findet nicht statt, sondern nur eine von Gott eingesetzte durchgängige Übereinstimmung. Er sah voraus, daß die Seele in diesem Momente die Empfindung der Wärme haben oder eine Armbewegung ausgeführt wünschen würde, und hat die Ent- wickelungen der Leibesmonaden so angeordnet, daß sie im selben Augen- blicke jene Empfindung zu verursachen und diesem Bewegungsimpuls zu gehorchen scheinen. Da nun Gott bei jener Vorausberechnung und Akkommodation natürlicherweise mehr Rücksicht auf die Vollkommen- heiten, auf die tätigeren oder deutlicher vorstellenden Monaden als auf die minder vollkommenen genommen und jenen als Zwecken diese als Mittel und Bedingungen untergeordnet hat, so hat in der Tat die Seele vor der Schöpfung einen idealen Einfluß durch Gottes Verstand hin- durch — auf ihren Leib ausgeübt. Ihre Tätigkeit ist der Grund, wes- halb in unvollkommeneren Monaden eine bestimmte Veränderung, ein Leiden stattfindet, da sie nur hierdurch erreichbar, nur hiermit kompos- sibel war (vgl. die feine Untersuchung von Gustav Class, Die metaphys. Voraussetzungen des Leibnizischen Determinismus, Tübingen 1874).

Die Organismen. 247

Die den Leib konstituierenden Monaden sind für die Seele das nächste und direkte Objekt, sie perzipiert dieselben deutlicher, als sie, vermittels ihrer, die übrige Außenwelt vorstellt. Im Hinblick auf die hiermit ge- setzte engere Zusammengehörigkeit der Elemente des Organismus ver- stand sich Leibniz in den Verhandlungen mit dem Pater Des Bosses über die Vereinbarkeit der Monadologie mit der Kirchenlehre, insbe- sondere mit der realen Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahle, dem Dogma zu Liebe dazu, von der Voraussetzung, daß nur das Einfache substantiell sein könne, abzugehen und die Möglichkeit zusammenge- setzter Substanzen und eines die Teile des Lebewesens zusammen- haltenden „substantiellen Bandes" einzuräumen. Dabei erscheint es den sonstigen Überzeugungen des Philosophen am wenigsten widersprechend, wenn der Seele oder Zentralmonas selbst die Rolle jenes vincidum sub- stantiale erteilt wird.

Alles in der Natur ist organisiert, es gibt keine unbeseelten Körper, keine tote Materie. Das geringste Stäubchen ist noch von einer Menge lebendiger Wesen bevölkert, in dem winzigsten Wassertropfen wimmelt es von Organismen: jeder Teil der Materie ist einem Teiche voller Fische oder einem Garten voller Pflanzen vergleichbar. Die Leugnung des Un- organischen enthebt unseren Philosophen nicht der Pflicht, den Schein desselben zu erklären. Wenn wir die Körper denkend betrachten, so erkennen wir, daß es nichts Lebloses und Unvorstellendes gibt. Aber für unsere verworrene sinnliche Auffassung, welche die den Körper zu- sammensetzenden Monaden gleichzeitig perzipiert und sie als eine konti- nuierliche Einheit betrachtet, entsteht die Erscheinung der ausgedehnten Masse, Der Körper existiert nur als konfuse Vorstellung in dem empfin- denden Subjekte; da jedoch derselben außerhalb der Geister etwas Reales, nämlich ein immaterielles Monadenaggregrat, entspricht, so ist die Er- scheinung des Körpers eine wohlfundierte (^phaenoinenon bene fundahwi). Wie die Materie bloß etwas in der Empfindung oder verworrenen Vor- stellung Vorhandenes, so sind auch Raum und Zeit nichts Reales, weder Substanzen noch Eigenschaften, sondern nur etwas Vorgestelltes; jener die Ordnung der Koexistenz, diese die der Sukzession.

Gibt es keine unbeseelten Körper, so auch keine leibfreien Seelen; stets ist die Seele mit einem Aggregat von untergeordneten Monaden verbunden, allerdings nicht immer mit denselben. Beständig treten ein- zelne JNIonaden in ihren Leib oder in das Dienstverhältnis zu ihr ein, andere aus demselben aus; sie ist in unausgesetzter Umkörperung be- griffen. Für gewöhnlich geht der Wechsel langsam und unter beständigem Ersatz der ausgeschiedenen Teile von statten. Geschieht er schnell, so reden die Menschen von Tod und Geburt. Ein wirkliches Sterben gibt es so wenig, wie ein wirkliches Entstehen: nicht bloß die Seelen, sondern jedes Lebendige ist unvergänglich. Tod ist Verminderung

248

Leibniz.

und Einwickelung, Geburt ist Vergrößerung und Entfaltung {invohdion e'volution). Das sterbende Lebewesen verliert nur einen Teil seiner Leibesmaschine und kehrt so in den Schlummer- und Keimzustand der „Einfaltung" zurück, in dem es sich vor der Geburt befand, und aus welchem es durch die Empfängnis zur Entwickelung geweckt wurde. Den Tieren wie den Menschen muß man sowohl Prä- als Postexistenz zugestehen. Für diese Lehre, daß sämtliche Individuen, wenigstens als präformierte Keime, seit Weltanfang bestanden haben, bot sich in Leuwen- hoeks Entdeckung der Samentierchen eine willkommene Bestätigung. Von der Fortdauer aller Monaden unterscheidet sich die Unsterblichkeit des Menschen, seiner höheren Würde entsprechend, dadurch, daß ihm nach dem Tode die Erinnerung und das Bewußtsein seiner moralischen Persönlichkeit erhalten bleibt.

3, Der Mensch, sein Erkennen und Wollen.

Mit der Vernunft besitzt der Mensch Reflexion oder Selbstbewußt- sein sowie Erkenntnis Gottes, des Allgemeinen, der ewigen Wahrheiten oder apriorisches Wissen, während das Tier in seinem Vorstellen auf Erfahrung und in seinem Schließen auf gedächtnismäßige Vorstellungs- verknüpfung beschränkt ist. Von höheren Wesen unterscheidet sich der Mensch dadurch, daß die Mehrzahl seiner Gedanken verworren ist. Als verworrene Gedanken gelten dem Leibniz sowohl die sinnlichen Wahrnehmungen wer nur deutliche Gedanken hat, wie Gott, der hat keine Sinnesempfindungen als die zwischen jenen und den vollkommen deutlichen Vorstellungen des vernünftigen Denkens den Übergang bilden- den Gefühle. So beruht ihm die Freude an der Musik auf einem un- bewußten Zählen und Messen der harmonischen und rhythmischen Ver- hältnisse der Töne, überhaupt das ästhetische Wohlgefallen am Schönen und selbst die sinnliche Lust auf der verworrenen Auffassung einer Voll- kommenheit, Ordnung oder Harmonie.

Von größter Tragweite ist die Anwendung der lex continui auf das innere Geschehen. Die Hauptresultate sind: i. der Geist denkt immer; 2. jede vorhandene Vorstellung setzt eine frühere voraus, aus der sie entstanden; 3. Empfinden und Denken sind nur graduell verschieden; 4. den vernünftigen Vorstellungen gehen der Zeit nach sinnliche voran. Wir sind nie ganz ohne Gedanken, nur daß wir uns ihrer oft nicht bewußt werden. Hörte im tiefen Schlafe das Denken auf, so könnten wir erwachend keine Gedanken haben, da jede Vorstellung aus einer vorhergehenden, sei es auch unbewußten, entspringt.

In den gedankenvollen „Neuen Versuchen über den menschlichen Verstand" entwickelt Leibniz seine Erkenntnistheorie in Form eines

Erkenntnislehre.

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polemischen Kommentars zu Lockes Hauptwerk. ^ Nach Descartes sind einige Vorstellungen (die reinen Begriffe) angeboren, nach Locke keine, nach Leibniz alle. Oder: nach Descartes stammen einige Vorstellungen (die sinnlichen Empfindungen) von außen, nach Locke alle, nach Leibniz keine. Leibniz stimmt mit Descartes gegen Locke dafür, daß es einen ursprünglichen Vorstellungsbesitz des Geistes gibt; er stimmt mit Locke gegen Descartes dafür, daß die Gedanken später sind als die Empfindungen, die Erkenntnis des Allgemeinen später als die des Einzelnen. Die Ur- sprünglichkeit, welche Leibniz den Denkvorstellungen beilegt, ist eine andere als die, welche ihnen Descartes zu- und Locke abgesprochen hatte. Sie sind ursprünglich, sofern sie nicht von außen in die Seele hineinwandern oder ihr aufgeprägt werden; sie sind es nicht, sofern sie sich nur aus vorher vorhandenen Sinnes Vorstellungen entwickeln können; und sie sind es wiederum, sofern sie sich aus verworrenen Vorstellungen nur deshalb entwickeln können, weil sie schon impUcite oder als Anlage in ihnen enthalten sind. So kann Leibniz seinen beiden Vorgängern gleichzeitig bis zu einem gewissen Punkte recht geben, dem einen, daß die reinen Begriffe im Inneren des Geistes entspringen, dem anderen, daß sie nicht seine frühesten Erkenntnisse, sondern durch Empfindungen bedingt sind. Solche Synthese war jedoch nur möglich dadurch, daß Leibniz über die Empfindung anders dachte als beide. Soll die Em- pfindung die Mutter des Denkens sein und das letztere gleichwohl den Charakter des Ursprünglichen, d. h. nicht von außen her Erworbenen bewahren, so muß sie erstens ein unbewußtes Denken in sich tragen und muß zweitens selbst den Rang des Ursprünglichen und Spontanen erhalten. Wie das katholische Dogma der unbefleckten Empfängnis des Sohnes die sündenlose Empfängnis der Mutter hinzufügte, so überträgt Leibniz die von einer äußeren Einwirkung unabhängige (jungfräuliche) Entstehung des Vernunftbegriffs auf die Empfindung. Die Monade hat keine Fenster. Sie trägt alles, was sie erleben wird, keimhaft in sich, nichts wird ihr von außen eingedrückt. Nicht einer unbeschriebenen Tafel ist der Intellekt zu vergleichen, sondern einem INIarmorblock, in dessen Adern die Umrisse der Bildsäule vorgebildet sind. Eine Vor- stellung kann immer nur aus einer Vorstellung, nie aus einem äußeren Eindruck oder einer Bewegung körperlicher Teile entstehen. Somit sind alle Vorstellungen angeboren in dem Sinne, daß sie aus inneren Keimen erwachsen: wir besitzen sie von Anbeginn an, nicht ausgebildet {explicite), aber potentiell, d. h. wir haben die Fähigkeit, sie zu produzieren. Der alte scholastische Satz ist ganz richtig, daß „nichts im Verstände sei,

1 Eine sorgfältige Vergleichung der Lockeschen Erkenntnislehre mit Leibniz' Kritik hat G. Hartenstein geliefert: Abhandlungen der k. sächs. Ges. d. Wiss., Leipzig 1865, aufgenommen in HARTENSTEINS Histor.-philos. Abhandlungen 1870.

250 Leibniz.

was nicht vorher im Sinne war", nur muß man hinzufügen: ausgenommen der Verstand selbst, d. h. das Vermögen, unsere Erkenntnisse aus uns selbst zu entwickeln. In der Wahrnehmung schlummert bereits der Ge- danke. Mit dem mechanischen Gesichtspunkt (dem vernünftigen Denken geht als Bedingung das sinnliche Vorstellen voran) verbindet sich der teleologische (die sinnlichen Vorstellungen sind dazu da, um die Entstehung der Gedanken zu ermöglichen), und mit dieser Zweckbestimmung gewinnt die Empfindung eine höhere Würde: sie ist mehr, als man bisher in ihr gesehen, sie schließt den künftigen Verstandesbegriff in unbewußter Form in sich, ja sie selbst ist ein unvollkommener, ein werdender Ge- danke. Empfinden und Denken sind keine Artunterschiede, und wenn das erstere als ein Leiden bezeichnet wird, so ist doch Leiden eben nur verminderte Tätigkeit. Beide sind spontan, das Denken ist es bloß in höherem Grade.

Indem Leibniz Empfinden und Gefühl zur bloßen Vorstufe des Denkens macht, ist er der Begründer jenes Intellektualismus, der sich in Hegels System weit über das psychologische Gebiet ins Kosmische hinaus erstreckt und nicht nur alle seelischen Erscheinungen, sondern schlechthin alles Wirkliche als eine Entwickelung des Gedankens zu sich selbst zu begreifen sucht. Dieselbe Auffassung, die sich inhaltlich als intellektualistische charakterisiert, stellt sich nach der formellen Seite als quantitative Weltbetrachtung dar, welche alle qualitativen Gegensätze opfert, um die Gesamtheit des Seins und Geschehens in eine einzige, nur graduell abgestufte Reihe zu ordnen. Wenn Leibniz hier als Ver- treter einer Weltansicht erscheint, der in Kant ein starker und sieg- reicher Gegner erstand, so hat er anderseits durch seine Fassung der angeborenen Begriffe der Vernunftkritik vorgearbeitet. Als Erkenntnis- theoretiker bildet er den Übergang von Descartes zu Kant, indem er die notwendigen Wahrheiten dem Geiste nicht von Anfang an fertig und aktuell innewohnen, sondern erst bei Gelegenheit sinnlicher Er- fahrungen erzeugt oder ins Bewußtsein erhoben werden läßt. Übrigens ist einzuräumen, daß damit im Grunde nur die eigene Meinung des Descartes wiederhergestellt, d.h. von der Vergröberung und Entstellung befreit wurde, die sie bei Anhängern und Gegnern erfahren, und die er allerdings durch bündige Erklärungen von vornherein abzuschneiden unterlassen hatte. Der Urheber der Theorie von den an- oder einge- borenen Ideen hat sicher nicht gemeint, was Locke ihm unterschiebt, daß das Kind in der Wiege schon die Vorstellungen Gottes, des Denkens und der Ausdehnung in voller Klarheit besitze. Gleichviel aber, ob Leibniz den Descartes verbessert oder nur restituiert hat, jedenfalls war es ein bedeutender Fortschritt, daß Erfahrung und Denken in ein be- stimmteres Verhältnis gesetzt und diesem die produktive Kraft, jener die Veranlassung zur Erzeugung der Vernunftbegriffe gesichert wurde.

Ethik.

251

Die unbewußten oder kleinen Vorstellungen, die in der Erkenntnis- lehre zur Entkräftung der Lockeschen Einwürfe gegen das Angeboren- sein der Vernunftprinzipien gedient hatten, werden in der Ethik gegen den Indeterminismus ins Feld geführt. Sie sind überall dort im Spiele, wo wir grundlos, aus reiner Willkür oder den vorhandenen Motiven ent- gegen zu handeln glauben. Im letzteren Falle ist eine an sich sehr starke Triebfeder durch die vereinigte Gewalt vieler an sich schwächerer besiegt worden. Der Wille ist stets determiniert, und zwar durch eine (Zweck-) Vorstellung, die meist sehr zusammengesetzter Natur ist, und innerhalb deren die stärkere Seite den Ausschlag gibt. Ein abso- lutes Gleichgewicht der Motive ist unmöglich: die Welt läßt sich nicht in zwei ganz gleiche Teile zerlegen (gegen Buridans Esel), Ein vms \öllig zu durchschauen fähiger Geist vermöchte alle unsere Willensakte und Taten vorauszuberechnen.

Trotz dieser zugestandenen Unausbleiblichkeit unserer Entschlüsse und Handlungen soll ihnen das Prädikat der Freiheit gebühren. Aus zwei Gründen. Erstens sind sie nur physisch oder moralisch notwendig, nicht metapliysisch notwendig; sie können zwar tatsächlich nicht anders ausfallen, aber ihr Gegenteil schließt keinen logischen Widerspruch in sich und bleibt denkbar. Zum Ausdruck dieses Gedankens ist die häufig nachgesprochene Formel, daß die Impulse den Willen nur geneigt machen, anlocken oder reizen, nicht zwingen {inclinant, non necessitani), wenig glücklich gewählt. Zweitens ist die Determination des Willens eine innere, in der eigenen Natur des Wesens gelegene Nötigung, kein äußerer Zwang. Der Handelnde bestimmt sich selbst gemäß seinem eigenen Wesen, für dieses aber trägt jeder selbst die Verantwortung, denn Gott hat die Naturen der Monaden, als er sie aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit überführte, so gelassen, wie sie vor der Schöpfung als ewige Ideen in seinem Verstände wohnten. Wenn Leibniz hiermit die Grenz- linie zwischen seiner deterministischen Lehre und dem „Fatalismus" des Spinoza gezogen haben will, so kennt er noch einen zweiten Freiheits- begriff, der sich vollkommen mit dem des Spinoza deckt. Ein Entschluß ist um so freier, je deutlicher die ihn bestimmenden Vorstellungen, und ein Mensch um so freier, je mehr er seinen Willen dem Einfluß der Leidenschaften, d. h. der verworrenen Ideen, entzieht und dem der Ver- nunft unterstellt. Absolut frei ist allein Gott, weil er keine anderen Vorstellungen als deutliche hat. Die Brücke zwischen den beiden Frei- heitsbegriffen wird durch den Satz hergestellt, daß die Vernunft in höherem Grade die „eigene" Natur des Menschen ausmache, als die Gesamtheit seiner Vorstellungen; denn jene ist es, die ihn vor niederen Wesen auszeichnet. In der ersten Bedeutung der Freiheit ist der Mensch frei, in der zweiten, wonach sie mit Tätigkeit, Vollkommenheit, Sittlich- keit zusammenfällt, soll er es werden.

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Leibniz.

Moralität ist das Ergebnis der natürlichen Entwickelung des Indivi- duums. Jedes Wesen strebt nach Vollkommenheit oder gesteigerter Tätigkeit, d, h. nach deutlicheren Vorstellungen. Mit diesem theoretischen Fortschritt geht parallel ein praktischer in doppelter Form: die zuneh- mende Deutlichkeit der Vorstellungen oder Aufklärung oder Weisheit veredelt den Trieb nach vorübergehendem Sinnengenuß zu einem Triebe nach dauernder Freude an unserer geistigen Vollkommenheit oder nach Glückseligkeit, und erööhet ferner die Einsicht in den Zusammenhang aller Wesen und in die Harmonie der Welt, vermöge deren der Tugend- hafte außer seiner eigenen Vollkommenheit und Glückseligkeit zugleich die der anderen zu fördern suchen, d. h. sie lieben wird, denn lieben heißt- an fremdem Glücke Vergnügen finden. Das Wohl aller fördern bedeutet aber soviel als zur Weltharmonie das Seine beisteuern und an der Verwirklichung von Gottes Zwecken mitarbeiten. Rechtschafifenheit und Frömmigkeit sind dasselbe. Sie bilden die höchste von den drei Stufen des natürlichen Rechtes, die Leibniz unterscheidet (Erdm. 119, Gerh. III 387) als das ins stridum (das strenge Recht, mit dem Grund- satz: verletze niemand), die aequitas (Billigkeit oder Liebe, mit dem Wahlspruch: jedem das Seine) und d\Q probitas vel pietas (die mit Reli- giosität verbundene Ehrenhaftigkeit, nach der Forderung: führe ein wohl- anständiges und sittlich reines Leben). Sie können auch bezeichnet werden als kommutative, distributive und universelle Gerechtigkeit. Eine Bedingung der letzteren ist der Gottes- und Unsterblichkeitsglaube.

4. Theologie und Theodizee.

Gott ist Grund und Zweck der Welt. Alle Wesen streben zu ihm hin, wie sie von ihm ausgegangen sind. Im Menschen steigert sich das allgemeine Streben nach dem Vollkommensten zur bewußten Liebe Gottes, welche durch die Erkenntnis Gottes bedingt ist und pflichtmäßiges Han- deln zur Wirkung hat. Aufklärung und Tugend sind die wesentlichen Bestandteile der Religion, alles Übrige, wie Kultus und Dogma, hat nur einen abgeleiteten Wert. Die gottesdienstlichen Zeremonien sind ein un- vollkommener Ausdruck des praktischen Momentes der Frömmigkeit, wie die Glaubenslehren eine schwache Nachahmung des theoretischen. Es widerspricht durchaus der Absicht des göttlichen Lehrmeisters, wenn dunkle Formeln und Zeremonien, die mit der Tugend nichts zu tun haben, zur Hauptsache gemacht werden. Das, worin die Bekenntnis- formeln übereinstimmen, ist wichtiger, als das, wodurch sie sich unter- scheiden. Die natürliche Religion hat ihren vollkommensten Ausdruck im Christentum gefunden, obwohl auch Heidentum und Judentum Teile der Wahrheit ergriffen hatten. Den Heiden ist die Seligkeit unverwehrt.

Theologie.

253

denn sittliche Reinheit genügt, um der Gnade Gottes teilhaft zu werden. Die jüdische Religion hat den Monotheismus, der unter den Heiden wohl bei einzelnen Philosophen vorkam, aber nie populär war, zum Ge- setz erhoben, aber es fehlte der Unsterblichkeitsglaube. Das Christen- tum machte die Religion der Weisen zu der des Volkes.

Was an positiven Sätzen in der Offenbarung zu der natürlichen Reli- gion hinzukam, übersteigt wohl die Vernunft, aber es widerstreitet ihr nicht. Sie enthält keine widervernünftigen Sätze (solche, deren Gegenteil bewiesen werden kann), wohl aber übervernünftige, d. h. solche, welche die Vernunft ohne fremde Hilfe nicht hätte finden können, und die sie nicht völlig zu begreifen, aber doch annähernd zu verstehen und gegen Einwürfe zu verteidigen vermag. So ist Leibniz für die Trinität, die er auf Gottes Macht, Verstand und Willen deutet, für die Ewigkeit der Höllenstrafen (was ihm das Lob Lessings eintrug) und andere Dogmen eingetreten. Auch die Wunder gehören zu den Dingen, bei welchen wir zwar nicht das wie und warum, wohl aber das daß und was zu erfassen imstande sind. Da die Naturgesetze nur physisch oder bedingt not- wendig, d. h. nur wegen ihrer Tauglichkeit für die Zwecke Gottes erlassen worden sind, so kann in einzelnen Fällen, wo ein großer Zweck es ver- langt, ihre Geltung aufgehoben werden.

Während die positiven Glaubenslehren nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden können, gestatten die Sätze der natürlichen Reli- gion eine strikte Demonstration. Die vorhandenen Beweise fürs Da- sein Gottes sind brauchbar, bedürfen jedoch einer Verbesserung. Das ontologische Argument des Descartes, daß aus dem Begriffe des alier- vollkommensten Wesens seine Existenz folgt, ist richtig, sobald der Begriff Gottes als möglich oder widerspruchsfrei dargetan wird. Der kosmo- logische Beweis lautet: die möglichen Wesen weisen auf ein notwendiges, durch sich selbst existierendes hin, im besondern setzen die ewigen Wahr- heiten einen ewigen Verstand voraus, in welchem sie existieren. Fragt man, warum überhaupt Etwas und warum gerade diese Weit existiert, so läßt sich dieser letzte Grund der Dinge nicht innerhalb der Welt antreffen. Jedes zufällige Ding oder Ereignis hat seine Ursache in einem anderen. Wie weit man nun auch die Reihe der Bedingungen verfolge, nie gelangt man zu einer letzten, unbedingten Ursache. Folglich kann der zureichende Grund jener Reihe nur außerhalb der Welt gelegen und, wie aus der Harmonie der Dinge einleuchtet, nur ein unendlich weises und gütiges Wesen sein. Hier greift der teleologische Beweis ein: aus der Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung schließen wir auf ein zwecksetzendes und das Beste wollendes und ausführendes Wesen als Welturheber, auf die höchste Intelligenz, Güte und Macht des Schöpfers. Eine besondere Beweiskraft erwächst dieser Betrachtung aus dem System der prästabilierten Harmonie: es ist ersichtlich, daß die vollkommene

254

Leibniz.

Übereinstimmung der vielen, durch keine direkte Wechselwirkung mit- einander verbundenen Substanzen nur von einer gemeinsamen und mit unendlicher Intelligenz und Kraft begabten Ursache herrühren kann.

Mit der Beweisbarkeit der Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes und der Unwiderlegbarkeit der positiven Dogmen ist die Über- einstimmung von Glaube und Vernunft, die Bayle geleugnet hatte, gerettet. Diesem Thema ist der Schluß der neuen Versuche und die erste Abhandlung der Theodizee gewidmet. Die zweite gibt, gleichfalls gegen Bayle, die Rechtfertigung Gottes wegen der Übel in der Welt. Si deus est, iinde mahim? Der Optimismus hat sich mit den Erfahrungs- tatsachen auseinanderzusetzen und zu zeigen, daß diese Welt trotz der unleugbaren Unvollkommenheiten doch die beste sei. Gewiß hätte Gott eine Welt verwirklichen können, in der es weniger Unvollkommenheit gab, als in der unsrigen, dieselbe würde aber zugleich weniger Voll- kommenheiten enthalten haben. Ganz ohne Übel, ohne Beschränktheit kann eine Welt überhaupt nicht sein: wer Gott verbietet, unvollkommene Wesen zu schaffen, der verbietet ihm , überhaupt eine Welt zu schaffen. Gewisse Übel allgemein gesprochen: das Übel der Endlichkeit sind vom Begriff der Kreatur schlechthin untrennbar, allem Geschaffenen haftet als solchem etwas Unvollkommenes an. Andere Übel hat er deshalb zugelassen, weil nur durch sie gewisse höhere Güter, auf die nicht verzichtet werden sollte, durchsetzbar waren. Man denke an die gehobenen Empfindungen, die edlen Entschlüsse und großen Taten, zu denen der Krieg Anlaß gibt, an die Begeisterung, die Opferbereitschaft und den Todesmut der Nation dies alles würde preisgegeben werden, wenn der Krieg um der Leiden willen, die er ebenfalls im Gefolge hat, aus der Welt herausgenommen würde.

Wenden wir uns von den allgemeinen Grundsätzen zu der Aus- führung im einzelnen, so wird der Beweis der Unvermeidbarkeit oder Heilsamkeit für jede der drei Klassen der Übel gesondert geführt, für das metaphysische Übel der Kreatürlichkeit, das physische des Leidens (und der Strafe) und das moralische der Sünde. Das metaphysische Übel ist absolut unvermeidlich, wenn überhaupt eine Welt existieren soll; ein geschaffenes Wesen kann ohne Unvollkommenheit, Endlichkeit, Beschrän- kung gar nicht gedacht werden, es kann nicht lauter Götter geben. Das physische Übel des Elends findet seine Rechtfertigung darin, daß es dem Guten dient. Zunächst ist die Zahl der Leiden tatsächlich nicht so groß, wie es den unzufriedenen Gemütern erscheint. Gewöhnlich ist das Leben ganz leidlich und gewährt mehr Freude und Annehmlichkeit, als Kummer und Beschwerde; namentlich darf man bei der Abwägung der Güter und Übel nicht vergessen, die Lust der Tätigkeit, der Ge- sundheit und alles dasjenige , was uns vielleicht kein nierkliches Vergnügen bereitet, dessen Beraubung aber als Übel empfunden werden würde

Theodizee.

255

(Theod. II § 251), auf der positiven Seite mit in Rechnung zu bringen. Die meisten Übel dienen dazu, uns ein viel gröiäeres Gut zu verschaffen oder ein noch größeres Übel abzuwenden. Würde ein tapferer Feldherr, vor die Wahl gestellt, entweder ohne Wunde, aber auch ohne Sieg aus der Schlacht hervorzugehen, oder mit einer Blessur den Sieg zu erkaufen, einen Augenblick zaudern, sich für das letztere zu entscheiden? Andere Schmerzen wiederum müssen als Strafe für Sünden und als Mittel der Besserung angesehen werden; der Gottergebene darf sicher sein, daß die ihm begegnenden Leiden ihm zum Besten ausschlagen. Blickt man vollends auf das Weltganze, so zeigt sich, daß die Summe der Übel neben der der Güter verschwindet. Es ist verkehrt, das Glück der Menschen als den Zweck der Welt zu betrachten. Sicherlich hat Gott auch die Glück- seligkeit der vernünftigen Wesen im Auge gehabt, aber nicht sie aus- schließlich, denn sie bilden nur einen Teil der Welt, wenn auch den vortrefflichsten. Vielmehr geht die Absicht Gottes auf die Vollkommen- heit des ganzen Weltsystems. Nun fordert die Harmonie des Universums, daß alle möglichen Grade der Realität vertreten seien, daß es auch un- deutliche Vorstellungen, Sinnlichkeit und Leiblichkeit gebe, nicht bloß ein Geisterreich, hiermit aber sind unvollkommene Zustände, Unlustgefühle, theoretische und moralische Irrtümer unvermeidlich gegeben. Der Zu- sammenhang und die Ordnung der Welt verlangt ein materielles Element in der Monade, ein leidloses Glück aber kann nie das Los eines mit einem Körper verbundenen Geistes sein. Was drittens das moralische Übel angeht, so begegnet uns hier abermals die Versicherung, daß die Summe des Bösen viel geringer sei als die des Guten. Sodann wird das sittliche Übel an das metaphysische angeknüpft: die Kreatur kann nicht schlechthin vollkommen, also auch nicht moralisch vollkommen oder sündenlos sein. Dafür gibt es aber auch kein Wesen, das absolut un- vollkommen, durchaus nur böse wäre. Hieran schließt sich der schon von früheren Philosophen her bekannte Gedanke, daß das Böse nichts Wirkliches sei, sondern nur Beraubung, Abwesenheit des Guten, Mangel an Vernunftklarheit und Willenskraft. Was an der schlechten Handlung real ist, die Kraft des Handelns, das ist vollkommen und gut, und stammt, als Kraft, von Gott, das Negative oder Schlechte daran stammt von dem Handelnden selbst: so wie bei zwei gleich großen, aber ungleich be- lasteten Schiffen, die der Fluß mit sich fortführt, die Schnelligkeit vom Flusse, die Langsamkeit von der eigenen Last des Fahrzeuges herrührt. Nicht Gott ist schuld an der Sünde, denn er hat sie bloß zugelassen, nicht direkt gewollt, und der Mensch war schon böse, bevor er geschaffen wurde. Daß Gott voraussah, der Mensch werde sündigen, zwingt diesen nicht, die böse Tat zu begehen, sondern diese folgt aus seinem (ewigen) Wesen, das Gott unverändert ließ, als er ihm das Dasein bewilligte. Schuld und Verantwortung fällt ganz auf den Sünder selbst. Die Zu-

256 I^iE Zeitgenossen des Leibniz.

lassung des Bösen erklärt sich aus den überwiegend guten Folgen, die sich daraus (nicht, wie beim physischen Übel, für den Leidenden selbst, sondern für andere) ergeben: aus dem Verbrechen des Sextus Tarquinius ist ein großes Reich mit großen Männern entsprungen (vergl. den schönen Mythus im Anschluß an einen Dialog des Laurentius Valla, Theod. II 413 416). Schließlich wird wiederum auf den Beitrag des Übels zur Vollkommenheit des Ganzen hingewiesen. Das Böse hat in der Welt dieselbe Aufgabe, wie in einem Musikstück die Dissonanzen oder in einem Gemälde die Schatten: durch den Kontrast wird die Schönheit gehoben. Das Gute bedarf einer Folie, um deutlich hervorzutreten und in seiner vollen Herrlichkeit empfunden zu werden.

Am wenigsten befriedigt in der Leibnizischen Theodizee die Recht- fertigung des moralischen Übels. Man vermißt den von Hegel in groß- artiger, von Fechner in sinniger Weise vertretenen Gedanken, daß das Gute nicht die Blüte einer stillen, unbehelligten Entwickelung, sondern die Frucht angestrengter Arbeit sei, daß es seines Gegenteils bedürfe, daß es nicht bloß im Kampfe gegen das Böse außer und in dem Han- delnden sich bewähren müsse, sondern überhaupt nur durch jenen Kampf errungen werden könne. Zur Tugend gehört außer der Reinheit auch Kraft des Willens, und die Kraft gewinnt sich allein am Widerstände. Mehr Beistimmung, als die bedenkliche Anwendung der quantitativen Weltansicht auf das ethische Gebiet, welche in dem Bösen nur ein un- ausgewachsenes Gutes erblickt, verdient die Beurteilung des Leidens, obwohl auch die Bedeutung des Schmerzes nicht in voller Tiefe ge- würdigt wird. Jedenfalls aber ist das Mitleid, mit dem der Pessimismus auf den „seichten" Leibniz herabblickt, höchst ungerechtfertigt.

Achtes Kapitel. Die deutsche Aufklärung.

1. Die Zeitgenossen des Leibniz.

Die Zeit zwischen Kepler und Leibniz war für Deutschland arm an nennenswerten philosophischen Erscheinungen. Der Physiker Christoph Sturm 1 in Altorf (f 1703) ist Anhänger des Descartes, Joach. Jungius- (t 1657) Anhänger des Baco, ohne, wie dieser, den Wert der mathema-

1 Chr. Sturm: Physica conciliatrix 1687; Physica eiectiva, Bd. i 1697, Bd. 2 mit Vorrede von Chr. Wolff 1722; Compendhcni universalium seil nietaphysica euclidea.

2 J. Jung: Hamburgische Logik 1638; über ihn GUHRAUER 1850.

PUFENDORF, ThOMASIUS.

257

tischen Methode für die Naturerkenntnis zu verkennen. Hieron. Hirn- haym, Abt in Prag (Die Pest des menschlichen Geschlechtes oder die Eitelkeit der menschlichen Wissenschaften 1676), erklärt den Wissensdurst seines Zeitalters für eine gefährliche Krankheit, das Wissen für unsicher, da auf die Sinneswahrnehmung kein Verlaß sei und die Prinzipien des Denkens den Glaubenslehren widersprechen, und für schädlich, da es zum Heile nichts beitrage, sondern hochmütig mache und von der Frömmig- keit abziehe, die göttliche Autorität für den einzigen Hort des Menschen und das sittliche Leben für die wahre Wissenschaft. Neben solchem Skeptizismus vertritt sein Zeitgenosse, der Arzt und Dichter Angelus Silesius (Joh. Scheffler f 1677; über ihn Seltmann, Breslau 1896), die Mystik. Der Naturrechtslehrer und Historiker Sam. Pufendorf ^ (1632 bis 1694, Professor in Heidelberg und Lund, gest. in Berlin) geht auf eine Vermittelung zwischen Grotius und Hobbes aus. Das Naturrecht ist demonstrabel, sein Realgrund der Wille Gottes, sein Erkenntnisgrund (nicht die Offenbarung, sondern) die Vernunft und die Beobachtung der (geselligen) Natur des Menschen, das Fundamentalgesetz die Beförderung des allgemeinen Besten. Der einzelne darf in der Befriedigung seines Selbsterhaltungsstrebe ns die Interessen der Gesellschaft nicht verletzen, weil die seinigen die Geselligkeit und somit die Respektierung ihrer Be- dingungen fordern.

An den letztgenannten schUeßt sich an Christian Thomasius^ (1655 1728, seit der Gründung der Universität Halle 1694 Professor der Rechte daselbst), der erste Dozent, der es wagte in Leipzig seit 1687 Vorlesungen in deutscher Sprache zu halten, zugleich Heraus- geber der ersten deutschen gelehrten Zeitschriften (Teutsche Monate, Ge- schichte der Weisheit und Torheit). In Thomasius treten zuerst mit voller Entschiedenheit die charakteristischen Züge der deutschen Aufklärung hervor: Vermeidung des Schulmäßigen in Ausdruck und Beweisführung, direkte Beziehung des Wissens auf das Leben, nüchterne Verständigkeit des Denkens, sorgloser Eklektizismus, die Forderung religiöser Duldung. Die Philosophie soll allgemeinverständUche und praktisch nützliche Welt- (nicht Gottes-) Weisheit sein, ihre Form freies und geschmackvolles Raisonnement, ihr Gegenstand der Mensch und die Moral, ihre nächste Aufgabe Bildung, nicht Gelehrsamkeit, ihr höchster Zweck die Glückselig- keit, ihr Organ und der Prüfstein jeglicher Wahrheit der gesunde Men-

1 Pufendorf: Elemente der allgemeinen Rechtswissenschaft 1660; Über die \'er- fassung des deutschen Reiches, unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano, 1667, deutsch von Bresslau 1870; Über das Natur- und Völkerrecht 1672, ein Aus- zug daraus: Über die Pflicht des Menschen und Bürgers 1673.

^ Thomasius: Drei Bücher der Institutionen der göttlichen Jurisprudenz 1688; Grundlagen des Natur- und Völkerrechts 1705, beide lateinisch; deutsch erschienen 1691 1696 Einleitung und Ausführung der Vernunft- und Sittenlehre. Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 17

258 Tschirnhausen.

schen\-erstand. Wahre Erkenntnis erwirbt nur, wer seinen Verstand von Vorurteilen säubert und allein aus eigener Einsicht urteilt; das Glück der Gemütsruhe wird keinem zuteil, der nicht sein Herz \on törichten Be- gierden und heftigen Leidenschaften befreit und es der Tugend, der „vernünftigen Liebe" widmet. Geringeres Interesse als dieser für die Folgezeit vorbildliche allgemeine Standpunkt des Thomasius haben seine positiven Lehren. Er teilt die praktische Philosophie in das Naturrecht, welches vom iustum, die Politik, welche vom decorum, und die Ethik, welche vom honestmn handelt. Die Gerechtigkeit befiehlt: tue keinem anderen, was du nicht willst, daß dir geschehe; die Wohlanständigkeit: tue anderen, was du willst, daß sie dir tun; die Ehrbarkeit oder Sitt- lichkeit: tue dir selbst, was du willst, daß andere sich tun. Die beiden ersten Gesetze beziehen sich auf den äußeren, das dritte auf den inneren Frieden; die Rechtspflichten sind erzwingbar, die sittlichen nicht.

War Thomasius der Anführer jener Popularphilosophen, welche, unbekümmert um systematischen Zusammenhang, jedes Problem einzeln vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes verhandelten und darin, daß sie sich keiner philosophischen Sekte zugesellten, ehie hinreichende Garantie für die Vorurteilslosigkeit und Unparteilichkeit ihrer Erwägungen erblickten, so wurde der Spinoza und Leibniz befreundete Graf Walter v. Tschirnhausen (1651 1708; Medidna mentis sive artis inveniendi praecepta generalia 1687) das Vorbild einer anderen Gruppe von Aufklänmgsphilosophen, die in einem mehr wissenschaftlichen Sinne dem Eklektizismus huldigten, indem sie von methodologischen Überlegungen aus den Gegensatz des Rationalismus und Empirismus zu überwinden versuchten. Fest überzeugt von der Bündigkeit und Unentbehrlichkeit des mathematischen Verfahrens auch in philosophischen Untersuchungen, hält Tschirnhausen es doch für unerläßlich, daß die Deduktionen einerseits ihren Ausgang von empirischen Tatsachen nehmen, anderseits durch Experimente bestätigt werden. Die innere Erfahrung gewährt uns \'ier Urfakta, deren oberstes die Gewißheit des Selbstbewußtseins ist. Das zweite, daß uns manches angenehm, manches unangenehm affiziert, ist die Basis der Moral; das dritte, daß uns einiges begreiflich ist, anderes nicht, die der Logik; das vierte, daß wir passiv durch die Sinnlichkeit Eindrücke von außen erhalten, die der empirischen Wissenschaften, speziell der Physik. Demnach sind Bewußtsein, Wille, Verstand und sinnliche Vorstellung (imaginatio) nebst der Körperlichkeit unsere Grund- begriffe. Nicht die Wahrnehmung [perceptio), sondern allein der Begriff [conceptid) gibt Wissenschaft; wahr ist, was wir „begreifen" können, der Verstand als solcher kann nicht irren, wohl aber kann die Imagination uns zur Verwechselung des bloß Vorgestellten mit Begriffenem ver- führen. Das Verfahren der Wissenschaft ist die geometrische Beweis- führung, welche von (genetischen) Definitionen ausgeht und aus der

WOLFF.

259

Analyse derselben Axiome, aus ihrer Verbindung Theoreme gewinnt. Für das solcherweise a priori Bewiesene muß jedoch, wie bemerkt, a posteriori Bestätigung erbracht werden. Die höchste unter allen Wissen- schaften ist die Naturphilosophie, da sie nicht nur die Sinnendinge und nicht nur (wie die Mathematik) die Vernunftdinge, sondern das Wirkliche selbst in seiner wahren Beschaffenheit betrachtet. Deshalb ist sie die göttliche Wissenschaft, während die menschlichen sich nur mit unseren Vorstellungen oder mit der Relation der Dinge zu uns beschäftigen.

2. Chr. Wolff.

Christian Wolff, geb. 167Q in Breslau, studierte in Jena Theologie, daneben Mathematik und Philosophie, habilitierte sich 1703 in Leipzig und erhielt durch Leibniz' Vermittelung 1706 eine Professur der Mathe- matik in Halle. Seine Vorlesungen, die sich bald über alle philosophi- schen Disziplinen ausdehnten, fanden großen Anklang. Diese Beliebtheit sowie die rationalistische Denkrichtung des Philosophen erregten die INIiß- gunst der Pietisten Francke und Lange, welche beim König Friedrich Wilhelm I. 1723 seine Entsetzung und Austreibung zu erwirken wußten. Nachdem er in Marburg eine Zuflucht gefunden, wurde er \on Friedrich d. Gr. kurz nach dessen Thronbesteigung nach Halle zurückberufen, wo er bis zu seinem Tode 1754 gelehrt und eifrig geschrieben hat. In seinen Vorträgen sowohl als in der Hälfte seiner Schriften ^ bediente er sich nach Thomasius" Vorgang der deutschen Sprache, die er in dankens- würdigster Weise für die Wiedergabe philosophischer Gedanken geschickt machte und mit einem großen Teile der heute gangbaren technischen Ausdrücke beschenkte. So stammen von Wolflf die Termini Verhältnis, Vorstellung, Bewußtsein, stetig {conttnuus), ferner die Unterscheidung von Kraft und Vermögen, Grund und Ursache (Eucken, Gesch. d. Term., S. 133—134). Ein weiteres großes Verdienst des Mannes besteht darin.

Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes 1712, Vern. Ged. von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt 17 19 (hierzu Anmerkungen 1724), Vern. Ged. von der Menschen Tun und Lassen 1720, Vern. Ged. von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen 1721, Vern. Ged. von den Wirkungen der Natur 1723, Vern. Ged. von den Absichten der natür- lichen Dinge 1724, Vern. Ged. von den Teilen der Menschen, Tiere und Pflanzen 1725, sämtlich in deutscher Sprache. Dazu kommen (1728— 1753) umfangreiche lateinische Bearbeitungen der Logik, Ontologie, Kosmologie, empirischen und ratio- nalen Psychologie, natürlichen Theologie und aller Zweige der praktischen Philo- sophie. Ausführliche Auszüge finden sich bei Erdmann, Versuch einer wiss. Darst. II, 2. Die beste Darstellung der Wolffischen Philosophie hat Zeller (S. 211 273) gegeben. Carl Günther Ludovici, Historie der W.schen Philos. 1736; Ders., Neueste Merkwürdigkeiten der L.-W.schen Philos. 1738.

17*

200 WOLFF.

daß er die Leibnizisclie Philosophie in eine systematische Form ge- bracht und ihr dadurch eine Verbreitung verscliafft hat, die sie ohne die- selbe schwerlich gefunden hätte. Aus Eigenem Erhebliches beizusteuern, mangelte ihm die Originalität, und es \errät wenig Selbsterkenntnis, wenn er sich über die von seinem Schüler Bilfinger^ zuerst gebrauchte Bezeich- nung Leibnizisch-Wolffische Philosophie ungehalten zeigt. Die Verände- rungen, die er mit der Leibnizischen Lehre \ornahm, sind nichts weniger als Verbesserungen, und was er beseitigt hat, sind gerade ihre eigentüm- lichsten und tiefsinnigsten Bestandteile. So wenigstens virteilt der Heutige, während für den Eindruck auf die Zeitgenossen Wolffs jene Amputation und Abflachung der \erwegensten Hypothesen vielleicht nur günstig war: was ihm bedenklich schien, würde wohl auch jene abgeschreckt haben. Am stärksten wurden von dem Schicksal der Abschwächung die beiden leitenden Ideen betroffen, die Monadenlehre und die prästabilierte Harmonie. Jene schwächt Wolff dahin ab, daß er zwar die Körper aus einfachen Wesen zusammengesetzt und die letzteren mit einer (nicht näher bestimmten) Kraft begabt sein läßt, eine Vorstellungskraft aber nur .den wirklichen, des Bewußtseins fähigen Seelen beilegt. Die Geltung der vorausbestimmten Harmonie schränkt er auf das Verhältnis von Leib und Seele ein, welches bei Leibniz nur einen der Veranschaulichung der Hypothese besonders günstigen Fall bildete. Mit solcher Trivialisierung ist der eigentliche Sinn beider Gedanken preisgegeben, der Schmetterlings- staub ihnen abgestreift. War dem Denken WolflFs die Tiefe versagt, so zeichnet es sich durch systematische Kraft, zähen Fleiß und logischen Ernst aus, so daß das von Kant ihm gespendete Lob, er sei der Urheber des Geistes der Gründlichkeit in Deutschland geworden, ein wohlverdientes war. Auch er setzt den Zweck der Philosophie in die Aufhellung des Verstandes, die Besserung des Herzens und letzten Endes die Förderung der Glückseligkeit der Menschen. Während aber Thomasius als Bedin- gung solcher Allgemeinverständlichkeit und Nützlichkeit verlangte, daß sie sich ohne Schulgewand in leichtem Raisonnement ergehe, hält Wolff um- gekehrt methodisches Vorgehen und Gewißheit der Ergebnisse für un- erläßlich zur Brauchbarkeit und dringt um dieser Sicherheit willen auf Deutlichkeit der Begriffe und Bündigkeit der Beweise. Er fordert eine philosophia et certa et utilis. Wenn ihn endlich die methodische Bedacht- samkeit, namentlich in den späteren Werken, zu ermüdender Breite verleitet, so entschädigt für jene Pedanterie ein in der Beurteilung praktischer Fragen sich wohltuend bekundender urdeutscher kernhaft braver Sinn.

Die Einteilung der Wissenschaften gewinnt Wolff durch Kreuzung der beiden psychologischen Gegensätze: oberes (vernünftiges) und unteres

' Georg Bernhard Bilfinger (1693 1750): Dilncidatio7tes philosophicae 1725.

WOLFF. 261

(sinnliches) Vorstellungs- und Begehrungsvermögen. Auf dem ersteren beruht die Trennung einer rationalen und einer empirischen oder historischen Behandlungsweise. Diese geht auf das Tatsächliche, jene auf das Mögliche und Notwendige oder auf die Gründe des Wirklichen; diese beobachtet und beschreibt, jene deduziert. Der Gegensatz des Erkennens und Begehrens begründet die Scheidung der theoretischen und der praktischen Philosophie. Jene, INIetaphysik genannt, gliedert sich in einen allgemeinen Teil, der vom Seienden überhaupt handelt, abgesehen davon, ob es körperlicher oder geistiger Natur sei, vind drei spezielle Teile, nach den drei Hauptgegenständen: Welt, Seele, Gott; also in Onto-, Kosmo-, Psycho- und Theologie. Die Wissenschaft, welche Regeln für das Handeln aufstellt und den jNIenschen als Einzelwesen, als Bürger, als Hausvater resp. Familienglied betrachtet, wird (nach Aristoteles) in Ethik, Politik und Ökonomik eingeteilt, denen die allge- meine praktische Philosophie und das Naturrecht vorausgehen. Die Ein- leitung in beide Hauptteile bildet die formale Logik.

Philosophie ist Wissenschaft von dem Möglichen, d. h. \on dem, was keinen Widerspruch enthält; sie ist Wissenschaft aus Begriffen, ihr Prinzip der Satz der Identität, ihre Form die Demonstration, ihr Instru- ment die Analyse, welche aus dem Subjektsbegriff die darin enthaltenen Bestimmungen als Prädikat herausstellt. Zu dem Zweck, das aus reinen Begriffen Abgeleitete an den Tatsachen der Erfahrung zu bewähren, gesellt sich zur psychologia rationalis eine psychologia empirica, zur ratio- nalen Kosmologie eine empirische Physik, zur spekulativen Theologie eine experimentelle Gotteslehre (Teleologie) hinzu. Wie es komme, daß die Aussagen der Vernunft so herrlich mit denen der Erfahrung überein- stimmen, darüber gibt Wolff keinen Aufschluß; er ist in seinem unbe- fangenen, fraglosen Glauben an die Unfehlbarkeit der Vernunft der Typus des Dogmatikers.

Ein näheres Eingehen auf die Wolffische Philosophie scheint erläßlich, da das Wesentlichste ihres Inhalts bereits bei Leibniz zur Sprache ge- kommen ist, außerdem in dem Kapitel über Kant auf einige Punkte zui-ückzugreifen sein wird. Es sei daher, mit Verweisung auf die ausführ- lichen Darstellungen bei Erdmann und Zeller, nur erwähnt, daß Wolffs Sittenlehre dem englischen Moralprinzip der Glückseligkeit das der Voll- kommenheit entgegenstellt (gut Ist, was den Zustand des Menschen vervollkommnet, dies aber ist das natur- oder vernunftgemäße Leben, mit welchem die Glückseligkeit notwendig verknüpft ist), den Willen durch den Verstand determiniert werden läßt und für die Ursache der Sünde die Unwissenheit erklärt, und daß seine Religionsphilosophie, welche neben der geofFenbarten eine natürliche Religion (Erfahrungs- und Vernunftbeweise für die Existenz Gottes und Ableitung seiner Eigen- schaften) statuiert und gewisse Kennzeichen für die Echtheit der Offen-

202 WoLFFS Anhänger.

barung aufstellt, einem Rationalismus huldigt, der dehnbar genug war, um seinen Schülern ebensowohl eine Anknüpfung orthodoxer Bestrebungen als den Fortschritt zu einem kirchenfeindlichen Deismus zu gestatten. Unter den Anliängern Wolffs verdient Alex. Baumgarten (1714 bis 1762) als Begründer der deutschen Ästhetik {Aesthetica i75off.) den ersten Platz. Er gewahrt eine Lücke im System der philosophischen Wissen- schaften. Dasselbe enthält in der Ethik eine Anleitung zum richtigen Wollen, in der Logik eine solche zum richtigen Denken; es fehlt eine Anweisung zum richtigen Empfinden, eine Ästhetik. Den Gegenstand derselben würde das Schöne bilden. Denn die Vollkommenheit (die für den Betrachter lustvolle Übereinstimmung eines Mannigfaltigen zur Ein- heit), welche sich dem Willen als das Gute, dem deutlichen Denken des Verstandes als das Wahre darstellt, erscheint nach Leibniz der \'erworrenen sinnlichen Empfindung als Schönheit. Von hier aus hat sich für die Theorie des Scliönen der Name Ästhetik festgesetzt; in Kants erstem Hauptwerke jedoch wird er in wörtlicher Bedeutung als Lehre von der Sinnlichkeit, dem Vermögen der Empfindungen oder An- schauungen, gebraucht. Gleich Baumgarten liaben sein Schüler und Nachfolger, der Psycholog und Ästhetiker Georg Fried ricli Meier (1718 57) in Halle, Baumeister u. a. durch Lehrbücher über ver- schiedene Teile der Philosophie zur Verbreitung der Wolffischen Lehre beigetragen. Der Schule gehören ferner an: Thümmig {Instihitioncs philosophiacWolfianae 1725 26), der Theolog Siegmund Baumgarten (1706 57) in Halle, der ältere Bruder des Ästhetikers, der Mathematiker Martin Knutzen^, Kants Lehrer, der Literarhistoriker Gottsched'-^ in Leipzig und Gottfried Ploucquet"^, welcher in der der zweiten Auflage seines Hauptwerkes „Grundsätze über die Substanzen und Phänomene" angehängten Methodiis calcidandi in logicis nebst Cotnmentatio de arte cha- racteristica universali 1764 den von Leibniz gehegten Plan einer logischen Rechnung und einer allgemeinen Zeichensprache in anderer Form wieder aufnahm. Eine selbständigere Stellung nehmen ein der Psycholog Kasimir V. Creuz* und Joh. Heinr. Lambert^, den Kant eines Briefwechsels

' Knutzen (17 13 51): Systema causartim efßcientiiini 1745. Über ihn Benno Erdmann, M. Knutzen und seine Zeit, 1876.

2 Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit 1734. Über ihn Th. W. Danzel, Gottsched und seine Zeit 1848.

3 Ploucquet (1716 90): De materialisrno cum refiiiatione libelli ,,1' komme ma- chine'''' 1751; P^-incipia de substantiis et phaenomenis 1753; De studio psychologico 1758. Über seine Erkenntnistheorie und Metaphysik handelt eine Erlanger Disser- tation von Paul Bornstein 1898.

* K. V. Creuz: Versuch über die Seele 1754, Gesammelte Schriften, 2 Bde. 1769; über seine Erkenntnistheorie Abr. Eleutheropulos, Diss. 1895.

5 Lambert (1728 77): Kosmologische Briefe 1761, Neues Organen 1764, An- lage zur Architektonik 177 1. Abhandlungen von Lambert und seinen Briefwechsel

WoLFFS Gegner. 263

würdigte und dem er, wie es scheint, das Werk über die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft zuzueignen gedachte. Beide nämlich fordern eine Ergänzung des Wolffischen Rationalismus durch den Locke- schen Empirismus. Lambert weist bereits auf den Gegensatz \on Inhalt und Form als auf den springenden Punkt der Erkenntnistheorie hin und wirft die Frage auf: wie sind apriorische Synthesen des Verstandes mög- lich und für die Realität gültig? Allerdings ist der Sinn jenes Gegen- satzes und dieser Frage noch nicht der Kantische.

Unter den Gegnern der Wolffischen Philosophie, welche insgesamt dem Eklektizismus huldigen, waren A. Rüdiger^ und der von ihm be- einflußte Chr. Aug. Crusius-, gleich jenem Professor in Leipzig, die bedeutendsten. Rüdiger gliedert die Philosophie nach ihren Gegen- ständen „Weisheit, Gerechtigkeit, Klugheit" in drei Teile: die Naturlehre (die sich von einseitig mechanischer Betrachtung fernzuhalten und als Erklärungsprinzipien Äther, Luft und Geist zu benutzen hat), die Pflichten- lehre (welche als ]Metaphysik die Pflichten gegen Gott, als Naturrecht die gegen den Nächsten abhandelt und beide aus der Urpflicht des Gehorsams gegen Gottes Willen ableitet) und die Güterlehre (worin sich Rüdiger an das Werk des Spaniers Balth. Gracian über Lebensklugheit anlehnt). Crusius ist mit Rüdiger darin einverstanden, daß die INIathe- matik Wissenschaft des Möglichen, die Philosophie Wissenschaft des Wirklichen sei, und daß die letztere, statt zu ihrem Nachteil die deduktiv- analytische Methode der Geometrie nachzuahmen, mit Beihilfe der Er- fahrung und unter Berücksichtigung des Wahrscheinlichkeitsgrades ihrer Schlüsse synthetisch zu den obersten Sätzen aufsteigen müsse. Neben dem deduktiven Verfahren erregte der Determinismus der Wolffischen Philosophie Anstoß, durch den man INIoral, Justiz und Religion gefährdet glaubte. Der Wille, die eigentUche Grundkraft der Seele (bestehend aus dem Vervollkommnungs-, Liebes-, und Gewissenstrieb) ist weit entfernt, durch die Vorstellungen determiniert zu werden; vielmehr sind sie es, die \om Willen abhängen. Die Geltung des Satzes vom Grunde, die man mit Unrecht als eine ausnahmslose ansieht, muß zugunsten der

hat J. Bernouilli herausgegeben. Über ihn R. Zimmermann, Wiener Akad. 1879, JOH. Lepsius, L.s kosmol. und philos. Leistungen, München 1881, E. KÖNIG, Begrifl" der Objektivität bei Wolff u. L., ZPhKr. Bd. 84, 1884, und Otto Baensch, L.s Philosophie und seine Stellung zu Kant 1902.

1 Rüdiger ( 1671 1731): Alle Vorstellungen entspringen aus der Sinnesempfindung 1704, Synthetische Philosophie 1707, Göttliche Physik 17 16, Pragmatische Philosophie 1723, in lateinischer Sprache. Über seine Moralphilos. WiLH. Carls, Halle 1894.

- Crusius (17 12 73): Über Anwendung und Grenzen des Satzes vom Grunde 1743 (lateinisch); Anweisung vernünftig zu leben (Willens- und Sittenlehre) 1744, Ent- wurf der notwendigen Vernunftwahrheiten 1745, Weg zur Gewißheit und Zuverlässig- keit menschlicher Erkenntnis 1747. Über ihn Marquardt, Kiel 1885, und Festner, Halle 1892.

264 ^^^ DEUTSCHE Aufklärung.

Freiheit eingeschränkt werden. Im übrigen ist von Crusius anzumerken, daß er den Satz des zureichenden besser: bestimmenden Grundes (alles, was ist und vorher nicht war, hat eine Ursache) nebst dem der Zufälligkeit aus den Prinzipien des Widerspruchs, der Untrennbarkeit und der Unvereinbarkeit, diese aber aus dem Satz der Denkbarkeit ab- leitet, daß er den ontologischen Beweis verwirft, 'den Verpflichtungsgrund der Sittlichkeit in den Gehorsam gegen Gott, ihren Inhalt in die Yoll- kommenheit setzt und mit Cicero die Unsterblichkeit um des Ausgleiches von Verdienst und Glück willen postuliert. Von den übrigen Bekämpfern der Wolffischen Philosophie mögen der Theolog Budde(us)i (Institu- tionen der eklektischen Philosophie 1705), Darjes (lehrte in Jena und Frankfurt a. O.; Weg zur Wahrheit 1755) und Crousaz (1744) ge- nannt sein.

3. Die Aufklärung als wissenschaftliche und als Popularphilosophie.

Nachdem bereits innerhalb der Wolffischen Schule, noch unumwun- dener im Lager ihrer Gegner unter zunehmendem Einflüsse der englischen Erfahrungsphilosophie 2 die Forderung erhoben worden war, es müsse Rationalismus und Empirismus, Leibniz und Locke vereinigt werden, nimmt im Aufklärungszeitalter der Eklektizismus im Sinne des Thomasius die volle Breite der Bühne ein. Man scheute sich um so weniger, Sätze, die von ganz verschiedenen Voraussetzungen aus gewonnen waren, ohne Rücksicht auf ihren systematischen Zusammenhang miteinander zu \er- knüpfen, als das Interesse an schulmäßiger Forschung mehr und mehr hinter demjenigen an brauchbaren und beruhigenden Resultaten zurück- trat. Metaphysik, Erkenntnislehre, Naturphilosophie werden als nutzlose Grübeleien beiseite gelegt, wie in der Zeit nach Aristoteles wird der Mensch als Einzelner und was sich unmittelbar auf sein Glück bezieht, die Beschaffenheit seines Inneren, seine Pflichten, die Unsterblichkeit der Seele , das Dasein Gottes der ausschließliche Gegenstand des Nachdenkens. Daß neben Moral und Religionslehre die Psychologie zum Lieblingsfelde erkoren wird, harmoniert vollkommen mit der allge- meinen Stimmung eines Zeitalters, dem in langen freundschaftsseligen Briefen und empfindsamen Tagebüchern die Selbstbeobachtung und der Genuß zarter und hoher Gefühle zur süßen Gewohnheit geworden. Mit der Verengung des Inhalts geht eine Veränderung der Darstellungsform Hand in Hand. Da man sich an alle Gebildeten wendet, macht man

1 J.J.B rucker, (Historia critica philosophiae, 5 Bde. 1742 1744, zweite Aufl. 6 Bde. 1766 1767) war ein Schüler des Budde.

2 Den Einfluß der englischen Philosophen auf die deutsche Philosophie des XVIII. Jahrhunderts behandelt Gustav Zart, 1881.

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Mendelssohn, Garve. 265

sich Verständlichkeit und Gefälligkeit zur obersten Pflicht; der Stil wird leicht und flüssig, die Behandlungsweise gewandt, oft oberflächlich. Dies gilt nicht nur für die eigentlichen Popularphilosophen welche, nach Windelbands treffender Bemerkung (I, S. 563), nicht die Wahrheit suchen, sondern sie zu besitzen glauben und nur verbreiten wollen, nicht darauf ausgehen, die Forschung zu fördern, sondern nur das Publikum zu belehren , sondern bis zu einem gewissen Grade auch für die- jenigen, welche sich bewußt sind, im Dienste der Wissenschaft zu arbeiten. Zu den Vertretern jener mehr schöngeistigen Richtung gehören Moses Mendelssohn 1, Thomas Abbt (Vom Tode fürs Vaterland 1761, Vom Verdienst 1765), J. J. Engel in Berlin (Der Philosoph für die Welt 1775 ']']\ G. S. Steinbart (GlückseHgkeitslehre des Christentums 1778), Ernst Platncr- in Leipzig, Georg Christoph Lichtenberg in Göt- tingen (1742 99; Vermischte Schriften 1800 flf., eine Auswahl daraus in der Reclamschen Bibl.; über ihn A. Neumann in VKSt. Bd. 4, 1899), Christian Garve in Breslau (1742 98; Versuche 1792 ff".; Überset- zungen moralphilosophischer Werke des Aristoteles, Cicero und Fergu- son) und Friedr. Nicolai. -^^ Von Eberhard, Feder und Meiners wird noch als Gegnern der kantischen Philosophie die Rede sein.

Unter den Psychologen nimmt J. N. Tetens in Kiel (1736 1805), dessen „Philosophische Versuche über die menschliche Natur" 1777 eine überraschende Ähnlichkeit mit Kantischen Anschauungen zeigen^, den ersten Rang ein. Offenbar hat ein gegenseitiger Einfluß stattgefunden. Die jetzt populär gewordene und dem Heutigen wie selbstverständlich erscheinende Dreiteilung der Seelentätigkeiten „Denken, Fühlen, Wollen" ist auf Tetens, von dem sie Kant entlehnte, zurückzuführen: er hat gegenüber der Aristotelisch-Wolffischen Zweiteilung „Erkennen und Be- gehren" die bereits \on dem Ästhetiker Sulzer^ (175I) 1763) und

1 Mendelssohn (1729 86): Briefe über die Empfindungen 1755. gekrönte Preis- schi ift über die Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften 1764, Phaedon oder über die Unsterblichkeit 1767, Jerusalem 1783, Morgenstunden oder über das Dasein Gottes 1785, An die P'reunde Lessings (gegen Jacobi) 1786; Werke 1843 44- Über ihn Kayserling 1856, 1862, 1883.

- PL^tner (1744 1818': Philosophische Aphorismen 1776, 17S2, 3. Aufl. 1793 bis 1800; über ihn M. Heinze 1880 und Wreschner in der ZPhKr. Bd. 100 102, 1S92— 93.

3 Nicolai (1733 1811): Bibliothek der schönen Wissenschaften, seit 1757, Briefe, die neueste deutsche Literatur betreffend, seit 1759, Allgemeine deutsche Bibliothek, seit 1765, Neue allgem. deutsche Bibl. 1793 1805.

•1 Die Empfindung gibt den Inhalt, der Verstand erzeugt spontan die Form der Erkenntnis. Die für uns allein erreichbare Objektivität derselben besteht in der sub- jektiven Notwendigkeit der Denkformen oder Verhältnisgedanken. Die Wahrnehmung läßt nur die Erscheinung, nicht das wahre Wesen der Dinge und unser selbst er- kennen usw. Über Tetens' Erkenntnistheorie G. Störring 1901.

'-> Joh. Georg Sulzer (1720 79): .Mlgem. Theorie der schönen Künste 1771 74;

266 Die deutsche Aufklärung.

von Mendelssohn (1755, ^7^3^ ^7^5) befürwortete Gleichberechtiguni;- des Gefühlsvermögens durchgesetzt; freilich deckt sich die Tetenssche Bedeutung von „Gefühl" nicht ganz mit der jetzigen (vgl. Dessoir, S. 343 44). Neben ihm sind als Psychologen zu nennen sein Gegner Joh. Lossius in Erfurt (1775), ein Anhänger Bonnets, der auch als Philo- sophiehistoriker (Geist der spekul. Philos. 1791 97) schätzenswerte Diet- rich Tiedemann^ in Marburg (Untersuchungen über den Menschen, 1777 bis 78; Theätet 1794), Karl Franz v. Irwing in Berlin (1728 1801; Erfahrungen und Versuche über den Menschen 1772 85) und Karl Philipp Moritz (Magazin zur Erfahrungsseelenlehre, seit 1783). Um die Pädagogik machten sich verdient Basedow (f 1790), Campe (f 18 18) und J. H. Pestalozzi (1746 1827).

In Dessoirs fleißigem Buche werden die Psychologen der zweiten Hälfte des I S.Jahrhunderts in vier Gruppen geordnet. Nämlich l. Schulpsychologie, a) ratio- nale Ps. : Ploucquet, Reimarus, v. Creuz; Eberhard, Tiedemann u.a.; b) empirische Ps. : F'ormey, Beausobre, Merian; Sulzer, Hungar, Heydenreich, Campe, Schwab u. a. ;

2. naturwissenschaftliche Ps., a) physiologische Ps. : Mich. Hißmann; Krüger, Lossius, Irwing; Platner u. a. ; b) Assoziationsps. : Herz, Maaß, Hoffbauer; L.H.Jakob;

3. Popularps.: Eklektiker, Magazine; 4. analytische Ps.: subjektivistische (Selbst- biographien, Tagebücher, Romane usw.) und objektivistische (Lambert, Tetens) Analytiker.

Einer der klarsten und schärfsten Köpfe unter den Philosophen der Aufklärung war der Deist Herm. Sam. Reimapus^, seit 1728 Professor in Hamburg. Er bekämpft ebenso eifrig und mit Überzeugung den Atheismus, in welcher Gestalt sich derselbe darstellen möge, wie er (in der nur Freunden handschriftlich mitgeteilten „Schutzschrift") den Offenbarungsglauben mit unerbittlicher Kritik zersetzt. Die Waffen für jenen doppelten Kampf entnimmt er der Wolffischen Philosophie. Die Existenz einer überweltlichen Gottheit erweist sich aus der zweckmäßigen Einrichtung der Welt, insbesondere der Organismen, welche auf das Wohl nicht bloß, wie die Mehrzahl der Physikotheologen urteilte, des Men- schen, sondern aller Lebewesen abzielt. Neben solcher an alle

Vermischte philos. Schriften 1773 81. Über seine ästhetischen Ansichten Leipziger Dissert. von Heym 1894.

1 Über Tiedemanns Psychologie siehe A. Jacobskötter, Erl. Diss. 1898. Die oft als „Memoiren" zitierten Beobachtungen über die Entwickelung der Seelenfähig- keiten bei deu Kindern 1787 (französisch 1863, im Auszug von Perez 1881) hat Ufer neu herausgegeben, Altenburg 1897.

- H. S. Reimarus (1694 1768): Abhandlungen von deu vornehmsten Wahr- heiten der natürlichen Religion 1754; Allgemeine Betrachtungen über die Kunsttriebe der Tiere 1762; Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Von der letztgenannten, zu Lebzeiten des Verfassers geheimgehaltenen Schrift gab Lessing Bruchstücke heraus (die bekannten ,,Wolffenbüttler Fragmente", seit 1774). Eine ausführliche Inhaltsangabe findet man bei D. Fr. Strauss, Reimarus und seine Schutzschrift, 1862, aufgenommen in den fünften Band der Ges. Schriften.

Reimarus. Lessing.

267

Menschen ergehenden und allein zur Seligkeit notwendigen Offenbarung Gottes in der Natur noch eine besondere Offenbarung, d. h. Wunder, annehmen heißt der Vollkommenheit Gottes und der Unveränderlichkeit seiner Vorsehung Abbruch tun. Zu diesem allgemeinen Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit positiver Offenbarung kommen als spezielle gegen die der jüdischen und christlichen hinzu die Zweifelhaftigkeit mensch- lichen Zeugnisses überhaupt, die Widersprüche in den biblischen Schriften, die Unsicherheit ihres Sinnes und der sittliche Charakter der als Boten Gottes betrachteten Personen, deren Lehren, Gebote und Taten keines- wegs jener hohen Sendung entsprechen. Die jüdische Geschichte ist ein „Gewebe von lauter Torheiten, Schandtaten, Betrügereien und Grau- samkeiten, da\on hauptsächlich Eigennutz und Herrschsucht die Trieb- federn waren." Auch das Neue Testament ist Menschenwerk, alles Gerede von göttlicher Inspiration eitel Blendwerk, die Auferstehung Christi eine Erdichtung der Jünger, der protestantische Lehrbegriff mit seinen Dogmen von der Dreieinigkeit, dem Sündenfall, der Erbsünde, der Gottmenschheit, dem stellvertretenden Verdienste und den ewigen Höllenstrafen vernunftwidrig. Der Fortschritt des Reimarus über Wolff hinaus besteht in der konsequenten Anwendung der Kriterien für die Göttlichkeit der Offenbarung, die Wolff aufgestellt hatte, ohne von ihnen Gebrauch, geschweige einen negati\en, zu machen. Seine Schwäche^ darin, daß er einerseits sich mit einer rationalistischen Deutung der biblischen Erzählungen begnügte, statt wie nach ihm Semler in Halle (1725 1791) bis zu einer historischen Kritik der Quellen \orzudringen , anderseits in der allen Deisten gemeinsamen Alternative „entweder göttlich oder menschlich, entweder wirklich geschehen oder erlogen" stecken blieb, ohne Ahnung von jenem großen Zwischengebiete des religiösen Mythus, der unwillkürlichen und sinnvollen Dichtung der Volksphantasie.

^Minder einseitig ist der religionsphilosophische Standpunkt G. E. Lessings (1729 1781), in welchem die Aufklärung ihre schönste Blüte zeitigte. Abgesehen von den bedeutsamen ästhetischen Anregungen, die der Laokoon (1766) und die Hamburgische Dramaturgie (1767 1769) ausstreuten, beruht seine philosophische Bedeutung auf zwei für die Religionsauffassung des XIX. Jahrhunderts folgenreichen Gedanken: der spekulati\en Deutung gewisser Dogmen (der Trinität u. a.) und der An- wendung des Leibnizischen Entwickelungsbegriffs auf die Geschichte der positiven Religionen. Durch beide hat er Hegel vorgearbeitet. Was das Verhältnis zu den Vorgängern anbetrifft, so sucht Lessing eine Vermitte- lung zwischen dem Pantheismus des Spinoza und dem Individualismus

1 Vergl. O. Pfleiderek, Gesch. der Religionsphilos., 2. Autl. 1883, S. 102, 106 107.

208 -Die deutsche Aufklärung.

des Leibniz; im Verständnis des letzteren zeigt er sich den Wolffianern weit überlegen. Ihn einen Spinozisten nennen, darf nur, wer wie Jacobi diesen Titel für jeden bereit hat, der sich gegen einen transzendenten persönlichen Gott und die unbedingte Willensfreiheit ausspricht. Übrigens muß man bei seiner mehr kritischen und dialektischen als systematischen Art zu denken sich hüten, auf einzelne Aussprüche ein zu großes Ge- wicht zu legen. 1

Die Gottheit denkt sich Lessing als höchste, allumfassende, lebendige Einheit, welche weder eine gewisse Art von Mehrheit noch sogar von Veränderung von sich ausschließt; ohne ein Erleben und Leisten, ohne ein Erfahren wechselnder Zustände müßte sich Gott trostlos langweilen. Die Dinge sind nicht außer, sondern in ihm, gleichwohl (als „zufällig") von ihm verschieden. Die Dreieinigkeit muß als immanente Gliederung verstanden werden. Gott dachte sich oder seine Vollkommenheiten in zwiefacher Weise: er dachte sie verbunden und sich als ihren Inbegriff, und er dachte sie zerteilt. Nun ist Gottes Denken ein Schaffen, seine Gedanken sind Wirklichkeiten. Indem er seine Vollkommenheiten ver- einigt vorstellte, schuf er sein ewiges Bild, den Sohn Gottes, und das Band zwischen dem vorstellenden und dem vorgestellten Gott, zwischen Vater und Sohn ist der heilige Geist. Indem er .aber seine Vollkommen- heiten vereinzelt vorstellte, schuf er die Welt, in der sich dieselben an eine stetige Stufenreihe von Einzelwesen verteilt darstellen. Jedes Indivi- duum ist eine vereinzelte göttliche Vollkommenheit, die weltlichen Dinge sind beschränkte Götter, alle lebendig, beseelt, geistiger Natur, doch in verschiedenen Graden. Überall Entwickelung: gegenwärtig hat die Seele fünf Sinne, sehr wahrscheinlich hat sie einst weniger gehabt und wird später einmal mehr als fünf haben. Zuerst wurde die Menschheit in ihrem Handeln durch den dunklen Instinkt geleitet, allmählich erlangte die Vernunft Einfluß auf den Willen, dereinst wird sie ihn ganz und gar durch ihre klaren und deutlichen Erkenntnisse beherrschen. So wird die Freiheit im Laufe der Geschichte erworben: der Vernünftige und Tugendhafte gehorcht mit Bewußtsein, der Unfreie unbewußt der gött- lichen Weltordnung.

Mit der deistischen Aufklärung teilt Lessing die Überzeugung von einer Vernunftreligion, deren Fundament und wesentlichen Inhalt die Moral

1 Eine Vorsicht, die GIDEON SpiCKER (Lessings Weltanschauung, 1883^1 auch gegenüber dem oft zitierten Bekenntnis des Determinismus „ich danke Gott, daß ich muß, das Beste muß" nicht außer acht zu lassen rät. Von den zahlreichen Schriften über Lessing seien angemerkt die Arbeiten von G. E. Schwarz (1854) und Zeller (in Sybels histor. Zeitschrift 1870, aufgenommen in die zweite Sammlung der Vorträge und Abhandlungen 1877) über Lessing als Theolog, die von K. Fischer über Lessings Nathan 1864, sowie J. H. Wittes Philosophie unserer Dichterheroen, erster Band (Lessing und Herder) 1880.

Lessing.

269

bildet, erhebt sich jedoch weit über das Niveau derselben, indem er die Vernunftreligion nicht als den Anfang, sondern als das Ziel der Entwicke- lung, die positiven Religionen aber als notwendige Durchgangspunkte zur Erreichung desselben betrachtet. Da die natürliche Religion je nach den Gefühlen und Kräften des Einzelnen in jedem verschieden ist, so würde es ohne positive Satzungen keine Einheit und Gemeinschaft in religiösen Dingen geben. Doch ist das Statutarische und Geschichtliche nicht eine von außen angesetzte Zutat, sondern eine mit der natürlichen Religion organisch verwachsene, für die Eutwickelung derselben unentbehrliche und nur allmählich und schichtweise nachdem der eingeschlossene Kern reif und fest geworden abzustreifende Hülle. Die Geschichte der Religionen ist eine „Erziehung des Menschengeschlechtes" durch göttliche Offenbarung, so lehrt jene kleine gedankenvolle Schrift vom Jahre 1780. Wie die Erziehung in den einzelnen Menschen nichts Fremdes hineinträgt, sondern ihm nur geschwinder und leichter das gibt, was er aus sich selbst gewinnen könnte, so wird die mensch- liche Vernunft durch die Offenbarung nur über Dinge aufgeklärt, auf die sie auch von selbst hätte kommen können, nur daß dies ohne Gottes Hilfe mühseliger und später geschehen wäre: vielleicht hätte sie sich ^■iele Millionen Jahre in den Irrwegen der Vielgötterei herumgetrieben, hätte es nicht Gott gefallen, ihr durch einen Stoß (seine Offenbarung an Moses) eine bessere Richtung zu geben. Und wie der Erzieher dem Zögling nicht alles auf einmal beibringt, sondern die jeweilig von ihm erreichte Entwickeiungsstufe berücksichtigt, so befolgt auch Gott in seiner Offenbarung eine gewisse Ordnung und ein gewisses Maß. Dem rolien jüdischen Volke offenbarte er sich zunächst als Nationalgott, als den Gott seiner Väter; erst von den Persern mußte es lernen, daß der bis dahin als mächtigster verehrte Gott der einzige ist. Obwohl dieser untersten Stufe der Religionsentwickelung der Unsterblichkeitsglaube fehlte, darf sie doch nicht gering geschätzt werden: lasset uns bekennen, daß es ein heroischer Gehorsam war, die Gesetze Gottes beobachten, bloß weil es Gesetze Gottes sind, und nicht wegen zeitlicher oder künf- tiger Belohnungen! Der erste praktische Lehrer der Unsterblichkeit war Christus, mit ihm beginnt das zweite religiöse Weltalter; auf das erste gute Elementarbuch, aus dem die Menschheit bis dahin gelernt hatte, das Alte Testament, folgte im Neuen Testament das zweite bessere Elementarbuch. Wie wir zur Lehre von der Einheit Gottes nunmehr des erste ren entbehren können, wie wir allmählich zur Lehre von der Unsterblichkeit der Seele auch des letzteren entbehren zu können an- fangen, so könnte wohl dies Neue Testament noch mehr Wahrheiten enthalten, die wir vorläufig noch als Offenbarungen anstaunen, bis die Vernunft sie aus anderen feststehenden Wahrheiten herleiten lernt. Lessing selbst macht mit den Dogmen der Trinität (s. o.), der Erbsünde

270

Kants Verhältnis zur Aufklärung.

und der Genugtuung den Versuch einer philosophischen Interpretation. Solcher Fortschritt vom Glauben zum Wissen, solche Ausbildung geoffen- barter Wahrheiten in bewiesene Vernunftwahrheiten ist schlechterdings notwendig. Wir können der geoffenbarten Wahrheiten nicht entbehren, dürfen aber auch nicht einfach gläubig bei ihnen stehen bleiben , son- dern müssen suchen, sie zu begreifen; denn sie wurden geoffenbart, um Vernunftwahrheiten zu werden. Sie sind gleichsam das Fazit, das der Rechenmeister den Schülern voraussagt, damit sie sich darnach richten; wollten sich diese aber mit dem Fazit das eben nur als Leitfaden gegeben wurde begnügen, so würden sie nie rechnen lernen. Mit den Fortschritten des Verstandes gehen die des Willens Hand in Hand. Die Vergeltung im Jenseits, welche das Neue Testament der Tugend als Belohnung verheißt, ist ein Erziehungsmittel, das allmählich wird in Wegfall kommen können: auf der höchsten Stufe der Reinigkeit des Herzens wird die Tugend um ihrer selbst, nicht mehr um eines himm- lischen Lohnes willen geliebt und geübt werden. Langsam, aber sicher, auf heilsamen Umwegen werden wir jenem hohen Ziele entgegengeführt. Sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch das Gute tun wird, weil es das Gute ist, die Zeit des neuen ewigen Evan- geliums, das dritte Zeitalter, das „Christentum der Vernunft". Gehe deinen unmerkUchen Schritt, ewige Vorsehung: laß mich nicht an dir verzweifeln wegen dieser Unmerklichkeit, auch dann iiicht, wenn mir deine Schritte scheinen rückwärts zu gehen. Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist.

An den Gedanken, daß jeder Einzelne dieselbe Bahn tlurchlaufen müsse, auf der das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, knüpft Lessing die Vorstellung der Seelenwanderung. Warum könnte der ein- zelne Mensch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein? Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist?

Wenn sich Lessing dadurch, daß er in den positiven Religionen eine sich stufenweise läuternde Wahrheit erkennt, von den Deisten entfernte, so verdarb er es auf der anderen Seite durch seine freimütige Kritik mit den Orthodoxen, deren abgöttische Bibelverehrung ihm ein Greuel war. Der Buchstabe ist nicht der Geist, die Bibel ist nicht die Religion, noch ihre Grundlage, sondern nur ihre Urkunde. Zufällige Geschichts- wahrheiten können niemals der Beweis von notwendigen Vernunftwahr- heiten werden. Das Christentum ist älter als das Neue Testament.

Schon bei Lessing kann man, im Hinblick auf seinen historischen Sinn und auf gewisse spekulative Ansätze, zweifelhaft sein, ob man ihn noch den Aufklärern zurechnen dürfe. Bei Kant muß entschieden da- gegen protestiert werden. Wenn ihn Hegel wegen mangelnder Vernunft- anschauung, einige Theologen wegen seines religiösen Rationalismus zu den Philosophen der Aufklärung stellen, so ist dem ersteren zu erwidern,

Die Glaubensphilosophie: Hamann.

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daß die spekulative Gabe Kant nicht fehlte, sondern nur hinter der Re- flexion zurücktrat, den letzteren, daß er über das Positive der Religionen denn doch ganz anders urteilte, als die Deisten, und das Geschichtliche wenn auch nicht in gleichem Maße wie Lessing und Herder ge- rechter würdigte. Man braucht kein großes Gewicht darauf zu legen, (laß Kant das lebhafte Bewußtsein hatte, etwas Neues zu bringen, und die Aufklärung diesem Neuen verständnislos gegenüberstand, um zu er- kennen, daß der Unterschied seiner Bestrebungen und Leistungen von denen der Aufklärung weit größer ist, als ihre Verwandtschaft mit den- selben. Denn wenn sich auch Kant mit ihr auf gemeinsamem Boden l^ewegt, sofern er sich zu ihrem Wahlspruch bekennt: „habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, werde mündig, laß ab, dich der Leitung eines anderen anzuvertrauen, mache dich auf allen Gebieten \on dem Zwange der Autorität los" und außer solcher formellen For- derung der' Geistesfreiheit auch inhaltlich gewisse Absichten und Über- zeugungen (die Wendung von der Welt zum Menschen, den Versuch einer Synthese zwischen Vernunft und Erfahrung, den Glauben an eine ^''ernunftreligion) mit ihr teilt, so steht er doch nach Verfahren und Ergebnis wie ein Riese neben einem Geschlechte von Zwergen, ein Wissender, der aus Grundsätzen entscheidet, neben Meinenden, welche Resultate zusammenlöten, ein methodischer Systematiker neben wohl- gesinnten, aber ohnmächtigen Eklektikern. Die Philosophie der Auf- klärung verhält sich zu derjenigen Kants wie Raisonnement zur Wissen- schaft, wie lahme Vermittelung zu prinzipieller Lösung, wie Flickwerk zur Schöpfung aus dem Vollen, zugleich aber wie Wunsch zur Tat, wie negative Vorbereitung zu positiver Leistung. Unleugbar kam es dem Kritizismus sehr zu statten, daß die Aufklärung einen Kreuzungspunkt für die verschiedenen Richtungen geschaffen, die bestehenden, einander feindlichen Systeme genähert, in gegenseitige Berührung gebracht, zu- gleich aber zerbröckelt und damit das Bedürfnis nach einem neuen, fester und tiefer begründeten geweckt hatte.

4. Die Glaubensphilosophie.

Die Gefühls- oder Glaubensphilosophen stehen zur deutschen Auf- klärung in einem ähnlichen Verhältnis, wie Rousseau zur französischen. Auch hier werden der erkennenden Vernunft gegenüber die Rechte der Empfindung geltend gemacht. Von den hervorragenden Vertretern dieser antirationalistischen Richtung war Hamann der wegweisende, Herder der reichste, Jacobi der klarste.' Daß nicht im unterscheiden-

1 Dieser Gruppe darf auch Jeau Paul Friedr. Richter (1763 1825) zugezählt werden. Über ihn Paul Nerrlich 1876; Josek Müller, J. P. und seine Bedeutung für die Gegenwart, 1894; Ders., Die Seelenlehre J. P.s, Erlanger Diss. 1894; Ders., J. P.s philosophischer Entwickelungsgang (mit Benutzung des ungedruckten Nachlasses)

2/2

Die Opposition gegen die Aufklärung.

den Denken, sondern in der Anschauung, Erfahrung, Offenbarung, Tra- dition die Quelle unserer Gewißheit zu suchen sei, die höchsten Wahr- heiten nur empfunden, nicht bewiesen werden können, alles Existierende, weil individuell, unbegreiflich sei, sind Überzeugungen, die, bevor sie Jacobi als wissenschaftlich begründeten Standpunkt vertrat, von dem Königsberger Sonderling J. G. Hamann (f 1788) tumultuarisch verkündet wurden. Der damals noch nicht gednickten Hamannschen „Metakritik über den Purismum der reinen Vernunft" waren die Vorwürfe entnommen, welche Herders Metakritik gegen Kants Vernunftkritik erhebt: daß die Trennung von Stoff und Form, von Sinnlichkeit und Verstand unstatt- haft, daß Kant die Bedeutung der Sprache, in der eben Verstand und Sinnlichkeit sich vereinigen, verkannt habe, u. ä. m. Hamanns Schriften hat Friedr. Roth herausgegeben, 7 Teile 182 1 25, 8. Teil in 2 Ab- teilungen besorgt \on Gust. Ad. Wiener 1843. C. H. Gildemeister, Hamanns Leben und Schriften, 6 Bde. 1857 73 (der 5. Band enthält che Briefe an Jacobi). Moritz Petri, Hamanns Schriften und Briefe, 4 Teile 1872—74. J. Disselhoff, Wegweiser zu H. 1870. H. Delff, Lichtstrahlen aus H. 1874. Heinr. Weber, Hamann und Kant (ein Teil als Erlanger Diss.) München 1903.

In Herder^ (i744 1803, seit 1776 Generalsuperintendent in Wei- mar) erwuchs der Gefühlsphilosophie eine vornehmere, abgeklärtere und harmonischere Natur, die mit Lessing das historische Interesse gemein hat und die Tendenz, Pantlieismus und Individualismus gleichsehr fest- zuhalten. Gott die all-eine, unendliche, geistige (nicht persönUche) Ur- kraft, die sich in jedem Dinge ganz offenbart („Gott, Gespräche über Spinozas System," 1787). Der Lebendigkeit, Macht, Weisheit und Güte Gottes entspricht die Lebendigkeit und Vollkommenheit des Universums wie der einzelnen Geschöpfe, deren jedes seinen unersetzlichen Eigen- wert hat und seine Zukunft als Anlage in sich trägt. Überall ein und dasselbe Leben in einer aufsteigenden Reihe von Kräften und Formen mit unmerklichen Übergängen. Stets ist Inneres und Äußeres beisammen, keine Kraft ohne Organ, kein Geist ohne Körper. Wie das Denken nur eine höhere Stufe des Empfindens ist, die sich aus der niederen durch die Sprache entwickelt gleich dem Sinne ist die Vernunft kein produktives, sondern ein rezeptives Vermögen des „Vernehmens" , so ist der Freiheitsprozeß der Geschichte nur die Fortsetzunß und VoU-

im AGPh. Bd. 13, 1900; Jon. Volkelt, Die Kunst des Individualisierens in den Dichtungen J. P.s (Gedenkschrift für Haym) 1902.

1 Über Herder s. die Biographie von R. Haym, 2 Bde., 1877, 1885, E. Kühne- mann, H.s Persönlichkeit 1893, H.s Leben 1895, Run. Wieland, H.s Theorie von Religion und religiösen Vorstellungen 1903 und das oben (S. 268 1) zitierte Buch von Witte; über Herders Metakritik die Diss. von J. Roth 1873 und Otto Michalsky, Breslau 18S3, sowie des letzteren Artikel in ZPhKr. Bd. 84 und 85, 1884.

Die Glaubensphilosophie: Herder.

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endung des Naturprozesses („Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" 1784 91, 4 Teile). Der Mensch, das letzte Schoßkind der Natur und ihr erster Freigelassener, ist der Knotenpunkt, an dem sich die physische Ereignisreihe in die ethische umsetzt; das Schlußglied der Erdorganisationen ist zugleich das Anfangsglied der geistigen Entwickelung. Aufgabe der Geschichte ist die Entfaltung aller der Kräfte, welche die Natur im Menschen, als dem Kompendium der Welt, konzentriert hat; ihr Gesetz, daß allenthalben auf unserer Erde werde, was auf ihr werden kann; ihr Ziel die Humanität, die harmonische Ausbildung aller unserer Anlagen. Jenes Naturgesetz hindert keine, auch nicht die ausschweifendste Macht an ihrer Wirkung; es hat aber alle Dinge in die Regel beschränkt, daß zuletzt nur das Ersprießliche dauernd bleibe, während das Böse sich entweder unter die Ordnung schmiegen oder selbst verderben muß. Unsinn und Torheit venvüsten sich selbst; Vernunft aber und Billigkeit, auf welche die Wohlfahrt des Menschengeschlechts wesentlich gegründet ist, dauern und müssen mit der Zeitfolge unter den Menschen mehr Platz gewinnen. Alle zerstörenden Kräfte müssen den erhaltenden unter- liegen. An den Stürmen der Leidenschaften hat die Vernunft sich ge- schärft und tausend Mittel und Künste erfunden, sie nicht nur einzu- schränken, sondern selbst zum Besten zu lenken: ein leidenschaftsloses Menschengeschlecht hätte auch seine Vernunft nie ausgebildet. Wie die Natur einen einzigen großen Organismus bildet und vom Stein bis zum Menschen eine zusammenhängende Entwickelung beschreibt, so ist die INIenschheit ein einziges großes Individuum, das seine Lebensalter \on der Kindheit (Orient) durch das Knabenalter (Ägypten und Phönizien), die Jünglingszeit (Griechentum), das Mannesalter (Rom) bis zum Greisen- alter (christliche Welt) durchläuft; hierbei ist keine Stufe bloß Mittel, jede zugleich Zweck. Der Geist steht in engster Abhängigkeit von der Natur, die Natur ist bei der Geschichte durchgängig beteiligt. Die feinere Gehirnorganisation, der Besitz der Hände, vor allem der aufrechte Gang machen den Menschen zum Menschen und geben ihm die Vernunft. Ebenso sind es die Naturverhältnisse, Klima, Bodenbeschaffenheit, die umgebende Pflanzen- und Tierwelt usw., welche die Sitten, Charaktere und Geschicke der Völker wesentlich mitbestimmen. Durch die Ver- knüpfung der Natur mit der Geschichte vermittels des Begriffs der Ent- wickelung, durch den Gedanken, daß beide nur verschiedene Stadien desselben Grundprozesses darstellen, ist Herder der Vorläufer Schellings geworden.

Minder erfreulich ist seine Polemik gegen Kant in der „Metakritik" 1 799 (gegen die Kritik der reinen Vernunft) und dem Gespräche „Kalli- gone" 1800 (gegen die Kritik der Urteilskraft). Sie ist weder würdig im Ton noch sachlich von großer Bedeutung. Dort wird die Scheidung von Sinnlichkeit und Vernunft, hier die Abtrennung des Schönen vom

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. l8

274 ^^^ GlAUBENSPHILOSOPHIE: jACOBl.

Wahren und Guten gerügt, dabei aber Kants ästhetische Theorie großen- teils gröblich mißverstanden. Aus dem „uninteressierten" Wohlgefallen macht Herder ein kaltes Wohlgefallen, aus der harmonischen Tätigkeit der Erkenntniskräfte ein langweiliges, äffisches Spiel, aus dem Wohl- gefallen „ohne Begriff" ein Urteilen ohne Grund und Ursache. Gehalt- voller ist das Positive seiner eigenen Ansicht. Ein Gefallen durch bloße Form, ohne Begriff, ohne Vorstellung eines Zweckes ist unmöglicli. Alle Schönheit muß etwas bedeuten oder ausdrücken, Symbol innerer Lebendigkeit sein, ihr Grund ist Vollkommenheit oder Zweckgemäßheit. Schönheit ist diejenige ebenmäßige Verbindung der Teile eines Wesens, durch welche dieses selbst sich wohlfühlt und dem Betrachter, der sympathetisch dessen Wohlsein mitgenießt, wohlgefällt. Der Reiz und Wert der „Kalligone" liegt mehr in der Wärme und Anschaulichkeit, mit der die ausdrucksvolle Schönheit der einzelnen Naturerscheinungen ge- schildert wird, als in der begrifflichen Erörterung.

Friedrich Heinrich Jacobi^ (1743 1819) hat den Standpunkt der Gefühlsphilosophie am ausführlichsten dargestellt und am sorgfältig- sten begründet. Er war in Düsseldorf als Sohn eines Fabrikbesitzers geboren, lebte bis 1794 dort und auf seinem Landsitze in Pempelfort, dann in Holstein und seit 1805 in München, wo er 1807 1813 Präsi- dent der Akademie der Wissenschaften war. Von seinen 1812 1825 in sechs Bänden gesammelten Werken kommen hier hauptsächlich in Betracht die Briefe „Über die Lehre des Spinoza" 1785, „D. Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus" 1787, „Jacobi an Fichte" 1799 und die Schrift „Von den göttlichen Dingen" 181 1, die Schellings unbarmherzige Zurechtweisung „Denkmal Jacobis" zur Folge hatte. Außer Hume und Spinoza hatte der Sensualismus des Bonnet und Kants Kritizismus auf Jacobi den nachhaltigsten Eindruck gemacht. Sein Ver- hältnis zu Kant ist weder das eines Gegners noch das eines Anhängers und Popularisators. Mit Kants Kritik des Verstandes erklärt er sich ein- verstanden (der Verstand ist eine bloß formale, nur Begriffe bildende und kombinierende, nicht Realität verbürgende Funktion, der der Stoff des Denkens anderswoher gegeben sein muß, und der das Übersinnliche unerreichbar bleibt); an der Kritik der Vernunft tadelt er, daß sie die Ideen für bloße Postulate gelten läßt, denen keine Garantie ihrer Wirk- lichkeit beiwohne. Noch ungenügender erscheint ihm die Kritik der Sinnlichkeit, da sie die Herkunft der Empfindungen nicht erkläre. Ohne den Begriff des „Dinges an sich" kommt man nicht in die Kantische Philosophie hinein, mit demselben kann man nicht in ihr bleiben. Fichte hat die richtige Folgerung aus den Kantischen Prämissen gezogen, der

1 Über Jacobis Leben, Dichten und Denken Eb. Zirngiebl, Wien 1867, über seine Lehre F. Harms, Berlin 1876.

Die Glaubensphilosophie: Jacobi. 275

Idealismus ist die unausweichliche Konsequenz der Vernunfdcritik, von dieser vorausverkündet wie der Messias durch Johannes den Täufer. An den kranken Früchten aber erkennt man die kranke Wurzel: die idea- listische Theorie ist philosophischer Nihilismus, denn sie leugnet die Realität der iVußenwelt, wie der Materialismus des Spinoza den außer- weltlichen Gott und die Willensfreiheit leugnet. Beiden Systemen es sind die einzigen konsequenten, die es gibt entschlüpft die Wirklich- keit, jenem die materielle, diesem die übersinnliche, und muß ihnen entschlüpfen, weil Wirklichkeit, welcher Art sie sei, nicht gewußt, son- dern nur geglaubt und empfunden werden kann. Das Wirkliche, die Existenz des Jenseitigen sowohl als die der Außenwelt, sogar die des eigenen Leibes, gibt sich uns allein durch Offenbarung kund; der Ver- stand begreift bloß Verhältnisse, die Gewißheit eines Daseins wird nur durch Erfahrung und Glauben gewonnen. Organe des Glaubens und darum die wahren Erkenntnisquellen sind Sinn und Vernunft, jener er- faßt das Natürliche, diese das Übernatürliche, dem Verstände bleibt nur das Trennen und Verknüpfen gegebener Anschauungen.

Die Philosophie als Wissenschaft aus Begriffen muß notwendig atheistisch und fatalistisch ausfallen. Begreifen und Beweisen ist ein Her- leiten aus Bedingungen. Wie sollte das, was keine Ursachen hat, aus denen es erklärt werden könnte, das Unbedingte, Gott und Freiheit, begriffen und beweisen werden? Die Demonstration gelangt an der Kette der Ursachen nur zum Universum, nicht zum überweltlichen Schöpfer^ das vermittelte Wissen ist in das Gebiet des bedingten Seins und des mechanischen Geschehens eingeschlossen. Darüber hinaus führt nur die unmittelbare Erkenntnis des Gefühls, die uns mit der wunderbaren, unbegreiflichen, aller Natur überlegenen Kraft der Freiheit in uns zu- gleich den Urquell aller Wunder, den außerweltlichen Gott über uns erschheßt. Der Schluß von unserer eigenen geistigen, selbstbewußten, freien Persönlichkeit auf diejenige Gottes ist kein unerlaubter Anthropo- morphismus: wir dürfen ungescheut in der Gotteserkenntnis unser mensch- liches Wesen vergöttlichen, weil Gott, da er den Menschen schuf, sein göttliches Wesen vermenschlichte. Vernunft und Freiheit sind dasselbe: jene ist theoretische, diese praktische Erhebung zum Übersinnlichen. Indessen gründet sich die Tugend nicht auf ein starres, despotisches, abstrakt formelles Gesetz, sondern auf einen Instinkt, der jedoch nicht auf Glückseligkeit abzielt. Damit versucht Jacobi zwischen der Moral der Aufklärung und derjenigen Kants zu vermitteln, indem er mit jener hinsichtlich des Ursprungs der Tugend (sie entspringt aus einem Natur- trieb), mit dieser betreffs ihres Wesens (sie besteht in der Uneigen- nützigkeit) übereinstimmt, dort also die imperativische Form, hier das eudämonistische Ziel ablehnt. Zugleich bemüht er sich, den Herderschen Individualitätsgedanken in die Ethik einzuführen, indem er verlangt, die

18*

2/6 Kant.

Sittlichkeit solle sich in jedem Menschen eigentümlich gestalten. Schiller und die Romantik empfingen ihr Ideal der „schönen Seele", welche aus natürlichem Drange und in eigenartiger Form in iluem Tun, noch mehr in ihrem Sein das Gute verwirklicht, von Jacobi.

Zweiter Teil. Von Kant bis zur Gegenwart.

Neuntes Kapitel. Kant.

Seit Jahrhunderten schwebte der Rechtsstreit zwischen Empirismus und Rationalismus und harrte noch immer der endgültigen Entscheidung. Sind alle unsere Vorstellungen ein Erfahrungserwerb oder sind sie (ins- gesamt oder teilweis) ein ursprüngliches Besitztum des Geistes? Werden sie von außen (durch Wahrnehmung) empfangen oder von innen (durch Selbsttätigkeit) hervorgebracht? Ist die Erkenntnis ein Produkt der Em- pfindung oder des reinen Denkens? Wer bis jetzt in diesem Streite seine Stimme erhoben, glich mehr einem Parteigänger oder Advokaten, als einem uninteressierten Richter. Er hatte weniger untersucht, als eine in seiner Schule überlieferte These verteidigt; er wollte nicht ein Er- gebnis finden, sondern ein vorher feststehendes begründen, und neben sachlichen Argumenten waren auch volksrednerische nicht verschmäht worden. Jede der kämpfenden Schulen hatte Variationen auf ein ge- gebenes Thema geliefert, und wo schüchterne Versuche gemacht worden, beide Melodien kontrapunktisch zu verbiiiden, da hatten sie keinen An- klang gefunden.

So viel war aus dem bisherigen Verlaufe der Verhandlungen für den unparteiischen Zuhörer klar geworden, daß jede von beiden Parteien über- triebene Ansprüche erhob und schließlich mit sich selbst in Widerspruch geriet. Ist es wahr, was der Empirismus behauptet, daß alle unsere Begriffe aus der Wahrnehmung stammen, so ist nicht nur eine Wissen- schaft des Übersinnlichen, die er verwirft, sondern auch eine Wissenschaft von Erfahrungsgegenständen, um die er sich bemüht, unmöglich. Denn die Wahrnehmung belehrt uns nur über einzelne Fälle, sie kann niemals alle umfassen, sie gibt keine notwendige und allgemeine Einsicht, ein Wissen aber, das nicht apodiktisch für jeden Urteilenden und für alle

Empirismus und Rationalismus.

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Fälle gilt, verdient diesen Namen gar nicht. Aus den Gründen, mit denen die Möglichkeit der Erkenntnis erwiesen werden soll, folgt gerade ihre Unmöglichkeit. Die Erfahrungsphilosophie hebt sich selbst auf und endigt mit Hume im Skeptizismus und Probabilismus. Einem ent- gegengesetzten und doch auch wiederum \erwandten Schicksal verfällt der Rationalismus, er löst sich in eine eklektische Popularphilosophie auf. Er glaubt, in der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen ein untrügliches Kriterium der Wahrheit und in der mathematischen Methode ein sicher leitendes Vorbild für die philosophische entdeckt zu haben. Er irrt sich in beiden Punkten. Jenes Kriterium ist unzulänglich, denn aus gleich klaren und deutlichen Begriffen haben Spinoza und Leibniz ihre entgegengesetzten Theorien erbaut, jener die All-Einslehre, dieser die Monadenlehre: an jenem Maßstabe gemessen ist der Individualismus ebenso wahr wie der Pantheismus. Die Mathematik aber \erdankt ihre unbestrittene Geltung und einleuchtende Kraft nicht der Klarheit und Deutlichkeit ihrer Begriffe, sondern dem Umstände, daß sich dieselben in der Anschauung konstruieren lassen. Man übersah den Unterschied zwischen ]Mathematik und Metaphysik, der darin besteht, daß das mathematische Denken seine Begriffe in Anschauungen zu verwandeln, seine Gegenstände zu erzeugen oder sinnlich darzustellen vermag, was das philosophische nicht imstande ist. Diesem müssen seine Objekte gegeben sein, und dem Menschengeiste werden sie nicht anders gegeben, als durch sinnliche Anschauung. Die Metaphysik will eine Wissenschaft \ r)m Wirklichen sein, aus dem Denken aber läßt sich kein Sein heraus- klauben, Wirklichkeit kann nicht aus Begriffen bewiesen, sondern nur empfunden werden. Indem der Rationalismus das Unempfindbare und Übersinnliche (das wahre Wesen der Dinge, das Weltganze, die Gott- heit, die Unsterblichkeit) für das eigentliche Objekt der Philosophie er- klärte, sah er im Verstände ein Erkenntnisvermögen, durch welches Gegen- stände gegeben würden. In Wahrheit können durch Begriffe nie Gegen- stände gegeben, sondern nur anderweitig (durch x\nschauung) gegebene Gegenstände gedacht werden. Wohl gibt es Begriffe vom Übersinn- lichen, aber es kann durch sie nichts erkannt, es kann unter sie nichts anschaulich Gegebenes subsumiert werden. Mit der obenerwähnten Ver- kennung des anschaulichen Elementes der Mathematik verband sich noch als ein weiterer Irrtum die Verkennung ihres synthetischen Charakters. Die syllogistische Darstellungsmethode der Euklidischen Geometrie verführte zu dem Glauben, als würden die spezielleren Lehr- sätze aus den einfacheren und diese aus den Axiomen auf dem Wege einer begrifflichen Zergliederung gewonnen', während in der Mathematik

1 Vergl. die (von Cohen, Kants vorkritische Schriften, S. 14 zitierte) Stelle aus Mendelssohns preisgekrönter Abhandlung Über die Evidenz in metaphysischen

2/8

Kant.

tatsächlich der Fortschritt allein durch Anschauung geschieht, der Syllo- gismus aber nur erlangte Kenntnisse formulieren und verdeutlichen, nicht neue verschaffen kann. Nach dem Muster der in dieser Weise falsch- verstandenen Mathematik wurde nun die Aufgabe der Philosophie darein- gesetzt, aus inhaltsvollen obersten Grundsätzen die in ihnen schlummernden Erkenntnisse mittels logischer Analyse zu entwickeln. Wenn es nur metaphysische Axiome gäbe! Wenn wir nur nicht von wahrer Wissen- schaft verlangten und verlangen müßten, daß sie unsere Erkenntnis vermehre und nicht bloß analytisch verdeutliche ! War einmal die Klarheit und Deutlichkeit der Begriffe in solchem rein formellen Sinne genommen, so konnte es nicht ausbleiben, daß sich schließlich bei erschlaffender Produktivität jenes Prinzip zu der Forderung eines bloßen Verdeutlichens und Aufklärens der im populären Bewußtsein vorhandenen metaphysischen Vorstellungen abschwächte. So verlor sich der Strom des Rationalismus in die seichten Gewässer der Aufklärung, welche bald den empiristischen Theorien, da sich diese ebenfalls durch klare und deutliche Begriffe zu legitimieren vermochten, eine gleich bereitwillige Aufnahme gewährte wie den Ergebnissen der rationalistischen Systeme.

Es war ziemlich leicht, einzusehen, daß jede der streitenden Parteien sich einer Einseitigkeit schuldig gemacht habe, und daß man, um diese zu vermeiden, eine gewisse Mitte zwischen den Extremen halten müsse; viel schwerer war es, die richtige Mitte zu treffen. Keiner der entgegen- gesetzten Standpunkte ist so richtig, wie seine Vertreter glauben, keiner so falsch, wie seine Gegner behaupten. Wo beginnt auf jeder Seite die fehlerhafte Einseitigkeit, wie weit reicht auf jeder die Berechtigung?

Der Streit dreht sich i. um Ursprung und Geltungssphäre der mensch- lichen Erkenntnis. Der Rationalismus hat recht zu behaupten: einige Vorstellungen sind nicht sinnlichen Ursprungs. Soll Erkenntnis möglich sein, so dürfen nicht alleBegriffe aus der Wahrnehmung stammen, nämlich diejenigen nicht, durch welche Erkenntnis gemacht wird, weil andernfalls dem Wissen die strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit fehlen würde. Das einzige Organ einer allgemeingültigen Erkenntnis ist die Vernunft. Der Empirismus hat recht zu behaupten: nur das Erfahrbare ist erkennbar. Soll etwas erkennbar sein, so muß es als ein Wirkliches in der sinnlichen Anschauung gegeben sein. Das einzige Organ für Realität ist die Sinnlichkeit. Der Rationalismus urteilt richtig über den Ursprung der wichtigsten Klasse der Vor- stellungen, der Empirismus richtig über die Geltungssphäre derselben. Beides läßt sich so vereinigen: einige (die die Erkenntnis bewirkenden)

Wissenschaften: es ist ,,keln Zweifel, daß in dem Begriff von der i\usdehuung alle geometrische Wahrheiten eingewickelt anzutreffen sein müssen, die uns die Geometrie darin entwickeln lehrt".

Empirismus und Rationalismus.

279

Begriffe stammen aus der Vernunft oder sind apriori, aber sie gelten nur für Gegenstände der Erfahrung. Der Streit betrifft 2. die Anwendung der deduktiven (syllogistischen) oder der induktiven Methode. Der Em- pirismus hatte in seinem Begründer Bacon statt des sterilen syllogistischen Verfahrens das induktive empfohlen als das einzige, welches zu neuen Erfindungen anleite. Er verlangt vor allem Erweiterung der Erkenntnis. Hiergegen hielt der Rationalismus an der deduktiven Methode fest, weil allein der Syllogismus ein für alle vernünftigen Wesen gültiges Wissen liefere. Er verlangt in erster Linie Allgemeinheit und Notwendig- keit der Erkenntnis. Die Induktion hat den Vorzug, die Erkenntnis zu erweitern, aber sie bringt es nur zu einer empirischen, komparativen, nicht zu einer strengen Allgemeinheit. Der Syllogismus hat den Vorzug, allgemeine und notwendige Erkenntnis zu geben, aber er kann unser Wissen nur verdeutlichen und befestigen, nicht vermehren. Wäre es nicht möglich, den beiderseitigen Forderungen gleichzeitig in der Weise gerecht zu werden, daß man die gewünschten Vorzüge vereinigte und die gefürchteten Nachteile vermiede? Gibt es nicht Erkenntnisse, die unser Wissen bereichern (svnthetisch sind), ohne empirisch zu sein, die allgemein und notwendig gelten (apriori sind), ohne analytisch zu sein? Aus diesen Überlegungen entspringt die Hauptfrage der „Kritik der reinen Vernunft": wie sind synthetische Urteile apriori möglich?

Die Erfahrungsphilosophie hatte die Sinnlichkeit über- und den Verstand unterschätzt, indem sie in der Wahrnehmungsfähigkeit die Quelle aller Erkenntnis erblickte und das Denkvermögen zu einem fast ganz untätigen Empfänger der von außen anlangenden Botschaften herab- setzte. Nach ihr verdienen die Begriffe (Ideen) nur so weit Vertrauen, als sie sich durch ihre Abstammung aus Empfindungen (Eindrücken) legitimieren können. Sie übersieht den tätigen Charakter alles Er- kennens. Bei den Rationalisten bemerken wir umgekehrt eine Unter- schätzung der Sinne und Überschätzung des Verstandes. Sie meinten, daß sich der Sinnlichkeit nur die täuschende Außenseite der Dinge, der ^^ernunft hingegen ihr wahres unsinnliches Wesen darstelle. Was der Geist von den Dingen empfindet, ist trüglich, was er über sie denkt, ist wahr. Jene ist das Vermögen der verworrenen, dieser das Vermögen der deutlichen Erkenntnis. Die Sinnlichkeit ist mehr der Feind als der Diener der wahren Erkenntnis, die in der Entwickelung und Verdeut- lichung angestammter gehaltvoller Begriffe und Grundsätze besteht. Diese Philosophen vergessen, daß wir durch Begriffszergliederung nie zu einem Wirklichen kommen, und daß die Sinnlichkeit für das Erkennen eine viel größere Bedeutung hat als nur die, ihm einen Anstoß zu liefern; daß sie es ist, welche dem Verstände die realen Gegenstände und damit den Inhalt der Erkenntnis verschafft. Zum Erkennen gehört außer der (formellen Verstandes-) Tätigkeit auch ein Leiden, ein Empfangen

28o Kant.

von Eindrücken. Weder die Sinnlichkeit allein noch der Verstand allein bringt Erkenntnis zuwege, es sind beide Erkenntnisvermögen dazu nötig, das aktive und das passive, das begreifende und das anschauende. Hier erhebt sich die Frage: wie unterscheiden sich Begriff und Anschauung, sinnliche und vernünftige Erkenntnis, und worauf beruht ihre Zusammen- gehörigkeit? —

Die beiden Hauptrichtungen der neueren Philosophie stimmen jedoch, ungeachtet ihrer Verschiedenheit nach Ausgangspunkt und Resultaten, in einigen Punkten überein. Wenn der Widerstreit und die Einseitigkeit der beiden Schulen den Gedanken nahelegte, ihre Standpunkte durch- einander zu ergänzen, so gab die Einsicht in die Unrichtigkeit ihrer ge- meinsamen Überzeugungen die Veranlassung, über sie hinauszugehen und einen neuen höheren Standpunkt über beiden und zugleich über dem die Gegensätze zu verbinden suchenden Eklektizismus zu gründen. Die gemeinsamen Fehler betreffen zunächst das Wesen des Urteils und den Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand. Auf keiner Seite war das Eigentümliche des Urteils erkannt worden, daß es in einem tätigen Verknüpfen besteht. Die Rationalisten sahen im Urteilen allerdings eine Tätigkeit, aber nur die eines Bewußtmachens, eines bloßen Ver- deutlichens und analytischen Folgerns, womit die Wissenschaft nicht vom Flecke kommt. Die Empiristen beschrieben es als ein Vergleichen und Unterscheiden, als ein bloßes Wahrnehmen und Anerkennen der zwischen den Ideen bereits bestehenden Beziehungen und Verbindungen, während in der Tat das Urteil die Verhältnisse und Verbindungen der Vor- stellungen nicht vorfindet, sondern selbst erst stiftet. Dort fehlt das syn- thetische, hier das aktive Moment. Die mangelhafte Ansicht vom Urteil war einer der Gründe für die Entstehung der extremen Theorien über den Ursprung der Vorstellungen aus der Vernunft oder aus der Wahrnehmung. Der Rationalismus betrachtet auch inhaltliche Begriffe als angeboren, während nur die formellen es sind; der Empirismus betrachtet alle, auch die obersten formellen Begriffe (die Kategorien) als abstrahiert aus der Erfahrung, während Erfahrung nur den Inhalt der Erkenntnis, nicht aber dessen notwendige Verknüpfung liefert. Dort werden zu viele, hier zu wenige als ursprüngliches Verstandesbesitztum angesehen. Die Frage „welche Begriffe sind angeboren" kann nur entschieden werden durch Beantwortung der anderen: welches sind die Begriffe, durch welche das Urteilsvermögen die aus der Erfahrung gewonnenen Vorstellungen ver- knüpft? Diese Verknüpfungsbegriffe, diese formellen Instrumente der Synthese sind apriori.

Noch größer ist die Übereinstimmung beider Schulen, trotz des scheinbar schroffen Gegensatzes, hinsichtlich des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand. Den Empiristen gilt das Denken als ein umgeformtes, sublimiertes Wahrnehmen, den Rationalisten das Wahr-

Kritizismus. 28 1

nehmen als ein verworrenes, minder deutliches Denken. Jenen sind die Begriffe abgeblaßte Nachbilder der Empfindungen, diesen sind die Em- pfindungen noch nicht zur Klarheit gelangte Begriffe; der Unterschied ist kaum größer, als wenn der eine das Eis gefrorenes Wasser, der andere vielmehr das Wasser geschmolzenes Eis genannt haben will. Beide ordnen Anschauen und Denken in eine Reihe und lassen das eine aus dem anderen durch Abschwächung oder Steigerung hervorgehen. Beide machen denselben Fehler, dort einen Gradunterschied zu sehen, wo ein Artunterschied stattfindet. Da kann nur ein energischer Dualis- mus helfen. Sinnlichkeit und Verstand sind nicht eine und dieselbe Erkenntniskraft auf verschiedenen Stufen, sondern zwei heterogene Er- kenntnisvermögen. Empfinden und Denken sind nicht graduell, sondern spezifisch verschieden. Wie Descartes mit dem metaphysischen Dualismus von Ausdehnung und Denken, so beginnt Kant mit dem erkenntnis- theoretischen Dualismus von Anschauen und Denken.

Viel schwerer wiegend jedoch als die genannten Irrtümer war eine Unterlassungssünde, deren sich beide Parteien gleichmäßig schuldig ge- macht und deren Erkenntnis und Vermeidung in Kants eigenen Augen den auszeichnenden Charakter seiner Philosophie und ihren prinzipiellen Fortschritt über die bisherige begründet. Der vorkantische Denker begibt sich an sein Erkenntnisgeschäft, ohne sich vorher die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis vorzulegen. Er tritt an die Dinge heran im guten Glauben, daß der menschliche Geist fähig sei, sie zu erkennen, mit einem naiven. Zutrauen zu der Kraft der Vernunft, sich der Wahrheit zu bemächtigen. Naiv, unbefangen ist sein Zutrauen, weil es ihm gar nicht in den Sinn kommt, daß es ihn täuschen könne. Gleichviel, ob und wieweit dieser Glaube an die menschliche Erkenntnis- fähigkeit und die Erkennbarkeit der Dinge berechtigt sein mag, jeden- falls ist er ungeprüft, und wenn ein Skeptiker daherkommt mit seinen Einwürfen , so steht der Dogmatiker wehrlos da. Alle bisherige Philo- sophie, sofern sie nicht skeptisch war, ist nach Kants Ausdruck dogma- tisch, d. h. es steht ihr ohne vorgängige Prüfung wie ein Glaubenssatz fest, daß wir die Gegenstände, die wir zu erkennen wünschen, auch zu erkennen vermögen. Sie fragt nicht, wie dies möglich ist; sie fragt nicht, was Erkenntnis heißt, was man von ihr verlangen darf und muß, und durch welche Mittel unsere Vernunft solchen Ansprüchen zu genügen im- stande ist. Sie läßt das menschliche Erkenntnisvermögen und seine Trag- weite ununtersucht. Der Skeptiker verfährt nicht gründlicher. Er be- zweifelt und verneint die Erkenntnisfähigkeit ebenso unkritisch, wie der Dogmatiker sie geglaubt und vorausgesetzt hatte. Er richtet seinen Scharfsinn gegen die Aufstellungen der dogmatischen Philosophie, statt ihn auf die Grundfrage nach der Möglichkeit der Erkenntnis zu richten. Das menschliche Erkenntnisvermögen, dem der Dogmatiker mit

282 I-^ANT.

unmotiviertem Vertrauen, der Skeptiker mit ebenso unmotiviertem Miß- trauen entgegengetreten war, will der kritische Philosoph einer ein- gehenden Prüfung unterwerfen. Darum bezeichnet Kant seinen Stand- punkt als „Kritizismus", sein Unternehmen als eine „Kritik der Vernunft'". Statt zu behaupten und zu leugnen, untersucht er: wie kommt Er- kenntnis zustande, aus welchen Faktoren setzt sie sich zusammen, wie- weit reicht sie? Er forscht nach Ursprung und Umfang der Erkennt- nis, nach ihren Quellen und ihren Grenzen, nach ihren Existenz- und Rechtsgründen. Die Vernunftkritik sieht sich vor eine doppelte Aufgabe gestellt, deren zweite nicht gelöst werden kann, bevor die erste es ist. Die Untersuchung der Abkunft der Erkenntnis muß der ihrer Ausdehnung vorangehen. Erst wenn die Bedingungen der Erkenntnis feststehen, läßt sich ausmachen, welche Gegenstände ihr erreichbar sind. Ihr Umfang kann sich nur aus ihrem Ursprung ergeben.

Ob der kritische Philosoph dem Skeptiker oder dem Dogmatiker näher stehe, ist eine ziemlich müßige Frage. Er unterscheidet sich von beiden spezifisch, dadurch, daß er die Vernunft zur Selbstbesinnung, zur methodischen Prüfung ihrer Erkenntnisfähigkeit aufruft und anleitet. Wo jener blind vertraut, dieser beargwöhnt und negiert hatte, da untersucht er; sie unterließen, er erhebt die Frage nach der Möglichkeit der Er- kenntnis. Das kritische Problem hat nicht den Sinn: gibt es ein Er- kenntnisvermögen? sondern den: aus welchen Kräften besteht es? sind alle die Gegenstände erkennbar, die man dafür gehalten hat? Kant fragt nicht, ob, sondern wie und wodurch Erkenntnis möglich sei. Daß Erkennen möglich ist, muß jeder voraussetzen, der sich zu wissenschaftlichem Nachdenken anschickt, und die von heutigen Er- kenntnistheoretikern avifgestellte Forderung eines absolut voraussetzungs- losen Anfangs des Philosophierens ist schlechterdings unerfüllbar. Ja noch Spezielleres mußte Kant, um seine Untersuchung nur beginnen zu können, voraussetzen: daß ein Erkennen des Erkennens möglich sei, daß es eine kritische, sich selbst untersuchende Vernunft gebe, konnte am Anfang nur Sache des Glaubens sein. Das hätte eine nachträg- liche detaillierte Auskunft über das Wie dieser Selbsterkenntnis, über das Organ der kritischen Philosophie nicht ausgeschlossen. Kant ist sii- schuldig geblieben, und diese Lücke hat später einen lebhaften Streit über Charakter und Methode der Vernunftkritik hervorgerufen. In diesem Punkte ist Kant, wenn man sich so ausdrücken will, Dogmatiker ge- blieben.

Er selbst fühlte sich als den Vollender des Skeptizismus; wesentlich doch deshalb, weil er durch Humes Untersuchungen über die Kausalität den stärksten Antrieb zur Ausbildung seiner Erkenntniskritik empfangen hatte. Aufgewachsen in dem dogmatischen Rationalismus der Wolffischen Schule, der er noch als Lehrer und Schriftsteller eine geraume Zeit, wenn

Entwickelüngsgang. 283

auch mit selbständigem Geiste forschend, (etwa bis 1760) treu bUeb, wurde er durch den Einfluß der englischen Philosophie allmählich auf die Seite der empiristischen Skepsis hinübergezogen, trat sodann wohl infolge der Lektüre der 1765 veröffentlichten „Neuen Versuche" des Leibniz auf rationalistischen Boden zurück, um endlich, nach erneuter Einwirkung des Empirismus ^, jenen in der „Kritik der reinen Vernunft" 1781 fixierten Standpunkt einzunehmen, der freilich, wie er selbst die Spuren vergangener Umwandlungen erkennen läßt, auch in der Folge noch w^eitere, wenn auch minder erhebliche Verschiebungen erfahren hat. Es ist von höchstem Interesse, in den der vorkritischen Periode Kants angehörenden Schriften dem Werden und Wachsen der kritischen Grundgedanken nachzuspüren. Hier können indessen nur die Themata seines Nachdenkens angegeben und einige der frappantesten Vorausnahmen und Anbahnungen der epochemachenden Wendung hervorgehoben werden. Schon das Erstlingswerk ,, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" 1747 bekundet die schiedsrichterliche Natur des Autors. Wenn Männer von Gründlichkeit und Scharfsinn, heißt es dort, ganz widereinanderlaufende Meinungen behaupten, so muß man seine Aufmerksamkeit am meisten auf einen gewissen Mittelsatz richten, der beiden Parteien in gewissem Maße Recht läßt. Es handelt sich um die Streitfrage, ob die Größe der bewegenden Kraft nach cartesianischer Ansicht dem Produkt der Masse in die Geschwindigkeit, oder nach Leibnizischer Theorie dem Produkt der Masse in das Quadrat der Ge- schwindigkeit gleichzusetzen sei. Die unbefriedigende Lösung der Frage der Satz des Descartes gelte für die toten, der des Leibniz für die lebendigen Kräfte zog Kant den Spott Lessings zu, er begebe sich an die Schätzung der lebendigen Kräfte, ohne die eigenen geprüft zu haben. Eine ähnliche Vermittelungstendenz diesmal gilt es eine Synthese von Leibniz und Newton verraten die Habilitationsschrift Principiorum primorum cogJiitionis metaphysicae nova dilucidatio 1755 und die Dissertation Monadologia physica 1756. Die erstere unterscheidet Sachgrund und Erkenntnisgrund, verwirft den ontologischen Beweis und verteidigt mit Leibnizischen Gründen gegen Crusius den Determinismus. In der „physischen Monadologie" ^ bekennt sich Kant zu einem der

^ Vergl. H. Vaihingers von Scharfsinn, großem Fleiß und achtungswerter Ob- jektivität zeugenden Kommentar zu Kants Krit. d. r. V., i. Band, Stuttgart 1881, S, 48 49. Der zweite Band dieses (auf 4 Bände angelegten) Kommentars, der die transzendentale Ästhetik behandelt, ist 1892 erschienen. Er enthält lehrreiche Ex- kurse über die aftizierenden Gegenstände, das Verhältnis des Apriori zum Angebore- nen, ,,die möglichen Fälle" und den Streit zwischen Trendelenburg und Fischer, reine und angewandte Mathematik, die historische Entstehung der Kantischen Raum- und Zeitlehre, Kant und Berkeley.

2 Lotze (in seiner Rezension der Fechnerschen Atomenlehre 1855, Kl. Sehr. III,

284

Kant.

Atomistik noch nicht feindUchen Dynamismus und läßt die Monaden oder Elemente des Körpers unbeschadet ihrer Einfachheit den Raum erfüllen. Eine Reihe von Arbeiten ist naturwissenschaftlichen Thematen gewidmet: der verlangsamenden Wirkung von Ebbe und Flut auf die Erdumdrehung, dem Veralten der Erde, dem Feuer (Inauguraldissertation), den Erderschütterungen, der Theorie der Winde. Die bedeutendste unter denselben, die lange Zeit unbeachtet gebliebene, Friedrich II. ge- widmete „Allgem. Naturgeschichte und Theorie des Himmels" 1755, entwickelt die (vier Dezennien später von Laplace, ohne Kenntnis des kantischen Werkes, ausgeführte) Hypothese von der mechanischen Ent- stehung des Weltgebäudes und der Planetenbewegung. Die einfachen Voraussetzungen derselben sind die beiden Kräfte der Materie, die der Attraktion und der Repulsion, und ihr chaotischer Urzustand, ein Welt- nebel mit Elementen von verschiedener Dichtigkeit. Bemerkenswert ist das Eingeständnis, daß die mechanische Erklärung an zwei Punkten ihre Schranke finde: bei der Entstehung des Organischen und bei der Ent- stehung der Materie muß sie Halt machen. Die mechanische Kosmo- gonie ist weit entfernt, die Schöpfung zu leugnen; im Gegenteil, der Nachweis, daß aus dem gesetzmäßigen Wirken der materiellen Kräfte, ohne göttliche Eingriffe, dieses wohlgeordnete und zweckmäßige Universum hervorgehen mußte, kann uns nur in der Annahme einer höchsten Intelligenz als Urheber des Stoffes und seiner Gesetze bestärken; sie ist gerade deswegen unentbehrlich, weil die Natur selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann.

Die empiristische Phase wird durch die Schriften der sechziger Jahre repräsentiert. „Die falsche Spitzfindigkeit der syllogistischen Figuren" 1762 erklärt die erste Schlußfigur für die einzig natürliche, die übrigen für überflüssig und der Zurückführung auf jene bedürftig. In dem „Einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" 1762, welcher in der siebenten Betrachtung der zweiten Abteilung die in der „Naturgeschichte des Himmels" vorgetragene Kosmogonie rekapituliert, sind die Erörterungen über das Sein („Dasein" ist absolute Setzung, nicht ein die Summe der Merkmale vermehrendes, sondern ein bloß be- ziehungsweise gesetztes Prädikat) und die den späteren Standpunkt vor- andeutenden Schlußworte „es ist durchaus nötig, daß man sich vom Da- sein Gottes überzeuge, es ist aber nicht ebenso nötig, daß man es demonstriere" beachtenswerter, als der Beweisgrund selbst. Er lautet: alle Möglichkeit setzt etwas Wirkliches voraus, worin und wodurch alles Denkliche als Bestimmung oder Folge gegeben ist. Dasjenige Wirkliche, durch dessen Aufhebung alle Möglichkeit aufgehoben sein würde, ist

S. 225 8) ist „der Überzeugung, daß diese Kantische Theorie von 1756 der wahre Abschluß der Atomistik ist, auf den wir zurückkommen müssen".

Die vorkritischen Schriften.

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schlechterdings notwendig. Es existiert demnach ein schlechthin notwendiges Wesen als letzter Realgrund aller Möglichkeit, dasselbe ist einig, einfach, unveränderlich, ewig, das allerrealste Wesen und Geist. Die Preis- schrift „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral" (1764 erschienen) zieht eine scharfe GrenzUnie zwischen mathematischer und metaphysischer Erkenntnis und warnt die Philosophie vor der schädlichen Nachahmung der geometrischen Methode, statt deren sie sich vielmehr dasjenige Verfahren zum Vorbild nehmen solle, welches Newton in die Naturwissenschaft eingeführt habe. Den Gegenstand der Mathematik macht die Größe aus, den der Philosophie bilden Qualitäten; jener ist leicht und einfach, dieser schwer und verwickelt: wieviel faßlicher ist der Begriff der Trillion als die philosophische Idee der Freiheit, welche die Weltweisen bis jetzt noch nicht haben verständlich machen können. In der Mathematik wird das Allgemeine unter den Zeichen in concreto, in der Philosophie durch die Zeichen in abstracto betrachtet, jene entwirft ihr Objekt in sinnlicher Anschauung, dieser wird das ihrige gegeben, und zwar als verworrener Begriff, der zergliedert sein will. Somit darf wohl die Mathematik mit Definitionen anfangen, da der Begriff, dem die Erklärung gilt, allererst durch die Definition entspringt, während die Philosophie die ihrigen erst suchen muß: in jener ist die Definition das Erste, in dieser fast jeder- zeit das Letzte; dort wird synthetisch, hier analytisch verfahren. Das Geschäft der Mathematik ist, klare und sichere Begriffe von Größen zu verknüpfen und zu vergleichen, um hieraus Folgerungen zu ziehen; das der Weltweisheit, als verworren gegebene Begriffe zu zergliedern, sie ausführlich und bestimmt zu machen. Zu Ungunsten der letzteren kommt noch hinzu, daß jene nur wenige, diese ungemein viele unauf- lösliche Begriffe und unerweisliche Sätze hat. „Die philosophischen Er- kenntnisse .... sind wie die Meteore, deren Glanz nichts für ihre Dauer verspricht. Sie verschwinden, aber die Mathematik bleibt. Die Meta- physik ist ohne Zweifel die schwerste unter allen menschlichen Einsichten, allein es ist noch niemals eine geschrieben worden;" denn man darf nicht so gutmütig sein, alles „Weltweisheit zu nennen, was in den Büchern steht, welche diesen Titel führen". In den Schlußparagraphen üljer die ersten Gründe der Moral blickt durch den Schleier der englischen Theorie vom moralischen Gefühl bereits das strenge Antlitz des kategorischen Imperativs hindurch. Der „Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen" 1763 unterscheidet gegen Crusius von der logischen Entgegensetzung, dem Widerspruche oder der bloßen Verneinung (a und non-a, Lust und Abwesenheit von Lust, Vermögen und Mangel an Vermögen) die auf bloß logischem Wege nicht erklärbare reale Entgegensetzung (-f- a und a, Lust und Unlust, Kapital und Schulden, Anziehung und Zurückstoßung; bei der Realrepugnanz sind

286 Kant.

beide Bestimmungen positiv, nur in entgegengesetzter Richtung) und parallel damit vom logischen Grunde den Realgrund. Gegen Schluß taucht das Kausalproblem auf: „wie soll ich es verstehen, daß, weil etwas ist, etwas anderes sei?" Die zur Lektüre zu empfeh- lenden — höchst anmutigen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" 1764, wesentlich psychologischen Inhalts, stellen den gutherzigen Trieben das Handeln aus allgemeinem Grundsatz als allein wahrhaft sittlich gegenüber.

Mit der an Emanuel von Swedenborgs (1688 1772) Arcana coelestia anknüpfenden Satire „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik" 1766, welche ihren geistreichen Spott gleicherweise über die Geisterseherei wie über die vermeintliche Wissen- schaft vom Übersinnlichen ausschüttet, erreicht die empiristische Phase ihren skeptischen Abschluß. Der neuen Aufgabe einer Lehre von den Grenzdn der menschlichen Vernunft ist sich Kant hier schon klar bewußt, auch dessen, daß dieselbe von einer Erörterung des Raumpro- blems aus in Angriff zu nehmen sei. Schon früh und zu wiederholten Malen hatte das letztere sein Nachdenken beschäftigt i, und dieser Teil des kritischen Gesamtproblemes war es auch, der zuerst seine definitive Erledigung fand. Die Kritik der Sinnlichkeit, die neue Lehre von Raum und Zeit, wird in der zum Antritt der ordentlichen Professur geschrie- benen lateinischen Dissertation über Form und Prinzipien der sinn- lichen und der intelligiblen Welt 1770 (deutsche Übersetzung in Kants „Vermischten Schriften", herausgeg. von Tieftrunk 1799), welche die vorkritische Periode schließt, in annähernd gleicher Gestalt \-orgetragen wie in der „Kritik der reinen Vernunft", während die Kritik des Ver- standes und der Vernunft, die Lehre von den Kategorien und den Ideen und ihrem Geltungsbereiche, zu ihrer Vollendung noch einer mehrjährigen Denkarbeit bedurfte. Denn jene Abhandlung De mundi sensibilis atqiie intelligibilis forma et principiis läßt noch die Erkennbarkeit der Dinge an sich und Gottes unbeanstandet, zeigt somit, daß ihr Ver- fasser den in den „Träumen eines Geistersehers" vertretenen Skeptizis- mus verlassen und sich wahrscheinlich, nach Windelbands gegrün- deter Vermutung, infolge der Lektüre von Leibniz' Nouveanx essais von neuem dem rationalistischen Dogmatismus zugewandt hat, zu dessen endgültiger Überwindung eine abermalige Schwenkung in der Richtung des skeptischen Empirismus nötig war. Für die Kenntnis des Verlaufs der letzteren sind die Briefe an Marcus Herz fast die einzige, überdies nicht sehr ergiebige Quelle.

1 Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe 1758, Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im R.aume 1768, außerdem mehrere der oben angeführten Schriften.

Die Hauptwerke. 287

Die Kritik der reinen Vernunft ' erschien 1781, sehr viel später, als Kant bei der Inangriffnahme eines Werkes über „Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft" gehofft hatte; in zweiter, veränderter - x\uflage 1787. Nachdem die Prolegomena zu einer jeden künftigen ^Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, 1783 der kriti- schen Erkenntnislehre eine populärere Form gegeben, folgte derselben in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1785 und der Kritik der praktischen Vernunft 1788 die kritische Moralphilosophie, in der Kritik der Urteilskraft 1790 (Ausgabe von K. Vorländer mit Register 1902) die kritische Ästhetik und Teleologie, in der Reli- gion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft^ 1793 (bestehend aus vier Abhandlungen, deren erste „vom radikalen Bösen" bereits 1 792 in der Berlinischen INIonatsschrift erschienen war) die kriti- sche Religionsphilosophie. Dem Ausbau des Systems sind die Meta- physischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft 1786 und die Meta- physik der Sitten (in zwei Teilen: Metaphy.sische Anfangsgründe der Rechtslehre und Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre) 1797 gewidmet. Das Jahr 1798 brachte noch zwei größere Werke: den Streit der Fakultäten und die x'\nthropologie. Von den Rezensionen mag die über Herders „Ideen" erwähnt sein, von den kleineren Aufsätzen die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, die Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung? 1784, Mutmaßlicher An- fang der Menschengeschichte, Was heißt: sich im Denken orientieren? 1786, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie 1788, Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Ver- nunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (gegen Eber- hard) 1790, Über die Fortschritte der Metaphysik seit Wolffs Zeiten, Über Philosophie überhaupt, Das Ende aller Dinge 1794, Zum ewigen Frieden 1795. Kants Logik hat Jäsche 1800, seine Physische Geographie und seine Anmerkungen über die Pädagogik Fr. Th. Rink 1803, seine Vorlesungen über philosophische Religionslehre (181 7, 2. Aufl. 1830) und

1 Ausgaben der Kr. d. r. V. von B. Erdmann, fünfte Aufl. 1900 (:ils Anhang dazu: Beiträge zur Geschichte und Revision des Textes), Adickes 1889 und K. Vor- länder (mit gutem Register) 1899.

2 Über das Verhältnis der beiden Aiaflagen ist viel geschrieben und gestritten worden. Gegen Schopenhauer und K. Fischer muß festgehalten werden, daß die Veränderungen der zweiten Auflage in einer stärkeren Hervorkehrung realistischer Ele- mente bestehen, die in der ersten zwar zurücktreten, aber doch schon vorhanden sind.

3 An diese Veröffentlichung knüpfte sich ein Streit Kants mit der Zensur über das Recht freier Religionsforschung, worüber DiLTHEY im AGPh. Bd. 3 (1890) S. 4t8 50; Emil Fromm, Kant und die preußische Zensur 1894; ders. : Zur Vor- geschichte der königl. Kabinettsorder an Kant (VKSt. Bd. 3) 1898. Reicke und Arnoldt in seinen Beiträgen haben nachgewiesen, daß J. Chr. Hennings, als Dekan der philosophischen Fakultät in Jena, das Imprimatur für Kants Werk erteilt hat.

288 Kant.

über Metaphysik (182 1; hierüber B. Erdmann in den Philos. Monatsh. Bd. 19, 1883, S. 129 f. und Bd. 20, 1884, S.ösf.; M. Heinze, Vorlesungen Kants über Metaph., 1894) Pölitz herausgegeben. Die (früher einmal in Aussicht gestellte) Herausgabe eines im Besitze des Hamburger Pastors Albr. Krause befindlichen Manuskriptes aus Kants letzten Jahren, welches den Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik behandelt, würde, nach den von Reicke in der Altpreußischen Monatsschrift 1882 84 und den von A. Krause selbst 1 gegebenen Proben zu urteilen, schwerlich die von einigen gehegten Erwartungen erfüllen. Benno Erdmann hat „Nachträge zu Kants Kr. d. r. V. aus Kants Nachlaß" 1881 und „Reflexionen Kants zur kriti- schen Philosophie aus handschriftlichen Aufzeichnungen" herausgegeben; das erste Heft des ersten Bandes (Reflexionen zur Anthropologie) ist 1882, der zweite Band (Reflexionen zur Kr. d. r. V., aus Kants Hand- exemplar von Baumgartens Metaphysik, mit einer entwickelungsgeschicht- lichen Einleitung des Herausgebers) 1884 erschienen. Über die von Rudolf Reicke herausgegebenen „Losen Blätter aus Kants Nachlaß" 1889, zweites Heft 1895, siehe Vaihinger in der ZPhKr. Bd. 96 (1889) und Adickes in VKSt. Bd. i, S. 22>2 l (1896). Eine französische Übersetzung mehrerer Kantischer Werke hat J. TissoT, eine englische der Kritik der reinen Vernunft Max Müller 1881, 2. Aufl. 1896, ver- anstaltet.

Die beste Gesamtausgabe der Werke Kants ist die chronologisch geordnete und vorzüglich ausgestattete zweite von Hartenstein in acht Bänden 1867 1868. Gleichzeitig mit der ersten HARTENSTEiNSchen in zehn Bänden 1838 f. war die zwölf bändige von K. Rosenkranz und Fr. W. Schubert erschienen (in den letzten Bänden eine Biographie Kants von Schubert und eine Geschichte der Kantischen Philosophie von Ro- senkranz 1842). Die KEHRBACHsche Ausgabe der Hauptschriften in Reclams Universalbibliothek mit der Paginierung der Original- und Ge- samtausgaben (seit 1877) ist empfehlenswerter als die v. KiRCHMANNsche der sämtlichen Werke in der Philosophischen Bibliothek. Die neue Kantausgabe der Berliner Akademie gliedert sich in vier Abteilungen: Druckschriften (Dilthey), Briefwechsel (Reicke), handschriftl. Nachlaß (Adickes) und Vorlesungen (Heinze). Sie ist mit der zweiten Abteilung (Briefwechsel, 3 Bände 1900—02) erößiiet worden; vergl. Vaihinger

1 A. Krause: I. Kant wider K. Fischer^ zum ersten M.ale mit Hilfe des ver- loren gewesenen kantischen Hauptwerkes verteidigt, 1884 (hiergegen K. Fischer: Das Streber- und Griindertum in der Literatur, 1884); ders. : Das nachgehassene Werk I.Kants, mit Belegen populär-wissensch.aftlich dargestellt, 1888; ders.: Die letzten Gedanken Kants, der Transzendentalphilosophie höchster Standpunkt: von Gott, der Welt und dem Menschen, welcher beide verbindet, aus Kants hinterlassenem Manu- skript 1902.

Literatur.

iSg

in VKSt. Bd. 5, Heft i; Vorländer in der ZPhKr. Bd. 117, S. 94 f.; Friedrich Alfred Schmid in VKSt. Bd. 9, S. 307 f.. 1902 folgte der erste Band der „Werke": die vorkritischen Schriften bis 1756 (vera;!. E. V. Aster, VKSt. Bd. 9, 321 f.), 1904 der vierte Band.

Unter den Werken über Kant nehmen die Darstellungen von Kuxo Fischer 1 und von Fr. Paulsen^ (Frommanns Klassiker Bd. 7, 1898, neue Aufl. 1899) die erste Stelle ein. Die Schriften von Liebmaxx, Cohen, Stadler, Riehl, Volkelt u. a. werden später gelegentlich der neuen Kantbewegung genannt werden; Vaihingers gründlicher Kommen- tar ist S. 283 1 angeführt worden. Hier seien aus der ins Unüberseh- bare angewachsenen Kantliteratur nur einige der wichtigeren Monogra- phien und Aufsätze aufgezählt.

Kristian B. R. Aars : Die Autonomie der Moral 1 896 ; ders. : Zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Erkenntnistheorie und Psychologie (ZPhKr. Bd. 122, S. l3of.) 1903. E. Adickes : German Kantian Bibliography np to 1804 {Philosophical Review Nö. 9 18 u. zwei Supplemente) 1893 96; ders.: Kantstudien 1895 (rezensiert von Busse, VKSt., 2, i). Max Apel: Kants Erkenntnistheorie und seine Stellung zur Metaphysik 1895; ders.: Kommentar zu Kants Prolegomenen I905. Emil Arnoldt: Kants Jugend und die fünf ersten Jahre seiner Privatdozentur (Altpreuß, Monatsschr. Bd. 18) 1882; ders.: Kritische Exkurse im Gebiete der Kantforschuag 1894; ders.: Beiträge zu dem Material der Geschichte von Kants Leben und Schriftstellertätigkeit in bezug auf seine „Religionslehre" und seinen Konflikt mit der preußischen Re- gierung, 1898. Ernst V. Aster: Über Aufgabe und Methode in den Beweisen der Ana- logien der Erfahrung (AGPh. Bd. 16) 1903. Bruno Bauch : Glückseligkeit und Per- sönlichkeit in der kritischen Ethik, Stuttg. 1902. J. Bergmann: Zur Lehre Kants von den logischen Grundsätzen (VKSt. Bd. 2, S. 323 f.) 1897. Ad. BÖHRINGER: Kants erkenntnistheoretischer Idealismus 1888. Werner Bötte: Kants Erziehungslehre 1900. Martin Bollert: Materie in Kants Ethik (AGPh. Bd. 13, H. 4, S. 483 501) 1900. Max Brahn: Die Entwickelung des Seelenbegriffs bei Kant, Heidelb. Diss. 1896. E. F. Buchner, A study of Kants psychology with reference to the critical philo- sophy iPsychological Review, Mono graph- Supplement No. 4, yanuary) 1897. Lud- wig Busse: Zu Kants Lehre vom Ding an sich (ZPhKr. Bd. 102) 1893. GEORG Daxer: Anlage und Inhalt der transz. Ästhetik 1897. P. Deussen: Der kategorische Imperativ, K.iiserrede 1891, 2. Aufl. 1903. K. DiETERiCH: Die Kantsche Philosophie in ihrer inneren Entwickeluugsgeschichte, 2 Teile 1885 (zuerst gesondert erschienen: Kant und Newton 1876, Kant und Rousseau 1878). W. DiLTHEY: Aus den Rostocker Kanthandschriften, im AGPh. Bd. 2 3, 1889 1890; ferner die beiden Kantkapitel fg und 10) im ,, Leben Schleiermachers" 1870. Dorner: Über die Prinzipien der Kantischen Ethik (ZPhKr. Bd. 65 u. 66) 1875: ders.: Kants Kritik der Urteils-

1 Band 4 und 5 (früher 3 und 4J der Gesch. der n. Philos., vierte (Jubiläums-) Ausgabe 1897; außerdem Kants Leben und die Grundlagen seiner Lehre, 1860. Vergl. Windelband, K. Fi.scher vmd sein Kant (in VKSt. Bd. 2, Heft i) 1897.

- Dem Klassikerbande hat Paulsen zwei Ergänzungsschriften folgen lassen : Kant der Philosoph des Protestantismus 1899, Kants Verhältnis zur Metaphysik 1900 (beide aus dem 4. Bande von VKSt); die erstere jetzt in der Philosophia militans, 5 Abhandlungen, gegen Klerikalismus und Naturalismus, 1901. Ferner Zum hundert- jährigen Todestage Kants (VKSt. Bd. 9) 1904.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. I9

290

Kant.

kraft (VKSt. Bd. 4, S. 248— 2S5) 1899. Arthur Drews: Kants Naturphilosophie 1894. M. W. Drobisch: Kants Dinge an sich und sein Erfahningsbegriff 1885. 1j. Erdmann: Kants Kritizismus in der I. und II. Aufl. der Kr. d. r. V. 1878; ders.: Kants Prolegomena herausgeg. und erläutert 1878, Einleitung (dagegen Emil Arnoldt: Kants Prolegomena nicht doppelt redigiert, 1879; hierzu vergl. H.Vaihinger: Die Erdmann-Arnoldtsche Kontroverse, in den Philos. Monatsh. Bd. 16, 1880), jetzt umgearbeitet unter dem Titel: Historische Untersuchungen über Kants Prolegomena 1904. Franz Erhardt: Kritik der Kantischen Antinomienlehre 1888. R. EuCKEN: Über Bilder und Gleichnisse bei Kant, ZPhKr. Bd. 83, 1883, wiederabgedruckt in den Beiträgen zur Gesch. d. neueren Philos. 1886; ders.: Thomas von Aquino und Kant, ein Kampf zweier Welten (aus VKSt. Bd. 6) 1901. H. Falkenheim: Die Ent- stehung der Kantischen Ästhetik 1890. F, \V. Förster: Der Entwicklungsgang der Kantschen Ethik bis zur Kr. d. r. V. 1S94. F. Frederichs: Der phänomenale Idealismus Berkeleys und Kants 1871; ders.: Kants Prinzip der Ethik 1879. C. V. Fricker: Zu Kants Rechtsphilosophie 1885. DANIEL Greiner: Der Begriff der Persönlichkeit bei Kant, Gießener Diss. (AGPh. Bd. 10) 1896. Ed. v. Hart- mann: Das Ding an sich und seine Beschaffenheit 1871, in der zweiten (1875) und dritten (1885) Aufl. betitelt Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus; ders.: Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik in den vier Perioden ihrer Ent- wicklung 1894. C. Hebler: Kantiana, in seinen Philos. Aufsätzen 1869. Alfred Hegler: Die Psychologie in Kants Ethik 1891. J. Heman: Kant und Spinoza (VKSt. Bd. 5, S. 273 339) 1900; ders.: Kants Piatonismus und Theismus (ebenda Bd. 8, S. 47 96) 1903. A. Holder: Darstellung der Kantischen Erkenntnistheorie 1873. Georg .Hollmann : Prolegomena zur Genesis der Religionsphilosophie Kants (Altpreuß. Monatsschrift^ 1899. J. JACOBSON: Die Auffindung des Apriori 1876; ders.: Über die Beziehungen zwischen Kategorien und Urteilsformen 1877. EDMUND KÖNIG: Die Unterscheidung reiner und angewandter Mathematik bei Kant (VKSt. Bd. 3) 1899. WiLH. Koppelmann: Kants Lehre vom analytischen Urteil, in den Philos. Monatsh. Bd. 21, 1885; ders.: Lotzes Stellung zu Kants Kritizismus, in der ZPhKr. Bd. 88, 1886; ders,: Kants Lehre vom kategorischen Imperativ 1888; ders.: Kant und die Grundlagen der christlichen Religion 1890; ders.: Ein neuer Weg zur Begründung der Kantischen Ethik und der formalistischen Ethik überhaupt (ZPhKr. Bd. 117, S. I 37) 1900. Kühnemann: siehe bei Schiller; ders.: Herder und Kant an ihrem 100 jährigen Todestage (VKSt. Bd. 9) 1904. E. Laas: Kants Analogien der Erfahrung 1876; ders.: Einige Bemerkungen zur Transzendentalphilos., in den Straßburger Abhandlungen 1S84. Herm. Leser: Zur Methode der kritischen Er- kenntnistheorie 1900. C. LÜL^L\NN: Kants Anschauung vom Christentum (VKSt., Bd. 3) 1S98. Heinr. Maier : Die Bedeutung der Erkenntnistheorie Kants für die Philosophie der Gegenwart (VKSt. Bd. 2 3) 1898. J. Mainzer: Die kritische Epoche in der Lehre von der Einbildungskraft bei Hume und Kant 1881. F. Medicus: Kants transz. Ästhetik und die nichteuklidische Geometrie (VKSt. Bd. 3) 1899; ders.: Kants Philo- sophie der Geschichte (erweiterter Abdruck aus VKSt. Bd. 7) 1902; ders.: Kant und Ranke (VKSt. Bd. 8, S. 129 192) 1903. W. Mengel: Kants Begründung der Reli- gion, Leipziger Diss. 1899. P. Menzer: Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik i. d. J. 1760 85, gekrönte Preisarbeit (VKSt. Bd. 2 und 3) 1897 98. J. B. Meyer : Kants Psychologie 1870. Konrad Müller: Über Kants Stellung zum Idealismus (Jahresber. des Joachimsth. Gymn.) Berlin 1895. Edm. Neuendorff: Das Ver- hältnis Kants zum Eudämonismus (bis zur Met. der Sitten), I, Greifswalder Diss. 1897. Fr. Paulsen: Was uns Kant sein kann, in der VwPh. 1881. E. Pflei- derer: Kantischer Kritizismus und englische Philos. 1881. B. PÜnjer : Die Religions- lehre Kants, 1874. R. Quaebicker: Kants und Herbarts metaphysische Grundansich-

Literatur.

291

teil über das Wesen der Seele 1870. RaUSCHENBACH: Der Unterschied zwischen Untugend und Laster bei Kant, Leipziger Diss. 1902. J. Rehmke: Physiologie und Kantianismus, Vortrag in Eisenach, 1883. RuD. Reicke: Kantiana 1860. ROB. Rei- NINGER: Kants Lehre vom inneren Sinn und seine Theorie der Erfahrung, Wien 1900; ders. : Das Kausalproblem bei Hume und Kant (VKSt. Bd. 6, S. 427 458) 1901. Reuschle: Kant und die Naturwissenschaft (Deutsche Vierteljahrsschrift, 31. Jahrg.) 1868. O. Riedel: Die monadologischen Bestimmungen in Kants Lehre vom Ding an sich, Kieler Diss. 1884. Alois RiehL: Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant (aus VKSt. Bd. 9) 1904. Ernst Sänger: Kants Lehre vom Glauben, gekrönte Preisschrift der Krugstiftung, mit Geleitswort von Vaihinger, 1903. P. Salits: Kants Lehre von der Willensfreiheit (mit geschichtl. Rückblick auf das Freiheitsproblem) Rostock 1898. M. Scheler: Die transzendentale und die psycho- logische Methode 1900. O. Schlapp: Kants Lehre vom Genie und die Entstehung der Kr. d. U. 1901. Karl Schmidt: Beiträge zur Entwickelung der Kantschen Ethik, Marburg 1900. O. Schneider: Die psychologische Entwickelung des Apriori, 1883; ders.: Transzendentalpsychologie 1891. H. Schwarz: Rationalismus und Ri- j^orismus in Kants Ethik (VKSt. Bd. 2) 1897. Albert Schweitzer: Die Religions- philos. Kants von der Kr. d. r. V. bis zur „Rel. innerhalb", Freiburg i. Br. 1899. G. Simmel: Über den Unterschied der Wahrnehmungs- und der Erfahrungsurteile (VKSt. Bd. i, S. 4i6f.) 1897; ders.: Kant, 16 Vorlesungen, 1904. Karl Stange: Der Gedankengang der Kr. d. r. V. 1902. F. Staudinger: Noumena 1884; ders.; Über einige Grundfragen der Kantischen Thilos. (AsPh. Bd. 2, S. 207 ; dazu ebenda S. 235 Natorp: Ist das Sittengesetz ein Naturgesetz?) 1S96; ders.: Der Streit um das Ding nn sich (VKSt. Bd. 4, S. 167 189) 1899; ders.: Kants Bedeutung für die Pädagogik der Gegenwart (VKSt. Bd. 9) 1904. M. Steckelmacher: Die formale Logik Kants, Breslauer Preisschrift, 1S79. A. Stern: Die Beziehungen Garves zu Kant nebst ungedruckten Briefen 1884. A. StöHR: Analyse der reinen Naturwissen- schaft Kants, 1884. C. Stumpf: Psychologie und Erkenntnistheorie, Abh. d. bayer. Akad. d. W. 1891. G. Thiele: Kants intellektuelle Anschauung als Grundbegriff seines Kritizismus 1876; ders.: Die Philosophie Kants nach ihrem systematischen Zusammenhange und ihrer logisch-historischen Entwickelung, I, i : Kants vorkritische Naturphilosophie 1882, 2: Kants vorkritische Erkenntnistheorie 1887. A. Thomsen: Bemerkungen zur Kritik des Kantischen Begriffes des Dinges an sich (VKSt. Bd. 8, S. 193 f.) 1903. Ad. Trendelenburg : Über eine Lücke in Kants Beweis von der ausschließenden Subjektivität des Raumes und der Zeit, im dritten Bande der Histor. Beiträge zur Thilos. 1867 (über den Streit zwischen Trend, u. K. Fischer siehe A'aihinger, Komm. 11 S. I34f., 290f, 545f.). E. Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie (VKSt. Bd. 9) 1904. Ueberhorst: Kants Lehre von dem \'erhältnisse der Kategorien zu der Erfahrung 1878. H. Vaihinger: Eine Blattver- setzung in Kants Prolegomena, in den Thilos. Monatsh., Bd. 15, 1879 (dazu Ph. Mon., Bd. 19, 1883, S. 401 f.); ders.: Zu Kants Widerlegung des Idealismus, in den Straßburger Abhandlungen 1884; ders.: Kant ein Metaphysiker? (über Paulsens Kant) in der Sigwartfestschrift 1900, S. 133; ders.: Die transzendentale Deduktion der Kategorien in der i. Aufl. der Kr. d. r. V. (Gedenkschrift für Haym) 1902. Theodor Valentiner: Kant und die platonische Thilos. 1904. Karl Vorländer; Die Kantische Begründung des Moralprinzips, Solinger Progr. 1889; ders.: der For- malismus der Kantischen Ethik, Marburger Diss. 1893; ders.: Ethischer Rigorismus und sittliche Schönheit (Philos. Monatsh. Bd. 30) 1894; ders.: Kant iind der Sozia- lismus (VKSt. Bd. 4) 1900. J. Walter: Zum Gedächtnis Kants, Festrede 1881. M. Wartenberg: Kants Theorie der Kausalität 1899; ders.: Der Begriff des trans- zendentalen Gegenstandes bei Kant und Schopenhauers Kritik desselben (VKSt.

19*

292

Kant.

Bd. 4 und 5) 1899, 1900. Th. Weber; Zur Kritik der kantischen Erkenntnistheorie (aus der ZPhKr.) 1882. M. Wentscher: War Kant Pessimist? (VKSt. Bd. 4) 1899 (Ed. V. Hartmanns Entgegnung VKSt. Bd. 5). W. Windelband: Über die ver- schiedenen Phasen der Kantischen Lehre vom Ding an sich, VwPh. 1877; vergleiche dazu den § 58 seiner Gesch. der neueren Philos. ; ders. : Nach hundert Jahren (VKSt. Bd. 9) 1904. J. Witte: Beiträge zum Verständnis Kants, 1874; ders.: Kantischer Kritizismus gegenüber unkritischem Dilettantismus (gegen A. Stöhr) 1885. WOHL- RABE: Kants Lehre vom Gewissen, 1889. W. Wundt: Was uns Kant nicht sein soll (WPhSt. Bd. 7) 1892. E. F. Wyneken: Das Ding an sich und das Naturgesetz der Seele, Heidelberg 1901. Fr. Zange: Über das Fundament der Ethik bei Kant und Schopenh., gekr. Preisschr. 1872. E. Zeller: Über das Kantische Moralprinzip, 1880. R.Zimmermann: Über Kants mathematisches Vorurteil und dessen Folgen, 1871; ders.: Über Kants Widerlegung des Idealismus von Berkeley, 1872; ders.: Kaut und die positive Philos. 1874. K. Fr. Zöllner: Kant und seine Verdienste um die Naturwissenschaft (in dem Werke: Über die Natur der Kometen) 1872. E. Zwer- mann: Die transzendentale Deduktion der Kategorien (VKSt. Bd. 5, S. 444) 1901.

Von den am 12. Februar 1904 gehaltenen Gedächtnisreden liegen uns bis jetzt vor die von Cohen, B. Erdmann, Falckenberg, Freudenthal, Liebmann, Heinr. Maier (Neue Zürcher Zeitung, 12. 16. Febr.), Martius, Riehl, Walter, Windelband.

Populäre Darstellungen haben gegeben: K. Fortlage (in seinen Philos. Vortr. 1869). E. Last: Mehr Licht! Die Hauptsätze Kants und Schopenhauers, 1879; dieselbe: Die realistische und die idealistische Anschauung entwickelt an Kants Idealität von Raum und Zeit, 1884. H. KOMUNDT: Antaeus, neuer Aufbau der Lehre Kants über Seele, Freiheit und Gott, 1882; ders.: Grundlegung zur Reform der Philos., vereinfachte und erweiterte Darstellung von Kants Kr, d. r. V., 1885; ders.: Die Vollendung des Sokrates, Kants Grundlegung zur Reform der Sittenlehre, 1885; ders.: Ein neuer Paulus, Kants Grundlegung zu einer sicheren Lehre von der Reli- gion, 1886; ders.: Die drei Fragen Kants 1887; ders.: Kants philos. Religionslehre, 1902. A. Krause: Popul. Darst. von Kants Kr. d. r. V. 1881. K. Lasswitz: Die Lehre Kants von der Idealität des Raumes und der Zeit, 1883. Wilh. Münz: Die Grundlagen der Kantischen Erkenntnistheorie, 2. Aufl. 1885. M. KronenberG: Kant, sein Leben und seine Lehre, 1897, 2. Aufl. 1903. Max Apel: Kant, ein Bild seines Lebens und Denkens, 1904. R. Richter: Kant- Aussprüche, 1901.

Von Ausländern haben Villers (1801 ; über ihn O. Ullrich 1899 und Vor- länder, VKSt. Bd. 3), Cousin, Nolen, Desdouits, E. Boutroux {Ettides d'histoire de la Philosophie, 1897, p. 317 411), Th. Ruyssen [Kant 1900), Cantoni (1883—84), Edward Caird [The critical philosophy of Kant, 2 Bde. 1889), Adamson (deutsch von Schaarschmidt 1880), Stirling, Morris, Wallace [Philos. Classics 1882) u. a. Beiträge zur Kantliteratur geliefert.

Von älteren Werken seien genannt Mellins Marginalien und Register zu Kants Kritik der Erkenntnisvermögen, 1794 und 1795 (neu herausgeg. von Ludwig Goldschmidt, Gotha 1900 und 1903), die Wörterbücher von E. Schmid 17SS und Mellin (in sechs Bänden) 1797 f., die Kommentare von Zwanziger 1792, 1794, die Untersuchungen von Brastberger 1792, 1796, die Schriften von Bendavid über die Kr. d. pr. V. 1794 und die Kr. d. U. 1796, die Erläuterung der Kr. d. U. von Snell 1791 92. Ferner die Kritik der Kantischen Philosophie im ersten Bande von Schopenhauers Hauptwerk 1819 und die Abhandlung von Chr. H. Weisse: In welchem Sinne hat sich die deutsche Philosophie ietzt wieder an Kant zu orientieren? 1847. Endlich Alfons Hoffmann, J.Kant, ein Lebensbild nach Darstellungen seiner Zeitgenossen Jachmann, Borowski, Wasianski 1902 (diesen Wiederabdruck hat Chamberlain angeregt).

Kant.

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Minder ereignisreich und wechseixoU als Kants philosophische Ent- wickelungi ist sein äußeres Leben verlaufen. Als Sohn des aus einer schottischen Familie stammenden Riemers J. G. Cant (im gleichen Jahre mit Klopstock) am 22. April 1724 in Königsberg geboren, in Haus und Schule unter strenger und frommer Zucht erwachsen, auf der dor- tigen Universität gebildet, von 1746 an neun Jahre hindurch Hauslehrer, seit 1755 als Dozent, seit 1770 als ordentlicher Professor, sechs Jahre lang zugleich als Unterbibliothekar in Königsberg tätig, hat Immanuel Kant seine Vaterstadt selten, seine heimatliche Provinz niemals verlassen. Die Anschaulichkeit, durch welche sich die besonders beliebten Vor- lesungen Kants über physische Geographie und über Anthropologie auszeichneten, verdankten sie dem fleißigen Studium von Reisebeschrei- bungen und einer ungewöhnlich scharfen Beobachtungsgabe, die aus dem Naheliegenden eine reiche Welt- und Menschenkenntnis zu schöp- fen wußte. Nachdem er sich im Herbst 1796 vom Katheder zurück- gezogen, machte Altersschwäche am 12. Februar 1804 seinem bis ins kleinste durch Grundsätze geregelten Leben ein Ende. Als Charakter von peinlicher Pflichttreue, Pünktlichkeit und Wahrheitsliebe, als Gesell- schafter liebenswürdig, geistvoll und witzig, gehört Kant als Denker mehr zu den scharfsinnigen als zu den tiefsinnigen Köpfen. In seiner umfas- senden Begabung ist die Tendenz der Vereinigung und das Vermögen der Intuition (wie namentlich die „Kritik der Urteilskraft" beweist) in beträchtlichem, aber doch nicht in gleichem Maße vertreten wie die Kraft des strengen Sondems und subtilen Unterscheidens, und wenn mit Recht der Trieb der Vermittelung als wesentliches Merkmal des Kan- tischen Philosophierens angesehen wird, so muß man sich doch zugleich gegenwärtig halten, daß der Synthese allenthalben eine gewaltige analy- tische Arbeit vorausgegangen ist, und daß diese auch nach vollzogener Vermittelung noch kräftig nachwärkt. So wurde Kant der energische Ver- treter einer qualitativen Weltanschauung gegenüber der quantitativen des Leibniz, für welche letztere die Gegensätze (z. B. Empfinden und Denken, Fühlen und Erkennen, Gut und Böse, Pflicht und Neigung) zu bloßen Gradunterschieden verblassen.

Im Eingang des Kapitels ist angedeutet worden, wie sich an dem Widerstreit der rationalistischen (dogmatischen) und der empiristischen

1 Um die Erforschung der Entwickelung der Kantischen Lehre haben sich be- sonders Paulsen (Versuch einer Entwickekingsgeschichte der Kantischen Erkenntnis- theorie 1875), Al. Riehl CDer philos. Kritizismus, Bd. i, 1S76), B. Erdmann, Vai- HINGER, Windelband, Höffding (Die Kontinuität im philos. Entwickelungsgange Kants, AGPh. Bd. 7, 1894), ÄDICKES (Kantstudien, Beiträge zur Entwickehingsgeschichte der Kantischen Erkenntnistheorie 1895; Die bewegenden Kräfte in Kants philos. Ent- wickelung, in VKSt. Bd. i, 1896) und ScHüRMAN {Philosophical review Nr. 37 und 38) 1898 verdient gemacht. Außer Hume und Leibniz haben Newton, Locke, Shaftesbury, Rousseau und Wolflf bedeutenden Einfluß auf Kant geübt.

294

Kant.

(skeptischen) Philosophie das neue Erkenntnisideal bildete, unter dessen Ägide Kant eine Reform der Philosophie herbeigeführt hat. Es verbindet das baconische Ideal der Erweiterung des Wissens mit dem cartesianischen der Sicherheit desselben. Erweiternd sind nur die synthetischen Urteile, während die analytischen bloße Erläuterungsurteile sind.i Vollkommen sicher, absolut allgemein und notwendig gültig sind nur die apriorischen, während die aposteriorischen bloß subjektiv gültig sind, der Notwendigkeit entbehren und höchstens komparative All- gemeinheit gewähren.'^ Alle analytischen Urteile sind apriori, alle em- pirischen oder aposteriorischen sind synthetisch. Zwischen beiden liegen die gesuchten. Gibt es synthetisclie Urteile apriori, und wie sind sie möglich?

Bei zwei Wissenschaften handelt es sich um das Wie, bei einer dritten um das Ob der Möglichkeit solcher Urteile, die zugleich erweiternd und schlechthin allgemein und notwendig sind. Die ersten beiden Wissen- schaften sind reine Mathematik und reine Naturwissenschaft, von denen jene durch ihre Evidenz, diese durch stets mögliche Bestätigung in der Erfahrung gegen Zweifel an ihrer Berechtigung geschützt ist, überdies die eine wie die andere auf den stetigen Gang ihrer Entwickelung hin- weisen darf. Das alles ist bei der dritten, der Metaphysik als Wissen- schaft vom Übersinnlichen, zu ihrem großen Nachteil nicht vorhanden. Empirische Bestätigung ist einer vermeintlichen Erkenntnis des Unerfahr- baren von vornherein versagt; an Evidenz fehlt es ihr so sehr, daß kaum ein Satz zu finden ist, den alle Metaphysiker zugeständen, geschweige daß es ein dem Euklid zur Seite zu stellendes metaphysisches Lehrbuch gäbe; einen kontinuierlichen Fortschritt zeigt sie so wenig, daß vielmehr

j

1 „Alle Körper sind ausgedehnt" ist ein analytisches, „alle Körper sind schwer" ein synthetisches Urteil. Das erstere verdeutlicht den Subjektsbegrifi", indem es eine darin bereits enthaltene, zur Definition gehörige Teilvorstellung heraushebt; das Prinzip desselben ist der Satz des Widerspruchs, ein nicht ausgedehnter Körper ist ein wider- spruchsvoller Begriff. Das letztere dagegen geht aus dem Subjektsbegrift' heraus, legt ihm ein Prädikat bei, das darin noch nicht gedacht war; die Erfahrung ist es, die uns lehrt, daß die Schwere mit dem Körper verbunden ist, was aus dem Begriff des Körpers nicht entnommen werden kann. Fast alle mathematischen Sätze sind synthetisch; hier ist es, wie gezeigt werden wird, nicht die Erfahrung, sondern die „reine Anschauung", welche uns über den Begriff hinauszugehen und ihm ein neues Merkmal beizulegen gestattet. Synthetisch ist z. B. das Urteil: „jede dreiseitige Figur ist dreiwinklig;" denn in dem Begriff des Dreiseitigen wird der des Winkels nicht gedacht.

2 Die Scholastiker bezeichneten mit a priori die Erkenntnis aus den Ursachen (aus dem, was vorhergeht), mit a posteriori die aus den Wirkungen. Kant benutzt, nach Leibniz' und Lamberts Vorgang, die Termini zum Ausdruck des Gegensatzes: Erkenntnis aus Vernunft aus Erfahrung. Aprioii ist ein ohne Beihilfe der Er- fahrung gewonnenes Urteil, und zwar, wenn der Satz, aus dem es abgeleitet worden, auch wiederum von Erfahrung unabhängig ist, absolut apriori, andernfalls relativ apriori.

Die Hauptfrage und die drei Unterfragen.

295

der Nachfolger allemal das umstürzt, was der Vorgänger gelehrt hatte. Für die Metaphysik, die als Naturanlage freilich wirklich ist, fragt es sich demnach nicht bloß, wie bei den beiden anderen Wissenschaften, um den Grund ihrer Berechtigung, sondern um die Berechtigung selbst. Mathe- matik und reine Physik fällen synthetische Urteile apriori, die Metaphysik desgleichen. Die Sätze der ersteren sind unbestrittene Erkenntnisse, die der letzteren nicht. Dort ist zu untersuchen: warum sind sie dazu be- fugt? hier: ist sie dazu befugt?

So zerlegt sich die Hauptfrage: „wie sind synthetische Urteile aprii;>ri möglich?" in die Unterfragen: wie ist reine Mathematik, wie reine Natur- wissenschaft, wie Metaphysik (und zwar: wie ist Metaphysik überhaupt und: wie ist iNIetaphysik als Wissenschaft) möglich? Auf die erste Frage antwortet die transzendentale Ästhetik (die Kritik der Sinnlichkeit oder des Anschauungsvermögens), auf die zweite die transzendentale Analytik (die Kritik des Verstandes), auf die dritte die transzendentale Dialektik (die Kritik der „Vernunft" im engeren Sinn) und die transzendentale Methodenlehre. Analytik und Dialektik sind die beiden Teile der transzendentalen „Logik" (Kritik des Denkvermögens), welche mit der Ästhetik zusammen die transzendentale „Elementarlehre" bildet im Gegen- satz zur Methodenlehre. Nach dieser subordinierenden Einteilung gliedert sich die „Kritik der reinen Vernunft", während die „Prolegomena" in obengedachter Weise die vier Teile einander koordinieren.

Nehmen wir die Antworten voraus. Reine Mathematik ist möglich, weil es reine oder apriorische Anschauungen (Raum und Zeit), reine Naturwissenschaft oder Metaphysik der Erscheinungen, weil es apriorische Begriffe (Kategorien) und Grundsätze des reinen Verstandes gibt. ^Metaphysik als vermeintliche Wissenschaft vom Übersinnlichen war als mißglückter Versuch möglich, weil es Ideen oder Vernunftbegriffe gibt, die über die Erfahrung hinausweisen und den Schein bei sich führen, als würden durch sie erkennbare Objekte gegeben; als Wissenschaft ist sie nicht möglich, weil die Kategorien nur eine Anwendung innerhalb der Erfahrung erlauben, die durch die Ideen gedachten Gegenstände aber nicht sinnlich gegeben werden können und alle angemaßte Erkenntnis- derselben sich in unauflösliche Widerspriiche (Antinomien) verstrickt. Da- gegen ist eine Wissenschaft möglich und notwendig, die den richtigen Gebrauch der Kategorien, welche nur auf Erscheinungen, und der Ideen, welche nur auf unsere Erkenntnis der Dinge (und unser Wollen) angewandt werden dürfen, lehrt und den Ursprung wie die Grenzen unserer Er- kenntnis feststellt, eine Transzendentalphilosophie. Hinsichtlich der Me- taphysik (Erkenntnis aus reiner Vernunft) lautet demnach das Resultat: Verwerfung der transzendenten (die Erfahrung überfliegenden), An- erkennung und Aufbau der immanenten (sich in den Grenzen möglicher Erfahrung haltenden) Metaphysik. Sie ist nicht möglich als Metaphysik

?96

Kant.

der Dinge an sich, sie ist möglich als Metaphysik der Natur (des Inbegriffs der Erscheinungen), und als Metaphysik der Erkenntnis (Vernunftkritik).

Das Interesse der Vernunft erschöpft sich jedoch nicht in der Frage: „was können wir wissen", sondern umfaßt noch zwei weitere: „was sollen wir tun" und „was dürfen wir hoffen". So kommt zur Metaphysik der Natur eine Metaphysik der Sitten und zur Kritik der theoretischen Vernunft eine Kritik der praktischen Vernunft oder des "Willens nebst einer Kritik des religiösen Glaubens hinzu. Denn wenn uns ein „Wissen" von Übersinnlichem versagt ist, so fehlt es doch nicht an „praktischen" Gründen für eine hinlänglich sichere „Überzeugung" hinsichtlich der Gottheit, der Freiheit, der Unsterblichkeit.

Nachdem Kant die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile apriori von der Erkenntnis der Natur auf die unserer Pflichten über- tragen, stellt er sie drittens für unsere Beurteilung der subjektiven und objektiven Zweckmäßigkeit der Dinge oder ihrer Schönheit und Voll- kommenheit und fügt zur Kritik des Verstandes und des Willens die der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft hinzu.

Hiernach zerfällt die Kantische Philosophie in einen theoretischen, einen praktischen (inklus. religionsphilosophischen) und einen ästhetisch- teleologischen Teil.

Bevor wir zur Darstellung des ersten schreiten, sind einige Vorbe- merkungen über das, was Kant bei seinem kritischen Geschäft voraus- setzt, und über die Methode, die er bei demselben befolgt, unerläßlich.

Die Voraussetzungen sind teils psychologischez^, teils (wie die Klassi- fikation der Urteils- und Schlußformen, die doppelte Einteilung der Ur- teile) formal- oder transzendental-logischer, teils (wie das Ding an sich) metaphysischer Art. Die ersteren entnimmt Kant der Psychologie seiner Zeit, indem er die Wolffsche Einteilung der Seelenvermögen mit der Tetensschen kombiniert und so sechs Vermögen gewinnt: ein niederes (sinnliches) und ein höheres (geistiges) Erkenntnis-, Gefühls- und Begeh- rungsvermögen; oder: Sinnlichkeit (die Fähigkeit, durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, Vorstellungen zu empfangen), Ver- stand (das Vermögen, selbsttätig Vorstellungen hervorzubringen und solche zu verknüpfen); sinnliches Gefühl der Lust und Unlust, Geschmack: Be- gierde, Wille. Der Verstand im weiteren Sinne = oberes Erkenntnis- vermögen zerfällt weiter in Verstand im engeren Sinne (Vermögen der Begriffe), Urteilskraft (Vermögen des Urteilens) und Vernunft (Vermögen des Schließens), von denen der erste dem Erkenntnisvermögen resp. der Natur, die zweite dem Geschmack, die dritte dem Willen Gesetze gibt.

Die wichtigste von den Grundannahmen betrifft das Verhältnis, das Wesen und die Aufgabe der beiden Erkenntnisvermögen. Sie unter- scheiden sich nicht graduell durch geringere oder größere Deutlichkeit

Die Voraussetzungen.

297

denn es gibt sinnliche Vorstellungen, welche deutlich, und intellektuelle, welche es nicht sind , sondern spezifisch: Sinnlichkeit ist das Ver- mögen der Anschauungen, Verstand das Vermögen der Begriffe. Anschauungen sind Einzel-, Begriffe Allgemeinvorstellungen; jene beziehen sich unmittelbar, diese nur mittelbar (durch Vermittelung anderer Vor- stellungen) auf ihren Gegenstand. Beim Anschauen verhält sich das Gemüt rezeptiv, beim Begreifen spontan. „Durch Anschauungen werden uns Gegenstände gegeben, durch Begriffe werden sie gedacht." Hieraus ergibt sich, daß keines der beiden Vermögen für sich zur Ge- winnung von Erkenntnissen ausreicht, denn Erkennen ist objektives Denken, Bestimmen von Gegenständen, einheitliches Zusammenfassen oder Bearbeiten eines gegebenen Mannigfaltigen, Formen eines Stoffes. Empiristen wie Rationalisten täuschten sich über die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Verstand. Die Sinnlichkeit liefert den mannigfaltigen Stoff, den sie selbst nicht zu ordnen, der Verstand die einheitliche Form, der er von sich aus keinen Inhalt zu geben ver- mag. „Anschauungen ohne Begriffe sind blind" (formlos, unverständlich), „Begriffe ohne Anschauungen sind leer" (inhaltslos). Dort fehlen Form und Ordnung, hier der zu formende Stoff, die Anwendungsgegenstände. Die beiden Vermögen sind aufeinander angewiesen, nur aus ihrer Ver- einigung kann Erkenntnis entspringen.

Eine gewisse Formung findet allerdings schon innerhalb der Sinn- lichkeit statt, indem das Chaos der Empfindungen in die dem an- schauenden Subjekt ursprünglich angehörenden „Anschauungsformen" Raum und Zeit eingegliedert wird; doch reicht dieselbe, ohne Hinzutritt des Verstandes, nicht zur Erzeugung von Wissenschaft aus. Im Hinblick auf die Apriorität von Raum und Zeit darf man, unbeschadet ihrer An- schaulichkeit (sie sind unmittelbare Einzelvorstellungen), die reine Sinn- lichkeit zum oberen Erkenntnisvermögen rechnen und von einer an- schauenden Vernunft reden.

Die Formen des Anschauens und Denkens stammen von innen, liegen im Gemüt apriori bereit, jedoch nicht als fertige Vorstellungen. Sie sind Funktionen, notwendige Handlungen der Seele, zu deren Voll- ziehung sie zwar eines Anreizes von außen, durch Empfindungen, be- darf, die sie aber, auf diese Anregung hin, selbsttätig hervorbringt. Der äußere Anstoß gibt ihr nur die Gelegenheit zu Produktionen, deren Grund und Gesetz in ihrer eigenen Natur liegen. In diesem Sinne nennt Kant sie „ursprünglich erworben" und erklärt in der Einleitung der Kr. d. r. V., daß, wenngleich ohne Zweifel „alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung (sinnlichen Eindrücken) anhebe, so doch nicht alle aus der Erfahrung entspringe". Eine Vorstellung oder eine Erkenntnis ist apriori^

1 Apriorische und reine Vorstellung l'Regrift', Anschauung) ist gleichbedeutend.

2,98 Kant.

bedeutet nicht: sie geht der Erfahrung zeitlich vorher, sondern: sie ist (abgesehen von oben erwähnter, bloß veranlassender, nicht bewirkender Anreizung durch Eindrücke) unabhängig von aller Erfahrung, sie wird nicht aus ihr geschöpft, erborgt.

Der Stoff des Anschauens und Denkens wird der Seele gegeben, von ihr empfangen, er entsteht durch Einwirkung der Gegenstände auf die Sinne und ist jederzeit empirisch. Die Anschauung ist das einzige Organ für Wirklichkeit, in der Empfindung gibt sich unmittelbar die Gegenwart eines realen Objektes als Ursache derselben kund. Als der transzendentale Idealismus Kants von einem Rezensenten mit dem em- pirischen des Berkeley, welcher die Existenz der Außenwelt leugnet, auf eine Stufe gestellt wurde, hat er ausdrücklich versichert, es sei ihm nie- mals in den Sinn gekommen, die Realität äußerer Dinge zu bezweifeln. Auch hat er sich, nachdem sich ihm das Dasein wirklicher, die Sinnlich- keit affizierender Dinge aus einer Grundlage der Untersuchung in einen Gegenstand derselben verwandelt hatte, bemüht, diese anfänglich unbe- fangen dem Realismus des vorwissenschaftlichen Bewußtseins entlehnte Annahme durch Beweise zu stützen, freilich ohne daß ihm dies in be- friedigender Weise gelungen wäre. ^

Auf der Basis der Unzertrennlichkeit von Sinnlichkeit und Verstand erfährt nun das Erkenntnisideal einer durch apriorische Mittel zu er- reichenden Erweiterung des Wissens (S. 294) eine bemerkenswerte Er- gänzung dahin, daß die so gewonnene Vernunftsynthese Erkenntnis eines Wirklichen sein oder auf Anschauungsmaterial Anwendung finden müsse. Zu der Frage: „wie sind synthetische Urteile apriori möglich" gesellt sich die gleichberechtigte andere : „wie werden sie objektiv gültig oder auf Gegenstände der Erfahrung anwendbar." Der Grundsatz, aus dem ihre Gültigkeit bewiesen wird : sie sind deshalb auf Erfahrungsgegenstände anwendbar, weil ohne sie Erfahrung nicht möglich wäre, weil sie Bedingungen der Erfahrung sind dieser Grundsatz gehört wie das Kriterium der Apriorität (strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit) zu den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen- der Kritik. H

Indem die Kritik die Bedingungen der Erfahrung untersucht, verfährt sie nach einer Methode, die sie selbst als transzendentale

dagegen tritt beim Urteil ein Unterschied ein. Das Urteil ist apriori, wenn die Verknüpfung unabhängig von Erfahrung geschieht, gleichviel ob die verknüpften Begriffe apriori sind oder nicht; im ersten Falle ist das apriorische Urteil rein (mit gar nichts Empirischem vermischt), im zweiten gemischt.

1 Die Aufgabe, die Existenz der Dinge an sich zu erhärten, verwandelt sich ihm unter der Hand in die andere, das Dasein äußerer Erscheinungen zu beweisen. Daß ,,die äußeren Gegenstände als Vorstellungen wirklich sind", hatte Berkeley nie bestritten.

2 Vergl. Vaihinger, Kommentar I, S. 425 430.

Die Methode.

299

bezeichnet. Wo bisher die metaphysische Methode eingeschlagen wurde, da war ihr Objekt das Übersinnliche; wo bisher die Erkenntnis zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wurde, da geschah es nach empi- rischer, psychologischer JMethode. Kant durfte sich als den Schöpfer der Erkenntnistheorie fühlen, weil er ihr den transzendentalen Gesichts- punkt anwies. Die Erkenntnis ist ein Gegenstand der Erfahrung, nicht so ihre Bedingungen. Es gilt, die Erkenntnis zu erklären, nicht bloß psycho- logisch zu beschreiben; es gilt, eine neue Erkenntniswissenschaft aus Grundsätzen, aus reiner Vernunft zu gründen. Was jenseit der Er- fahrung liegt, ist unserem Wissen verschlossen, was diesseit derselben liegt, ist noch ununtersucht, aber der Untersuchung fähig, würdig und dringend bedürftig. Die Kritik verbietet den transzendenten (die Erfahrung überschreitenden) Gebrauch der Vernunft, sie gestattet, fordert und übt selbst den transzendentalen' Vernunftgebrauch, der ein Erfahrungsobjekt, die Erkenntnis, aus seinen nicht empirisch gegebenen Bedingungen erklärt.

Zwischen dem empiris tischen Resultat der Vernunftkritik (Be- schränkung der Erkenntnis auf Erfahrungsgegenständej und dem ratio- nalistischen (metaphysischen, nicht empirisch verfahrenden) Beweise desselben scheint ein Widerspruch zu bestehen und besteht wirklich ein erheblicher Gegensatz. Kant beweist auf metaphysischem Wege, daß es keine Metaphysik geben könne. Der Widerstreit löst sich durch die an- gegebene Unterscheidung des Jenseits und Diesseits der Erfahrung. Ver- boten ist diejenige Metaphysik, welche nach der objektiven Seite das Erfahrungsgebiet überfliegt, erlaubt und unentbehrlich diejenige reine Vemunfterkenntnis , welche aus Prinzipien die im Subjekt liegenden Gründe der Erfahrungserkenntnis entwickelt. In der Schule Kants aber wurden die zusammengehörigen Bestandteile empiristisches Ergebnis und transzendentale oder metaph}'sische, eigentlich prophysische Methode getrennt und der eine auf Kosten des anderen betont, bevorzugt und weiter ausgebildet. Die Empiristen halten sich an das Ergebnis mit Ab- schwächung oder gänzlicher Verkennung des Rationalismus der Methode: das Apriori, sagt Fries, ist nicht auf apriorischem, sondern auf aposte- riorischem Wege gefunden worden und konnte nicht anders gefunden werden. Die konstruktiven Denker, Fichte und seine Nachfolger, adop-

1 Mit transzendental bezeichnet Kant die Erkenntnis (die Auffindung, den Nachweis) des Apriori und seiner Beziehung auf Erfahrungsgegenstände. Leider be- nutzt er das gleiche Wort oft genug nicht nur zur Bezeichnung des Apriori selbst, sondern auch als Synonym für transzendent. In allen drei Fällen bildet empirisch den Gegensatz, nämlich: empirisch-psychologische Untersuchung mittels Beobach- tung im Unterschied von erkenntnis-theoretischer aus Prinzipien, empirischer Ursprung im Unterschied vom Ursprung aus reiner Vernunft, empirischer Gebrauch im Unterschied von der Anwendung über die Erfahrungsgrenze hinaus.

300 Kant.

tieren und setzen fort die metaphysische Methode mit Ablehnung des empiristischen ResuUates : Ficlites Absicht geht auf ein System notwendiger, unbewußter Vernunfthandlungen, zu denen er, unter Verwerfung des Dinges an sich, auch die Empfindung zählt; nach Schelling ist die Natur selbst apriori, eine Bedingung des Bewußtseins. Auch unter den Heu- tigen währt, obwohl manche, den eigenen Standpunkt Kants festhaltend, die Metaphysik der Erkenntnis und der Erscheinungen (den immanenten Rationalismus) für die einzig rechtmäßige erklären, in veränderter Form der Zwiespalt zwischen Endergebnis und Begründung fort, nämlich als Streit darüber, ob der „Hauptzweck" der Kritik in die Einschränkung der Erkenntnis auf mögliche Erfahrung oder in die Sicherung apriorischer Elemente zu setzen sei.

I. Erkenntnislehre.

I. Die reinen Anschauungen (transzendentale Ästhetik).

Der erste Teil der Vernunftkritik, die transzendentale Ästhetik, legt dar, daß Raum und Zeit nicht etwas für sich Bestehendes, nicht wirk- liche Wesen noch Eigenschaften oder Verhältnisse, die den Dingen an sich zukämen, wenn sie auch nicht angeschaut würden, sondern Formen unserer Anschauung sind und ihren Grund in der subjektiven Be- schaffenheit unseres, des menschlichen, Gemütes haben. Wenn man von der sinnlichen Anschauung alles, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, desgleichen alles, was zur Empfindung gehört, abtrennt, so bleibenjene beiden Anschauungsformen übrig, die, da sie auch abgesondert von aller Empfindung betrachtet werden können, reine Anschauungen heißen dürfen. Als subjektive (in der Natur des Subjekts liegende) Be- dingungen, unter denen allein etwas für uns Gegenstand der Anschauung werden kann, gehen sie allen empirischen Anschauungen voran oder sind apriori.

Raum und Zeit sind weder substantielle, alles Wirkliche in sich be- fassende Gefäße, noch den Dingen an sich selbst anhaftende Ordnungen, sondern Anschauungsformen. Alle unsere Vorstellungen sind nun ihrem Ursprung nach entweder rein oder empirisch, ihrer Art nach entweder Anschauungen oder Begriffe. Vier Beweise gibt Kant dafür, daß Raum und Zeit nicht empirisch und nicht Begriffe, sondern reineAnschauungen sind. I. Die Zeit ist kein empirischer Begriff, der von einer Erfahrung abgezogen worden. Denn das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen der Erscheinungen, d. h. ihr zur selben Zeit oder in verschiedenen Zeiten Sein (woraus, wie manche meinen, die Vorstellung derselben abstrahiert werde) setzt bereits die Zeit voraus: ein Zugleich oder Nacheinander ist nur in der Zeit möglich. Ebensowenig ist der Raum aus den empirischen Raumverhältnissen der äußeren Erscheinungen, ihrem Außer- und Neben- einander oder an verschiedenen Orten Sein, abstrahiert, denn ich kann

I

Raum und Zeit sind Anschauungen apriori. ^qi

mir kein Nebeneinander vorstellen, das nicht im Raum wäre. Also macht nicht die Erfahrung den Raum und die Zeit möglich, sondern Raum und Zeit machen allererst Erfahrung möglich, jener die äußere, diese die innere. Sie sind Voraussetzungen der Wahrnehmung, nicht Ab- straktionsprodukte aus derselben. 2. Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung apriori. Man kann ganz wohl alle Erscheinungen aus ihr wegdenken, die Zeit selbst aber in Ansehung der Erscheinungen über- haupt nicht aufheben: man kann sich Zeit ohne Erscheinungen, aber nicht diese ohne jene denken. Das gleiche gilt hinsichtlich der äußeren Gegenstände vom Räume. Beide sind Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinungen. 3. Die Zeit ist kein diskursiver oder allgemeiner Begriff Denn es gibt nur eine Zeit. Die verschiedenen Zeiten aber gehen der einen Zeit nicht als Bestandteile voraus, aus denen sie sich zusammensetzte, sondern sind lediglich Einschränkungen derselben; der Teil ist nur durchs Ganze möglich. Ebenso sind die vielen Räume nur Teile eines und desselben Raumes und können nur in ihm gedacht werden. Eine Vorstellung aber, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann, ist eine Einzelvorstellung oder Anschauung. Wegen der Einzigkeit des Raumes und der Zeit also ist die Vorstellung derselben eine Anschauung. Die apriorische unmittelbare Anschauung des einen Raumes ist etwas ganz anderes als der empirische, von den verschie- denen Räumen abstrahierte Allgemeinbegriff der Räumlichkeit. 4. Die bestimmte Zeitgröße entsteht durch Einschränkung der einzigen, zu- grunde liegenden Zeit. Daher muß diese ursprüngliche Zeit uneinge- schränkt oder unendlich und die Vorstellung derselben kann nur eine Anschauung, nicht ein Begriff sein. Die Zeit enthält eine unendliche Menge von Vorstellungen (ihre Teile, die Zeiten) in sich, dies aber kommt niemals beim Gattungsbegriffe vor, der zwar in einer unendlichen Menge von Vorstellungen (denen der gleichnamigen Individuen) als Teilvorstellung enthalten ist, mithin diese unter sich befaßt, aber nimmermehr sie in sich enthält. Der Allgemeinbegriff des Pferdes ist in jeder Einzelvorstellung eines Pferdes, der der Gerechtigkeit in jeder Vorstellung einer bestimmten gerechten Handlung als allgemeines Merkmal enthalten; die Zeit aber ist nicht in den Zeiten, sondern sie sind in ihr enthalten. Ebenso ist das Verhältnis des unendlichen Raumes zu den endlichen Räumen nicht das logische eines Begriffs zu seinen Exemplaren, sondern das anschauliche eines unbegrenzten Ganzen zu seinen begrenzten Teilen.

Als fünften Beweis für die Anschaulichkeit des Raumes benutzen die „Prolegomena" eine bereits in dem Aufsatz über den ersten Grund des Unterschiedes der Gegenden im Räume auftretende Ausführung. Es gibt räumliche Unterschiede, die schlechterdings nicht dem Ver-

302

Kant.

Stande, sondern nur der Anschauung faßlich sind: die von rechts und links, oben und unten, vorn und hinten. Es lassen sich keine logischen Merkmale angeben, durch die sich jeder Gegenstand von seinem Bilde im Spiegel oder das rechte Ohr vom linken unterschiede. Die vollständige Beschreibung einer rechten Hand muß in allen Stücken (Qualität, Pro- portion und Lage der Teile, Größe des Ganzen) auch für die linke selten: trotz vöUiarer Gleichheit aber können die Hände nicht zur _ Deckung gebracht, kann der Handschuh der einen nicht auf der ande- ren gebraucht werden. Dieser Unterschied der Richtung, der nur von einem bestimmten Standpunkt aus Sinn erhält, und jene Unmöglichkeit der Kongruenz des Gegenstandes (rechte Hand) mit seinem Spiegelbilde (linke Hand) ist nur durch Anschauung zu verstehen, muß gesehen und gefühlt und kann nicht durch Begriffe klargemacht, daher niemals einem der Raumanschauung entbehrenden Wesen beigebracht werden.

Der „metaphysischen" Erörterung des Raumes und der Zeit, wel- che deren nichtempirischen und nichtcliskursiven Charakter, also ihre Apriorität und Anschaulichkeit zu beweisen hatte, läßt Kant in der „transzendentalen" Erörterung den Nachweis folgen, daß nur diese Er- klärung von Raum und Zeit es begreiflich mache, wie aus ihnen syn- thetischeErkenntnisse apriori entspringen können. Die mathemati- sehen Sätze sind solche. Der synthetische Charakter der geometrischen Erkenntnisse erklärt sich aus der Anschaulichkeit des Raumes, ihre Apodiktizität aus seiner Apriorität, ihre ijbjektive Realität oder Anwend- barkeit auf empirische Gegenstände daraus, daß der Raum die Bedingimg der (äußeren) Wahrnehmung ist. Das nämliche gilt von der Arithmetik hinsichtlich der Zeit.

Wäre der Raum ein bloßer Begriff, so ließe sich aus ihm kein Satz ziehen, der über den Begriff hinausgeht, unsere Erkenntnis seiner Eigenschaften erweitert. Die JNIöglichkeit der Erweiterung oder Syn- these in der Mathematik beruht darauf, daß die Raumbegrifife jederzeit in der Anschauung dargestellt oder „konstruiert" werden können. Der geometrische Grundsatz, daß im Dreieck die Summe zweier Seiten größer ist als die dritte, wird aus der Anschauung abgeleitet, indem man das Dreieck in der Phantasie oder auf der Tafel zeichnet. Hier wird der Gegenstand durch die Erkenntnis, nicht vor ihr, gegeben. Wären Raum und Zeit empirische Vorstellungen, so würde den aus ihnen gewonnenen Erkentnissen die Notwendigkeit fehlen, durch die sie gerade sich auszeichnen. Während Erfahrung uns nur lehrt, daß etwas so oder so sei, nicht aber, daß es nicht anders sein könne, sind die Axiome (der Raum hat nur drei Dimensionen, die Zeit nur eine; zwischen zwei Punkten ist nur eine gerade Linie möglich), ja sämtliche Sätze der Mathematik streng allgemein und apodiktisch gewiß; wir sind gänzlich der Mühe überhoben, alle Dreiecke der Welt nachzumessen,

Folgerungen daraus.

303

ob auch bei ihnen die Summe der Winkel gleich zwei Rechten sei, und brauchen nicht, wie bei Erfahrungsurteilen, die Beschränkung beizufügen: s«) viel bis jetzt wahrgenommen, kommt keine Ausnahme von der Regel vor. Die Apriorität ist der Realgrund der strengen Notwendigkeit des Soseinmüssens, diese der Erkenntnisgrund jener. Da nun die Not- wendigkeit des geometrischen Urteils nur durch die Idealität des Raumes erklärt werden kann, so ist diese Theorie ungezweifelt gewiß und nicht bloß eine wahrscheinliche Hypothese. Die Gültigkeit der mathe- matischen Grundsätze für alle Wahrnehmungsgegenstände endlich gründet sich darauf, daß dieselben Regeln sind, unter denen allein uns Erfahr- ung möglich ist. Es sei noch hinzugefügt, daß die Begriffe der Ver- änderung und der Bewegung (Ortsveränderung) nur durch die Zeitvor- stellung und in ihr möglich sind. Kein Begriff könnte die Möglichkeit einer Veränderung, das ist einer Verbindung kontradiktorisch-entgegen- gesetzter Prädikate in einem und demselben Dinge begreiflich machen, was der Anschauung des Nacheinander leicht gelingt.

Der Beweisführung folgen Schlüsse aus dem Bewiesenen und Er- läuterungen.

1. Der Raum ist die Form des äußert-n, die Zeit die des inne- ren Sinnes. Durch den äußeren Sinn werden uns äußere Gegenstände, durch den inneren Sinn unsere inneren Zustände gegeben. Da aber alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstande haben oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüts, zum inneren Zustande gehören, so ist die Zeit die formale Bedingung aller Erscheinungen überhaupt, unmittelbar der inneren (der seelischen Vorgänge) und dadurch mittelbar auch der äußeren. 1

2. Die Gültigkeit der apriori erkennbaren Verhältnisse des Raumes und der Zeit für alle Gegenstände möglicher Erfahrung ist gesichert, aber auch auf sie eingeschränkt: sie gelten für alle Erscheinungen (für alle Dinge, die jemals unseren Sinnen gegeben werden mögen), aber nur für sie, nicht für die Dinge, wie sie an sich selbst sind. Sie haben „empirische Realität, aber zugleich transzendentale Idealität". Alle Dinge, als äußere Erscheinungen, sind nebeneinander im Raum, alle Erscheinungen überhaupt sind in der Zeit und stehen notwendiger- weise in Verhältnissen der Zeit; in Ansehung aller Dinge, die und sofern sie uns in der Erfahrung vorkommen können, sind Raum und Zeit ob- jektiv, also empirisch wirklich. Absolute Realität aber (nehme man sie

1 ROB. Reininger (Kants Lehre vom inneren Sinn, 1900) hat gezeigt, daß allein jene Koordination beider Sinne dem ,, transzendentalen" Idealismus ent- spricht, während diese Subordination des äußeren Sinnes unter den inneren, welche den äußeren Sinn zu einer Teilsphäre des inneren macht, einen (unklaren) ,, empirischen" Idealismus zur Folge hat, und daß auf dem Durcheinander dieser beiden Tendenzen die Widersprüche in Kants Theorie der Erfahrung beruhen.

304

Kant.

nun als subsistierend oder als inhärierendj haben sie nicht, denn ab- strahiert man von unserer sinnlichen Anschauung, so verschwinden beide, außer dem Subjekte (NB. dem transzendentalen, worüber weiter unten) sind sie nichts. Nur aus dem Standpunkte des Menschen können wir vom Raum und von ausgedehnten, beweglichen, veränderlichen Dingen reden; denn von den Anschauungen anderer denkender Wesen können wir nicht wissen, ob sie an die nämlichen Bedingungen gebunden seien, welche unsere Anschauungen einschränken und für uns allgemein gültig sind.

3. Nichts, was im Räume angeschaut wird, ist eine Sache an sich. Was wir äußere Gegenstände nennen, sind nichts anderes, als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit, deren wahres Korrelat, das Ding an sich, durch noch so tiefes Eindringen in die Erscheinung nicht erkannt werden kann; solche Eigenschaften, die den Dingen an sich zukommen, können uns durch die Sinne niemals gegeben werden. Desgleichen ist nichts, was in der Zeit angeschaut wird, ein Ding an sich, folglich schauen wir auch uns selbst nur an, wie wir uns erscheinen, nicht wie wir sind.

Die bloß empirische Realität von Raum und Zeit, die Ein- schränkung ihrer Geltung auf Erscheinungen, läßt die Sicherheit der Erfahrungserkenntnis unangetastet denn wir sind derselben ebenso gewiß, ob nun diese Formen den Dingen an sich selbst oder nur unse- rer Anschauung der Dinge notwendigerweise anhangen , wohingegen die Behauptung ihrer absoluten Realität in lauter Ungereimtheiten verwickelt (nämlich zu der Annahme zweier unendlicher Undinge nötigt, welche da sind, ohne daß doch etwas Wirkliches ist, nur um alles Wirk- liche in sich zu befassen, und von deren einem sogar unsere Existenz abhängig wäre), angesichts deren selbst die Entstehung einer so sonder- baren Ansicht, wie der Berkeleysche Idealismus ist, verständlich erscheint. Die kritische Theorie von Raum und Zeit ist so wenig mit der desj Berkeley identisch oder verwandt, daß sie vielmehr den besten undl einzigen Schutz gegen dieselbe darbietet. Wer- jenen Formen absolute oder transzendentale Realität beilegt, kann nicht vermeiden, daß dadurchJ alles, sogar unsere eigene Existenz, in lauter Schein verwandelt werde.| Der Kritizist aber ist weit entfernt, die Körper zu bloßem Schein herab- zusetzen: ihm sind die äußeren Erscheinungen ebenso wirklich wi€ die inneren, wirklich freilich nur als Erscheinungen, als (mögliche) Vorstellungen.

Erscheinung ist nicht Schein. Der transzendentale Unterschied voi Erscheinung und Ansich darf nicht mit dem im gewöhnlichen Leben unc in der Physik üblichen verwechselt werden, wonach man den Regenboger eine bloße Erscheinung (besser: Schein), den diesen Schein veranlassender Sonnenregen aber die Sache an sich nennt als das, was in der allgemeiner

Transzendentale Idealität und empirische Realität.

305

Erfahning, unter allen verschiedenen Lagen zu den Sinnen, in der An- schauung so und nicht anders bestimmt ist, oder was der Anschauung des Gegenstandes wesentlich anhängt und für jeden menschlichen Sinn überhaupt gilt (im Gegensatz zu dem, was ihr nur zufälligerweise zu- kommt und nur für eine besondere Stellung oder Organisation dieses oder jenes Sinnes gültig ist). Desgleichen erscheint ein Gegenstand bei zunehmender Entfernung immer kleiner, während er an sich irgend- wie groß ist und bleibt. Das ist auch in der empirischen oder phy- sischen Bedeutung des x\nsich ganz richtig; in der transzendentalen jedoch sind auch die Regentropfen nebst ihrer Gestalt und Größe selbst wiederum bloß Erscheinungen, deren Ansich uns gänzlich unbekannt bleibt. Femer wünscht Kant die Subjektivität der Anschauungsforraen nicht mit derjenigen der Empfindungen auf eine Linie gestellt oder durch dieselbe erläutert zu sehen, wenn er auch die letztere, als längst feststehend, anerkennt. Die Empfindungen der Farben, der Töne, der Wärme kommen zwar darin mit der Vorstellung des Raumes überein, daß sie bloß zur subjektiven Beschaffenheit der Sinnesart gehören und den Objekten nur im Verhältnis auf unsere Sinne beigelegt werden können. x\ber der große Unterschied zwischen beiden ist der, daß jene Sinnesqualitäten bei ver- schiedenen Menschen verschieden sein können (die Farbe der Rose kann jedem Auge anders erscheinen) oder der Einstimmung mit jedem Men- schensinne entbehren, daß sie nicht im gleichen und strengen Sinne apriori sind, somit keine von der Wahrnehmung unabhängige Erkenntnis der Gegenstände möglicher Erfahrung gewähren, und daß sie nur als zufällig beigefügte Wirkungen der besonderen Organisation mit der Erscheinung verbunden sind, während der Raum als Bedingung äußerer Objekte not- wendigerweise zur Erscheinung oder Anschauung derselben gehört. Durch den Raum ist es allein möglich, daß Dinge für uns äußere Gegenstände sind. Die Subjektivität der Empfindung ist eine individuelle, die des Raumes und der Zeit eine generelle oder allge- mein menschliche; jene ist empirisch, individuell verschieden und zu- fällig, diese sind apriori und notwendig. Nicht die Empfindung, sondern nur der Raum ist eine conditio sine qua non äußerer Anschauung. Raum und Zeit sind die einzigen apriorischen Elemente der Sinnlichkeit, alle übrigen sinnlichen Begriffe, selbst Bewegung und Veränderung, setzen Wahrnehmung voraus; das Bewegliche im Raum und die Sukzession der Eigenschaften eines Daseienden sind empirische Daten.

Zur Bestätigung der Theorie, daß alle Sinnesobjekte bloße Erschei- nungen seien, wird hervorgehoben, daß uns (den Willen und die Ge- fühle ausgenommen, die nicht Erkenntnisse sind) durch die Sinne nichts als Verhältnisvorstellungen gegeben werden, durch bloße Verhältnisse aber nicht eine Sache an sich erkannt werde. Die Erscheinung ist ein Inbegriff" von lauter Relationen. Von dem Körper kennen wir nur die

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 20

3o6

Kant.

Ausdehnung, die Bewegung und die Gesetze dieser Bewegung oder die Kräfte (Anziehung, Zurückstoßung, Undurchdringlichkeit), alles dies aber sind nur Beziehungen des Dinges auf etwas von ihm Verschiedenes, also äußere Verhältnisse. Wo ist das Innere, das diesem Äußeren zu- grunde liegt und dem Objekt an sich zukommt? In der Erscheinung ist ein solches nirgend anzutreffen, und soweit Beobachtung und Zer- gliederung der Natur fortschreiten mag (eine Aufgabe von unbegrenzten Aussichten!), so findet sie immer nur Raumteile, welche die Materie ein- nimmt, und Wirkungen, die sie ausübt, also lauter komparativ Inner- liches, das selbst wiederum aus äußeren Verhältnissen besteht. Das schlechthin Innere der Materie ist eine bloße Grille, und wenn die Klage, das „Innere" der Dinge sei uns verborgen, bedeuten soll, wir begreifen nicht, was die uns erscheinenden Dinge an sich sein mögen, so ist sie unbillig und unvernünftig, denn sie verlangt, daß man ohne Sinne anschauen könne, verlangt, daß wir nicht Menschen sein sollen. Die transzendenten Fragen nach dem Ansich der Dinge sind unbeant- wortbar; kennen wir doch uns selber nur als Erscheinung. Erscheinung besteht selbst in dem bloßen Verhältnis von Etwas überhaupt zu den Sinnen.

Daß der Erscheinung etwas entspricht, was, indem es unsere Sinn- lichkeit affiziert, in uns Empfindung und hierdurch Erscheinung bewirkt, ist zweifellos. Schon das Wort und der Begriff „Erscheinung" zeigt eine Beziehung an auf etwas, was nicht Erscheinung ist, auf einen von der Sinnlichkeit unabhängigen Gegenstand. Was derselbe sein mag, bleibt uns verschlossen, denn Erkenntnis ist nicht ohne Anschauung möglich. Die Dinge an sich sind unerkennbar. Gleichwohl ist der (übrigens ganz leere) Gedanke jenes „transzendentalen Gegenstandes", als eines unbestimmten Etwas = x, das den Erscheinungen zugrunde liegt, nicht nur zulässig, sondern unvermeidlich, als Grenzbegrifi', um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, nämlich auf das ihr allein zugängliche Feld der Erscheinungen.

Mit der Schlußfolgerung „Raum und Zeit sind bloße Vorstellungen, Vorstellungen sind in uns, folglich sind Raum und Zeit nebst allen Er- scheinungen darin, die Körper mit ihren Kräften und Bewegungen in uns" wird die Ansicht Kants nicht zutreff"end ausgedrückt, und er dürfte mit Recht darauf entgegnen, daß nach ihm die Körper, als Erscheinungen, an anderen Orten des Raumes als dem, den wir vms selbst anweisen, also außer uns sind, daß der Raum die Form äußerer Anschauung ist und durch ihn aus den Empfindungen äußere Gegenstände für uns werden, daß aber von dem vuis affizierenden Dinge an sich völlig un- bekannt ist, ob es in uns oder außer uns sei.

Daß sich bei Kant, namentlich in der ersten Auflage des Haupt- werks, deutliche Ansätze zu einem radikalen Idealismus finden, der nicht

I

Ding an sich, Erscheinung, Vorstellung. oq?

bloß die Erkennbarkeit, sondern auch die Existenz von Gegenständen außerhalb des Subjekts und seiner Vorstellungen bezweifelt oder leugnet und das Ding an sich zu einem bloßen Gedanken in uns herabsetzt oder ganz aufhebt, ist leicht durch wörtliche Äußerungen zu belegen (z. B.: „die Vorstellung eines Gegenstandes als Dinges überhaupt ist nicht bloß unzureichend, sondern . . unabhängig von empirischer Bedingung in sich selbst widerstreitend"). Aber die betreffenden Wendungen be- kunden nur ein momentanes Hinneigen zu jenem Standpunkt, nicht ein bindendes Bekenntnis desselben und werden überwogen durch solche, in denen der Idealismus mehr oder minder energisch abgelehnt wird. Ein Doppeltes^ ist es, was nach Kant außerhalb der Vorstellung des Individuums existiert: i. die unbekannten Dinge an sich mit ihren problematischen Beschaffenheiten, als Grund der Erscheinungen, 2. die Erscheinungen „selbst" mit ihren erkennbaren immanenten Gesetzen und ihren räumlich-zeitlichen Verhältnissen, als möglichen Vorstellungen. Wenn ich meinen Blick von der Rose hinwegwende, so verschwindet ihre Röte, denn dies Prädikat kommt ihr nur zu, sofern und solange sie im Lichte auf meinen Sehapparat einwirkt. Was bleibt übrig? Natürlich dasjenige Ding an sich, das, wenn es mir erscheint, die Anschauung der Rose in mir hervorruft. Aber es bleibt noch mehr übrig: die Erscheinung der Rose mit ihrer Größe, Gestalt und ihrer Bewegung im Winde. Denn dies sind Prädikate, die der Erscheinung selbst, als dem Gegen- stande meiner Vorstellung beigelegt werden müssen. Verschwände mit meinem Wegsehen die räumlich-zeitlich bestimmte Rose, so könnte sie nicht, ohne von einem Subjekte angeschaut zu werden, Wirkungen in Raum und Zeit erfahren und ausüben, vom Winde entblättert werden und mit ihren Blättern den Boden bestreuen. Wahrnehmung und Denken belehren mich nicht bloß über Ereignisse, deren Zeuge ich bin, sondern auch über solche, die in meiner Abwesenheit geschehen sind und ge- schehen werden. Der unbeobachtete Vorgang der Entblätterung der Rose hat als Erscheinung wirklich stattgefunden und wird nicht erst dadurch real, daß ich denselben nachträglich vorstelle, erschließe. Die Dinge und Ereignisse der Erscheinungswelt existieren sowohl vor als nach meiner Wahrnehmung, sind etwas von meiner subjektiven und momentanen Vorstellung derselben Verschiedenes. Den Raum aber und die Zeit, in denen sie sind und vor sich gehen, liefert ihnen nicht das anschauende Individuum, sondern das überindividuelle transzen- dentale Bewußtsein oder die menschliche Gattungsvernunft. So steht die Erscheinung zwischen ihrem objektiven Grunde, dem absoluten Ding an sich, und dem Subjekt, deren gemeinschaftliches Produkt sie ist.

1 Die gleiche Auffassung vertreten L. Busse in dem Artikel über das Diug an sich (ZPhKr. Bd. 102) und PaüLSEN in seinem Kautbucb, S. 145 f.

20*

3o8

Kant.

in der Mitte als ein relatives Ding an sich, als eine dem zufälligen und wechselnden Vorstellen des empirischen Einzelsubjekts gegenüber selbständige, ihrer Form nach vom transzendentalen Subjekt abhängige, uns allein zugängliche, aber für uns auch vollgültige Wirklichkeit. Die Erscheinungswelt ist nicht ein zufälliges und individuelles, sondern ein für alle uns gleichorganisierten Wesen notwendiges, ein Menschheits- Phänomen. Meine Vorstellungen sind nicht die Erscheinungen selbst, sondern Bilder und Zeichen, durch die ich die Erscheinungen, d. h. die wirklichen Dinge, wie sie für mich und für jeden Menschen (nicht an sich) sind, erkenne. Die Wirklichkeit der Erscheinungen be- steht darin, daß sie von den Menschen wahrgenommen werden können, die objektive Gültigkeit meiner Erkenntnis derselben darin, daß jeder Mensch derselben zustimmen muß. Die Gesetze, die der Verstand (nicht der des einzelnen!) der Natur vorschreibt, gelten für die Erscheinungen, weil sie für jeden Menschen gelten. Objektivität ist Allgemeingültigkeit. Wenn die von uns angeschaute und erkannte Erscheinungswelt anders aussieht, als die Welt der Dinge an sich, so berechtigt dies nicht dazu, sie fürSchein und Traum zu erklären; ein Traum, den alle gleichmäßig träumen und träumen müssen, ist kein Traum, sondern Wirklichkeit. Wie wir uns die Welt vorstellen müssen, so ist sie, natürlich für uns, nicht an sich. Gegen die hier der Erscheinungswelt zugeschriebene Mittelstellung, nach der sie weniger ist als die Dinge an sich und mehr ist als subjektive Vorstellung, scheinen die zahlreichen Stellen zu sprechen, welche, indem sie die Erscheinung für bloße Vorstellung erklären, nur für zwei Glieder (dort das Ding an sich = das Unvorstellbare am Dinge, hier das Ding für mich = meine Vorstellung des Dinges) Raum lassen. In der Tat wird der Unterschied zwischen der Erscheinung „selbst" und der Vorstellung, die der einzelne von ihr bald hat, bald nicht hat, keineswegs überall mit wünschenswerter Deutlichkeit festgehalten, und wo es nicht angeht, den „bloßen Vorstellungen in mir" das Vorgestellte und Vor- stellbare oder mögliche Anschauungen zu substituieren, wird man ein Verlassen des an einigen Orten mit vollster Bestimmtheit eingenommenen Standpunktes zugeben müssen. Einen unzweideutigen Ausdruck findet der letztere u. a. in den „Analogien der Erfahrung" und der „Deduktion der reinen Verstandesbegriflfe", zweiter Abschnitt No. 4 (i. Aufl.). An letzterer Stelle wird von einer und derselben allgemeinen Erfahrung ge- sprochen, in welcher alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammenhange vorgestellt werden, und von der durch- gängigen Affinität der Erscheinungen als dem Grunde der Möglichkeit der Vorstellungsassoziationen. Die Affinität wird den Gegenständen der Sinne zugeschrieben, nicht den Vorstellungen, deren Assoziation erst die Folge der Affinität ist, noch auch den Dingen an sich, für die der Verstand nicht gesetzgebend sein kann.

Ding an sich und Erscheinung.

309

Auch das Verhältnis zwischen Ding an sich und Erscheinung ist ein schwankendes. Bald wei'den sie als einander völlig heterogen (das Nieanzuschauende hat eine der des Angeschauten und Anschaubaren entgegengesetzte Existenzweise), bald als einander analog (den an- schaulichen Beschaffenheiten der Erscheinung korrespondieren nichtan- schauliche Eigenschaften des Dinges an sich) angenommen. Jenes ist der Fall, wenn es heißt: die Erscheinungen seien in Raum und Zeit, die Dinge an sich nicht, in jenen herrsche Naturkausalität, in diesen Freiheit, dort gebe es nur Bedingtes, hier Unbedingtes usw. ^ Ebenso oft aber werden Dinge an sich und Erscheinungen als einander ähnlich, als zwei Seiten desselben Gegenstandes ^ gedacht, von denen die eine, gleich der Gegenerde der Pythagoreer, uns stets abgewandt bleibt, die andere uns zugekehrte aber sein wahres Wesen nicht erkennen läßt. Darnach würde jedem einzelnen Dinge, Zustande, Verhältnisse und Er- eignisse der Erscheinuiigswelt eine analoge Wirklichkeit in der Sphäre des Ansich entsprechen: den ausgedehnten Rosen würden unausgedehnte Rosen an sich, ihrem Wachsen und Verblühen gewisse unzeitliche Akte, ihren Raumverhältnissen intelligible Beziehungen zugrunde liegen. Das ist ungefähr die Stellung der beiden Begriffe, die Lotze teils selbst lehrt, teils Kant lehren läßt; auch Herbarts „wieviel Schein, soviel Hindeutung" aufs Sein" ließe sich hier anziehen. Was Kant, trotz der proklamierten Unerkennbarkeit der Dinge an sich, beständig dazu antreibt, sich Ge- danken über ihre Beschaffenheit zu machen, ist das moralische In- teresse, dieses aber legt sein Gewicht bald auf die Schale ihrer Ver- gleichbarkeit mit der Erscheinung, bald auf die entgegengesetzte. Denn für die Ethik braucht Kant den intelligiblen Charakter oder den Menschen als Noumenon und muß ebensoviele Menschen an sich (konsequenter- weise dann auch ganz allgemein ebensoviele Wesen an sich) annehmen, als es deren in der Erscheinung gibt. Aus praktischen Gründen aber muß man sich auch wiederum die Kausalität der Menschen an sich als eine ganz andere, der mechanischen in der Sinnenwelt entgegengesetzte vorstellen. Ebensowenig bleibt sich Kants Urteil über den Wert der

In gleicher Richtung bewegen sich die Vermutungen über einen einheitlichen Grund der materiellen und der denkenden Erscheinung und über die gemeinschaft- liche Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand. Dort Zweiheit, hier Einheit.

- „Erscheinung, welche jederzeit zwei Seiten hat, die eine, da das Objekt an sich selbst betrachtet wird (unangesehen die Art, dasselbe anzuschauen, dessen Beschaffenheit aber ebendarum jederzeit problematisch bleibt), die andere, da auf die Form der Anschauung dieses Gegenstandes gesehen wird, welche nicht in dem Gegen- stande an sich selbst, sondern im Subjekte, dem derselbe erscheint, gesucht werden muß, gleichwohl aber der Erscheinung dieses Gegenstandes wirklich und not- wendig zukommt." „Dieses Prädikat" sc. Räumlichkeit, Ausdehnung „wird den Dingen nur insofern beigelegt, als sie uns erscheinen." (Kr. d. r. V., Kehrb. S. 64 und 65.)

3IO Kant.

uns versagten Erkenntnis des Übersinnlichen gleich. „Was die Dinge an sich sein mögen, brauche ich gar nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann." Und doch soll den fehlgeschlagenen Versuchen der Metaphysik ein natür- Hches und unausrottbares Bedürfnis der Vernunft, über das Jenseitige eine Überzeugung zu erwerben, zugrunde liegen, wie auch Kant selbst alles tut, um die Befriedigung jenes Bedürfnisses, die er der spekulativen Vernunft verweigert, der praktischen zu sichern und die Lücke des Wissens durch den Glauben zu ergänzen. Vom theoretischen Stand- punkt aus erscheint eine Erweiterung der Erkenntnis über die Grenzen der Erscheinung hinaus unmöglich, aber auch entbehrlich, vom praktischen ist sie bis zu einem gewissen Grade möglich und unerläßlich.

Ein Dreifaches 1 also ist zu unterscheiden: i, die Dinge an sich, die niemals Gegenstand unserer Erkenntnis sein können, weil unsere Anschauungsformen für dieselben nicht gelten; 2. die Erscheinungen, die Dinge für uns, die Natur oder die Gesamtheit dessen, was Gegen- stand unserer Erkenntnis entweder ist oder doch werden kann (hierzu gehören die etwaigen Mondbewohner, die alle Körper durchdringende magnetische Materie, die Kräfte der Attraktion und der Repulsion, ob- wohl die ersten noch nicht beobachtet worden, die zweite wegen der Grobheit unserer Sinne, die dritten als Kräfte überhaupt nicht wahr- nehmbar sind; die Natur umfaßt alles das, dessen Dasein „mit unseren Wahrnehmungen in einer möglichen Erfahrung zusammenhängt" 2; 3. unsere Vorstellungen von den Erscheinungen, also das, was von den letzteren tatsächlich in das Bewußtsein des empirischen Individuums gelangt. Im Reiche der Dinge an sich gibt es gar keine Bewegung, sondern höchstens ein intelligibles Korrelat dieses Verhältnisses; in der Erscheinungswelt, der Welt der Physik, bewegt sich die Erde um die Sonne; in der Vorstellungssphäre bewegt sich die Sonne um die Erde. x\llerdings wird, wie gesagt, bei Kant der Unterschied der Erscheinung nach Seiten des Noumenon oder nach Seiten der Vorstellung zuweilen ignoriert, wobei dann die Erscheinung entweder sich ganz und gar zur Vorstellung verflüchtigt ^ oder sich in eine von uns unabhängige gegen-

1 In ähnlicher Weise schiebt Ed. v. Hart mann (Grundproblem der Erkenntnis- theorie, S. 114; ZPhKr. Bd. 115, S. 15 16) zwischen die subjektiv-ideale Sphäre der] Wahrnehmungssubjekte mit ihrem Bewußtseinsinhalt und die metaphysische der Dingej an sich mit ihren Kräften eine mittlere (physikalische) objektiv-reale Sphäre ein, einj räumliches System thelisch-dynamischer Vorgänge (Kraftäußerungen).

2 ,,Uns ist wirklich nichts gegeben als die Wahrnehmung und der empirische Fortschritt von dieser zu anderen möglichen Wahrnehmungen." „Vor der Wahr- nehmung eine Erscheinung ein wirkliches Ding nennen, bedeutet . . . , daß wir im Fortgange der Erfahrung auf eine solche Wahrnehmung treffen müssen." (Kehrb. S. 403.)

3 Die Erscheinungen „sind insgesamt in mir", „existieren nur in unserer Sinn-

Analytik der Begriffe.

311

ständliche und eine von uns abhängige Vorstellungshälfte spaltet, von denen jene in das Ding an sich hineinfällt ', diese sich in subjektive Zustände des Ich auflöst.

Nachdem auf Grund der reinen Anschauungen die Möglichkeit und RechtmJißigkeit synthetischer Urteile apriori für die reine Mathematik nach- gewiesen, erhebt sich zweitens das Problem der Möglichkeit apriorischer Synthesen für die reine Naturwissenschaft oder die Frage: gibt es reine Begriffe? Und nachdem sie bejahend beantwortet, die weitere: ist und wie ist die Anwendung derselben i. auf Erscheinungen, 2. auf Dinge an sich mögHch und irerechtfertist ?

2. Die Begriffe und Grundsätze des reinen Verstandes (transzendentale Analytik).

Die Empfindungen bedurften, um „Anschauung" oder Wahrnehmung einer Erscheinung zu werden, einer räumlich-zeitlichen Ordnung; Anschau- ungen bedürfen, um „Erfahrung" oder einheitliche Erkenntnis von Gegen- ständen zu werden, einer Synthesis durch Begriffe. Zum Behufe objek- tiver Erkenntnis muß das (durch Eingliederung in Raum und Zeit bereits geordnete) Mannigfaltige der Anschauung in der Einheit des Begriffs verknüpft werden. Die Sinnlichkeit gibt das zu verknüpfende Mannig- faltige, der Verstand die verknüpfende Einheit. Jene vermag nichts als anzuschauen, dieser nichts als zu denken; nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Anschauungen beruhen auf Affektionen, Begriffe auf Funktionen, nämlich einheitschaffenden Hand- lungen des Verstandes.

Zur Auffindung der reinen Denkformen ist eine Isolierung des

lichkeit als eine Modifikation derselben." „Im Raum ist nichts, als was in ihm wirk- lich vorgestellt wird." Erscheinungen „sind bloße Vorstellungen, die, wenn sie nicht in xins (in der Wahrnehmung) gegeben sind, überall nirgend angetroffen werden". (Kehrb. S. 117, 135, 137, 317.)

1 Hierbei verfällt Kant selbst in die von ihm gerügte Verwechslung der physischen und der transzendentalen Bedeutung von Ansich. Er vergißt, daß das Ding, wenn es augenblicklich nicht von mir angeschaut oder vorgestellt wird, also nicht für mich als Individuum unmittelbar gegeben ist, doch für mich als Menschen noch vorhanden, mittelbar gegeben, d. h. bei künftiger Nachforschung auffindbar ist. Was außerhalb meines gegenwärtigen Bewußtseins ist, ist deshalb noch nicht außer allem menschlichen Bewußtsein. Tatsächlich übersieht Kant mehrfach den Unter- schied zwischen wirklicher und möglicher Anschauung, so daß ihm die ,, Gegenstände" der letzteren aus Raum und Zeit hinaus ins Ding an sich hineinschlüpfen. Dem „transzendentalen Objekt können wir Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen zuschreiben und sagen , daß es vor aller Erfahrung an sich selbst gegeben sei". In ihm ,,sind die wirklichen Dinge der vergangenen Zeit gegeben". (Kehrb. S. 404.)

312

Kant.

Verstandes erforderlich, wie oben zu derjenigen der reinen Anschauungs- formen eine Isolierung der Sinnlichkeit es war. Durch Abzug alles An- schaulichen und Empirischen erhalten wir die Elemente der reinen Ver- standeserkenntnis. Dieselben müssen rein, müssen Begriffe, weiterhin nicht abgeleitete oder zusammengesetzte, sondern Grundbegriffe und ihre Tafel muß vollständig sein. Diese Vollzähligkeit aber ist nur gewährleistet, wenn die reinen Begriffe oder Kategorien nicht (wie bei Aristoteles) durch gelegentliche, unsystematische, auf gut Glück unternommene Ver- suche gesammelt, sondern nach einem gemeinschaftUchen Prinzip auf- gesucht werden, welches jedem einzelnen seine Stelle im Zusammenhang des Ganzen anweist. Als Leitfaden zur Entdeckung der Kategorien bietet sich die Tafel der Urteilsformen dar. Denken ist Erkenntnis durch Be- griffe, von Begriffen kann der Verstand keinen anderen Gebrauch machen, als daß er durch sie urteilt. Da also der Verstand das Vermögen des Ur- teilens ist, so müssen sich aus den verschiedenen Arten der Verknüpfung im Urteil die verschiedenen reinen „Verknüpfungsbegriffe" (K. Fischer) oder Kategorien ergeben.

Seiner Quantität nach ist jedes Urteil ein allgemeines, ein beson- deres oder ein einzelnes; seiner Qualität nach bejahend, verneinend oder unendlich; seiner Relation nach kategorisch, hypothetisch oder dis- junktiv; seiner Modalität nach problematisch, assertorisch oder apodik- tisch. Diesen zw^ölf Urteilsformen entsprechen ebensoviele Kategorien, nämlich I. Einheit, Vielheit, Allheit; II. Realität, Negation, Limitation; III. Subsistenz und Inhärenz (Substanz und Akzidens), Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung), Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden); IV. Möglichkeit Unmög- lichkeit, Dasein Nichtsein, Notwendigkeit Zufälligkeit.

Die ersten sechs Stammbegriffe, welche keine Korrelate haben, bilden die Klasse der mathematischen, die letzten sechs, welche paarweise auf- treten, die der dynamischen Kategorien. Jene sind auf Gegenstände der (reinen oder der empirischen) Anschauung, diese auf die Existenz dieser Gegenstände (in Beziehung aufeinander oder auf den Verstand) gerichtet. Jeder der vier Titel enthält, während sonst alle Einteilung apriori durch Begriffe clichotomisch sein muß, drei Kategorien, von denen allemal die dritte aus der Verbindung der zweiten mit der ersten ent- springt i, trotzdem aber ein Ur- (nicht abgeleiteter) Begriff ist, da jene Verbindung einen besonderen Aktus des Verstandes erfordert. Die All- heit oder Totalität ist die Vielheit als Einheit betrachtet, Einschränkung

1 Über diese „artige Betrachtung" bemerkt Kant, sie könnte ,, vielleicht erhebliche Folgen in Ansehung der wissenschaftlichen Form aller Vernunfterkenntnisse haben". Die Prophezeiung ist eingetroffen, wenn auch in anderer Gestalt, als ihm vorschweben mochte. Fichte und Hegel haben ihre ,, Gedankensymphonien" in dem von Kant an- gegebenen Dreivierteltakt komponiert.

Kategorientafel. t j ^

ist Realität mit Negation verbunden, Gemeinschaft ist wechselseitige Kau- saHtät von Substanzen, die Notwendigkeit ist die durch die Möglichkeit selbst gegebene Wirklichkeit. Die nützliche, leichte und nicht unan- genehme Bemühung, die große Menge abgeleiteter Begriffe apriori (Prädikabilien), die aus der Verbindung jener zwölf ursprünglichen Be- griffe (Prädikamente == Kategorien) untereinander oder mit den Modis der reinen Sinnlichkeit hervorgehen die Begriffe Kraft, Handlung, Leiden würden der Kausalität, Gegenwart und Widerstand der Gemeinschaft, Entstehen, Vergehen und Veränderung der Modalität unterzuordnen sein , zu verzeichnen, unterläßt Kant als eine hier, wo es nicht um ein System, sondern nur um die Prinzipien zu einem solchen zu tun sei, entbehrliche. Seine bis zur Verliebtheit gehende Neigung für die Ein- teilung nach den Gesichtspunkten der Quantität, Qualität, Relation und Modalität, mit der er, wie mit einem philosophischen Universalschlüssel, überall bei der Hand ist, verrät einen sehr starken architektonischen Trieb, gegen den selbst seine stets rege Zweifelsucht den Kampf nicht aushält. Angesichts der Ableitung der Denkformen aus den Urteilsformen hält sich Kant nicht dabei auf, ausführlich zu beweisen, daß die Kate- gorien Begriffe und daß sie rein sind. Ihr diskursiver (nicht intuitiver) Charakter leuchtet daraus ein, daß sie sich nur mittelbar (nicht, wie die Anschauung, unmittelbar) auf den Gegenstand beziehen, ihr apriorischer Ursprung aber aus der Notwendigkeit, die sie bei sich führen und die bei empirischer Abkunft unmöglich wäre. Hierbei knüpft Kant anHumes Kritik des KausalitätsbegrifFes an. Das notwendige Band zwischen Ursache und Wirkung, hatte der schottische Skeptiker gesagt, kann weder wahr- genommen noch logisch demonstriert werden, deshalb ist das Kausalitäts- verhältnis ein Gedanke, den wir mit welchem Rechte? zur wahr- genommenen Sukzession hinzufügen. Dieser Zweifel (ohne die übereilten Folgerungen), sagt Kant, muß allgemein vorgestellt, muß auf die Kate- gorie der Substanz (die, was dem Verfasser der Vernunftkritik nicht be- kannt war, Hume gleichfalls berücksichtigt hatte, vergl. S. 199) und auf alle übrigen reinen Verstandesbegriffe ausgedehnt werden; dann darf man hoffen, an dem von Hume geschlagenen Funken ein Licht anzuzünden. Das Problem „es ist nicht abzusehen, wie darum, weil etwas ist, etwas anderes notwendigerweise auch sein müsse" ist der Aus- gangspunkt der Humeschen Skepsis und der Kantischen Kritik. Jener erkannte, daß der Satz der Kausalität weder empirisch noch analytisch sei, und schloß daraus, er sei eine Erdichtung der Vernunft, welche sub- jektive Notwendigkeit mit objektiver verwechsele. Dieser zeigt, daß er trotz seines subjektiven Ursprungs objektive Bedeutung habe, daß er eine von aller Erfahrung unabhängige, aber für alle Erfahrenden und alles Er- fahrbare geltende Wahrheit sei. Deussen, Die Elemente der Metaphysik. <3. Aufl. 1902, S. 38) § 65: „Daß Erfahrung keine Notwendigkeit gebe,

314

Kant.

war eine Überzeugung, von der D. Hume ebensosehr geleitet wurde wie Kant. Man vergleiche aber die Folgerungen, welche beide aus diesem Satze zogen: Hume schloß: Erfahrung gibt keine Notwendigkeit. Nun stammt das Kausalitätsgesetz aus der Erfahrung. Folglich hat es keine Notwendigkeit. Kant schloß: Erfahrung gibt keine Notwendigkeit. Nun hat das Kausalitätsgesetz Notwendigkeit. Folglich stammt es nicht aus der Erfahrung."

Von den beiden Fragen „wie können die aus unserem Verstände ent- sprungenen Begriffe objektive Gültigkeit haben?" und „wie (durch welche Mittel oder Medien) geschieht die Anwendung derselben auf Erfahrungs- o-esenstände?" wird die erste in der Deduktion der reinen Verstandes- begriffe, die zweite in dem Abschnitt über den Schematismus derselben beantwortet.

Die Deduktion, der schwierigste Teil der Kantischen Untersuchung, zeigt, daß die objektive Gültigkeit der Kategorien, als Begriffe von Gegenständen überhaupt, darauf beruhe, daß durch sie allein Erfahrung der Form des Denkens nach möglich sei, d. h. nur vermittels ihrer überhaupt irgend ein Gegenstand gedacht werden könne. Alle Er- kenntnis besteht aus Urteilen, alle Urteile enthalten eine Verbindung von Vorstellungen, alle Verbindung sei sie bewußt oder nicht, betreffe sie Begriffe oder reine oder empirische Anschauungen ist eine Ver- standeshandlung, sie kann nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst spontan verrichtet werden. Wir können uns nichts als im Objekte verbunden vorstellen, ohne es vorher selbst verbunden zu haben. Die Verbindung enthält drei Begriffe: den des zu verbindenden Mannigfaltigen (das durch die Anschauung gegeben wird), den des Aktes der Synthese und den der Einheit; die letztere ist eine doppelte, eine objektive (der Begriff eines Gegenstandes überhaupt, worin jenes Man- nigfaltige vereinigt wird) und eine subjektive Einheit (die des Bewußt- seins, worunter resp. wodurch verbunden wird). Die verschiedenen Arten der Zusammensetzung stellen die Kategorien dar, jede derselben aber vollzieht sich in drei Stadien; diese heißen die Synthesis der Ap- prehension in der Anschauung, die der Reproduktion in der Einbildung und die der Rekognition im Begriffe. Will ich die Zeit von einem Mittag zum anderen denken, so muß ich i. die mannigfaltigen Vorstellungen (Zeitteile) eine nach der anderen auffassen (apprehendieren), 2. beim Übergang zu den folgenden die vorhergegangenen im Gedanken festhalten oder erneuern (reproduzieren), 3. das Bewußtsein haben, daß das jetzt Gedachte mit dem zuvor Gedachten dasselbe sei, oder die reproduzierte Vorstellung als die früher gehabte wiedererkennen (rekognoszieren). * Übte

1 Dieses (wie es scheint, erst bei der Schlußredaktiou der Kr. d. r. V. einge- fügte) Lehrstück von der dreifachen Synthesis der Apprehension, Reproduktion und Rekognition, das wohl den Zweck verfolgte, transzendentale Verstandeshandlungen

Deduktion der Kategorien.

der Geist nicht solche verknüpfende Tätigkeit, so würde das Mannigfaltige der Vorstellung kein Ganzes ausmachen, würde der Einheit ermangeln, die ihm nur das Bewußtsein verschaffen kann. Ohne dies eine Bewußt- sein würden Begriffe und Erkenntnis von Gegenständen ganz unmöglich sein. Die Einheit des reinen Selbstbewußtseins oder der „transzendentalen Apperzeption" ist die Voraussetzung alles Verstandesgebrauches. Im Flusse der inneren Erscheinungen gibt es kein stehendes oder bleibendes Selbst, das hier geforderte unwandelbare Bewußtsein geht aller Erfahrung als Bedingung vorher und gibt den Erscheinungen einen Zusammenhang nach Gesetzen, die der Anschauung einen Gegenstand bestimmen, d. i. den Begriff von Etwas, darin sie notwendig zusammenhängen,^ Die Beziehung auf einen Gegenstand ist nichts anderes als die notwendige Einheit des Bewußtseins. Nur durch die „synthetische Einheit der reinen Apperzeption", das „Ich denke", das alle meine Vorstellungen muß begleiten können und wodurch sie erst meine Vorstellungen werden, ist die verknüpfende Tätigkeit des Verstandes und hiermit Er- fahrung möglich.

Erfahrung (im strengen Sinne) unterscheidet sich von Wahrnehmung (Erfahrung im laxen Sinne) durch ihre Objektivität oder Allgemeingültig- keit. Das Wahrnehmungsurteil (die Sonne bescheint den Stein, der Stein wird warm) ist bloß subjektiv gültig, das Erfahrungsurteil dagegen (die Sonne erwärmt den Stein) will nicht nur für mich und meinen jetzigen Zustand, sondern sowohl jederzeit für mich als auch für jedermann gelten. Soll aus jenem dieses werden, so muß zur Wahrnehmung ein apriorischer Begriff (im obigen Beispiel der der Ursache) hinzukommen, unter den sie subsumiert wird. Die Kategorie bestimmt die Wahrnehmungen in Ansehung der Form des Urteils, gibt dem Urteil die Beziehung auf ein Objekt und bringt hierdurch in die Wahrnehmungen resp. Begriffe (Sonnenschein und Wärme) allgemeingültige und notwendige Verknüpfung. Der „Grund, warum die Urteile anderer mit dem meinigen übereinstimmen" müssen, ist „die Einheit des Gegenstandes, auf den sie sich alle beziehen, mit dem sie übereinstimmen, und daher auch alle untereinander zu- sammenstimmen müssen".

Die Kategorien sind, obwohl aus der Natur des Subjekts entsprungen, objektiv und gelten für die Gegenstände der Erfahrung, weil Erfahrung nur durch sie möglich ist. Sie sind nicht Produkt, sondern Grund

durch empirisch-psychologische zu erläutern, h.at Kant in den Prolegomena übergangen und in der zweiten Auflage des Hauptwerks beseitigt. Vergl. Vaihinger, Die transz. Deduktion der Kategorien (in der Gedenkschrift für Haym ' 1902; ein Auszug daraus VKSt. Band 7, S. 99 iio.

1 Gegenstand ist dasjenige, ,,was dawider ist, daß unsere Erkenntnisse aufs Ge- ratewohl und beliebig," und bewirkt, daß sie ,,apriori auf gewisse Weise bestimmt sind". (Kehrb. S. 119.)

3l6 Kant.

der Erfahrung. Die zweite Schwierigkeit betrifft ihre Anwendbarkeit auf die ihnen vöIUg ungleichartigen Erscheinungen. Wodurch wird die Kluft zwischen den Kategorien, welche Begriffe und apriori, vmd den Wahrnehmungen, welche Anschauungen und empirisch sind, überbrückt? Das verbindende Mittelglied wird von der Einbildungskraft als dem zwischen Sinnlichkeit und Verstand vermittelnden Vermögen, einem Be- griffe sein Bild zu verschaffen, geliefert und besteht in der Zeitan- schauung, welche mit den Kategorien die Apriorität, mit den Wahrneh- mungen die Anschaulichkeit gemein hat, also gleichzeitig rein und sinnlich ist. Die Subsumtion der Erscheinungen oder der empirischen Anschau- ungen unter die Kategorie geschieht durch die Schemata ^ der Verstandes- begriffe, d. h. durch apriorische Zeitbestimmungen nach Regeln, welche die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung und den Zeitinbe- griff betreffen und angeben, ob ich auf einen gegebenen Gegenstand diese oder jene Kategorie anzuwenden habe.

Jede Kategorie hat ihr eigenes Schema. Dasjenige der Größe ist die Zahl als Zusammenfassung der sukzessiven Addition gleichartiger Teile. Die erfüllte Zeit (das Sein in der Zeit) ist das Schema der Realität, die leere {das Nichtsein in der Zeit) das der Negation, die mehr oder weniger erfüllte Zeit (die den Grad der Realität anzeigende Stärke der Empfindung) das der Begrenzung. Die Beharrlichkeit in der Zeit ist das Zeichen zur Anwendung der Kategorie der Substanz, 2 die regelmäßige Aufeinanderfolge das Zeichen für die Anwendbarkeit des Ursachbegriffs, das Zugleichsein der Bestimmungen der einen Substanz mit denen der anderen das Signal zur Subsumtion unter den Begriff der Wechselwirkung. Die Schemata der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit endlich sind das Dasein zu irgendeiner Zeit (irgendwann), zu einer bestimmten Zeit, zu aller Zeit. Durch solche schematische Synthesen ist der reine Begriff der empirischen Anschauung angenähert und eine Anwendung

1 Das Schema ist nicht ein empirisches Bild, sondern steht zwischen diesem (der Einzelanschauung eines bestimmten Dreiecks oder Hundes) und dem un- anschaulichen Begriff in der Mitte als eine Allgemeinanschauung (des Dreiecks oder Hundes überhaupt, welche für recht- und schiefwinklige, für Pudel und Möpse gleicherweise gilt) oder eine Regel, unsere Anschauung einem Begriffe gemäß zu be- stimmen.

2 Diese Bestimmung hat eine wichtige Folge für die Psychologie. Da der innere Sinn nichts Bleibendes, sondern alles in stetem Flusse zeigt denn das be- harrliche Subjekt unserer Gedanken ist eine identische Tätigkeit des Verstandes, nicht ein anschaubares Objekt , so ist der Substanzbegriff, worauf Fries Nachdruck ge- legt hat, auf psychische Erscheinungen nicht anwendbar. Es gibt wohl Vorstellungen eines Beharrlichen (körperlicher Substanzen), aber nicht beharrliche Vorstellungen. Das bleibende Selbst (Ich, Seele), das wir den inneren Phänomenen unterlegen, ist, wie die Dialektik zeigen wird, eine bloße Idee, die resp. deren Gegenstand zwar als Substanz „gedacht", aber nicht in der Anschauung ,, gegeben", mithin auch nicht ., erkannt" werden kann.

Der Schematismus. Analytik der Grundsätze.

317

jenes auf diese oder, was dasselbe heißt, eine Subsumtion dieser unter jenen vorbereitet.

Dadurch, daß der Schematismus eine Darstellung der Kategorien in der Zeitanschauung vor aller Erfahrung gestattet, ist nun die Möglichkeit synthetischer Urteile apriori über Gegenstände möglicher Erfahrung ge- geben. Solche Urteile heißen, wofern sie nicht in höheren und allge- meineren Erkenntnissen gegründet sind, „Grundsätze", und das in der Analytik der Grundsätze oder der Doktrin der Urteilskraft am Leitfaden der Kategorientafel zu entwerfende System derselben liefert die Grundlinien der „reinen Naturwissenschaft". Nachdem also in den reinen Begriffen die Regeln, unter welche subsumiert werden soll, in den Schematen die Bedingungen und Kennzeichen der Subsumtion erkannt worden, sind nunmehr die Sätze anzugeben, welche der Verstand wirklich aus seinen Begriffen mit Hilfe der Schemata apriori zustande bringt.

Der Grundsatz der Quantität ist das Axiom der Anschauung, der der Qualität die Antizipation der Wahrnehmung; die Grund- sätze der Relation heißen Analogien der Erfahrung, die der Modalität Postulate des empirischen Denkens überhaupt. Der erste lautet: alle Anschauungen sind extensive Größen; der zweite: in allen Er- scheinungen hat die Empfindung und das Reale, welches ihr an dem Gegenstande entspricht, eine intensive Größe, d. i. einen Grad. Das Prinzip der „Analogien": alle Erscheinungen stehen ihrem Dasein nach apriori unter Regeln der Bestimmung ihres Verhältnisses untereinander in der Zeit (die II. Aufl. hat folgende Formulierung: Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich). Nach den drei Modi der Zeit ergeben sich drei „Analogien", die Grundsätze der Beharrlichkeit, der Folge (Erzeugung) und des Zugleich- seins, nämlich: i. Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert. 2. Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung; oder: Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folge. 3. Alle Substanzen, sofern sie zugleich sind, stehen in durchgängiger Wechselwirkung. Und zuletzt die drei „Postulate'': Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich. Was mit den materiellen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich (Wahrnehmung ist der einzige Charakter der Wirklichkeit). Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, existiert notwendig.

Wie die Kategorien Substanz und Kausalität sich bei Kant und den Kantianern einer starken Bevorzugung vor den übrigen erfreuen, von einigen sogar als die einzigen Stammbegriffe proklamiert werden, so

I

3i8

Kant.

stehen auch die Grundsätze der Relation in dem begründeten Rufe besonderer Wichtigkeit. Aus den Beweisen der „Analogien der Erfah- rung" — denn eines Beweises sind die Grundsätze, trotz ihres Nicht- abgeleitetseins, bedürftig und fähig seien die leitenden Gedanken herausgehoben.

Einen unentbehrlichen Bestandteil unserer Erfahrung, der alltäglichen wie der wissenschaftlichen, bildet die Zeitbestimmung der Erscheinungen, die Erkenntnis ihrer Dauer, ihrer Folge und ihres Zugleichseins. Wie ist objektive Zeitbestimmung der Dinge und Ereignisse möglich? Handelt es sich um Konstatierung des Herganges eines Streites mit blutigem Aus- gang, so werden die Zeugen befragt und diese sagen aus: wir haben ge- hört und gesehen, wie A den Handel anfing, indem er B beschimpfte, dieser die Beleidigung mit einer Ohrfeige erwiderte, worauf A das Messer zog und den Gegner verletzte. Hierbei gilt die Aufeinanderfolge der Wahrnehmungen anwesender Personen für ein getreues Abbild der Auf- einanderfolge der wirklichen Begebenheiten. Aber nicht immer ist die Sukzession der Wahrnehmungen das sichere Anzeichen einer Sukzession in der Wirklichkeit: die Bäume einer Allee fallen nacheinander in die Wahrnehmung, in Wahrheit sind sie zugleich. Nun könnte man folgen- den Vorschlag machen: die Vorstellung des Mannigfaltigen der Er- scheinung ist stets sukzessiv, ich fasse einen Teil nach dem andern auf. Ob diese Teile auch im Gegenstande aufeinander folgen oder ob sie zugleich sind, das kann ich daran erkennen, daß im zweiten Falle die Reihe meiner Wahrnehmungen umkehrbar ist, im ersten nicht. Die Betrachtung der Allee kann ich auch so anstellen, daß ich das zweite Mal mit dem Baume beginne, mit dem ich das erste Mal aufgehört; will ich mich versichern, daß die Teile eines Hauses zugleich sind, so lasse ich mein Auge zuerst von seinen oberen Teilen zu den unteren, von seiner rechten Seite zur linken wandern und hierauf dieselben Wege rück- wärts durchlaufen. Dagegen ist es nicht in mein Belieben gestellt, den Donner vor oder nach dem Blitze zu hören, einen vorbeifahrenden Wagen zuerst dort, dann hier zu erblicken, sondern ich bin dabei in der Auf- einanderfolge meiner Sinnesvorstellungen gebunden. Die Vertauschbarkeit der Wahrnehmungsreihe beweist ein objektives Zugleichsein, ihre Un- vertauschbarkeit eine objektive Sukzession. Aber dies Kennzeichen ist auf die unmittelbare Gegenwart beschränkt und läßt uns im Stich, wo es gilt, ein Zeitverhältnis zwischen unbeobachteten Erscheinungen festzu- stellen. Trete ich abends in das Eßzimmer und bemerke über der brennenden Spirituslampe ein Gefäß mit brodelndem Wasser, das zum Thee bestimmt ist, woher schöpfe ich die Erkenntnis, daß das Wasser nicht bevor, sondern erst nachdem der Spiritus entzündet worden, ins Sieden geraten ist, geraten konnte? Weil ich häufig Zeuge davon gewesen, daß das Feuer dem Kochen des Wassers voranging, wobei die Nicht-

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Die objektiven Zeitverhältnisse der Erscheinungen. -Jig

umkelirbarkeit der beiden Wahrnehmungen mir das Nacheinander des Wahrgenommenen verbürgte? Dann dürfte ich nur behaupten, es sei sehr wahrscheinUch, nicht aber es sei gewiß, daß auch diesmal die Reihenfolge beider Ereignisse dieselbe gewesen, wie ich sie früher mehrmals beobachtet. Tatsächlich aber behaupten wir alle, daß das Wasser gar nicht in den Siedezustand geraten konnte, ohne daß eine Wärmeerzeugung vorange- gangen, daß das Feuer jederzeit vorher da sein muß, ehe das Kochen des Wassers eintreten kann. Woher nehmen wir dieses Muß? Einzig und allein aus dem Gedanken des ursächlichen Zusammenhangs beider Vorgänge. Jede Erscheinung muß in der Zeit derjenigen Erscheinung folgen, deren Wirkung, und derjenigen vorausgehen, deren Ursache sie ist. Durch das Kausalitätsverhältnis und durch nichts anderes wird das ob- jektive Zeitverhältnis der Erscheinungen bestimmt. Ginge vor einer Be- gebenheit nichts vorher, worauf dieselbe nach einer Regel folgen müßte, ^ so wäre alle Folge der Wahrnehmung lediglich subjektiv und durch dieselbe gar nicht objektiv bestimmt, was in der Erscheinung selbst das Vorhergehende, was das Nachfolgende sei; wir hätten dann ein bloßes Spiel der Vorstellungen ohne Bedeutung für die reale Aufeinander- folge der Ereignisse. Zu einer Übertragung der Zeitordnung unserer Vor- stellungen auf die Erscheinungen ^ berechtigt uns nur der Gedanke einer Regel, wonach der vorhergehende Zustand die notwendige Bedingung des folgenden enthält; ja sogar die Unterscheidung der Erscheinung selbst von unseren Vorstellungen von ihr, als Gegenstand derselben, geschieht nur dadurch, daß wir die erstere jener Regel unterwerfen, die derselben ihre bestimmte Zeitstelle nach einer anderen, durch die sie verursacht wird, anweist und die Umkehrung der Wahrnehmungen verbietet. Die Ver- Standesregel, welche die objektive Zeitordnung des Mannigfaltigen schafft, können wir allein darum aus der Erfahrung herausziehen, weil wir sie in die Erfahrung hineingelegt und diese durch jene allererst zustande ge- bracht haben. Wir rekapitulieren mit Kants eigenen Worten: Es bleibt durch die bloße Wahrnehmung das objektive (Zeit-)Verhältnis der Er- scheinungen unbestimmt (die bloße Folge in meiner Apprehension, wenn sie nicht durch eine Regel in Beziehung auf ein Vorhergehendes bestimmt ist, berechtigt zu keiner Folge im Objekte). Damit diese nun als be- stimmt erkannt werden, muß das Verhältnis zwischen den beiden Zuständen {durch den VerstandesbegrifF der Ursächlichkeit) so gedacht werden, daß dadurch als notwendig bestimmt wird, welcher derselben vorher, welcher

* „Eine Wirklichkeit, die auf eine leere Zeit folgt, mithin ein Entstehen, vor dem kein Zustand der Dinge vorhergeht, kann ebensowenig als die leere Zeit selbst apprehendiert werden." (Kr. d. v. V., Kehrb. S. 183.)

- „Wären Erscheinungen Dinge an sich selbst, so würde kein Mensch aus der Sukzession der Vorstellungen von ihrem Mannigfaltigen ermessen können, wie dieses in dem Objekt verbunden sei." (Kehrb. S. 1S2.)

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Kant.

nachher, und nicht umgekehrt müsse gesetzt werden. Also ist nur da- durch, daß wir die Folge der Erscheinungen dem Gesetze der Kausalität unterwerfen, empirische Erkenntnis von denselben möglich. Ohne den Ursachbegriff keine objektive Zeitbestimmung, folglich ohne ihn keine Erfahrung.

Was das Verhältnis von Ursache und Wirkung für das Nacheinander', leistet das Verhältnis der Wechselwirkung für das Zugleichsein, das von Substanz und Akzidens für die Dauer der Erscheinungen. Da die ab- solute Zeit kein Gegenstand der Wahrnehmung ist, so kann den Er- scheinungen nicht unmittelbar, sondern nur durch einen Verstandesbegriff ihre Stelle in der Zeit bestimmt werden. Wenn ich schließe: zwei Ob- jekte (Erde und Mond) müssen zugleich sein, damit ihre Wahrnehmungen wechselseitig aufeinander folgen können, so geschieht dies unter der Vor- aussetzung, daß jene Gegenstände selbst ihre Plätze in der Zeit einander gegenseitig vorschreiben, also nicht isoliert sind, sondern in kausaler Ge- meinschaft oder wechselseitigem Einfluß stehen. Nur unter der Bedingung der Wechselwirkung der Erscheinungen, durch welche dieselben ein Ganzes ausmachen, kann ich sie als zugleich existierend vorstellen.

Zugleichsein und Folge können nur an einem beharrlichen Substrat vorgestellt werden, sind bloß die Arten, wie das Bleibende existiert. Da die Zeit (in der aller Wechsel vor sich geht, die aber selbst bleibt und nicht wechselt) an sich nicht wahrgenommen werden kann, so muß das Substrat der Simultaneität und der Sukzession in den Erscheinungen selbst anzutreffen sein: das Beharrliche, womit im Verhältnis alle Zeitver- hältnisse der Erscheinungen allein bestimmt werden können, ist die Sub- stanz, das Wechselnde sind ihre Bestimmungen, Akzidentien oder ihre besonderen Arten zu existieren. Wechsel, d. i. Entstehen und Vergehen, trifft nur die Zustände, die aufhören und anheben können, nicht aber die Substanzen, welche sich zwar verändern, d. h. aus einer Art zu existieren in eine andere übergehen, aber nicht wechseln, d. h. aus dem Nichtsein ins Sein oder aus diesem in jenes übergehen. Nur das Beharrliche ver- ändert sich, nur die Zustände desselben fangen an und hören auf zu sein. Entstehen und Vergehen von Substanzen oder Vermehrung und Ver- minderung ihres Quantums würde die einzige Bedingung der empirischen Einheit der Zeit aufheben, denn nur an einem identischen Substrat, einem

^ Gegen das Bedenken, daß Ursache und Wirkung häufig, sog.ir meistenteils zugleich seien (z. B. der geheizte Ofen mit der Stubenwärme), bemerkt Kant, daß es sich nur um die Ordnung, nicht um den Ablauf der Zeit handele. Die auf einem ausgestopften Kissen liegende Kugel ist freilich mit ihrer Wirkung, dem darein ge- drückten Grübchen, zugleich. „Allein ich unterscheide doch beide durch das Zeit- verhältnis der dynamischen Verknüpfung. Denn wenn ich die Kugel auf das Kissen lege, so folgt auf die vorige glatte Gestalt desselben ein Grübchen; hat aber d.xs Kissen (ich weiß nicht woher; ein Grübchen , so folgt darauf nicht eine bleierne Kugel." (Kehrb. S. 191.)

Dje objektiven Zeitverhältnisse der Erscheinungen. ^21

Beharrlichen, zu aller Zeit Seienden können die Zeitverhältnisse des Zu- gleich und des Nacheinander wahrgenommen werden. Das Gesetz „aus nichts wird nichts und nichts kann ins Nichts übergehen" wird überall vorausgesetzt und ist häufig aufgestellt, aber noch niemals bewiesen worden, kann auch nicht dogmatisch bewiesen werden. Hier ist der einzio- mögliche, der kritische Beweis dafür gegeben: der Grundsatz der Beharr- lichkeit ist eine notwendige Bedingung der Erfahrung. Der nämliche Beweisgrund sichert den Satz vom zureichenden Grunde und den von der Gemeinschaft der Substanzen nebst der daraus zu folgernden Einheit des Weltganzen. Die drei Analogien zusammen sagen: alle Erscheinungen müssen in einer Natur liegen, weil ohne diese Einheit apriori keine Einheit der Erfahrung und keine Bestimmung der Gegenstände in der- selben möglich wäre. Der gleiche transzendentale Beweis wird sodann im Anschluß an die Postulate für eine Reihe weiterer Naturgesetze apriori geführt, nämlich daß es in dem Ablaufe der Veränderungen denn nur für die Wirkungen in der Natur, nicht für die Existenz der Dinge als Substanzen gilt das Kausalgesetz weder einen blinden Zufall, noch eine blinde Notwendigkeit (sondern nur eine bedingte, mithin verständ- liche Notwendigkeit), ferner daß es in der Reihe der Erscheinungen weder einen Sprung, noch eine Lücke oder Kluft, mithin kein Leeres geben könne: in mundo non datur casus, non dafür fahun, non datur saltus, non datur hiatus.

Wälirend die dynamischen Grundsätze auf das Verhältnis der Er- scheinungen, sei es untereinander (Analogien), sei es zu unserem Er- kenntnisvermögen (Postulate), gehen, betreffen die mathematischen die Quantität der Anschauungen und Empfindungen und begründen die Anwendung der Mathematik auf Naturwissenschaft.^ Eine extensive

' In jeder besonderen Naturlehre wird nur so viel eigentliche Wissenschaft (d. h. solche von apodiktischer Gewißheit) angetroffen, als darin Mathematik ange- wandt werden kann. Darum kann die Chemie nichts mehr als systematische Kunst oder Experimentallehre, die Psychologie nicht einmal dies, sondern bloß historische Naturlehre des inneren Sinnes oder Naturbeschreibung der Seele werden. Was Kants Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft 1786 in vier Haupt- stücken — Phoronomie, Dynamik, Mechanik, Phänomenologie als reine Physik oder Metaphysik der körperlichen Natur darbieten, ist eine Bewegungslehre. Die Grundbestimmung der Materie (eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll) ist Bewegung, denn durch sie allein können diese Sinne affiziert werden und auf sie führt auch der Verstand alle übrigen Prädikate der Materie zurück. Der wertvollste zweite Teil des Werkes definiert Materie als das Bewegliche, welches den Raum durch bewegende Kraft erfüllt, und statuiert zwei ursprüngliche Kräfte, die repulsive, expansive Flächen- oder Berührungskraft, durch welche der Körper dem Eindringen fremder Körper in seinen Raum widersteht, und die attraktive, durchdringende oder in die Ferne wirkende Kraft, vermöge deren alle Teile der Materie einander anziehen. Zu einer bestimmten Raumerfüllimg ist das Zusammenwirken beider Grundkräfte nötig. Gegen die mechanische Theorie der Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 21

322

Kant.

Größe ist diejenige, in welcher die Vorstellung der Teile die Vorstellung des Ganzen möglich macht, also dieser vorhergeht. Ich kann mir keine Linie vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, d. i. von einem Punkte aus alle Teile nach und nach zu erzeugen. Alle Erscheinungen werden als Aggregate oder als Mengen vorher gegebener Teile angeschaut. Was die Geometrie von der reinen Anschauung sagt (z. B. unendliche Teil- barkeit der Linien), gilt auch von der empirischen. Eine intensive Größe ist diejenige, die nur als Einheit apprehendiert wird und in welcher die Vielheit nur durch Annäherung zur Negation = o vorgestellt werden kann. Jede Empfindung, mithin auch jede Realität in der Erscheinung hat einen Grad, der, so klein er auch sein mag, niemals der kleinste ist, sondern noch immer vermindert werden kann, und zwischen Realität und Negation findet ein kontinuierlicher Zusammenhang möglicher kleinerer Zwischenempfindungen oder eine unendliche Stufenfolge immer minderer Grade statt. Die Eigenschaft der Größen, nach welcher an ihnen kein Teil der kleinstraögliche, kein Teil einfach ist, heißt die Kontinuität der- selben. Alle Erscheinungen sind kontinuierliche Größen, d.h. alleTeile derselben sind immer wieder (weiter teilbare) Größen. Hieraus folgt erstens, daß aus der Erfahrung niemals ein Beweis vom leeren Raum oder von einer leeren Zeit gezogen werden kann, zweitens, daß auch alle Veränderung kontinuierlich ist. Es ist merkwürdig, so schließt Kant den Beweis der Antizipation, daß wir apriori an Größen überhaupt nur eine einzige Qualität, nämlich die Kontinuität, an aller Qualität aber (dem Realen der Erscheinungen) nur die intensive Quantität derselben, nämlich daß sie einen Grad haben, erkennen können; alles Übrige bleibt der Erfahrung überlassen.

Das Ergebnis der Analytik der Grundsätze klingt kühn genug. Der Verstand ist der Gesetzgeber der Natur i; er „schöpft seine Gesetze apriori nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", die Grund- sätze des reinen Verstandes sind die allgemeinen Naturgesetze, die empi- rischen Naturgesetze nur besondere Bestimmungen derselben. Alle Ordnung und Gesetzmäßigkeit stammt aus dem Geiste, wird von ihm in die Objekte hineingelegt. Eine allgemeine und notwendige Erkenntnis war so lange unerklärlich, als man annahm, daß der Verstand sich nach den Gegen- ständen richten müsse ; sie ist sogleich erklärt, wenn man umgekehrt die Gegenstände sich nach dem Verstände richten läßt. Eine Umkehrung

Atomistik, welche die Kräfte aus der Materie erklärt, ihr anhaften läßt, vertritt Kant den dynamistischen Standpunkt, nach welchem die Kräfte das Primäre sind und die Materie aus solchen besteht. Neue Ausgabe des Werkes (mit einem Nachwort: Studien zur gegenwärtigen Philosophie der Mechanik) von Alois Höfler, dritter Band der Schriften der philos. Gesellschaft an der Universität Wien, Leipzig 1900. 1 Aus dieser Quelle schöpften die deutschen Idealisten den Mut zu ihrem ver- wegenen Unternehmen, die Wirklichkeit aus dem Begriff zu konstruieren. ,,Uber die Natur philosophieren heißt die Natur schaffen" (Schelling, Werke 3, S. 13).

Der Verstand schreibt der Natur Gesetze vor.

323

der philosophisclien Anschauung, die sich mit Fug der koppernikanischen Revolution in der Astronomie vergleichen darf: sie ist ebenso paradox, aber auch ebenso unumstößlich wahr und ebenso folgenreich wie diese. Der Fortgang wird lehren, daß jener befremdlich lautende Satz, daß die Dinge sich nach unseren Vorstellungen richten und die Naturgesetze vom Verstände abhängen, uns vielmehr bescheiden als stolz machen könnte. Wohl ist unser Verstand, wo er erkennt, Gesetzgeber; aber er erkennt auch nur, wo er Gesetzgeber ist. Die Natur, der er Gesetze diktiert, ist nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen; jenseit der Grenze des Phäno- menalen, wo sein Befehl machtlos wird, findet auch sein Wunsch kein Gehör.

Als Zusatz der zweiten Auflage enthält die Analytik der Grundsätze eine „Widerlegung des Idealismus", welche gegen die Annahme des Cartesius, die einzige unmittelbare Erfahrung sei die innere und es werde von hier aus auf äußere Dinge, nur geschlossen, beweist, daß umgekehrt nur vermittels der äußeren Erfahrung, der eigentlich unmittelbaren, innere Erfahrung als Bewußtsein meines eigenen Daseins in der Zeit möglich sei; denn alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus, dieses Beharrliche kann aber nicht etwas (die bloße Vorstellung eines äußeren Dinges) in mir, sondern können nur wirklich existierende Dinge, die ich außer mir wahrnehme, sein. Ferner einen Abschnitt über den „Grund der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phänomena und Noumena" nebst einem Anhang über die Amphibolie (Zweideutigkeit) der Reflexionsbegriffe, welcher letztere zeigt, daß die Vergleichungsbegriffe: Einerleihcit und Verschiedenheit, Einstimmigkeit und Widerstreit, Inneres und Äußeres, Materie und Form eine ganz verschiedene Bedeutung erlangen, wenn sie sich auf Erscheinungen oder aber auf Dinge an sich (mit anderen Worten auf die Dinge in ihrem Verhältnis zur Sinnlichkeit oder aber zum bloßen Verstände) be- ziehen, und in der Kritik der Philosophie des Leibniz diesem vorwirft, er habe die Erscheinungen intellektuiert, während Locke die Verstandes- begriffe sensifizierte.

Das Hauptstück über die Unterscheidung von Sinnes- und Verstandes- wesen stimmt die durch die Sicherstellung des nichtempirischen Ursprungs der Kategorien etwa erweckten Hoffnungen eines an keine Empirie ge- bundenen Gebrauchs derselben sehr herab. Obwohl nämlich die Kategorien ihrem Ursprung nach ganz unabhängig von aller Erfahrung sind (so sehr, daß sie selbst erst Erfahrung möglich machen), sind sie doch zugleich in ihrem Gebrauch auf die Grenzen möglicher Erfahrung eingeschränkt. Sie „dienen nur, Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können", und verlieren, auf Dinge an sich angewandt, jegliche Bedeutung. 1 Desgleichen sind die aus ihnen entspringenden Grundsätze

1 „Ein reiner Gebrauch der Kategorie ist zwar möglich, d. i. ohne Wider- spruch, aber hat gar keine objektive Gültigkeit, weil sie auf keine Anschauung geht,

21 *

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Kant.

„nichts weiter als Prinzipien möglicher Erfahrung" und können nur auf Erscheinungen bezogen werden, darüber hinaus sind sie willkürliche Ver- bindungen ohne objektive Realität. Wohl lassen sich Dinge an sich denken, niemals aber erkennen, denn zur Erkenntnis gehören außer dem leeren Gedanken eines Gegenstandes Anschauungen, die darunter subsumiert oder durch die der Gegenstand bestimmt werden muß. An sich gehen die reinen Begriffe auf alles Denkbare, nicht bloß auf das Erfahrbare, aber durch die Schemata, die ihnen Anwendbarkeit im Felde der Erfahrung sichern, werden sie zugleich auf dieses Gebiet eingeschränkt. Der Schematismus macht den immanenten Gebrauch der Kategorien und hiermit Metaphysik der Erscheinungen möglich, den transzendenten und damit Metaphysik des Übersinnlichen unmöglich. Anders stände es, wenn unsere Anschauung intellektuell statt sinnlich oder, was dasselbe heißt, unser Verstand intuitiv statt diskursiv wäre; dann brauchten uns die Gegenstände, die wir denken, nicht anderswoher (durch sinnliche An- schauung) gegeben zu werden, sondern würden, dadurch, daß wir sie dächten, selbst hervorgebracht. Der göttliche Geist mag wohl ein solcher urbildlicher, schöpferischer Verstand [ijitellectus archetypjis] sein, der die Gegenstände durch sein Denken erzeugt; der menschliche ist es nicht und darum mit seinem Erkennen in den Umkreis möglicher Wahr- nehmung eingeschlossen. Der Begriff der „intellektuellen Anschauung" hat eine Unterscheidung hinsichtlich der Dinge an sich zur Folge: in negativer Bedeutung bezeichnet das Noumenon ein Ding, sofern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, in positiver ein Ding, welches Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung ist. Das positive Ding an sich ist ein problematischer Begriff; seine Möglichkeit hängt daran, ob es einen anschauenden Verstand gibt, was wir nicht wissen. Das negative Ding an sich kann zwar nicht erkannt, aber doch gedacht werden, die Vorstellung desselben ist ein möglicher, widerspruchsloser Begriff' (ein

die dadurch Einheit des Objekts bekommen sollte ; denn die Kategorie ist doch eine bloße Funktion des Denkens, wodurch mir kein Gegenstand gegeben, sondern nur, was in der Anschauung gegeben werden mag, gedacht wird" (Kr. d. r. V., Hart. 1867, S. 218; Kehrb. S. 234). Ohne die Bedingung der sinnlichen Anschauung, dazu sie die Synthesis enthalten, haben die Kategorien gar keine Beziehung auf irgend ein bestimmtes Objekt; denn ohne jene Bedingung enthalten sie nichts als die logische Funktion oder die Form des Begriffs, aus der allein nichts erkannt und nicht unter- schieden werden kann, welches Objekt darunter gehöre (Ebenda, Hart. 1867, S. 214 bis 215; Kehrb. S. 228 229).

1 Das Ding an sich bezeichnet den Gegenstand, sofern er von uns zwar ge- dacht, aber nicht angeschaut, folglich auch nicht durch Anschauungen bestimmt, d. h. erkannt werden kann. Nur durch den Schematismus werden die Kategorien auf Erscheinungen eingeschränkt. Dies übersieht oder ignoriert O. Liebmann (Kant und die Epigonen, S. 27 u. ö.), wenn er sagt: Kant läßt sich dazu herbei, ein ,,von den Erkenntnisformen emanzipiertes, also irrationales Objekt anzuerkennen, d. i. etwas vorzustellen, was nicht vorstellbar ist ein hölzernes Eisen". Das Ding an sich ist

Phänomena und Noumena.

j-3

Satz, der für die praktische Philosophie große Wichtigkeit hat); aber noch mehr, sie ist ein unentbehrlicher Begriff, der anzeigt, daß da, wo unsere Anschauung am Ende ist, nicht auch alles Denkbare aufhört, und ob er zwar keine positive Erweiterung der Erkenntnis gewährt', doch sehr nützlich ist, indem er dem Verstandesgebrauch Grenzen setzt und dadurch unser Wissen sozusagen negativ erweitert. Was jenseit der Grenze liegt, die Wiemöglichkeit der Dinge an sich, ist in Nacht gehüllt; die Grenze selbst aber, d. h. die Daßmöglichkeit der Dinge an sich und die Un- erkennbarkeit ihres Wesens, gehört zum Begrenzten und liegt im Lichte. So glaubte Kant die Kategorien der Ursache und Substanz, ohne Verstoß gegen das Verbot eines transzendenten Gebrauchs derselben, auf das Verhältnis der Dinge an sich zur Erscheinung anwenden zu dürfen, da ja hiermit die Grenze nur berührt, nicht überschritten schien. 2

Wenn die V er Standesbegriffe nur im Erscheinungsgebiete eine er- kenntniskräftige Bedeutung besitzen, so bleibt noch Hoffnung, durch die Vernunftbegrifle Eingang ins Übersinnliche zu erlangen. Unzweifelhaft fühlt unser Geist ein weit höheres Bedürfnis, als Erscheinungen zur Er- fahrung zu verknüpfen; das Unerfahrbare, die Ideen Gott, Freiheit, Un- sterblichkeit sind es, die den wesentlichen Zweck seiner Nachforschung bilden. Kann und wie kann jenes Bedürfnis befriedigt, dieser Zweck er- reicht, den Ideen Realität verschafft werden? Das ist die dritte Frage der Vernunftkritik.

3. Die Vernunftideen des Unbedingten (transzendentale

Dialektik).

.,Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstände und endigt bei der Vernunft." Der Verstand ist das Vermögen der Regeln, die Vernunft das der Prinzipien. Die Kategorien des Ver- standes sind notwendige Begriffe, welche die Erfahrung möglich machen und deshalb jederzeit in der Erfahrung gegeben werden können; die Ideen der Vernunft sind notwendige Begriffe, denen kein kongruierender Gegen- stand gegeben werden kann. Jede Idee drückt etwas Unbedingtes aus.

insensibel, aber nicht irrational, und die von LiEBMANN unter dem Namen der Er- kenntnisformen zusammengefaßten Anschauungsformen und Denkformen haben bei K.ant durchaus nicht gleiche Dignität.

^ Die Kategorie für sich, losgelöst von allen Bedingungen der Anschauung (z. B. die Vorstellung einer Substanz, die ohne Beharrlichkeit in der Zeit gedacht wird, oder einer Ursache, die nicht in der Zeit wirkte), vermag keinen bestimmten Begriff von einem Gegenstande zu geben.

2 Die Ausführungen meiner Kantrede (Erlangen 1904) über das Ding an sich sind im Sinne des transzendentalen Idealismus gemeint, den Kant nicht konsequent innegeh.alten hat. Sie sollen keineswegs eine Absage an den in diesem Buche ver- tretenen Standpunkt bedeuten. Die Wendung (S. 8 unten) ,,Man entgegnet mit Recht" hätte vorsichtiger gelautet: „Der strenge Transzendentalist wird entgegnen".

326

Kant.

Wie entsteht der Begriff des Unbedingten und welche Aufgabe erfüllt er für die Erkenntnis?

Wie die Wahrnehmungen durch die Kategorien zur Einheit des Ver- standes verknüpft und hierdurch zur Erfahrung erhoben werden, so bedarf die mannigfaltige Erfahrungserkenntnis, um ein zusammenhängendes System zu bilden, einer höheren Einheit, der Einheit der Vernunft. Diese gibt ihr die Idee, welche sich somit nicht unmittelbar auf die Gegenstände der Anschauung, sondern nur auf den Verstand und dessen Urteile bezieht, in der Absicht, der Erkenntnis desselben, die sich stets innerhalb des Be- dingten bewegt, durch den Begriff des Unbedingten Vollendung, d. i. die größtmögliche Einheit bei größtmöglicher Ausbreitung zu verschaffen. Der Begriff des Absoluten erwächst aus dem der Vernunft obliegenden logischen Geschäft des Schließens und läßt sich von hier aus am besten erläutern. Im Syllogismus wird das im Schlußsatz ausgesprochene Urteil aus einer allgemeinen Regel, dem Obersatze, abgeleitet. Die Gültigkeit dieses all- gemeinen Satzes ist aber selbst eine bedingte, von höheren Bedingungen abhängige. Indem nun die Vernunft zu jedem Bedingten die Bedingung aufsucht und in der Reihe der Bedingungen immer weiter vorzuschreiten befiehlt, handelt sie unter der Idee der Totalität der Bedingungen, die jedoch, da sie in der Erfahrung niemals gegeben sein kann, nicht einen Gegenstand, sondern nur eine heuristische Maxime für die Erkenntnis bezeichnet, die Maxime nämlich, niemals bei einer Bedingung als der letzten stehen zu bleiben, sondern die Nachforschung immer weiter fortzusetzen. Die Idee des Unbedingten oder der Vollständigkeit der Bedingungen ist eine Aufgabe, die wir niemals erreichen, der wir uns aber beständig an- nähern sollen. Die Kategorien und Verstandesgrundsätze waren konstitu- tive, die Ideen sind nur regulative Prinzipien, sie sollen den Verstand leiten, ihm die für den Zusammenhang der Erkenntnis heilsame Richtung geben, nicht ihn über die wirkliche Beschaffenheit der Dinge belehren.

Da die Vernunft das Vermögen des Schließens ist, wie der Verstand das des Urteilens war, so leisten uns die Schlußformen den nämlichen Dienst bei der Aufsuchung der Ideen, wie die Urteilsformen bei der Ent- deckung der Kategorien. Dem kategorischen, hypothetischen und disjunk- tiven Schlüsse korrespondieren die drei Vernunftbegriffe der Seele oder des denkenden Subjekts, der Welt oder des Inbegriffs der Erscheinungen und Gottes, des Urwesens oder der obersten Bedingung der Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann. Vermöge derselben beziehen wir alle inneren Erscheinungen auf das Ich als ihr (unbekanntes) gemeinsames Subjekt, denken alle Wesen und Vorgänge der Natur in den umfassenden Zusammenhang des (nie erfahrbaren) Weltganzen eingegliedert und betrach- ten alle Dinge als Werk einer (unerkennbaren) höchsten Intelligenz. Diese Ideen sind notwendige, nicht zufällig entstandene oder willkürlich erdichtete, sondern aus der Natur der Vernunft entsprungene Begriffe; ihr Gebrauch

Die Ideen: Seele, Welt, Gott. 327

ist so lange rechtmäßig, als wir uns gegenwärtig halten, daß wir von den ihnen entsprechenden Objekten zwar einen problematischen Begriff, aber keine Kenntnis haben können, daß sie Aufgaben und Regeln, aber nim- mermehr Gegenstände und Mittel der Erkenntnis sind. Gleichwohl ist die Versuchung, jene regulativen Prinzipien als konstitutive, jene Auf- gaben als erkennbare Gegenstände zu behandeln, nahezu unüberwindlich; denn der Grund der unwillkürlichen Verwechslung des aufgegebenen mit dem gegebenen Unbedingten liegt nicht sowohl in der Fahrlässigkeit des erkennenden Individuums, als in der Natur unseres Erkenntnisvermögens. Die Ideen führen einen unvermeidlichen Schein ihrer objektiven Re- alität bei sich, und die aus ihnen entspringenden vernünftelnden Schlüsse sind Sophistikationen nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, sind natürliche Mißverständnisse, von denen selbst der Weiseste sich nicht losmachen kann. Höchstens gelingt es, den Irrtum zu verhüten, nicht aber den transzendentalen Scheiii, aus dem jener hervorgeht, aufzuheben. Wir können die Illusion durchschauen und die auf sie gebauten Fehl- schlüsse vermeiden, nicht sie selbst loswerden.

Auf dem fehlerhaften objektiven Gebrauch der Ideen beruhen drei vermeintliche Wissenschaften: die spekulative Seelen-, Welt- und Gottes- lehre, welche mit der Ontologie das stolze Gebäude der (Wolffischen) Meta- physik ausmachen. Die Vernunftkritik vollendet ihr Zerstörungswerk, indem sie als Dialektik (Logik des Scheines) der in der Analytik vollzogenen Widerlegung der dogmatischen Ontologie, welche durch Verstandesbegriffe die Dinge an sich zu erkennen meinte, die Widerlegung der rationalen Psycho-, Kosmo- und Theologie folgen läßt. Sie zeigt, daß die erste sich auf Fehlschlüssen erbaut, die zweite sich in unauflösliche Widersprüche verstrickt, während die dritte vergebliche Anstrengungen macht, das Dasein des höchsten Wesens zu beweisen.

I. Die Paralogismen der rationalen Psychologie. Dastrans- zendentale Selbstbewußtsein oder reine Ich, das alle meine Vorstellungen begleitet und verknüpft, das Subjekt aller Urteile, die ich fälle, ist, wie die Analytik erkannte, die Voraussetzung alles Erkennens (S. 315), als solche aber kann es niemals Gegenstand desselben werden. Man darf aus dem Subjekt, das nie Prädikat sein kann, nicht ein gegebenes Objekt machen, dem logischen Subjekt des Denkens nicht eine reale den- kende Substanz unterschieben, die Einheit des Selbstbewußtseins nicht zur Einfachheit und identischen Persönlichkeit der Seele stempeln. Diesen Fehler begeht die rationale Psychologie der Wolffischen Schule, und was sie an Beweisen für die Substantialität, Simplizität und Personalität der Seele und folgeweise für ihre Immaterialität und Unsterblichkeit sowie ihr Verhältnis zum Körper vorbringt, ruht auf jener Unterschiebung, jenem Doppelsinn des Mittelbegriffs, also einer qiiaternio termiiioriim ; ihre Schlüsse sind insgesamt Fehlschlüsse. Es ist erlaubt und unumgänglich,

328 Kant.

zu den inneren Phänomenen ein absolutes Subjekt, die Einheit des Ich hinzuzudenken 1; es ist unerlaubt, die Idee der Seele als ein erkennbares Ding zu behandeln. Um auf sie die Kategorie der Substanz anwenden zu können, müßte man in der Anschauung ein Beharrliches zugrunde legen, desgleichen im inneren Sinne nicht anzutreffen ist. Es bleibt zur Erweiterung unserer Erkenntnis des Seelenlebens nur empirische Psycho- logie übrig, während die rationale aus einer Doktrin zu einer bloßen Disziplin zusammenschrumpft, welche darüber wacht, daß die Erfahrungs- grenze nicht überschritten werde. Aber auch als bloße Grenzbestimmung hat sie großen Wert. Wird doch mit der Hoffnung, die UnkörperHchkeit und Unvergänglichkeit der Seele beweisen zu können, zugleich die Furcht zerstört, dieselbe widerlegt zu sehen: der Materialismus ist ebenso un- begründet wie der Spiritualismus, und wenn des letzteren Sätze über die Seele als eine einfache, immaterielle und den Tod des Leibes über- dauernde Substanz nicht beweisbar sind, so braucht man sie darum noch nicht für unrichtig zu halten, denn das Gegenteil kann ebenso- wenig bewiesen werden. Die ganze Frage gehört nicht vor das Forum des Wissens, sondern des Glaubens, und was wir durch den Nachweis, daß mit theoretischen Gründen in ihr nichts auszumachen sei, gewinnen (Sicherheit vor materialistischen Einwendungen), ist viel mehr wert, als was wir dabei verlieren.

2. Die Antinomien der rationalen Kosmologie. Wenn die Ver- nunft bei dem Versuche, aus dem Begriff des denkenden Selbst meta- physische Erkenntnisse über das Wesen des Geistes und die Fortdauer der Seele nach dem Tode herauszuspinnen, in die Falle eines doppelten lerminus medius hineingerät, so sind es ganz andere Schwierigkeiten, an denen ihre Bemühungen, die Weltidee zur Erweiterung ihres Wissens apriori auszunützen, scheitern. Hier ist die formelle Korrektheit des Schlußver- fahrens keinen Angriffen ausgesetzt. Es läßt sich mit vollkommener Strenge (und zwar in apagogischer oder indirekter Form, durch Unmög- lichkeit des Gegenteils) beweisen, daß die Welt einen Anfang in der Zeit habe und auch dem Räume nach in Grenzen eingeschlossen sei, daß jede zusammengesetzte Substanz aus einfachen Teilen bestehe, daß es neben der Kausalität nach Naturgesetzen auch eine Kausalität durch Freiheit, und daß es als Teil oder Ursache der Welt ein schlechthin notwendiges Wesen gebe. Aber mit der gleichen Stringenz (und

1 Der Vernunftbegrifl" der Seele als einer einfachen , selbständigen IntelligenzJ bedeutet nicht ein wirkliches Wesen, sondern drückt nur gewisse Grundsätze derj systematischen Einheit in Erklärung der psychischen Erscheinungen aus, nämlich: ,,alle Bestimmungen als in einem einzigen Subjekte, alle Kräfte, soviel möglich, als] abgeleitet von einer einzigen Grundkraft, allen Wechsel als gehörig zu den Zuständen] eines und desselben beharrlichen Wesens zu betrachten, und alle Erscheinungen irnj Räume als von den Handlungen des Denkens ganz unterschieden vorzustellen."

Paralogismen und Antinomien.

gleichfalls indirekt) läßt sich das Gegenteil beweisen: die Welt ist nach Zeit und Raum unendlich, es gibt nichts Einfaches in der Welt, es gibt keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur, es existiert weder in noch außer der Welt ein schlechthin notwendiges Wesen. Das ist die berühmte Lehre von dem Widerstreit der vier kosmologischen Thesen und Antithesen oder von der Antinomie der reinen Vernunft, deren Entdeckung zweifellos auf die gesamte Gestal- tung der Kantischen Vernunftkritik einen bestimmenden Einfluß geübt hat und einen ihrer Angelpunkte bildet. Durch die Antithetik erhält der trans- zendentale Idealismus, die Unterscheidung der Phänomena und Noumena und die Einschränkung der Erkenntnis auf Erscheinungen, eine bedeutsame Bestätigung. Ohne den kritischen Idealismus (was in Raum und Zeit an- geschaut und durch Kategorien erkannt wird, sind bloße Erscheinungen von Dingen, deren Ansich unerkennbar ist) wären die Antinomien un- lösbar. Wie soll sich die Vernunft in jenem Widerstreit verhalten? Die Gründe für die Antithesen sind ebenso zwingend wie die für die Thesen, auf keiner Seite so scheint es ist ein Übergewicht, das ihre Ent- scheidung bestimmen könnte. Soll sie beiden Parteien recht geben, oder keiner von beiden?

Die Lösung unterscheidet die beiden ersten Antinomien als die ma- thematischen von den beiden letzten als den dynamischen; bei jenen sind, da es sich um Zusammensetzung und Teilung von Größen handelt, die Bedingungen dem Bedingten gleichartig, bei diesen können sie un- gleichartig sein. Dort sind sowohl Thesis als Antithesis falsch, da beide von der unstatthaften Voraussetzung ausgehen, daß das Weltganze (die vollständige Reihe der Erscheinungen) gegeben sei, während es uns in der Tat nur aufgegeben (eine Idee) ist. Die Welt existiert nicht an sich, sondern nur in dem empirischen Regressus der phänomenalen Be- dingungen, in welchem wir niemals zur Unendlichkeit noch auch zur Be- grenzung der Welt durch einen leeren Raum oder eine vorhergehende leere Zeit gelangen können, denn der unendliche wie der leere Raum (und das gleiche gilt von der Zeit) ist nicht wahrnehmbar; folglich ist die Weltgröße weder endlich noch unendlich. Die Frage nach der Größe der W^elt ist unbeantwortbar, weil der Begriff einer für sich (vor dem Regressus) existierenden Sinnenwelt sich selbst widerspricht. Ebenso ist das Problem, ob das Zusammengesetzte aus einfachen Elementen bestehe, unauflöslich, weil die Annahme, daß die Erscheinung des Körpers ein Ding an sich sei, das vor aller Erfahrung alle in der Erfahrung erreich- baren Teile enthalte, mit anderen Worten, daß die Vorstellung außer der Vorstellungskraft da sei, widersinnig ist. Die Materie ist zwar ins Unendliche teilbar, aber sie besteht nicht aus unendlich vielen Teilen, ebensowenig aus einer bestimmten Anzahl einfacher Teile, sondern die Teile existieren bloß in der Vorstellung derselben, in der Teilung (Dekomposition), und

330 Kant.

diese geht so weit, als mögliche Erfahrung reicht. Anders \'erhält es sich mit den dynamischen Antinomien, wo Satz und Gegensatz beide wahr sein können, sofern jener auf Dinge an sich, dieser auf Erscheinungen bezogen wird. Der Widerspruch verschwindet, wenn wir das, was die These behauptet, die Antithese leugnet, in verschiedener Bedeutung nehmen. Damit, daß in der Erscheinungswelt der Kausalnexus ohne Un- terbrechung und ohne Ende fortschreitet, also in ihr weder ein schlecht- hin notwendiges Wesen noch Freiheit Platz findet, streitet nicht, daß es außerhalb der Sinnenwelt eine allmächtige und allweise Ursache derselben und als Grund der empirisch notwendigen Handlungen eine intelligible Freiheit geben könne. Könne, denn nur um die Denkbarkeit des Welt- grundes und der Freiheit kann es sich für den kritischen Philosophen handeln, der jede Erweiterung der Erkenntnis über die Grenzen der Er- fahrung hinaus als unmöglich eingesehen hat. Jene Möglichkeit reicht vollkommen hin, um dem Glauben Anhalt zu geben, wie sie anderseits unerläßlich ist, um gleichzeitig den Anforderungen des Verstandes und denen der Vernunft, insbesondere ihrem praktischen Interesse zu genügen. Denn gelänge es nicht, den scheinbaren Widerspruch aufzulösen und seine Glieder als vereinbar nachzuweisen, so wäre es entweder um die Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis oder um die Basis der Moral und Religion geschehen. Ohne lückenlosen Kausalzusammenhang keine Natur; ohne Freiheit keine Sittlichkeit, ohne Gottheit keine Religion. Von be- sonderem Interesse ist die Auflösung der dritten Antinomie mittels des wertvollen, wenn auch in der von Kant ihm gegebenen Fassung nicht haltbaren Begriffs des intelligiblen Charakters.' Der Mensch ist Bürger zweier Welten. Als Sinnenwesen (Erscheinung) untersteht er in seinem Wollen und Handeln dem Zwange der Naturnotwendigkeit, als Vernunftwesen (Ding an sich) ist er frei. Für die wissenschaftliche Erklärung sind seine Handlungen das unausbleibliche Ergebnis vorher- gehender, selbst abermals empirisch verursachter Erscheinungen; nichts- destoweniger macht ihn die moralische Beurteilung für dieselben verantwortlich. Dort werden sie aus seinem empirischen, hier aus seinem intelligiblen Charakter hergeleitet. Der Mensch kann nicht anders han- deln, als er handelt, wenn er so ist, wie er ist, aber er braucht nicht so zu sein, wie er ist; die sittliche Beschaffenheit des intelligiblen Charakters, die sich in dem empirischen Charakter widerspiegelt, ist sein eigenes Werk, die radikale Umwandlung desselben (sittliche Wieder- geburt) seine Aufgabe, deren Erfüllung gefordert wird und darum mög- lich sein muß.

1 Über die jener Theorie entgegenstehenden Schwierigkeiten und die Möglich- keit ihrer Beseitigung vergl. R. FalckenberG: Über den intelligiblen Charakter, zur Kritik der Kautischen Freiheitslehre (aus der Zeitschr. f. Philos. Bd. 75), Halle 1879.

Die Antinomien. Die Gottesidee. -j^j

3. Die spekulative Theologie. Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung, wonach jedem Dinge von allen möglichen Prädikaten der Dinge, sofern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zu- kommen muß, bezieht das zu bestimmende Ding auf den Inbegriff aller möglichen Prädikate oder die Idee eines allerrealsten Wesens, die, da sie die Vorstellung eines einzelnen Wesens ist, das Ideal der reinen Vernunft heißen mag. Aus diesem Urbilde entnehmen die Dinge, als dessen mangelhafte Kopien, den Stoff zu ihrer Möglichkeit, alle ihre Mannigfaltigkeit ist nur eine ebenso vielfältige Art, den Be- griff der höchsten Realität, der ihr gemeinschaftliches Substrat ist, ein- zuschränken, so wie alle Figuren nur als verschiedene Arten, den unend- lichen Raum einzuschränken, möglich sind. Oder besser: die abgeleiteten Wesen verhalten sich zum Ideal des Urwesens nicht wie Einschränkungen zum Inbegriff der höchsten Realität (wobei das höchste Wesen als ein aus den abgeleiteten bestehendes Aggregat gedacht würde, während doch diese jenes voraussetzen, also es nicht ausmachen können), sondern wie Folgen zum Grunde. Nun bleibt aber die Vernunft bei diesem voll- kommen statthaften Gedanken der Abhängigkeit der endlichen Dinge vom Ideal des Wesens aller Wesen, als eines Verhältnisses der Begriffe zur Idee, nicht stehen, sondern schreitet, von einem unwiderstehlichen Scheine geblendet, dazu, jenes Ideal zu realisieren, zu substantialisieren und zu personifizieren, und ersinnt, da sie sich der Unrechtmäßigkeit solcher Verwandlung der bloßen Idee in ein gegebenes Objekt dunkel bewußt ist, Beweise fürs Dasein Gottes. Sie würde übrigens kaum dazu überredet werden, ein bloßes Selbstgeschöpf ihres Denkens für ein wirkliches Wesen zu nehmen, wenn sie nicht von anderer Seite her gedrängt würde, irgendwo einen Ruhepunkt im Regressus der Beding- ungen zu suchen und die empirische Wirklichkeit alles Zufälligen auf den Felsen eines absolut Notwendigen gegründet zu denken. Kein Wesen aber scheint für den Vorzug der unbedingten Notwendigkeit schicklicher zu sein, als das, dessen Begriff zu allem Warum das Darum enthält und in keiner Rücksicht mangelhaft ist; m. a. W. die rationale Theologie verknüpft das Vernunftideal des allervollkommensten Wesens mit der vierten kosmologischen Idee des schlechthin notwendigen Wesens.

Auf drei Wegen konnte man versuchen, die Existenz Gottes zu beweisen, indem man entweder von einer bestimmten Erfahrung (der besonderen Beschaffenheit und Anordnung der Sinnenwelt, nämlich ihrer Zweckmäßigkeit), oder von einer unbestimmten Erfahrung (irgend einem Dasein) ausgehend, oder endlich von aller Erfahrung absehend aus bloßen Begriffen apriori auf das Dasein einer höchsten Ursache schloß. Aber weder der empirische noch der transzendente noch der sich in der Mitte beider haltende Gedankengang führt ans Ziel. Der eindrucks- vollste und populärste von den Beweisen, der physiko-theologische,

332

Kant.

dürfte, wenn man ihm gutwillig die Analogie der Naturprodukte mit den Erzeugnissen der menschlichen Kunst einräumt (denn zu beweisen vermag er es nicht, daß den Dingen der Welt die zweckmäßige Anord- nung, die wir mit Bewunderung an ihnen wahrnehmen, zufällig sei und nur durch ein anordnendes, vernünftiges Prinzip, nicht aber durch ihre eigene Natur von selbst nach allgemeinen mechanischen Gesetzen her- vorgebracht werden konnte), nur auf einen intelligenten Urheber der zweck- mäßigen Form der Welt, nicht aber auch ihres Stoffes, also nur einen Weltbaumeister, nicht einen Weltschöpfer, und, da die Ursache der Wirkung proportional sein muß, nur auf einen sehr weisen und erstaunlich mächtigen, nicht einen allweisen und allmächtigen Ordner schließen , kann somit keinen bestimmten Begriff von der obersten Weltursache geben. Indem der teleologische Beweis von der Zufälligkeit der zweckmäßigen Welt- einrichtung zum Dasein eines schlechthin Notwendigen und von da zur allbefassenden Realität überspringt, verläßt er den Boden der Erfahrung und lenkt in den kosmologischen Beweis ein, der seinerseits nur ein versteckter ontologischer Beweis ist. (Diese beiden unterscheiden sich bloß dadurch, daß jener von der zum voraus gegebenen unbedingten Notwendigkeit eines Wesens auf dessen unbegrenzte Realität, dieser um- gekehrt von der höclisten Realität auf das notwendige Dasein schließt.) Die Schwächen des kosmologischen Argumentes in seiner ersten Hälfte bestehen darin, daß es mit dem Schluß vom Zufälligen auf eine Ursache desselben die Grenze der Sinnenwelt überschreitet, in dem Schluß von der Unmöglichkeit einer unendlichen Reihe von Bedingungen auf eine erste Ursache aber den subjektiven Grundsatz der Forschung, zum Be- hufe der systematischen Einheit der Erkenntnis einen notwendigen ersten Grund hypothetisch anzunehmen, wie ein objektives, die Dinge selbst treffendes Prinzip handhabt. Der ontologische Beweis endlich, wel- chem die beiden angeblich empirischen Argumente klüglich aus dem Wege zu gehen meinten und zu dem sie doch zuletzt selbst ihre Zuflucht neh- men müssen, scheitert an der Unmöglichkeit, aus einer Idee das Dasein des ihr entsprechenden Gegenstandes herauszuklauben. Die Existenz bezeichnet nichts weiter als die Position des Subjekts mit allen in seinem Begriffe gedachten Merkmalen, also ein bestimmtes Verhältnis desselben zu unserer Erkenntnis, gehört aber nicht selbst zu den realen Prädikaten des Begriffs, kann mithin nicht analytisch aus demselben heraus- gezogen werden. Durch den Hinzutritt des Seins wird der Inhalt des Begriffs nicht reicher, hundert wirkliche Taler enthalten nicht einen Pfennig mehr als hundert gedachte Taler. Alle Existentialsätze sind synthetisch, folglich kann die Existenz Gottes nicht aus dem Begriff Gottes dargetan werden. Allerdings ist es ein Widerspruch, zu sagen, Gott sei nicht allmächtig, ebenso wie es ein Widerspruch ist, zu leugnen, daß das Dreieck drei Winkel habe: wenn ich den Beoriff setze, darf ich das

Kritik der Beweise für die Existenz Gottes.

333

ihm notwendig zukommende Prädikat nicht aufheben. Hebe ich jedoch das Subjekt zusamt seinem Prädikat auf (der allmächtige Gott ist nicht), so entspringt kein Widerspruch, denn es ist alsdann nichts mehr übrig, dem widersprochen werden könnte.

So sind denn alle Beweise für das Dasein eines notwendigen Wesens als Blendwerk, die Basis der spekulativen Theologie als eine unsichere aufgedeckt. Gleichwohl behält die Gottesidee ihre Gültigkeit und die Ein- sicht in das Unvermögen der Vernunft, aus theoretischen Gründen die objektive Realität derselben darzutun, hat ihren großen Nutzen. Denn wenn die Existenz Gottes nicht bewiesen werden kann, so kann sie dafür auch nicht widerlegt werden: dieselben Gründe, die uns die Behauptung derselben als schwach fundiert erkennen ließen, reichen auch dazu aus, jede Gegenbehauptung als unbegründet zu beweisen. Und sollten sich praktische Triebfedern einstellen, welche zugunsten der Voraussetzung eines höchsten und allgenugsamen Wesens in die Wage fielen, so würde die Vernunft verpflichtet sein, Partei zu ergreifen und jenen Gründen zu folgen, die zwar nicht objektiv zulänglich ', doch überwiegend sind und über die wir keine besseren kennen. Nachdem aber von moralischer Seite die objektive Realität des Gottesbegriffs verbürgt worden, wartet der transzendentalen Theologie die bedeutsame negative Aufgabe („Zensur"), den Begriff" des allervollkommensten Wesens (als ein Wesen, das durch Verstand und Freiheit den Urgrund aller anderen Dinge in sich enthält) genau zu bestimmen, alle verunreinigenden Vorstellungen wegzuschaffen und die entgegenstehenden Behauptungen, sie seien nun atheistisch oder deistisch (der Deismus erklärt nur die Erkenntnis des Daseins eines Ur- wesens, nicht aber eine nähere Bestimmung desselben für möglich) oder (im dogmatischen Sinne) anthropomorphistisch, aus dem Wege zu räumen. Der Theismus ist ganz wohl ohne fehlerhaften Anthropomorphismus mög- lich, sofern wir den Begriff Gottes durch die Prädikate, die wir der inneren Erfahrung entlehnen (Verstand und Wille), nicht an sich, sondern nur nach Analogie^ in seinem Verhältnis zur Welt bestimmen. Jener ' Begriff dient uns nur zur Betrachtung der Welt^ nicht zur Erkenntnis des

1 Sie „bedürfen Gunst, um den Mangel ihrer Rechtsansprüche zu ersetzen", vermögen daher aus sich allein keine theologische Erkenntnis zu gewähren, sind aber dazu angetan, den Verstand zu derselben vorzubereiten und etwaigen anderen (mora- lischen) Beweisen Nachdruck zu geben.

2 Wir halten uns auf der Grenze des erlaubten Vernunftgebrauchs, ohne sie zu überschreiten, wenn wir imser Urteil auf das Verhältnis der Welt zum höchsten Wesen einschränken, und erlauben uns dabei nur einen symbolischen Anthropo- morphismus, der in der Tat bloß die Sprache und nicht das Objekt angeht.

3 „Wir sind genötigt, die Welt so anzusehen, als ob sie das Werk eines höchsten Verstandes und Willens sei." „Wir können die Erscheinungen der Welt und ihr Dasein getrost von anderen (Erscheinungen) ableiten, als ob es kein not-

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höchsten Wesens selbst. Er bleibt für den spekulativen Gebrauch ein bloßes aber fehlerfreies Ideal, das die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt.

So ist der Nutzen der Ideen ein doppelter. Indem sie die Haltlosig- keit des Atheismus, Fatalismus und Naturalismus darlegen, schaffen sie Raum für die Gegenstände des Glaubens. Indem sie der Naturforschung den Gesichtspunkt der systematischen Einheit einer teleologischen Ver- knüpfung an die Hand geben, machen sie eine Erweiterung des Verstandes- gebrauchs nicht über den Erfahrungsbereich hinaus, sondern innerhalb desselben^ möglich. Die hier nur in flüchtigen Umrissen angedeutete Zwecklehre findet im zweiten Teile der Kritik der Urteilskraft ihren syste- matischen Ausbau, während die praktische Philosophie, welche für die objektive Realität der Ideen den einzig möglichen Beweis, den morali- schen, erbringt, auf der durch Wegräumung der luftigen Gartenhäuser der dogmatischen Metaphysik freigewordenen Stätte das solide Wohnhaus der kritischen Metaphysik, nämlich Metaphysik der Pflichten und der Hoffnungen, errichtet. „Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen." Die Überleitung von der unmöglichen theoretischen oder spekulativen Erkenntnis der Dinge an sich zur möglichen „prakti- schen Erkenntnis" derselben (dem Glauben, daß ein Gott und eine künf- tige Welt sei) gibt die in vier Teile (Disziplin, Kanon, Architektonik imd Geschichte der reinen Vernunft) zerfallende Methodenlehre in ihrem zweiten Hauptstück, woselbst in dem Ideal des höchsten Gutes der Beweisgrund für die Gültigkeit der Ideen Gott, Freiheit, Unsterb- lichkeit als von der moralischen Verbindlichkeit nicht zu trennender Voraussetzungen aufgezeigt und in behutsamer Untersuchung über die drei Stufen des Fürwahrhaltens (Meinen, Glauben, Wissen) dem doktri- nalen wie dem moralischen Glauben seine Stelle im System der Erkennt- nisarten angewiesen wird.

Fassen wir die Resultate der drei Teile der theoretischen Philosophie zusammen. Die reinen Anschauungen, die Kategorien und die Ideen sind Funktionen des Geistes und gestatten erfahrungsfreie Erkenntnisse über die Gegenstände möglicher Erfahrung (und über die Möglichkeit der Erkenntnis). Die ersten ermöglichen ein allgemeines nnd notwen- diges Wissen hinsichtlich der Formen, in denen uns Gegenstände gegeben

wendiges Wesen gäbe, und dennoch zu der Vollständigkeit der Ableitung unaufhör- lich streben, als ob ein solches als ein oberster Grund vorausgesetzt wäre." Kurz: physische (mechanische) Erklärung neben theistischer Betrachtung oder teleolo- gischer Beurteilung.

1 Der Grundsatz, alle Anordnung in der Welt (z. B. die Erdgestalt, Gebirge und Meere, die Gliedmaßen eines tierischen Körpers) so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre, gibt dem Forscher An- leitung zu mancherlei Entdeckungen. Vergl. unten S. 358.

Die Bedeutung der Ideen. •35 c

werden können; die zweiten ein ebenfalls apodiktisches Wissen hinsicht- lich der Formen, in denen Erscheinungen gedacht werden müssen; die dritten eine von jenem Wissen verschiedene, jedoch demselben nicht widerstreitende Beurteilung der Erscheinungen. Kategorien und Ideen geben außerdem problematische Begriffe von solchen Gegenständen, die uns nicht durch Anschauung gegeben werden, die außerhalb des Raumes und der Zeit existieren mögen: die Dinge an sich können zwar nicht erkannt, aber gedacht werden, was wichtig ist für den Fall, daß wir ihrer Existenz auf andere Weise als durch sinnliche Anschauung ver- gewissert würden.

Die Grenzbestimmung der spekulativen Vernunft ist vollendet. Alles Wissen und Beweisen beschränkt sich auf Erscheinung oder mögliche Erfahrung. Aber die Grenze des Erfahrbaren ist nicht die Grenze des Seienden, noch weniger die des Seinsollenden, die Grenze der theoreti- schen Vernunft nicht die der praktischen. Wir sollen sittlich handeln, um dies zu können, müssen wir uns die Macht zuschreiben, eine Ereignisreihe von selbst anzufangen, und sind überhaupt berechtigt, alles das anzu- nehmen, dessen Nichtannahme moralisches Handeln unmöglich macht. Wären wir bloß theoretische, bloß erfahrende Wesen, uns fehlte jeder Anlaß, hinter und über der Erscheinungswelt eine zweite intelligible zu vermuten; wir sind jedoch wollende und handelnde Wesen unter Ver- nunftgesetzen, und wenn wir Dinge an sich nicht zu erkennen vermögen, so dürfen und müssen wir Dinge an sich unsere Freiheit, Gott, ein jenseitiges Leben postulieren. Denn wahr und notwendig ist nicht nur, was Bedingung der Erfahrung, sondern auch, was Bedingung der Sittlichkeit ist. Die Gesetze und Bedingungen der Sittlichkeit zu ent- decken, ist Aufgabe der praktischen Philosophie.

II. Sittenlehx'e.

Von den Naturgesetzen, die ein Müssen ausdrücken, wendet sich die Untersuchung zu den Willensgesetzen, in denen sich ein Sollen ausspricht, durch die gewisse Handlungen nicht erzwungen, sondern vorgeschrieben werden. (Wären wir bloß vernünftige, nicht zugleich sinnliche Wesen, so würde das Sittengesetz in Form eines Naturgesetzes den Willen bestimmen; da aber durch die Sinnlichkeit die stete Mög- lichkeit der Abweichung gegeben ist, oder vielmehr der sittliche Stand- punkt erst durch Überwindung der sinnlichen Antriebe errungen werden muß, so spricht es zu uns in der Form des Soll, des Imperativs.) Auch unter den Willensgesetzen oder Imperativen gibt es solche, denen der Charakter absoluter Notwendigkeit und Allgemeinheit und folgeweise der Apriorität zukommt. Wie der Verstand der Erscheinungswelt Ge- setze diktiert, so gibt die praktische Vernunft sich selbst das Gesetz,

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Kant.

sie ist autonom; und wie die apriorischen Naturgesetze nur die Form der Erfahrungsgegenstände betreffen, so bestimmt das Sittengesetz nicht den Inhalt, sondern die bloße Form des Wollens: handle nach der- jenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie allge- meines Gesetz werde. Das praktische Vernunftgesetz ist ein „katego- rischer Imperativ". Was bedeutet diese Bezeichnung und wie begründet sich die eben gegebene Formel des Sittengesetzes?

Praktische Grundsätze sind entweder subjektiv gültig, dann nennt man sie Maximen (Willensmeinungen des Individuums), oder sie sind objektiv gültig, dann heißen sie Imperative oder Vorschriften. Die letz- teren sind entweder unter gewissen Bedingungen gültig (wenn du Pfarrer werden willst, mußt du Theologie studieren; wer als Kaufmann vorwärts kommen will, darf die Kunden nicht übervorteilen) oder unbedingt gültig (du sollst nicht lügen). Alle Klugheits- und Geschicklichkeitsregeln sind hypothetische Imperative, das Sittengesetz ist ein kategorischer Imperativ. Das Gebot der Wahrhaftigkeit ist nicht an die Bedingung geknüpft, daß wir die Absicht haben, sittlich zu handeln, sondern eben dieser allgemeine Vorsatz selbst samt allen dazu gehörigen speziellen Vorsätzen, die Lüge zu meiden usw., wird bedingungslos und von jeder- mann gefordert; so wahr wir vernünftige Wesen, sind wir zur Sittlichkeit verpflichtet: nicht um hienieden geachtet und droben selig zu werden, sondern ohne jedes Wenn und Damit. Du sollst schlechthin, was auch daraus erfolge. Und wie das Sittengesetz von jedem zu erreichenden Zweck unabhängig ist, so erfährt es auch daraus weder einen Zuwachs noch einen Abbruch an seiner Verbindlichkeit, daß die Menschen ihm gehorchen oder nicht. Es gilt absolut, gleichviel ob es häufig oder selten, ja überhaupt irgendwo und irgendwann in der Welt erfüllt wird!

Das Gute, das zu tun, und das Böse, das zu unterlassen wir ver- pflichtet sind, unterscheidet sich demnach erheblich von den Gütern und Übeln, die wir suchen und fliehen. Die Güter sind immer nur relativ, zu etwas als Mittel zu Zwecken gut, und von allem, was Natur und Glück gewähren, kann auch ein schlechter Gebrauch gemacht werden. Was die Pflicht gebietet, ist Selbstzweck, an sich gut, absolut wert- voll, und von ihm ist kein Mißbrauch möglich. Man könnte meinen, die Lust, die Glückseligkeit sei ein letzter Zweck. Aber über das Angenehme sind die Menschen sehr verschiedener Meinung, dem einen dünkt dies, dem andern jenes lustvoll. Auf empirischem Wege kann das nicht ge- funden werden, w-as die Pflicht von allen Menschen gleichmäßig und unter allen Umständen fordert; sie wendet sich an unsere Vernunft, nicht an unsere Sinnlichkeit. Wäre Glückseligkeit der Zweck der vernünftigen Wesen, so hätte uns die Natur für denselben übel ausgerüstet, denn statt eines sicher leitenden Instinktes gab sie uns die schwache und trügliche Vernunft zur Führerin, die mit ihrem Gefolge, Kultur, Wissenschaften,

Die sittliche Triebfeder. o^-

Künsten und Luxus, der Menschheit mehr Mühseligkeit als Zufriedenheit gebracht hat. Die Menschen haben eine andere Bestimmung als das Wohlsein, eine höhere die Erzeugung guter Gesinnungen: hier haben wir das einzige in der ganzen Welt, was nie zum Bösen gebraucht werden kann, das einzige, was seinen Wert nicht von einem höheren Zwecke erborgt, sondern ursprünglich und unverlierbar in sich selbst trägt und allem übrigen, was Schätzung verdient, \Vert verleiht. .,Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer dieser zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille." Verstand, Mut, Mäßigung und was man sonst an Talenten des Geistes und löblichen Eigenschaften des Temperaments anführen möge, sowie die Gaben des Glücks „sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert, aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von ihnen Gebrauch machen soll, nicht gut ist". Dies die klassischen Worte, mit denen Kant die Grundlegung zur jMetaphysik der Sitten einleitet.

Wann verdient der Wille das Prädikat „gut"? Hören wir das popu- läre moralische Bewußtsein, das drei Stufen sittlicher Anerkennung unter- scheiden läßt. Das kühle Lob äußerlich unbescholtenen Handelns genießt derjenige, der sich des Pflichtwidrigen enthält, gleichviel aus welchen Be- weggründen, z. B. der Krämer, der den Betrug unterläßt, weil er die Ehrlichkeit als vorteilhaft erkennt. Ein wärmeres Lob und Aufmunterung spenden wir dem, den Ehrtrieb zum Fleiß, gutherzige Regung zum Wohl- tun, Mitleid zur Hilfeleistung antreibt. Hochachtung aber erwirbt sich allein, wer die Pflicht erfüllt um der Pflicht willen. Nur in diesem dritten Falle, wo nicht bloß die äußere Handlung, auch nicht bloß der Antrieb eines glücklichen Naturells, sondern der Wille selbst, die Maxime mit dem Sittengesetz übereinstimmt, wo das Gute um des Guten willen getan wird, ist echte Sittlichkeit, ist jener unbedingte, in sich selbst ge- gründete Wert vorhanden. Wer aus Reflexion auf den Nutzen und wer aus unmittelbarer stets unzuverlässiger Neigung das Pflichtmäßige tut, handelt legal; moralisch nur, wer, ohne ;iuf Vorteil und Neisruno- zu hören, das Gesetz in die Gesinnung aufnimmt, die Pflicht erfüllt, weil sie Pflicht ist. Die einzige sittliche Triebfeder ist das Pflichtbewußtsein, die Achtung für das Sittengesetz.i

' Achtung oder Ehrfurcht, die uns das Gesetz und abgeleiteterweise die Person, die es in sich verwirklicht, abnötigt, ist von allen durch sinnliche Einflüsse erweckten Gefühlen der Neigung und Furcht als ein durch einen Vernunftbegriff selbstge- wirktes und als das einzige, das apriori erkannt werden kann, spezifisch verschieden. Indem sie unsere vernünftige Natur, das Bewußtsein unserer Freiheit und unserer erhabenen Bestimmung stärkt und emporrichtet, zugleich aber unsere Sinnlichkeit demütigt, mischt sich in die Freude der Erhebung eine gewisse L'nlust ein, die keine vertrauliche Zuneigung zu dem strengen und hoheitsvollen Gesetze gestattet. Man Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 22

338 Kant.

An dieser Stelle droht eine von Kant nicht vermiedene Klippe. Das Sittengesetz verlangt vollkommene Lauterkeit der Maxime; nur die Vor- stellung der Pflicht, nicht eine Neigung darf den Willen bestimmen. Ganz richtig. Ferner: der Beurteiler ist, selbst wo es sich um sein eigenes Wollen handelt, nie absolut sicher, daß nicht zur pflichtgemäßen Handlung neben dem Pflichtgefühl auch Lustmotive mitgewirkt haben, es sei denn, daß das sittlich Geforderte allen Neigungen widerspreche. Wenn ein Be- dürfnisloser und von Habsucht Freier die ihm unterstellte Kasse unan- gegriffen läßt, ein Lebenslustiger Selbstmordgedanken überwindet, so darf ich annehmen, daß jener durch sein mäßiges, dieser durch sein fröhliches Temperament schon hinlänglich gegen die Versuchung geschützt war, und beurteile ihr Betragen bloß als legal. Wenn dagegen ein zur Verschwen- dung neigender Beamter die ihm anvertrauten Gelder treu verwaltet, ein von hoffnungslosem Gram Bedrückter sein Leben erhält, obwohl er es nicht liebt, dann darf ich die Unterlassung des Unrechts sittlichen Grund- sätzen zuschreiben. Auch dies läßt sich hören. Gewißheit über die Moralität eines Entschlusses haben wir nur darni, wenn sich nachweisen läßt, daß nicht neben der Maxime auch noch Neigungen im Spiele waren. Die Fälle, in denen die pflichtmäßige Handlung gegen die Nei- gung vollzogen wird, sind die einzigen, die eine sichere Erkenntnis lauterer Sittlichkeit gewähren; sind sie darum die einzigen, in denen sitt- liche Gesinnung vorhanden ist? Kant behauptet mit Recht, daß die Einmischung egoistischer Motive die Lauterkeit der Gesinnung trübe und damit den moralischen Wert derselben verringere. Er macht mit gleichem Recht auf die Möglichkeit aufmerksam, daß selbst da, wo wir aus reinen Grundsätzen zu handeln wähnen, ein versteckter sinnlicher Antrieb mit- wirken könne. Aber er läßt die Möglichkeit unberücksichtigt, daß auch dort, wo die Neigungen der pflichtmäßigen Handlung günstig sind, gleich- wohl nicht aus Neigung, sondern aus Pflichtbewußtsein gehandelt werden kann. Es sei jemand von Natur arbeitsam, ist er durch die glückliche Anlage \'or Anwandlungen der Trägheit geschützt? Und wenn er ihnen widersteht, muß es da stets die Neigung zur Tätigkeit, kann es niemals der sittliche Grundsatz sein, der jene Versuchungen überwindet? Indem Kant der Gefahr erliegt, die Grenze unserer sicheren Erkenntnis lauterer Motive mit der Grenze vorhandener Sittlichkeit zu verwechseln i, und nur dort wahre Moralität einräumt, wo den Neigungen entgegen rein aus Grundsatz gehandelt wird, verdient er wirklich den zuweilen grundlos auf die berechtigte Strenge seiner Anschauung ausgedehnten Vorwurf des Rigorismus und übertriebenen Purismus und den Spott der be-

zollt nicht gerade gern Achtung, eben wegen der herabdrückenden Wirkung, welche dieses Gefühl auf die Selbstliebe ausübt.

1 Vergl. Falckenberg, Gedächtnisrede auf Kant, Erlangen 1904, S. 16 18.

Die sittliche Triebfeder.

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kannten Schillerschen Verse („Gewissensskrupel'' und „Entscheidung", am Schluß der Distichengruppe „Die Philosophen"):

Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich, es leider mit Neigung, Und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin.

Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann tun, was die Pflicht dir gebeut.

Kehren wir von 'dieser notwendigen Einschränkung einer unbegrün- deten Folgerung (daß nur da wahre Sittlichkeit \orhanden sei, wo die PtlichterfüHung wider die Neigung erfolgt, wo sie uns schwer fällt*, wo ein Kampf gegen sinnliche Motive vorhergegangen) zu der Entwickelung der ethischen Grundbegriffe zurück, so ergeben sich aus dem durch Analyse des moralischen Urteils gewonnenen Grundsatze, daß das Sittengesetz mit unbedingter Gültigkeit für jedes vernünftige Wesen und unter allen Umständen ein unbedingtWert volles die ihm entsprechende Gesinnung gebietet, wichtige Folgesätze betreffs des Ursprungs und Inhalts desselben. Die Allgemeinheit und Notwendigkeit (Bedingungslosig- keit) des Pflichtgebotes beweist, daß es nirgends anders herstammt, als aus der Vernimft selbst. Wer das Sittengesetz aus dem Belieben Gottes herleitet, unterwirft es einer Bedingung, nämlich der Unveränderlichkeit des göttlichen Willens. Wer im Glückseligkeitsstreben den Quell der moralischen Gesetzgebung erblickt, macht den vernünftigen Willen von einem Naturgesetz der Sinnlichkeit abhängig; es wäre Torheit, durch ein Sittengesetz etwas zu gebieten, was ohnedies jeder von selbst und in überreichlichem Maße tut. Auch die Theorien der sozialen Neigungen und des moralischen Sinnes verfehlen das Ziel, denn sie gründen die Sittlichkeit auf den schwankenden Boden des Gefühls. Selbst das Voll- kommenheitsprinzip erweist sich als unzulänglich, sofern es das Individuum auf sich selbst einschränkt und letzten Endes, wie die vorigen, in eine verfeinerte Selbstliebe hinausläuft. Die theonomische Moral, die egoisti- sche, die des Wohlwollens und die der Vollkommenheit sind insgesamt eudämonistisch, also heteronomisch. Die praktische Vernunft^ empfängt das Gesetz weder vom Willen Gottes noch vom Naturtriebe, sondern schöpft es aus der eigenen Tiefe, sie verpflichtet sich selbst.

Dieselben Gründe, welche die Herkunft des Sittengesetzes aus dem Willen oder der Vernunft selbst entscheiden, verwehren zugleich jede

' Kant selbst sieht das Ideal im freudigen Rechttun. Dies scheint damit im Widerspruch zu stehen, daß das Sittengesetz nur Achtung, nicht Neigung zu er- wecken vermöge. Hierüber siehe E. Arnoldt, Beiträge S. lOi : „Das Christentum kann Liebe zu dem Geschäft der Pflichterfüllung überhaupt einflößen und auch hervorbringen, ohne daß es befähigt, jede einzelne Pflicht und alle Pflichten insgesamt gerne zu erfüllen."

2 Wille und praktische Vernunft sind identisch. Die Definition lautet: Wille jst das Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln.

22 *

340

Kant.

inhaltliche Bestimmung desselben. Wenn der kategorische Imperativ dem Willen bestimmte Zwecke setzte, ihm die Richtung auf bestimmte Gegen- stände vorschriebe, so könnte er weder apriori erkannt werden noch für alle Vernunftwesen gelten: die Apodiktizität desselben verbietet jegliche empirische Zutat, i Denken wir vom Gesetze allen Inhalt hinweg, so behalten wir die Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit ^ übrig und ge- winnen die Formel: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jeder- zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Die Möglichkeit, den Grundsatz des Wollens als allgemeines Naturgesetz zu denken, ist der Prüfstein der Sittlichkeit. Bist du ^n Zweifel über die Moralität einer Handlung oder Triebfeder, so lege dir nur die Frage \or: was würde aus der Menschheit, wenn jeder nach demselben Grundsatze handeln wollte. Wenn niemand dem Worte des andern Glauben schenken, auf fremde Hilfe rechnen, seiner Habe und seines Lebens sicher sein dürfte, so wäre kein Zusammenleben, keine geordnete Gemeinschaft mög- lich. Selbst eine Räuberbande kann nicht bestehen, ohne daß gewisse Gesetze als unverbrüchliche Pflichten gelten.

Es war unumgänglich, die oberste Formel des Sittengesetzes von allen raaterialen Bestimmungen, d. h, Einschränkungen zu entleeren. Das hindert jedoch nicht, dem abstrakten Umriß nachträglich konkretere Färbung zu verleihen. Zunächst bietet sich zur Erläuterung und Spezialisierung der Begriff der Würde der Person im Gegensatz zur Brauchbarkeit der Sachen dar. Die Sachen sind Mittel, deren Wert stets relativ ist, nämlich in den nützlichen oder wohlgefälligen Wirkungen, die sie ausüben, in der Be- friedigung eines Bedürfnisses oder des Geschmacks besteht, sie sind durch andere Mittel, die den gleichen Zweck erfüllen, ersetzbar, sie haben einen (Markt- oder einen Affektions-) Preis; was dagegen über allen Preis erhaben ist und kein Äquivalent verstattet, hat inneren Wert oder Würde und ist Gegenstand der Achtung. Die Gesetzgebung, die allen Wert bestimmt, desgleichen die ihr gemäße Gesinnung, hat eine Würde, einen unbedingten, unvergleichbaren Wert und verleiht ihren Subjekten, den vernünftigen, zur Moralität beanlagten Wesen, den Vorzug, Selbst- zweck zu sein. „Also ist die Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat." Demgemäß darf folgende Formulierung des Sittengesetzes als gleichbedeutend mit der

1 In dreifacher Rücksicht also ist das Moralgesetz von aller Erfahrung unab- hängig : nach Ursprung, Inhalt und Geltung. Es stammt aus der Verunft, es enthält nur eine formale Vorschrift und seine Geltung wird dadurch nicht berührt, daß es Gehorsam findet oder nicht: es sagt, was geschehen soll, wenn es gleich niemals geschähe.

- Das ,, Formalprinzip" der Kantischen Ethik hat sehr verschiedene Beurteilungen erfahren. Ablehnend äußern sich u. a. Edmund Pfleiderer (Kantischer Kritizismus und englische Philosophie 1881) und Zeller, zustimmend Fortlage und Liebmann (Zur Analysis der Wirklichkeit, 3. Aufl. 1900, S. 706).

Der formale Charakter des Sittengesetzes.

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ersten gelten: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst."

Eine weitere Ergänzung der abstrakten Formel des kategorischen Im- perati\s ergibt sich aus der Erörterung der Frage, welche allgemeinen Zwecke denn eine Subsumtion unter denselben gestatten, d. h. vor dem Prüfstein, ob sie sich zu Prinzipien einer allgemeinen Gesetzgebung eignen, bestehen; wobei Kant wiederum als Schiedsrichter zwischen die streitenden Parteien tritt und mit sicherer Hand das Brauchbare auf beiden Seiten, nachdem er es vom Verkehrten abgesondert, verknüpft. Die INIehrzahl der eudämr)nistischen Systeme gebietet neben der Beförderung des Privatwohles die des allgemeinen Besten, ohne angeben zu können, an welcher Stelle das Streben nach dem eigenen Wohl der Berücksichtigimg des fremden Platz zu machen habe, während in dem Perfektionssysteme das soziale ]Mi mient fehlt oder doch ungebührlich zurücktritt. Das Prinzip der Glück- seligkeit repräsentiert den moralischen Empirismus, das der Vollkommen- heit den moralischen Rationalismus. Kant versöhnt den Gegensatz, indem er die beiderseitigen Thesen auf ihr berechtigtes Maß einschränkt: „Mache zum Zweck deiner Handlungen die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit," dies sind die einzigen Zwecke, die zugleich Pflichten sind. Fremde Vollkommenheit ist dadurch ausgeschlossen, daß ich keinem eine gute Gesinnung einimpfen kann, jeder sie sich selbst geben muß; eigene Glückseligkeit dadurch, daß jedermann sie schon von Natur anstrebt.

<_)biger Gegensatz (mit dem sich die weitere Unterscheidung voll- kommener, d. h. unnachlaßlicher und unvollkommener Pflichten kreuzt) dient zum Einteilungsgrunde der sittlichen Pflichten in solche gegen uns selbst und gegen andere Menschen. ^ Die ersteren gebieten Erhaltung und Vervollkommnung unserer natürlichen und moralischen Kräfte, die letzteren sind schuldige (Achtungs-) oder verdienstliche (Liebes-) Pflichten. Da mich niemand verpflichten kann, Gefühle zu haben, so darf unter Liebe nicht die pathologische des Wohlgefallens, sondern nur die tätige des Wohlwollens oder der praktischen Teilnahme verstanden werden. Da es ebensowenig Pflicht sein kann, die Übel der Welt zu vermehren, so ist die verweichlichende und nutzlose Rührung des Mitleids, die zu dem Schmerze des Leidenden noch den sympathetischen des Zuschauers hinzu- fügt, aus der Liste der Tugenden zu streichen und an ihre Stelle die

1 Es gibt nur Pflichten gegen Menschen, nicht gegen unter- oder übermensch- liche Wesen. Was man gewöhnlich als Pflichten gegen die Tiere bezeichnet, des- gleichen die sogenannten Pflichten gegen Gott sind in der Tat Pflichten gegen uns selbst. Tierquälerei ist unmoralisch, weil wir dadurch unser Mitgefühl abstumpfen. Religion zu haben ist Pflicht gegen sich selbst, weil die Betrachtung der Moralgebote als göttlicher Gesetze ein Beförderungfsmittel der Sittlichkeit ist.

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Kant.

werktätige Hilfsbereitschaft zu setzen. In der Freundschaft vereinigen sich Liebe und Achtung zu ebenmäßigem Gleichgewicht. Die Wahrhaftigkeit gehört zu den Pflichten gegen sich selbst; Lüge ist Wegwerfung der Menschenwürde und unter keiner Bedingung erlaubt, selbst wenn das Leben eines Menschen daran hinge.

Nachdem festgestellt worden, was der kategorische Imperativ gebietet, wartet unser die weitere Aufgabe, zu erklären, wie er möglich sei. Er ist nur unter Voraussetzung unserer Freiheit möglich. Nur ein freies Wesen gibt sich das Gesetz selbst, so wie nur ein autonomes Wesen frei ist. In der theoretischen Philosophie bezeichnete das reine Selbst- bewußtsein, das „Ich denke" einen Punkt, wo sicli uns das Ding an sich, zwar nicht in seinem Wesen, aber doch in seinem Dasein kundgibt. Das gleiche gilt in der praktischen Philosophie von dem Sittengesetz. Das unumstößliche Faktum des Sittengesetzes gibt mir die Befugnis, mich in eine höhere als bloß phänomenale Ordnung der Dinge und in ein anderes als bloß naturnotwendiges (mechanisches) Kausalitätsver- hältnis zu setzen, mich als gesetzgebendes und von sinnlichen Antrieben unabhängiges Glied einer intelligiblen Welt, kurz als frei zu betrachten. Die Freiheit ist der Realgrund des selbstgegebenen Sittengesetzes, dieses der Erkenntnisgrund der Freiheit. Das Gesetz hätte keinen Sinn, wenn wir nicht die Macht hätten, es zu befolgen: ich kann, weil ich soll. Freilich ist die Freiheit eine bloße Idee, deren Gegenstand mir in keiner Erfahrung gegeben, deren Realität folglich nicht objektiv erkannt und bewiesen werden kann, gleichwohl als Bedingung des Sittengesetzes und seiner Erfüllbarkeit mit subjektiv zulänglicher Notwendigkeit gefordert werden muß. Ich darf nicht sagen: es ist gewiß, wohl aber: icli bin gewiß, daß ich frei bin. Die Freiheit ist kein dogmatischer Lehrsatz der theoretischen, sondern ein Postulat der praktischen Vernunft, welche letztere insofern den Primat über die erstere hat, als sie \(in jener verlangen darf, gewisse mit der moralischen Verpflichtung aufs engste verbundene transzendente Ideen \om Übersinnlichen als mit den Verstandesgrundsätzen vereinbar zu erweisen. Eben im Hinblick auf das praktische Interesse der Vernunftbegrifte Gottheit, Freiheit. Un- sterblichkeit war es von so großer Wichtigkeit, wenigstens die Möglich- keit (die widerspruchslose Denkbarkeit) derselben festzustellen. Was nun die Dialektik als möglich erkannte, das wird in der Ethik als wirk- lich nachgewiesen: wer seine sittliche Aufgabe erfüllen will und das ist jedermanns Pflicht , darf nicht an den Bedingungen ihrer Erfüll- barkeit zweifeln, muß Freiheit und eine übersinnliche Welt, trotz ihrer| Unbegreiflichkeit, glauben. Beide sind Postulate der praktischen Ver- nunft, d. h, Annahmen über das, was ist, zum Behufe dessen, was sein soll. Natürlich darf durch das Interesse des Willens das des Verstandes nicht geschmälert werden. Der Grundsatz durchgängiger kausaler Be-

Die moralischen Postulate.

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stimmtheit des Geschehens bleibt für das Feld der Verstandeserkenntnis, also für das Reich der Erscheinungen, in unangetasteter Geltung; da- gegen ist es uns unbenommen, für das Reich der Dinge an sich eine andere Art von Kausalität, wenngleich wir uns keine Vorstellung von ihrem Wie machen können, zu postulieren und uns einen freien intelli- giblen Charakter beizulegen.

Ließ sich die Idee der Freiheit direkt aus dem Sittengesetz , als Voraussetzung desselben ableiten, so geschieht der Erweis der Realität der beiden anderen Ideen auf dem Umwege durch den Begriff des „höchsten Gutes", worin die Vernunft eine Vereinigung von vollkom- mener Tugend und vollkommener Glückseligkeit denkt. Das Sitten- gesetz verlangt absolute Übereinstimmung der Gesinnung mit dem Ver- nunftgebot oder Heiligkeit des Willens. Außer diesem obersten Gute (bojiutn supremum) der vollendeten Sittlichkeit aber enthält das höchste Gut {bontim consiimmatum) noch eine dem Maße der Tugend ent- sprechende Glückseligkeit. Jedermann stimmt dem Urteile bei, daß es von Rechts wegen dem Tugendhaften gut, dem Lasterhaften schlecht er- gehen sollte, womit jedoch dem früheren Satze nichts abgehandelt werden soll, daß die Maxime durch die geringste eigennützige Regung ihren Wert einbüße: der Bestimmungsgrund des Willens darf niemals Glück- seligkeit, sondern immer nur Glück Würdigkeit sein. Der erste Be- standteil des höchsten Gutes gibt den Beweisgrund für die Unsterb- lichkeit, der zweite für die Existenz Gottes ab. i. Vollkommene Übereinstimmung des Willens mit dem Gesetz findet in diesem Leben nicht statt, weil es die Sinnlichkeit zu einer dauerhaften, gegen jede Versuchung gewappneten guten Gesinnung nicht kommen läßt; unser Wille kann niemals heilig, sondern höchstens tugendhaft, die gesetz- mäßige Gesinnung nie ohne das Bewußtsein eines kontinuierlichen Hanges zur Übertretung oder wenigstens der Unlauterkeit sein. Da nichtsdestoweniger die Forderung des (christlichenj INIoraigesetzes in unnachsichtlicher Strenge als Richtschnur bestehen bleibt, so sind wir zur Hoffnung einer unbegrenzten Fortdauer unserer Existenz berechtigt, um uns durch beständigen Fortschritt im Guten dem Ideal der Heilig- keit ins Unendliche annähern zu können. 2. Auch die Herstellung einer vernunftgemäßen Proportion zwischen Glückseligkeit und Tugend ist erst im jenseitigen Leben zu erwarten, denn auf Erden ergeht es oft genug dem Bösen wohl, dem Guten schlimm. Eine gerecht ab- wägende Verteilung von Lohn und Strafe ist allein von einer unend- lichen Macht, Weisheit und Güte zu erwarten, welche die sittliche Welt regiert, wie sie die natürliche Welt geschaffen hat. Nur die Gottheit vermag das physische und das ethische Reich zur Übereinstimmung zu bringen und das richtige Verhältnis zwischen Wohlbefinden und Wohl- verhalten ins Werk zu setzen. Dies der einzig mögliche Beweis für

344

Kant.

das Dasein Gottes: der moralische. Gotteswissenschaft ist nicht als spekulative, sondern nur als IMoraltheologie möglich. Die Gewißheit des Glaubens ist übrigens nur eine andere, nicht eine geringere als die des Wissens, sofern er keine objektive, sondern eine subjektive, gleichwohl allgemeingültige Notwendigkeit mit sich führt. Weshalb man besser von einem Bedürfnis der Vernunft, als von einer Pflicht, an Gott zu glauben, redet und den Gottesleugner zwar eines logischen, nicht aber eines moralischen Fehlers zeihen darf. Der Atheist ist blind für den engen Zusammenhang, der zwischen dem höchsten Gute und den Ver- nunftideen bestellt; er sieht nicht, daß Gottheit, Freiheit und Unsterb- lichkeit die unentbehrlichen Bedingungen der Verwirklichung jenes Ideales sind.

So ruht der Glaube auf der Pflicht, ohne selbst Pflicht zu sein : die Moral ist das Fundament der Religion, welche darin besteht, daß wir die sittlichen Gesetze ansehen als {instar, als wären sie) göttliche Gebote. Sie gelten oder verpflichten nicht, weil Gott sie gegeben {dies wäre Heteronomie), sondern sie dürfen als göttlich betrachtet werden, weil sie notwendige Vernunftgesetze sind. Die Religion unterscheidet sich nur formell, nicht inhaltlich von der Moral, sofern sie dem Pflicht- begrifif die Idee Gottes als eines moralischen Gesetzgebers hinzufügt und dadurch seinen Einfluß auf den Willen erhöht; sie ist nichts als ein Beförderungsmittel der Sittlichkeit. Da jedoch die historischen Reli- gionen außer der natürlichen Religion oder dem reinen Vernunftglauben (dem Sittengesetz und den moralischen Postulaten) noch statutarische Bestimmungen oder einen doktrinalen Glauben enthalten, so erwächst dem kritischen Philosophen die Aufgabe, zu untersuchen, wieviel von diesem positiven Beiwerke sich vor der Vernunft rechtfertigen lasse, wobei die Frage nach der göttlichen Offenbarung der Dogmen und Kultus Vorschriften weder supranaturalistisch bejaht, noch naturalistisch verneint, sondern rationalistisch als eine off'ene behandelt wird.

Die vier unter dem Titel „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" vereinigten Aufsätze behandeln das radikale Böse im Menschen, den Kampf des guten Prinzips mit dem bösen um die Herr- schaft über den Menschen, den Sieg des guten Prinzips und die Grün- dung eines Reiches Gottes auf Erden, endlich Religion und Pfaffentum oder Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips; oder kürzer: den Sündenfall, die Versöhnung (die Christusidee), die Kirche, den echten und den falschen Gottesdienst, i. Die einzelnen Übeltaten des empirischen Charakters weisen auf eine Urschuld des intelligiblen Charakters hin, einen dem Menschen einwohnenden, nicht weiter ableitbaren Hang zum Bösen, der, obwohl er selbstverschuldet ist, natürlich und angeboren genannt werden darf und (nicht in der bloßen Sinnlichkeit, sondern) in einer freigewollten Umkehrung der sitt-

Moral und Religion.

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liehen Ordnung der Maximen besteht, vermöge deren die Maxime der Pflicht oder Sittlichkeit der des Wohlseins oder der Eigenliebe unter- Statt übergeordnet, und was oberste Bedingung aller Befriedigung sein sollte, zum bloßen Mittel derselben degradiert wird. Moralität ist somit Umkehr vom Bösen zum Guten und fordert eine gänzliche Revolution der Gesinnung, die Anziehung eines neuen Menschen, eine „Wiederge- burt", welcher außerzeitliche Akt sich zwar in der zeitlichen Erscheinungs- welt nur als allmähliche Umänderung des Verhaltens, als ein stetiges Fortschreiten kundgeben kann, vom Herzenskündiger aber, der statt der einzelnen unvollkommenen Handlungen die Gesinnung ansieht, wie wir hoffen dürfen, als vollendete Einheit beurteilt wird. 2. Unter dem ewigen Sohne Gottes, (dem „Worte", durch welches =) um dessen willen Gott alles gemacht hat, ist das Ideal des vollkommenen Menschen zu verstehen, welches in Wahrheit den Zweck der Schöpfung bildet, vom Himmel herabgekommen ist, bei den Gläubigen bleibt bis ans Ende der Tage usw. An Christus glauben heißt sich entschließen, das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit in sich zu verwirklichen, oder die göttliche Gesinnung des Gottessohnes in sich aufzunehmen, nicht aber annehmen, daß jenes Ideal in einem wirklichen Menschen, in Jesus von Nazareth, auf Erden erschienen sei. Der seligmachende Glaube ist allein der Vernunftglaube an das Ideal, das Christus vertritt, nicht der historische an seine Person. ^ Die stellvertretende Genugtuung des idea- len Menschen für die, so an ihn glauben, ist dahin zu deuten, daß die von der sittlichen Umkehr auferlegten Schmerzen und Opfer (die Kreuzigung des Fleisches), die dem sündigen Menschen als Strafe ge- bühren, vom Wiedergeborenen übernommen werden: der neue Adam trägt das Leiden für den alten. In entsprechender Weise, wie Kant es für die Geschichte Christi und das Dogma der Rechtfertigung ausführt. Sollen im Volksunterricht (auf der Kanzel) alle biblischen Erzählungen und kirchlichen Lehrsätze moralisch ausgelegt werden, auch dort, wo die Autoren selbst eine solche Bedeutung nicht im Sinne hatten. 3. Die Kirche ist eine Gesellschaft nach Tugendgesetzen, ein ethisches Ge- meinwesen oder ein Volk Gottes, dessen Mitglieder sich gegenseitig durch Beispiel und Bekenntnis gemeinsamer sittlicher Überzeugung in der Pflichtübung bestärken: wir alle sind Brüder unter dem einen Vater. Der Idee nach ist sie nur eine (die allgemeine unsichtbare Kirche) und ihre Grundlage der reine Vernunftglaube, infolge einer eigentümlichen Schwäche der menschlichen Natur aber bedarf es zur Gründung einer

1 „Alles kommt in der Religion aufs Tun an, und diese Endabsicht, mithin auch ein dieser gemäßer Sinn muß allen biblischen Glaubenslehren untergelegt werden". Ohne diese moralische Rücksicht bloß in der Bedeutung eines theoretischen Fürwahr- haltens ist der Glaube, weil er weder einen besseren Menschen macht noch einen solchen beweist, gar kein Stück der Religion. Streit der Fakultäten, VII S. 359.

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Kant.

Kirche in der Wirklichkeit der Hinzufügung eines göttUchen Ursprung beanspruchenden statutarischen Geschichtsglaubens, womit eine Vielheit sichtbarer Kirchen und der Gegensatz der Orthodoxen und Ketzer ent- steht. Die Kirchengeschichte seit Gründung des Christentums stellt den Kampf zwischen historischem und Vernunftglauben dar, ihr Ziel ist, daß der erstere dem letzteren Platz mache, wie man denn jetzt bereits angefangen hat, einzusehen, daß Gott nicht außer der Tugendübung noch einen besonderen Dienst verlange. 4. Der wahre Gottesdienst besteht in der sittlichen Gesinnung und ihrer Betätigung; „alles, was der Mensch außer dem guten Lebenswandel noch tun zu können meint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist After dienst Gottes". Afterdienst ist die falsche Unterordnung des reinen Vernunftglaubens unter den statuta- rischen, durch welche die Erreichung des Zieles der Religionsentwickelung gehemmt und der Laie in eine gefährliche Abhängigkeit vom Klerus gebracht wird. Im Gefolge des Fetischdienstes stellen sich Pfaffentum, Heuchelei und Fanatismus ein. Der Kirchenglaube hat die Bestimmung, sich selbst nach und nach überflüssig zu machen. Er war als Vehikel, als Mittel zur Einführung und Verbreitung der reinen Moralreligion not- wendig und bleibt noch eine Zeitlang, so lange die Menschheit noch nicht mündig geworden, nützlich; mit ihrem Eintritt in das Jünglings- und Mannesalter jedoch wird das Leitband der heiligen Überlieferungen, welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, entbehrlich, ja endlich zur Fessel. (Eine ähnliche relative Wertschätzung des Positiven in der Reli- gion, im Gegensatz zu der verständnislosen Verwerfung desselben seitens der Aufklärer, wie bei Lessing, vergl. S. 268 270.) Auch dem Geist- lichen muß es, da es Pflicht ist, an dem Übergange des Geschichts- glaubens in den reinen Religionsglauben mitzuarbeiten, erlaubt sein, als wissenschaftlicher Theolog, als Gelehrter und Schriftsteller die Glau- benslehren zu prüfen und abweichende Meinungen auszusprechen, während er als Geistlicher auf der Kanzel, wo er in fremdem Auftrag redet, an die Symbole gebunden ist. Die Unveränderlichkeit der Glaubensstatuten beschließen, wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade im Fortschreiten besteht. Auf Auf- klärung verzichten, heißt die heiligen Rechte der Vernunft mit Füßen treten. Die jedem Stücke angehängten „allgemeinen Anmerkungen" fügen den vier Hauptuntersuchungen ebensoviele Nebenuntersuchungen liinzu über Gnadenwirkungen, Wunder, Mysterien und Gnadenmittel, Gegen- stände überschwenglicher Ideen, welche nicht eigentlich in dem Gebiet der Religion innerhalb der bloßen Vernunft selbst gelegen sind, aber doch an dasselbe angrenzen. i. Gnadenwirkungen hervorzubringen, ja auch nur die Kriterien anzugeben, durch welche sich wirkliche gött- liche Erleuchtungen von eingebildeten unterscheiden, sind wir gänzlich unvermögend, vermeintliche Erfahrung himmlischer Einflüsse gehört ins

Religionslehre.

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Bereich des schwärmerischen Reügionswahns. So wenig jedoch als ihre Wirklichkeit erweisbar ist, ist es ihre Unmöglichkeit. Es läßt sich nichts weiter davon sagen, als daß es Gnadenwirkungen geben könne uiid vielleicht zur Ergänzung unserer unvollkommenen Tugendbestrebungen geben müsse und daß jeder, statt auf göttliche Beihilfe zu warten, zu seiner Besserung tun möge, was in seinen Kräften steht. 2. Schärfer urteilt Kant über den Glauben an Wunder, der den Erfahrungsgesetzen widerspricht, nhne die Befolgung unserer Pflichten im geringsten zu befördern. Im praktischen Leben hält niemand Wunder für möglich, die Beschränkung auf die Vergangenheit und auf seltene Fälle aber macht sie nicht glaubhafter. 3. Sofern die christlichen Mysterien wirklich undurchdringliche Geheimnisse vorstellen, sind sie für das sittliche Ver- halten gleichgültig; sofern sie moralisch wertvoll sind, gestatten sie eine vernünftige Deutung und hören damit auf, Geheimnisse zu sein. Die Trinität bedeutet die im Oberhaupte des sittlichen Staates vereinigten drei moralischen Qualitäten oder Gewalten: der einige Gott als heiliger Gesetzgeber, als gütiger Regent und als gerechter Richter. 4. Die Kul- tushandlungen haben Wert als ethische Feierlichkeit, als Sinnbilder der sittlichen Gesinnung (Gebet) und der sittlichen Gemeinschaft (Kirchen- gehen, Taufe und Abendmahl); in diesen symbolischen Zeremonien Gnadenmittel zu sehen und durch sie Gottes Wohlgefallen erschmei- cheln zu wollen, ist ein Irrwahn von gleicher Art wie Zauberei und Fetischdienst. Der richtige Weg führt von der Tugend zur Begnadigung, nicht umgekehrt; Frömmigkeit ohne Sittlichkeit ist wertlos.

Die Kantische Religionslehre ist rationalistisch und moralistisch. Daran, daß die Religion ihre Grundlage an der Moral hat, sollte niemals gerüttelt werden. Aber das Fundament ist nicht das Gebäude, der Ur- sprung nicht der Inhalt und das Wesen der Sache selbst. Was das Wesen der Religion angeht, so schließt die Kantische Ansicht eine Er- gänzung im Sinne der Schleiermacherschen Gefühlslehre nicht aus, so wde sie mit ihrer spekulativen Deutung der christlichen Dogmen und ihrer Würdigung der Religionsgeschichte als einer allmählichen Um- wandlung des Geschichtsglaubens in einen Vernunftglauben die nachmals \on Hegel beschrittenen Bahnen vorzeichnet. Die Religionsphilosophie der Zukunft wird, worauf einige neuere Versuche (O. Pfleiderer, Bieder- mann, Lipsius) bereits hinzielen, eine Synthese von Kant, Schleiermache^ und Hegel sein müssen.

Während das Moralgesetz die Pflichtmäßigkeit nicht bloß der Hand- lung, sondern auch der Gesinnung fordert, ist das Rechtsgesetz zufrieden, wenn die gebotene Tat geschieht, gleichviel aus welchen Motiven. Das Recht als Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, betrifit allein die erzwingbaren Handlungen, ohne sich

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Kant.

um die Beweggründe zu kümmern. Das Privatrecht umfaßt das Sachen- oder Eigentums-, das persönliche oder Vertrags- und das dinglich-per- || sönHche (Ehe-)Recht; das öffentliche zerfällt in Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht. Originell und bedeutend ist Kants Theorie der Strafe. Er gründet sie nicht auf die Zweckmäßigkeitsrücksichten des Schutzes der Gesellschaft, der Abschreckung oder der Besserung des Verbrechers, sondern auf die erhabene Idee der Vergeltung {itis talionis), welche verlangt, daß jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind: Aug' um x\uge, Leben um Leben. In der Politik huldigt Kant, wenn auch minder entschieden als Rousseau und Fichte, demokratischen Grundsätzen. Wie er die treiheitlichen Bestrebungen der amerikanischen und französischen Revolution mit Interesse verfolgt, so bekämpft er den erblichen Adel als Hindernis der natürlichen Rechtsgleichheit und fordert Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung als sicherstes Mittel, Revo- lutionen vorzubeugen. Die einzig rechtmäßige Staatsverfassung ist die republikanische, d. h. diejenige, worin die ausführende Gewalt von der gesetzgebenden getrennt ist, im Gegensatz zur despotischen, in der sie in einer Hand vereinigt sind. Die beste Garantie für gerechte Re- gierung und bürgerliche Freiheit bietet die konstitutionelle Monarchie, in der das Volk durch Vertreter die Legislative, der Regent die voll- ziehende Gewalt, vom Volk gewählte Richter die Jurisdiktion üben. Der Vertrag, aus dem man sich den Staat entstanden zu denken hat, ist nicht als geschichtliches Faktum, sondern als Vernunftidee oder Regel zu fassen, nach der man beurteilen kann, ob die Gesetze gerecht sind oder nicht: was nicht das gesamte Volk über sich selbst beschUeßen kann, das kann auch der Gesetzgeber nicht über das Volk beschließen (vergl. S. 207). Dafür, daß nicht bloß die Individuen, sondern das Menschengeschlecht, nicht nur in technischer und intellektueller, sondern auch in moralischer Hinsicht, zum Besseren fortschreite, spre- chen Gründe sowohl der Vernunft (ohne den Glauben an solchen Fort- schritt könnte man nicht seine Pflicht erfüllen, an demselben mitzuar- beiten) als auch der Erfahrung (so vor allem die uneigennützige Teil- nahme, welche die Welt der französischen Revolution gezollt); die nie verstummende Klage aber, daß die Zeiten abwärts gehen, beweist nur, daß die Menschheit immer strengere Ansprüche an sich stellt. Der Anfang der Geschichte ist dorthin zu setzen, wo der Mensch aus dem Zustande der Unschuld, in welchem der Instinkt herrscht, heraustritt und anfängt, die Natur, der er bis dahin gehorcht hatte, sich zu unter- werfen. Das Ziel der Geschichte aber ist die Errichtung der vollkom- menen Staatsverfassung. Den Notstaat allmählich in einen Vernunftstaat zu verwandeln, dazu wirkt mit der Freiheit die Natur selbst zusammen, indem selbstsüchtiger Wetteifer und Handelsgeist zu ihrer eigenen Sicherheit Frieden, Ordnung und Gerechtigkeit erheischen und herbeizu-

Rechtslehre.

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führen helfen. Und so brauchen wir auch nicht daran zu verzweifehi. daß die Menschheit sich dem Idealzustande eines ewigen Friedens unter den Völkern (garantiert durch einen die Händel zwischen den einzelnen Staaten schiedsrichterlich schlichtenden Staatenbund) in be- ständigem Fortschritt annähere, so unausführbar die Idee vorderhand noch scheinen möge.

Wenn von irgendeinem Teile der Kantischen Philosophie, so gilt von dem praktischen, in welchem die christliche Moral ihren wissenschaft- lichen Ausdruck gefunden hat, das kühne Wort Fortlages, daß in ihr das System der absoluten Wahrheit erschienen sei. Mag man mit Recht tadeln, daß Kant auf Grund der schroffen Trennung von Legalität und Moralität, von Rechtspflicht und Tugendpflicht an den Instituten der Ehe und des Staats nur die rechtliche Seite berücksichtigt und übersehen hat, daß sie daneben doch auch eine sittliche Bedeutung und Aufgabe haben; mag man zu seiner, nur den Pflichten des Individuums zuge- wandten Ethik als Ergänzung eine soziale Moral verlangen, so sind doch diese und andere begründete Desiderate durch leichte Korrekturen und durch Aufsetzung eines zweiten Stockwerkes, bei Konservierung des Kantischen Grundbaues, zu befriedigen. Die Fundamente sind uner- schütterlich. Die Autonomie, das unbedingte Soll, der formale Charakter des Vernunftgesetzes und der unvergleichliche Wert der reinen, uneigen- nützigen Gesinnung, das sind die Ecksteine der Kantischen, nein, der Moral überhaupt.

III. Die Lehre vom Schönen und vom Zweck in der Natur.

Wir kennen die Gesetze, welche der Verstand der Natur, und die- jenigen, welche die Vernunft dem Willen vorschreibt. Wenn es ein Gebiet gibt, wo Sein und Sollen, Natur und Freiheit, die uns bisher für Gegensätze gelten mußten, sich versöhnen und schon aus der Lehre von den religiösen Postulaten (als praktischen Erkenntnissen oder An- nahmen über Seiendes zum Behufe des Seinsollenden) und den Andeu- tungen über den Fortschritt in der Geschichte (worin beide Mächte zu gleichem Ziele kooperieren) ließ sich entnehmen, daß es ein solches gebe , so ist der Quell seiner Gesetze offenbar in jenem Vermögen zu suchen, welches ebensosehr zwischen Verstand und Vernunft als zwischen Erkennen und Wollen vermittelt: in der Urteilskraft als dem oberen Gefühlsvermögen. Urteilskraft, allgemein gesprochen, ist das Vermögen, ein Besonderes als in einem Allgemeinen enthalten zu denken, und übt eine zwiefache Funktion: als „bestimmende" Urteilskraft sub- sumiert sie das Besondere unter ein gegebenes Allgemeines (ein Gesetz), als „reflektierende" sucht sie das Allgemeine für ein gegebenes Beson- deres. Da die erstere mit dem Verstände zusammenfällt, so haben wir

350

Kant.

es hier nur mit der reflektierenden, der Urteilskraft im engeren Sinne, zu tun, welche die Objekte nicht erkennt, sondern beurteilt, und zwar nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit. ^ Diese ist wiederum von doppelter Art. Real oder objektiv zweckmäßig (vollkommen) ist ein Gegenstand, wenn er mit seinem Wesen oder seiner Bestimmung übereinstimmt, formal oder subjektiv zweckmäßig (schön), wenn er der Natur unseres Erkenntnis\"ermögens angemessen ist. Die Wahr- nehmung einer Zweckmäßigkeit ist jederzeit mit einem Gefühl der Lust verbunden; im ersten Falle, wo die Lust auf einem Begriff vom Gegen- stande beruht, ist dieselbe eine logische Befriedigung, im zweiten, wo sie allein aus der Übereinstimmung des Objektes mit unseren Erkenntnis- kräften entspringt, ästhetisches Wohlgefallen. Die Gegenstände der teleo- logischen und der ästhetischen Urteilskraft, die zweckmäßigen und die schönen Gebilde der Natur und der Kunst machen das gesuchte Mittel- gebiet zwischen Natur und Freiheit aus, und auch hier wiederum tut sich die kritische Frage auf, wie in Ansehung derselben synthetische Urteile apriori möglich seien.

I. Die ästhetische Urteilskraft.

Für die Ästhetik Kants gilt nicht minder wie für seine theoretische und praktische Philosophie die Formel, daß sie auf Überwindung des Gegensatzes einer empiristischen und einer rationalistischen Erklärung und auf Findung eines eigenartigen Mittelwegs zwischen beiden Extremen ausgehe. Weder Burke noch Baumgarten befriedigte ihn. Die englische Ästhetik war sensualistisch, die deutsche, d. h. die der Wolffischen Schule, war rationalistisch. Jene identifizierte das Schöne mit dem Angenehmen, diese mit dem Vollkommenen oder mit der Angemessenheit des Gegen- standes zu seinem Begriff; dort wird der ästhetische Genuß als sinnliche Lust, hier wird er als eine niedere verworrene Erkenntnisart behandelt, in beiden Fällen sein eigentümliches Wesen verkannt. Gegen die Ver- sinnlichung des ästhetischen Genusses muß sein Charakter als Urteil, gegen die Theoretisierung desselben sein Charakter als Gefühl geltend gemacht werden. Aus diesem Verhältnis der Kantischen Schönheitslehre zu der der Vorgänger erklärt sich ebensosehr ihre Grundrichtuns: wie

1 Die aus dem Verstände entspringenden allgemeinen Gesetze, denen sich jede Natur fügen muß, um Erfahrungsobjekt für uns zu werden, bestimmen nichts über die besondere Gestaltung der uns gegebenen Wirklichkeit, wir vermögen die speziellen Naturgesetze nicht aus ihnen zu deduzieren. Gleichwohl gestattet uns die Natur unseres Erkenntnisvermögens nicht, die empirische Mannigfaltigkeit unserer Welt als eine zufällige hinzunehmen, sondern treibt uns, sie als zweckmäßig oder unsejer Er- kenntnis angepaßt zu betrachten und jene besonderen Gesetze so anzusehen, als hätte ein Verstand sie gegeben, um eine zusammenhängende Erfahrung zu ermöglichen.

Kritik DER Urteilskraft. tct

dasjenige, was als mangelliaft und verfehlt an ihr erscheint. Jedenfalls zeigt sich Kant auch auf diesem Gebiete als der unerreichte Meister vorsichtiger Analyse.

Die erste Aufgabe der Ästhetik ist die sorgfältige Abgrenzung ihres Gegenstandes gegen verwandte Erscheinungen. Das Schöne hat Be- rührungspunkte mit dem Angenehmen, dem Guten, dem Vollkommenen, dem Nützlichen und dem Wahren. Von dem Wahren unterscheidet es sich dadurch, daß es Gegenstand nicht der Erkenntnis, sondern des Wohlgefallens ist. Fragen wir weiterhin nach dem Unterschiede des Wohlgefallens am Schönen von dem Wohlgefallen am Angenehmen, (an sich) Guten und (zu etwas, als Mittel Guten oder) Nützlichen, welche drei dies gemeinsam haben, daß sie Gegenstände des Begehrens des sinnlichen Bedürfnisses, des klugen Verlangens, des sittlichen Wollens sind, so zeigt sich, daß das Schöne durch seine bloße Vorstellung (d. h. unabhängig von der realen Existenz des Gegenstandes) gefällt, daß die Freude am Schönen eine kontemplative Lust ist. Es will nur betrachtet, aber weder sinnlich genossen noch praktisch gebraucht werden, noch ist die Herstellung desselben Pflicht für jedermann. Das sinnliche, das kluge, das moralische Begehren hat stets ein „Interesse" an dem wirklichen Dasein des Gegenstandes, das Schöne dagegen weckt ein uninteressiertes Wohlgefallen.

Der Qualität nach ist das Schöne Gegenstand eines interesselosen, freien (durch kein Interesse gebundenen) und spielenden Wohlgefallens. Der Quantität und Modalität nach beansprucht das Geschmacksurteil eine allgemeine und notwendige Geltung, ohne daß dieselbe sich auf Begriffe gründete. Hierdurch sind weitere Unterschiede des Schönen gegen das Angenehme und das Gute gesetzt. Allgemein gefällt auch das Gute, aber es gefällt durch Begriffe; ohne Begriff gefällt auch das Angenehme,' aber es gefällt nicht allgemein.

Gut ist, was der Vernunft durch den Begriff gefällt; angenehm ist, was den Sinnen in der Empfindung gefällt. Schön ist, was ohne Be- griff allgemein und not wendig gefällt. Das moralische Urteil for- dert die Zustimmung jedermanns und seine allgemeine Geltung ist be- weisbar. Das Urteil über Annehmlichkeit ist keiner Demonstration fähig, aber es prätendiert auch nicht, allgemeingültig zu sein, man gesteht willig zu, daß, was für den einen angenehm sei, es nicht für jeden an- deren zu sein brauche. Hinsichtlich des Schönen dagegen beruhigt man sich nicht dabei, daß der Geschmack der Menschen verschieden sei, sondern erwartet, daß es allen gefalle. Wir sinnen jedem an, unserem Geschmacksurteil zuzustimmen, obwohl sich dasselbe auf keine Beweise zu stützen vermag.

Hier liegt eine Schwierigkeit: das Geschmacksurteil ist, da es nicht eine Beschaffenheit des Objekts, sondern einen Gemütszustand im Be-

352 Kant.

trachter, ein Gefühl, ein Wohlgefallen ausspricht, rein subjektiv und erhebt doch den Anspruch, allgemein mitteilbar zu sein. Sie ist nur zu heben unter der Annahme eines ästhetischen Gemeinsinnes, einer in allen Menschen übereinstimmenden Einrichtung der Vorstellungs- kräfte, die den gemeinsamen Maßstab für die Wohlgefälligkeit des Ein- drucks hergibt. Das Angenehme wendet sich an dasjenige im Menschen, was bei dem einen anders ist als bei dem andern, das Schöne an das- jenige, was in allen gleichartig funktioniert; jenes an die passive Sinn- lichkeit, dieses an die tätige Urteilskraft. Das Angenehme hat wegen der unberechenbaren Verschiedenheit der durch leibliche Zustände mit- bedingten sinnlichen Neigungen gar keine, das Gute eine objektive, das Schöne eine subjektive Allgemeinheit. Das Urteil über Annehm- lichkeit hat einen empirischen, das über Schönheit einen apriorischen Bestimmungsgrund: dort folgt das Urteil dem Gefühl, hier geht es dem- selben voraus.

Ein Gegenstand wird schön gefunden (denn nur dies darf man streng genommen sagen, nicht, daß er schön sei), wenn seine Form die menschlichen Gemütskräfte in eine harmonische Stimmung, das An- schauungsvermögen mit dem Denkvermögen in einhellige Tätigkeit ver- setzt, eine wohltuende Proportion zwischen Einbildungskraft und Verstand hervorbringt. Indem der schöne Gegenstand Anlaß gibt zu einem harmonischen Spiel der Erkenntnistätigkeiten (nämlich zur be- quemen Zusammenfassung des Mannigfaltigen zur Einheit), ist er für uns, für unsere Tätigkeit des Auffassens zweckmäßig; er ist hiermit gewinnen wir eine Bestimmung des Geschmacksurteils nach dem Ge- sichtspunkt der Relation zweckmäßig ohne bestimmten Zweck. Wir wissen recht gut, daß eine Landschaft, die uns anspricht, nicht eigens für den Zweck, uns zu ergötzen, . arrangiert worden ist, und wün- schen an einem Kunstwerk nichts von der Absicht des Gefallenwollens zu bemerken. Vollkommen ist ein Gegenstand, wenn er zweckmäßig ist für sich selbst (seinem Begriffe entspricht), nützlich, wenn er zweckmäßig ist für unser Begehren (einer praktischen Absicht des Menschen ent- spricht), schön, wenn die Anordnung seiner Teile zweckmäßig ist für das Verhältnis zwischen Phantasie und Verstand des Betrachters (in ungewöhnlichem Maße den Bedingungen unserer Auffassung entspricht). Vollkommenheit ist innere (reale, objektive), Nützlichkeit äußere Zweck- mäßigkeit, beides für einen bestimmten Zweck, Schönheit dagegen zweck- lose, formelle, subjektive Zweckmäßigkeit. Das Schöne gefällt durch seine bloße Form. Das Wohlgefallen am Vollkommenen ist begrifflicher oder intellektueller Art, dasjenige am Schönen gefühlsmäßiger oder ästhetischer Natur.

Die Zusammenfassung der vier Bestimmungen ergibt eine erschöp- fende Definition des Schönen; schön ist, was durch seine bloße Form

Das Schöne.

353

(Zweckmäßigkeit ohne Vorstellung eines Zweckes) allgemein und not- wendig ein interesseloses Wohlgefallen erweckt.

Da die Wohlgefälligkeit des Schönen darauf beruht, daß es zwischen Einbildungskraft und Verstand, also zwischen sinnlicher und denkender Auffassung eine lustvolle Harmonie stiftet, so ist ästhetisches Verhalten nur in sinnlich-vernünftigen Wesen möglich. Angenehmes gibt es auch für das Tier, das Gute ist Gegenstand der Billigung auch für reine Geister, Schönes gibt es nur für die Menschheit. Sehr fein und glücklich weiß Kant die Unterschiede auch im sprachlichen Ausdruck zu fixieren: das Angenehme vergnügt und erregt Neigung, das Gute wird gebilligt und erweckt Achtung, das Schöne „gefällt" und findet „Gunst".

Im Fortgange der Untersuchung erfährt der Satz, daß Schönheit allein auf der Form beruhe und der Begriff, der Zweck, das Wesen des Gegenstandes bei dem ästhetischen Urteil gar nicht in Betracht komme, eine Einschränkung. In voller Strenge paßt derselbe nur auf eine bestimmte und zwar untergeordnete Klasse de.> Schönen, welche Kant unter dem Namen der reinen oder freien Schönheit absondert. Er stellt ihr die anhängende Schönheit gegenüber als diejenige, welche einen Gattungsbegriff voraussetzt, dem die Form zu entsprechen, den sie adäquat darzustellen habe. Zu sehr Purist, um nicht das Hinzii- treten einer intellektuellen Lust als eine Trübung der „Reinheit" des ästhetischen Wohlgefallens zu kennzeichnen, ist er doch billig genug, den höheren Wert der anhängenden Schönheit einzuräumen. Denn fast die gesamte Kunstschönheit und ein beträchtlicher Teil der Naturschönheit gehört der letzteren Klasse an, die man heute als ideale und charak- teristische Schönheit bezeichnet. Beispiele freier oder rein formaler Schönheit sind Tapetenmuster, Arabesken, Springbrunnen, Blumen, Land- schaften, deren Wohlgefälligkeit einzig auf der Proportion der Form und der Verhältnisse, nicht aber auf deren Angemessenheit zu einer vorausgesetzten Bedeutung und Bestimmung des Dinges beruht. Ein Gebäude hingegen ein Wohnhaus, ein Gartenhaus, ein Tempel wird nur schön gefunden, wenn wir an demselben nicht bloß harmo- nische Verhältnisse der Teile untereinander, sondern außerdem eine Übereinstimmung zwischen der Form und dem Zwecke oder Gattungs- begriffe wahrnehmen: eine Kirche darf nicht wie ein Schweizerhäuschen aus- sehen. Hier wird die äußere Gestalt mit einem inneren Wesen verglichen, Harmonie zwischen Form und Inhalt verlangt. Die anhängende Schön- heit ist die bedeutungs- und ausdrucksvolle, die, obwohl das Wohlgefallen an ihr nicht „rein" ästhetisch ist, dennoch höher steht als die reine, weil sie dem Verstände auch etwas zu denken gibt, also den ganzen Geist beschäftigt.

Eine wertvolle Ergänzung erhalten die analytischen Untersuchungen

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 2^

354 ^^NT.

über das Wesen des Schönen durch die klassische Begriffsbestimmung desGenies.i Kant gibt eine doppelte Definition des produktiven Talents, eine formelle und eine genetische.

Das Naturschöne ist ein schönes Ding, das Kunstschöne eine schöne Vorstellung von einem Dinge. Die Gabe, einen an sich vielleicht häß- lichen Gegenstand gefällig darzustellen, heißt Geschmack. Zur Beur- teilung des Schönen reicht es hin, Geschmack zu besitzen, zur Hervor- bringung desselben ist außerdem noch ein anderes Talent erforderlich: Geist oder Genie. Denn ein Kunsterzeugnis kann den Erfordernissen des Geschmacks genügen und doch nicht ästhetisch befriedigen, es kann bei formeller Tadellosigkeit geistlos sein.

Während die schöne Natur so aussieht, als sei sie Kunst (als sei sie auf unseren Genuß berechnet), soll die schöne Kunst wie Natur aus- sehen, darf, ob sie zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen, soll eine zwar pünktliche, aber nicht peinliche (d. h. den Gemütskräften des Künstlers Fesseln anlegende) Befolgung der Regeln zeigen. Dies ist dann der Fall, wenn der Künstler die Regel in sich selbst trägt, wenn er genial ist. Genie ist die angeborene Anlage, (durch) welche (die Natur) der Kunst die Regel gibt; seine Merkmale sind Eigenart. Mustergültigkeit und Unreflektiertheit. Es schafft nicht nach bestimmten lernbaren Regeln, sondern ist sich selbst Gesetz, es ist originell. Es schafft instinktiv, ohne Bewußtsein der Regel und kann nicht be- schreiben, wie es sein Produkt zustande bringt. Es schafft exempla- rische Werke, die andere geniale Naturen zur Nachfolge, nicht zur Nachahmung reizen. Nur in der Kunst gibt es Genies, d. h. Geister, welche schlechterdings Unlernbares hervorbringen, während die Größen der Wissenschaft sich nur dem Grade, nicht der Art nach von den Nach- ahmern und Lehrlingen unterscheiden und, was sie entdecken, nach Regeln lernbar ist.

Es steht hiernach fest, woran das Genie erkennbar ist. Fragt man, durch welche psychologischen Faktoren es zustande kommt, so lautet die Antwort: Genialität setzt ein gewisses günstiges Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Verstand voraus. Genie ist das Vermögen der Dar- stellung ästhetischer Ideen, ästhetische Idee aber ist eine das Gemüt belebende Vorstellung der Einbildungskraft, welche zu einem Verstandes- begriff viel Unnennbares hinzudenken läßt, was dazu gehört, aber nicht in einen bestimmten Begriff zusammengefaßt werden kann. Mit Hilfe dieses Gedankens löst Kant die Antinomie der ästhetischen Urteilskraft. Thesis: das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffe, denn sonst

1 Otto Schlapp (Kants Lehre vom Genie, Göttingen 1901) hat es wahrschein- lich gemacht, daß Kant Alexander Gerards Essais über den Geschmack (1758, deutsch 1766) und über das Genie (1774, deutsch von Garve 1776) gekannt und be- nutzt hat.

Das Genie. Die ästhetische Idee. Die Künste. -255

ließe sich darüber disputieren (durch Beweis entscheiden). Antithesis: es gründet sich auf Begriffe, denn sonst ließe sich darüber nicht einmal streiten (eine Einstimmung anstreben). Beide Sätze sind verträglich, denn dort wird unter Begriff etwas anderes verstanden als hier. Was die These von dem Schönheitsurteil mit Recht fernhalten will, ist der bestimmte Verstandesbegriff, was die Antithese mit gleichem Recht für unentbehrlich erklärt, ist der unbestimmte Begriff, die ästhetische Idee.

Den freiesten Spielraum gewährt der Einbildungskraft die Poesie, die höchste unter allen Künsten, welche mit der (wegen der ernsten Absicht des Täuschens „hinterlistigen") Beredsamkeit die Gruppe der redenden Künste bildet. Zur Klasse der bildenden Künste gehören Architektur, Skulptur und Malerei als Zeichenkunst. Ein dritte Gruppe, die Kunst des schönen Spiels der Empfindungen, umfaßt die Malerei als Farben- kunst und die Musik, die als „schone" Kunst unmittelbar hinter die Dicht- kunst, als „angenehme" Kunst aber ganz untenan und als Tonspiel in die Nachbarschaft der unterhaltenden Glücks- und witzigen Gedankenspiele ge- stellt wird. Die Erklärung des Komischen (das Lächerliche beruht nach Kant auf der plötzlichen Auflösung einer gespannten Erwartung in nichts) legt ein (wohl übertrieben) großes Gewicht auf die physiologischen Folge- erscheinungen, auf die das Lebensgefühl steigernde, der Gesundheit för- derliche körperliche Erschütterung, welche die wechselnde An- und Ab- spannung der Seele begleitet.

Neben der freien und anhängenden Schönheit gibt es noch eine dritte Art ästhetischer Wirkung: das Erhabene. Das Schöne gefällt durch seine begrenzte Form. Aber auch das Unbegrenzte und Formlose kann ästhetisch wirken: was über alle Vergleichung groß ist, beurteilen wir als erhaben. Nun ist die Größe entweder eine extensive der Aus- dehnung in Raum und Zeit, oder eine intensive der Kraft oder Macht; darnach gibt es zwei Arten des Erhabenen. Mathematisch erhaben ist diejenige Erscheinung, welche der Zusammenfassungsfähigkeit mensch- licher Einbildungskraft spottet, oder jedes Maß unserer Anschauung über- schreitet, wie der Ozean und der gestirnte Himmel; dynamisch erhaben oder gewaltig diejenige, welche jeden denkbaren Widerstand übersteigt, wie die furchtbaren Naturgewalten, Feuersbrunst, Überschwemmung, Erd- beben, Orkan, Gewitter. Das erstere bezieht sich auf das Erkenntnis-, das letztere auf das Begehrungsvermögen. Durch das Schöne wurden Ein- bildungkraft und Verstand in Einklang gesetzt, durch das Erhabene wird die Phantasie mit der Vernunft in ein gewisses günstiges, jedoch nicht ohne weiteres als Harmonie zu bezeichnendes Verhältnis gebracht. Dort entstand eine ruhige positiv lustvolle Stimmung, hier wird eine Er- schütterung, eine indirekte und negative, aus Unlust hervorgehende Lust erzeugt. Da das Erhabene die Leistungsfähigkeit unserer sinnlichen Vor- stellung überschreitet und der Einbildungskraft Gewalt antut, so fühlen

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356

Kant.

wir uns beim Anblick des schlechthin Großen zunächst klein, unfähig, es mit vmserem sinnlichen Blick zu umspannen. Die Sinnlichkeit ist dem Eindruck nicht gewachsen, er erscheint zunächst als zweckwidrig und ge- waltsam. Auf diesen demütigenden Eindruck folgt jedoch schnell eine Reaktion, die vorerst gehemmten Lebenskräfte werden zu um so lebhaf- terer Tätigkeit angeregt. Und zwar ist es der sinnliche Teil des Men- schen, welcher niedergebeugt, und der geistige, welcher erhoben wird : die Niederlage der Sinnlichkeit wird zum Triumph für die Vernunft. Der Anblick des Erhabenen ruft nämlich die Idee des Unbedingten, Un- endlichen wach. Diese Idee kann nie durch eine Anschauung angemessen dargestellt, sondern nur durch die Unangemessenheit alles Sinnlichen für die Darstellung derselben rege gemacht werden, das Unendliche wird durch seine Undarstellbarkeit dargestellt. Wir können das Unendliche nicht an- schauen, aber wir können es denken. An der Vernunft (als dem Vermögen der Ideen, dem Vermögen, das Unendliche zu denken) gemessen erscheint selbst das Größte, was in der Sinnenwelt vorkommen kann, als klein; sie ist das absolut Große. „Erhaben ist, was auch nur denken zu können, ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden Maßstab der Sinne über- trifft," „Erhaben ist das, was durch seinen Widerstreit gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt." Der Widerstreit zwischen Phantasie und Vernunft, die Unzulänglichkeit der ersteren zur Erreichung der Vernunftidee bringt uns die Vorzüglichkeit der Vernunft zum Bewußtsein. Gerade dadurch, daß wir uns als sinnliche Wesen klein fühlen, fühlen wir uns groß als vernünftige. Die (dem moralischen Gefühl der Achtung ver- wandte und gleich ihr mit einer gewissen Unlust vermischte) Lust, die sich diesem Bewußtsein innerer Größe beigesellt, erklärt sich daraus, daß sich die Einbildungskraft, indem sie die Vernunft als das Höhere anerkennt, zu dieser in das angemessene, zweckmäßige Verhältnis der Unterordnung setzt. Aus dem Bisherigen ergibt sich, daß das wahrhaft Erhabene die Vernunft ist, die moralische Natur des Menschen, seine über das Dies- seits hinausweisende Anlage und Bestimmung. „Im Raum wohnt das Erhabene nicht," heißt es bei Schiller, und Kant sagt: „Die Erhabenheit ist in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemüte enthalten, sofern wir uns bewußt werden, der Natur in uns und außer uns über- legen zu sein." Gleichwohl übertragen wir, da wir in der Betrachtung ■ganz beim Gegenstand verweilen, ohne auf uus selbst zu reflektieren, die von Rechts wegen der Vernunft und ihrer Idee des Unendlichen zu zollende Bewunderung durch Subreption auf das Objekt, durch das wir zu jener i Idee veranlaßt werden, und nennen dieses selbst, statt der Stimmung, die ' es iii uns weckt, erhaben.

' •-■ Wenn das Erhabene den Punkt bezeichnet, wo das Ästhetische die "Grenze des Moralischen berührt, so ist doch auch das Schöne nicht ohne j jede Beziehung zum Guten. Indem es die vom Moralgesetz geforderte

Das Erhabene. Dek Organismus.

357

Übereinstimmung der Sinnlichkeit mit der Vernunft in der ästhetischen Anschauung (als einen freiwilligen Gehorsam der Einbildungskraft gegen die Gesetzmäßigkeit des Verstandes) verwirklicht zeigt, läßt es uns in er- hebender Weise inne werden, daß der Gegensatz versöhnbar, das Vernünftige im Sinnlichen darstellbar sei, und wird so zum „Symbol des Guten".

2. Die teleologische Urteilskraft.

Die teleologische Beurteilung ist keine Erkenntnis, sondern eine Be- trachtungsweise, die dort Platz greift, wo die kausale oder mechanische Erklärung uns im Stiche läßt. Dies ist nicht der Fall, wenn die Zweck- mäßigkeit eine äußere, relative der Nützlichkeit für ein anderes ist. Daß der Sand des Meeresufers einen guten Boden für die Fichte abgibt, be- fördert weder noch verwehrt es eine kausale Erkenntnis desselben. Nur die innere Zweckmäßigkeit, wie sie uns in den organischen Naturpro- dukten entgegentritt, zwingt die mechanische Erklärung, Halt zu machen. Der Organismus zeichnet sich vor den unorganischen Gebilden dadurch aus, daß er von sich selbst Ursache und Wirkung zugleich ist, sich selbst hervorbringt, und zwar als Gattung (die Eiche entsteht aus der Eichel und trägt selbst wiederum Eicheln) und als Individuum (Selbsterhaltung, Wachstum und Ersatz abgehender Teile durch neue), und daß die sich gegenseitig erzeugenden Teile allesamt nach ihrer Form und Existenz durch das Ganze bedingt sind. Das letztere, daß das Ganze der Bestimmungs- grund für die Teile sei, ist uns bei menschlichen Artefakten vollkommen einleuchtend. Denn da ist es die Vorstellung des Ganzen (die Idee der gewünschten Leistung), welche dem Dasein und der Gestalt der Teile {der Maschine) als Grund vorhergeht. Wo aber ist das Subjekt, das die Organismen nach seinen Zweckvorstellungen zusammensetzte ? Wir dürfen weder die Natur selbst mit zwecktätig wirkenden Kräften ausstatten, noch eine außerweltliche Intelligenz in das Naturgetriebe eingreifend denken, beides wäre der Tod der Naturphilosophie; der Hylozoist begabt die Materie mit einer Eigenschaft, die ihrem Wesen widerstreitet, der Theist überschreitet die Grenze des Erfahrbaren. Vor allem aber scheitert die Analogie der organischen Naturprodukte mit den Produkten der mensch- lichen Technik daran, daß Maschinen sich nicht fortpflanzen und ihre Teile einander nicht hervorbringen können, während der Organismus sich selbst organisiert.

Für unseren diskursiven Verstand ist eine Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und den Teilen völlig unfaßbar. Wir begreifen es, wenn (mechanisch) die Teile dem Ganzen oder (teleologisch) die Vorstellung des Ganzen den Teilen vorhergeht; aber das Ganze selbst (nicht die Idee desselben) als Grund der Teile zu denken, wozu uns die Organismen auf-

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Kant.

fordern, ist uns unmöglich. Anders stünde es, wenn uns ein intuitiver Verstand zuteil geworden wäre. Für ein Wesen, das eine intellektuelle Anschauung besäße, würde mit dem Gegensatz von Denken und Anschauen auch der von Möglichkeit und Wirklichkeit, Notwendigkeit und Zufällig- keit, Mechanismus und Teleologie wegfallen; ihm würde alles Mögliche (was es denkt) zugleich ein Wirkliches (für die Anschauung Vorhandenes), alles uns zufällig unter mehreren Möglichkeiten durch eine Absicht und zu einem Zwecke auserwählt Erscheinende auch notwendig, mit dem Ganzen zugleich die ihm entsprechenden Teile gegeben und folglich Naturmechanismus und Zweckverknüpfung identisch sein, während für uns, denen der anschauende Verstand versagt ist, beides auseinanderfällt. Somit ist die Zweckbetrachtung bloß eine menschliche Vorstellungsart, ein sub- jektiver Grundsatz. Wir dürfen nicht sagen, eine mechanische Entstehung der Lebewesen sei unmöglich, sondern nur, wir vermögen dieselbe nicht einzusehen. Wüßten wir, wie ein Grashalm oder ein Frosch aus mechanischen Kräften entstehe, so würden wir auch imstande sein, solche hervorzubringen.

Die Antinomie der teleologischen Urteilskraft These: alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen muß als nach bloß mechanischen Ge- setzen möglich beurteilt werden; Antithese: einige Produkte der materiellen Natur können nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden, ihre Beurteilung erfordert Kausalität der Endursachen ist un- lösbar, solange beide Sätze als konstitutive Prinzipien gelten; sie ist lösbar, wenn sie als regulative Grundsätze oder Gesichtspunkte der Beurteilung gefaßt werden. Denn es schließt durchaus keinen Widerstreit in sich, einerseits, soweit es irgend angeht, die Nachforschung nach mechanischen Ursachen fortzusetzen, anderseits sich darüber klar zu sein, daß dieselbe doch schließlich einen Rest übrig lasse, den wir uns ohne Zuhilfenahme des Zweckbegriffs nicht verständlich zu maclien vermögen. Angenommen, es gelänge, die Erklärung des Lebendigen aus Lebendigem, aus den vor- elterlichen Organismen (denn die generatio aequivora ist eine ungereimte Theorie) so weit zu führen, daß sich das gesamte organische Reich als eine große, von einer Urform als gemeinschaftlicher Mutter abstammende Fa- milie darstellte, so wäre der Begriff der Zweckursache doch eben nur hin ausgerückt, aber nicht eliminiert: der Ursprung der ersten Organisation wird sich immer der mechanischen Erklärung entziehen. Außer dieser Aufgabe, die kausale Ableitung abzugrenzen und die Lücke der Erkenntnis " durch eine notwendige, wenn auch subjektive Betrachtungsart auszufüllen, hat jedoch die Zweckidee noch die andere, die Erkenntnis aus wirkenden Ursachen direkt durch Aufdeckung neuer kausaler Probleme zu fördern. So verdankt z. B. die Physiologie der Frage nach dem Wozu eines Or- ganes die Anregung zur Auffindung bisher unbemerkter mechanischer Zusammenhänge (vergl. auch S. 334, Anm. i). Als Dogmen sind Me-

Teleologie. t cq

chanismus und Teleologie unvereinbar und unmöglich, als Reo-eln oder Maximen der Forschung sind sie verträglich und die eine so unentbehrlich wie die andere.

Nachdem das durch Mittel mechanischer Erklärung unlösbare Problem des Lebens die Anwendung des Zweckbegriffs notwendig gemacht, muß wenigstens versuchsweise der teleologische Grundsatz auch auf die ganze Natur ausgedehnt werden. Diese Überlegung gipfelt in der Erkläruno-, daß für den Endzweck der Welt der Mensch als Subjekt der Moralität zu gelten habe, denn nur bei einem sittlichen Wesen könne nicht weiter ge- fragt werden, wozu es existiere, und wiederholt den moralischen Beweis für das Dasein einer höchsten Vernunft, durch welchen die zum Erweise einer einigen, absolut vollkommenen Gottheit nicht zureichende physische Theologie ergänzt werde, so daß die dritte Kritik, gleich den beiden vorhergegangenen, mit der Gottesidee als Gegenstand des praktischen Glaubens abschließt.

Drei originelle und folgenschwere Gedankenpaare sind es, die den Namen Kants am Himmel der Philosophie als einen Stern erster Größe strahlen machen: die Forderung einer Erkenntniskritik nebst dem Nach- weise apriorischer Erkenntnisformen, die sittliche Autonomie und der kate- gorische Imperativ, die regulative Geltung der Vernunftideen und die prak- tische Erkenntnis des Transzendenten. Keine philosophische Theorie, keine wissenschaftliche Hypothese wird sich fernerhin der Pflicht entziehen dürfen, Wert und Berechtigung ihrer Aufstellungen daraufhin zu prüfen, ob sie sich innerhalb der Kompetenzsphäre menschlicher Vernunft halten; gleichviel, ob Kants Bestimmung des Ursprungs und der Grenzen der Erkenntnis auf dauernden Beifall rechnen darf, der kritische Grundge- danke der unerläßlichen Reflexion auf Natur und Tragweite unseres Erkenntnisvermögens behält für alle Fälle seine Gültigkeit und macht allem Philosophieren ins Blaue hinein ein Ende, i Kein ethisches System wird ungestraft an der Selbstgesetzgebung der Vernunft und dem un- bedingten Soll (der in die Sprache des Begriffs übersetzten Gewissens- mahnung) achtlos vorübergehen; überall wird man Wesen und Wert des sittlichen Willens vergeblich suchen, wenn man sie nicht dort erkennt, wo Kant dieselben entdeckt hat: in der uneigennützigen Gesinnung, in derjenigen Maxime, die sich zum allgemeinen Gesetze für alle vernünf- tigen Wesen eignet. Die Lehre von den Ideen aber läßt jenseits der Tageshelle der Erkenntnis der Erscheinungen die Mondscheinlandschaft einer anderen Betrachtungsart der Dinge2 aufsteigen, in welcher die dort

1 „Eben darin besteht Vernunft, daß wir von allen unseren Begriffen, ISIeinungen und Behauptungen, es sei aus objektiven oder subjektiven Gründen, Rechenschaft geben können."

~ Auf die positive Seite der Kantischen Ideenlehre sind diejenigen /u verweisen,

36o

Kant.

unstillbaren Wünsche des Herzens und Forderungen der Vernunft Be- friedigung finden.

Die Wirkung der drei Kritiken auf das Publikum war eine sehr verschiedene. Das erste Hauptwerk erschreckte zuerst durch die Schärfe der Verneinung, die Zerstörung der dogmatischen Metaphysik, die sich den frühesten Lesern als Kern der Sache präsentierte; Kant war ihnen der alles Zermalmende (so bezeichnet ihn Mendelssohn im Vorwort zu den „Morgenstunden"). Darauf hob die Wissenschaftslehre die positive, kühn erobernde Seite, die Aufsuchung der Bedingungen des Erfahrungs- wissens hervor. In neuerer Zeit bemühte man sich, beiden Seiten ge- recht zu werden, aber, dem überkecken Gebaren der einem erneuten Dogmatismus verfallenen konstruktiven Denker gegenüber, mehr im Sinne der Vorsicht und der Resignation. Das zweite Hauptwerk entzündete flammenden Enthusiasmus; „Kant ist kein Licht der Welt," schreibt Jean Paul im Hinblick auf die Kritik der praktischen Vernunft, „sondern ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal." Das dritte erwarb sich durch seine Gegenstände und durch die Absicht synthetischer Ver- söhnung zwischen vorher streng geschiedenen Gebieten die Sympathie unserer Dichterheroen Schiller und Goethe und weckte in einem jungen spekulativen Kopfe die Ideen zur Naturphilosophie. Schelling reklamiert den intuitiven Verstand, den Kant problematiscli dem Urgeiste beigelegt, als Eigentum des Philosophen, nachdem Fichte darauf aufmerksam ge- macht hatte, daß das von Kant nicht näher untersuchte Bewußtsein des kategorischen Imperativs, weil darin Erkennen und Schaffen zusammen- falle, nichts anderes als intellektuelle Anschauung sein könne. Indessen gewinnt Fichte das Material seines Systems nicht aus der Kritik der Urteilskraft, die auch er hochschätzte, sondern aus den beiden früheren Kritiken, deren Grundbegriffe er dem Winke folgend, daß praktische imd theoretische Vernunft nur verschiedene Anwendungen einer und derselben Vernunft seien in den engsten Zusammenhang setzt. Er vereinigt den ZentralbegrifF der praktischen Philosophie, die Freiheit und Selbstgesetzgebung des Willens, mit dem leitenden Prinzip der theo- retischen, der Spontaneität des Verstandes, unter der Ursynthesis des reinen Ich, um aus dessen Tätigkeit nun nicht nur die apriorischen Erkenntnisformen, sondern auch, unter Beseitigung des Dinges an sich, den gesamten Inhalt des empirischen Bewußtseins zu deduzieren. Was zwischen die Kantische Vernunftkritik und die Ausbildung des konse-

welche durch die Vernvmftkritik jede künftige Metaphysik für widerlegt halten. Kant gesteht zu, daß die mechanische Erklärung die Vernunft nicht befriedige und neben ihr eine Beurteilung nach Ideen berechtigt sei. Wenn demnach die Spekulation der konstruktiven Schule eine ideale Deutung der Welt gibt, so darf man darin eine erweiterte Anwendung „regulativer Prinzipien" erblicken, die erst dann ihre Befugnisse überschreitet, wenn sie sich für ,, objektive Erkenntnis" ausgibt.

Übergang zu Fichte. ^ßj

quenten Idealismus durch Fichte fällt, jene kritisierend und ergänzend, diesem vorarbeitend, mag in einem Anhang überblickt werden.

Von Kant zu Fichte.

Um mit den Erscheinungen zu beginnen, welche der Kantischen Philo- sophie zur Verbreitung und Anerkennung verhalfen, so nehmen unter ihnen, neben Kants Prolegomenen, die „Erläuterungen über die Kritik der reinen Vernunft" vom Königsberger Hofprediger Joh. Schul (t)z(e) 1784 (neu herausgeg. v. R. Hafferberg, Jena 1898), die flüssig geschriebenen „Briefe über die Kantische Philosophie" von K. L. Reinhold in Wie- lands deutschem Merkur 1786 1787, sowie die 1785 gegründete, von dem Philologen Schütz und dem Juristen Hufeland redigierte Jenaer Allgemeine Literaturzeitung, die sich der neuen Lehre zum Organ darbot, die erste Stelle ein. Jena wurde Residenz und Hauptfestung des Kantianismus; mit dem Beginn des XIX. Jahrhunderts gehörten dem- selben fast alle deutschen Katheder, und auch die nichtphilosophischen Wissenschaften empfingen von ihm Anregungen und leitende Begriffe.

Im gegnerischen Lager war man nicht minder rührig. Der Wolffianer Joh. Aug. Eberhard', seit 1778 Professor in Halle, gründete eine eigene Zeitschrift zum Zweck der Bestreitung der Kantischen Philo- sophie: das Philosophische Magazin 1789, 1792 95 fortgesetzt als Philo- sophisches Archiv, Die Aufklärer sammeln ihre Streitkräfte in der von den Göttingern Feder und Meiners herausgegebenen Philosophischen Bibliothek 1788 91. Nicolai schwenkt in der „Allgemeinen deutschen Bibliothek" und in satirischen Romanen die Fahne des gesunden Menschen- verstandes und wird von den Heroen der Poesie und der Philosophie ver- dientermaßen gezüchtigt (vgl. die Goethe-Schillerschen Xenien, Kants Briefe über Buchmacherei, Fichtes derbe Abfertigung „Nicolais Leben und sonder- bare Meinungen"). Die Angriffe der Glaubensphilosophen sind früher (S. 271 276) berücksichtigt worden.

Der Fortschritt von Kant zu Fichte bereitet sich sowohl auf befreun- deter als auf feindlicher Seite vor, und zwar an zwei Punkten. Es wird teils eine formelle Ergänzung (ein oberstes Prinzip, woraus die Kantischen Ergebnisse abzuleiten und wodurch der Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand zu überwinden wäre), teils eine inhaltliche Korrektur (Be- seitigung des Dinges an sich) und Fortbildung (zum radikalen Idealismus) gefordert. Die erste Aufgabe stellt sich Karl Leonhard Rein hold (geb. 1758 zu Wien, aus dem Barnabitenorden entflohen, 1787 1794 Professor in Jena, dann als Nachfolger von Tetens in Kiel, wo er 1823

1 Eberhard: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens, von der Ber- liner Akademie gekrönte Preisschrift 1776; Kurzer Abriß der Metaphysik 1794.

002 Reinhold. Aenesidem-Schulze.

starb) in seiner „Neuen Theorie des Vorstellungsvermögens" 1789. Die von Kant musterhaft gelieferte Theorie des Erkenntnisvermögens for- dert als Fundament eine Theorie des Vorst eil ungs Vermögens oder eine Elementarphilosophie, welche die verschiedenen Funktionen der Vernunft (Anschauung, Begriff, Idee) aus der Urtätigkeit des Vorstellens zu dedu- zieren hat. Es fehlt der Kantischen Philosophie ein oberster Grundsatz, der als oberster nicht beweisbar, sondern nur eine unmittelbar einleuchtende und von jedermann zugestandene Tatsache sein kann. Das gesuchte Urfaktum ist das Bewußtsein. Niemand kann bestreiten, daß jede Vor- stellung dreierlei enthält: das Subjekt, das Objekt und zwischen beiden die Tätigkeit des Vorstellens. Demgemäß lautet der Satz des Bewußt- seins: „Die Vorstellung wird im Bewußtsein vom Vorgestellten und Vor- stellenden unterschieden und auf beide bezogen." Aus diesem höchsten Prinzip bemüht sich nun Reinhold die bekannten Sätze von dem durch Wirkung der Gegenstände gegebenen mannigfaltigen Stoff und den vom Subjekt spontan hervorgebrachten, jenes Mannigfaltige einheitlich ver- bindenden Formen der Vorstellung herzuleiten. Als wenige Jahre später Fichtes Wissenschaftslehre die von Reinhold erstrebte Überbrückung des Gegensatzes von Sinnlichkeit und Verstand durch einen obersten Grund- satz in genialer Weise leistete, wurde Reinhold dessen Anhänger, um sich später an Jacobi, sodann an Bardili (Grundriß der Logik 1800) anzu- schließen und mit einer eindruckslos vorübergehenden Sprachphilosophie zu endigen.

In Reinholds Elementarphilosophie war das Ding an sich aus einem problematischen, negativen, bloß einschränkenden Begriffe zu einem posi- tiven Bestandstücke der Lehre geworden. Gegen den dogmatisch nach realistischer Seite hin modifizierten Kantianismus wenden Schulze. Mai- mon und Beck ihre Einwendungen, der erste in gegnerischer, der zweite in fortbildender, der dritte in exegetischer Absicht. Gottlob Ernst Schulze, Professor in Helmstädt, seit iBlo in Göttingen, vertritt in seinem „Änesidemus" ( 1 792, anonym), dem später psychologische Arbeiten folgten, der Vernunftkritik gegenüber den skeptischen Standpunkt. Humes Skepsis ist durch Kant und Reinhold unwiderlegt geblieben. Das Ding an sich, das durch Afifektion der Sinne den Stoff der Vorstellungen bewirken soll, ist ein widerspruchsvoller Begriff. Die Anwendung der Kategorie der Ur- sache auf Dinge an sich verstößt gegen die Lehre, daß die letzteren uner- kennbar und ein Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe über das Er- fahrungsgebiet hinaus unstatthaft sei. Die Transzendentalphilosophie hat nirgends bewiesen, daß der Grund des Vorstellungsstoffes nicht ebenso wie die Form im Subjekt selbst gelegen sein könne.

Neben dem antikritischen Skeptizismus des Änesidem - Schulze repräsentiert der von den größten Philosophen seinerzeit hochge- schätzte Salomo Maimon (1754 1800) den kritischen. Über ihn

S. Maimon. S. Beck.

363

Witte 1876; L. Rosenthal, Maimons Versuch über die Transzendental- philosophie (1790), ZPhKr. Bd. 102, 1893. Mit Reinhold erklärt Maimon das Bewußtsein (als Verbindung eines Mannigfaltigen zu objektiver Einheit) für die gemeinschaftliche Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand, mit Schulze den Begriff des Dinges an sich für eine imaginäre oder irrationale Größe, einen unvollziehbaren Gedanken; es sei nicht nur unerkennbar, sondern undenkbar. Erkennbar ist nur, was wir selbst erzeugen, also die Form der Vorstellung. Der Stoff derselben ist „gegeben", das heißt jedoch nicht, daß er aus der Einwirkung des Dinges an sich entspringe, sondern nur, daß wir seine Entstehung nicht kennen. Verstand und Sinnlichkeit oder Spontaneität und Rezeptivität unterscheiden sich nicht generisch, sondern nur graduell, nämlich wie vollständiges und unvoll- ständiges Bewußtsein. Die Empfindung ist ein unvollständiges Bewußt- sein, weil wir nicht wissen, wie der Gegenstand desselben entsteht. Als wesentlichste Differenzpunkte zwischen Maimon und Kant sind zwei an- zumerken. Erstens: es gibt weder eine reine Form noch einen reinen Stoff; beide bezeichnen ideale Grenzfälle, denen wir uns annähern, die wir aber nie erreichen können. Zweitens: es gibt keine „Erfahrung" im strengen Kantischen Sinne; allgemeine und notwendige Erkenntnisse sind nur in der Mathematik möglich.

Durch die Entfernung des Dinges an sich wollte Änesidem-Schulze die Kantische Lehre widerlegen, Maimon sie verbessern; Sigismund Beck (1761 1840) in seinem „Einzig möglichen Standpunkt, aus welchem die kritische Philosophie beurteilt werden muß" 1796 ^ will durch sie die Kantische Lehre erläutern, indem er den Idealismus als den wahren Sinn derselben hinstellt. Gegen die gewöhnliche Meinung, daß diejenige Vor- stellung wahr sei, welche mit ihrem Gegenstande übereinstimme, weist er auf die Unmöglichkeit hin, jene mit diesem zu vergleichen. Von Gegen- ständen außer dem Bewußtsein können wir nichts wissen; nach Abson- derung alles Subjektiven bleibt von der Vorstellung nichts Positives mehr übrig. Alles an ihr wird von uns selbst erzeugt, der Stoff entsteht mit der Form zugleich durch die „ursprüngliche Synthesis".

Durch die großartige Leistung Fichtes wurden die letzterwähnten Ver- suche, die Kantische Philosophie fortzubilden, derartig überflügelt, daß sie bei Mit- und Nachwelt eine minder dankbare Schätzung und Erinnerung gefunden haben, als ihnen sachlich gebührte. Dagegen hat eine andere Erscheinung, die gleichfalls auf die Schwelle zwischen Kant und Fichte zu stellen ist, jedoch mehr eine Ergänzung der Erkenntnis- und Sitten- lehre des letzteren, als ein Übergangsglied zu ihr bildet, einen ehrenvollen

1 Dieses Buch bildet den dritten Band von Becks ,, Erläuterndem Auszug aus den kritischen Schriften des Herrn Professor Kant"; im selben Jahre erschien der „Grundriß der kritischen Philosophie". Über Beck vergl. DiLTHEY, Die Rostocker Kanthandschriften (AGPh. Bd. 2) 1889.

364

Schiller.

Platz im Gedächtnis unseres Volkes behauptet: die Ästhetik Friedrich Schillers.^ Im Zentrum derselben steht der Kantische Gegensatz von Sinnlichkeit und Vernunft und die in der ruhigen Betrachtung des Schönen hergestellte Versöhnung beider Seiten der menschlichen Natur. Die künstlerische Tätigkeit oder der Spieltrieb (14. Brief) vermittelt zwischen dem niederen, sinnlichen Stoff trieb und dem höheren, ver- nünftigen Form trieb, vereinigt beide zu harmonischem Zusammenwirken. Wo die Begierde dem Genüsse nachjagt und wo der strenge Pfliclitbegriflf herrscht, da ist nur der halbe Mensch beschäftigt; weder die Wollust noch die sittliche Würde ist schön. Damit Schönheit und Anmut entstehe, müssen Stoff- und Formtrieb oder Sinnlichkeit und Vernunft sich gleich- mäßig und übereinstimmend betätigen, und nur, wo er „spielt", ist der jNIensch ganz Mensch (15. Brief), nur durch die Kunst ist Aus- bildung der Humanität möglich. Die Einsicht, daß das Schöne die beiden Grundtriebe, von denen im sinnlichen Begehren wie im sittlichen Wollen der eine das Übergewicht hat, ins Gleichgewicht setze, entscheidet noch nicht über das Rangverhältnis von künstlerischer und sitdicher Tätigkeit; mit der Anerkennung jener versöhnenden Mittelstellung der Kunst kann sich sowohl die Ansicht verbinden, daß sie ein Durchgangsstadium und Erziehungsmittel zur Moral bilde, als die andere, daß in ihr die mensch- liche Natur ihre Vollendung erreiche. In Schillers Schriften finden sich Belege für beide Beurteilungen. Anfangs huldigt er dem Kantischen jMoralisnius, der ein Höheres über dem guten Willen nicht einräumt, und setzt der Kunst die Aufgabe, durch Veredelung der Naturtriebe zur Sittlichkeit zu erziehen. Allmählich aber verwandelt sich ihm das ästhetische Verhalten aus einer Vorbereitung der Moral in das letzte Ziel menschlichen Strebens. Friedliche Versöhnung ist wertvoller als der schwer errungene Sieg des Geistes im Kampf wider die Sinnlichkeit, schön empfinden mehr als vernünftig wollen, das höchste Ideal die schöne Seele, in welcher die Neigung dem Gebote der Pflicht nicht bloß ge- l'K^rcht, sondern zuvorkommt (vgl. S. 276).

Eine ähnliche Verschmelzung \^on Kantianismus mit humanistischem Harmonismus gewahren wir bei dem als Ästhetiker, Sprach- und Ge- schichtsphilosoph hervorragendenW i 1 h e 1 m v o n H u m b o 1 d t ( 1 767 1835).

1 Unter Schillers ästhetischen Abhandlungen sind die bedeutendsten „Über An- mut und Würde" 1793, „Über naive und sentimentalische Dichtung" 1795 '796 und die zwischen beide fallenden Briefe „über die ästhetische Erziehung des Menschen". Vergl. K. Fischer, Schiller als Philosoph 1858, 2. Aufl. (Schillerschriften 3 und 4) 1891 1892. K. Berger, Die Entwickelung von Schillers Ästhetik, gekrönte Preis- schrift, Weimar 1894. E. Kühnemann, Kants und Schillers Begründung der Ästhetik 1895. Otto Harnack (Geisteshelden, Bd. 28 29), 1898. Schillers philosophische Schriften und Gedichte in Auswahl mit Einleitung und Register herausgegeben von KÜHNEMANN, Philos. Bibl. 1902. In Frommanns „Klassikern der Philosophie" wird Volkelt Schillers philosophische Entwickelung schildern.

Fichte.

365

Über ihn Haym, Berlin 1856. Die gesammelten Schriften, Ausgabe der Preuß. Akademie, besorgt von Br. Gebhardt und Alb. Leitzmann 1903 f., bringt in Band i 8 die Werke, in Bd. g Gedichte, in Bd. 10 12 Politische Denkschriften, in Bd. 13 Tagebücher, in Bd. 14 f. Briefe.

Über Goethe vergl. Otto Harnack, G. in der Epoche seiner Vollendung, 1886, 2. Aufl. 1901; Ders., Die klassische Ästhetik der Deutschen, 1892. H. v. Stein, Die Ästhetik der deutschen Klassiker, zuerst Bayreuther Blätter, 10. Jahrg. 1887, jetzt ,, Goethe und Schiller" (Reclam Nr. 3090). W. Dilthey im 2. u. 7. Bande des AGPh. Th. Vogel, Goethes Selbstzeugnisse über seine Stellung zur Religion, 1889, 3. Aufl. 1903. JOH. Schubert, Die philosoph. Grundgedanken in Goethes Wilhelm Meister 1896. K. Vorländer, Goethes Verhältnis zu Kant in seiner historischen Entwickelung (VKSt. Bd. I 2) 1896 97 (die wesentlichsten Resultate wiederholt VORLÄNDER im 19. Bande des Goethe-Jahrbuchs: Goethe und Kant, 1898); dazu mehrere Nachträge: Publikationen aus dem Goethe-Archiv (VKSt. Bd. 2), Neue Zeugnisse (ebenda Bd. 3). RUD. Steiner, Goethes Weltanschauung, Weimar 1897. Windelband, Aus G.s Philos. (Straßburger Goethevorträge) 1899 und in der 2. Aufl. der Präludien. H. SiEBECK, Goethe als Denker (Frommanns Klassiker der Philos. Bd. 15) 1902. Sam. Eck, G.s Lebensanschauung, 1902.

Zehntes Kapitel. Fichte.

Fichte ist ungefähr in dem Sinne Kantianer, wie Piaton Sokratiker war. Statt einzelne Probleme der Vernunftkritik aufzunehmen und weiter- zuführen, macht er sich den belebenden Mittelpunkt, die Seele derselben zu eigen, und entwirft von dem Grundgedanken der Selbsttätigkeit der Vernunft (als realer Kraft und als Aufgabe) aus ein neues Weltbild \on großartiger Kühnheit, worin der in der Kantischen Philosophie unter der Hülle behutsamer Restriktionen schlummernde Idealismus zu kräftigem Leben wachgerufen und, was der große Königsberger Erhebendes von der Freiheit, Stellung und Macht des Geistes gelehrt hatte, aus der Sprache nüchterner Vorsicht in die eines willensstarken Enthusiasmus übersetzt ist. Die Welt kann nur vom Geiste aus, der Geist nur vom Willen aus begriffen werden. Das Ich ist lautere Tätigkeit, alle Wirklichkeit sein Produkt. Fichtes Lehre ist ganz Leben und Tun: sie will nicht Kennt- nisse übermitteln, sondern den Hörer und Leser zur Erzeugung einer neuen und bedeutungsvollen Grundanschauung aufrufen, an der der Wille ebenso sehr beteiligt ist wie der Verstand; sie beginnt nicht mit einem Begriffe oder einem Satze, sondern mit der Forderung einer Handlung (setze dich selbst, tue mit Bewußtsein, was du unbewußt tatest, so oft du dich Ich nanntest, zeroliedere dann den Akt des Selbstbewußtseins lund erkenne

366

Fichte.

in seinen Elementen die Kräfte, aus denen alle Realität entspringt); ihr Gott ist nicht eine fertige absolute Substanz, sondern eine sich selbst verwirklichende Weltordnung. Dieser inneren Lebendigkeit des Fichte- schen Prinzips, die an die reine Aktualität des Nus bei Aristoteles und das rastlose Werden des Heraklit erinnert, entspricht es vollkommen, daß der Philosoph, dem es wahrlich weder an begi-ifflicher Strenge noch an der Gabe lichtvoll populärer Darstellung gebrach, in immer neuer Form seine Gedanken auszuprägen und, nachdem es ihm kaum erst gelungen schien, mit höchster Klarheit zu sagen, was er meinte, schon wieder un- befriedigt nach noch präziserem und einleuchtenderem Ausdruck für die schwer formulierbare Grundansicht zu suchen sich gedrängt fühlte. Der Urheber der Wissenschaftslehre ist am ig. Mai 1762 zu Ramme- uau in der sächsischen Lausitz als Sohn eines armen Bandwirkers zur Welt gekommen. Die Talente des Knaben bewogen den Freiherrn v. Miltiz, demselben den Genuß einer guten Erziehung zu ermöglichen. In Meißen und Pforta hat Fichte die Schule, in Jena und Leipzig als Theologiestudent die Universität besucht; später hat er in Wittenberg juristische Studien getrieben. Als Hauslehi'er in Zürich lernt er Lavater^ und Pestalozzi sowie seine künftige Gattin Johanna Rahn, eine Nichte Klopstocks, kennen. Nach Leipzig zurückgekehrt, erfährt er 1790 durch die Kantische Philosophie, in der er einen Studenten zu unterweisen hat, eine völlige Revolution in seiner Denkungsart. Sie gibt, so be- kennen seine Briefe, dem Geiste eine unbegreifHche Erhebung über alle irdischen Dinge. „Ich habe eine edlere Moral angenommen, und anstatt mich mit Dingen außer mir zu beschäftigen, mich mehr mit mir selbst beschäftigt." „Ich glaube jetzt von ganzem Herzen an die Freiheit des Menschen und sehe wohl ein, daß nur unter dieser Voraussetzung Pflicht und Tugend überhaupt möglich ist." „Ich lebe in einer neuen Welt, seit ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z. B. der Begriff einer absoluten Freiheit und Pflicht, sind mir bewiesen und ich fühle mich darum um so froher. Es ist unbegreiflich, welche Achtung für die Menschheit, welche Kraft uns diese Philosophie gibt, welch ein Segen sie für ein Zeitalter ist, in welchem die Moral in ihren Grund- vesten zerstört und der Begriff der Pflicht in allen Wörterbüchern durchstrichen war!" Bald bietet sich, da ihn die Aussicht auf eine Hofmeisterstelle nach Warschau gelockt hatte, die Gelegenheit, den Ur- heber jener Lehre, die eine so radikale Umwandlung seiner Überzeu- gungen bewirkt hatte, in Königsberg aufzusuchen. Die schnell entworfene Schrift „Versuch einer Kritik aller Offenbarung" erreichte den Zweck, dem

1 Heinr. Maier: Lav. als Philosoph und Physiognomiker, in der Denkschrift ,,Joh. Kaspar Lavater 1741 1801", Zürich 1902, S. 353 494.

Fichte. 207

sie ihre Entstehung verdankte, ihrem Verfasser bei dem verehrten Meister einen günstigen Empfang zu bereiten. Kant verschaffte ihm eine Haus- lehrerstelle bei Danzig und einen Verleger für sein Erstlingswerk. Beim Erscheinen des letzteren Ostern 1792 blieb aus Versehen mit der nach- gelieferten Vorrede auch der Name des Autors auf dem Titelblatt weg; da man das anonyme Werk allgemein -Kant selbst (dessen Religionslehre damals sehnlichst erwartet wurde) zuschrieb, so wurde der junge Autor, nachdem der Irrtum sich aufgeklärt, mit einem Schlage ein berühmter Mann. Schon das nächste Jahr brachte eine zweite Auflage. Nachdem in Zürich, wo Fichte einige politische Schriften (die Rede „Zurückforde- rung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unter- drückten, Heliopolis im letzten Jahre der alten Finsternis", und die zwei Hefte „Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution" 1793) vollendete, die Hochzeit gefeiert worden, folgte er 1794 einem Rufe nach Jena an Stelle des nach Kiel über- gesiedelten Reinhold, dessen Beliebtheit durch die seinige bald übertroffen wurde. Die gleiche Zahl bezeichnet das Geburtsjahr der „Wissenschafts- Jehre". Konflikte mit der Geistlichkeit, die an seinen Sonntags vormittags (jedoch zu einer nicht mit dem Gottesdienst kollidierenden Stunde) ge- haltenen moralischen Vorlesungen („Über die Bestimmung des Gelehrten") Anstoß nahm, und mit den Studierenden, die, nachdem sie dem infolge jener Vorlesungen gefaßten Entschluß, ihre Verbindungen oder Orden aufzulösen, untreu geworden, ihrem Groll durch mehrmalige Zertrümmerung der Fensterscheiben der Fichteschen Wohnung Luft machten, verleideten dem Philosophen den Aufenthalt in Jena, so daß er Urlaub nahm und den Sommer 1795 in Osmannstädt zubrachte. Die Jahre 1796 1798, in denen außer den beiden Einleitungen zur Wissenschaftslehre das Natur- recht und die Sittenlehre, eines der allerbedeutendsten Werke unserer philosophischen Literatur, erschienen, bezeichnen den Höhepunkt der ruhmvollen Wirksamkeit Fichtes. Der sogen. Atheismusstreit ^ hatte seinen Weggang von Jena zur Folge. Das seit 1797 von Fichte im Verein mit Niethammer redigierte „Philosophische Journal" hatte einen Aufsatz vom Magister Forberg, Rektor in Saalfeld, „Entwickelung des Begriffs der Religion" und als mildernde Einleitung dazu eine kurze Abhandlung ^•on Fichte „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt- regierung" ^ gebracht und war wegen gottesleugnerischen Inhalts von der Dresdener Regierung, die auch andere Höfe zu dem gleichen Schritte aufforderte, konfisziert worden. In Weimar hoffte man auf einen güt-

1 Vergl. Karl August Hase, Jenaisches Fichtebüchlein 1856; Heinrich RiCKERT, Fichtes Atheismusstreit, eine Säkularbetrachtung (aus VKSt. Band 4) 1899.

- Es ist ein Mißverständnis, schreibt Fichte dort mit Beziehung auf den Schluß des Forberg sehen Artikels (,,Ist ein Gott? Es ist und bleibt ungewiß" etc.), zu sagen, es sei zweifelhaft, ob ein Gott sei oder nicht. Daß es eine sittliche Welt-

^68 p-ICHTE.

liehen Austrag der Angelegenheit. Als jedoch Fichte nach Veröftent- lichung zweier in heftigem Tone gehaltener Verteidigungsschriften i in einem Privatbriefe die Drohung ausgesprochen hatte, er werde einen etwa durch den Senat ergehenden Verweis mit seiner Demission beant- worten, wurde nicht nur der Verweis wegen Unvorsichtigkeit wirklich erteilt, sondern zugleich die Entlassung angenommen. In Berlin fand Fichte eine wohlwollende Behörde, ein zahlreiches Publikum für seine Vorträge und an den Romantikern Gebrüder Schlegel, Tieck, Schleier- macher usw. einen anregenden Freundeskreis. In den ersten Jahren des Berliner Aufenthaltes kamen die Bestimmung des Menschen, der geschlossene Handelsstaat 1800, der Sonnenklare Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Pilosophie und das Antwortschreiben an Reinhold 1801 heraus. Drei im Jahre 1 806 erschienene, aus Vorlesungen hervorgegangene Werke (Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, das Wesen des Gelehrten, Anweisung zum seligen Leben oder Religionslehre) bilden ein zusammengehöriges Ganze. Im Sommer 1805 hat Fichte eine Professur in Erlangen, später nach Ausbruch des Krieges kurze Zeit eine solche in Königsberg bekleidet; eine dauernde Universi- tätsstellung erlangte er mit der Gründung der Berliner Hochschule 18 10. Die flammenden „Reden an die deutsche Nation" 1808, die zur Er- weckung nationaler Begeisterung sehr wesentlich beitrugen, haben dafür gesorgt, daß auch in den Kreisen unseres Volkes, denen die philosophische Bedeutung des Mannes unverständlich ist, sein Name als der eines der mächtigsten Redner und glühendsten Patrioten für immer fortlebt. Die Folgen selbstloser Arbeit im Dienste des Vaterlandes waren es auch, die seinem Leben am 27. Januar 1814 ein Ziel setzten. Er erlag einem Nervenfieber, das seine Gattin, gleich ihm aufopferungsvoll an der Pflege der Verwundeten teilnehmend, aus dem Lazaret heimgebracht hatte.

Ordnung gibt, die jedem vernünftigen Individuum seine bestimmte Stelle anweist und auf seine Arbeit rechnet, ist das Gewisseste, ja der Grund aller anderen Gewißheit. Die lebendige und wirkende moralische Ordnung [ordo ordinans) ist selbst Gott: wir bedürfen keines anderen Gottes und können keinen anderen fassen. Es liegt kein Grund in der Vernunft, aus jener Weltordnung herauszugehen und noch ein besonderes Wesen als Ursache derselben anzunehmen. Wer diesem besonderen Wesen Persön- lichkeit und Bewußtsein beilegt, macht es zu einem endlichen Wesen : Bewußtsein hat nur das individuelle, beschränkte Ich. Und es ist erlaubt, dies aufrichtig zu sagen und das Schulgeschwätz niederzuschlagen, damit die wahre Religion des freudigen Rechttuns sich erhebe.

1 ,, Appellation an das Publikum" und ,, Gerichtliche Verantwortung gegen die Anklage des Atheismus" 1799. Die erstere führt aus, daß sich die Standpunkte Fichtes und der Gegner verhalten wie Pflicht und Genuß, Sinnliches und Übersinn- liches und daß der substantielle, aus der Sinnlichkeit abzuleitende Gott der Ankläger als das personifizierte Schicksal, als der Austeiler alles Glücks und Unglücks an die endlichen Wesen ein heilloser Götze sei.

Fichte.

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Sein Grabdenkmal trägt die schönen Bibelworte: Die Lehrer werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich. Forberg urteilt in seinem Tagebuche: der Grundzug von Fichtes Charakter ist die höchste Ehr- lichkeit. Alle seine Worte haben Gewicht und Schwere. Seine Grund- sätze sind streng und wenig durch Humanität gemildert. Der Geist seiner Philosophie ist ein stolzer und mutiger Geist, der uns weniger führt, als ergreift und fortreißt. Seine Philosopheme sind Untersuchungen, in denen wir die Wahrheit vor unseren Augen entstehen sehen und die ebendarum Wissenschaft und Überzeugung gründen.

Der Sohn des Philosophen, Immanuel Hermann Fichte (er selbst hieß Johann Gottlieb), hat das Leben des Vaters beschrieben (1830, zweite Aufl. 1862) und die Herausgabe der nachgelassenen (1834 1835, drei Bände) wie der sämtlichen Werke (1845 1846, acht Bände) be- sorgt. Zur Einführung in das System empfehlen sich besonders die einfachen und lichtvollen „Tatsachen des Bewußtseins" vom Jahre 181 1 resp. 181 7 (nicht die gleichnamige Vorlesung vom Jahre 181 3). Unter den mannigfachen Bearbeitungen der Wissenschaftslehre nimmt die epoche- machende „Grundlage der gesamten WL." 1794 nebst den beiden Einleitungen in die WL. 1797 und „die Bestimmung des Menschen" (in drei Büchern: Zweifel, Wissen, Glaube) 1800 tien ersten Rang ein, während unter den Schriften zur praktischen Philosophie die „Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der WL." 1796 und „das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der WL." 1798, nächst ihnen die 1813 gehaltenen „Vorlesungen über die Staatslehre" 1820 die bedeutend- sten sind.

Gleichzeitig mit J. H. Lowes Buch über „die Philosophie F'ichtes" 1862 sind zur Säkularfeier seines Geburtsjahres resp. -tages eine große Zahl von kleineren Ab- handlungen und Reden über Fichte von Fr. Harms, A. L. Kym, Trendelenburg, Franz Hoffmann, Karl Heyder, F. C. Lott, Karl Köstlin, J. B. Meyer, Zimmermann u. a. erschienen (vgl. darüber Reichlin - Meldegg im 42. Bande der ZPhKr.). Über Fichtes Verhältnis zu Kirche und Staat hat Lasson 1863, über F. als Politiker Zeller (Vortr. und Abh. 1865) und G. Schmoller (im fünften Bande der Jahrbücher für Nationalökonomie 1865), über F. als Sozialpolitiker Fr. Jgdl (ZPhKr. Bd. 113, S. 191) 189S, über seine Anschauung vom Christentum C. LÜL- MANN (ebenda S. 38), über seine Religionsphilosophie F. Zimmer 1878, über seine Geistesentwicklung in den Reden über die Bestimmung des Gelehrten (1794, 1805, 181 1) Carriere 1894, über seine Lehre vom Nichtich O. Bensow 1898, über die Voraussetzungen der Reden an die deutsche Nation innerhalb seines Systems (Erlanger Dissert.) Leonh. Grau 1900 geschrieben. Von ausländischen Erscheinungen notieren wir Adamsons Fichte 1881, die englischen Übersetzungen einiger seiner Werke von der Hand des Deutschamerikaners Adolf E. Kroeger (1868, 1869) und Will. Smiths und die französische Übersetzung der „Reden" von Leon Philippe {Discours a la Nation Allenmnde, Paris 1895) mit Einleitung von F. PiCAVET. Neuere Schriften: WiLLY Kabitz, Studien zur Entwicklungsgeschichte der WL. aus der Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 24

Z7<^

Fichte.

Kantischen Philos., mit ungedruckten Stücken aus Fichtes Nachlaß (zum Teil in VKSt. ) Berlin 1902. Emil Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte, Tüb. 1902.

I. Die Wissenscliaftslehre.

I. Die Aufgabe.

Nach Fichtes Urteil ist es Kant nicht gekmgen , die beabsichtigte Umwälzung der Denkweise durchzusetzen, weil das Zeitalter den Geist seiner Philosophie nicht verstanden hat. Das große Verdienst Kants besteht in dem transzendentalen Idealismus, welcher durch tlie Lehre, daß sich die Gegenstände nach den Vorstellungen, nicht diese nach jenen richten, die Philosophie von den äußeren Objekten abzieht und in uns selbst hineinführt. Statt sich den Geist des Systems anzu- eignen, hielt man sich an den Buchstaben und übersah über einigen dogmatisch klingenden Stellen, die, von einem gegebenen Stoff, vom Ding an sich und dergleichen redend, nur vorläufig gemeint waren, die unzähligen anderen, in denen klar das Gegenteil behauptet wird. So haben die Ausleger, als Maßstab ihre eigenen Vorurteile anlegend, aus Kant gerade das herausgelesen, was er widerlegen wollte, und ihn, den Umstürzer alles Dogmatismus, selbst zum Dogmatiker gemacht; so ent- stand in dem Kantianismus der Kantianer die abenteuerlich.ste Zusammen- setzung von gröbstem Dogmatismus und entschiedenstem Idealismus. Wenn bei den Erklärern und Nachfolgern, die sich erst aus dem Studium der kritischen Schriften die leitende Idee des Ganzen bilden mußten, eine solche absurde Vermischung ganz heterogener Elemente verzeihlich sein mag, bei dem Urheber des Systems darf man sie nicht voraussetzen, oder man müßte die Kritik der reinen Vernunft für das Werk des sonderbarsten Zufalles, nicht für das eines Kopfes halten. Nur zwei Männer, der Standpunktslehrer Beck und Jacobi, der hellste Kopf de?^ Jalirhunderts, sind mit Hochachtung als solche zu neruien, die sich aus der Verwirrung des Zeitalters zu der Einsicht erhoben, daß Kant den Idealismus lehre, daß nach ihm das Objekt nicht gegeben, sondern ge- macht werde.

Außer der jenen Mißverständnissen vorbeugenden Deutlichkeit ver- mißt Fichte noch mehr an der Kantischen Leistung. Als S}'stem gefaßt, wären Kants Darlegungen lückenhaft; aber nach eigenem Geständnis war es gar nicht seine Absicht, die Wissenschaft selbst, sondern nur, Funda- ment und Baumaterialien derselben zu liefern. Es bedarf demnach, ob- wohl die Kantische Philosophie ihrem inneren Gehalt nach feststeht, noch ernstlicher Arbeit, um die Bruchstücke und Resultate zu einem System, die bei Kant vorhegen, in ein wohl verbundenes und unerschütterliches Ganze zu ordnen. Diese Aufuabe der Vollendung des Idealismus

Wissenschaftslehre: die Lücken bei Kant.

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stellt sich die Wissenschaftslelire. Sie kann sie nicht lösen in Form eines Kommentars zu den Kantischen Schriften, durch Verbesserung und Hin- zufügung von Einzelheiten, sondern allein dadurch, daß sie das Ganze aus einem Gusse herstellt. Die Wahrheit findet nur, wer sie selbständig, auf eigenem Wege in sich neu erzeugt. S<j enthält denn das Fichtesche System dieselbe Ansicht der Sache, wie das kritische der Verfasser weiß, heißt es in der Vorrede zu dem Programm „Über den Begriff der Wissenschaftslehre" 1794, „daß er nie etwas wird sagen können, worauf nicht schon Kant, unmittelbar oder mittelbar, deutlicher oder dunkler gedeutet habe" , ist aber in seinem Verfahren ganz unabhängig von der Kantischen Darstellung. Wir fragen zuerst: was ist an der Kanti- schen Philosophie ergänzungsbedürftig? Sodann: welchen Weg muß die Vollendung derselben einschlagen?

Kant betrachtet die Gesetze der Intelligenz, wie sie schon ange- wandt sind auf die Objekte, ohne Aufklärung über den Grund dieser Gesetze zu geben. Er hat die reinen Begriffe (die Gesetze der Substan- tialität, der Kausalität usw.) aus der (Logik, also mittelbar aus der) Erfahrung geschöpft, statt sie aus dem Wesen der Intelligenz abzuleiten; ebenso ist er diese Ableitung für die Anschauungsformen Raum und Zeit schuldig geblieben. Um einzusehen, daß und warum die Intelligenz gerade so handeln (gerade vermittels dieser Kategorien denken) müsse, darf man nicht bloß wie Kant behaupten, sondern muß beweisen, daß jene Handlungen oder Formen wirklich Denkgesetze oder was das- selbe heißt, Bedingungen des Selbstbewußtseins sind. Zugegeben aber, Kant habe die Beschaffenheiten und Verhältnisse des Dinges (daß es in Raum und Zeit erscheine und seine Akzidentien auf Substanzen bezogen werden müssen) erklärt, so bleibt noch die Frage offen, woher denn der Stoff komme, der in jene Formen aufgenommen wird. Solange man nicht das ganze Objekt vor den Augen des Philosophierenden entstehen läßt, ist der Dogmatismus noch nicht aus seinem letzten Schlupfwinkel vertrieben. Das Ding an sich ist auch nur ein Gedanke im Ich. Wenn hierdurch der Gegensatz von Form und Stoff der Erkenntnis eine Mo- difikation erfährt, so muß auch der damit zusammenhängende von Ver- stand und Sinnlichkeit, wie Reinhold richtig erkannt hat, auf ein gemein- schaftliches Prinzip zurückgeführt und die Rezeptivität als eine sich selbst begrenzende Spontaneität gefaßt werden. Auch in der praktischen Phi- losophie hat Kant noch manches unerledigt gelassen. Der kategorische Imperativ ist noch einer weiteren Ableitung fähig, er ist nicht das Prinzip selbst, sondern eine Folgerung aus dem wahren Prinzip, dem Gebote der absoluten Selbständigkeit der Vernunft; außerdem muß die Art des Bewußtseins, das wir vom Sittengesetz haben, und, damit statt einer bloß formalen eine reelle Sittenlehre gewonnen werde, sein Verhältnis zum Naturtriebe näher erörtert werden. Endlich hat Kant nirgends die Grund-

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Fichte.

läge aller Philosophie behandelt, sondern stets die theoretische und die praktische gesondert und auch Reinhold nichts getan, diesen Dualismus zu beseitigen. Kurz : einiges, was Kant nur behauptet oder vorausgesetzt, kann und muß bewiesen, einiges, was er getrennt gehalten hat, muß vereinigt werden. In welcher Weise hat beides zu geschehen?

Da richtige Schlüsse aus richtigen Prämissen richtige Resultate er- geben, das richtige Schließen aber leicht zu kontrollieren ist, so kommt alles auf den rechten Ausgangspunkt an. Sieht man von diesem ab und blickt man nur auf das Folgern und die Folgerungen, so gibt es zwei konsequente Systeme: den dogmatischen oder realistischen Denkgang, der die Vorstellung aus dem Dinge, den idealistischen, der umgekehrt das Sein aus dem Denken abzuleiten sucht. Nun läßt sich zeigen, daß der Dogmatismus, so konsequent er verfahren mag (und wenn er dies tut, ist er, wie das System Spinozas, Materialismus und Fatalismus oder Determinismus, behauptet, alles sei Natur und alles gehe mechanisch zu, behandelt den Geist als ein Ding unter Dingen, leugnet seine metaphy- sische und moralische Selbständigkeit, seine Immateriaütät und Freiheit), falsch ist, weil er von einem falschen Prinzip ausgeht. Das Denken kann niemals aus dem Sein herausgeholt werden, weil es nicht darin ent- halten ist; aus dem Sein kann immer nur ein Sein, aber kein Vorstellen hervorgehen. Wohl aber läßt sich das Sein aus dem Vorstellen ableiten, denn das Bewußtsein ist auch ein Sein, aber noch melir als das, es ist bewußtes Sein. Und wie das Bewußtsein sowohl ein Sein als ein Wissen von diesem Sein enthält, so ist der Idealismus dem Realismus überlegen, weil er diesen als Moment in sich schließt und folglich zwar ihn erklären, aber nicht von ihm erklärt werden kann. Der Dogmatismus macht den Fehler, daß er über tlas Bewußtsein oder das Ich hinausgeht und mit leeren, bloß formalen Begriffen arbeitet. Ein Begriff ist dann leer, wenn ihm kein Wirkliches entspricht oder keine Anschauung untergelegt werden kann (wobei zu beachten, daß es außer der sinnlichen auch eine intellek- tuelle Anschauung gibt; eine solche ist die des Ich als sich selbst an- schauenden Wesens). Wohl darf und muß die Philosophie abstrahieren, sich über das Gegebene erheben, wie könnte sie das Leben und das besondere Wissen erklären, wenn sie nicht einen höheren Standpunkt einnähme als ihr Objekt! aber die richtige Abstraktion ist nichts als ein Trennen dessen, was in der Erfahrung immer in Vereinigung vor- kommt; sie legt das empirische Bewußtsein auseinander, um es aus seinen Elementen wieder zusammenzusetzen, läßt es vor unseren Augen entstehen, ist eine pragmatische Geschichte des Bewußtseins. Diese zum Zweck einer genetischen Betrachtung des Ich unternommene Ab- straktion geht nicht über die Erfahrung hinaus, sondern in ihre Tiefe hinein, ist nicht transzendent, sondern transzendental und gibt, da sie in enger Berührung mit dem Anschaulichen bleibt, im Gegensatz zu aller

Wissenschaftslehre: Wahl zwischen Idealismus und Realismus.

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bloß formellen eine reelle Philosophie. Zu diesen theoretischen Vorzügen des Idealismus kommen überwältigende Gründe praktischer Art hinzu, welche die Wahl zwischen jenen beiden Systemen, neben denen kein drittes möglich ist, entscheiden. Das Sittengesetz sagt: du sollst selbständig sein. Wenn ich es sein soll, muß ich es auch sein können; ich könnte es aber nicht, wenn ich Materie wäre. So erweist sich der Idealismus als die pflichtmäßige Denkart, während die entgegenstehende zeigt, daß, wer ihr huldigt, sich nicht zu der sittlich gebotenen Unabhängigkeit von allem Äußeren erhoben hat, denn um sich als frei wissen zu können, muß man sich frei gemacht haben. ^ So hängt, was man für eine Philosophie wähle, davon ab, was man für ein Mensch ist. Wenn nun anderseits das Sittengebot den Glauben an die Wirklichkeit der Außenwelt und anderer Geister fordert, so ist dies keine Instanz gegen den Idealismus. Denn dieser leugnet nicht, sondern erklärt den Realismus des Lebens als eine notwendige, wenn auch nicht endgültige Anschauungsweise. Die dogma- tische Denkart ist nur eine Erklärung auf dem Standpunkt des gemeinen Bewußtseins, die für den Idealismus, als die sowohl wissenschaftlich als praktisch allein befriedigende Ansicht, selbst zum Objekte der Erklärung wird. Realismus und Idealismus sind, wie auf dem Gebiete des Handelns Naturtrieb und sittlicher Wille, beide in der Vernunft gegründet. Aber der Idealismus ist der wahre Standpunkt, weil er den gegnerischen als untergeordneten Standpunkt, nicht aber dieser ihn zu verstehen und zu erklären vermag.

Wesen, Ziel und Wege der Wissenschaftslehre sind bestimmt. Sie ist echter, durchgeführter Idealismus, der die Kantische Philosophie zum Range einer evidenten Wissenschaft erhebt, indem er ihre Prämissen aus einem unmittelbar gewissen obersten Grundsatze herleitet und den dop- pelten Dualismus von Anschauen und Denken und von Erkennen und Wollen beseitigt, nämlich beide Seiten des Gegensatzes als Handlungen eines und desselben Ich nachweist. Wenn Reinhold einen obersten Satz als einheitliches Prinzip der Begründung, ohne welches der Erkenntnis- lehre die zur Wissenschaft unerläßliche Form des Systems fehle n würde, gesucht, Beck den Geist der Kantischen Philosophie idealistisch interpretiert, Jacobi die Elimination des Dinges an sich gefordert hatte, so werden in der Fichteschen Doktrin alle diese Wünsche vereinigt erfüllt und zugleich den Resultaten der Vernunftkritik die von Änesidem-Schulze vermißte Evidenz verliehen. Als Beantwortung der Frage: „wie kommt Wissen (sowohl das des gesunden Menschenverstandes als das der einzelnen Wissen-

1 Vergl. O. Lieb mann (Über den individuellen Beweis für die Freiheit des Willens 1866, S. 131): ,,Hier finden wir den merkwürdigen Punkt, wo tatsächlich theoretische und praktische Philosophie ineinander übergehen. Denn es ergibt sich der Satz: Um den individuellen Beweis für die Freiheit des Willens zu führen, muß ich meine Pflicht tun."

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Fichte.

Schäften) zustande, wie ist Erfahrung möglich?", als Konstruktion des gemeinen Bewußtseins, wie es sich im Leben und in den Spezialwissen- schaften betätigt, nennt sie sich Wissen Schaftslehre und unterscheidet sich von den letztgenannten dadurch, daß, während die Einzelwissenschaft willkürliche, sie die notwendigen Vorstellungen oder Handlungen des Geistes betrachtet. (Die Vorstellung eines Dreiecks oder Kreises ist eine freie, sie kann auch unterbleiben; die des Raums überhaupt eine notwendige, von der wir nicht zu abstrahieren vermögen.) Wie kommt die Intelligenz dazu, Empfindungen zu haben, Raum und Zeit anzuschauen und gerade diese Kategorien (Ding und Eigenschaft, Ursache und Wirkung, und warum nicht ganz andere) zu bilden? jene Funktionen des anschauenden und denkenden Geistes müssen, nachdem Kant sie richtig beschrieben und als wirklich aufgezeigt, auch noch bewiesen, als notwendig dargetan oder detluziert werden. Deduziert woraus ? Aus den allem Bewußtsein zugrunde liegenden Tathandlungen des Ich, deren oberste in drei Grundsätzen formuliert werden.

2. Die drei Grundsätze.

Am Eingang der Wissenschaftslehre empfängt uns statt einer Be- hauptung eine Aufforderung, die zur Selbstbesinnung. Denke irgend etwas und sieh zu, was du tust und notwendig tun mußt, indem du denkst. Du wirst finden, daß du nie einen Gegenstand denkst, ohne dich mitzvidenken, daß du von deinem Ich schlechterdings nicht abstra- hieren kannst. Und zweitens beachte, was du tust, wenn du dein „Ich" denkst. Es bedeutet, sich selbst bejahen oder setzen, Subjekt- Objekt sein. Das Wesen des Selbstbewußtseins ist die Identität von Vorgestelltem und Vorstellendem. Das reine Ich ist nicht eine Tat- sache, sondern ein ursprüngliches Tun, der Akt des Fürsichseins, und das (philosophische oder wie es nach einigen Stelleu scheint schon das gemeine) Bewußtsein dieses Tuns eine intellektuelle An- schauung; durch diese werden wir uns der beständig (aber v;nbewußt) vollzogenen Tathandlung bewußt. Dies die Bedeutung des ersten Grundsatzes: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein," oder kürzer: Das Ich setzt sich selbst, noch kürzer: Ich bin. Das Wesen des Ich besteht darin, sich als seiend zu setzen. ^ Da unter den

1 Das Ich, von dem der erste Grundsatz redet, das Ich als Gegenstand der intellektuellen Anschauung und als Grund und Schöpfer alles Seins , ist, wie die zweite Einleitung zur WL. mit klaren Worten hervorhebt, nicht das Individuum, sondern die (dem Mannigfaltigen der Vorstellung vorauszusetzende, über den Gegensatz von Subjekt und Objekt erhabene) Ichheit, die Geistigkeit überhaupt, die ewige Vernunft, die allen gemein und bei allen dieselbe ist, die in allem Denken vorkommt und ihm zu Grunde liegt und zu der sich die bestimmten Personen nur als Akzidentien, als Mittel, als besonderer Ausdruck verhalten, dazu bestimmt, sich immer mehr in die

Wissenschaftslehre: die drei Grundsätze. Sein und tun.

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Tatsachen des empirischen Bewußtseins außer jenem Sichselbstdenken des Ich ein Entgegensetzen vorkommt (man denke nur an das Prinzip des Widerspruchs), außer dem Ich aber nichts da ist, dem entgegenge- setzt werden könnte, so muß als zweiter Grundsatz gelten: dem Ich wird schlechthin entgegengesetzt ein Nichtich. Diese beiden Grundsätze müssen ^■ereinigt werden und können es nicht anders als so, daß jene Gegensätze (Ich und Nichtich), da sie beide im Ich sind, als sich gegenseitig be- schränkend odeT einander teilweise aufhebend, also jedes als teilbar (quantitätsfähig) gesetzt wird. Darnach lautet der dritte Grundsatz: „Das Ich setzt im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nichtich entgegen." Aus diesen Grundsätzen leitet Fichte die drei Denkgesetze der Iden- tität, des Widerspruchs und des zureichenden Grundes und die drei Qualitätskategorien der Realität, der Negation und der Limitation oder Bestimmung ab. Statt ihn bei diesen Bemühungen zu begleiten, heben wir als bedeutsam seine Auffassung des Ich als reiner substrat- loser Tätigkeit hervor, mit der er den Dynamismus aus der Kanti- schen Naturphilosophie in die Metaphysik hinüberführt. Man darf sich das Ich nicht vorstellen als etwas, das erst da sein müsse, ehe es Tätigkeiten ausüben könne. Das Tun ist nicht Eigenschaft oder Folge des Seins, sondern das Sein ist Akzidens und Wirkung des Tuns. Alle Substantialität ist abgeleitet, das Primäre ist die Aktivität: das Sein stammt aus dem Tun. Das Ich ist nichts weiter als das Setzen seiner selbst, es ist nicht nur für sich, sondern auch durch sich.

Die in den drei Grundsätzen ausgedrückten Handlungen kommen weder in der Erfahrung jemals rein vor, noch stellen sie isolierte Akte des Ich dar. Die Intelligenz kann nichts denken, ohne sich selbst mit zu denken, sie kann ebensowenig „ich bin" denken, ohne zugleich etwas anderes zu denken, was nicht sie selbst ist; Subjekt und Objekt sind untrennbar. Vielmehr sind die beschriebenen Setzungen ein ein-

allgemeine Form der Vernunft zu verlieren. Aber noch weiter muß zwischen dem absoluten Ich als Anschauung (als Form der Ichheit), von welchem die WL. ausgeht, und dem Ich als Idee (als höchstem Ziel des praktischen Strebens}, mit welchem sie schließt, unterschieden werden. In beiden wird das Ich nicht als Individuum gedacht ; dort ist die Ichheit noch nicht bis zur Individualität bestimmt, hier ist die Indivi- dualitätverschwunden. Mit Recht findet es Fichte verwunderlich, daß ,, ein System, dessen Anfang und Ende und ganzes Wesen darauf ausgeht, daß die Individualität theoretisch vergessen, praktisch verleugnet werde, für Egoismus ausgegeben" werden konnte. Und doch haben sich nicht bloß Gegner, sondern, wie Friedrich Schle- gels Genialitätsphilosophie beweist, auch Anhänger des gerügten Mißverständnisses einer Verwechselung des reinen und des empirischen Ichs schuldig gemacht. Über die Philosophie der Romantiker vergl. Erdmann, Grundriß §§ 314, 315; Zeller, S. ögyfi".; R. Haym, Die romantische Schule, 1870; Ricarda Huch, Blütezeit der Romantik, 2. Aufl. 1901; Dieselbe, Ausbreitung und Verfall der Romantik, 1902.

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Fichte.

ziger umfassender Gesamtakt, der nur das Anfangsglied eines zusammen- gehörigen Systems von vorbewußten Handlungen ausmacht, durch wel- ches das Bewußtsein zustande kommt und dessen Glieder vollständig zu ergründen das weitere Geschäft der Wissenschaftslehre als einer Theorie von der Natur der Vernunft bildet. Sie bedient sich dabei eines Verfahrens, welches in seinem Wechsel von Analyse und Synthese, Heraustreten und Versöhnung von Gegensätzen das Vorbild der dialek- tischen Methode Hegels geworden ist. Die im dritten Grundsatze be- schriebene Synthesis, obwohl sie Thesis und Antithesis ausgleichend in sich verbindet, enthält noch immer Entgegengesetztes, zu dessen Ver- knüpfung eine neue Synthese gesucht werden muß. Bei dieser wieder- holt sich abermals die analytische Aufsuchung und synthetische Schlich- tung eines Gegensatzes usf. Ferner schreibt jene Ursynthesis die Trennung der Untersuchung in zwei Teile, einen theoretischen und einen praktischen, vor. Denn sie enthält folgende zwei Sätze: das Ich setzt sich als beschränkt durch das Nichtich es verhält sich er- kennend; und: das Ich setzt sich als bestimmend das Nichtich es verhält sich wollend und handelnd.

3. Das theoretische Ich.

Indem sich das Ich als bestimmt durch das Nichtich setzt, ist es leidend (affiziert durch ein fremdes) und tätig (es selbst setzt seine Beschränkung) zugleich. Dies ist nur so möglich, daß es in sich nur teilweise Realität setzt und so viel, als es in sich nicht setzt, auf das Nichtich überträgt, Leiden ist verringerte Tätigkeit, Negation der Totalität der Realität. Aus der Reflexion auf dieses Verhältnis zwischen Ich und Nichtich entspringen die Relationskategorien der Wechselbestim- mung, der Kausalität (das Nichtich als Ursache des Leidens im Ich) und der Substantialität (jenes Leiden nur die Selbstbeschränkung des Ich). Der Widerstreit zwischen der Kausalität des Nichtich (durch welches das Ich affiziert wird) und der Substantialität des Ich (in dem und dessen Tätigkeit alle Realität enthalten ist) löst sich nur durch Annahme zweier Tätigkeiten (vielmehr zweier entgegengesetzter Richtungen einer Tätigkeit) im Ich, von denen die eine (zentrifugale, expansive) ins Unendliche hinausstrebt, die andere (zentripetale oder kontrahierende) jener eine Grenze setzt und das Ich in sich selbst zurücktreibt, worauf abermals ein Hinausgehen und eine neue Schrankensetzung und Rück- kehr erfolgt usf. Mit jeder Wiederholung jenes Doppelaktes der Pro- duktion und Reflexion entsteht eine eigene Klasse von Vorstellungen. Durch die erste Begrenzung der an sich unbeschränkten Tätigkeit (als Erzeugnis der „produktiven Einbildungskraft") entsteht die „Empfindung". Weil das Ich sie bewußtlos produziert, scheint sie gegeben, durch Ein-

Wissenschaftslehre: Deduktion der Vorstellung. 277

Wirkung von außen hervorgebracht. Die zweite Stufe, die „Anschauung", wird dadurch erreicht, daß das Ich auf die Empfindung reflektiert, sich ein Fremdartiges, Beschränkendes gegenüberstellt. Durch Reflexion auf die Anschauung wird drittens ein „Bild" von dem Angeschauten entworfen und als solches von einem wirklichen Dinge, dem das Bild entspreche, unterschieden; hierbei treten die Kategorien und die Anschauungsformen Raum und Zeit hervor, die also mit dem Objekte zugleich entstehen. ^ Das vierte Stadium ist der „Verstand", welcher die wandelbare Anschau- ung zum Begriff" fixiert, das Objekt realisiert und als Ursache der An- schauung ansieht. An fünfter Stelle erscheint die „Urteilskraft" als das Vermögen der freien Reflexion und Abstraktion oder die Kraft, einen bestimmten Inhalt betrachten oder von ihm absehen zu können. Wie sie selbst die Bedingung der gebundenen Reflexion des Verstandes ist, so weist sie wiederum als auf ihre Bedingung auf die sechste und höchste Stufe der Intelligenz hin, die „Vernunft", vermöge deren wir von jedem Gegenstande überhaupt zu abstrahieren imstande sind, während diese selbst das reine Selbstbewußtsein, dasjenige ist, wovon niemals abstra- hiert werden kann. Erst auf den höchsten Stufen findet Bewußtsein oder ein Vorstellen des Vorstellens statt. Auf dem Gipfel des theoretischen Ich aber tritt der Wendepunkt zum praktischen Verhalten ein. Hier wird das Ich inne, daß es, als es sich bestimmt durch das Nichtich setzte, nur sich selbst beschränkte, somit selbst der Grund alles Bewußt- seinsinhaltes ist; hier erfaßt es sich als bestimmend das Nichtich oder als handelnd und erkennt als seine Hauptaufgabe, dem Nichtich soweit möglich die Form des Ich aufzuprägen und die Grenze immer mehr hinauszurücken.

Die „Deduktion der Vorstellung", deren Grundriß soeben verzeich- net worden, ist das erste, in der Schule Schellings und Hegels oft nach- geahmte Beispiel einer konstruktiven Psychologie, welche aus der Auf- gabe oder dem Begriff der Seele hier dem Wesen des Selbstbewußt- seins — die verschiedenen psychischen Funktionen ableitet als ein System von Handlungen, deren jede an ihrer Stelle von den übrigen gefordert wird, so wie sie ihrerseits die übrigen voraussetzt. Von der gleichfalls genetischen Seelenlehre des Sensualismus (S. 215 220), sowie von der ebenfalls den Begriff teilnahmslos nebeneinander liegender Seelenvermögen ausschließenden mechanistischen oder Assoziationspsychologie unter- scheidet sie sich dadurch, daß sie für die Erhebung von einem Gliede

1 Das Objekt ist ein Produkt des Ich nur für den beobachtenden Philosophen, nicht für das beobachtete Ich selbst, dem es vielmehr auf jenem Standpunkte der Ein- bildung als ein von ihm unabhängiges, auf dasselbe einwirkendes Ding an sich erscheint und deshalb so erscheinen muß, weil das Ich, indem es nachträglich auf seine produ- zierende Tätigkeit reflektiert, durch eben diese Reflexion die betrachtete Produktion zu einem vorgefundenen festen und selbständigen Produkte macht.

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Fichte.

der Reihe zum anderen eine neue Betätigung des Seelengrundes fordert, von der ersteren außerdem durch den teleologischen Gesichtspunkt. Denn wieviel Fichte auch von dem Mechanismus des Bewußtseins sprechen mag, daß er denselben nicht nur im Dienste eines Zweckes arbeiten, sondern auch durch Zwecktätigkeit des Ich entstehen läßt, liegt schon für den Leser des theoretischen Teiles offen vor Augen und wird über- dies durch den praktischen aufs schlagendste bestätigt. Gefahr und Mangel jener konstruktiven Behandlung der Psychologie liegen, wie hier sogleich bei dem ersten Versuche derselben auch für die späteren be- merkt sein mag, in der Einbildung, der Aufgabe der Seelenwissenschaft schon Genüge getan und alle Probleme gelöst zu haben, wenn man jeder einzelnen Tätigkeit des Ich ihre Aufgabe und Leistung fürs Ganze, ihre Stelle im System angewiesen hat, ohne anzugeben, wie der Naturlauf die Mittel zusammenführt, durch welche jener Bestimmung entsprochen werden kann.

4. Das praktische Ich.

Die Deduktion der Vorstellung hat gezeigt, wie (durch welche un- bewußten Akte des Ich) die verschiedenen Stufen der Erkenntnis, die drei sinnlichen und die drei geistigen Funktionen des Vorstellens zustande kommen. Sie wußte jedoch keine Auskunft zu geben, wie das Ich dazu k^mme, seine ins Unendliche hinausgehende Tätigkeit an einem Punkte zu hemmen und sie auf sich selbst zurückzulenken. Wohl wissen wir, daß jene erste Grenze, durch welche die Empfindung entsteht und auf Grund deren durch fortgesetzte Reflexion der Verstand die objektive Welt erbaut» notwendig war, damit Bewußtsein und Erkenntnis zustande komme. Wenn das Ich seine unendliche Tätigkeit nicht beschränkte, gäbe es weder ein Vorstellen noch eine objektive Welt. Aber warum gibt es denn so etwas wie Bewußtsein, Vorstellung und Welt? Auf dem Boden des theoretischen Ich kann jenes Problem ,, woher das ursprüngliche Nichtich oder der An- stoß, der das Ich in sich zurücktreibt?" nicht gelöst werden, weil es selbst erst durch den Anstoß entsteht. Die „Deduktion des Anstoßes", welche der theoretische Teil der Wissenschaftslehre schuldig bleibt, ist von dem praktischen zu erwarten. Der bereits von Kant betonte Primat der praktischen Vernunft gibt uns Auskunft: das Ich beschränkt sich selbst und ist theoretisch, um praktisch zu sein. Der ganze Apparat des Vorstellens und der vorgestellten Welt ist nur dazu da, uns die Möglich- keit zu geben, unsere Pflicht zu erfüllen. Wir sind Intelligenz, damit wir Wille sein können.

Handeln, handeln, das ist es, wozu wir da sind. Handeln ist Formung eines Stoffes, Veränderung oder Bearbeitung eines Objekts, Besiegung eines Hindernisses, einer Schranke. Man kann nicht handeln, wenn man nicht

Das praktische Ich.

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et\\as hat, woran, worauf, wogegen man handele. Die empfundene und angeschaute Welt ist nichts als ein Mittel für die Erreichung unseres sitt- lichen Zweckes, sie ist das „versinnlichte Material unserer Pflicht". Das theoretische Ich setzt einen Gegenstand, damit das praktische einen Widerstand habe. Es ist kein Handeln möglich ohne Welt als Objekt des Handelns, keine Welt möglich, ohne ein Bewußtsein, das sie vorstellt, kein Bewußtsein ohne Reflexion des Ich auf sich selbst, keine Reflexion ohne Begrenzung, ohne Anstoß oder Nichtich. Der Anstoß ist deduziert. Das Ich setzt eine Schranke (ist theoretisch), um sie (praktisch) zu über- winden. Unsere Pflicht ist das einzige Ansich der Erscheinungswelt, sie ist das wahrhaft Wirkliche an ihr: „Die Dinge sind an sich, was wir aus ihnen machen sollen." Die Objektivität ist nur da, um mehr und mehr aufgehoben, nämlich so bearbeitet zu werden, daß an ihr die Tätigkeit des Ich sichtbar werde.

Der gleiche Erklärungsgrund, aus dem die Notwendigkeit einer äußeren Natur einleuchtet, läßt uns begreifen, warum das eine unendliche Ich (das allgemeine Leben oder die Gottheit, wie Fichte in den späteren Schriften sagt) sich in die vielen empirischen Iche oder die Individuen spaltet, warum es seinen Plan nicht unmittelbar, sondern durch endliche Geister als seine Organe verwirklicht. Nur in individueller Form kann gehandelt werden, nur in Individuen ist Bewußtsein und Sittlichkeit mög- lich. Ohne Widerstand kein Handeln, ohne Kampf keine Sittlichkeit. Zwar soll die Individualität in sittlicher Arbeit überwunden und ver- nichtet werden; aber um dies zu können, muß sie dagewesen sein. Tugend ist Überwindung der äußeren und inneren Natur. ^

Ein der Reihe der theoretischen Tätigkeiten entsprechender Stufen- gang der praktischen Funktionen führt vom Gefühl und Streben (Sehnen und Begehren) durch das System der Triebe (Vorstellungs- oder Reflexions-, Produktions-, Befriedigungstrieb) bis hinauf zum sittlichen Willen oder dem Triebe nach Übereinstimmung mit sich selbst, der den Naturtrieben als kategorischer Imperativ gegenübertritt. Das praktische Ich vermittelt zwischen dem theoretischen und dem absoluten Ich. Das Ich soll unend- lich und selbständig sein, findet sich aber als endlich und abhängig von einem Nichtich, ein Widerspruch, der dadurch gelöst wird, daß das Ich praktisch wird, die Natur in zunehmendem Maße sich unterwirft und durch solche unaufhörliche Hinausrückung der Grenze sich der Realisierung seiner Bestimmung, absolutes Ich zu werden, in unendlichem Fortschritt annähert.

1 Wenn wir in der praktischen Philosophie Kants (oben S. 349) den wissen- schaftlichen Ausdruck der christlichen Moral erblicken durften, so ist von derjenigen Fichtes zu sagen, daß sie einen längst vor ihr dagewesenen Typus von Natur- und I,ebensauffassung erneuert und verschärft, den mittelalterlichen des ,,auf einer ge- zähmten Bestie reitenden Engels".

380 Fichte.

II. Sitten- und RecMslehre.

Das Sittengesetz fordert Beherrschung des sinnlichen Triebes durch den reinen. Der sinnliche Trieb richtet sich auf behagliche Ruhe und Genuß, er macht uns von den Gegenständen abhängig; der sittliche Trieb dagegen geht auf Zufriedenheit mit sich selbst, auf Arbeit und Selbständig- keit. (Genuß ist freilich, als Befriedigung beim Gelingen jedweden Triebes, unvermeidlich; er darf nur nicht den Zweck des Handelns bilden.) Sittlichkeit ist Tätigkeit um der Tätigkeit willen, das radikale Böse von dem uns nur ein Wunder befreien kann, aber ein Wunder, das wir selbst tun müssen die Trägheit, die Scheu vor der Mühe, das sich nicht über die Naturbestimmtheit des Selbsterhaltungstriebes zum deutlichen Bewußtsein der Pflicht und der Freiheit Erhebenwollen. Für den sittlichen Menschen gibt es kein Ausruhen, jeder erreichte Zweck wird ihm Antrieb zu fortgesetzter Arbeit, an jede erfüllte Aufgabe knüpft sich ihm eine neue. Werde selbständig, handle autonom, mache dich frei; jede Handlung liege in einer Reihe, in deren Fortsetzung das Ich unabhängig werden muß. Zu dieser formellen und universellen Norm aber kommt für jedes Individuum ein besonderes Gebot. Jeder einzelne Geist erhält von der Weltordnung seine bestimmte Aufgabe vorgeschrieben : jeder soll das, was schlechthin nur er soll und nur er kann. Erfülle jedesmal deinen sittlichen Beruf, deine spezielle Bestimmung. ' Beides opulär zusammengefaßt: handle nie gegen dein Gewissen.

Die Erhebung zur Freiheit vollzieht sich stufenweise. Zuerst besteht dieselbe nur im Bewußtsein des Naturtriebes, im Reflektieren über die verschiedenen Möglichkeiten des Handelns; sodann folgt eine Losrei- ßung von dem Naturtriebe durch Maximen zunächst der eigenen Glück- seligkeit. Weiterhin entzündet sich eine blinde Begeisterung für die Selb- ständigkeit und erzeugt die heroische Denkart, die lieber großmütig sein will als gerecht, lieber Wohlwollen erweist als Achtung; wahrhafte Mo- ralität aber findet erst da statt, wo unter steter Aufmerksamkeit auf das Gesetz und beständiger Bewachung seiner selbst die Pflicht um der Pflicht willen geübt wird. Niemand ist seiner Moralität ohne fortgesetzte An- strengung einen Augenblick sicher. Zur Befreiung von der Erbsünde der Trägheit und ihrem Gefolge, der Feigheit und Falschheit, bedürfen die Menschen der Vorbilder, genialer Individuen, die ihnen das Rätsel der Freiheit vorkonstruieren, wie ihnen solche in den Religionsstiftern er-

1 Wenn Fichte mit Recht getadelt worden, daß er mit seinem kahlen Moral- prinzip der Selbständigkeit des Ich die Abstraktheit des Kantischen noch übertroffen habe, so gereicht es ihm zum Lobe, durch Einführung des gereinigten Individualitäts- gedankens Jacobis (S. 275 276) der Ethik einen konkreten Inhalt von unbestreitbarer Gesundheit und Brauchbarkeit dargeboten zu haben.

Sittenlehre. Natürrecht. 38 1

standen sind. Die notwendige Verständigung über sittliche Überzeugung geschieht in der Kirche, deren Symbole nicht als Lehrstücke, sondern nur als Lehrmittel für die Verkündigung der ewigen Wahrheiten anzu- sehen sind und die, gleich dem Staate (denn beide sind Notinstitute), das Ziel hat, sich mit der Zeit entbehrlich zu machen. Aiich dem Geist- lichen darf es nicht verwehrt werden, durch Schriften zu dem Fortschritt von der Notkirche zur Vemunftkirche beizutragen. In seiner Eigenschaft als Prediger zwar, auf der Kanzel, wo er als Beamter der Kirche fun- giert, darf er dem gemeinsamen Glauben nicht widersprechen; ist er aber zugleich wissenschaftlicher Theolog, so steht ihm als solchem das Recht der freien Forschung und der freien Meinungsäußerung so gut zu, wie jedem anderen Gelehrten.

Das System der Pflichten unterscheidet, auf Grund des doppelten Gegensatzes der allgemeinen (unübertragbaren) und besonderen (übertrag- baren) und der unbedingten (auf das Ganze) und bedingten (auf uns selbst gehenden), vier Klassen von Pflichten: die der Selbsterhaltung, die des Standes, die der Nichtbeschädigung anderer und die des Berufs. Dem niederen Berufe gehören die Produzenten, Handwerker und Kauf- leute an, welche auf die Natur, dem höheren die Gelehrten, Volkslehrer oder Geistlichen, Künstler und Staatsbeamten, welche direkt auf die Ge- meinde vernünftiger Wesen einwirken. Die sinnigen und warm geschrie- benen Ausführungen Fichtes über die Ehe stehen in einem wohltuenden Gegensatze zu der nüchternen, rein juristischen Auffassung dieses Ver- hältnisses bei Kant.

Das Naturrecht ist für Fichte, wie für Kant, dessen Rechtslehre übrigens später erschien als die Fichtesche, vollkommen selbständig gegen die Sittenlehre und von dieser dadurch unterschieden, daß sie es nur mit dem äußeren Handeln, nicht mit der Gesinnung und dem Willen zu tun hat. Die Rechtsregel erhält zwar durch das Sittengesetz eine neue Sank- tion für das Gewissen, ist aber nicht daraus abzuleiten.

Der Rechtsbegriff ist als eine notwendige Handlung des Ich zu deduzieren, d. h. als eine Bedingung des Selbstbewußtseins nach- zuweisen. Das Ich muß sich als Individuum setzen und kann dies nur dadurch, daß es sich in ein Rechtsverhältnis zu anderen endlichen Vernunftwesen setzt; ohne Du kein Ich. Ein endliches Vernunftwesen kann sich selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit in einer äußeren Sinnen weit zuzuschreiben; es kann dieses letztere nicht, ohne i. die freie Wirksamkeit auch anderen zuzuschreiben, mithin auch andere endliche Vernunftwesen außer sich anzunehmen und sich als mit diesen im Rechtsverhältnis stehend zu setzen, und ohne 2. sich einen materiellen Leib zuzuschreiben und diesen als unter dem Einflüsse einer Person außer ihm stehend zu setzen. Aber auch die nähere Beschaffenheit sowohl der Außenwelt als des menschlichen

282 Fichte.

Leibes (als des Umfanges aller möglichen freien Handlungen der Person) hält Fichte für deduzierbar, nämlich daß in jener eine zähe, haltbare, widerstandsfähige Materie und zur Möglichkeit eines Verkehrs zwischen den Geistern Luft und Licht vorhanden, dieser aber ein organisiertes, artikuliertes, mit Sinnen ausgestattetes und ins Unendliche bestimmbares, zu allen denkbaren Bewegungen geschicktes Naturprodukt sein müsse. Wenn eine Gemeinschaft freier Wesen, wie solche als Bedingung des individuellen Selbstbewußtseins nachgewiesen worden, möglich sein soll, so muß das Rechtsgesetz gelten: beschränke deine Freiheit so, daß der andere neben dir auch frei sein könne. Dasselbe steht unter der Bedin- gung des rechtsgemäßen Betragens des anderen. Wo dieses mangelt, wo der andere mich nicht als vernünftiges und freies Wesen anerkennt und behandelt, tritt das Recht des Zwanges ein. Der Zwang darf jedoch nicht vom Einzelnen selbst ausgeübt werden da sonst die Garantie sowohl des Erfolges als der NichtÜberschreitung der rechtlichen Grenze felilen würde , sondern liegt dem Staate ob, der durch den gemeinsamen Willen aller, sich zur Sicherung ihrer Rechte zu vereinigen, entsteht und durch positive Gesetze (ein mittleres zwischen Rechtsgesetz und Rechts- urteil) festsetzt, was als Recht gelten solle. So ergeben sich drei The- mata für das Naturrecht : die Urrechte oder der Inbegriff dessen, was dazu gehört, daß jemand frei oder Person sei (Unverletzlichkeit des Leibes und des Eigentums), das Zwangsrecht und das Staatsrecht. Der Zweck der Strafe ist die Besserung des Übeltäters und die Abschreckung der übrigen. Über das Prinzip der Volkssouveränität (Rousseau) und die Ausübung der Staatsgewalt durch Vertreter ist Fichte mit Kant ein- verstanden, nicht so über die Garantien gegen Verletzung des Staats- grundgesetzes. Statt der von jenem empfohlenen Trennung der Ge- walten verlangt er Überwachung der Staatsleiter durch Ephoren, welche, selbst jeder legislativen und exekutiven Befugnis entbehrend, die Staatsleiter im Falle der Gesetzesübertretung suspendieren und vor der Gemeinde zur Rechenschaft ziehen. Jede Verfassung, in der die Macht- haber nicht verantwortlich, ist despotisch. Dem Grundsatz, daß der Staat lediglich ein Rechtsinstitut sei, ist Fichte nicht treu geblieben. Er for- dert nicht nur in dem „Naturrecht" und dem „geschlossenen Handels- staat" eine staatliche Organisation der Arbeit, vermöge deren jedermann in den Stand gesetzt werde, von seiner Arbeit zu leben im vernunft- mäßigen Staate soll kein Armer und kein Müßiggänger sein , sondern macht es in der nachgelassenen Rechtslehre 1812 zur Hauptaufgabe des Staates, durch sittliche und intellektuelle Bildung des Volkes es dahin zu bringen, daß die Menschen aus Einsicht tun, was sie bis dahin aus Autoritätsglauben getan. Durch die Volkserziehung soll sich der em- pirische Staat allmählich in den Vernunftstaat umwandeln.

Die zweite Periode. Geschichtsansicht. ^83

III. Pichtes zweite Periode: Gesehiehtsansieht und Religionslehre.

Die Übersiedelung des Philosophen nach Berlin bringt ihn mit dem Weltleben in nähere Berührung und schafft mit neuen Erlebnissen und Stimmungen neue Probleme. Während ein mit Macht hervorbrechendes religiöses Gefühl Fichtes Spekulation auf das Verhältnis des Einzelichs zum Urquell des geistigen Lebens hinlenkt, gewinnt gleichzeitig die em- pirische Wirklichkeit für ihn eine größere Bedeutung und zieht insbe- sondere die geistige, sittliche und politische Lage der Gegenwart seine Aufmerksamkeit auf sich; sie will philosophisch begriffen sein und fordert ebensowohl zu Untersuchungen über ihre historischen Vorbedingungen wie zur Erwägung der Mittel auf, durch welche der klaffende Widerspruch, in dem sich der jetzige Zustand der Nation und der Menschheit mit dem Vernunftideale befindet, verringert werden könne. Die „Reden an die deutsche Nation" entwerfen den Plan einer von der Erziehung des deutschen Volkes^ aus in Angriff zu nehmenden sittlichen Weltreform, die ihnen vorangehenden „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" be- stimmen die Stelle, welche der Gegenwart in der Gesamtentwickelung der Menschheit zukommt. Die in den „Grundzügen" und ähnlich in der „Staatslehre" gegebene Konstruktion der Geschichtsperioden (Un- schuld — Sünde Vernunftherrschaft, vermittelt durch je ein Zwischen- stadium) ist als Vorbote des Hegeischen Unternehmens interessant.

Die Geschichte erzeugt sich aus der Wechselwirkung der beiden Prinzipien: Glaube und Verstand, die sich zueinander verhalten wie Gesetz und Freiheit, und strebt zu einem Zustande hin, in welchem beide derart versöhnt sind, daß der Glaube ganz in die Form des Verstandes eingegangen ist, sich in Einsicht verwandelt, der Verstand den Inhalt des Glaubens in sich aufgenommen hat. Ihren Anfang nimmt sie mit dem Zusammentreten zweier Grund- und Stammgeschlechter, eines Geschlechtes der Ordnung oder des Glaubens und eines Geschlechtes der Freiheit oder des Verstandes, deren keines ohne das andere zu einer geschichtlichen Entwickelung gelangen würde. Von dem Geschlecht der Ordnung lernt das freie Geschlecht Achtung vor dem Gesetz, so wie es in jenem den Trieb nach Freiheit erweckt. In fünf Perioden gliedert sich der Lauf der

1 „Unter allen Völkern seid ihr es, in denen der Keim der menschlichen Ver- vollkommnung am entschiedensten liegt." Die geistige Wiedergeburt der Menschheit kann nur vom deutschen Volke ausgehen, denn dieses ist das einzige Ur- oder Stammvolk der neuen Zeit, das einzige, das sich seine lebendige Sprache erhalten die französische ist eine tote und sich zu wahrhaft schöpferischer Dichtung und freier Wissenschaft erhoben hat. Der Unterscheidungsgrund der Deutschheit von der Ausländerei liegt darin , ob man an ein Ursprüngliches im Menschen , an Freiheit, unendliche Verbesserlichkeit und ewiges Fortschreiten unseres Geschlechts glaube oder ob man an alles dieses nicht glaube.

384

Fichte.

Geschichte. Im Stande der „Unschuld" oder des Vernunft Instinktes wird das Vernünftige bewußtlos, aus natürlichem Triebe getan, im Stande der „anhebenden Sünde" verwandelt sich der Instinkt für das Gute in eine äußerlich zwingende Autorität, das Vernunftgesetz erscheint als eine fremde gebietende Macht, der gehorcht, aber auch zuwidergehandelt werden kann. Wir selbst leben in der Periode der „vollendeten Sündhaftigkeit", der absoluten Ungebundenheit und Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, der schrankenlosen Willkür und Selbstsucht. Soweit entfernt von dem sittlichen Ziele dieses Zeitalter erscheint, in welchem der Einzelne, aller Fesseln ledig, nichts kennt als seine egoistische Begierde und über der Sorge für sein Wohlsein die Arbeit für das Allgemeine vergißt, so kann doch jenes Ziel, daß aus freier Einsicht geschehe, was anfänglich aus blindem Glauben getan ward, nicht erreicht werden, ohne daß zuvor die Autorität abgeschüttelt und das Individuum selbständig werde. Einzelne Anzeichen verkünden bereits das hereinbrechende vierte Zeitalter, das tler Vernunftwissenschaft oder der „anhebenden Rechtfertigung", worin die Wahrheit als das Höchste anerkannt wird und das Einzelich wenigstens als erkennendes sich der Gattungsvernunft unterwirft. Endlich mit dem Zeitalter der Vernunftkunst oder dem Stande der „vollendeten Recht- fertigung und Heiligung", wo der Wille des Einzelnen ganz aufgehen wird in dem Leben für die Gattung, wird der Zweck des Erdenlebens der Menschheit daß sie alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte erfüllt sein.

In der Jenenser Zeit fiel für Fichte das religiöse Verhalten des Ich mit dem praktischen, die Frömmigkeit mit dem sittlichen Handeln, die Gottheit mit dem absoluten Ich, dem Sittengesetz, der moralischen Welt- ordnung einfach zusammen. In diesem Punkte vollzieht sich eine Änderung seiner Ansicht. Er erfährt Stimmungen in sich, die sich von der Bereit- schaft zu moralischem Handeln, so eng sie mit derselben auch verwachsen, so wenig sie von ihr tatsächlich ablösbar sind, doch ihrer Qualität nach unterscheiden; Religion ist weder ohne die metaphysische Überzeugung einer übersinnlichen Welt, noch ohne Gehorsam gegen das Sittengesetz möglich, aber sie selbst ist nicht jene Ansicht und nicht dieses Tun, sondern der innere Geist, der all unser Denken und Handeln durchdringt und belebt, sie ist Leben, Liebe, Seligkeit. Und wie hier vom rastlosen Tun die stille Seligkeit, so trennt sich unserem Denker von der tätigen Allvernunft, die in ihren individuellen Organen von Aufgabe zu Aufgabe fortschreitet, die ruhende Gottheit, das sich selbst gleiche Leben des Ab- soluten. Das früher einige und einzige Prinzip des absoluten Ich spaltet sich in die Ichheit (Sittengesetz, Weltordnung) und ein Absolutes als Grund derselben. „Der Geist (das Ich, oder wie Fichte jetzt lieber sagt, das Wissen) ein Bild Gottes, die Welt ein Bild des Geistes." Die tätige Weltordnung (das sich in den Individuen realisierende Sittengesetz) die

Religionslehre.

385

unmittelbare, die objektive Wirklichkeit die mittelbare Offenbarung des Absoluten.

Bedeutet diese Religionsansicht, die Fichte auch in die neuen Darstellungen der Erkenntnislehre mit aufnimmt, ein Verlassen und Verleugnen des früheren Standpunktes? Die Philosophie der zweiten Periode Fichtes ist ein neues System: so urteilte die Mehrzahl der Philo- sophiehistoriker. Sie ist nicht eine Umbildung, sondern eine Ergänzung des früheren Systems, die in Berlin vorgetragene Lehre bleibt ideali- stisch, wie die in Jena vertretene schon panth eis tisch war: so behaupten, in Übereinstimmung mit dem Philosophen selbst und seinem Sohne, Fortlage, Löwe, Zimmermann und Harms 1. Auch Kund Fischer, der in der Entwickelung der Fichteschen Lehre einen stetigen Fortschritt, einen allmählichen Übergang „ohne Abbruch" nachweist, darf der Mino- rität zugezählt werden, welche Fichte sein lebelang nur ein System gelehrt haben läßt. Wir glauben uns der letzteren Ansicht anschließen zu sollen. Die Wissenschaftslehre (die Welt ein Produkt des Ich) wandert, wie sie ist, in die spätere Gestalt der Fichteschen Philosophie hinein, diese gibt keine ihrer Grundpositionen auf, sondern fügt ihr nur eine krönende Spitze hinzu, durch welche zwar der Anblick des Gebäudes, aber nicht das Gebäude selbst eine Änderung erfährt. In der Diskussion der Streitfrage sind als wichtigste Differenzpunkte der beiden Perioden folgende drei hervorgehoben worden. In dem älteren System wird Gott mit dem absoluten Ich und der moralischen Weltordnung gleichgesetzt, in dem jüngeren von ihnen abgesondert und über sie hinausgerückt; in jenem wird das Wesen Gottes als Tätigkeit, in diesem als Sein beschrieben; dort wird als die höchste Aufgabe des Menschen das Handeln, hier die selige Hingabe an Gott bezeichnet. Man kann alle drei Abweichungen der späteren Lehre von der früheren zugeben und dennoch dabei bleiben, daß diese durch jene nur erweitert, nicht aber wesentlich (d. h. in dem, was sie über das Verhältnis von Ich und Welt lehrte) modifiziert wird. Fichte erlebt religiöse Stimmungen, deren philosophischen Ertrag er in sein Lehrgebäude hineinarbeitet. Er kennt jetzt ein Erstes (die vom ab- soluten Ich unterschiedene Gottheit) und ein Letztes (die Innigkeit der religiösen Hingabe an den Weltgrund), die er früher nicht übersehen oder gar geleugnet, aber mit dem Zweiten (dem absoluten Ich oder der sitt- lichen Weltordnung) und dem Vorletzten (dem moralischen Handeln) in Eins zusammengefaßt hat. Es ist unrichtig, zu sagen, daß Fichte in seiner späteren Lehre an Stelle des tätigen absoluten Ich das ruhende Ab- solute, an Stelle des rastlosen Handelns die stille Seligkeit der Kontemplation gesetzt habe. Nicht an Stelle, sondern über sie hinaus, wobei alles übrige

1 Die Frage nach der veränderten Lehre behandelt Friedrich Alfred Schmid, Fichtes Philosophie und das Problem ihrer inneren Einheit (Freiburger Dissert.) 1904. Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 25

386

SCHELLING.

bleibt, wie es war. Der kategorische Iruperativ, das absolute Ich oder das Wissen ist nicht mehr Gott selbst, sondern die erste Äußerung Gottes; aber seine notwendige Offenbarung. Die Religiosität war ihm früher in dem sittlichen Handeln beschlossen, jetzt tritt Gottinnigkeit darüber hinaus, aber Moralität bleibt ihre unerläßliche Bedingung und unzertrenn- liche Genossin. Wie endlich das früher perhorreszierte Prädikat des „Seins" für die Gottheit zu verstehen, das lehrt die nicht minder häufige Bezeichnung des Absoluten als des „allgemeinen Lebens". Der aller- dings mißverständliche Ausdruck Sein bedeutet hier nur die ruhige, mit sich identische Tätigkeit des Absoluten im Gegensatz zur unruhigen und wechselvollen Tätigkeit der Weltordnung und ihrer endlichen Organe, nicht aber jenes vom Ich gesetzte starre und tote Sein, das Fichte in seinem des Atheismus bezichtigten Aufsatze der Gottheit beizulegen verbot, geschweige die Existenzweise eines besonderen selbstbewußten und persönlichen Wesens. Statt von einer Bekehrung Fichtes zum Standpunkt seiner Gegner zu reden, darf man eher die Paradoxie wagen, daß er jetzt, wo er das Absolute als das einzige wahrhafte Sein charak- terisiert, dieselbe Anschauung im Leser zu erzeugen beabsichtigt, wie damals, als er sich gegen die Anwendung der Begriffe Existenz, Sub- stanz, bewußte Persönlichkeit als sinnlicher Kategorien auf Gott aussprach. Die Hauptsache wenigstens: der Gegensatz gegen eine Religionsansicht, welche die erhabene und heilige Lehre des Christentums „in eine ent- nervende Glückseligkeitslehre verwandelt", ist geblieben.

Elftes Kapitel. S c h e 1 1 i n g.

Friedrich Wilh. Jos. (von) Schelling, geboren am 27. Januar 1775 in Leonberg (Württemberg), gestorben am 20. August 1854 im Bade Ragaz (Schweiz), besucht 1790 95 mit den um fünf Jahre älteren Hölderlin und Hegel das Tübinger Stift, veröffentlicht als Siebzehn- jähriger eine Dissertation über den Sündenfall, das Jahr darauf eine Abhandlung über religiöse Mythen, wird von Leipzig, wo er nach einigen •die Wissenschaftslehre erläuternden Schriften 1 die „Ideen zu einer Philo- sophie der Natur" 1797 herausgegeben, nach Jena berufen und lernt

1 Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie 1794, Vom Ich als Prinzip der Philosophie, Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, beide 1795, Abhand- lungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre 1797.

SeHELLINC.

38^

dort in der geistvollen Frau Aug. Wilhelm Schlegels, Karoline i, geb. Mi*- chäelis, verwitweten Böhmer (1763 1809), seine nachmalige Gattin kennen. Von 1803 06 lehrt er als Professor in Würzburg. Es folgt ein zweimaliger je vierzehnjähriger Aufenthalt in München: 1806^—20 als Mitglied der Akademie der Wissenschaften und als Generalsekretär der Akademie der bildenden Künste (die letztere Stellung erhielt er nach der am Namenstag des Königs gehaltenen berühmten Rede übet „Das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur" 1807), und 1827 bis 41 als Professor an der neugegründeten Universität, sowie als Präsi- dent der Akademie der Wissenschaften; dazwischen ein siebenjähriger in Erlangen. 18 12 schließt er mit Pauline Gotter die zweite Ehe. Außer verschiedenen Zeitschriften '- und den später zu erwähnenden Büchern sind zwei Streitschriften zu nennen: die „Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre" 1806, worin gegen den früheren Freund der Vorwurf des Plagiats er- hoben wird, und das „Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen des Herrn Jacobi" 1812, welches einen bitteren Angriff Jacobis noch bitterer erwidert. Von nun an wird der einst so schreiblustige Philosoph schweigsam. 3 Die häufig versprochene und bereits zweimal im Druck begonnene VerötTentlichung der positiven Philosophie (Die Weltalter 18 15, Mythologische Vorlesungen 1830) wurde beide Male zurückgezogen. Von Friedrich Wilhelm IV. 1841 nach Berlin an die Akademie be- rufen, um dem herrschenden Hegelianismus ein Gegengewicht zu bieten, hielt Schelling auch an der Universität Vorlesungen (über Mythologie und Offenbarung), die er jedoch abbrach, als Nachschriften von Zuhörern gegen seinen Willen in Druck gegeben wurden.^ Die Gesamtausgabe der Werke in 14 Bänden (1856 61) hat der Sohn des Philosophen, K. E. A. Schelling, besorgt.

Über Schelling vergl. die Vorlesungen von K. Rosenkranz 1843; die Artikel von Heyder im 13. Bande von Herzogs Realenzyklopädie für protest.' Theologie 1860 und von JODL in der Allgem. deutschen Biographie; eine große Zahl von Ab-

1 Karoline, Briefe, herausgegeben von G. Waitz 1S71. Vergl. R. Haym, Ein deutsches Frauenleben aus der Zeit unserer Literaturblüte (aus Preuß, Jahrbb. Bd. 28) 1S70, jetzt in den Gesammelten Aufsätzen 1903.

- Kritisches Journal der Philosophie (mit Hegel) 1802, Zeitschrift für spekula- tive Physik 1800' (fortgesetzt als Neue Zeitschr. f. sp. Physik), Jahrbücher der Medizin als Wissenschaft (mit Marcus) 1806 08, Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche 1813.

3 Außer einer Beilage zu den Weltaltern und der Berliner Antrittsvorlesung gab er nur noch zwei Vorreden heraus; zu Viktor Cousin über französische und deutsche Philosophie, deutsch von Hubert Beckers 1834, und zu Steffens' nachgelassenen Schriften 1846.

* Paulus: Die endlich offenb.ar gewordene positive Philos. d. Offenb. 1843; schon 1S42 hatte FrauenstäDT einen Auszug aus derselben veröffentlicht.

25*

388

SCHELLING.

handlungen über Schelling hat Hubert Beckers (1806 89) geschrieben, die man im Almanach der bayrischen Akademie der Wiss. 1884 S. 177 f. verzeichnet findet; R. Haym, Die romantische Schule 1870; Aus Schellings Leben, in Briefen, heraus- gegeben von Plitt, 3 Bände 1869 1870; Ed. v. Hartmann, Schellings philos. System 1897. Die bisherigen Darstellungen der Lehre Schellings, welche chronolo- gisch zu Werke gehen und ,, gleichsam Querschnitte seines Denkens zu verschiedenen Zeitpunkten" darbieten, will V. Hartmann ergänzen durch den Versuch, ein ein- heitliches zusammenhängendes Bild des gesamten Schellingschen Denkens zu ent- rollen, indem er das System in seine einzelnen Bestandteile (die intellektuelle An- schauung, Erkenntnistheorie, Prinzipienlehre, Naturphilosophie, Geistesphilosophie) auflöst und jeden einzelnen in Längsschnitten verfolgt.

Die Haupttriebfeder des Schellingschen Denkens ist eine ungewöhn- liche Kraft der Phantasie, die seiner Philosophie den Charakter des Schwungvollen, Anregenden und Anziehenden verleiht, ohne ihr in gleichem Maße den des logisch Befriedigenden zu sichern. Imponieren die ihr inhaltlich engverwandten Systeme Fichtes und Hegels durch lo- gische Strenge, so fesselt Schelling durch lebendige Intuition und sinniges Sichhinein fühlen in das Innere der Dinge. Ähnlichkeiten wiegen ihm schwerer als Gründe, am reichen Inhalt der Begriffe ist ihm mehr ge- legen als an ihrem festumgrenzten Umfang, und in dem Bestreben, im großen wie im kleinen die Einheit des Universums, speziell die Einheit von Natur und Geist aufzuzeigen, verweilt er länger bei der Verwandtschaft der Objekte, als bei ihren Gegensätzen, die er gern zu bloß quantitativen und fließenden Unterschieden herabsetzt. Dazu kommt eine erstaunliche Beweglichkeit des Denkens, vermöge deren jede dargebotene An- regung sofort ergriffen und in das Eigene hineingearbeitet, dabei aber unversehens der bisherige Standpunkt mit einem etwas veränderten ver- tauscht wird. So befindet sich die Schellingsche Philosophie in be- ständigem Flusse, fast jede Schrift zeigt sie in neuer Wendung, und stets sind es fremde Gedanken, deren Aufnahme die Verschiebung verursacht. Neben Leibniz, Kant und Fichte, die schon dem Tübinger Stiftler ver- traut waren, sind es zuerst Herder, dann Spinoza und Bruno, weiterhin der Neuplatonismus und die Mystik J. Böhmes, endlich Aristoteles und die Gnosis, welche auf die Umgestaltung der Schellingschen Lehre Ein- fluß gewannen, von der Wechselwirkung mit seinen Zeitgenossen Kiel- meyer, Steffens, Baader, Eschenmayer u. a. nicht zu reden. Man muß, von der anfänglichen Anhängerschaft an Fichte abgesehen, wenigstens drei Perioden auseinanderhalten. Die erste (1797 1800) enthält die epochemachende Tat seiner Jugend, die Naturphilosophie, und als gleichberechtigten zweiten Teil des Systems die Geistes- oder Transzendental Philosophie. Die letztere ist eine ergänzende Um- arbeitung der Fichteschen Wissenschaftslehre, in der ersteren schließt sich Schelling an Kant und Herder an. Die zweite Periode, seit 1801, fügt den beiden koordinierten Teilen der Natur- und Geisteslehre

Entwickeluno seiner Philosophie in drei Perioden. 389

als grundlegende Disziplin eine Wissenschaft vom Absoluten, die Iden- titätsphilosophie, hinzu, die man als einen auf Fichtescher Basis erneuerten Spinozismus bezeichnen darf. Neben dem Vorbilde Spinozas ist dasjenige Giordano Brunos für diese Gestalt der Schellingschen Philosophie maßgebend gewesen. Mit dem Jahre 1809 tritt sie, nach- dem schon seit 1804 Vorboten einer neuen Wendung bemerkbar ge- worden, in ihre dritte, theosophische Periode, die der positiven Philosophie, in der wir ein mystisches und ein scholastisches Stadium unterscheiden. Das erstere wird durch die von J. Böhme in- spirierte Freiheitslehre, das letztere durch die auf Aristoteles und die Gnostiker zurückgreifende Philosophie der Mythologie und Offenbarung repräsentiert. In der ersten Periode ist ihm das Absolute die schaffende Natur, in der zweiten die Identität der Gegensätze, in der dritten ein von dem Nochnichtvorhandensein der Gegensätze zu ihrer Überwin- dung fortschreitender vorweltlicher Prozeß. Bei keinem dieser Schritte will Schelling mit dem, was er bisher gelehrt hat, brechen, sondern immer nur eine Ergänzung hinzufügen. Was bis dahin das Ganze gewesen, wird als Teil beibehalten. Neben die vervollständigte Fichtesche Trans- zendentalphilosophie tritt gleichberechtigt mit umgekehrtem Gange die Naturphilosophie, sodann stellt sich über beide die Identitätslehre, end- lich kommt zu der bisherigen negativen (rationalen) eine positive (Existential-) Philosophie hinzu.

la. Naturphilosophie.

Schelling ist mit Fichte darüber einig, daß die Philosophie Transzen- dentalwissenschaft, Lehre von den Bedingungen des Bewußtseins sei und die Frage zu beantworten habe : was muß geschehen, damit Erkenntnis ent- stehe; einig ferner darüber, daß jene Bedingungen des Wissens notwendige Handlungen, Produktionen eines tätigen Urgrundes seien, der noch nicht bewußtes Ich ist, aber es werden will, und daß die materielle Welt das Produkt jener Handlungen sei. Die Natur ist da, damit das Ich werde. Wenn Fichte den Zweck der Natur, der Intelligenz zum Dasein zu ver- helfen, richtig erkannt hat, so hat er doch ihre Würde verkannt, indem er sie aller Selbständigkeit, alles Eigenlebens, aller Zeugungskraft beraubte, sie nur als totes Werkzeug, als passives, bloß gesetztes Nichtich behandelte. Die Natur ist nicht ein Brett, welches das Urich vor sich hinnagelt, um daran anprallend auf sich selbst zurückgetrieben, zur Reflexion genötigt und dadurch theoretisches Ich zu werden, um ferner dasselbe bearbeitend, umformend seine praktische Tätigkeit zu üben, sondern sie ist eine Stufen- leiter, auf der der Geist zu sich selbst emporsteigt. Aus der Natur ent- wickelt sich der Geist, sie ist nicht bloßes Objekt, sie hat selbst etwas Geistartiges, sie ist unentwickelte, schlummernde, bewußtlose, erstarrte In-

390

SCHELLING.

tdiigenz. Indem Schelling die Kraft des Sichselbstsetzens oder Subjekt- ■seins auf die Natur überträgt, erhebt er sie, die in der Wissenschaftslehre das A§chenbrödel gewesen, auf den Fürstenthron. Die Dreigliederung: -.jUnelidliche Urtätigkeit Natur oder Objekt individuelles Ich oder Subjekt" bleibt wie bei Fichte, nur daß das erste Glied nicht reines Ich, sondern Natur, aber schaffende Natur, natura naturalis, genannt wird. Schellings Absicht ist, zu zeigen, wie aus dem Oh>jekt ein Subjekt, aus dem Seienden ein Vorgestelltes, aus dem Vorstellbaren ein Vorstellendes, aus der Natur ein Ich entstehe. Diese Aufgabe konnte er nur zu lösen hoffen, wenn er die Naturobjekte, in deren höchstem, dem Menschen, er den bewußten Geist hervorbrechen oder die Natur sich selbst anschauen läßt, selbst als Erzeugnisse eines Ursubjekts, eines zum Bewußtsein hin- strebenden schöpferischen Grundes fcißte. Das Tun ist auch ihm ursprüng- licher als das Sein. Es wäre daher nicht triftig, den Gegensatz zwischen Fichte und Schelling dahin zu bestimmen, daß bei jenem die Natur aus dem Ich, bei diesem das Ich aus der Natur hervorgehe. Vielmehr sind beide dort wie hier Produkte eines dritten Höheren, das Geist werden will und es nur durch Setzung einer Natur werden kann. Allerdings wird dieser höhere Grund in der Wissenschaftslehre als ethische, in der Naturphilosophie als physische, wenn auch auf Intelligenz angelegte, Macht genommen; ferner erscheint die natura naturata in jener als ein- malige Setzung eines Ungeistigen, hier als gegliederter Stufenbau von all- mähUch wachsender Geistigkeit. In den bewußtlosen Naturprodukten mißlingt, im Menschen gelingt dje Absicht der Natur, auf sich zu re- flektieren, Intelligenz zu werden. Die Natur ist das Embryonalleben des Geistes. Natur und Geist sind wesentlich identisch: ,,Was außer dem Bewußtsein gesetzt ist, ist dem Wesen nach dasselbe, was auch im Bewußtsein gesetzt ist." Darum „muß das Erkennbare selbst schon das Gepräge des Erkennenden an sich tragen". Die Natur die Vor- stufe, nicht das Gegenteil des Geistes, die Geschichte eine Fortsetzung des physischen Geschehens^ der Parallelismus zwischen der idealen und der realen Entwickelungsreihe das sind HeMersche Ideen, die Schelling in die Transzendentalphilosophie einführt. Der Kant-Fichte- sche Moralismus mit seiner schroffen Entgegensetzung von Natur und Geist wird in der Naturphilosophie durch den Herderschen Physizismus eingeschränkt.

„Die Natur ist apriori" (alles Einzelne in ihr ist durch das Ganze, durch die Idee einer Natur überhaupt, im voraus bestimmt), darum können ihre Formen aus ihrem Begriffe deduziert werden. Der Philosoph schafft die Natur noch einmal, er konstruiert sie. Die spekulative Physik be- trachtet die Natur als Subjekt, Werden, Produktivität (nicht, wie die empirische Naturforschung, als Objekt, Sein, Produkt), wozu es statt der vereinzelnden Reflexiop einer auf das Ganze gehenden Anschauung bedarf.

I

Naturphilosophie.

391.

Der hervorbringenden Natur werden, wie dem absoluten Ich Fichtes, zwei entgegengesetzte Tätigkeiten, eine expandierende oder re- pulsive und eine attrahierende, zugeschrieben und hierauf das allgemeine Gesetz der Polarität gegründet. Die absolute Produktivität strebt einem unendlichen Produkt entgegen, das sie nie erreicht, weil es ohne Hem- mung kein Produkt gibt. Ihr muß an bestimmten Punkten Einhalt ge- boten werden, damit Erkennbares entstehe. So ist jedes Naturprodukt das Resultat einer positiven, vorwärtstreibenden, akzelerierenden, verall- gemeinernden und einer negativen, beschränkenden, retardierenden, in- dividualisierenden Kraft. Die Unendlichkeit der schöpferischen Tätig- keit gibt sich verschiedentlich kund: in dem Entwickelungsstreben jedes Erzeugnisses, in der Erhaltung der Gattung beim Untergang der Indi- viduen, in der Endlosigkeit der Reihe der Produkte. Der Schaffensdrang der Natur ist unerschöpflich, geht über jedes Produkt hinaus. Die Qua- litäten sind Hemmungspunkte der einen, allgemeinen Naturkraft, die ganze Natur ist Eine zusammenhängende Entwickelung. Vermöge des Gegensatzes der anfachenden und verlangsamenden Tätigkeit im Natur-r gründe herrscht allenthalben das Gesetz der Duplizität. Doch muß zu jenen beiden Kräften noch ein drittes als ihre Kopula hinzukommen, welches das Verhältnis oder Maß ihrer Verbindung festsetzt. Hieraus entspringen die Dreiteilungen der Naturphilosophie. Der Magnet mit seiner Vereinigung polar entgegengesetzter Kräfte ist der Typus aller Naturgestaltung.

Mit der synthetischen Methode Fichtes und dem naturalistischen Grundgedanken Herders verbindet sich die Benutzung Kantischer Ideen, insbesondere seines Dynamismus (die Materie ist ein Kraftprodukt)! und seiner Auffassung des Organischen (der Organismus ist das sich selbst Erzeugende und wird von uns wegen der Wechselwirkung zwischen seinen Gliedern und dem Ganzen als Selbstzweck betrachtet). Die drei or- ganischen Funktionen der Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion aber entlehnte SchelHng von Kielmeyer, dessen Rede „Über das Verhältnis der organischen Kräfte" 1793 großes Aufsehen erregte. Der Begriff des Lebens ist der herrschende in Schellings Naturlehre. Das Organische ist ursprünglicher als das Unorganische, dieses muß aus jenem erklärt, das Tote als ein Produkt des erlöschenden Lebens betrachtet werden. Ebenso irrig wie die Theorie einer magischen Lebenskraft ist die mecha- nische Erklärung, die im Leben nur einen chemischen Vorgang erblickt. Die toten, die mechanischen und chemischen, Kräfte sind bloß die ne- gativen Lebensbedingungen; zu ihnen muß als positive ein dem Indivi-

1 Schelling bezeichnet seine Naturphilosophie als dynamischen Atomismus, sofern sie als das Einfache (die Atome), woraus die Qualitäten zu erklären sind, reine Intensitäten setzt.

392

SCHELLING.

duum äußerlicher Lebensreiz hinzukommen, der den Konflikt der ent- gegengesetzten Tätigkeiten, auf welchem der Lebensvorgang beruht, stets aufs neue anfacht. Das Leben besteht nämlich in der perpetuierlichen Hinderung des Gleichgewichts, auf welches der chemische Prozeß hinzielt. Diese stete Störung geht von der „allgemeinen Natur" aus, die, als ge- meinschaftliches Prinzip der organischen und unorganischen Natur, als dasjenige, was beide füreinander bestimmt, zwischen ihnen eine prästa- bilierte Harmonie stiftet, den Namen der Weltseele verdient. Eine drei- fache Natur also kennt Schelling: die organisierte, die unorganische und die allgemeine organisierende (nach Harms kosmische), von denen die beiden ersteren aus der letzteren entstehen und ciurch sie in Verbindung und Harmonie gesetzt werden. (In ähnlicher Weise, wie Schelling hier einen selbständigen Mittelweg zwischen der mechanischen Erklärung des Lebens und der Annahme einer speziellen Lebenskraft einschlägt, hat er sich in allen brennenden Fragen der damaligen Physik durch eine vermittelnde Lösung über die streitenden Parteien zu stellen gesucht. So tritt er in der Frage „einfache oder doppelte Elektrizität" weder auf die Seite Franklins noch auf die seiner Gegner, bemüht sich beim Lichtproblem den Gegensatz zwischen Newtons Emanations- und Eulers Undulationslehre zu überwinden und polemisiert in dem Kapitel über die Verbrennung sowohl gegen die Verfechter als die Leugner des Phlogiston.)

Drei Hauptaufgaben stellt sich Schellings Naturphilosophie i; die Konstruktion der allgemeinen, unbestimmten, homogenen Materie mit bloßen Dichtigkeitsunterschieden, die der bestimmten, qualitativ differen- zierten Materie und deren Bewegungserscheinungen oder des dyna- mischen Prozesses, und die des organischen Prozesses. Für jedes dieser Naturgebiete wird eine Urkraft in der allgemeinen Natur sta- tuiert: Schwere, Licht, und deren Band, das allgemeine Leben. Die Schwere sie bedeutet nicht das, was als Anziehungskraft in die Em- pfindung fällt, denn sie ist die Vereinigung von Attraktion und Repulsion ist das Prinzip der Leiblichkeit und bewirkt in der sichtbaren Welt die verschiedenen Aggregatzustände des Starren, der Luft und des Flüssigen. Das Licht auch dieses ist nicht zu verwechseln mit dem wirklichen Licht, dessen Ursache es ist ist das Prinzip der Seele

* Sie ist in folgenden Schriften enthalten: Ideen zu einer Philosophie der Natur 1797, Von der Weltseele 1798, Erster Entwurf eines Systems der Natur- philosophie 1799, Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses oder der Kategorien der Physik (in der Zeitschrift für spekulative Physik) 1800. Doch wurde in obiger Darstellung auch die modifizierte Naturphilosophie der zweiten Periode mit berücksichtigt. Über die der naturphilosophischen Schule angehörenden Mediziner siehe A. Hirsch, Gesch. der med. Wissenschaften in Deutschland 1893, S. 408—419.

Naturphilosophie.

393

(von ihm geht alle Intelligenz aus, es ist eine geistige Potenz, das „erste Subjekt" in der Natur) und verursacht in der sichtbaren Welt die dyna- mischen Prozesse des Magnetismus, der Elektrizität und des Chemismus. Die höhere Einheit von Schwere und Licht ist das Band oder Leben, das Prinzip des Organischen, der beseelten Leiblichkeit oder der Prozesse des Wachstums und der Fortpflanzung, der Reizbarkeit, der Empfindungsfähigkeit.

Die allgemeine Materie oder Raumerfüllung entsteht aus dem Zu- sammenwirken dreier Kräfte: der vorwärtstreibenden, die als Abstoßung (erste Dimension), der zurücklenkenden, die als Anziehung (zweite Dimen- sion), und der Synthese beider, die als Schwerkraft (dritte Dimension) er- scheint. Durch das Licht werden diese Kräfte auf eine höhere Potenz erhoben und treten nun als Ursachen des dynamischen Prozesses oder der spezifischen Differenzen der Materie auf. Die lineare Funktion des Magnetismus ist die Bedingung der Kohärenz, die Flächenkraft der Elektrizität die Grundlage der sinnlich empfindbaren Qualitäten, die dreidimensionale Kraft des chemischen Prozesses, in dem jene beiden verbunden sind, bewirkt die chemischen Eigenschaften. Der Galvanismus macht den Übergang zur lebendigen Natur, in welcher durch Einwirkung der „Kopula" jene drei dynamischen Kategorien zu den organischen potenziert werden. Dem Magnetismus als der allgemeinsten, folglich niedrigsten Kraft entspricht die Reproduktion (der Bildungstrieb als Ernährung, Wachstum und Zeugung inklusive Kunsttrieb), die Elektrizität steigert sich zur Irritabilität oder Erregbarkeit, das höhere Analogen zum chemischen Prozeß als der individuellsten und höchsten Stufe ist die Sensibilität oder Empfindungsfähigkeit. (So wenigstens lehrt Schelling, nachdem ihn Steffens von der höheren Würde des Individuellen über- zeugt hatte, während er anfangs die Sensibilität mit dem Magnetismus, die Reproduktion mit dem Chemismus parallelisierte, weil jene beiden am seltensten, diese am häufigsten erscheinen. Elektrizität und Irritabilität haben stets ihre Mittelstellung behauptet.) Mit dem Erwachen der Empfindung hat die Natur ihr Ziel, die Intelligenz, erreicht. Wie sich die anorganischen Stoffe nur durch das Gradverhältnis von Repulsion und Attraktion unterscheiden, so ist der Unterschied der Organismen durch das Verhältnis der drei Lebensfunktionen bedingt: in den niederen hat die Reproduktion die größte Ausbreitung, allmählich nimmt die Irritabilität zu, in den höchsten ordnen sich beide der Sensibilität unter. Alle Gattungen aber sind durch ein gemeinsames Leben verknüpft, alle Stufen sind nur Hemmungen derselben Grundkraft. Diese Betonung der Einheit der Natur, die eine gewisse Verwandtschaft der Schellingschen Natur- philosophie mit dem Darwinismus ^ begründet, war ein gewaltiger Ge-

1 Der wesentliche Unterschied betrifft das Subjekt der Entwicklung: Darwin läßt die Arten auseinander entstehen, bei Schelling entwickelt sich die schaffende

394

- Schilling.

danke, der trotz der Mängel der oft spielenden, oft sorglos kecken Be- weisführung im einzelnen den Dank der Nachwelt verdient.

Eine Tabelle mag den Parallelismus der Naturpotenzen, wie wir ihn mit Ignorierung der mannigfachen Abweichungen zwischen den ver- schiedenen Darstellungen der Naturphilosophie entwickelt haben, ver- anschaulichen :

I. allgemeine Natur

II. unorganische Natur

III. organische Natur

(organisierende)

3. Band od. Leben

ehem. Proz.

,

(3 Dimens.)

2. Licht (Seele)

2. dynam. Prozeß.

Elektrizität

(best. Mat.)

(2 Dimens.)

b. Attrakt.\ i- Schwere

I. unb

est. Materie

Magnetism.

a. Repuls./ (Leib)

(i Dimens.)

. 0

rganismus

Sensib.

Mensch

3

1

Irritab. Tier

Mann ('- Licht) '

0

Reprod.

Weib

Pflanze

(= Schwere)

Ib. Transzendentalphilosophie.

Die Naturphilosophie hat die Naturprodukte teleologisch erklärt, aus dern Begriffe oder der Aufgabe der Natur abgeleitet, indem sie, unbe- kümmert um die mechanische Entstehung der physischen Erscheinungen, der Bedeutung nachgeht, welche jeder Naturstufe in Hinblick auf jenen idealen Sinn des Ganzen zukommt. Was leistet, so fragt sie, der chemische Prozeß, die Elektrizität, der Magnetismus usw. für das Ganze der Natur, welcher Teil des allgemeinen Naturzwecks wird durch diese Gruppe von Erscheinungen erreicht, verwirklicht? Vor entsprechende Fragen hin- sichtlich der intellektuellen, moralischen, künstlerischen Erscheinungen sieht sich die in dem „System des transzendentalen Idealismus" 1800 niedergelegte Geistesphilosophie gestellt. Auch hier geht Schelling nicht der Mechanik des Seelenlebens nach, ihn interessiert nur der Sinn, die Zweckbedeutung der psychischen Funktionen. Auf eine konstruktive Psychologie im Sinne Fichtes, auf eine Geschichte des Bewußtseins ist es abgesehen; auch die Ausführung schließt sich sehr eng an das Vor- bild der Wissenschaftslehre an.

In jedem Wissen ist, da Wahrheit die Übereinstimmung zwischen Vorstellung und Gegenstand ist, ein Zusammentreffen von einem Sub- jektiven und einem Objektiven notwendig. Das Problem dieses Zusam- mentreffens gestattet eine zwiefache Behandlung. Man kann, wie die Naturphilosophie getan, vom Objekt ausgehen und zusehen, wie zur Natur die Intelligenz hinzukommt. Die Transzendentalphilosophie geht

Is^atiir, die, gleich einem Künstler, immer wertvollere Produkte hervorbringt. Bei Darwin verhalten sich die vollkommeneren Arten zu den weniger vollkommenen wie Nachkommen und Vorfahren, bei Schelling wie jüngere und ältere Geschwister.

Transzendentalphilosophie. ß^^

den umgekehrten Weg, sie nimmt ihren Standpunkt im Subjekt und fragt, wie zur Intelligenz ein mit ihr übereinstimmendes Objekt hinzu- kommt. Der Transzendentalphilosoph bedarf der intellektuellen An- schauung, um die ursprünglichen objektsetzenden Handlungen des Ich zu erkennen, die dem in das Erzeugnis derselben versenkten gemeinen Bewußtsein verborgen bleiben. Der theoretische Teil erklärt die Vor- stellung der objektiven Realität (das mit gewissen Vorstellungen ver- bundene Gefühl der Nötigung, sie zu haben) aus dem reinen Selbst- bewußtsein, dessen entgegengesetzte Momente, eine reelle und eine ideelle Kraft, sich stufenweis beschränken, und begleitet die Entwickelung des Geistes in drei Perioden („Epochen") von der Empfindung, in der sich das Ich begrenzt findet, bis zur produktiven Anschauung, in der dem Ich ein Ding an sich entgegen- und zwischen beide die' Erschei- nung gesetzt wird, von da bis zur Reflexion (Selbstgefühl, äußere und innere Anschauung nebst Raum und Zeit, die Kategorien der Re- lation als die ursprünglichen) , endlich durch das Urteil, worin An- schauung und Begriff sowohl getrennt als verbunden sind, bis zum abso- luten Willensakt. Das Wollen ist die Fortsetzung und Vollendung der Anschauung', diese war bewußtloses, jenes ist bewußtes Produzieren. Erst durch das Handeln wird uns die Welt objektiv, erst durch die Wechsel- wirkung mit anderen handelnden Intelligenzen gelangt das Ich zu dem Bewußtsein einer realen Außenwelt wie zu dem seiner Freiheit. Der praktische Teil führt den Willen vom Triebe (dem Gefühl des Wider- spruchs zwischen dem Ideal und dem Objekt) durch die Spaltung in Sittengesetz und widerstrebenden Naturtrieb zur Willkür. Als „Zusätze" werden Betrachtungen über Rechtsordnung, Staat und Ges«hichte hinzu- gefügt. Das Rechtsgesetz, durch welches das ungesetzliche Handeln gegen sich selbst gerichtet wird, ist keine sittliche, sondern eine mit blinder Notwendigkeit wirkende Naturordnung. Gleich dem Rechte ist der Staat ein Produkt der Gattung, nicht der Einzelnen. Das Ideal eines kosmo- politischen Rechtszustandes ist das Ziel der Geschichte, in welcher Willkür und Gesetzmäßigkeit eins sind, sofern das bewußte Handeln der Individuen einem unbewußten, vom Weltgeiste vorgeschriebenen Zwecke dient. Sie ist die nie vollendete Offenbarung des Absoluten

1 Mit solcher Verwandlung des Gegensatzes von Erkennen und Wollen in einen bloßen Gradunterschied sinkt Schelling auf den Standpunkt des Leibniz zurück. Bei allen von Kant ausgehenden Denkern idealistischer Richtung begegnet uns das Streben, den kritischen Dualismus von Verstand und Wille, desgleichen den von Geist und Sinnlichkeit, zu überwiuden. Schiller läßt die entgegengesetzten Triebe des Ich sich nachträglich in der künstlerischen Tätigkeit harmonisch vereinigen, Fichte führt sie auf einen gemeinschaftlichen Grund zurück ; beides verbindet Schelling, indem er die Kunst als Wiederherstellung der ursprünglichen Identität feiert. Hegel reduziert das Wollen auf das Denken, Schopenhauer läßt den Intellekt aus dem Willen her- vorgehen.

2q6 Schelling,

(der Einheit des Bewußten und Unbewußten) durch die Freiheit des Menschen. "Wir sind Mitdichter des wehhistorischen Dramas, erfinden unsere Rolle selbst. Erst in der dritten (religiösen) Periode, in der er sich als „Vorsehung" offenbart, wird Gott sein, in der vergangenen (tragischen) Periode, wo die göttliche Macht als „Schicksal" empfunden wurde, und in der gegenwärtigen (mechanischen), in der sie als „Natur- plan" erscheint, ist Gott nicht, sondern wird nur.

Eine interessante Ergänzung der Fichteschen Philosophie bietet der dritte, ästhetische Teil des transzendentalen Idealismus, welcher in ähnlicher Weise Kants Lehre vom Schönen verwertet, wie sich die Naturphilosophie dessen Lehre vom Organismus zunutze gemacht hatte. Die Kunst ist das höhere Dritte, worin der Gegensatz von theoretischem und praktischem Verhalten, der Gegensatz von Subjekt und Objekt auf- gehoben, worin Wissen und Handeln, bewußte und unbewußte Tätigkeit, Freiheit und Notwendigkeit, genialer Drang und besonnene Überlegung vereinigt sind. Das Schöne, als Darstellung des Unendlichen im End- lichen, zeigt in sinnlicher Erscheinung das Problem der Philosophie, die Identität des Realen und Idealen, gelöst. Die Kunst ist das wahre Organon und Dokument der Philosophie, sie öffnet ihr das Allerheiligste? ist ihr das Höchste, die Offenbarung aller Geheimnisse. Poesie und Philosophie (die ästhetische Anschauung des Künstlers und die intellek- tuelle des Denkers) sind aufs engste verwandt, sie waren in der alten Mythologie eins warum sollte sich dies nicht künftig einmal wieder- holen?

II. Identitätssystem.

Die schon in der ersten Periode aufgestellte Behauptung „Natur und Geist sind im Grunde dasselbe" verschärft sich in der zweiten zu dem Satze „der Grund von Natur und Geist, das Absolute, ist die Identität des Realen und Idealen" und wird in dieser Form zum Prinzip erhoben. Indem das Absolute nicht mehr bloß als Erklärungs- grund benutzt, sondern selbst zum Gegenstande der Philosophie ge- macht wird, tritt zu den beiden koordinierten Disziplinen der Natur- und Geistesphilosophie als höhere dritte, sie begründende, die Identitäts- lehre hinzu, in deren Vortrag mehrere Phasen zu unterscheiden sind.^

1 Die Identitätsphilosophie ist niedergelegt in den Schriften: Darstellung meines Systems der Philosophie 1801, Fernere Darstellungen aus dem Syst. d. Ph. 1802, Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge 1803, Vor- lesungen über die Methode des akademischen Studiums 1803, Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, Aphorismen über die Naturphilosophie (beide in den Jahrbüchern für Medizin) 1806. Außerdem kommen in Betracht die Zusätze zur zweiten Auflage der „Ideen" 1803 und die „Darlegung" gegen Fichte 1806.

Identitätssystem .

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Im Anschluß an Spinoza, den er anfänglich sogar in der geome- trischen Beweisform nachahmt, lehrt Schelling eine doppelte Art der Erkenntnis, die philosophische der Vernunft und die verworrene der Imagination, und als Gegenstand derselben eine doppelte Form der Existenz, die unendliche, einheitliche des Absoluten und die endliche, in Vielheit und Werden zerspaltene der Einzeldinge. Die vielen und sich entwickelnden Dinge der Erscheinungswelt verdanken ihr Dasein nur der isolierenden Auffassung, sie haben als solche keine wahre Wirk- lichkeit und werden von der Spekulation als nichtig nachgewiesen. Während der unadäquaten Vorstellung die Dinge als besondere er- scheinen, betrachtet sie der Philosoph siib specie aeterni, in ihrem Ansich, ihrer Totalität, in der Identität, als Ideen. Die Dinge konstruieren heißt sie darstellen, wie sie in Gott sind. In Gott aber sind alle Dinge eins, im Absoluten ist alles absolut, ewig, die Unendlichkeit selber. (Nach Hegels Parodie: das Absolute ist die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind.)

Der Weltgrund erscheint als Natur und Geist, ist aber selbst weder das eine noch das andere, sondern die über jede Gegensätzlichkeit er- habene Einheit beider, die Indifferenz von Objektivem und Subjektivem. Obwohl sich nun mit der Endlichkeit der Weltdinge die Sichselbstgleich- heit des Absoluten in eine Vielheit sich entwickelnder Einzelexistenzen zersplittert, geht doch auch in der Erscheinungswelt der Individuen die Einheit des Grundes nicht ganz verloren: jedes einzelne Sein ist ein bestimmter Ausdruck des Absoluten und als solchem kommt auch ihm der Charakter der Identität zu, wenn auch in abgeschwächtem Grade und mit Verschiedenheit gemischt (Brunos „Monaden"). Der Weltgrund ist absolute, das einzelne Ding ist relative Identität und Totalität, es gibt keines, das bloß objektiv oder bloß subjektiv wäre, jedes ist beides, nur daß stets der eine von beiden Faktoren vorwiegt. Dies nennt Schelling quantitative Differenz: die Naturerscheinungen wie die geistigen sind Einheit von Realem und Idealem, nur daß in jenen ein Übergewicht des Realen, in diesen ein Übergewicht des Idealen stattfindet.

Zwischen den Gebieten des Unendlichen und des Endlichen statuiert Schelling anfangs in neuplatonischer Weise noch ein mittleres: das ab- solute Wissen oder die Selbsterkenntnis der Identität. In dieser als der „Form" des Absoluten ist Objektives und Subjektives nicht, wie in dem Sein oder „Wesen" des Absoluten, schlechthin eins, sondern zwar reell eins aber ideell (potentiell) entgegengesetzt. Später hebt er auch diesen Unterschied, als nur für die Reflexion, nicht für die Vernunftan- schauung vorhanden, auf und überbietet die früheren Bestimmungen über die Einfachheit des Absoluten mit dem Satze, es sei nicht nur die Ein- heit der Gegensätze, sondern auch die Einheit der Einheit und des

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SCHELLING.

Gegensatzes oder die Identität der Identität, in deren schwärmerischer Schilderung sich der Dialog „Bruno" ergeht. Eine weitere Verschiebung tritt dadurch ein, daß das Absolute als Identität des Endlichen und Un- endlichen bezeichnet und das Endliche dem Realen oder dem Sein, das Unendliche dem Idealen oder dem Erkennen gleichgesetzt wird. Hiermit verbindets ich eine der Lessingschen verwandte philosophische Deutung der Trinität. Im Absoluten oder Ewigen sind das Endliche und Unendliche gleich absolut. Gott Vater ist das Ewige oder die Einheit von Endlichem und Unendlichem, der Sohn das Endliche in Gott (vor dem Abfall), der Geist das Unendliche oder die Rückkehr des Endlichen ins Ewige.

In der Konstruktion der reellen Reihe verfährt Schelling noch sche- matischer und analogiesüchtiger als in der Naturphilosophie der ersten Periode, deren Inhalt hier im wesentlichen wiederholt wird. Dies hängt damit zusammen, daß er, den Grundsätzen der Identitätsphilosophie entsprechend, in jeder Erscheinung die Wirksamkeit aller drei Momente des Absoluten nachweisen will. In jedem Naturprodukt kommen alle drei „Potenzen" oder Stufen, Schwere A^, Licht A- und Organismus A3 vor, nur der einen von ihnen untergeordnet. Da die dritte Potenz nirgends fehlt, so ist alles Organismus; was uns als unorganische Materie erscheint, ist nur das, was als Abfall von der Organisation übrig bleibt, was nicht Pflanze oder Tier werden konnte. Neu ist die StefFenssche Kohäsionsreihe (die Erscheinung des Magnetismus), in welcher der Stick- stoff den Süd-, der Kohlenstoff den Nordpol, das Eisen den Indifferenz- punkt bildet, während Sauerstoff, Wasserstoff und Wasser den Ostpol, Westpol und Indifferenzpunkt der elektrischen Polarität darstellen. Im Organischen repräsentiert die Pflanze den Kohlenstoffpol, das Tier den Stickstoffpol; jene ist nördlich, dieses südlich. Außerdem kehren hier die Indifferenzpunkte wieder: die Pflanze entspricht dem Wasser, das Tier dem Eisen. In dergleichen phantastischen Analogien ist Schelling von seinen Schülern noch weit überboten worden, namentlich von Oken, der in seinem ..Abriß der Naturpliilosophie" 1805 beispielshalber den Hörsinn mit der Parabel, dem Metall, dem Knochen, dem Vogel, der Maus und dem Pferde parallelisiert.

War die Natur die Einbildung des Unendlichen (der Einheit oder des Wesens) in das Endliche (die Vielheit oder die Form), so ist der Geist die Aufnahme des Endlichen in das Unendliche. Auch im Geistigen sind allenthalben die drei göttlichen Urpotenzen wirksam, aber so, daß eine die herrschende ist. Im Anschauen (Empfindung, Bewußtsein, Anschauung, jedes wiederum dreifach gegliedert) ist das Unendliche und Ewige dem Endlichen, im Denken oder Verstände (Begriff, Urteil, Schluß, in je drei Arten) ist das Endliche und Ewige dem Unendlichen, in der Vernunft (welche alles unter der Form des Absoluten begreift) ist das Endliche und Unendliche dem Ewigen untergeordnet. Das An-

iDENTitÄtSSYSTEM.

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schauen ist endliches, das Denken unendliches, die Vernunft ewiges Erkennen. Für die Vernunfterkenntnis reichen die Verstandesformen nicht aus, für die Spekulation, welche von der Gleichsetzung der Gegen- sätze ausgeht, liat die vulgäre Logik mit 'ihrem Satze des Nichtwider- spruchs keine Gesetzeskraft. In den „Aphorismen zur Einleitung" figurieren Wissenschaft, Religion und Kunst als Stufen des idealen Alls, entsprechend den Potenzen des realen Alls: Materie, Bewegung und Organismus. Die Natur gipfelt im Menschen, die Geschichte im Staat. Die Vernunft, die Philosophie ist Wiederherstellung der Identität, Rückkehr des Abso- luten zu sich selbst.

Das unbedingte Wissen (die Philosophie) ist, wie Schelling in seiner Enzyklopädie, d. h. seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums ausführt, die Voraussetzung alles besonderen Wissens. Die Akademien haben die Aufgabe, den Zusammenhang zwischen dem be- sonderen und dem absoluten Wissen aufrecht zu erhalten. Die drei oberen Fakultäten korrespondieren den drei Potenzen im Absoluten: Naturwissensdiaft und Medizin dem Realen oder Endlichen, Geschichte imd Rechtswissenschaft dem Idealen oder Unendlichen, Theologie dem Ewigen oder dem Bande. Es kommt hinzu eine Fakultät der Künste, die sogen, philosophische, welche mitteilt, was lernbar ist an der Philo- sophie. Besonders wichtig sind die beiden Vorlesungen (8 und 9) über die Theologie. Zwei Religionen gibt es, von denen die eine Gott in der Natur, die andere ihn in der Geschichte erblickt; jene gipfelt in der griechischen, diese in der christlichen, mit deren Gründung die (früher von Schelling in die Zukunft hinausgerückte) dritte Periode der Geschichte, die der Vorsehung, beginnt. Hier ruht die Mythologie auf der Religion, nicht wie im Heidentum diese auf jener. Der spekulative Kern des Christentums ist die schon von den Indiern gelehrte Mensch- werdung Gottes, die jedoch nicht als einmalige zeitliche, sondern als ewige zu verstehen ist. Ein Hemmnis der Entwickelung desselben war ■es, daß man die Bibel, deren Wert denjenigen der indischen Religions- bücher bei weitem nicht erreicht, höher schätzte als das, was die Patristik aus dem dürftigen Inhalte derselben zu machen verstanden hat.

Vergleichen wir schließlich das Identitätssystem Schellings mit seinem Vorbilde, dem des Spinoza, so fallen zwei wesentliche Unterschiede ins Auge. Obwohl beide Denker von einer prinzipiellen Gleichschätzung der beiden Erscheinungsweisen des Absoluten, der Natur und des Geistes, ausgehen, neigt doch Spinoza dazu, das Denken in Abhängig- keit von der Ausdehnung zu setzen (die Seele stellt vor, was der Leib ist), während umgekehrt bei Schelling die Fichtesche Überordnung des Geistes nachwirkt (Staat und Kunst stehen der absoluten Identität näher als der Organismus, obwohl den Grundsätzen nach in diesem die größtmögliche Annäheruno- an das Gleichsewicht des Reellen und

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Schellin G.

Ideellen ebensosehr erreicht ist wie in jenen). Der zweite Unterschied liegt darin, daß die Idee der Entwickelung bei Spinoza ganz fehlt, bei Schelling alles beherrscht. Man wird an Lessing und Herder erinnert, die gleichfalls spinozistische und leibnizische Elemente zu verbinden suchten.

III a. Freiheitslelire.

Das Identitätssystem hatte mit Spinoza zwei Welten geschieden, die reale der absoluten Identität und die Scheinwelt der verschiedenen und veränderlichen Einzeldinge; es hatte die letztere auf die erstere als ihren Grund zurückgeführt, aber nicht aus ihr abgeleitet. Woher die Imagination, die uns statt des Einen und Wandellosen das Viele und Wechselnde zeigt? Woher die Unvollkomraenheit des Endlichen, woher das Böse? Der Pantheismus des Spinoza ist unzertrennlich mit dem Determinismus verknüpft, der das Böse leugnet aber nicht erklärt. Das Böse und die Endlichkeit wollen nicht verneint, sondern erklärt, und zwar ohne Preisgebung des Pantheismus erklärt werden. Woraus? Aus dem Absoluten, denn außer dem Absoluten ist nichts. Wie ist die pan- theistische Lehre vom Absoluten umzugestalten, damit aus ihr die Tat- sache des Bösen und die Sonderexistenz des Endlichen verständlich werde ? Dieser Aufgabe sind die „Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit'" (in den Philosophischen Schriften Band I 1809; womit zu vergleichen das Denkmal Jacobis 18 12 und die Antwort an Eschenmayer 1813) gewidmet.

Schon im „Bruno" taucht gelegentlich das Problem auf, warum es nicht bei der uranfänglichen unendlichen Einheit des Absoluten bleibe, warum das Endliche sich vom identischen Urgründe losreiße. Die Mög- lichkeit der Absonderung, wird geantwort^, liegt darin, daß das Endliche zwar reell gleich dem Unendlichen, doch ideell von ihm verschieden ist; die Wirklichkeit des Heraustretens aber liegt in dem nicht ableitbaren eigenen Willen des Endlichen, Nachdem dann Eschenmayer ^ (Die Philosophie in ihrem Übergange zur Nichtphilosophie 1803) den Her- vorgang der Ideen aus der Gottheit als ein dem Denken undurchdring- liches Geheimnis bezeichnet hatte, angesichts dessen die Philosophie dem Glauben zu weichen habe, geht Schelling in der Abhandlung „Religion und Philosophie" 1804 näher auf das Problem ein. Der Ursprung der Sinnenwelt ist nur als ein Abbrechen, ein Sprung, ein Abfall denkbar, darin bestehend, daß die Seele sich in ihrer Selbstheit ergreift, das Un- endliche in sich dem Endlichen unterordnet und so aufhört, in Gott zu sein. Das Hervortreten der Welt aus dem Unendlichen ist eine freie

1 K. Ad. Eschenmayer war zuerst Arzt, dann 181 1 36 Professor der Philo- sophie IQ Tübingen und starb 1852 in Kirchheim unter Teck.

Freiheitslehre.

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Handlung, eine Tatsache, die nur beschrieben, nicht als notwendig dedu- ziert werden kann. Das Gegenstück zu der Verselbständigung der Dinge oder zur Schöpfung ist die Geschichte als Rückkehr der Welt in ihren Ursprung. Sie verhalten sich wie Sündenfall und Erlösung. Beides aber, die Entlassung der Welt und ihre Zurücknahme, nebst der da- zwischenliegenden Entwickelung, sind Ereignisse, deren Gott selbst bedarf, um wirklich Gott zu werden: er entwickelt sich durch die Welt hindurch. (Ein ähnlicher Gedanke war schon dem Mittelalter nicht fremd: soll sich Gott ganz offenbaren, so muß er seine Gnade kundtun; dies setzt vor- aus, daß gesündigt worden. Als Anlaß göttlicher Gnade ist der Sünden- fall eine glückliche, heilbringende Schuld: ohne sie hätte Gott sich nicht als gnädigen, verzeihenden, folglich nicht vollständig offenbaren können.) Schellings Nachdenken auf diesen Punkt zu konzentrieren, trug wesentlich das Studium J. Böhmes bei, zu welchem er durch Baader angeregt worden. Bereits die „Darlegung des wahren Verhältnisses usw." verrät deutlich den Einfluß jenes Mystikers. Entsprechend der Lehre des letzteren, daß Gott nur dadurch lebendiger Gott ist, daß er das Nein in sich enthält, heißt es dort: ein Wesen kann sich nur manifestieren, wenn es nicht bloß Eins ist, sondern ein Anderes, den Gegensatz (das Viele) in sich hat, woran es sich als Einheit offenbar wird. Mit Hinzunahme einiger Kantischer Gedanken, insbesondere der transzendentalen Freiheit und des intelligiblen Charakters, gestaltet sich nun die Schellingsche Theosophie folgendermaßen.

Gegen den Determinismus und den unlebendigen Gott Spinozas schützt man sich allein dadurch, daß man in Gott etwas annimmt, was nicht Gott selbst ist, daß man von Gott als existierendem das unter- scheidet, was bloß der Grund seiner Existenz oder die „Natur in Gott" ist. Auch in Gott geht das Vollkommene aus dem Unvollkom- menen hervor, auch er entwickelt, verwirklicht sich. Dem wirklichen, vollkommenen Gott, welcher Intelligenz, Weisheit, Güte ist, geht etwas voraus, was nur die Möglichkeit von alledem ist, ein dunkler, bewußt- loser Trieb, sich selbst vorzustellen. Denn es gibt in letzter Instanz kein anderes Sein als Wollen, nur dem Wollen gebühren die Prädikate desUrseins: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbst- bejahung. Jener „Grund der Existenz" ist eine dunkle „Sehnsucht", sich selbst zu gebären, ein unbewußter Drang, bewußt zu werden; das Ziel der Sehnsucht ist der „Verstand", der Logos, das Wort, worin Gott sich offenbar wird. Indem sich die Sehnsucht dem Verstände als Stoff und Organ unterwirft, wird Gott wirklicher Gott, wird er Geist und Liebe. Die Wirkung des lichten Verstandes auf den finsteren Naturwillen besteht in einer Scheidung der Kräfte, aus der die sichtbare Welt hervorgeht. Was in dieser vollkommen, vernünftig, harmonisch und zweckmäßig ist, das ist ein Werk des Verstandes, der irrationale Rest aber Zwietracht

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 26

AQ2 SCHELLING.

und Regellosigkeit, Mißgeburt, Krankheit und Tod stammt aus dem dunklen Grunde. Jedes Ding hat ein doppeltes Prinzip in sich: den Eigenwillen empfängt es aus der Natur in Gott, und zugleich ist es, vom göttlichen Verstände her, Werkzeug des Universal willens. In Gott stehen das lichte und das (von jenem überwundene) finstere Prinzip in unauflöslicher Einheit, im Menschen sind sie zertrennlich. Seine Willensfreiheit macht ihn unabhängig von beiden Prinzipien; er kann streben, aus der Wahrheit in die Lüge übertretend, seine Selbstheit zum Herrschenden zu erheben und das Geistige in sich zum Mittel herabzu- setzen, oder mit göttlicher Hilfe , im Zentrum verharrend, den Sonderwillen dem Willen der Liebe unterzuordnen. Das Gute besteht in der Überwindung eines Widerstandes, denn alles kann nur an seinem Gegenteile offenbar werden. Wenn der Mensch der Versuchung nach- gibt, so ist es seine eigene Wahl und Schuld. Das Böse ist nicht bloß Mangel, Abwesenheit, sondern etwas Positives: das sich Losreißen der Selbstheit, die Umkehrung der richtigen Ordnung zwischen Partikular- und Universalwillen. Die Möglichkeit einer Trennung beider Willen liegt im göttlichen Grunde (sie ist „zugelassen", damit sich in der Bewältigung des Eigenwillens der Wille der Liebe bewähre), die Wirklichkeit des Bösen ist freie Tat der Kreatur. Die Freiheit ist. im Sinne Kants, als gleichweit vom Zufall und von der Willkür wie vom Zwange entfernt zu denken: der Mensch wählt sich sein außerzeitliches, intelligibles Wesen, er prädestiniert sich in der ersten Schöpfung, d. h. von Ewigkeit her selbst, und ist für seine Handlungen in der Sinncnwelt, die notwendigen Folgen jener freien Urtat, verantwortlich.

Wie in der Natur und im Individuum, so kämpfen auch in der Geschichte der Menschheit die beiden Urgründe der Dinge miteinander. Auf das goldene Zeitalter der Unschuld, der seligen Unentschiedenheit und der Bewußtlosigkeit über die Sünde, wo weder Gutes noch Böses war, folgte eine Zeit der Allmacht der Natur, in welcher der dunkle Grund der Existenz allein waltete, der sich jedoch als wirkliches Böses erst geltend macht, nachdem im Christentum das geistige Licht in per- sönlicher Gestalt geboren ist. Der seitdem entbrannte Kampf des Guten gegen das Böse, in welchem sich Gott als Geist offenbart, führt einem Zustande entgegen, wo das Böse auf den Potenzzustand reduziert untl alles dem Geiste unterworfen, also die vollkommene Identität des Grundes der Existenz und des existierenden Gottes hergestellt sein wird.

Außer der nachträglichen Versöhnung der beiden göttlichen Mo- mente kennt Schelling jedoch noch eine ursprüngliche Einheit derselben. Die noch unentfaltete Einheit des Anfangs (Gott als Alpha) nennt er Indifferenz oder Ungrund, die durch die Entfaltung errungene, wert- vollere Einheit des Endes (Gott als Omega) nennt er Identität oder G^eist. Dort sind die Gegensätze noch nicht, hier nicht mehr vorhan-

Philosophie der Mythologie und Offenbarung.

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den. Der Ungrund spaltet sich in zwei gleich ewige Anfänge, Natur und Licht oder Sehnsucht und Verstand, damit die beiden in Liebe eins werden und dadurch das Absolute sich zum persönlichen Gott ent- wickele. In dieser Weise versucht Schelling den Gegensatz zwischen Naturalismus und Theismus, zwischen Dualismus und Pantheismus zu überwinden und die dem letzteren aus dem Faktum des Bösen, sowie aus den Begrififen der Persönlichkeit und der Freiheit erwachsenden Schwierigkeiten zu heben.

Li den beiden Momenten des x\bsoluten (Natur in Gott persön- licher Geist) erkennt man sogleich den identitätsphilosophischen Gegensatz des Realen und Idealen wieder. Der Hauptunterschied der mystischen Periode von der ^•orhergehenden besteht darin, daß sie das Absolute selbst sich (von der Indifferenz zur Identität, vom Weder-noch zum So- wohl-als-auch des Gegensatzes) entwickeln läßt und der Sinnenwelt eine mehr als scheinbare, bloß für die Imagination \orhandene Realität zu- gesteht. Was dem Philosophen die schnelle, fast unaufhörliche Verände- rung seines Standpunktes erleichterte und sie ihm zugleich verbarg, war vor allem der mehrdeutige und schwankende Sinn der leitenden Begriffe. Das „Objektive" z. B. bedeutet bald das unbewußte Sein, Geschehen und Produzieren, bald das vorgestellte Wirkliche, bald das Wirküche, sofern es nicht vorgestellt wird, sondern nur ist. „Gott" bezeichnet teils das ganze Absolute, teils nur das unendliche, geistige Moment desselben. Fast kein einziger Terminus wird sicher fixiert, geschweige eindeutig fest- gehalten.

III b. Philosophie der Mythologie und Offenbarung.

Abermals hat Schelling eine neue Problemstellung bereit. Philosophie ist Wissenschaft des Seienden. An diesem aber ist von dem Was {quid sii) das Daß [quod sii) oder von dem Wesen die Existenz zu unterscheiden. Das Wesen, den Begriff zu fassen, ist Sache der Vernunft, aber an das wirkliche Sein reicht sie nicht heran. Die rationale Philosophie erkennt nur das Allgemeine, das Mögliche, die notwendigen Wahrheiten (das nicht Nichtzudenkende), nicht aber das Einzelne und Tatsächliche. Sie kann nur behaupten: wenn etwas existiert, so muß es diesen Gesetzen gehor- chen; die Existenz ist mit dem Was noch nicht gegeben. Hegel hat diesen Unterschied zwischen Logischem und Wirklichem ignoriert, hat das Rationale und das Reale verwechselt. Auch das Identitätssystera war nur rationale, d. h. negative Philosophie, zu der als zweiter Teil eine positive oder Existentialphilosophie hinzutreten muß, die nicht wie jene zum höchsten Prinzip, zu Gott, aufsteigt, sondern von dieser obersten Idee ausgeht und ihre Wirklichkeit nachweist.

26*

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SCHELLING.

Bei dem unfruchtbaren Inhalte und der geringen Wirkung dieser Phase des Schellingschen Denkens ^ müssen kurze Andeutungen genügen. Es wird zuerst die Lehre von den göttlichen Potenzen und von der Schöpfung in veränderter Form wiederholt, sodann eine Philosophie der Religionsgeschichte als einer im menschlichen Bewußtsein vor sich gehen- den Widerspiegelung des theogonischen Prozesses gegeben.

Die Potenzen heißen jetzt das unendliche Seinkönnen (ruhender Wille, Subjekt), das reine Sein (potenzloses Sein, Objekt) und der von den Einseitigkeiten des bloßen Könnens und des bloßen Seins freie, seiner selbst mächtige Geist (Subjekt- Objekt); dazu kommt noch nicht als viertes, sondern als das, was die drei Prädikate hat und in jedem ganz ist das eigentliche Absolute als Ursache und Träger jener Attribute. Die anfängliche Einheit der drei Gestalten löst sich, indem die erste sich aus dem Zustande der bloßen Potenz erhebt und sich dem rein Seienden entzieht, um für sich zu sein; die Spannung pflanzt sich auf die beiden anderen fort: die zweite tritt nun aus der Selbstlosigkeit heraus, unterwirft die erste und führt damit die dritte zur Einheit zurück. Bei der Schöpfung verhalten sich die drei Potenzen als das unbegrenzte Seinkönnende, das grenzesetzende Seinmüssen und das Seinsollende, oder wirken als materiale, formale und finale Ursache, alle einheitlich zusammengehalten durch die Seele. Erst am Ende der Schöpfung sind sie zu Persönlichkeiten geworden. Der Mensch, in dem die Potenzen zur Ruhe kommen, kann ihre Einheit wieder trennen; sein Sündenfall ruft eine neue Spannung hervor und dadurch wird die Welt zu einer außergöttlichen. Die Geschichte, der Prozeß der fort- schreitenden Versöhnung der gottentfremdeten Welt mit Gott, durch- läuft die zwei Perioden des Heidentums, in der die zweite Person als natürliche Potenz, und des Christentums, in der sie mit Freiheit wirkt. In ihrer Betrachtung wird die positive Philosophie zur „Philosophie der Mythologie und Offenbarung". Die unwiderstehliche Gewalt der mytho- logischen Vorstellungen erklärt sich daraus, daß die Götter nicht er- sonnene Gebilde, sondern reale Mächte sind, nämlich jene Potenzen, welche die Substanz des menschlichen Bewußtseins bilden.

Die Religionsgeschichte hat zum Anfang den relativen Monotheismus der ursprünglich geeinigten Menschheit, zum Ziele den absoluten Mono- theismus des Christentums. Mit der Trennung der Völker entsteht der Polytheismus, der teils ein simultaner (eine Göttervielheit unter einem

1 Über die in den vier Bänden der zweiten Abteilung der Werke veröffentlichte negative und positive Philosophie Schellings vergl. Karl Groos, Die reine Veruimft- wissenschaft, systematische Darstellung von Schellings negativer Philos. 1889. Konstantin Frantz, Schellings positive Philos., 3 Teile 1879 18S0. Ed. v. Hartmann, Ges. Studien und Aufsätze 1876, S. 650 f. Ad. Planck, Schellings nach- gelassene Werke 1858. Ferner die S. 387 angeführte Abhandlung von HeydER.

SCHELLINGS MITARBEITER, ^0$

höchsten Gott), teils ein sukzessiver (wirkliche Vielgötterei, Dynastien- wechsel mehrerer höchster Götter) ist und sich vom Sterndienst oder Zabismus bis zur griechischen Religion entwickelt. Die griechischen Mysterien bilden den Übergang von der Mythologie zur Offenbarung. Während im mythologischen Prozesse von den göttlichen Potenzen (Grund, Sohn, Geist) immer je eine vorwaltete, kehren sie im Christen- tum zur Einheit zurück. Der wahre Monotheismus der Offenbarung zeigt Gott als gegliederte Einheit, in der die Gegensätze als überwun- dene enthalten sind. Den Inhalt des Christentums bildet die Person Christi, der die ihm durch den Sündenfall des Menschen gewordene außergöttliche Selbständigkeit mit der Menschwerdung und dem Opfer- tode dahingibt. Die drei Perioden der Entwickelung der Kirche (reale substantielle Einheit Idealität oder Freiheit Versöhnung beider) sind in den Hauptaposteln voraus angedeutet: der rückwärts gewandte Petrus repräsentiert die päpstliche, der wissenschaftliche Paulus die pro- testantische, der milde Johannes die Kirche der Zukunft.

Zwölftes Kapitel. Die Mitarbeiter Schellings.

In seiner schaflTenskräftigen Zeit war Schelling der Mittelpunkt eines 1 ebhaften philosophischen Treibens. An jede Phase seiner Philosophie schloß sich ein Kreis begeisterter Mitstrebender, die man wegen ihrer Selbständigkeit und wegen der Rückwirkung, die Schelling seinerseits von ihnen erfuhr. Anstand nehmen muß, seine Schüler zu nennen. Nur G. M. Klein (1776 1820, Professor in Würzburg), Stutz mann (t 1816 in Erlangen, Philosophie des Universums 1806, Philosophie der Geschichte 1808) und die Philosophiehistoriker Ast und Rix n er können als Schellingianer bezeichnet werden. Unter den Mitarbeitern an der Naturphilosophie ragen Steffens, Oken, Schubert und Carus hervor; neben ihnen verdienen der Physiolog Burdach, der Patholog Kieser, der Pflanzenphysiolog Nees von Esenbeck^, der Mediziner Schelver (Philo- sophie der Medizin 1809) genannt zu werden. Als selbständige Be- gründer von Identitätssystemen zeichneten sich außer Hegel J. J. Wagner und Friedrich Krause aus; auch Troxler, Suabedissen und Berger sind dieser Gruppe beizurechnen. Als Religionsphilosophen

1 Unter dem Einflüsse dieses Botanikers und des vergleichenden Anatomen Döllinger in Würzburg stand Karl Ernst von Baer (1792 1826). Über ihn Remigius Stölzle 1897.

406 ScHELLiNGs Mitarbeiter.

wetteifern mit Schelling Baader und Schleiermacher, als Ästhetiker Solger. Endlich steht auch Fr. J. Stahl (f 1861; Philosophie des Rechts i83of.) unter dem Einflüsse Schellings. Der äußerste Gegensatz in der Schellingschen Schule besteht, wie JoH. Erdmann richtig bemerkt, zwischen dem naturalistischen Pantheisten Oken und dem mystischen Theosophen Baader, in denen das getrennt erscheint, was Schelling in sich vereini2:te.

1. Die Gruppe der Naturphilosophen.

Henrik Steffens^ (aus Norwegen, 1773 1845, Professorin Halle, Breslau und Berlin) bezeichnet die individuelle Bildung als das voll- ständig erst im Menschen und dessen Eigentümlichkeit oder Talent erreichte Ziel der Natur und läßt die geistigen Katastrophen sich in der Geschichte der Erde widerspiegeln. Lorenz Oken^ (Ockenfuß, 177g 1851; 1807 27 Professor in Jena, dann in München und Zürich) setzt Gott gleich dem Universum, das im vollkommensten Tiere, dem Menschen sich selbst erkennt, lehrt die Entwicklung der Organismen aus einem Urschleim (einer Masse von organischen Elementen, Infu- sorien oder Zellen) und betrachtet das Tierreich als den anatomierten Menschen, sofern dort auseinander gewickelt liegt, was sich hier in kleine Organe gesammelt hat: der Wurm ist das Gefühls-, das Insekt das Licht-, die Schnecke das Tast-, der Vogel das Hör-, der Fisch das Riech-, das Amphibion das Schmeck-, das Säugetier das All-Sinntier.

Wenn bei Steffens das geologische, bei Oken das biologische Inter- esse vorwiegt, so sind Schubert, Carus und Ennemoser die Psychologen der Schule. Gotthilf Heinrich Schubert^ (1780 ^1860, Professor in Erlangen und München) setzt die menschliche Seele in ein inniges Verhältnis zur Weltseele, deren Phantasie alles Leibhche gestaltet, und verweilt mit Vorliebe bei den abnormen und mysteriösen Erscheinungen des Innenlebens, dem Zwischengebiet zwischen physischem und geistigem Geschehen, dem Unbewußten und Halbbewußten, den Ahnungen und dem Hellsehen, wie denn auch von anderer Seite die Schellingsche Philosophie in eine ihr gefährliche Verbindung mit dem Somnambulismus

1 Steffens: Beiträge zur inneren Naturgeschichte der Erde 1801, Karikaturen des Heiligsten 1819 21, Anthropologie 1822.

2 Oken: Über die Bedeutung der Schädelknochen 1807, Lehrbuch der Natur- philosophie 1809 II, 2. Aufl. 1831, 3. Aufl. 1843, Zeitschrift „Isis" seit 1817. Über ihn C. GÜTTLER 1885.

3 H. Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft 1808, Die Urwelt und die Fixsterne 1822, Geschichte der Seele 1830 (in kürzerer Fassung: Lehrbuch der Menschen- und Seelenkunde iS-^S).

Naturphilosophen. 407

gebracht wurde. Eine gleichfalls vorwiegend sinnige Natur war der um die vergleichende Anatomie hochverdiente Karl Gustav Carus ^ (1789 1869, gestorben in Dresden als Leibarzt des Königs; Vor- lesungen über Psychologie 1831, Psyche 1846, Physis 1851, Verglei- chende Psychologie 1866). Er stattet die Zelle mit bewußtlosem psy- chischen Leben aus ein Gedächtnis für Vergangenes gebe sich in der Vererbung von Neigungen und Talenten kund, sowie die Milch- bildung in der Brust der Schwangeren, der Bau einer Lunge im Em- bryo eine Voraussicht des Künftigen verrate und weist darauf hin, daß mit der höheren Entwickelung des organischen und geistigen Lebens die Gegensätze immer artikulierter werden: die individuellen Unter- schiede sind entschiedener zwischen den Männern als den Frauen, zwischen den Erwachsenen als den Kindern, zwischen den Europäern als den Negern.

2. Die Gruppe der Identitätsphilosophen.

Von dem Dänen Joh. Erich von Berger (1772 1833, seit 1814 Professor in Kiel; Allgemeine Grundzüge zur Wissenschaft 1817 1827; über ihn Ratjex 1835) ^^^^ "^'^^ gesagt, daß er einen Mittelweg zwischen Fichte und Schelling einschlage. Das gleiche darf von Karl Ferd. Solger (1780 1819, gestorben als Professor in Berlin; Erwin, Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst 181 5, Vorlesungen über Ästhetik, herausgegeben von Heyse 1829) behauptet werden, welcher in der Phantasie den Mutterschoß des Schönen nachweist und in die Ästhetik den Begriff der Ironie einführt, jener Stimmung der Trauer über die Nichtigkeit des Endlichen, dessen doch wiederum die Idee zu ihrer Darstellung bedürfe.

Wie bei Steffens trifft man bei Joh. Jak. Wagner^ (1775— 1841, Professor in Würzburg) und bei J. P. V. Troxler^ (1780— 1866) statt der Schellingschen Triaden viergliedrige Einteilungen. Beide statuieren eine genaue Korrespondenz zwischen den Gesetzen des Universums und denen des menschlichen Gemüts. Wagner läßt (nach den Kategorien Wesen und Form, Gegensatz und Vermittelung) alles Werden und Er- kennen von der Einheit zur Vierheit fortschreiten und bezeichnet die vier

1 Nicht zu verwechseln mit dem Kantianer Fried. Aug. Carus (1770 1807, Professor in Leipzig), dessen Geschichte der Psychologie 1808 den dritten Teil der nachgelassenen Werke bildet.

2 J. J. Wagner: Idealphilosophie 1804; Mathematische Philosophie 181 1; Or- ganon der menschlichen Erkenntnis 1830, in drei Teilen: W'clt-, Erkenntnis- und Sprachsystem; Kleine Schriften 1839 47; Über ihn L. Rabus 1862.

^ Troxler: Blicke in das Wiesen des Menschen 1812, Metaphysik 1828, Lo- gik 1830.

408 SCHELLINGS MITARBEITER.

Stufen der Erkenntnis als Vorstellung, Wahrnehmung, Urteil und Idee. Troxler teilt mit Fries den anthropologistischen Standpunkt (Philosophie ist Anthropologie, Welterkenntnis ist Selbsterkenntnis) und unterscheidet, außer dem Gemüte oder der Einheit des menschlichen Wesens, vier Bestandteile desselben: Geist, höhere Seele, niedere Seele (Leib) und Körper und dementsprechend in umgekehrter Ordnung vier Erkenntnis- arten: sinnliches Wahrnehmen, Erfahrung, Vernunft und geistige An- schauung, von denen den mittleren der vermittelte oder reflektierte, der ersten und letzten der intuitive Charakter gemein ist. Auch für D. Th. A. Suabedissen (1773 1835, Professor in Marburg; Betrachtung des Menschen 1815 18) ist Philosophie Lehre vom Menschen, ihr Ausgangs- punkt die Selbsterkenntnis.

Daß Friedrich Krause^ (1781 geb. in Eisenberg, habilitierte sich 1802 in Jena, privatisierte in Dresden und war seit 1824 Privatdozent in Göttingen, gest. 1832 in München; Urbild der Menschheit 1812 u. v. a.) seinerzeit und heute verhältnismäßig geringe Beachtung fand und findet, hat seinen Grund einesteils in dem gleichzeitigen Auftreten des genialeren Hegel, andernteils in dem terminologischen Eigensinn des Philosophen, der ihn nicht nur in übertriebenem Purismus alle Fremdwörter ver- deutschen, sondern auch neue Wurzelwörter (Mal, x\nt, Or, Om) schaffen und die haarsträubendsten Zusammensetzungen (Vereinselbganzweseninne- sein, Oromlebselbstschauen) mit ihnen vornehmen läßt. Sein bedeutend- ster Schüler Ahrens (Professor in Leipzig, f 1874; Cours de philosopliie 1836 38, Naturrecht 1852) hat der Krauseschen Lehre durch elegante Übertragung derselben ins Französische in Frankreich und Belgien zur Anerkennung verholfen. In Spanien wurde sie durch J. S. del Rio in Madrid (f 1869) eingeführt. Da das Endliche ein negativer, das Un- endliche ein positiver Begriff, das Wissen \^om Unendlichen also das ursprüngliche ist, so ist das Prinzip der Philosophie das Absolute, sie selbst Gottesweisheit oder Wesenlehre. Der subjektive analytische Lehrgang führt von der Selbstschauung Ich zur Schauung Gottes hinauf, der synthetische geht von der Grundidee Gott aus und leitet aus ihr die Teilideen ab oder stellt die Welt als seine Offenbarung dar. Für die von ihm erstrebte Versöhnung von Theismus und Pantheismus bildet Krause den Namen Panentheismus, mit dem gesagt sein soll, daß Gott nicht die Welt sei noch außer ihr stehe, sondern sie in sich habe und über sie hinausreiche. Er ist absolute Identität, Natur und Vernunft

1 Über Krause vergl. P. Hohlfeld, Die Krausesche Philosophie 1S79; Procksch 1880; B.Martin iSSi; R. Eucken, Zur Erinnerung an Krause, Festrede 1881. Aus dem Nachlaß haben HOHLFELD und WÜNSCHE die Vorlesungen über Ästhetik, das System der Ästhetik (beide 1882), den Briefwechsel 1903 und vieles andere heraus- gegeben, so auch das 1830 verfaßte Werk v. Leonhardis: Krauses Leben und I-ehre 1902.

Identitätsphilosophen.

409

sind relative Identität, nämlich des Realen und Idealen, jene mit dem Charakter der Realität, diese mit dem der Idealität. Oder: das Ab- solute, aufgefaßt von selten seiner Ganzheit (Unendlichkeit), ist Natur, dasselbe, aufgefaßt von selten seiner Selbstheit (Unbedingtheit), ist Ver- nunft; Gott ist die gemeinsame Wurzel beider. Höher als Natur und Vernunft ist die Menschheit, welche die beiderseitigen höchsten Pro- dukte, den vollkommensten Tierleib und das Selbstbewußtsein, in sich vereinigt. Die uns bekannte Erdmenschheit ist nur ein sehr kleiner Teil der Menschheit des Weltalls, welche, in unvermehrbarer Anzahl ihrer Mitglieder, den Gottesstaat ausmacht. Am bedeutendsten ist Krause in der von einem hochgestimmten Idealismus zeugenden Rechts- und Ge- schichtsphilosophie. Das menschliche Recht behandelt er als einen Aus- fluß des göttlichen Rechts; neben dem Staate oder Rechtsverein kennt er noch viele andere Vereinigungen: den Wissenschafts- und Kunstbund, die Religionsgesellschaft, den Tugendbund oder Sittlichkeitsverein. Seine Philosophie der Geschichte (Allgemeine Lebenlehre, herausg. v. Leonhardi 1843) befolgt den Fichte-Hegelschen Rhythmus von Einheit, Zwiespalt und Wiedervereinigung und setzt hiermit die Lebensalter in Beziehung. Die erste Stufe ist das Keimleben, die zweite die Jugend, die dritte die Reife. Nach Erreichung des Gipfels tritt eine rückläufige Bewegung ein von der Gegenreife durch die Gegenjugend zur Gegenkindheit, worauf die Entwickelung unendlichemale von neuem beginnt. Am Be- ginn eines jeden Lebensalters tritt etwas absolut Neues, vorher nicht Dagewesenes aus der Tiefe der Ewigkeit in dieses Leben herein. Man versündigt sich an der Gegenwart, wenn man sie lediglich aus der Vor- zeit erklären will. Denn kein INIoment hängt ganz und allein von dem vorigen ab. Es ist zu bedauern, daß in dem edelmütigen Manne neben warmherziger Gesinnung, weitem Blick und systematischem Vermögen eine schwärmerische Phantastik wohnte, welche, jene Vorzüge in ihrer Wirkung lähmend, sein Denken der Wirklichkeit allzusehr entfremdete. Anhänger Krauses sind Ahrens, Hermann v. Leonhardi (1809 75), Lindemann, Roeder.

3. Die Gruppe der Religionsphilosophen.

Franz (von) Baader ist 1765 als Sohn eines Arztes in INIünchen geboren, hat dort als Direktor der Berg- und Hüttenwerke, seit 1826 als Professor für spekulative Dogmatik gelebt und ist daselbst 1841 gestorben. Seine nur aus einer Reihe kleinerer Aufsätze bestehenden Werke sind von seinem bedeutendsten Anhänger Franz Hoffmann ^ (f 1881 als

1 Außer Hofl'maun haben Lutterbeck und Hamberger die Baadersche Lehre dargestellt und erläutert. Siehe auch Baumanns Aufsatz in den Philos. Monatsheften,

4IO

Baader.

Professor in Würzburg) gesammelt worden (i6 Bände 185 1 60). Baader ist als ein durch die kritische Philosophie hindurchgegangener mittelalter- licher Denker zu charakterisieren, der als überzeugter, aber freisinniger Katholik mit den Mitteln moderner Spekulation das alte scholastische Problem der Versöhnung von Wissen und Glauben zu lösen sucht. Seine Themata sind die Entwickelung Gottes auf der einen, Sündenfall und Erlösung die ihm jedoch nicht bloß innere Vorgänge, sondern Welt- ereignisse bedeuten auf der anderen Seite. Er sympathisiert mit den Neuplatonikern , mit Augustin, Thomas, Eckhart, Paracelsus, vor allen mit J. Böhme und dessen Anhänger Louis Claude St. Martin (1743 1804), ohne den Wert der neueren deutschen Philosophie zu verkennen. Mit Kant läßt er die Untersuchung beim Erkenntnisproblem anheben, mit Fichte sieht er im Selbstbewußtsein das Wesen, nicht bloß eine Eigen- schaft des Geistes, mit Hegel betrachtet er Gott oder den absoluten Geist ebensowohl als Subjekt wie als Objekt der Erkenntnis. Aber die Auto- nomie des Willens und die Spontaneität des Denkens lehnt er ab, und wenn er die cartesianische Trennung des schöpferischen und kreatür- lichen Denkens tadelt, so billigt er ebensowenig die pantheistische Identi- fizierung beider: das menschliche Wissen nimmt am göttlichen teil, ohne einen Teil desselben auszumachen.

Die Philosophie, welche sich nach ihren drei Hauptobjekten „Gott, Natur und Mensch" in Grundwissenschaft (Logik oder Erkenntnislehre und Theologie), Naturphilosophie (Kosmologie oder Schöpfungslehre und Physik) und Geistesphilosophie (Ethik und Gesellschaftslehre) gliedert, muß in allen ihren Teilen religiös behandelt werden. Man kann nicht Gott ohne Gott erkennen In unserem Gotterkennen ist er sowohl das Vernehmende als das Vernommene, unser Sein und alles Sein ist ein von ihm Gewußtwerden, unser Selbstbewußtsein ein sich von Gott Gewußt- wissen : cogitor, ergo cogito et sunt, mein Sein und Denken gründet sich auf mein von Gott Gedachtwerden. Das Gewissen ist ein Mitwissen mit Gottes Wissen {con-scientia). Das Verhältnis zwischen dem Erkannten und dem Erkennenden ist ein dreifaches. Unvollständig und ohne freie Mit- wirkung des Erkennenden ist das Wissen, wenn Gott das Geschöpf bloß durch wohnt, wie es bei der furchtsamen und widerwilligen Gotterkenntnis des Teufels der Fall ist. Eine höhere Stufe ist erreicht, wo das Erkannte dem Erkennenden gegenübersteht oder beiwohnt. Wirklich frei und vollständig wird das Wissen, wenn Gott der Kreatur in wohnt, wobei die endliche Vernunft sich willig und bewundernd der göttlichen hingibt, sie in sich sprechen läßt und ihr Walten nicht als ein fremdes, sondern als das eigene empfindet. (Dieselbe Dreiheit statuiert Baader auf praktischem

Bd. 14, 1878, S. 321 f. und Hans Reichels Leipziger Dissert. über Baaders Sozietäts- philosophie (aus der Zeitschrift für die ges. Staatswissenschaft), Tüb. 1901.

Baader. Schleiermacher.

411

Gebiete: die Kreatur ist entweder Objekt resp. passiver Rezipient, oder Organ, oder Vertreter des göttlichen Tuns, d. h. im ersten Falle wirkt nur Gott, im zweiten wirkt er mit dem Geschöpfe mit, im dritten wirkt das Geschöpf mit den Kräften und im Namen Gottes. Der freudige und seiner Gründe bewußte Gehorsam ist die höchste Freiheit.) So wenig wie Ding und Ich, Sein und Denken, Objekt und Subjekt dürfen Er- kennen und Lieben, Denken und Wollen, Wissen und Glauben, Philo- sophie und Dogma abstrakt getrennt werden. Die wahre Freiheit und die echte Spekulation sind weder blinder Autoritätsglaube, noch zweifelndes, gottentfremdetes Denken, sondern freie Anerkennung der Autorität und selbsterworbene Überzeugung von der Wahrheit der Kirchenlehre.

Baader unterscheidet eine doppelte Weltschöpfung und einen doppelten Entwickelungsprozeß (eine esoterische und eine exoterische Offenbarung) Gottes selbst. Die Schöpfung der idealen Welt ist als freie Tat der Liebe eine nicht zu deduzierende Tatsache, der theogonische Prozeß da- gegen ein notwendiger Vorgang, durch den Gott eine aus der Gliederung in sich zurückkehrende Einheit und damit ein lebendiger Gott wird. Die ewige Selbsterzeugung Gottes ist eine zwiefache Geburt: im immanenten oder logischen Prozeß gebiert der unergründliche Wille (Vater) den faß- lichen Willen (Sohn), um als Geist sich mit ihm zu vereinigen; die Stätte dieser Selbstoffenbarung ist die Weisheit oder Idee. Im ema- nenten oder realen Prozeß werden jene drei Momente, indem zur Idee die Begierde oder Natur hinzutritt und von ihr überwunden wird, zu wirklichen Personen. In der Schöpfung der zunächst imma- teriellen — Welt, in der sich Gott nicht mit seinem Wesen, sondern nur mit seinem Bilde zusammenschließt, wirken die beiden nämlichen Mächte, Begierde und Weisheit, als Stoff- und Formprinzip. Die Materia- lisierung der Welt ist eine Folge des Sündenfalles. Das Böse besteht darin, daß die aus der Begierde stammende Selbstheit zur Selbstsucht erhoben wird. Luzifer fiel aus Hochmut, und dessen Verführung nach- gebend der Mensch aus Niedertracht, indem er sich in die unter ihm stehende Natur vergaffte. Aus Mitleid hat Gott durch Kreation der Materie die durch den Sündenfall verderbte Welt vor dem Absturz zur Hölle geschützt und zugleich dem Menschen Gelegenheit zur sitt- lichen Arbeit gegeben. Mit dem Erscheinen Christi, des Person ge- wordenen Sittengesetzes, beginnt die Versöhnung, die sich der Mensch durch das Sakrament aneignet. Wie am Verderben, nimmt die Natur auch an der Erlösung teil.

Friedrich Dan. E. Schleiermacher ist 1768 in Breslau ge- boren und 1834 in Berlin gestorben, wo er 1809 Prediger an der Dreifaltigkeitskirche, 18 10 Professor der Theologie, 181 1 Mitglied und 18 14 Sekretär der philosophischen Klasse der Akademie wurde. Er- zogen auf den Lehranstalten der Brüdergemeinde zu Niesky und Barby,

^ j 2 Schleiermacher.

studierte er, aus der Herrnhutergemeinschaft ausgetreten, in Halle und war zwischen. 1794 und 1804 Prediger in Landsberg a. d. Warthe, Berlin (an der Charite, 1796 1802) und Stolpe, dann Professor in Halle. Er machte zuerst durch die oft aufgelegten Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern 1799 (kritische Ausgabe von PüNjER 1879) Aufsehen, denen im nächsten Jahre die Monologen und anonym die vertrauten Briefe über seines Freundes Fr. Schlegel „Lucinde" folgten. Außer mehreren Sammlungen von Predigten sind noch zu nennen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre 1803, die Weihnachtsfeier 1806 und das theologische Hauptwerk „Der christ- liche Glaube" 1822, neue Auflage 1830. In der dritten (philosophischen) Abteilung der sämtlichen Werke (1835 1864) bringen der zweite und dritte Band die philosophie-geschichtlichen , ethischen und akademischen Abhandlungen, der sechste bis neunte die von George, Lommatsch, Brandis und Platz herausgegebenen Vorlesungen über Psychologie, Ästhetik, Staats- und Erziehungslehre, der erste Teil des vierten die von Ritter edierte Geschichte der Philosophie (bis Spinoza). In der Reclamschen Bibliothek sind die Monologen und die Weihnachtsfeier erschienen; von den Monologen hat Fr. M. Schiele eine kritische Aus- gabe mit Einleitung, Bibliographie und Index veranstaltet in der Philos. Bibl. 1902.

In Schleiermachers Philosophie geben sich die verschiedensten Systeme ein Rendezvous. Neben Kantischen, Fichteschen, Schelling- schen Gedanken begegnen wir Platonischen, Spinozistischen und Leib- nizischen Elementen; auch Jacobi und die Romantiker haben ihr Scharf lein beigesteuert. Schleiermacher ist ein Eklektiker, aber ein solcher, der in der Verschmelzung der verschiedenartigsten Ideen seine Eigentümlichkeit geltend zu machen weiß. Seine Lehre ist, trotz viel- facher Anklänge an frühere und gleichzeitige Philosopheme, kein Kon- glomerat von unzusammengehörigen Gedankenreihen, sondern gleicht einer Pflanze, welche die Nahrungsstofie, die sie dem Erdreich entnimmt, eigentümlich verarbeitet und sich assimiliert. Schleiermacher ist mehr anziehend als imposant, weniger ein Entdecker als ein Kritiker und Systematisierer. Sein kritisches Feingefühl arbeitet im Dienste eines positiven Zweckes, einer harmonisierenden Tendenz; er findet seine Lust nicht am Zersetzen, sondern am Ausgleichen, Einschränken und Verbinden. Da ist von den vorhandenen Ansichten keine, die ihn ganz gefangen nähme, keine, die ihn nur abstieße, jede enthält Bestandteile, die ihm der umbildenden Aufnahme würdig erscheinen. Wo er sich vor einen schroffen Zwiespalt der Meinungen gestellt sieht, sucht Schleier- macher aus den beiden „Halbheiten" durch behutsame Vermittelung ein Ganzes zu formen, das freilich nicht immer befriedigender ausfällt als die Einseitigkeiten, die es versöhnen will. Nur ein Beispiel für diesen

Dialektik.

413

konziliatorischen Trieb des Philosophen: Raum, Zeit und Kategorien sind nicht nur subjektive Erkenntnisformen, sondern zugleich objektive Formen der Wirklichkeit. Das „Nicht nur" ist das Losungswort seiner Philosophie, die das Prototyp geworden ist für die zahllosen „Idealrea- lismen", mit denen Deutschland nach Hegels Tode überschwemmt wurde. Wenn sich sonst die stets gleichzeitig auftretenden Richtungen des Skeptizismus und Eklektizimus an verschiedene Denker verteilen, so finden sie sich hier in einem Kopfe zusammen in Gestalt einer Ver- mittelungskritik, die, obwohl mit Gründen operierend, doch schließlich an unsichtbaren Fäden von einem wissenschaftlichen Gerechtigkeits- gefühl gelenkt wird. In ihren schwächeren Partien trägt die Schleier- machersche Philosophie den Charakter des Müden, Kleinen und Spie- lenden. Es fehlt ihr an Mut und Kraft und die seltene Feinheit des Gedankens vermag für diesen Mangel nicht vollkommen zu entschädigen. Aus Angst vor Einseitigkeit flüchtet sie in die Arme einer zuweilen mattherzigen Versöhnungspolitik.

Wir schweigen von den speziell theologischen ^ Leistungen des viel- seitigen Mannes, ebenso von den großen Verdiensten, die er sich durch seine Platon-Übersetzung 1804 1828 und eine Reihe, gediegener Ab- handlungen über griechische Denker um die philologische Kenntnis der Geschichte der Philosophie erworben, und halten uns an die Hauptsätze seiner Erkenntnis-, Religions- und Sittenlehre.

Die Dialektik^ (herausgegeben von Jonas 1839) handelt in einem transzendentalen und einem technischen und formalen Teile von dem Be- griff und den Formen des Wissens. Das Wissen ist ein Denken. Wo- durch unterscheidet sich dasjenige Denken, welches wir Wissen nennen, von dem übrigen Denken, das diesen Ehrennamen nicht verdient, von dem bloßen Meinen? Durch zwei Merkmale: seine Übereinstimmung mit dem Denken anderer Denkenden (seine xMlgemeinheit und Notwendig- keit, denn die Dialektik will streitfreies Denken entwickeln) und seine Übereinstimmung mit dem Sein, w^elches darin gedacht wird. Nur das- jenige Denken ist ein Wissen, welches vorgestellt wird als notwendig gültig für alle Denkfähigen und als entsprechend einem Sein oder es abbildend. (Der im Urteil vollzogenen Verbindung von Begriffen z. B.

1 Vergl. R. Seeberg, Die Kirche Deutschlands im 19. Jahrh. (4. Aufl. von An der Schwelle des zwaazigsten Jahrhunderts) 1903, S. 79 f.

2 Vergl. QUAEBICKER, Über Schleiermachers erkenntnistheoretische Grundansicht 1871 und die Untersuchungen von BRUNO Weiss in der ZPhKr. Bd. 73 bis 75, 1878 1879. J. Halpern, Der Entwickelungsgang der Schl.schen Dialektik (AGPh. Bd. 14, S. 210 272) 1901, geht den Abweichungen ihrer verschiedenen Fassungen (tSii, 14, 18, 22, 28, 31) nach und formuliert ihren gemeinsamen Grundgedanken als erkenntnistheoretischen Evolutionspantheismus: das Absolute und das Wissen sollen sich gegenseitig begründen.

414

SCHLEIKRMACHER.

korrespondiert ein kausaler Zusammenhang realer Dinge.) Diese beiden Übereinstimmungen der Denkenden untereinander und des Denkens mit dem gedachten Sein sind die Merkmale des Wissens; nun seine Faktoren. Es sind im wesentlichen die zwei von Kant aufgestellten: Sinnlichkeit und Verstand; Schleiermacher nennt sie die organische und die intellektuelle Funktion. Die organische Tätigkeit der Sinne liefert uns in den Empfindungen den ungeordneten mannigfaltigen Stoff der Erkenntnis, der durch die Vernunfttätigkeit geformt und zur Einheit gebracht wird. Nehmen wir zwei Grenzbegrifife unserer Erkenntnis aus: Chaos und Gott die absolute Formlosigkeit oder das Chaos ist ein ebenso unvollziehbarer Gedanke wie die absolute Einheit oder die Gott- heit — , so ist jedes wirkliche Wissen ein Produkt beider Faktoren, der sinnlichen Organisation und der Vernunft. Aber sie sind nicht bei jedem Erkenntnisakt gleichmäßig beteiligt. Wo die organische Tätigkeit überwiegt, haben wir ein Wahrnehmen, wo die intellektuelle, haben wir ein Denken im engeren Sinne. Ein vollkommenes Gleichgewicht beider wäre die Anschauung, die jedoch immer nur das nie ganz zu realisierende Ziel des Erkennens bildet. Jene beiden Wissensarten unterscheiden sich somit nicht spezifisch, soiKlern nur relativ: bei jedem Wahrnehmen ist auch die Vernunft, bei jedem Denken auch der Sinn tätig, nur in einem geringeren Grade als die entgegengesetzte Funktion. Daher muß die Methode empirisch (induktiv) vmd spekulativ (deduk- tiv) sein. Weiter sollen Wahrnehmung und Denken resp. Sinnlich- keit und Vernunft sich keineswegs auf verschiedene Objekte beziehen. Sie haben den nämlichen Gegenstand, nur daß die organische Tätigkeit ihn als eine unbestimmt chaotische Mannigfaltigkeit, dagegen die Ver- nunfttätigkeit (deren Geschäft im Unterscheiden und Verbinden besteht) ihn als eine wohlgegliederte Vielheit und Einheit vorstellt. Es ist das- selbe Sein, welches vom Wahrnehmen als „Bild" und vom Denken als „Begriff" vorgestellt wird. Dort haben wir die Welt als Chaos, hier als Kosmos. Sofern die beiden Wissensfaktoren auf relativ verschiedene Weise dasselbe Objekt vorstellen, darf von ihnen gesagt werden, daß sie einander entgegengesetzt, zugleich aber identisch sind. Das gleiche gilt von den zwei Modi des Seins, welche Schleiermacher den zwei Faktoren des Denkens gegenüberstellt als Reales und Ideales. Das Reale ist das, was der organischen Funktion, das Ideale das, was der Vernunfttätigkeit entspricht. Auch diese Formen des Seins sind zwar entgegengesetzt, aber doch auch identisch. ^ Daß Denken und Sein identisch sein kann, dafür haben wir in unserem Selbstbewußtsein ein sprechendes Zeugnis; in diesem als dem denkenden Sein ist uns die

1 Das Ineinander alles Dinglichen und Geistigen als Gewußtes ist die Natur. Dasselbe Ineinander als Wissendes ist die Vernunft.

Dialektik.

415

Identität des Realen und Idealen, des Seins und Denkens unmittelbar gegeben. Wie das Ich, in welchem Denkendes und Gedachtes dasselbe ist, der einheitliche Grund seiner einzelnen Tätigkeiten, so ist Gott die Ureinheit, die der Welttotalität zugrunde liegt. Das Absolute wird wie bei Schelling beschrieben als über den Gegensatz des Realen und Idealen, ja über alle Gegensätze erhabene, sich selbst gleiche schlecht- hinige Einheit. Gott ist die Negation der Gegensätze, die Welt die Totalität derselben. Gäbe es eine adäquate Erkenntnis der absoluten Identität, so wäre das ein absolutes Wissen. Uns Menschen aber, die wir uns über den Gegensatz von sinnlicher und intellektueller Erkennt- nis nie zu erheben vermögen, ist es versagt. Die Einheit von Sein und Denken wird in allem Denken vorausgesetzt, kann aber nie wirklich gedacht werden. Als Idee ist jene Identität unentbehrlich, aber sie bestimmt zu denken, sei es durch Begriff oder Urteil, ist unmöglich. Die Begriffe höchste Kraft (Gott oder schöpferische Natur) und oberste Ursache (Schicksal oder Vorsehung) erreichen nicht das, was wir in ihnen denken wollen: das Gegensatzlose ist ein für den Menschen unvoll- ziehbarer Gedanke, trotzdem aber ein notwendiges Ideal, Voraussetzung alles Wissens (und Wollens) und Grund aller Gewißheit. Alles Wissen muß auf die absolute Einheit bezogen und von ihr begleitet sein. Weil nun die absolute Identität nicht dargestellt, sondern immer nur gesucht werden kann, das absolute Wissen also nur als Ideal existiert, so ist die Dialektik weniger eine Wissenschaft, als eine Kunstlehre des Denkens und Begründens, eine Anleitung zum Philosophieren (als dem Bemühen, einen inneren Zusammenhang alles Wissens zu erreichen) oder (da Wissen ein gemeinschaftliches Denken) zur kunstmäßigen Gesprächsführung. Hiermit kehrt der Name Dialektik wieder zu seiner ursprünglichen pla- tonischen Bedeutung zurück.

Die populären G()ttesvorstellungen bestehen schlecht bei der Prüfung an dem Maßstabe des Identitätsprinzips. Mit der gegensatzlosen Einheit Gottes verträgt sich übel die Vielheit der Eigenschaften, die man ihm beizulegen pflegt. In Wahrheit hat Gott die vielen Eigenschaften nicht, dieselben entstehen erst im religiösen Bewußtsein, in welchem sich sein unbedingtes und ungeteiltes Wirken verschieden abspiegelt und gleichsam spaltet. Sie sind nur die verschiedenen Reflexe seines einheitlichen Wesens im Gemüt des Betrachtenden. In Gott fällt Können und Voll- bringen, Verstand und Wille, sein Sichselbst- und sein die Welt-Denken in eins zusammen. Auch der Begriff der Persönlichkeit ist als eine Verendlichung des Unendlichen und zur Mythologie gehörig von Gott fernzuhalten, wogegen der der Lebendigkeit als Schutzwehr gegen Atheismus und Fatalismus gestattet ist. Wenn Schleiermacher weiterhin die Wirksamkeit Gottes mit der Naturkausalität gleichsetzt, so stellt er sich in der Frage „Immanenz oder Transzendenz Gottes?", ohne es

4i6

Schleiermacher.

worthaben zu wollen, auf die Seite des Pantheismus. Es klingt hinläng- lich spinozistisch, wenn er behauptet: Gott ist niemals ohne die Welt gewesen, er existiert weder vor noch außer der Welt, wir kennen ihn nur in uns und in den Dingen. Gott könnte außer dem, was er wirk- lich hervorbringt, nicht noch etwas anderes hervorbringen, ebensowenig greift er in den naturgesetzlich geregelten Gang der Welt durch Wunder ein. Alles geschieht notwendig und der Mensch zeichnet sich vor den übrigen Wesen weder durch Willensfreiheit (wenn man darunter etwas anderes als innere Nötigung versteht) noch durch ewige Fortdauer aus. Wie alle Einzelwesen sind auch wir nur wandelbare Zustände im Leben des Universums, die, wie sie entstanden sind, so auch wieder vergehen. Die gewöhnlichen Unsterblichkeitsvorstellungen, mit ihrer Hoffnung auf eine Entschädigung im Jenseits, sind wenig fromm. Die wahre Unsterb- lichkeit der Religion ist die: mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick.

Mit dieser Ansicht über das Verhältnis von Gott und Welt stimmt nun vortrefflich Schleiermachers Weltfreudigkeit. Ist das Universum die Erscheinung der göttlichen Wirksamkeit, so ist es als Ganzes betrachtet vollkommen; was wir darin an UnvoUkommenheit antreffen, ist nur die unvermeidliche Folge der Endlichkeit. Das Schlechte ist nur ein minder Vollkommenes, alles ist so gut als es sein kann, die Welt ist die beste, die möglich war, jedes steht an seinem rechten Orte, auch das Geringste ist unentbehrlich, selbst die Fehler der Menschen sind mit Achtung zu behandeln. Alles ist gut und göttlich. In dieser Weise vermählt Schleiermacher Ideen Spinozas mit solchen des Leibniz. Von ersterem eignet er sich den Pantheismus, von letzterem den Optimismus und den Individualitätsbegriff" an; mit beiden teilt er den Determinismus: alle Er- eignisse, auch die Willensentschlüsse, unterliegen dem Gesetz der Not- wendigkeit.

In der Religionsphilosophie ist Schleiermacher epochemachend geworden durch die Abgrenzung der Religion von verwandten Gebieten, mit denen sie vor und nach ihm oft identifiziert wurde. Sie ist ihrem Ursprung und Wesen nach nicht eine Sache des Erkennens, auch nicht des Wollens, sondern eine Angelegenheit des Herzens. Sie geht ganz aus dem Umkreis der Spekulation und der Praxis heraus, fällt weder mit der Metaphysik noch mit der Moral zusammen, ist kein Wissen und kein Wollen, sondern ein drittes zwischen beiden, sie hat ihre eigene Provinz im Gemüt, in der sie unumschränkt herrscht, ihr Wesen ist Anschauung und Gefühl in ungetrennter Einheit. Im Gefühl offenbart sich die Gegenwart des Unendlichen, in der Empfindung werden wir unmittelbar der Gottheit inne. Das Absolute, das wir im Wissen und Wollen nur voraussetzen und fordern, aber nicht erreichen, wird nur in dem in sich ruhenden Gefühl als der relativen Identität und dem gemeinsamen Grunde

Religionslehre.

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des Wissens und Wollens wirklich gegeben. Religion ist Frömmigkeit, ein zustand liches, nicht ein gegenständliches Bewußtsein. Wenn sich nun auch an den frommen Gemütszustand gewisse religiöse Vorstellungen und Handlungen anschließen, so sind diese doch nicht wesentliche Bestand- teile der Religion, sondern etwas Abgeleitetes, dem eine religiöse Bedeutung nur zukommt, insoweit es unmittelbar aus der Frömmigkeit erwächst und auf sie einwirkt. Das, was einen Akt zum religiösen macht, ist immer das Gefühl, als ein Indifferenzpunkt von Wissen und Tun, von auf- nehmender und ausströmender Tätigkeit, als Zentrum und Kreuzungs- punkt aller Seelenvermögen, als der eigentliche Herd der Persönlichkeit. Und wie das Fühlen überhaupt der Mittelpunkt des Seelenlebens, so ist wiederum das religiöse Gefühl die Wurzel jedes echten Gefühls. Was für ein Gefühl ist nun die Frömmigkeit? Wir erhalten zur Antwort: ein Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit. Abhängigkeit wovon? Vom Universum, von Gott. Die Religion erwächst aus der Sehnsucht nach dem Unendlichen, sie ist Sinn und Geschmack für das Ganze, Richtung auf das Ewige, Trieb auf die absolute Einheit, unmittelbares Erfahren der Weltharmonie; gleich der Kunst ist die Religion die un- mittelbare Auffassung eines Ganzen. In und vor Gott verschwindet alles Einzelne, der Religiöse sieht in allem Besonderen eins und dasselbe. Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, Gott in allem und alles in Gott sehen, sich eins fühlen mit dem Ewigen, das ist Religion. Indem wir alles Sein in uns und außer uns als hervor- gehend aus dem Weltgrunde, als bestimmt durch eine letzte Ursache ansehen, fühlen wir uns abhängig von der göttlichen Kausalität. Gleich allem Endlichen sind wir selbst die Wirkung der absoluten Macht. Während wir mit den einzelnen Teilen der Welt in Wechselwirkung stehen und uns ihnen gegenüber teilweis als frei empfinden, können wir von Gott nur Wirkungen empfangen, ohne sie zu erwidern; haben wir doch sogar unsere Selbsttätigkeit von ihm. Indessen soll das Abhängigkeitsgefühl nicht ein drückendes, nur demütigendes, sondern das genußreiche Gefühl einer Lebenserhöhung und -erweiterung sein. In der Hingabe an das Unendliche ergänzen wir unsere Endhchkeit: die Religion gleicht die Dürftigkeit des Menschen aus, indem sie ihn mit dem Absoluten in Beziehung setzt und ihn lehrt, sich als einen Teil des Ganzen zu wissen und zu fühlen. Gerade aus der erhebenden Wirkung der Religion, die Schleier- macher beredt schildert, wird ersichtlich, daß seine Bestimmung derselben als eines Gefühls absoluter Abhängigkeit nur zur Hälfte richtig ist. Sie bedarf der Ergänzung durch das Freiheitsgefühl, welches uns erhebt durch das Bewußtsein der Wesensgleichheit der menschlichen Vernunft mit der göttlichen. Nur dieser von Schleiermacher vernachlässigten Seite der Religion darf man ihre begeisternde Wirkung zuschreiben, die er vergeblich aus dem Abhängigkeitsgefühl abzuleiten versucht. Aus der Demut als

Faickenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 27

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SCHLEIER.MACHER.

solcher kann niemals die Kraft entspringen. Durch diesen Mangel wird das Verdienst Schleiermachers nicht geschmälert, der Religion ein eigenes Gebiet geistiger Tätigkeit angewiesen zu haben. Während Kant die Religion als ein Anhängsel zur Moral behandelt und Hegel, in noch schlimmerer Einseitigkeit, sie zu einer unentwickelten Form des Wissens herabsetzt, hat Schleiermacher erkannt, daß sie nicht eine bloße Begleit- erscheinung — sei es Nebenerfolg, sei es Vorstufe der Sittliclikeit oder der Erkenntnis sei, sondern etwas Selbständiges, dem Wollen und Wissen Nebengeordnetes und Gleichberechtigtes. Der Nachweis, daß die Religion ihre Wohnstätte im Gefühl habe, ist um so dankenswerter, als Schleiermacher darüber keineswegs den Zusammenhang des Gottes- bewußtseins mit dem Selbst- und Weltbewußtsein übersehen hat. Man kann übrigens die Schleiermachersche Gefühlstheorie für richtig halten, ohne deshalb das relativ Berechtigte an den von ihm bekämpften Religionsauffassungen zu verkennen. Mit der Ansicht, daß die Religion ihren Sitz im Gefühl habe, läßt sich ganz wohl die Anerkennung ver- einigen, daß sie ihren Ursprung im Willen, ihr Fundament in der Moral habe und daß ihr überdies die Bedeutung zukomme (mit Schopenhauer zu reden), die „Metaphysik des Volkes" zu sein.

Wer die Religion der Frömmigkeit gleichsetzt, kann doch nicht leugnen, daß in einem zugleich des Wissens und Wollens fähigen Wesen jener fromme Gemütszustand Folgen im Gebiete des Erkennens und Handelns haben wird. Was den Kultus betrifft, so erklärt Schleiermacher eine religiöse Handlung, die nicht aus dem eigenen Gefühl entspringt und in demselben nachklingt, für abergläubisch und verlangt, daß religiöses Fühlen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleite, daß alles mit, nichts aus Religion geschehe. Statt sich in einzelnen spezifisch religiösen Handlungen auszusprechen, soll das religiöse Gefühl das gesamte Leben gleichmäßig durchdringen. Ein Privatzimmer sei der Tempel, wo des Priesters Rede sich erhebt. Die Dogmen aber sind Beschreibungen der frommen Erregung und entstehen dadurch, daß der Mensch auf die religiösen Gefühle reflektiert, sie zu deuten, sie in Vor- stellungen und Worten auszudrücken versucht. Die Begriffe und Grund- sätze der Theologie sind nur als Bezeichnung und Darstellung von Ge- fühlen, nicht als Erkenntnisse gültig; schon durch die unvermeidlichen Anthropomorphismen sind sie völlig ungeeignet für die Wissenschaft. Das Lehrgebäude ist eine Umhüllung, welche sich die Religion lächelnd gefallen läßt. Wer die religiösen Lehrsätze als Wissenschaft behandelt, verfällt in leere Mythologie. Glaubens- und Wissenssätze stehen in gar keinem Verhältnis zueinander, weder in dem des Widerstreits, noch in dem der Übereinstimmung, sie berühren sich gar nicht. Eine Theologie als wirkliche Wissenschaft von Gott ist unmöglich. Aus den Dogmen macht dann weiter die Kirche symbolische Satzungen, ein Schritt, den

Religionslehre.

419

man beklagen muß. Es ist zu hoffen, daß dereinst die Religion der Kirche nicht mehr bedürfen werde. In Hinblick auf den gegenwärtigen Zustand muß man sagen, daß, je religiöser jemand sei, er desto un- kirchlicher werden müsse und der Gebildete die Kirche bekämpfe, um die Religion zu befördern. Die sogenannte natürliche Religion ist nichts als ein abstraktes Gedankending, in der Wirklichkeit existieren nur posi- tive Religionen. Die eine, allgemeine, ewige Religion kann sich bei der Unendlichkeit Gottes und der Endlichkeit des Menschen nur in einzelnen historischen Religionsformen darstellen, die man offenbart nennt als ge- stiftet durch religiöse Heroen, schöpferische Persönlichkeiten, in denen sich an einer neuen Anschauung des Universums ein besonders leb- haftes religiöses Gefühl entzündet und (nicht, wie die künstlerische Ein- gebung, einzelne Augenblicke, sondern) die ganze Existenz bestimmt. In der Entwickelung der Religion sind drei Stufen zu unterscheiden, je nachdem die Welt als ungeordnete Einheit (Chaos) oder als unbestimmte Mannigfaltigkeit von Kräften und Elementen (einheitlose Vielheit) oder endlich als gegliederte, von der Einheit beherrschte Vielheit (System) vorgestellt wird: Fetischismus nebst Fatalismus, Polytheismus, Mono- (einschließlich Pan-)theismus. Unter den Religionen der dritten Stufe ist der Islam physisch oder ästhetisch, das Judentum und das Christen- tum aber ethisch oder teleologisch gestimmt; die vollkommenste ist die cliristliche, weil sie statt der jüdischen Vergeltungsidee dem Begriffe der Erlösung und Versöhnung (also dem, was der Religion wesentlich ist) die zentrale Stellung anweist.

Wie für die Religionsphilosophie, so ist auch für die Ethik Schleier- machers der Begriff der Individualität überaus wichtig geworden, in deren Hochschätzung er sich zu Leibniz, Herder, Goethe, Novalis ge- sellt. Nun kann man sowohl hinsichlich dessen, was das Individuum ist, als dessen, was es leisten soll, zwei Seiten unterscheiden. Wie jedes Einzelwesen ist der Mensch eine abgekürzte, konzentrierte Darstellung des Universums, er enthält alles in sich, und zwar enthält er es auf eine unentfaltete, keimhafte, der Entwickelung im zeitlichen Leben harrende Weise, zugleich aber in einer eigentümlichen, so nirgends noch einmal vorkommenden Form. Daraus ergibt sich eine doppelte sittliche Auf- gabe. Das Individuum soll die unendliche Fülle von Inhalt, die es als Möglichkeit, als schlummernde Keime besitzt, zur Wirklichkeit erwecken, seine Anlagen harmonisch entwickeln, darf jedoch dabei die ihm zu- teil gewordene einzigartige Form nicht als etwas Wertloses betrachten. Es soll sich fühlen nicht als ein bloßes Exemplar, als eine gleichgültige Wiederholung seiner Gattung, sondern als einen besonderen und in dieser Besonderheit bedeutungsvollen Ausdruck des Absoluten, mit dessen Wegfall eine Lücke in der Welt entstehen würde. Es ist auffallend, daß die meisten von denjenigen Denkern, die für den Wert der Individualität

^20 SCHLETERMACHER.

eingetreten sind, viel weniger Gewicht legen auf die mikrokosmische Natur des Individuums und die allseitige Ausbildung der Anlagen, als auf die Pflege seiner Eigentümlichkeit. So auch Schleiermacher. Doch ist er von dem anfangs vertretenen Extrem des Individualismus fast abstoßend wirken die „Monologen" durch den Vorschub, den sie eitler Selbstbespiegelung leisten allmählich zurückgekommen.

In der Sittenlehre (herausgegeben von Kirchmann 1870, neue Ausgabe von M. Schiele; frühere Ausgaben von Schweizer 1835 ^^^ TwESTEN 1841) bringt Schleiermacher den fast vergessenen Güterbegriff wieder zu Ehren. Die drei Gesichtspunkte, nach denen die Ethik ab- zuhandeln ist und deren jeder für sich auf eine eigentümliche Weise das ganze sittliche Gebiet darstellt, Gut, Tugend, Pflicht verhalten sich wie Resultat, Kraft und Bewegungsgesetz; oder wie Zielpunkt, An- fangspunkt und Weg zum Ziel. Jede durch das Handeln der Vernunft auf die Natur hervorgebrachte Einigung beider heißt ein Gut; die Totalität dieser Einheiten höchstes Gut. Je nachdem die Vernunft die Natur gestaltend als Werkzeug oder erkennend als Zeichen benutzt, ist ihr Handeln anbildend oder bezeichnend; es ist ferner entweder ge- meinschaftlich oder eigentümlich. Auf der Kreuzung dieser (fließenden) Unterschiede des identischen und individuellen Organisierens und Sym- bolisierens erbaut sich die Gliederung der Güterlehre:

Gebiete

Verhältnisse

Güter

ident.

org. :

Verkehr

Recht

Staat

indiv.

org.:

Eigentum

freie Geselligkeit

Stand,

Haus, Freundschaft

ident.

synib.:

Wissen

Glaube

Schule

und Universität

indiv.

symb. :

Gefühl

Offenbarung

Kirche

(Kunst).

Die vier sittlichen Gemeinschaften, deren jede die organische Vereinigung eines Gegensatzes Obrigkeit und Untertanen, Wirt und Gäste, Lehrer und Schüler resp. Gelehrte und Publikum, Geistliche und Laien dar- stellt, haben die Familie und die Nationaleinheit zur Grundlage. Die Tugend (das persönliche Einswerden von Vernunft und Sinnlichkeit) ist entweder Gesinnung oder Fertigkeit und in beiden Fällen entweder erkennend oder darstellend; das gibt die Kardinaltugenden Weisheit, Liebe, Besonnenheit, Beharrlichkeit. Die Einteilung der Pflichten in Rechts-, Liebes-, Berufs- und Gewissenspflichten beruht auf dem Gegen- satz des Gemeinschaf tsbildens und des Aneignens, von denen jedes universell oder individuell sein kann. Die allgemeinsten Pflichtgebote (Pflicht ist die Idee des Guten in imperativischer Form) lauten: Handle in jedem Moment mit der ganzen sittlichen Kraft und die ganze sittliche Aufgabe anstrebend, handle mit allen Tugenden und im Hinblick auf alle Güter; ferner: Vollziehe jedesmal die für das ganze sittliche Gebiet zuträglichste Handlung, worin zweierlei eingeschlossen ist: tue jedesmal.

Sittenlehre. 42 1

wozu du dich innerlich angeregt und wozu du dich von außen auf- gefordert findest. Statt dem ermüdenden Schematismus der Ethik Schleiermachers weiter zu folgen, heben wir schließlich einen vom Philo- sophen auch noch gesondert behandelten Grundgedanken hervor: die schroffe Entgegenstellung von Natur- und Sittengesetz, wie sie Kant vertritt, ist unberechtigt, das Sittengesetz ist selbst ein Naturgesetz, nämlich des vernünftigen Willens. Weder ist das Sittengesetz ein bloßes Sollen, noch das Naturgesetz ein bloßes Sein und ausnahmslos befolgtes Müssen. Denn einerseits betrachtet die Ethik das Gesetz, welches das menschliche Handeln wirklich befolgt, anderseits gibt es auch in der Natur Abweichungen von der Vorschrift. Die Unsittlichkeit, das nicht vollkommen Herrwerden des intelligenten Willens über die sinnlichen Triebe, hat ein Analogon an den Unnormalitäten Mißbildungen, Krankheiten in der Natur, welche zeigen, daß auch hier den höheren (organischen) Prinzipien die Beherrschung der niederen Prozesse nicht vollständig gelingt. Überall erleidet das höhere Gesetz Störungen durch den nicht völlig besiegbaren Widerstand der niederen Kräfte. Es ist Schleiermachers Determinismus, der ihn über der Parallelität den wesent- lichen Unterschied beider Gesetzgebungen übersehen läßt.

Durch Schleiermacher wurden angeregt Franz Vorländer (f 1867 in Marburg; Schl.s Sittenlehre 1851), Leop. George (f 1874 in Greifs- wald; Die fünf Sinne 1846; Lehrbuch der Psychologie 1854), der Theolog Richard Rothe (f 1867; über ihn Nippold 1873 f. und HoLTZMANN, R.s Spekulatives System 1899) und die Philosophiehistoriker Brandis (f 1867 in Bonn) und H. Ritter (f 1869), Lotzes Kollege in Göttingen. W. Dilthey (geb. 1834), Lotzes Nachfolger in Berlin, gibt ein Leben Schleiermachers (I. Band 1867 1870) heraus. Vergl. auch die kürzere Darstellung von Dilthey in der x\llgem. deutschen Biographie und Hayms Romantische Schule 1870. Ferner: Aus Schleier- machers Leben, in Briefen, herausgeg. von Jonas und Dilthey, 4 Bände 1858-63.

W. Bender, Schl.s Theologie, Nördl. 1876 78. P. Diebow, Die Pädagogik Schleiermachers, Halle 1894. Karl Beth, Die Grundanschauungen Schl.s in seinem ersten Entwurf der philos. Sittenlehre, Berlin 1898. Gustav Lasch, Schl.s Religions- begriff in seiner Entwickelung von der ersten Auflage der Reden bis zur zweiten Auflage der Glaubenslehre (Erlanger Diss.) 1900. Emil Fuchs, Schl.s Religions- begriff und religiöse Stellung zur Zeit der ersten Ausgabe der Reden (1799 bis 1806 , Gießen 1901. Eugen Huber, Die Entwicklung des Religionsbegriß's bei Schi, (^iu Bonwetsch und Seebergs „Studien", Bd. 7), Leipzig 1901.

422

Hegel.

Dreizehntes Kapitel. Hegel.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist am z^j. August 1770 in Stutt- gart geboren, besuchte das Gymnasium seiner Vaterstadt und seit 1788 als Theologiestudierender das Tübinger Stift und lebte 1793 1800 als Hauslehrer in Bern und Frankfurt a. M. Am letzteren Ort reift bereits der Plan seines künftigen Systems. Ein handschriftlicher Entwurf gliedert die Philosophie, der antiken Einteilung Logik, Physik und Ethik ent- sprechend, in drei Teile; im ersten (der Grundwissenschaft, der Kate- gorien- und Methodenlehre, welche Logik und Metaphysik vereinigt) wird das Absolute als reine Idee, im zweiten als Natur, im dritten als realer (sittlicher) Geist betrachtet. Er habilitiert sich 1801 in Jena mit einer lateinischen Dissertation über den Umlauf der Planeten, worin er, unkund der ein halbes Jahr vorher geschehenen Entdeckung der Ceres, behauptet, daß es aus Vernunftgründen vorausgesetzt, daß die in Piatons Timaios gegebene Zahlenreihe die wahre Ordnung der Natur sei zwischen Mars und Jupiter nicht noch einen Planeten geben könne. Außerdem enthält sie eine Deduktion der Keplerschen Gesetze. Schon vorher war die Abhandlung „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems" erschienen. In Gemeinschaft mit Schelling gibt Hegel das „Kritische Journal der Philosophie" 1802 1803 heraus. Der hierin ver- öffentlichte Artikel „Glauben und Wissen" bezeichnet den Standpunkt der Philosophie Kants, Jakobis und Fichtes als den der Reflexion, für welche Endliches und Unendliches, Sein und Denken einen Gegensatz bilden, während die wahre Spekulation jene in ihrer Identität begreift. In der Mitternacht vor der Schlacht bei Jena beendete Hegel die Redak- tion seiner Phänomenologie des Geistes, welche 1807 herauskam. Die ihm 1805 verliehene außerordentliche Professur mußte er aus peku- niären Rücksichten aufgeben, war ein Jahr lang Zeitungsredakteur in Bamberg und ging 1808 als Gymnasialrektor nach Nürnberg, wo er in den oberen Klassen den philosophischen Unterricht zu erteilen hatte. Was er hier vortrug, ist im achtzehnten Bande der Werke als Propädeutik gedruckt worden. In die Nürnberger Zeit fällt seine Verheiratung mit Maria von Tucher und die Herausgabe der Logik (erster Band 1812, zweiter 18 16). Im Jahre 18 16 wird er als Professor der Philosophie nach Heidelberg (wo die Enzyklopädie 1817 erscheint), nach weiteren zwei Jahren nach Berlin berufen. Die Grundlinien der Philosophie des Rechts 1821 sind das einzige größere Werk, das er dort ge- schrieben. Einige Rezensionen brachten die 1827 als Organ seiner Schule gegründeten ,, Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik", im übrigen widmete er seine ganze Kraft den Vorlesungen. An Leibniz' und Jean Pauls

Weltanschauung.

423

Todestage, dem 14. November 1831 wurde er ein Opfer der Cholera. Die Gesamtausgabe der Werke in 18 Bänden (1832 1845) enthält in Band 2 8 die von Hegel selbst edierten vier größeren Werke (die Enzyklopädie mit allzu reichlichen Zusätzen aus den Vorlesungen), in Band i, 16 und 17 die kleineren Schriften, in Band 9 15 die von Gans, Hotho, Marheineke und Michelet redigierten Vorlesungen. Als Band ig sind hinzugekommen die Briefe von und an Hegel, heraus- gegeben von des Philosophen älterem Sohne, dem (iQOi in Erlangen verstorbenen) Historiker Karl v. Hegel 1887.

Karl Rosenkranz hat Hegels Leben (1844) beschrieben, den Meister gegen R. Haym (Hegel und seine Zeit 1857) verteidigt (Apologie Hegels 1858) und ihn als deutschen Nationalphilosophen gefeiert (1870). Vergl. ferner die hübsche populäre Darstellung von Karl Köstlin 1870, die Abhandlungen von Ed. v. Hartmann, Über die dialektische Methode 1868 und Hegels Panlogismus (1870, aufgenommen in die Ges. Studien und Aufsätze 1876) und vor allem das bedeutende Hegelwerk von Kuno Fischer 1898 1901. W. Fickler, Unter welchen Voraussetzungen hat sich bei Hegel die Wertschätzung des Staates entwickelt? (ZPhKr. Bd. 122 und 123) 1903, schließt sich an Eucken an.

Der Darstellung der Teile des Systems mögen einige Bemerkungen über Hegels Standpunkt im allgemeinen und sein wissenschaftliches Ver- fahren vorausgehen.

1. Weltanschauung und Methode.

In Hegel lebt mit voller Macht der Intellektualismus wieder auf, welcher der deutschen Philosophie von Anfang an im Blute lag und durch Kants Moralismus nur vorübergehend eingeschränkt worden war. Der Primat der praktischen Vernunft wird aufgegeben und die Theorie als Grund, Kern und Zweck des menschlichen, ja alles Daseins gefeiert.

Leibniz und Hegel sind die klassischen Repräsentanten der intellek- tualistischen Weltanschauung. Bei jenem wiegt der subjektiv psycho- logische, bei diesem der objektiv kosmische Gesichtspunkt vor:. Leibniz schließt von der Vorstellungsnatur der Seele auf die analoge aller Ele- mente des Universums, Hegel leitet aus der allgemeinen Aufgabe alles Wirklichen, Darstellung der Vernunft zu sein, die spezielle des individuellen Geistes ab, eine bestimmte Reihe von Stufen des Denkens zu realisieren. Die wahre Wirklichkeit ist die Vernunft, alles Sein ist Verkörperung eines sinnvollen Gedankens, alles Geschehen eine Bewegung des Begriffs, die Welt eine Entwickelung des Denkens. Das Absolute oder die logische Idee existiert zuerst als ein System vorweltlicher Begriffe, steigt so- dann in die unbewußte Sphäre der Natur hinab, erwacht im INIenschen zum Selbstbewußtsein, realisiert ihren Inhalt in sozialen Institutionen, um endlich in Kunst, Religion und Wissenschaft bereichert und vollendet in

424

Hegel.

sich zurückzukehren, d. h. eine höhere Absolutheit, als die des Anfangs war, zu erlangen. Die Philosophie ist das höchste Produkt und das Ziel des Weltprozesses. Wie der Wille, die Anschauung, die Vorstellung und das Gefühl niedere Formen des Denkens, so sind Sittlichkeit, Kunst und Religion Vorstufen der Philosophie, denn erst dieser gelingt, was jene vergebens anstreben, den Begriff adäquat, in der Form des Begriffs darzustellen.

Entwickelt man, was in der intellektualistischen These „Alles Sein ist realisierter Gedanke, alles Werden Entwickelung des Denkens" als Bestandteil oder Folgerung enthalten ist, so ergeben sich folgende Bestim- mungen. I. Gegenstand der Philosophie sind die Ideen der Dinge. Sie geht darauf aus, den Begriff, den Zweck, die Bedeutung der Erschei- nungen zu ergründen und ihnen hiernach ihre Stellung in der Welt und im Systeme der Wissenschaft anzuweisen. Das Hauptinteresse richtet sich darauf, wohin ein Ding, gemäß seinem Sinne und seiner Bestimmung, auf der Stufenleiter der Werte gehöre; das Verfahren ist teleologisch, wertschätzend, ästhetisch. Statt eines kausalen Begreifens erhalten wir eine ideale Deutung der Erscheinungen. (So schildert Lotze treffend das Wesen des deutschen Idealismus.) 2. Wenn alles Wirkliche Darstellung der Vernunft, jedes Ding eine Stufe, INIodifikation des Denkens ist, so sind Denken und Sein identisch. 3. Wenn die Welt das Werden des Denkens ist und die Philosophie diesen Prozeß darzustellen hat, so ist die letztere Entwickelungslehre. Wenn jedes Ding einen Gedanken realisiert, so ist alles Wirkliche vernünftig; und wenn der Welt- prozeß seine höchste Stufe in der Philosophie, diese aber ihre Vollendung in dem System des absoluten Idealismus erreicht, so ist alles Vernünf- tige wirklich. Die Vernunft oder Idee ist nicht eine bloße Forderung, ein ersehntes Ideal, sondern eine Weltmacht, die ihre Realisierung durch- setzt. „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig" (Vorrede zur Rechtsphilosophie). Zusammengefaßt: Hegels Philosophie ist Idealismus, Identitätssystem und optimistische Entwickelungstheorie. Wie unterscheidet sich Hegel von anderen Idealisten, Identitätsphilosophen und Entwickelungslehrern, insbesondere von seinem Vorgänger Schelling?

Bei Schelling ist die Natur das Subjekt und die Kunst der Schluß- punkt der Entwickelung, sein Idealismus trägt einen physischen und ästhetischen Charakter, wie derjenige Fichtes einen ethischen. Bei Hegel aber ist Subjekt und Ziel der Entwickelung der Begriff, seine Philo- sophie ist, um mit Haym zu reden, eine „Logisierung" der Welt, ein logischer Idealismus.

Identitätslehre ist jedes System, welches Natur und Geist als wesens- gleich und als Erscheinungsweisen eines über beide erhabenen Absoluten auffaßt. Während aber Schellino: Reales und Ideales als einander

Weltanschauung. 425

gleichberechtigt behandelt, stellt Hegel die Fichtesche Unterordnung der Natur unter den Geist wieder her, ohne doch Fichtes Naturver- achtung zu teilen. Die Natur ist weder dem Geiste koordiniert, noch ein bloßes Mittel desselben, sondern eine Durchgangsstufe in der Ent- wickelung des Absoluten, nämlich die Idee in ihrem Anderssein. Der Geist selbst ist es, der Natur wird, um wirklicher, bewußter Geist zu werden; ehe das Absolute Natur wurde, war es schon Geist, zwar nicht „für sich", aber doch „an sich", es war Idee oder Vernunft. Das Ideale ist nicht bloß der Morgen, der auf die Nacht des Realen folgt, sondern auch der Abend, der ihr vorangeht. Das Absolute (der Begriff) entwickelt sich vom Ansich durch das Außersich oder Anderssein zum An- und Fürsich, es existiert zuerst als Vernunft (logisches Begriffssystem), hier- auf als Natur, zuletzt als lebendiger Geist. Durch zweierlei also unter- scheidet sich Hegels Identitätsphilosophie von der Schellings: sie subordi- niert die Natur dem Geiste und faßt das Absolute des Anfangs nicht als Indifferenz des Reellen und Ideellen, sondern als Ideelles, als ein Reich ewiger Gedanken.

Hiernach ist die Behauptung, daß Hegel die Synthese Fichtes und Schellings darstelle, berechtigt. Sie gilt auch für die gesamte Eigenart des Philosophen, sofern derselbe zwischen der weltentrückten starren Abstraktheit des Fichteschen Denkens und der künstlerisch-phan- tasievollen Intuition Schellings die Mitte hält und mit jenem die logische Strenge sowie das überwiegende Interesse für die Geistesphilosphie, mit diesem den weiten Gesichtskreis wie den Blick für den Wert und den Reichtum des Einzelnen teilt.

An dritter Stelle wurde Hegels System als Entwickelungsphilosophie charakterisiert. Hier ist nun das Unterscheidende, daß Hegel das von Fichte gefundene, auch von Schellmg gelegentlich benutzte Entwicke- lungsprinzip, den triadischen Rhythmus von These, Antithese und Synthese, mit Konsequenz und bis zum Eigensinn hartnäckig durch- führt. Damit stehen wir bei seiner dialektischen Methode. Sie ergab sich ihm als das echte Verfahren der Spekulation aus der Ver- gleichung jener beiden Gestalten der Philosophie, die Hegel am Beginne seiner Laufbahn als die herrschenden vorfand: der in Kant gipfelnden Aufklärung auf der einen, der Identitätslehre des Schellingschen Kreises auf der anderen Seite, deren keine ihn vollkommen befriedigte.

In der Sache fühlte er sich mit Schelling einig: die Philosophie soll Metaphysik, Wissenschaft vom Absoluten und seiner Immanenz in der Welt, Lehre von der Identität der Gegensätze, vom Ansich der Dinge, nicht bloß von ihrer Erscheinung sein. Aber die Form, die Schelling ihr gegeben, erscheint ihm unwissenschaftlich, uns\'Stematisch, denn er gründet die philosophische Erkenntnis auf geniale Intuition, eine Wissen- schaft aus x\nschauung ist unmöglich. An der Aufklärungsphilosophie

426

Hegel.

anderseits imponiert ihm die formelle Strenge der Untersuchung, er ist mit ihr einverstanden, daß Philosophie Wissenschaft aus Begriffen sein soll. Nur nicht aus abstrakten Begriffen. Kant steht mit der Auf- klärung auf dem Boden der Reflexion, für welche der Gegensatz von Sein und Denken, Endlichem und Unendlichem unauflöslich und folg- lich das Absolute transzendent, das wahre Wesen der Dinge unerkenn- bar bleibt. Hegel wünscht die beiderseitigen Vorzüge, die Tiefe des In- halts dort und die wissenschaftliche Form hier, zu vereinigen.

Die Anschauung, mit der Schelling operiert, ist ein unmittelbares, auf das Konkrete und Besondere gehendes Wissen. Der Begriff der Reflexionsphilosophie ist ein vermitteltes, im Abstrakten und Allgemeinen sich bewegendes Wissen. Ließe sich nicht die (unwissen- schaftliche) Unmittelbarkeit dort und die (anschauungslose, inhalts- leere) Abstraktheit hier beseitigen, das Konkrete mit dem Vermittelten oder Begrifflichen verbinden und auf diese Weise das Kantische Ideal des intuitiven Verstandes realisieren? Der konkrete Begriff wäre der- jenige, der das Allgemeine nicht außerhalb des Besonderen, sondern in demselben aufsuchte, das Unendliche nicht jenseit des Endlichen, das Absolute nicht in unerreichbarer Ferne über der Welt, das Wesen nicht hinter der Erscheinung verborgen, sondern in ihr sich darstellend wüßte. Wenn die Reflexionsphilosophie in der abstrakten Unlebendigkeit ihrer Begriffe die Gegensätze als unauf hebbar, Schelling sie als unmittelbar identisch ansah, jene die Identität der Gegensätze leugnete, dieser sie als uranfänglich (in der intuitiv zu ergreifenden Indifferenz) gegeben be- hauptete, so läßt der konkrete Begriff die Gegensätze sich zur Iden- tität vermitteln, in dieselbe übergehen, er lehrt die Identität als Er- gebnis eines Prozesses erkennen. Erst unmittelbare Einheit, dann Aus- einandertreten und endlich Versöhnung der Gegensätze, das ist das allgemeine Gesetz aller Entwickelung.

Der Widerstreit zwischen der Reflexions- und der Anschauungs- philosophie, den Hegel durch eine ebensosehr begriffliche als konkrete * Spekulation zu heben bemüht ist, betrifft i. das Organ des Denkens, 2. das Objekt desselben, 3. das Wesen und die logische Dignität des Widerspruchs.

Das Organ der wahren Philosophie ist weder der abstrakt reflektierende Verstand, der sich in die Grenzen der Erscheinung eingeschlossen sieht, noch die mystische Anschauung, die mit raschem Sprunge den Gipfel der Erkenntnis des Absoluten zu gewinnen meint, sondern die Vernunft als das Vermögen konkreter Begrifie. Konkret ist derjenige Begriff", der sich gegen sein Gegenteil nicht spröde ablehnend verhält, sondern

1 Hegel schreibt 1825 an Goethe: „mein Inneres hat gegen die Abstraktion Nahrung zur widerhaltenden Stärke von Ihnen erhalten."

Dialektische Methode.

427

sich mit ihm vermittelt, sich von der These durch die Antithese und mit ihr zur Synthese bewegt. Die Vernunft fixiert weder die Gegensätze, noch leugnet sie dieselben, sondern läßt sie identisch werden. Die Ein- heit der Gegensätze ist weder unmöglich, noch von vornherein vorhanden, sondern die Errungenschaft einer Entwickelung.

Der Gegenstand der Philosophie ist nicht die Erscheinungswelt oder das Relative, sondern das Absolute, dieses aber nicht als ruhende Sub- stanz, sondern als lebendiges, sich in die Unterschiede spaltendes und aus ihnen zur Identität zurückkehrendes, durch die Gegensätze hindurch sich entwickelndes Subjekt. Das Absolute ist Prozeß, alles Wirkliche Darstellung dieses Prozesses. Soll die Wissenschaft der Wirklichkeit ent- sprechen, so muß auch sie Prozeß sein. Philosophie ist Gedanken- bewegung (Dialektik), ist ein System von Begriffen, deren jeder in den folgenden übergeht, ihn aus sich hervortreibt, sowie er selbst aus dem vorhergegangenen erzeugt worden.

Alles Wirkliche ist Entwickelung und das Treibende in der Ent- wickelung (der Welt sowohl wie der Wissenschaft) ist der Gegensatz, der Widerspruch. Ohne ihn wäre keine Bewegung und kein Leben. Somit ist alles Wirkliche widerspruchsvoll und trotzdem vernünftig. Der Widerspruch ist nicht das schlechtweg Alogische, aber er ist ein Sporn zum Weiterdenken. Er darf nicht getilgt, sondern muß „aufgehoben", d. h. sowohl negiert als konserviert werden. Das geschieht dadurch, daß die einander widersprechenden Begriffe in einem dritten höheren, umfassen- deren, reicheren Begriff zusammengedacht werden, dessen Momente sie nunmehr bilden. Als aufgehobene Momente widersprechen sie einander nicht mehr, der Gegensatz oder Widerspruch ist überwunden. Aber die Synthese ist noch keine endgültige, das Spiel beginnt von neuem, es findet sich wiederum ein Gegensatz ein, der abermals überwunden werden will usf Jeder einzelne Begriff ist einseitig, mangelhaft, stellt nur einen Teil der Wahrheit dar, bedarf der Ergänzung durch sein Gegenteil und ergibt durch seine Verbindung mit diesem Komplemente einen höheren Begriff, welcher der ganzen Wahrheit näher kommt, aber sie gleichfalls noch nicht erreicht. Selbst der letzte und reichste Begriff die absolute Idee für sich allein ist nicht die volle Wahrheit; zum Resultat gehört die gesamte Entwickelung mit, durch die es gewonnen wurde. Erst durch solche Dialektik der Begriffe entspricht die Philosophie vollkommen dem lebendigen Wirklichen, das sie begreifen soll, und der spekulative Ge- dankenfortschritt ist nicht ein willkürliches Begriffsspiel des denkenden Subjekts, sondern der adäquate Ausdruck der Bewegung der Sache selbst. Da die Welt und ihr Grund Entwickelung ist, so kann sie auch nur durch Begriffsentwickelung erkannt werden. Das Gesetz, welches dieselbe im kleinen wie im großen befolgt, ist der Fortgang vom Satz zum Gegen- satz und von da zur Vereinigung. Das umfassendste Beispiel dieser

428

Hegel.

Trias Idee, Natur, Geist gibt die Einteilung des Systems, das zweitumfassendste subjektiver, objektiver, absoluter Geist bestimmt die Gliederuno: des dritten Teiles.

2. Das System.

Als einleitenden Teil hat Hegel eine Phänomeijologie voraus- geschickt, worin er (um nicht gleich den Schellingianern „wie aus der Pistole" mit dem absoluten Wissen zu beginnen) mit reizvoller Ver- mengung psychologischer und geschichtsphilosophischer Gesichtspunkte die Genesis der philosophischen Erkenntnis beschreibt. Sechs Stufen läßt er den Geist sowohl den allgemeinen Weltgeist wie das indivi- duelle Bewußtsein, welches abgekürzt die Stationen der Entwickelung der Menschheit wiederholt durchlaufen, von denen die drei ersten (Be- wußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft) dem Stufengange des „Phänomeno- logie" betitelten mittleren Teiles der Lehre vom subjektiven Geiste ent- sprechen, die weiteren (sittlicher Geist, Religion und absolutes Wissen) eine kürzere Darstellung dessen bieten, was die Lehre vom objektiven und absoluten Geiste in reicherer Gliederung entwickelt.

I. Die Logik betrachtet die Idee im abstrakten Elemente des Denkens, nur wie sie gedacht, noch nicht wie sie angeschaut wird oder sich selbst denkt, ihr Inhalt ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich ist, oder Gott in seinem ewigen Wesen vor Erschaffung der Welt. Anders als die gewöhnliche bloß formale Logik, welche Form und Inhalt trennt, behandelt die spekulative Logik, welche zugleich Ontologie oder Metaphysik ist, die Kategorien als reale Verhältnisse, die Denk- formen als Wirklichkeitsformen: wie Sache und Gedanke dasselbe sind, ist sie Denk- und Seinslehre in einem. Ihre drei Hauptteile sind be- titelt: Sein Wesen Begriff. Der erste behandelt Qualität, Quantität und Maß oder qualitatives Quantum. Der zweite betraclitet das Wesen als solches, die Erscheinung und (das erscheinende Wesen oder) die Wirklichkeit, die letzte nach den Momenten Substantialität, Kausalität und Wechselwirkung. Der dritte zerfällt in die Abschnitte Subjektivität (Begriff, Urteil, Schluß), Objektivität (Mechanismus, Chemis- mus, Teleologie) und Idee (Leben, Erkennen, absolute Idee).

Es wird genügen, als Probe von der Art, wie Hegel den Begriff in sein Gegenteil umschlagen und sich mit diesem in einer Synthese zu- sammenschließen läßt, den berühmten Anfang der Logik anzuziehen. Wie muß das Absolute zuerst gedacht, zuerst definiert werden? Offen- bar als das schlechthin Voraussetzungslose. Der allgemeinste Begriff, der übrig bleibt, wenn von allem bestimmten Denkinhalt abgesehen wird, und von dem selbst nicht melir abstrahiert werden kann, der unbe-

Logik.

429

stimmteste und unmittelbarste, ist das reine Sein. Als qualitäts- und inhaltslos ist es gleich dem Nichts. Indem wir das reine Sein dachten, haben wir statt seiner vielmehr das Nichts gedacht; dieses aber läßt sich ebenfalls nicht festhalten, sondern schlägt rückwärts in das Sein um, denn indem es gedacht wird, existiert es als Gedachtes. Reines Sein und reines Nichts sind dasselbe, wenngleich wir verschiedenes damit meinen: beide sind absolute Bestimmungslosigkeit. Das Übergehen vom Sein ins Nichts und vom Nichts ins Sein ist das Werden. Das Werden ist die Einheit und damit die Wahrheit beider. Wenn der Knabe Jüngling „wird", so ist er Jüngling und ist es zugleich noch nicht. Sein und Nichtsein sind im Werden so vermittelt und aufgehoben, daß sie sich nicht mehr widersprechen. Ahnlich wird weiterhin gezeigt, daß im Maße Qualität und Quantität voneinander abhängig und geeinigt sind (was populär so zu erläutern: fortgehend verringerte Wärme wird Kälte, Entfernungen können nicht mit Scheffeln gemessen werden), daß Wesen und Erscheinung voneinander untrennbar sind, sofern diese immer Erscheinung eines Wesens und jenes nur dadurch Wesen ist, daß es sich in der Erscheinung manifestiert usw.

Die Bedeutung der Hegeischen Logik ruht weniger auf den geist- reichen und wertvollen Einzelerörterungen, als auf dem Grundgedanken, daß die Kategorien nicht einen ungeordneten Haufen, sondern ein großes organisch zusammenhängendes Ganze ausmachen, in welchem jedes Glied seine bestimmte Stelle einnimmt und in abgestuften Beziehungen der Verwandtschaft und Unterordnung zu jedem anderen steht. Schon diese Absicht, einen Globus der reinen Begriffe zu entwerfen, war eine gewaltige Tat, welcher trotz der verfehlten Ausführung die dauernde Bewunderung der Nachwelt gesichert ist. Wer sie dereinst wieder auf- nehmen wird, darf aus dem mißlungenen Versuch Hegels manche Lehre ziehen. Vor allem sind die Zusammenhänge zwischen den Begriffen zu mannigfaltig und kompliziert, als daß ihnen die monotonen Übergänge jener dialektischen Methode (die Chalybaeus witzig als Gliederkrankheit bezeichnet hat) gerecht zu werden vermöchten. Sodann dürfte die her- vorbringende Kraft des Denkens nicht vernachlässigt und müßte ihr viel- mehr als der Beweglichkeit der Kategorien selbst das Geschäft der Über- leitung von der einen zur anderen übertragen werden.

2. Die Naturphilosophie zeigt die Idee in ihrem Anderssein. Aus dem logischen Schattenreiche, in welchem die Seelen aller Wirk- lichkeit wohnen, treten wir in die Sphäre der äußerlichen, sinnlichen Existenz, in der sich die Begriffe materialisieren. Warum entäußert sich die Idee? Um wirklich zu werden. Aber die natürliche Wirklichkeit ist eine unvollkommene, der Idee unangemessene und nur die Vorbe- dingung einer besseren, auf die es von vornherein abgesehen war, der geistigen: die Vernunft wird Natur, um Geist zu werden, die Idee geht

430

Hegel.

aus sich heraus, um bereichert zu sich zurückzukehren. Nur der kennt die Heimat recht, wer einmal im Auslande gewesen.

Das Verhältnis der Naturdinge zueinander und ihr Wirken aufein- ander ist ein äußerliches; sie gehorchen der mechanischen Notwendig- keit, und der Zufall fremder Einflüsse hemmt und stört ihre Entwickelung, so daß in der Natur zwar überall Vernunft, aber nicht nur Vernunft sichtbar ist und vieles Unlogische, Zweckwidrige, Regellose, Angstvolle und Krankhafte darauf deutet, daß ihr Wesen in der Äußerlichkeit be- steht. Doch wird die Unadäquatheit der Verwirklichung der Idee in allmählicher Entwickelung gradweise aufgehoben, bis sich im „Leben" die Geburt des Geistes vorbereitet.

Da sich Hegel in der Naturphilosophie welche in die drei Teile Mechanik, Physik, Organik zerfällt ziemlich eng an Schelling anlehnt und überdies in ihr nicht seine Stärke bewiesen hat, scheint es nicht geboten, bei ihr zu verweilen. Auch im nächsten Abschnitt muß es, in Anbetracht dessen, daß die Vorbilder desselben, die konstruktive Psychologie Fichtes und Schellings, ausführlich betrachtet worden, bei einer Angabe der Gliederung sein Bewenden haben.

3. Die Lehre vom subjektiven Geiste bezeichnet als Wesen und Bestimmung des Geistes die Freiheit (das Bei- oder Insichsein) und zeigt, wie er in zunehmender Unabhängigkeit von der Natur diese An- lage verwirklicht. Das Thema der Anthropologie ist der Geist als Naturwesen oder als (natürliche, fühlende und wirkliche) „Seele" eines Leibes, wobei die Unterschiede der Rassen, Völker, Geschlechter, Lebens- alter, des Schlafens und Wachens, des Naturells und Temperaments nebst den Talenten und die Geisteskrankheiten abgehandelt werden, kurz das, was dem Geiste zukommt, sofern er mit einem Körper verbun- den ist. Die Phänomenologie ist die Wissenschaft vom „Ich", d. h. dem Geiste, sofern er sich der Natur als dem Nichtich entgegensetzt und die Stufen des (bloßen) Bewußtseins, des Selbstbewußtseins und (deren Synthese:) der Vernunft durchläuft. Die Psychologie (besser Pneuma- tologie) betrachtet den mit der Objektivität sich versöhnenden „Geist" in folgender Einteilung: die theoretische Intelligenz als Anschauung (Em- pfindung, Aufmerksamkeit, Anschauung), Vorstellung (Erinnerung, Phan- tasie, Gedächtnis) und (begreifendes, urteilendes, schließendes) Denken; die praktische Intelligenz als Gefühl, Trieb (Leidenschaft und Willkür) und Glückseligkeit; endlich die Einheit des erkennenden und wollenden Geistes: den freien Geist oder den vernünftigen Willen, der sich nun in Recht, Moral und Geschichte verwirklicht.

4. Die Lehre vom objektiven Geiste, Ethik, Rechts-, Staats- und Geschichtsphilosophie umfassend, ist Hegels Glanzleistung. Sie gliedert sich folgendermaßen: I. Recht (Eigentum, Vertrag, Strafe), IL Moralität (Vorsatz, Absicht und Wohl, Gutes und Böses), III. Sittlichkeit,

Der subjektive und objektive Geist. a-ii

a. Familie, b. bürgerliche Gesellschaft, c. Staat (inneres und äußeres Staats- recht und Weltgeschichte). Im Recht gelangt der Wille oder die Freiheit zu äußerer, in der Moralität zu innerer, in der Sittlichkeit zu sowohl objektiver als subjektiver, also vollkommener Wirklichkeit.

Das Recht, gleichsam eine zweite, höhere Natur, weil vom Geiste gesetzte und anerkannte Notwendigkeit, ist ursprünglich eine Summe von Verboten; wo es zu gebieten scheint, da hat das Negative nur einen positiven Ausdruck erhalten. Das Privatrecht enthält zweierlei, die Befugnis, Person zu sein, und das Gebot, andere Personen als solche zu respektieren. Das Eigentum ist die äußere Sphäre, die sich der Wille gibt: ohne Eigen- tum keine Person. Durch die Strafe (Vergeltung) wird das Recht gegen das Unrecht wiederhergestellt und das letztere als ein Nichtiges erwiesen. Sie behandelt den Verbrecher nach derselben Maxime, nach der er ge- handelt: daß Zwang erlaubt sei.

Auf der Stufe der Moralität existiert das Gute in der Form einer nie vollkommen zu erfüllenden Aufgabe, als bloßes Soll; es bleibt zwischen Pflichtgebot und Einzelwillen, zwischen Absicht und Ausführung ein un- vertilgbarer Gegensatz bestehen. Der Richter über gut und böse ist hier das Gewissen, das ^•or Irrtum nicht sicher ist. Der subjektiven Über- zeugung kann etwas als gut und als Pflicht erscheinen, was objektiv böse ist. (Nach Fichte war das unmöglich.)

Wegen des auf dieser Stufe nicht zu schlichtenden Widerstreits zwischen Pflicht und Wille vermag Hegel in der Moral, der Sphäre der subjektiven Gesinnung, nicht das Höchste zu erblicken. Er meint ein Höheres zu kennen, worin Legalität und Moralität eins werden: die „Sittlichkeit". Seinen Namen hat dies Gebiet von der Sitte, jener in der Gemeinschaft herrschenden Gewohnheit, welche vom Einzelnen nicht als äußeres Gebot, sondern als sein eigenes Wesen empfunden wird. Das Gute erscheint hier als Familien- und Volksgeist, der die Individuen als ihre Substanz durchdringt. Die Ehe ist weder ein bloß rechtliches noch ein bloßes Herzensverhältnis, sondern ein „sittliches" Institut. Wenn in der Familie die Liebe herrscht, so geht in der bürger- lichen Gesellschaft jeder auf die Befriedigung seiner Privat- bedürfnisse aus, dient jedoch, indem er für sich arbeitet, dem Wohle des Ganzen. Auf der durch die Verschiedenheit der Bedürfnisse gebotenen Teilung der Arbeit beruht die Sonderung der Stände (der produktive, der Gewerbe- und der denkende Stand). Die Standes- und Zunftehre gehört nach Hegel zu den wesentlichsten Stützen der allgemeinen Sitt- lichkeit. Verwunderlicherweise zieht er auch die Rechtspflege und die Polizei in dieses Gebiet hinein.

Der Staat, die Einheit von Familie und bürgerlicher Gesellschaft, ist die vollendete Wirklichkeit der Freiheit. Seine Organe sind die (zu sondernden, aber nicht zu \erselbständigenden) Staatsgewalten: die ge-

432

Hegel.

setzgebende setzt das Aligemeine fest, die regierende subsumiert darunter das Besondere, die fürstliche faßt beide zur persönlichen Einheit zu- sammen. Im Willen des Fürsten ist der Staat Subjekt geworden. Die vollkommene Staatsform ist die konstitutionelle Erbmonarchie, ihre Her- stellung das Ziel der Geschichte, die Hegel gleich Kant vorwiegend unter dem politischen Gesichtspunkte betrachtet.

Die Geschichte ist das Werden des vernünftigen Staates, die len- kende Macht dieser Entwickelung der Weltgeist, seine Werkzeuge die Volksgeister und die großen Männer. Das einzelne Volk ist der Aus- druck nur eines bestimmten Momentes des allgemeinen Geistes; hat es seinen Auftrag erfüllt, so wird es rechtlos und tritt die Herrschaft einem anderen, nun allein berechtigten, ab: die Weltgeschichte ist das Weltge- richt, das über die Nationen gehalten wird. Auch die welthistorischen Männer sind nur Organe eines Höheren, dessen Zwecke sie vollbringen, während sie im eigenen Interesse zu handeln wähnen: ihre eigene Tat ist ihnen verborgen und weder ihr Zweck noch ihr Objekt. Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt.

Die Geschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Zu- erst weiß sich nur einer frei, dann mehrere, zuletzt alle. Das gibt drei Hauptperioden resp. vier Weltreiche: der orientalische Despotismus, die griechische (demokratische) und die römische (aristokratische) Republik, die germanische Monarchie, in denen die Menschheit ihre Lebensalter durchläuft. Die Geschichte schreitet gleich der Sonne von Osten nach Westen. China und Indien sind nicht über die Vor- stufen des Staates liinausgekommen; das chinesische Reich ist ein Fa- milienstaat, das indische eine Gesellschaft von zu Kasten erstarrten Ständen. Erst die persische Despotie ist ein wahrhafter Staat, und zwar ein erobernder Militärstaat. Im Jünglings- und Mannesalter der Mensch- heit tritt an die Stelle der Alleinherrschaft die Volkssouveränität, aber noch haben nicht alle das Bewußtsein der Freiheit, die Sklaven haben keinen Teil an der Herrschaft. Das Prinzip der lebensfrischen, schön- heitsfrohen griechischen Welt ist die Individualität, daher die Vielheit kleiner Staaten, in der Sparta den römischen Charakter antizipiert. Die römische Republik kennzeichnet sich nach innen durch den Verfassungs- kampf der Patrizier und Plebejer, nach außen durch die Politik der Welteroberung. Aus dem spröden Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen, die sich als abstrakter Staat und abstrakte Person gegenüberstehen, entwickelt sich die unglückliche Imperatorenzeit. Mit dem römischen Kaiserreiche und dem Judentum waren die Bedingungen gegeben für das Erscheinen des Christentums. Es bringt die Idee der Humanität: jeder Mensch ist als Mensch, als vernünftiges Wesen frei. Zunächst war die Befreiung eine religiöse, durch die Germanen wurde

Staat und Geschichte.

433

sie auch eine politische. Die weitere Einteilung kann nicht durchge- sprochen werden. Die Überschriften lauten: die Elemente des germa- nischen Geistes (Völkerwanderung; Muhamedanismus; das fränkische Reich Karls des Großen), das Mittelalter (Feudalität und Hierarchie; Kreuzzüge; Übergang aus der Feudalherrschaft zur Monarchie oder das Städtewesen), die neue Zeit (Reformation; deren Wirkung auf die Um- bildung der Staaten; Aufklärung und Revolution).

Die Philosophie der Geschichte ^ ist die größte und dauerndste Leistung Hegels. Seine Ansicht vom Staat zwar als dem absoluten End- zweck, der vollen Verwirklichung des Guten, steht unter dem Banne des antiken Ideals, das in der modernen Menschheit nicht wieder Wurzeln schlagen kann. Aber sein großartiger Versuch, die Geschichte zu „be- greifen", die Gesetze der historischen Entwickelung und die Wechsel- wirkung zwischen den verschiedenen Gebieten des nationalen Lebens aufzudecken, wird für alle Zeiten vorbildlich bleiben. Die leitenden Ideen seiner Geschichtsphilosophie sind so schnell in das allgemeine wissenschaftliche Bewußtsein eingedrungen, daß dem heutigen Forscher die Geschichtsauffassung der Aufklärungszeit nahezu unverständlich ge- worden ist.

5. Der absolute Geist ist die Einheit des subjektiven und objek- tiven Geistes. Als solcher wird der Geist vollkommen (von allen Wider- sprüchen) frei und versöhnt sich mit sich selbst. Der Zwiespalt zwischen Subjekt und Objekt, Vorstellung und Gegenstand, Denken und Sein, Unendlichem und Endlichem wird aufgehoben und das Unendliche als das Wesen des Endlichen erkannt. Das Wissen von der Versöhnung der obersten Gegensätze oder von dem Unendlichen im Endlichen stellt sich in drei Formen dar: in der Form der Anschauung (Kunst), des Gefühls und der Vorstellung (Religion), des Denkens (Philosophie).

a. Ästhetik. Das Schöne ist das Absolute (das Unendliche im Endlichen) in sinnlicher Existenz, die Idee in begrenzter Erscheinung. Je nach dem Verhältnis dieser Momente, je nachdem ein Überwiegen der äußeren Gestalt oder des inneren Gehalts oder ein Gleichgewicht beider stattfindet, haben wir die symbolische Kunstform, in der die Erscheinung über\viegt, die Idee nur angedeutet wird, oder die klassische, in welcher Idee und Anschauung oder geistiger Inhalt und sinnliche Form sich vollständig decken und durchdringen, jener in diese restlos aufgenommen wird, oder die romantische, bei der die Erscheinung zurücktritt und die Idee, die Innerlichkeit des Gemüts überwiegt. Die klassische Kunst, bei welcher Form und Gehalt einander vollkommen

1 Eine gutgewählte Sammlung von Aphorismen aus der Geschichtsphilosophie gibt M. SCHASLER unter dem Titel „Hegel, Populäre Gedanken aus seinen Werken" , 1870, 2. Aufl. 1873.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 28

434

Hegel.

angemessen sind, ist die schönste, die romantische nichtsdestoweniger die höhere, bedeutendere.

Symbolisch war die orientalische Kunst mit Einschluß der ägyp- tischen, und hebräischen, klassisch die griechische, romantisch ist die christliche, welche ganz neue Empfindungen ritterlicher und religiöser Art Liebe, Treue und Ehre, Schmerz und Buße in die Kunst einführt und selbst das Kleine und Zufällige durch sorgsame Behand- lung zu adeln versteht. Das Erhabene gehört zur Symbolik, die rö- mische Satire ist die Auflösung des klassischen, der Humor die des romantischen Ideals.

Die Architektur ist eine vorwiegend symbolische Kunst, die Skulptur gestattet die reinste Ausprägung des klassischen Ideals, Malerei, Ton- kunst und Dichtkunst tragen einen romantischen Charakter. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß sich innerhalb jeder Kunst jene drei Stufen wiederholen, in der Architektur z. B. als monumentale (Obelisk), dienende (Haus und Tempel) und gotische (Dom) Baukunst. Wie die Plastik bei den Hellenen, so erreichen die romantischen Künste ihren Höhe- punkt bei den christlichen Völkern. In der Poesie als der vollkom- mensten und allseitigsten (oder der Totalität der) Kunst, welche den Gegensatz des Symbolischen und Klassischen in sich vereinigt, ist die Lyrik eine Wiederholung des Architektonisch- Musikalischen, das Epos die des Plastisch-Malerischen, das Drama die Verbindung des Lyrischen und Epischen.

b. Religionsphilosophie. Die in der romantischen Kunst, ins- besondere in der Poesie begonnene Zurückziehung aus der äußeren Sinn- lichkeit in das Innere des Gemüts vollendet sich in der Religion. In ihr haben die Völker niedergelegt, wie sie sich die Substanz der Welt vor- stellen ; in ihr wird die Einheit des Unendlichen und Endlichen empfunden und bildlich vorgestellt. Sie ist nicht bloß Gefühl der Frömmigkeit, sondern ein Denken des Absoluten, nur nicht in Form des Denkens. Religion und Philosophie sind sachlich dasselbe, beide haben zum Objekt Gott oder die Wahrheit, sie unterscheiden sich nur durch die Form: die Re- ligion enthält denselben spekulativen Inhalt in empirischer, sinnbildlicher Gestalt, welchen die Philosophie in der adäquaten Gestalt des Begriffs darstellt. Religion ist werdendes Wissen in stufenweiser Überwindung der Unvollkommenheit. Sie erscheint zuerst als bestimmte Religion in zwei Stufen: Naturreligion und Religion der geistigen Individualität, und realisiert endlich ihren Begriff vollkommen in der absoluten Reli- gion des Christentums.

Die Naturreligion, auf der niedrigsten Stufe Zauberei, entwickelt sich in drei Formen: als Religion des Maßes (chinesische), der Phantasie (indische oder brahmanische) und des Insichseins (buddhistische). In der persischen (zoroastrischen) Religion des Lichts, der syrischen des Schmerzes

Der absolute Geist. 45 c

und der ägyptischen des Rätsels bereitet sich die Umwandlung in die Religion der Freiheit vor. Der Grieche löst das Rätsel der Sphinx, in- dem er sich als Subjekt, als Mensch erfaßt.

Die Religion der geistigen Individualität oder freien Subjek- tivität durchläuft drei Stadien: die jüdische Religion der Erhabenheit (Einheit), die griechische der Schönheit (Notwendigkeit), die römische der Zweckmäßigkeit (des Verstandes). Gegenüber der jüdischen Religion des knechtischen Gehorsams, welche die Macht des Einen Gottes und die Nichtigkeit der durch seinen Willen „geschaffenen" Natur im Wunder kundwerden läßt, und dem prosaischen Ernste der römischen, welche im Jupiter und in der Fortuna nur die Weltherrschaft des römischen Volks anbetet, verehrt die heitere Kunstreligion der Hellenen in den schönen Göttergestalten die Mächte, die der Mensch in sich selbst ge- wahrt: Weisheit, Tapferkeit und Schönheit.

Die christliche oder offenbare Religion ist die der Wahrheit, der Freiheit, des Geistes. Ihr Inhalt ist die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur, Gott als der im Erkanntwerden durch den Men- schen sich selbst Erkennende; unser Wissen von Gott ist Gottes Wissen von sich. Ihre Grundwahrheiten sind die Dreieinigkeit (sie besagt, daß Gott sich unterscheidet und den Unterschied aufhebt in der Liebe), die Gottmenschheit (als Sinnbild der Wesensgleichheit des unendlichen und endlichen Geistes), der Sündenfall, der Versöhnungstod Christi (er be- deutet, daß die Realisierung der Einheit des Menschen mit Gott die Überwindung der Natürlichkeit und Selbstsucht voraussetzt).

c. Die Philosophie. Es bleibt schließlich die Aufgabe übrig, den in der Religion gegebenen absoluten Inhalt in die ihm adäquate Ge- stalt, die Begriffsform zu kleiden. In der Philosophie erreicht der ab- solute Geist die höchste Stufe, seine vollkommene Selbsterkenntnis. Sie ist die sich denkende Idee.

Man darf an dieser Stelle nicht noch besondere Aufklärungen er- warten: die Philosophie ist der zurückgelegte Gang selbst. Die syste- matische Darstellung derselben ist die Enzyklopädie, die Betrachtung ihrer eigenen Verwirklichung die Geschichte der Philosophie, die, als „philosophische" Disziplin, die Gesetzmäßigkeit und Vernünftigkeit jener historischen Entwickelung, das nicht bloß Aufeinanderfolgen, sondern Auseinanderfolgen der Systeme sowie deren Zusammenhang mit der Kulturgeschichte nachzuweisen hat. Jedes System ist Erzeugnis und Aus- druck seiner Zeit und kann als Selbstbesinnung des jeweiligen Bildungs- standpunktes nicht früher auftreten, als dieser bis zur Reife gediehen und daran ist, überwunden zu werden. Erst mit der einbrechenden Dämmerung beginnt die Eule der Minerva ihren Flug:.

28*

436

Die Halbkantianer.

Vierzehntes Kapitel.

Die Opposition gegen den konstruktiven Idealismus: Fries, Herbart, Schopenhauer.

Gegen die durch Fichte, Schelling und Hegel repräsentierte idealisti- sche Schule hat sich in Fries, Herbart und Schopenhauer eine dreifache Opposition erhoben. Die des ersten erstreckt sich auf die Methode der konstruktiven Denker, die des zweiten auf ihre ontologischen Bestim- mungen, die des dritten auf ihr Urteil über den Wert des Daseins. Fries und Beneke erklären eine spekulative Erkenntnis des Übersinnlichen für unmöglich und wollen die Philosophie auf empirische Psychologie gründen. Herbart stellt dem Monismus (Panlogismus) der Idealisten einen Plura- lismus, ihrer Philosophie des Werdens eine Philosophie des Seins ent- gegen, Schopenhauer verwirft ihren Optimismus, indem er der Welt und dem Weltgrunde die Vernünftigkeit abspricht. Untereinander haben die Denker der Opposition nicht viel mehr gemein, als daß sie sich alle eines besseren Verständnisses und einer dem Sinne ihres Urhebers besser entsprechenden Fortbildung der Kantischen Philosophie rühmen, als ihr durch die Idealisten zuteil geworden. Wer ihnen hierin nicht beistimmt, sondern den von ihnen bekämpften Idealisten gegründetere Ansprüche auf die Ehre, korrekte Ausleger und konsequente Fortbildner der Kantischen Lehre zu sein, zuerkennt, wird den den Männern der Opposition von Fortlage gegebenen Namen der Halbkantianer adop- tieren dürfen: eine Bezeichnung, die um so zutreffender erscheint, als jeder von ihnen sich aus der Kantischen Lehre nur einen bestimmt abgrenzbaren Teil aneignet und ihm ein fremdes Element beimischt. Dieses unkantische Element stammt bei Fries aus der Glaubensphilosophie des Jacobi, bei Herbart aus der Monadologie des Leibniz und der eleatisch-atomistischen Lehre des Altertums, bei Schopenhauer aus der indischen Religion und (wie bei Beneke) dem Sensualismus der Engländer und Franzosen. Der Parallelismus, der zwischen den Hauptvertretern der idealistischen Schule und den Anführern der Opposition besteht, kann nur flüchtig angedeutet werden. Die Erkenntnis- und Glaubens- theorie des Fries ist das empiristische Seitenstück zur Fichteschen Wissenschaftslehre. Schopenhauer hat in seiner Willens- und Ideenlehre, seiner anschauungskräftigen und phantasievollen Auffassung von Natur und Kunst, überhaupt seiner ästhetisierenden, der methodischen Fesseln sich gern entledigenden Art zu philosophieren so viel Verwandtschaft- liches mit Schelling, daß sein System von manchen geradezu als ein Ausläufer der Naturphilosophie behandelt wird. Zwischen Herbart und Hegel spannt sich der Gegensatz um so straffer, als sie einig sind im Vertrauen auf die Macht des Begriffs. Der auffallendste Vergleichspunkt

J. Fr. Fries. a-ij

zwischen der Metaphysik beider Denker ist die Bedeutung, welche bei ihnen der Widerspruch als das treibende Moment der philosophischen Gedankenbewegung erhält. Der Gegensatz, in welchen sich Schleier- macher zu der intellektualistischen Religionsauffassung Hegels stellt, hat Harms bewogen, auch diesem in der Reihe der Opponenten einen Platz anzuweisen. Wir beginnen nach chronologischer Ordnung mit dem Feldzuge, den Fries unter der Fahne des Anthropologismus gegen den Hauptstamm der Kantischen Schule eröffnet hat.

I. Der Psychologismus: Fries und Beneke.

Jacob Friedrich Fries (1773 1843), geboren in Barby, erzogen in der Brüdergemeinde, studierte in Leipzig und Jena, wo er sich 1801 habilitierte, war 1805 16 Professor in Heidelberg, von da an bis zu seinem Tode in Jena. Sein Hauptwerk ist die dreibändige „Neue Kritik der Vernunft" 1807 (H. Aufl. 1828 f.), welcher die Streitschrift „Rein- hold, Fichte und Schelling" 1803 und „Wissen, Glaube und Ahndung" 1805 vorherging. In dem Streite zwischen Jacobi und Schelling hat er für den ersteren Partei ergriffen (Von deutscher Philosophie, Art und Kunst 18 12). Außerdem verfaßte er ein Handbuch der psychischen Anthropo- logie 182 1 (II. Aufl. 1837 f.), Lehrbücher der Logik, Metaphysik, mathema- tischen Naturphilosophie, Ethik und Religionsphilosophie, eine Geschichte der Philosophie 1837 40 und einen philosophischen Roman: Julius und Evagoras oder die Schönheit der Seele 1822. Über Fries Henke 1867.

Fries adoptiert und popularisiert die Kantischen Resultate mit Ver- werfung der Kantischen Methode. Mit Reinhold und Fichte ist das „transzendentale Vorurteil" in die Philosophie eingedrungen und Kant selbst hat diese Wendung verschuldet durch sein Bemühen, alles zu beweisen. Daß es apriorische Erkenntnisformen gibt, konnte nicht auf spekulativem, sondern nur auf empirischem Wege, durch innere Beobach-r tung gefunden werden; sie sind gegebene Fakta der Vernunft, deren wir uns durch Reflexion oder psychologische Analyse bewußt werden. Das Apriori kann nicht demonstriert oder abgeleitet, sondern nur als tat- sächlich vorhanden aufgezeigt werden. Die Streitfrage zwischen Fries und der idealistischen Schule über welche die Prorektoratsrede von KuNO Fischer „Die beiden kantischen Schulen in Jena" 1862 nachzu- lesen — lautet demnach: ist die Entdeckung des Apriori selbst eine Er- kenntnis apriori oder eine Erkenntnis aposteriori? ist die Vernunftkritik eine metaphysische oder eine empirische, nämlich anthropologische Un- tersuchung? Herbart entscheidet mit den Idealisten: „Alle Begriffe, durch die wir unser Erkenntnisvermögen denken, sind selbst metaphysi- sche Begriffe" (Lehrb. z. Einl. S. 231) ^ Fries entscheidet: die Vernunft-

1 In der Enzyklopädie freilich erklärt Herbart: „Ohne Psychologie lassen sich

438 J. Fr. Fries.

kritik ist eine psychologische Empirie, eine Erkenntnis aus innerer Erfahrung oder Selbstbeobachtung, wie denn die Erfahrungsseelenlehre überhaupt die Grundlage aller Philosophie bildet.

Von dieser methodologischen Differenz abgesehen, nimmt Fries die Kantischen Ergebnisse fast unverändert auf, man müßte denn die Verflachung, die sie unter seinen Händen erleiden, eine erhebliche Veränderung nennen wollen. Nur die Lehre von den Ideen und der Vernunfterkenntnis wird umgestaltet durch Hereinziehung und Systema- tisierung der Jacobischen Lehre von der unmittelbaren Evidenz des Glaubens. Die Vernunft, das Vermögen der Ideen, d. h. der unbe- weisbaren, aber zugleich unb'ezweifelbaren Prinzipien, ist der Sinnlichkeit und dem Verstände vollkommen ebenbürtig. Dieselbe subjektive Nöti- gung, welche uns die objektive Realität der Anschauung und der Ka- tegorien verbürgt, begleitet auch die Ideen; der Glaube, der uns das ewige Ansich der Dinge erschließt, ist nicht minder gewiß, als das Wissen von der begrenzten Erscheinung. Die ideale Weltansicht ist ebenso notwendig wie die natürliche, durch jene erkennen wir dieselbe Welt, wie durch diese, nur nach einer höheren Ordnung, beide stammen aus der Vernunft oder der Einheit der transzendentalen Apperzeption, nur daß wir bei der natürlichen Ansicht uns bewußt sind, bei der idealen davon absehen, daß sie die Bedingung der Erfahrung ist. Was uns über das Wissen zum Glauben emporzusteigen nötigt, ist der Umstand, daß die leere Einheitsform der Vernunft durch sinnliche Erkenntnis nie- mals vollkommen ausgefüllt wird. Die Ideen sind doppelter Art: die ästhetischen sind Anschauungen, zu denen die entsprechenden deutlichen Begriffe fehlen, die logischen sind Begriffe, denen keine entsprechenden bestimmten Anschauungen untergelegt werden können. Jene werden durch Kombination gewonnen, diese durch Negation, dadurch, daß wir die Schranken der empirischen Erkenntnis wegdenken, die Verstandes- begriffe entschränken. Auf dem Wege der Verneinung aller Beschrän- kungen erhalten wir ebensoviele Ideen als Kategorien, also zwölf, unter denen die der Relation die wichtigsten sind. Es sind das die drei Grundsätze des Glaubens: die Ewigkeit der Seele (ihre Erhabenheit über Raum und Zeit, wohl zu unterscheiden von der Unsterblichkeit, ihrer Beharrlichkeit in der Zeit), die Willensfreiheit und die Gottheit. Alle Ideen drücken etwas Absolutes, Unbedingtes, Vollendetes und Ewiges aus. Der Dualismus von Wissen und Glauben, von Natur und Freiheit oder von Erscheinungswirklichkeit und wahrer, höherer Wirklichkeit wird überbrückt durch eine dritte mittlere Auffassungsweise,

die Fragen der Vernunftkritik nicht beantworten;" „zu jeder metaphysischen Unter- suchung .... gehört eine psychologische Untersuchung des nämlichen Begriffs in Ansehung seines Ursprungs." Werke (Kehrb.) Bd. 9, S. 222 3.

J. Fr. Fries. 4^9

das Gefühl oder die Ahnung, welche uns die Versöhnung beider Wirklichkeiten, die Verbindung von Idee und Erscheinung, das Inein- ander des Ewigen und des Zeitlichen kennen lehrt. Das Schöne ist die Idee, wie sie sich in der Erscheinung darstellt, oder die Erscheinung, wie sie Ewiges bedeutet. Die ästhetisch-religiöse Beurteilung betrachtet das Endliche als Offenbarung und Symbol des Unendlichen. Kurz, „von Erscheinungen wissen wir, an das wahre Wesen der Dinge glauben wir, Ahnung läßt uns dieses in jenem erkennen."

Die theoretische Philosophie zerfällt in Naturphilosophie, welche die mathematische Methode anwenden, daher alle äußeren Erscheinungen, auch die organischen, rein mechanisch erklären und die Betrachtung der Welt als eines Reiches der Zwecke der religiösen Ahnung überlassen soll, und Psychologie. Jene hat die äußere, diese die innere Natur zu ihrem Gegenstande. Mich selbst erkenne ich nur als Erscheinung, meinen Leib durch äußere, mein Ich durch innere Erfahrung. Es ist nur so bemerkt Fries gegen den infltixus physicus und die harmonia praestabilita eine verschiedene Erscheinungsweise der einen und gleichen Realität, welche mir meine Person einmal als mein Gemüt innerlich und dann als den Lebensprozeß meines Körpers äußerlich zeigt. Die praktische Philosophie umfaßt Ethik, Religionsphilosophie und Ästhetik. Gemäß dem dreifachen Interesse unseres tierischen, sinnlich- vernünftigen und rein-vernünftigen Triebes ergeben sich für die Wert- gesetzgebung drei Ideale, das der Glückseligkeit, der Vollkommenheit und der Sittlichkeit oder das des Angenehmen, des Nützlichen und des Guten, von denen nur dem dritten ein unbedingter Wert und die Geltung eines allgemeinen und notwendigen Gesetzes beiwohnt. Die Sittengebote werden aus dem Glauben an die gleiche persönliche Würde der Menschen abgeleitet und als höchste Aufgabe der Sittlichkeit die Veredlung der IMenschheit aufgestellt. Die drei ästhetischen Grund- stimmungen sind die idyllische und epische der Begeisterung, die dra- matische der Resignation, die lyrische der Andacht.

So charakterisiert sich die Friessche Lehre als eine Verbindung der Kan- tischen und der Jacobischen, wobei jene eine Verschlechterung, diese eine Verbesserung, nämlich Präzisierung erfährt. Unter ihren Anhängern, deren sie noch heute ^ zählt, erscheinen erwähnenswert die Botaniker Schieiden und Hallier, der Theolog de Wette (Vorlesungen über Religion 1827), die Philosophen Calker (f 1870 in Bonn) und Apelt in Jena (1812 59). Der letztere machte sich vorteilhaft bekannt durch die Epochen der Ge- schichte der Menschheit 1845 4^» <^i^ Theorie der Induktion 1854 und die Metaphysik 1857; erst nach seinem Tode kam die Religionsphiloso-

1 Oder vielmehr heute wieder zählt. Soeben erscheint das erste Heft einer Neuen Folge von „Abhandlungen der Fries'schen Schule", herausgeg. von G. Hessen- berg, K. Kaiser und Leonard Nelson, Göttingen 1904.

440

Beneke.

phie 1 860 heraus. Einem der Friesschen Richtung verwandten Kantianismus huldigte der kathoUsche Theolog Georg Hermes (1775 1831) in Bonn,

Der von Fries begründete Psychologismus hat eine konsequente Durchbildung gefunden durch Friedr. Ed. Beneke (1798 1854). Mit Ausnahme einer dreijährigen Lehrtätigkeit 1824 1827 in Göttingen, wohin er infolge eines wegen seiner „Grundlegung zur Physik der Sitten" 1822 erlassenen Verbotes seiner Vorlesungen übergesiedelt war, hat er der Universität seiner Vaterstadt Berlin als Dozent und seit 1832, nach dem Tode des ihm ungünstig gesinnten Hegel, als außerordent- licher Professor angehört. Über seinen Charakter vergl. den vierten der sehr lesenswerten „Acht psychologischen Vorträge" von Fortlage, über seine Lehre das Gedenkblatt von JoH. Friedrich, Wiesbaden 1898, über sein Leben Otto Gramzow, 13. Band der Berner Studien, 1899, über die Entwicklung seiner ethischen Theorie Anton Thomsen (AGPh. Bd. 16, 2) 1903. Außer Kant, Jacobi und Fries haben Schleiermacher, Herbart (den er 1821 kennen lernte) und die Engländer einen be- stimmenden Einfluß auf die Gestaltung seiner Philosophie gehabt. Noch nachdrücklicher als Fries leugnet Beneke die Möglichkeit einer speku- lativen Erkenntnis. Kants Unternehmen war auf die Vernichtung einer erfahrungslosen Begriffswissenschaft gerichtet, und wenn es nicht die Neuscholastik der Fichteschen Schule mit ihren überspannten Erneuerungs- versuchen einer deduktiven Erkenntnis des Absoluten hat verhindern können, so lag das hauptsächlich an der falschen, nichtempirischen Me- thode des Vernunftkritikers. Wurzel und Grundlage aller Erkenntnis ist die Erfahrung, auch die Metaphysik ist eine empirische Wissenschaft, sie ist die letzte in der Reihe der philosophischen Disziplinen. Wer mit ihr beginnt, statt mit ihr zu schließen, fängt den Hausbau vom Dache an. Ausgangspunkt alles Wissens ist die innere Erfahrung oder Selbstbeobachtung, Grundwissenschaft daher die Psychologie, alle übrigen philosophischen Fächer nichts als angewandte Seelenlehre. Durch den inneren Sinn nehmen wir unser Ich wahr, wie es wirklich ist, nicht bloß wie es uns erscheint; der einzige Gegenstand, dessen Ansich wir unmittelbar kennen, ist die eigene Seele, im Selbstbewußtsein sind Sein und Vorstellen eins. So steht Beneke gegen Kant auf selten des Des- cartes: die Seele ist uns bekannter als die Außenwelt, auf die wir erst durch instinktmäßigen Analogieschluß die in der Seele unmittelbar ge- gebene Existenz übertragen, so daß beim Herabsteigen unserer Er- kenntnis von den uns gleichorganisierten Menschen bis zur unorganischen Materie die Unadäquatheit der Vorstellung stufenweise wächst.

Die Psychologie wir erwähnen von den einschlägigen Schriften die Psychologischen Skizzen 1825 27 und das Lehrbuch der Psycho- logie 1833, dessen dritte und vierte (1877) von Dressler besorgte Auf-

Beneke. 441

läge im Anhang ein chronologisches Verzeichnis sämtlicher Benekescher Werke enthält hat als innere Naturwissenschaft dieselbe Me- thode zu befolgen und, von dem unmittelbar Gegebenen ausgehend, die nämlichen Hilfsmittel der Bearbeitung der Erfahrung zu benutzen, wie die äußere Naturwissenschaft: Erklärung der Tatsachen durch Gesetze, weiterhin durch Hypothesen und Theorien. Dankbar der Beseitigung zweier Hemmnisse der Seelenwissenschaft, der Lehre von den ange- borenen Ideen durch Locke und der hergebrachten Theorie von den Seelenvermögen durch Herbart, gedenkend (die gewöhnlicli angenommenen Seelenvermögen Gedächtnis, Verstand, Gefühl, Wille sind in der Tat keine einfachen Kräfte, sondern bloße Abstraktionen, hypostasierte KlassenbegrifTe von höchst verwickelten Erscheinungen) sucht Beneke die einfachen Elemente auf, aus denen sich alles geistige Leben zu- sammensetzt. Er findet sie in den zahlreichen Urvermögen des Em- pfangens und Aneignens von äußeren Reizen, welche die Seele teils besitzt, teils im Laufe des Lebens erwirbt und die ihre Substanz kon- stituieren; jeder einzelne Sinn enthält schon verschiedene solcher Ver- mögen in sich. Jeder Akt oder jedes Gebilde der Seele ist ein Produkt aus zwei voneinander abhängigen Faktoren: Reiz und Empfänglich- keit. Ihr Zusammentreffen gibt den ersten der vier Grundprozesse, den der Wahrnehmung. Der zweite ist die beständige Anbildung neuer Urvermögen. Durch den dritten, die Ausgleichung oder gegenseitige Übertragung der beweglichen Elemente der Vorstellungen erklärt Beneke die Reproduktion einer Vorstellung durch eine andere mit ihr assoziierte und die Erweiterung des Vorstellungshorizontes durch Affekte, z. B. die erstaunliche Beredsamkeit des Zornigen. Da jede aus dem Bewußtsein heraustretende Vorstellung in der Seele als unbewußtes Gebilde fort- existiert (wo? läßt sich nicht sagen, die Seele ist nicht im Raum), so bedarf nicht das Behalten, sondern das Vergessen einer Erklärung. Was von der unbewußtwerdenden Vorstellung beharrt und ihr Wieder- erscheinen im Bewußtsein ermöglicht, heißt im Hinblick auf seine vergangene Ursache eine „Spur", im Hinblick auf seine künftigen Folgen eine „Angelegtheit". Jede solche Spur oder Anlage dasjenige, was zwischen Wahrnehmung und Erinnerung in der Mitte liegt ist eine Kraft, ein Streben, eine Neigung. Der vierte der Grundprozesse (die sich bis ins Materielle hinab verfolgen lassen, da Leibliches und Psy- chisches nur graduell verschieden sind und sich ineinander verwandeln) ist die Verbindung der Seelengebilde nach dem Maße ihrer Gleichartig- keit, wie sie in der Bildung von Urteilen, Gleichnissen, Witzen, von Ge- samtbildern, Gesamtgefühlen und Gesamtbegehrungen zutage treten. Die angeborene Verschiedenheit der Menschen beruht auf der größeren oder geringeren „Kräftigkeit, Lebendigkeit und Reizempfänglichkeit" ihrer Ur- vermögen, alle weiteren Unterschiede sind allmählich entstanden und

442

Beneke.

kommen auf Rechnung der äußeren Reize; auch der Unterschied der menschHchen Seele von der tierischen, der in der Geistigkeit der ersteren besteht, ist kein virsprünglicher.

Von den fünf Bildungs formen der Seele, die sich aus dem ver- schiedenen Verhältnis zwischen Reiz und Vermögen ergeben, sind vier affektive oder Stimmungsgebilde. Ist der Reiz zu gering, so entsteht Unlust (Ungenügen, Verlangen), Lust bei einer ausgezeichneten, doch nicht allzu großen Fülle des Reizes. Wächst der Reiz allmählich zum Übermaß an, so tritt Abstumpfung und Überdruß ein, Schmerz bei plötzlichem Übermaß desselben. Eine deutliche Vorstellung, eine Em- pfindung entsteht dann, wenn der Reiz dem Vermögen genau angemessen ist; nur in diesem Falle verhält sich die Seele theoretisch, bloß wahr- nehmend ohne jede Beimischung von angenehmen oder unangenehmen Gefühlen. Das Begehren ist Lusterinnerung, das Ich der Komplex aller in der Seele jemals entstandenen Vorstellungen, die Gesamtheit des in mir gegebenen Mannigfaltigen. Für die Unsterblichkeit der immateriellen Seele führt Beneke einen originellen und ansprechenden Beweis, der sich darauf stützt, daß infolge der sich stetig vermehrenden Spuren, durch welche die Seelensubstanz unaufliörlich wächst, das Bewußtsein sich in immer steigendem Grade vom Äußeren zum Inneren hinwendet, bis endlich die Wahrnehmung ganz erlischt. Im Tode hört zwar die Ver- bindung mit der Außenwelt, nicht aber das innere Seelensein auf, für welches vielmehr das bisher Höchste nun zur Unterlage wird für neue, noch höhere Entwickelungen.

Wie Herbart, von dem er vielfach abhängig ist, hat Beneke die Psychologie und Pädagogik mit größerem Erfolge bearbeitet, als die Logik, Metaphysik, praktische und Religionsphilosophie. Den Kantischen Aprioris- mus bekämpft er auch in der Moral. Das Sittengesetz entsteht erst am Ende einer langen Entwickelung. Das erste sind unmittelbar gefühlte Werte der Dinge, die wir schätzen nach dem Maße der Steigerung oder Herabstimmung des durch sie erregten Seelenzustandes. Aus den Ge- fühlen werden Begriffe, aus diesen Urteile geformt und erst sehr spät ergibt sich, als ein höchst abgeleitetes Phänomen, die Abstraktion des kategorischen Imperativs, wenngleich das Gefühl des Sollens oder der sittlichen Verpflichtung, welche die richtige Wertschätzung begleitet und die geistigen Genüsse über die sinnlichen, das allgemeine Wohl über das eigene zu setzen befiehlt, mit Notwendigkeit aus der inneren Natur der Menschenseele erwächst. Die Religion hat zwei Quellen, eine theo- retische der Gottesvorstellung, eine praktische der Gottesverehrung. Zur Annahme eines Übersinnlichen, eines Unbedingten, einer Vorsehung treibt uns einerseits das Verlangen nach einem einheitlichen Abschluß unserer bruchstückartigen Welterkenntnis, anderseits das moralische Be- dürfnis, die unerfüllte Sehnsucht nach dem Guten. Die Eigenschaften,

Beneke. Fortlage.

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die wir Gott beilegen, sind der Erfahrung entlehnt, die abstrakten vom Sein überhaupt, die naturalistischen von der Welt, die geistigen vom Menschen. Unvermeidlich bei der Umsetzung der religiösen Empfin- dungen in Vorstellungen und unschädlich wegen der Unverkennbarkeit ihres symbolischen Charakters, begründen gerade die anthropomorphisti- schen Prädikate, durch die wir die Gottheit als Person denken, die Überlegenheit des Theismus über den Pantheismus. Ohnehin ist das religiöse Objekt nur der subjektiven Gefühlsgewißheit des Glaubens, nicht der wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich.

Von dem Anthropologismus Feuerbachs wird später die Rede sein. Gleich Friedr. Überweg (1826 71, Professor in Königsberg; System der Logik 1857, V. Aufl. besorgt von J. B. Meyer 1882) hat Karl Fort läge als Psycholog starke Anregung von Beneke empfangen. Geboren 1806 zu Osnabrück, gestorben 1881 als Professor in Jena, hatte Fortlage mit Beneke sowohl den unpersönlichen Charakter gemein als das Schicksal, von seinen Zeitgenossen nicht in dem Maße beachtet zu werden, wie er es durch den Ernst und die Originalität seines Denkens verdiente. Dem zweibändigen „System der Psychologie" 1855 ließ er außer populärer gehaltenen psychologischen Vorträgen (acht Vorträge 1869, II. Aufl. 1872; vier Vorträge 1874) gleichsam als dritten Band die „Beiträge zur Psychologie" 1874 folgen. ^ Seine psychologische Methode in deren Beurteilung Fr. A. Lange die ihm sonst nach- zurühmende Gerechtigkeit vermissen läßt, während Ed. v. Hartmann (Die moderne Psychologie 1901) die Bedeutung seiner Forschung voll würdigt bezeichnet er als Beobachtung im inneren Sinn. Zunächst muß das Bewußtsein als die aktive Form des Vorstellens abgetrennt werden von dem, dessen wir uns bewußt sind, von dem an sich un- bewußten, aber des Bewußtwerdens fähigen „Vorstellungsinhalt". Sodann sucht Fortlage die Gesetze dieser beiden Faktoren festzustellen. Hin- sichtlich des Vorstellungsinhaltes unterscheidet er strenger als Herbart zwischen der Verschmelzbarkeit des Gleichartigen und der Komplika- tionsfähigkeit des Ungleichartigen (die Verschmelzung des Ähnlichen geht auch ohne Zutun des Bewußtseins vor sich, während die Ver- knüpfung des Unähnlichen nur durch dessen Hilfe zustande kommt) und fügt diesen beiden allgemeinen Eigenschaften des Vorstellungs- inhaltes zwei weitere hinzu, seine Erinnerbarkeit (seine Fortdauer im Un- bewußten) und seine Zergehbarkeit an den Skalen der Größe, der Farbe usw. Das Bewußtsein aber, das ihm mit dem Ich oder Selbst zusammenfällt, behandelt er als Voraussetzung aller Vorstellungen, nicht

1 Von Fortlages sonstigen Publikationen erwähnen wir die wertvolle Geschichte der Poesie 1839, die Genetische Gesch. d. Philos. seit Kant 1852 und die anziehenden Sechs philos. Vorträge 1869, II. Aufl. 1872.

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Fortlage.

als deren Ergebnis: es ist ursprüngliche Tätigkeit. Das Wesen des Be- wußtseins erläutert er durch den Begriff der Aufmerksamkeit, charakterisiert beide als „Fragetätigkeit" und verfolgt sie durch ihre verschiedenen Grade vom Erwarten durch das Beobachten bis zum Überlegen. Das Lauschen und Spähen des Jägers, der auf der Lauer liegt, ist nur eine Verlängerung desselben Bewußtseins, das alle minder aufregenden Vorstellungen be- gleitet. Das Wesentliche der bewußten oder Fragetätigkeit ist das Oszillieren zwischen Ja und Nein. Sobald die Disjunktion durch ein Ja entschieden wird, geht die zugrunde liegende, im Zustande des Be- wußtseins gehemmte Begierde in Tätigkeit über. Alles Bewußtsein gründet sich auf Interesse, es ist seinem Ursprung nach „Triebhemmung". „Die Richtung des Triebes auf eine erst in Zukunft zu erwartende An- schauung heißt Bewußtsein." Die Rangstufe eines Wesens hängt von seiner Überlegungsfähigkeit ab: es steht um so höher, je größer der Umfang seiner Aufmerksamkeit ist und je geringere Reize hinreichen, sie in Bewegung zu setzen. Der Trieb er ist der Grundbegriff der Fortlageschen Psychologie, so wie bei Fichte der Wille, bei Herbart die Vorstellung besteht aus einem Vorstellungs- und einem Gefühlsfaktor. Lust -|- Strebebild = Trieb.

Seinen metaphysischen Überzeugungen nach, denen er u. a. in seiner „Darstellung und Kritik der Beweise fürs Dasein Gottes" 1840 Ausdruck gegeben, gehört Fortlage zu den Identitätsphilosophen. An- fänglich in Hegelschem Fahrwasser sich bewegend, erkannte er bald, daß die Wurzeln der Identitätslehre bis in die Kantisch-Fichtesche Philosophie zurücklaufen, mit welcher das System der absoluten Wahrheit ins Leben getreten sei. Er wurde ein Anhänger der Wissenschafts- lehre, deren auf deduktivem Wege gewonnene Resultate er durch die psychologische Erfahrung induktiv bestätigt findet. Die Seelenlehre ist die empirische Probe auf die metaphysische Rechnung der Wissenschafts- lehre. Hinsichtlich des Absoluten ist Fortlage mit Krause, dem jüngeren Fichte, Ulrici usw. einverstanden und bezeichnet seinen Standpunkt als transzendenten Pantheismus, wonach alles Gute, Hohe, Wert- volle in der Welt göttlicher Natur, die menschliche Vernunft mit der göttlichen wesensgleich (etwas Höheres als Vernunft kann es nicht geben), die Gottheit das absolute Ich Fichtes ist, welches die em- pirischen Iche als Organe benutzt, in den Individuen denkt und will, soweit sie Wahres denken und Gutes wollen, aber zugleich als Allge- meinsubjekt über sie hinausragt. Gibt man, wie Hegel getan, den transzendenten Pantheismus preis zugunsten der Immanenz, so stellen sich sofort zwei unphilosophische Vorstellungsarten über das Absolute ein: auf der einen Seite der Materialismus, auf der anderen der populäre unphilosophische Theismus. Wenn die Fichtesche Wissenschaftslehre von ihrer schwierigen, niemals dem Nichtphilosophen verständlich zu

Herbart.

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machenden Methode abgetrennt werden könnte, würde sie berufen sein, an die Stelle der Relisjion zu treten. ^

II. Der Realismus: Herbart.

Der wissenschaftlich bedeutendste unter den Philosophen der Oppo- sition ist Joh. Friedr. Herbart. Am 4. Mai 1776 als Sohn eines Justiz- rats ZI'' Oldenburg geboren, hatte er die Wolffische und die Kantische Philosophie schon kennen gelernt, ehe er 1794 die Universität Jena bezog. Seinem Lehrer Fichte überreichte er 1796 eine Kritik zweier Schellingscher Schriften, in welcher sich der junge Denker bereits von dem Idealismus lossagte. Als Hauslehrer in Bern (bei der Familie von Steiger 1797 99) lernte er Pestalozzi kennen. Nachdem er sich 1802 in Göttingen habilitiert hatte und 1805 zum Extraordinarius aufgerückt war, erhielt er 1809 die Professur in . Königsberg, welche vormals Kant, später W. Tr. Krug (f 1842) innegehabt. Er starb am 14. August 1841 in Göttingen, wohin er 1833 an des verstorbenen Aenesidem-Schulze Stelle zurückberufen worden war. Herbarts Kleinere philosophische Schriften sind von seinem Schüler Hartenstein, der in den „Problemen und Grundlehren der allgemeinen Metaphysik" 1836 und den „Grund- begriffen der ethischen Wissenschaften" 1844 eine vortreffliche Dar- stellung der Lehre des Meisters geliefert hat, in drei Bänden 1842 43 herausgegeben worden. Desgleichen die Sämtlichen Werke in zwölf Bänden 1850 52 (zweiter Abdruck seit 1883), zu denen 1893 ein drei- zehnter Band (Nachträge und Ergänzungen) hinzugekommen ist. Eine neue, chronologisch geordnete Ausgabe unter Redaktion von K. Kehrbach erscheint seit 1882 resp. 1887 und ist bis zum neunten Bande 1897 gediehen. Die wichtigsten Schriften sind in der Königsberger Zeit ent- standen: das Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie 1813, 4. Aufl. 1837 (als Einführung in den Herbartschen Gedankenkreis sehr zu empfehlen), die Allgemeine Metaphysik 1829 (ihr waren 1806

1 In Fortlages Nachlaß fand sich eine handschriftliche Religionsphilosophie, über welche EuCKEN in der „ZPhKr." Bd. 82, 1883, S. iSoff. einen Essay veröffent- licht hat, nachdem Lipsius in seinen ,, Jahrbüchern für protestantische Theologie" (Bd. IX, S. I 45) zur Probe ein einzelnes Kapitel daraus, ,,Das Ideal der Moralität nach dem Christentume", ediert hatte. Die Zeitschriften ,,Im Neuen Reich" 1881, Nr. 24 und ,,Die Gegenwart" 1882, Nr. 34 brachten warm geschriebene Aufsätze über Fortlage von J. Volkelt. Einen geschickt zusammengestellten Abriß seiner Lehre in zustimmendem Sinne gibt LEOPOLD ScHMm (f 1869 in Gießen) in den „Grund- zügen der Einleitung in die Philosophie mit einer Beleuchtung der von K. Ph. Fischer, Sengler und Fortlage ermöglichten Philosophie der Tat" 1860, S. 226 357. Außer- dem vergl. Moritz Brasch : K. Fortlage, ein philos. Charakterbild, in „Unsere Zeit" 1883, Heft II, S. 730 756, aufgenommen in dessen ,,Pilosophen der Gegenwart" 1888, und Ed. V. Hartmann, Die moderne Psychologie 1901.

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Herbart.

resp. 1 808 die „Hauptpunkte der Metaphysik" vorangegangen mit einer Beilage „Hauptpunkte der Logik"), das Lehrbuch zur Psychologie 181 6, 2. Aufl. 1834, Über die Möglichkeit und Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden 1822, die Psychologie als Wissenschaft 1824 1825. Dagegen sind die beiden zeitlich weit getrennten Werke über Sittenlehre in Göttingen geschrieben : Allgemeine praktische Philoso- phie 1808, Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral 1836. Dazu kommen ein Gespräch über das Böse 18 17, Briefe zur Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens 1836 und die Kurze Enzyklopädie der Philosophie 1831, 2. Aufl. 1841. Durch sein ganzes Leben aber ziehen sich Arbeiten über Erziehung und Unterricht (Allgemeine Päda- gogik 1806, Umriß pädagogischer Vorlesungen 1835 ^- ^■)> deren Wert und Einfluß vielleicht denjenigen seiner philosophischen Leistungen noch überragt Gesamtausgaben der pädagogischen Schriften haben in zwei Bänden O. Willmann 1873 75, 2. Aufl. 1880, und Bartholomaei {6. Aufl. v. E. v. Sallwürk 1896) veranstaltet. Neben der Pädagogik ist die Psychologie das Hauptfeld seiner Verdienste.

Über Herbarts Entwicklung haben geschrieben: Hartenstein, Einleitung zum ersten Bande von Herbarts Kl. Sehr. 1842; Zimmermann, Perioden in Herbarts philo- sophischem Geistesgang, Wiener Akademie 1876; J. Capesius, Die Metaphysik Herbarts in ihrer Entwicklungsgeschichte 1878. Sonst sind aus der Herbart-Literatur hervorzuheben: L. Strümpell, Erläuterungen zu Herbarts Philosophie, i. Heft 1834; Ders., Die Hauptpunkte der Herbartischen Metaphysik, kritisch beleuchtet 1840; Ders., Das System der Pädagogik Herbarts 1894; Ders., Abhandlungen zur Geschichte der Metaphysik 1896. Drobisch, Über die Fortbildung der Philosophie durch Herbart 1876. A. ScHOEL, Zur Kritik der Herbartischen Religionsphilosophie 1883; Ders., Herbarts philosophische Lehre von der Religion 1884. Otto Hostinsky, Herbarts Ästhetik 1891. Die Artikel Herbart als Philosoph (von Thilo) und Herbart als Pä- dagog (in Form einer Lebensbeschreibung, von Rein) nebst Bibliographie von Flügel und Rüde in Reins Enzykl. Handbuch der Pädagogik, auch separat unter dem Titel „Herbart und die Herbartianer" 1897. Th. Moosherr, Herbarts Metaphysik, wiss. Beilage zum Bericht der Realschule zu Basel 1898. P. Natorp, Herbart, Pestalozzi und die heutigen Aufgaben der Erziehungslehre 1899. Th. Ziehen, Herbarts Psy- chologie 1900. Walther Regler, Herbarts Stellung zum Eudämonismus 1901. Walter Kinkel, Herbart, sein Leben und seine Philos. 1903.

Im Gegensatz zu der über den Standpunkt der Reflexion sich er- haben dünkenden Anschauungsphilosophie läßt Herbart die Philosophie mit der Aufmerksamkeit auf die Begriffe beginnen und definiert sie als Bearbeitung der Begriffe. Demnach unterscheidet sie sich von den übrigen Wissenschaften nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch ihr Verfahren, dieses aber hat sich stets nach der Eigentümlichkeit des Gegenstandes, nach dem Ausgangspunkt der jeweiligen Untersuchung zu richten; es gibt keine philosophische Universalmethode. Wie viele Arten der Begriffsbearbeitung, so viele Teile der Philosophie. Das erste Er-

Herbart.

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fordernis ist das Unterscheiden der Begriffe sowohl von anderen Begriffen als auch der Merkmale innerhalb jedes Begriffs. Solches Klar- und Deutlichmachen der Begriffe ist das Geschäft der Logik. Zu dieser Disziplin, in welcher sich Herbart im wesentlichen an Kant anschließt, gesellen sich zwei andere Arten von Bearbeitung der Begriffe, die der physischen und die der ästhetischen Begriffe, Beide Klassen bedürfen mehr als nur einer logischen Verdeutlichung. Die physischen Begriffe, durch welche wir die Welt und uns selber auffassen, enthalten Wider- sprüche und müssen von diesen gereinigt werden; die Berichtigung der- selben fällt der Meta-Physik anheim. Metaphysik ist die Wissenschaft von der Begreifiichkeit der Erfahrung. Von den Naturbegriffen unter- scheiden sich die ästhetischen (inklusive ethischen) durch einen eigen- tümlichen Zusatz, den sie in unserem Vorstellen herbeiführen und der in einem beifälligen oder mißfälligen Urteile besteht. Diese Begriffe auf- zuklären und von falschen Nebenvorstellungen zu befreien, ist Sache der Ästhetik in weitestem Sinne. Sie umfaßt alle Begriffe, welche von einem Urteil des Lobes oder Tadels begleitet sind; unter ihnen sind die mora- lischen die wichtigsten. So erhalten wir, von der Logik abgesehen, zwei Hauptteile der Philosophie, die sonst als theoretische und praktische, hier abär als Matap hysik und Ästhetik einander gegenübergestellt werden. Herbart behauptet von ihnen, daß sie gänzlich voneinander unabhängig seien, so daß die Ästhetik, da sie nichts aus der Metaphysik voraussetze, auch vor dieser abgehandelt werden dürfe, während Naturphilosophie und Psychologie sich durchaus auf ontologische Prinzipien stützen. Die beiden letztgenannten Wissenschaften bilden zusammen mit der natür- lichen Theologie die „angewandte" Metaphysik. Sie hat zu ihrer Voraus- setzung die „allgemeine" Metaphysik, welche in vier Teile zerfällt: Me- thodologie, Ontologie, Synechologie, d. h. Lehre vom Stetigen {öw^x^q), welche von den Continuis Raum, Zeit, Bewegung handelt, und Eidolo- logie, d. h. Lehre von den Bildern oder Vorstellungen. Die letztere bahnt den Übergang zur Seelenlehre, während die Synechologie die Vorbereitung bildet zur Naturphilosophie, deren allgemeinste Probleme sie löst. Unsere Betrachtung braucht diese Einteilung nicht ängstlich innezuhalten.

Die INIetaphysik geht von dem Gegebenen aus, darf aber bei dem- selben nicht stehen bleiben, denn es enthält Widersprüche. Indem man diese auflöst, erhebt man sich über das Gegebene. Was ist gegeben? Kant hat hierauf nicht ganz richtig geantwortet. Wohl darf man die Gesamtheit des Gegebenen „Erscheinung" nennen, diese aber setzt etwas voraus, was da erscheint. Wenn gar nichts wäre, würde auch nichts erscheinen. Wie der Rauch auf Feuer, so weist der Schein auf ein Sein hin. Wieviel Schein, soviel Hindeutung auf das Sein. Die Dinge an sich sind zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar zu erkennen, indem

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Herbart.

man die Andeutungen verfolgt, welche der gegebene Schein auf das Sein enthält. Ferner ist uns nicht bloß der ungeformte Stoff der Erkenntnis gegeben, vielmehr fällt unter den Begriff des Gegebenen alles, was uns die Erfahrung so aufdringt, daß wir uns seiner nicht erwehren können; also nicht nur die einzelne Empfindung, sondern ganze Empfindungs- gruppen, nicht nur die Materie, sondern auch die Formen der Erfahrung. Wären die letzteren wirklich subjektive Erzeugnisse, wofür Kant sie aus- gibt, so müßte es unserer Willkür anheimgestellt sein, jeden Wahrneh- mungsinhalt beliebig dvirch die Kategorie der Substanz oder der Eigen- schaft oder der Ursache zu denken, so müßten wir nach Lust und Laune einen runden Tisch viereckig sehen können. Tatsächlich sind wir in der Anwendung jener Formen gebunden, sie sind für jeden Gegenstand auf eine bestimmte Weise gegeben.

Die gegebenen Formen Herbart nennt sie Erfahrungsbegriffe enthalten Widersprüche. Auf welchem Wege können die Wider- sprüche weggeschafft werden? Wir dürfen die mit Widerspruch behaf- teten Begriffe weder einfach wegwerfen, denn sie sind gegeben, noch auch so lassen, wie sie sind, denn das logische Principium contradictionis fordert, daß der Widerspruch als solcher vertilgt werde. Die Erfahrungsbegriffe sind gültig (sie finden Anwendung in der Erfahrung), aber sie sind nicht denkbar. Wir müssen sie folglich so umformen und ergänzen, daß sie widerspruchsfrei und denkbar werden. Die Methode, welche Herbart zur Beseitigung der Widersprüche anwendet, ist folgende. Der Widerspruch besteht allemal darin, daß ein a einem b gleich sein soll, aber nicht gleich ist. Die verlangte Gleichsetzung beider ist so lange unmöglich, als wir «als ein Ding denken. Was so nicht gelingt, gelingt vielleicht dann, wenn wir in Gedanken das a in mehrere Dinge a^y zerlegen. Dann können wir aus dem Zusammen dieser Vielen er- klären, was wir aus dem unzerlegten a und aus den einzelnen Bestand- teilen desselben nicht erklären konnten. Das „Zusammen" ist eine „Be- ziehung", welche das Denken zwischen den Elementen des Wirklichen stiftet. Darum nennt Herbart sein Verfahren, notwendige Ergänzungen zum Gegebenen aufzufinden, die „Methode der Beziehungen". Ein anderer Name für dieselbe Sache ist „Methode der zufälligen Ansichten". Mit zufälligen Ansichten operiert die Mechanik, wenn sie eine Bewegungs- richtung zum Behufe der Erklärung in mehrere Komponenten zerlegt. Solche Fiktionen und Substitutionen Hilfsbegriffe, die nicht real sind, sondern nur als Durchgänge für das Denken dienen kann auch die Metaphysik mit Erfolg benutzen. Der abstrakte Ausdruck dieser Methode lautet: man beseitige den Widerspruch dadurch, daß man das eine Glied desselben statt als Eines als mehrere, diese aber verbunden denkt. Um die von Herbart konstruierte Maschine arbeiten zu sehen, gehen wir die vier Haupt Widersprüche durch, an denen sich sein Scharf-

Metaphysik: die vier Probleme.

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sinn erprobt: die Probleme der Inhärenz, der Veränderung, des Stetigen, des Ich.

Die gegebenen Empfindungskomplexe nennen wir „Dinge" und legen ihnen „Eigenschaften" bei. Wie kann das eine und selbe Ding verschiedene Eigenschaften haben, wie kann das Eine zugleich Vieles sein? Sagt man, das Ding „besitze" die Eigenschaften, so wird dadurch die Sache nicht besser. Das Besitzen der verschiedenen Eigenschaften ist selbst ein ebenso vielfaches und verschiedenes, wie die Eigenschaften, welche besessen werden. Also muß der Begriff des Dinges mit seinen Eigenschaften dahin umgearbeitet werden, daß das Vielfache, was in dem Dinge zu sein scheint, aus ihm hinaus verlegt wird. Man denke sich statt des Einen Dinges mehrere, jedes von einer einzigen bestimmten Eigenschaft, aus deren „Zusammen" dann der Schein von vielen Qualitäten eines Dinges entsteht. Die scheinbaren vielen Eigen- schaften des einen Dinges haben ihren Grund in dem Zusammen vieler Dinge, von denen jedes eine einfache Qualität hat. So wenig nun, wie ein Ding verschiedene Eigenschaften gleichzeitig haben kann, kann es sie nacheinander haben oder sich verändern. Die populäre Ansicht von Veränderung, welche ein Ding verschiedene Gestalten annehmen (Eis Wasser Dampf) und trotzdem die nämliche Substanz bleiben läßt, ist unhaltbar. Wie ist es möglich^ ein Anderes zu werden, und doch dabei Dasselbe zu bleiben? Das allgemeine Gefühl einer Ver- besserungsbedürftigkeit des Begriffs verrät sich dadurch, daß jeder un- willkürlich zur Veränderung eine Ursache hinzudenkt und hinzusucht, also bereits eine (freilich unzulängliche) Umarbeitung damit vornimmt. Beim Durchdenken dieses Begriffs geraten wir auf ein Trilemma, auf eine dreifache Unmöglichkeit. Ob wir die Veränderung aus äußeren Ursachen oder aus inneren abzuleiten oder (mit Hegel) als ursachlos zu denken versuchen, überall verstricken wir uns in Undenkbarkeiten. Alle drei Vi irstellungen Veränderung als Mechanismus, als Selbstbestimmung oder Freiheit, als absolutes Werden sind gleich ungereimt. Wir ent- rinnen den Widersprüchen nur durch den herzhaften Entschluß, die Qualität des Seienden als unveränderlich zu denken. Für das wahrhaft Seiende gibt es gar keinen Wechsel. Es bleibt aber noch der Schein der Veränderung zu erklären, wobei wiederum die Wünschelrute der Zerlegung und des Zusammen ihre Zauberkraft bewährt. Gestützt auf die bunte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen setzen wir die wirklichen Wesen als ihrer Qualität nach verschieden und fassen diese Verschie- denheit als teilweise Entgegengesetztheit, zerlegen z. B. die einfache Qualität a in die Bestandteile x -\- z, die andere /j in y z. Solange die einzelnen Dinge jedes für sich bleiben, wird sich der Gegensatz der Qualitäten nicht bemerkbar machen. Aber sobald sie zusammenkommen, geschieht etwas: dann versuchen die Entgegengesetzten (-[- ^ und s)

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 2Q

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Herbart.

einander aufzuheben oder wenigstens zu stören. Gegen die Störung, welche erfolgen würde, wenn das Entgegengesetzte sich aufheben könnte, verteidigen sich die Realen, indem jedes seine einfache, unveränderliche Qualität erhält, d. h. lediglich sich selbst gleich bleibt. Selbsterhaltung gegen drohende Störungen von außen (vergleichbar dem Widerstand gegen Druck) ist das einzige wirkliche Geschehen und aus ihm ist das scheinbare Geschehen, die erfahrungsmäßige Veränderung der Dinge zu erklären. Was sich ändert, sind allein die Beziehungen zwischen den Wesen, indem ein Ding bald gegen dieses, bald gegen jenes sich selbst behauptet; die Beziehungen aber und ihr Wechsel sind etwas dem Seienden gänzlich Zufälliges und Gleichgültiges. Denn allein unser ver- gleichendes Denken stiftet die verschiedenen Verhältnisse zwischen den voneinander unabhängigen und unveränderlichen Realen. An sich ist die Selbsterhaltung eines Realen so einförmig wie die Qualität, welche durch sie erhalten wird, aber vermöge der wechselnden Beziehungen (der Verschiedenheit der Störenden) kann sie sich für den Betrachter auf mannigfaltige Weise als Kraft äußern. Das Reale selbst ändert sich so wenig, wie etwa ein Gemälde sich dadurch ändert, daß die verschie- denen Figuren auf demselben, aus der Nähe angesehen, deutlich unter- schieden werden, dagegen für den entfernt stehenden Betrachter in ein ununterscheidbares Chaos zusammenrinnen. Das Geschehen hat im Gebiete des Seienden keine Bedeutung. Wer so spricht, der hat das Geschehen geleugnet, nicht deduziert. Von den vielen Einwürfen, welche Herbarts Versuch, mittels seiner Theorie der Selbsterhaltungen gegen intendierte Störungen die empirische Tatsache der Veränderung zu erklären, er- fahren hat, findet man die triftigsten bei Lotze und Zimmermann. Lehrreich ist der gescheiterte Versuch, die Schwierigkeiten im Begriffe des Werdens und Wirkens zu lösen, doch: man lernt daraus, daß sie auf diesem Wege, von dem Begriffe des spröden Seins aus, nicht gelöst werden können. Nimmt man das Zusammen, die drohende Störung und die Reaktion gegen sie als Wirklichkeiten, so ist in der Affektion durch den Störenden der Begriff der Veränderung uneliminiert und un- verbessert zurückgeblieben; nimmt man sie als unwirkliche Hilfsbe- griffe des Denkens, so ist das Geschehen aus dem Sein in den Bereich des Scheins verwiesen. Herbart verleiht ihnen eine Art von Halbwirk- lichkeit, minder wahr als der ruhende Grund der Dinge (ihre unver- änderlich beharrenden Qualitäten) und wahrer als ihre widerspruchsvolle Oberfläche (der empirische Schein des Wechsels). Zwischen Sein und Schein schiebt er wie zwischen Nacht und Tag das Dämmerungsge- biet seiner „zufälligen Ansichten" mit ihren Beziehungen, die das Reale nichts angehen, ihren Störungen, die nicht eintreten, und ihren Selbst- erhaltungen, die nichts sind als imgestörte Fortexistenz des Realen.

Außer den Widersprüchen in den Begriffen der Inhärenz, der Ver-

Metaphysik: das Sein.

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änderung, des Tuns und Leidens ist es der Begriff des Seins, der unserem Philosophen verwehrt, dem Wirklichen Lebendigkeit zuzuer- kennen. Das Sein enthält, wie Kant richtig gesehen, nichts Qualitatives, es ist absolute Position. Wer da sagt, ein Gegenstand sei, drückt damit aus, daß es bei der einfachen Setzung sein Bewenden haben solle; worin eingeschlossen liegt, daß er nichts Abhängiges, Relatives oder Negatives sei. (Jede Verneinung ist etwas Relatives, bezieht sich auf eine vorhergehende Setzung, die durch sie aufgehoben werden soll.) Das Seiende enthält außer dem Sein noch etwas mehr, eine Qualität; es besteht aus jener schlechthinigen Setzung und einem Was. Trennt man dieses Was von dem Sein ab, so hat man ein „Bild"; mit dem Sein verbunden gibt es ein Wesen oder ein Reales. Dieses Was der Dinge sind nicht ihre sinnlichen Eigenschaften, diese gehören vielmehr zur bloßen Erscheinung. Keine von ihnen gibt das an, was der Gegenstand, ganz ruhig gelassen, für sich selbst ist. Sie hängen von zufälligen Um- ständen ab, wären ohne diese gar nicht da was ist Farbe im Dunkeln? was Klang im luftleeren Räume? was im leeren Räume die Schwere? was Schmelzbarkeit ohne Feuer? , sind also samt und sonders relativ. Da das Sein jegliche Negation ausschließt, so muß die Qualität des Seienden schlechthin einfach und unveränderlich sein, sie duldet keine Mannigfaltigkeit, keine Quantität, keinen Gradunterschied, kein Werden; das alles wäre Verunreinigung des rein affirmativen oder positiven Charakters des Seins. Das Seiende ist unausgedehnt und ewig. Den Eleaten ist nachzurühmen, daß sie sich, getrieben von dem Bedürfnis, den Widersprüchen der Erfahrungswelt zu entgehen, des Be- griffs des relations- und negationslosen Seins und der einfachen gegen- satzlosen Qualität des Seienden in voller Reinheit bemächtigt haben. Während sie jedoch das Seiende als Eines faßten, machten die Atomisten den Fortschritt, eine Vielheit von Realen anzunehmen. Aus dem wahrhaft Einen wird nie Vieles, Vieles ist gegeben, also muß ein ur- sprünglich Vieles zu gründe gelegt werden. Seinen eigenen Standpunkt bezeichnet Herbart, da sich seine Realen durch ihre Eigenschaften, nicht durch quantitative Verhältnisse (Größe und Figur) unterscheiden, als qualitativen Atomismus. Die Idealisten und Pantheisten machen einen falschen Gebrauch von dem allerdings in unserer Vernunft vorhandenen Streben nach Einheit, wenn sie behaupten, daß das wahre Sein hur Eines sein könne. Im Begriffe des Seins liegt gar nichts, was uns ver- böte, das Seiende als Vieles zu denken; in der Erscheinung aber mit ihren vielen Dingen und vielen Eigenschaften liegen unabweisbare Gründe vor, die uns dazu zwingen. Die wahre Wirklichkeit ist somit nach Herbart eine (zwar nicht unendliche ^, aber sehr große) Vielheit von

^ Ganz im antiken Sinne heißt es bei Herbart (Lehrbuch zur Einl. in die Ph.

29*

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Herbart.

übersinnlichen (unräumlichen und unzeitlichen) Realen oder nach Leib- nizischem Ausdruck Monaden, die ihr Lebelang nichts weiter zu tun haben, als die einfache Qualität, aus der sie bestehen (denn das Seiende ist nicht von seiner Qualität unterschieden, es hat sie nicht, sondern ist sie), gegen Störungen aufrecht zu erhalten. Jedes Ding hat für die verschiedensten Einwirkungen nur eine Antwort: es erwidert alle äußeren Anregungen damit, daß es sein Was bejaht, gleichsam unablässig den- selben Ton wiederholt, der nur insofern eine wechselnde Bedeutung erhält, als er je nach der Beschaffenheit des Störenden bald als Terz, bald als Quinte oder Septime erscheint. Anziehend ist dieses Weltbild allerdings nicht, in welchem auf dem Altar des monotonen Seins alles Werden und Geschehen, alles Leben und alle Tätigkeit geopfert wird. Glücklicherweise ist Herbart inkonsequent genug, die trostlose Öde des wechsellosen Seins durch die relativ oder halb wirkliche Mannigfaltigkeit der Selbsterhaltungen zu beleben.

Bei dem Problem des Kotinuierlichen bildet die unendliche Teil- barkeit des Raums und der Materie die Hauptschwierigkeit: eine endliche Größe soll einer unendlichen Zahl von Teilen gleich sein. Herbart versucht es zu lösen durch die Annahme eines intelligiblen Raumes mit „starren" (von einer bestimmten Anzahl von Punkten gebildeten, also endlich teilbaren, nicht kontinuierlichen) Linien. Die Metaphysik fordert die starre oder diskrete Linie, obgleich das gewöhnliche Vorstellen un- fähig ist, sie zu konzipieren. Der Raum ist eine bloße Form des Zu- sammenfassens im Vorstellen oder für den Zuschauer, trotzdem ist er ob- jektiv, d. h. er gilt für alle Intelligenzen, nicht bloß für die menschliche. Über die verwickelten und wenig lohnenden Bemühungen, den Schein des Stetigen aus der nichtstetigen Wirklichkeit abzuleiten^, eilen wir hin- weg zu dem sehr scharfsinnig behandelten vierten Problem, dem psycho- logischen. Auf dieses aufmerksam gemacht zu haben, gilt Herbart als das Hauptverdienst der Fichteschen Wissenschaftslehre.

Der Begriff des Ich, von dessen Realität wir eine so starke unmittel- bare Überzeugung haben, daß sie in der Beteuerungsformel „so wahr ich bin" zum Maßstabe aller anderen Gewißheit gemacht wird, laboriert an verschiedenen Widersprüchen. Außer der bekannten, hier noch fühlbareren Schwierigkeit von dem einen Dinge mit vielen und wechselnden Merkmalen enthält er noch seine eigenen Ungereimtheiten. Im Ich oder Selbst- bewußtsein sollen Subjekt und Objekt identisch sein. Die Identität des vorstellenden und des vorgestellten Ich ist ein widersprechender Gedanke, denn der Satz des Widerspruchs verbietet. Entgegengesetztes gleichzu-

S. 156): „Das Reale kann nicht unendlich sein. Unendlichkeit ist ein Prädikat für Gedankendinge, mit deren Konstruktion wir niemals fertig werden."

1 Auch hierzu vergl. RoB. Zimmermann, Leibniz und Herbart, eine Vergleichung ihrer Monadologien, 1849.

Metaphysik: das Ich. 453

setzen, ein Subjekt aber ist nur dadurch Subjekt, daß es nicht Objekt ist. Dann aber kann das Selbstbewußtsein gar niemals zustande kommen, weil es einen Regressus in infinitum involviert. Man definiert das Ich als das, was sich selbst vorstellt. Was ist dieses „Sich"? Es ist wieder- um das Sichselbstvorstellende. In dieser neuen Erklärung findet sich abermals ein Sich, das auch wieder bedeutet das Sichvorstellende, und so ins Unendliche. Das Ich stellt vor das Vorstellen seines Vorstellens usw. Die Ichvorstellung kann somit nie wirklich vollzogen werden. fZu einem ähnlichen Regressus in infinitum führt die Annahme der Willensfreiheit, wobei sich die Frage „willst du dein Wollen?" „willst du das Wollen dieses Wollens?" ins Unendliche wiederholt.) Aus diesem Gewebe von Widersinnigkeiten rettet man sich nur, wenn man das Ich anders denkt, als es im populären Bewußtsein geschieht. Das wissende und das gewußte Ich sind keineswegs dasselbe, sondern das im Selbst- bewußtsein beobachtende Subjekt ist eine Vorstellungsgruppe, das beob- achtete Objekt eine andere. So werden z. B. die neugebildeten Vor- stellungen von den vorhandenen älteren apperzipiert, die höchste Apperzi- pierende aber wird nicht selbst wieder apperzipiert. Das Ich ist nicht ein einheitliches Wesen, das im wörtlichen Sinne sich selbst vorstellte, sondern das Vorgestellte ist ein Vielfaches. Das Ich ist die Durch- kreuzungsstelle unzähliger Vorstellungsreihen und wechselt beständig seinen Platz, es wohnt bald in dieser, bald in jener Vorstellung. Indem wir nun den Schneidungspunkt von den Reihen, die in ihm zusammentreffen, unterscheiden und uns einbilden, man könne gleichzeitig von allen vor- gestellten Reihen abstrahieren (während man tatsächlich nur von jeder einzelnen abstrahieren kann), so entspringt der Schein eines sich gleich- bleibenden Ich als des einheitlichen Subjekts aller unserer Vorstellungen. In Wahrheit ist das Ich nicht der Quell unserer Vorstellungen, sondern das letzte Ergebnis aus deren Verbindung. Die Vorstellung ist der Grund- begriff der Psychologie, nicht das Ich, welches vielmehr deren schwerstes Problem bildet. Es ist „ein Resultat anderer Vorstellungen, die aber, um dieses Resultat zu ergeben, in einer einzigen Substanz beisammen sein und einander durchdringen müssen" (Lehrb. zur Einleitung S. 243). So verteidigt Herbart gegen Kant und Fries die Substantialität der Seele. Ihre Unsterblichkeit, ebenso freilich ihre Präexistenz (auch die der Tier- seele) versteht sich wegen der Zeitlosigkeit des Realen von selbst.

Die Seele ist eines jener Realen, welches, an sich unveränderlich, in verschiedene Beziehungen zu anderen eintritt und sich gegen sie er- hält. In ihrem einfachen Was so unerkennbar wie die übrigen, ist sie uns doch in ihren Selbsterhaltungen bekannt. Wir nennen diese in Ermangelung eines passenderen Ausdrucks für die Gesamtheit der psychischen Ereignisse Vorstellungen, deren erscheinende Mannig- faltigkeit auf Rechnung der Verschiedenheit der Störungen kommt und

454

Herbart.

nur für einen Beobachter besteht. An sich ohne Vielheit von Anlagen und Trieben, ist die Seele nicht ursprünglich eine vorstellende Kraft, sondern wird es erst unter Umständen, nämlich dadurch, daß sie von anderen Wesen zur Selbsterhaltung gereizt wird. Die Summe der mit der Seele in unmittelbarer Beziehung stehenden Realen heißt ihr Leib, welcher, ein Aggregat einfacher Wesen, zwischen der Seele und der Außenwelt das Mittelglied des Kausalverhältnisses abgibt. Die Seele hat ihren (beweglichen) Sitz im Gehirn. Gegen die physiologische Be- handlung der Seelenlehre bemerkt Herbart, die Psychologie gebe der Physiologie weit mehr Licht, als sie jemals ^•on ihr empfangen könne.

Die einfachsten Vorstellungen sind die Empfindungen, welche sich bei aller Verschiedenheit doch in bestimmte Klassen (Gerüche, Töne, Farben) gruppieren. Sie gelten uns als Zeichen für die stören- den Realen, aber sie sind keine Bilder der Dinge, auch keine Wir- kungen derselben, sondern Produkte der Seele selbst: die Erzeugung von Empfindungen ist die der Seele eigentümliche Weise, sich gegen drohende Störungen zu wehren. Jede einmal entstandene Vorstellung verschwindet zwar wieder aus dem Bewußtsein, aber nicht aus der Seele. Sie beharrt, verbindet sich mit anderen und steht mit ihnen in Wechsel- wirkung, beides nach bestimmten Gesetzen. Diese ursprünglichen Vor- stellungen sind die einzigen, welche die Seele selbsttätig hervorbringt; alle sonstigen psychischen Vorgänge, Gefühl, Begierde, Wille, Aufmerk- samkeit, Gedächtnis, Urteil, der ganze Reichtum des inneren Geschehens ergibt sich von selbst aus dem gesetzlichen Wechselspiel der primitiven Vorstellungen. Ursprünglich ist nur das Vorstellen (genauer: das Em- pfinden); Raum, Zeit, Kategorien, die Kant für apriori ausgibt, sind sämtlich erworben, d. h. sie sind, wie das gesamte höhere geistige Le- ben, Resultate eines psychischen Mechanismus, zu deren Hervor- bringung es keiner erneuten Anstrengung von seiten der Seele selbst bedarf. Es war ein höchst verderblicher Irrtum der bisherigen Psycho- logie, daß sie jede besondere geistige Tätigkeit, statt sie aus Kombina- tionen einfacher Vorstellungen herzuleiten, einem speziellen gleichnamigen Seelenvermögen zuschrieb. Sie behandelte leere abstrakte Klassen- begriffe als wirkliche Kräfte und meinte, damit die einzelnen konkreten Akte „erklärt" zu haben. Es gibt keinen erbitterteren Gegner der Vermögenstheorie als Herbart. Sein Feldzug gegen dieselbe war, wenn nicht siegreich, so doch heilsam und die Motive seiner Feindschaft bis zu einem gewissen Grade vollkommen berechtigt. Nichts nutzloser als die Versicherung, was die Seele wirklich tue, das müsse sie auch tun können. Wer bestreitet das! Ein Vermögen erklärt nichts, solange die Gesetze, nach denen es fungiert, und sein Verhältnis zu anderen Ver- mögen im Unklaren bleiben. Aber auch wenn der Vermögensbegriflf keinen positiven Nutzen gewährt, ganz beseitigt werden kann er nicht.

Psychologie.

455

Er bezeichnet die Grenze, wo unsere Fähigkeit aufliört, eine Klasse seelischer Vorgänge auf eine andere zurückzuführen. Gegen die be- scheidene und notgedrungene Anwendung desselben vermag Herbarts Polemik nichts auszurichten, so sehr sie angesichts des Unfugs einer überflüssigen Vermehrung der Seelenvermögen am Platze war. Die Ver- wirklichung des Ideals der Psychologie, die komplizierten Erscheinungen des Seelenlebens auf möglichst wenige einfache Elemente zurückzuführen, findet ihre Schranken an der Verschiedenartigkeit der Urphänomene des Begreifens, Fühlens und Begehrens, welche einer Ableitung aus der Kombination von Empfindungen oder Vorstellungen durchaus widerstrebt. Was Herbart gegen diese Schranken blind machte, war jenes Einheits- streben, das er als Metaphysiker und Moralphilosoph allzu geflissentlich unterdrückt hatte und das sich nun für jene Schmälerung seiner Be- rechtigung dadurch rächte, daß es den Psychologen zu einer folgen- schweren Übertreibung verleitete. Interessant und dankenswert bleibt der mißglückte Versuch trotzdem.

Die Gesetze aufzufinden, welche die Wechselwirkung der psychischen Elemente befolgt, ist Aufgabe einer Statik und Mechanik der Vor- stellungen. Jene untersucht das Gleichgewicht oder den beharrlichen Endzustand, diese den Wechsel oder die Bewegungen der Vorstellungen. Schon diese Namen verraten Herbarts Überzeugung, daß in der Seelen- lehre Mathematik angewandt werden könne und müsse. Die großen Hoffnungen jedoch, welche Herbart auf das Unternehmen einer mathe- matischen Psychologie setzte, haben sich weder in seinen eigenen Be- mühungen noch in denen seiner Schüler erfüllt, wenn es auch, wie Lotze bemerkt, zu viel behauptet wäre, zu sagen, daß die von ihm aufgestellten allgemeinsten Formeln der Erfahrung widersprächen, da die einfachsten Gesetze und ihre Angrifispunkte hypothetisch angesetzt werden und wir nie sicher sagen können, wo sie sich verwirklicht zeigen.

Die Einheit der Seele zwingt die Vorstellungen, aufeinander zu wirken (und die Tatsache ihrer Wechselwirkung beweist, daß sie Einem Wesen angehören). Disparate Vorstellungen, also solche, welche ver- schiedenen Vorstellungsreihen angehören, wie das Gesichtsbild der Rose und das Gehörbild des Wortes Rose, oder wie die in dem Begriffe Goldstück verknüpften Empfindungen gelb hart rund klingend, gehen Komplikationen ein. Gleichartige (das Erinnerungs- und das Wahr- nehmungsbild eines schwarzen Pudels) verschmelzen zu einer einzigen Vorstellung. Entgegengesetzte Vorstellungen (rot und blau) hemmen einander, wenn sie zugleich im Bewußtsein sind. Auf der Verknüpfung und abgestuften Verschmelzung der Vorstellungen beruhen Gedächtnis und Reproduktion derselben, sowie die Bildung kontinuierlicher Vor- stellungsreihen. Die Reproduktion ist teils eine unmittelbare, ein freies Steigen der Vorstellung durch ihre eigene Kraft, sobald die Hindemisse

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Herbart.

weichen; teils eine mittelbare, ein Aufsteigen durch Hilfe anderer. Auf die Hemmung teilweise oder gänzlich entgegengesetzter Vorstellungen gründet Herbart seinen psychologischen Kalkül. Es seien im Bewußt- sein gleichzeitig drei entgegengesetzte Vorstellungen von verschiedener Intensität gegeben, die stärkste heiße a, die schwächste c, die mittlere b. Was geschieht? Sie hemmen eineinder, d. h. ein Teil von jeder wird genötigt, unter die Schwelle des Bewußtseins hinabzusteigen. ^ Wieviel wird gehemmt? Soviel als alle schwächeren Vorstellungen zusammen betragen: die Hemmungssumme oder die Summe dessen, was un- bewußt wird, (gleichsam die zu verteilende Last) ist gleich der Summe aller Vorstellungen abgerechnet die stärkste (somit z= b -\- c) und ver- teilt sich auf die einzelnen Vorstellungen im umgekehrten Verhältnis ihrer Stärke, mithin so, daß die stärkste (die sich am lebhaftesten und erfolgreichsten gegen die Hemmung wehrt) am wenigsten, die schwilchste am meisten davon zu tragen hat. So kann es geschehen, daß eine Vor- stellung von zwei stärkeren gänzlich aus dem Bewußtsein verdrängt wird, während ihr dies von einer, wenn auch noch so überlegenen, niemals widerfahren kann. Der allereinfachste Fall ist der, daß zwei gleichstarke Vorstellungen vorhanden sind, von denen dann jede auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Intensität hinabgedrückt wird. Die Summe des im Bewußtsein Bleibenden ist stets gleich der größten Vorstellung. Sobald eine Vorstellung den Nullpunkt des Bewußtseins erreicht oder sobald eine neue Vorstellung (Empfindung) frisch hinzutritt, beginnen sofort die übrigen zu steigen oder zu sinken. Die Gesetze dieser Bewegungen der Vorstellungen sucht die Mechanik zu erforschen, deren komplizierte Rechnungen um so eher übergangen werden dürfen, als ihre präzisen Formeln immer nur sehr ungefähr den wahren Sachver- halt, der sich nun einmal gegen Präzision sträubt, wiedergeben. Die Klippe, an der jeder immanente Gebrauch der Mathematik in der Psychologie scheitern muß, ist die Unmöglichkeit, eine Vorstellung durch eine andere exakt zu messen. Wohl kann man nach unmittelbarem Gefühlseindruck eine Vorstellung für stärker erklären als eine andere, aber man kann nicht angeben, um wieviel sie stärker sei, nicht mit Grund behaupten, daß sie doppelt oder halb so stark sei. An dieser unüberwindlichen Schwierigkeit ist Herbarts mathematische Psychologie zu Grunde gegangen. Die Forderung der Exaktheit, die sie aufgestellt hat und mit ihren Mitteln nicht zu befriedigen vermochte, ist neuerdings

1 Durch ihren gegenseitigen Druck verwandeln sich die Vorstellungen in ein bloßes Streben vorzustellen, welches bei Wegfall der Hemmung wieder ein wirkliches Vorstellen wird. Die in ein Streben verwandelten Teile einer Vorstellung und die unverdunkelt bleibenden Reste sind nicht abgeschnittene Stücke, sondern die Größe bezeichnet nur einen Grad der Verdunkelung der ganzen Vorstellung beziehungsweise des wirklichen Vorstellens.

Psychologie. 457

wiedererhoben worden, und hat in der auf veränderter Grundlage mit sinnreichen Messungsmethoden arbeitenden Psychophysik zu gesicherten Erfolgen geführt.

Die verschiedenen geistigen Tätigkeiten will Herbart, wie wir sahen, aus dem Getriebe der Vorstellungen ableiten. Gefühl und Begierde sind nichts neben der Vorstellung, sind nicht besondere Seelenvermögen, sondern Resultate von Vorstellungsverhältnissen, veränderliche Zustände gehemmter und gegen Hindernisse sich aufarbeitender Vorstellungen. Eine aus dem Bewußtsein verdrängte Vorstellung beharrt als ein Streben vorzustellen und übt als solches auf die bewußten Vorstellungen einen Druck aus. Schwebt eine Vorstellung in der Klemme zwischen gegen- wirkenden Kräften, so gibt das ein Gefühl; Begehren ist das Auf- steigen einer Vorstellung gegen Hemmnisse, Verabscheuen das Zau- dern bei ihrem Sinken. Verbindet sich mit dem Streben die Vorstel- lung, daß das Ziel desselben erreichbar sei, so heißt es Wille. Der Charakter des Menschen beruht darauf, daß bestimmte Vorstellungs- massen herrschend geworden sind und vermöge ihrer Stärke und Dauer die entgegenstehenden Vorstellungen im Zaum halten oder unterdrücken. Je länger die herrschende Vorstellungsmasse ihre Macht ausübt, desto zäher wird die Gewohnheit einer gewissen Handlungsweise, desto fester das Wollen. Die intellektualistische Entselbständigung der praktischen Fähig- keiten der Seele führt Herbart folgerecht zum Determinismus. Das Wollen hängt von der Einsicht ab, wird durch die Vorstellungen be- stimmt, Freiheit bedeutet nichts als Bestimmbarkeit des Willens durch Motive. Wären die einzelnen Entschlüsse des Menschen indeterminiert, so hätte er keinen Charakter; wäre der Charakter frei in der Wahl zwi- schen zwei Handlungen, so bestände auch bei dem edelsten Entschlüsse die Möglichkeit, sich für das Gegenteil zu entscheiden, die Wahlfreiheit würde den reinen Zufall zum Täter unserer Taten machen. Vor allem muß die Pädagogik den Begriff einer indeterministischen Freiheit abweisen; Erziehung wäre samt Zurechnung, Besserung und Strafe ein sinnloses Wort, wenn auf den Willen des Zöglings nicht bestimmend eingewirkt werden könnte. Der letzte Einwand vergißt, daß der erzieherische Einfluß immer nur ein mittelbarer ist und nicht mehr leisten kann, als daß er durch Disziplinierung der Triebe und Herbeischaffung von Hilfs- mitteln gegen unsittliche Antriebe dem Zögling die moralische Arbeit erleichtere. Man kann nur auf die Motive, niemals direkt auf den Willen selbst einwirken. Andernfalls wäre unerklärlich, daß bei manchen Individuen auch die höchste pädagogische Kunst sich machtlos erweist.

Der Seelenlehre schickt Herbart eine Naturphilosophie voraus, welche die Materie aus Attraktion und Repulsion konstruiert und eine Wirkung in die Ferne für unmöglich erklärt. Das Mittelglied zwischen Physik und Psychologie bildet die Lehre vom organischen Leben (Physio-

458 Herbart.

logie oder Biologie), und an diese wiederum knüpft sich die natürliche Theologie durch folgende Gedanken. Die Zweckmäßigkeit, die wir mit Verwunderung am Menschen und an den höheren Tieren bemerken, nötigt uns, da sie weder vom Zufall herrühren noch aus Naturgründen allein erklärt werden kann, als den Urheber derselben einen höchsten Künstler, eine zwecksetzende Intelligenz anzunehmen. Bewiesen wird die Existenz der Gottheit durch das teleologische Argument freilich nicht, es ist nur eine Hypothese, aber von so hoher Wahrscheinlichkeit wie die Annahme, daß in den uns umgebenden Menschenleibern Menschen- seelen wohnen, was wir auch nur \oraussetzen, nicht wahrnehmen oder beweisen können. Die Festigkeit des Glaubens ist eine andere, aber nicht eine geringere, als die der Logik und Erfahrung. Die Religion beruht auf Demut und dankbarer Verehrung, welche durch die uner- meßliche Erhabenheit ihres Gegenstandes, die Unabgeschlossenheit unserer Vorstellung vom höchsten Wesen und das Wissen des Nicht- wissens nur begünstigt werden. Stützt sich der Glaube einerseits auf die teleologische Naturbetrachtung, so hängt er anderseits mit dem mo- ralischen Bedürfnis zusammen und übt dazu noch ästhetische Wirkungen. Den Leidenden tröstend, den Verirrten zurechtweisend, den Sünder bessernd und beruhigend, den sittlich Tüchtigen warnend, stärkend und erheiternd, versetzt die Religion das Gemüt in ein neues, besseres Land, zeigt ihm eine höhere Ordnung der Dinge, die der Vorsehung, welche mitten unter den menschlichen Fehltritten dennoch das Gute fördert. In der Religiosität ist allemal ein Sittliches enthalten, und das Band der Kirche hält die Menschen auch da noch zusammen, wo der Staat zu Grunde geht. Unentbehrlich sowohl theoretisch als Ergänzung unseres Wissens wie praktisch wegen der moralischen Unvollkommenheit der Menschen, welche der Demütigung, Ermahnung, Tröstung und Erhebung durch sie bedürfen, ist die Religion doch unabhängig vom Wissen und vom sittlichen Wollen entstanden. Der Glaube ist älter als Wissenschaft und Moral : die Religionslehre hat nicht auf Astronomie und Kosmologie, die Errichtung von Heiligtümern nicht auf die Sittenlehre gewartet. Religion war schon vor der Entwickelung der moralischen Begriffe vor- handen in Form eines Staunens ohne eigentlichen Gegenstand, einer dumpfen Ehrfurcht, welche jede plötzliche innere Erregung dem Anstoß einer unsichtbaren Kraft zuschrieb. Da eine spekulative Erkenntnis des Wesens Gottes unmöglich ist, bleibt der Metaphysik nur die Auf- gabe, von dem, was Überlieferung und Phantasie darüber zu sagen wissen, unpassende Bestimmungen zu entfernen. Wir haben uns Gott als persönlich, außerweltlich, allmächtig, als Schöpfer nicht der Realen selbst, aber ihres zweckmäßigen Zusammen zu denken. Um aber von der Vorstellung des ursprünglichen, wirklichsten und mächtigsten Wesens zu der des vortrefflichsten zu gelangen, bedarf es der praktischen Ideen,

Die Religion. Ästhetik u. Ethik. 45g

ohne welche dieselbe ein gleichgültiger theoretischer Begriff bleiben würde. Beten kann der Mensch nur zu einem weisen, heiligen, voll- kommenen, gerechten und gütigen Gott.

Dies ist im wesentlichen der Inhalt der spärlichen zerstreuten Be- merkungen, die sich bei Herbart zur Religionsphilosophie finden. Dem Mangel einer ausführlichen Behandlung derselben von der übrigens bei der Sprödigkeit seiner metaphysischen Begriffe und seiner unzuläng- lichen Würdigung des Bösen kaum etwas Erkleckliches zu erwarten ge- wesen wäre haben u. a. abzuhelfen gesucht Drobisch (Grundlehren der Religionsphilosophie 1840) im Sinne eines religiösen Kritizismus und mit Erneuerung des moralischen Beweises, Taute (184O 52) und Flügel (Das Wunder und die Erkennbarkeit Gottes, 1869) mit apolo- getischer und wundergläubiger Tendenz.

Wir werfen noch einen Blick auf die Ästhetik, die Lehre von den Werten. Vom Angenehmen und Begehrten, die gleichfalls Gegen- stände eines Vorziehens und Verwerfens sind, unterscheidet sich das Schöne dadurch, daß es erstens ein unwillkürliches und uninteressiertes Urteil des Beifalls erweckt, zweitens ein dem Gegenstande zugeschriebenes oder objektives Prädikat ist. Dazu kommt drittens, daß, während die Begierde das Zukünftige sucht, der Geschmack in der Gegenwart besitzt, was er beurteilt.

Was ästhetisch gefällt oder mißfällt, ist stets die Form, nie die Materie, und ist ferner immer ein Verhältnis, denn das völlig Einfache ist gleichgültig. Wie es in der Musik gelungen ist, die einfachsten Verhältnisse aufzufinden, welche unmittelbar und absolut man weiß nicht warum gefallen, so muß es in allen Kunstlehren versucht werden. Die wichtigste derselben, welche das sittlich Schöne behandelt, die Moralphilosophie, hat also zu fragen nach den einfachsten Willens- verhältnissen, welche eine (vom Interesse des Beobachters unabhängige) moralische Billigung oder Mißbilligung hervorrufen, nach den prak- tischen Ideen oder Musterbegriffen, nach denen der sittliche Geschmack über Wert und Unwert des (wirklich geschehenden oder nur vorge- stellten) Wollens willenlos und mit unbedingter Evidenz urteilt.

Solcher primitiven Ideen oder Grundurteile des Gewissens zählt Herbart fünf auf

I. Die Idee der inneren Freiheit vergleicht den Willen mit der eigenen Beurteilung, Überzeugung, dem Gewissen des Handelnden. Übereinstimmung der Begehrung mit dem eigenen Urteil, mit der Vor- schrift des Geschmacks gefällt, Nichtübereinstimmung mißfällt. Da die Fähigkeit, nach eigener Einsicht den Willen zu bestimmen, für sich nur eine leere Konsequenz und Überzeugungstreue begründet und auch der unsittlichen Klugheit dienen kann, so erwartet die erste Idee ihren Inhalt erst von den vier folgenden.

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Herbart.

2. Die der Vollkommenheit geht auf das Größenverhältnis der mannigfaltigen Strebungen eines Subjekts nach Intensität, Extension und Konzentration. Es gefällt das Starke neben dem Schwachen, das Größere (Avisgebreitetere, Reichere) neben dem Kleineren, das Ge- sammelte neben dem Zerstreuten; mit anderen Worten, es gefällt an den einzelnen Begehrungen die Energie, in der Summe die Mannig- faltigkeit, im System die Zusammenwirkung. Während die beiden ersten Ideen den Willen des einzelnen Menschen mit sich selbst ver- glichen, betrachten die übrigen sein Verhältnis zu dem Willen anderer Vernunftwesen, und zwar die dritte zu einem bloß vorgestellten, die beiden letzten zu einem wirklichen Willen.

3. Nach der Idee des Wohlwollens oder der Güte, welche den Wert der Gesinnung am unmittelbarsten und bestimmtesten angibt, ge- fällt der Wille, wenn er mit dem (vorgestellten) fremden Willen überein- stimmt, d. h. sich dessen Befriedigung zum Ziel setzt.

4. Die des Rechts beruht darauf, daß Streit mißfällt. Wenn mehrere Willen ohne Übelwollen in einem Punkte (dem Ansprüche auf eine Sache) zusammentreffen, sollen beide Parteien sich dem Rechte als einer Regel zur Vermeidung des Streites unterwerfen.

5. Auch bei der der Vergeltung und Billigkeit ist das Ursprüng- liche ein Mißfallen, das Mißfallen an der unvergoltenen Tat als einem gestörten Gleichgewicht. Diese letzte Idee fordert, daß keine Wohl- oder Übeltat unerwidert bleibe, daß in Lohn, Dank und Strafe ein gleiches Quantum von Wohl und Wehe auf den Täter zurückfalle, als er verur- sacht hat. Die einseitige Wohl- oder Wehetat ist eine Störung, die zu ihrer Tilgung eine entsprechende Vergeltung verlangt.

Herbart warnt davor, die fünf ursprünglichen Ideen (die nur die wissenschaftliche Analyse trennt, denn im Leben urteilen wir immer zu- gleich nach allen) aus einer einzigen höheren ableiten zu wollen; die Forderung eines gemeinschaftlichen Moralprinzips sei ein Vorurteil. Aus der Vereinigung mehrerer Wesen zu einer Person entspringen fünf weitere Musterbegriffe, die abgeleiteten oder gesellschaftlichen Ideen der sittlichen Einrichtungen, in denen die primitiven realisiert werden. Sie entsprechen denselben in umgekehrter Ordnung: das Lohnsystem, welches die Strafen regelt, die Rechtsgesellschaft, welche den Streit verhindert, das Verwaltungssystem, auf das größtmögliche Wohl aller, das Kultursystem, auf die Entfaltung der größtmöglichen Kraft und Virtuosität gerichtet, endlich als höchste, die in sich die übrigen vereinigt, die beseelte Gesell- schaft, welche, wenn sie mit der nötigen Macht ausgerüstet ist, Staat heißt.

Fassen wir die Gesamtheit der ursprünglichen Ideen zusammen als bestimmend die Sinnesart Einer Person, so entsteht der Begriff der Tugend. Reflektieren wir auf die Schranken, welche der vollen Ver- wirklichung des Tugendideals entgegenstehen, so erhalten wir die Begriffe

Die praktischen Ideen. 46 1

Gesetz und Pflicht. Eine Ethik, welche ausschließlich den imperativi- schen oder Pflichtcharakter des Guten hervorkehrt, wie diejenige Kants, ist einseitig, sie betrachtet die Sittlichkeit nur als gehemmte, ein Fehler, der mit ihrer falschen Freiheitslehre zusammenhängt. Dagegen war es ein großes Verdienst Kants, zuerst die unbedingte, von allem Eudämonis- mus unabhängige Gültigkeit des sittlichen Urteils klargestellt zu haben. Zweige der Tugendlehre sind Politik und Pädagogik. Zweck der Er- ziehung ist Ausbildung zur Tugend und, diesem dienend. Weckung eines vielseitigen Interesses und Erzeugung eines festen Charakters.

Zum Schlüsse seien die Punkte zusammengestellt, an denen sich Herbart als einen Anhänger Kants er selbst bezeichnet sich als einen „Kantianer vom Jahre 1828" erweist. Seine praktische Philosophie entlehnt von Kant ihre Unabhängigkeit von der theoretischen, den un- interessierten Charakter der ästhetischen Beurteilung, die Unbedingtheit der ethischen Werte, den nichtempirischen Ursprung der moralischen Begriffe : „Die sittlichen Grundverhältnisse werden nicht aus der Erfahrung geschöpft." Seine Metaphysik die kritische Behandlung der Erfahrungs- begriffe (ihre Aufgabe ist, die Erfahrung begreiflich zu machen), wobei der leitende Gedanke der Antinomienlehre, die Unvermeidlichkeit der Widersprüche, verallgemeinert, auf alle Grundbegriffe der Erfahrung aus- gedehnt, gleichsam aus der Dialektik in die Analytik versetzt wird; ferner den Begriff des Seins als absolute Position, endlich den Dualismus von Erscheinung und Ansich. In der Erneuerung der platonischen Unter- scheidung von Schein und Sein erblickt er (gleich Schopenhauer) die Hauptleistung des Vernunftkritikers, in der Apriorität der Erkenntnis- formen seinen größten Mißgriff. Mit der Lehre von den reinen An- schauungen und den Kategorien, sowie der Kritik der Urteilskraft ver- wirft er, und mit vollem Bewußtsein, gerade diejenigen Partien, auf denen die Fichtesche Schule weitergebaut hatte. Endlich hat Herbarts Art zu denken, seine Unpersönlichkeit, die zuweilen peinliche Vorsicht der Unter- suchung und die Sauberkeit der Begriffe etwas der Kantischen Ver- wandtes, nur daß ihm die Gabe des Zusammenfassens in viel höherem Grade mangelt, als seinem großen Vorgänger auf dem Königsberger Katheder. Sein eminenter Scharfsinn ist geschäftiger im Lockern als im Binden, glücklicher im Aufspüren als im Lösen der Widersprüche. Darum gehört er nicht zu den Königen, welche die Geschicke der Philosophie auf lange Zeiten hinaus entschieden haben, er steht seitwärts, unter den Seitwärtsstehenden freilich die bedeutendste Figvir.

Der erste, der sich in wesentlichen Stücken zu Herbart bekannte und dadurch die Bildung einer Schule veranlaßte, war Drobisch in Leipzig (1802 96, über ihn Gedächtnisrede von M. Heikze 1897, Bio- graphie von seinem Enkel Walter Neubert-Drobisch 1902) mit zwei 1828 und 1830 erschienenen Rezensionen. Von ihm besitzen wir gediegene

462 Herbarts Schule.

Bearbeitungen der Logik (1836, 5. Aufl. 1887), der empirischen Psycho- logie (1842, 2. Aufl. 1898) und eine interessante Abhandlung über Moral- statistik und Willensfreiheit (1867). An derselben Universität wirkte bis 1859 G- Hartenstein (1808 90) und bis zu seinem Tode Ludwig V. Strümpell 1 (1812 99). Der Pädagog Tuiskon Ziller (1817 82) gab mit All ihn zusammen das Organ der Schule, die später von Otto Flügel redigierte „Zeitschrift für exakte Philosophie" heraus (zusammen 20 Bände; im ersten Bande 1860 eine Übersicht über die Literatur der Schule). An ihre Stelle trat 1894 die „Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik", herausgegeben von Flügel und W. Rein. Der herbarti- schen Richtung gehört gleichfalls an die „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" seit 1859, redigiert von Mor. Lazarus (1824 bis 1903; Das Leben der Seele, 3 Bände 1856 ff., 3. Aufl. 1883 85) und Hermann S t ein thal (1823 99; Der Ursprung der Sprache, 4. Aufl. 1888; Abriß der Sprachwissenschaft L Teil, 2. Aufl. 1881; Allgem. Ethik 1885) in Berlin. Seit 1890 wird sie von Weinhold als „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde" fortgesetzt. Um die Psychologie haben sich Nahlowsky (Das Gefühlsleben 1862, 2. Aufl. 1884), Theod. Waitz in Marburg (1821 84, Grundlegung der Psychologie 1846, Lehrbuch der Psychologie 1849) und Volkmann in.Prag(i822 77; Lehrbuch derPsychologie, 3. Aufl. von Cornelius 1884, 1885) verdient gemacht; früher wurde Friedr. Exner (f 1853) viel genannt als Bekämpfer der Hegeischen Psychologie (1843 44)- Robert Zimmermann in Wien (1824 98) ist Vertreter einer extrem formalistischen Richtung in der Ästhetik (Ge- schichte der Ästh. 1858, Allgemeine Ästh. als Formwissenschaft 1865, ferner eine Reihe gründlicher philosophie-historischer Abhandlungen). Unter den Geschichtsschreibern der Philosophie hat Thilo in Hannover (181 3 94) den Herbartschen Standpunkt ziemlich einseitig geltend ge- macht. Die Religionsphilosophen der Schule sind oben (S. 459) genannt. Beneke, den wir wegen seines anthropologistischen Standpunktes zu Fries gestellt haben, steht etwa in der Mitte zwischen Herbart und Schopenhauer. Er teilt mit dem ersteren das psychologische Interesse, mit dem letzteren die Begründung der metaphysischen Erkenntnis auf die innere Erfahrung, mit beiden die Abneigung gegen Hegel, unterscheidet sich aber von Herbart durch die empirische Methode, von Schopen- hauer durch die der Vorstellung vor dem Streben eingeräumte Priorität.

^ L. Strümpell (S. 446): Der Kausalitätsbegriff 1871 ; Die Natur und Ent- stehung der Träume 1874; Die Geisteskräfte der Menschen verglichen mit denen der Tiere 1878; Einleitung in die Philos. 1886; Pädagogische Pathologie, 2. Aufl. 1892; Abhandlungen aus dem Gebiete der Ethik usw. 1895; Abhandlungen zur Geschichte der Metaphysik usw. 1896; Vermischte Abhandlungen 1897.

Schopenhauer. 463

III. Der Pessimismus: Schopenhauer.

Schopenhauer ist in allen Stücken der Antipode Herbarts. Zer- splittert sich bei Herbart die Philosophie in eine Anzahl reinlich ge- trennter Einzeluntersuchungen, so hat Schopenhauer nur einen einzigen Grundgedanken mitzuteilen, in dessen Durchführung, wie er überzeugt ist, jeder Teil das Ganze hält und vom Ganzen gehalten wird. Jener operiert mit nüchternen Begriffen, wo dieser sich von einer genialen Anschauung leiten läßt. Jener ist kühl, gründlich, behutsam, methodisch bis zur Pedanterie, dieser leidenschaftlich, geistreich, unmethodisch bis zur dilettantischen Willkür. Dort ist die Philosophie, soweit sie es sein kann, exakte Wissenschaft, in welcher die Person des Denkers hinter der Sachlichkeit der Untersuchung ganz zurücktritt, hier besteht sie aus einer Summe künstlerischer Konzeptionen, die ihren Inhalt und ihren Wert vornehmlich von der Individualität des Autors erhalten. Die Geschichte der Philosophie hat kein System aufzuweisen, das in gleichem Maße Abdruck und Spiegel der Persönlichkeit des Philosophen wäre, wie das Schopenhauersche. Diese Persönlichkeit ist, trotz ihrer Einseitigkeiten und ihrer Schrullen, bedeutend genug, um ihre Ansichten, auch abgesehen von dem relativen Wahrheitsgehalt derselben, interessant zu machen.

Arthur Schopenhauer (22. Februar 1788 bis 21. September 1860), Sohn eines mit der später als Romanschriftstellerin bekannt gewordenen Johanna geb. Trosiener verheirateten Kaufmanns, in Danzig geboren, durch friihe Reisen ins Ausland gebildet, vertauschte nach dem Tode des Vaters die auf dessen Wunsch begonnene kaufmännische Laufbahn mit der gelehrten, hörte in Göttingen bei G. E. Schulze, in Berlin bei Fichte, erwarb mit einer Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde (18 13) in Jena den Doktorgrad und begab sich von Weimar, dem Wohnorte seiner Mutter, wo er viel mit Goethe ver- kehrte und durch Fr. Mayer die indische Philosophie kennen lernte, nach Dresden (18 14 18). Dort entstand die Abhandlung Über das Sehen und die Farben (18 16; später vom Verfasser lateinisch heraus- gegeben) und das Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819; neue Auflage, durch einen zweiten Band vermehrt, 1844). Nach Vollendung des letzteren unternahm er seine erste italienische Reise, die zweite fällt zwischen die beiden von geringem Erfolg begleiteten Versuche (1820 und 1825 in Berlin), seiner Philosophie vom Katheder aus Geltung zu verschaffen. Von 1831 bis zu seinem Tode lebte er als Privatgelehrter in Frankfurt am Main. Hier verfaßte er das Werk- chen Über den Willen in der Natur 1836, die Preisschriften Über die Freiheit des menschlichen Willens und Über das Fundament der Moral (zusammen „Die beiden Grundprobleme der Ethik" 1841) und die Samm- lung kleinerer Schriften „Parerga und Paralipomena", zwei Bände 1851

404 Schopenhauer.

(darin eine Abhandlung Über Religion). J. Frauenstädt hat mehrere Nachlaßstücke (u. a. die Übersetzung von B. Gracians Handorakel der Weltklugheit), die sämtlichen Werke (sechs Bände, 1873 74, 2. Aufl. 1877, darin ein Lebensbild), Lichtstrahlen aus den Werken 1861, 5. Aufl. 1885, und ein Schopenhauerlexikon, zwei Bände 187 1, herausgegeben. Einen wesentlich verbesserten Text bietet die von Ed. Grisebach mit großer Gewissenhaftigkeit besorgte Ausgabe der sämtlichen Werke in sechs Bänden bei Reclam (berichtigter Abdruck 1892 f., im 6. Bande ein Re- gister). Nicht minder dankenswert ist die gleichfalls von Grisebach ebenda veranstaltete Ausgabe des handschriftlichen Nachlasses aus den auf der Berliner Kgl, Bibliothek verwahrten Manuskriptbüchern, vier Bände (1891, berichtigter Abdruck 1895 f.) und der Briefe (1895), zu welcher L. Schemanns Sammlung 1893 eine Ergänzung bildet.

Aus der Schopenhauerliteratur (eine chronologische Übersicht derselben gibt F. Laban 1880) heben wir hervor die Rezensionen von Herbart (im Hermes 1820) und Beneke (Jenaische Literaturzeitung 1820, Nr. 226 229) über die erste, die von Fortlage (Jenaische Literaturzeituug 1845, Nr. 146 151) über die zweite Auf- lage des Hauptwerkes, die Antithese ,, Herbart und Schopenhauer" von J. Ed. Erd- mann (ZPhKr. 1851), die beiden Preisschriften von C. BAHR und von R. Seydel 1857; ferner: WiLH. Gwinner, Schopenhauers Leben 1878 (zweite Auflage von „Schopenhauer aus persönlichem Umgang dargestellt" 1862); H. Frommann, A.Schopen- hauer, 3 Vorträge 1872; Fr. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher (drittes Stück der Unzeitgemäßen Betrachtungen 1874); O- Busch, A.Schopenhauer, 2. Aufl. 1878; K. Peters, Schopenhauer als Philosoph und Schriftsteller 1880; R. KoEBER, Die Philosophie A. Schopenhauers 1888; Ed. Grisebach, Edita und Inedita Schopen- haueriana 1888; Hertslet, Schopenhauer-Register 1890; KUNO Fischer, achter (neunter) Band der Gesch. d. n. Ph. 1893; RuD. Lehmann, Seh., ein Beitrag zur Psychologie der Metaphysik 1894; Max Hecker, Schopenhauer und die indische Philos. 1897; K. TÖWE, Seh. und das Christentum 1897; Ed. Grisebach, Schopen- hauer, Geschichte seines Lebens (Geisteshelden, Band 25 und 26) 1897; Ders., Schopen- hauers Gespräche und Selbstgespräche 1898, 2. Aufl. 1902; Th. Lorenz, Zur Ent- wicklungsgeschichte der Metaphysik Schopenhauers 1897; RiCH. Böttger, Das Grundproblem der Sch.schen Philos. 1898; P. MöBius, Seh. 1899; R. Schlüter, Sch.s Philosophie in seinen Briefen 1900; Heinr. Michelis, Sch.s Stellung zum psycho- phys. Parallelismus (Königsb. Diss.) 1903. Für Frommanns Klassiker hat Volkelt eine treffliche Darstellung Schopenhauers geliefert (Bd. 10) 1900. Von den Arbeiten über Schopenhauers Ästhetik seien genannt Hasbach in der ZPhKr. Bd. 77 (Be- ziehungen zur platonischen Ästhetik) 1880; Sibenlist (Sch.s Philos, der Tragödie) 1880; E. Reich (Schop. als Philosoph der Tragödie) 1888; RuD. Presber, Heidel- berger Diss. 1892; M. Seydel (Sch.s Metaphysik der Musik) 1895; Ed. v. Mayer, Sch.s Ästhetik (B. Erdmanns Abhandlungen, Heft 9) 1897.

Im Punkte des subjektiven Idealismus bekennt sich Schopenhauer als unbedingten Kantianer. Daß die Empfindungen nur Zustände in uns sind, wußte man längst; Kant öffnete der Welt die Augen darüber, daß auch die Formen der Erkenntnis Eigentum des Subjekts sind. Ich erkenne die Dinge nur, wie sie mir erscheinen, wie ich sie vermöge der Einrichtung meines Intellektes vorstelle; die Welt ist meine Vor-

Der Satz vom Grunde. Die Welt als Vorstellung. 465.

Stellung. Doch läßt die Kantische Theorie eine Vereinfachung zu, die verschiedenen Erkenntnisformen sind auf eine einzige, auf die schon von Kant bevorzugte Kategorie der Kausalität oder den Satz vom Grunde zurückführbar als den allgemeinen Ausdruck der gesetzmäßigen Verbindung unserer Vorstellungen. Derselbe hat, den verschiedenen Klassen von Objekten resp. Vorstellungen nämlich: reine (bloß formale) Anschau- ungen, empirische (vollständige) Anschauungen, Willensakte, abstrakte Begriffe entsprechend, vier Formen: er ist Satz vom Grunde des Seins, des Geschehens, des Handelns, des Erkennens. Die ratio essendi ist das Gesetz, welches das Lagenverhältnis der Raumteile und das Folgeverhältnis der Zeitteile reguliert. Die ratio fiendi fordert zu jeder Zustandsänderung eine andere, aus der sie als aus ihrer Ursache regel- mäßig erfolge, und eine Substanz als unveränderliches Substrat der- selben, die Materie. Alle Veränderungen geschehen notwendig, alles Wirkliche ist materiell; das Gesetz der Kausalität gilt nur für die Er- scheinungen, nicht über sie hinaus, und gilt nur für die Zustände der Substanzen, nicht für diese selbst. In der unorganischen Natur wirkt die Ursache mechanisch, in der organischen als Reiz (bei dem die Gegenwirkung der Wirkung nicht gleich ist), in der beseelten als Be- weggrund. Motiv ist bewußte (aber darum nicht freie) Ursache, das Gesetz der Motivation die ratio agefidi. Jene Stufenreihe „mechanische Ursache, Reiz und Motiv" bezeichnet nur Unterschiede der Art, nicht der Notwendigkeit des Wirkens. Mit der gleichen Unweigerlichkeit, mit der die Uhr die Stunden zeigt, gehen die Handlungen des Menschen aus seinem Charakter und den einwirkenden Motiven hervor; die Freiheit des Willens ist eine Chimäre. Endlich die ratio cognoscendi bestimmt, daß ein Urteil, um wahr zu sein, einen zureichenden Grund haben müsse. Das Urteilen oder Verbinden und Trennen von Begriffen ist die Haupttätigkeit der Vernunft, die als das Vermögen des abstrakten Denkens und als Organ der Wissenschaft den Unterschied des Menschen vom Tiere begründet, während der Besitz des die Empfindung zur An- schauung verarbeitenden, Objekte schaffenden Verstandes beiden gemeinsam ist. Gegen die gewöhnliche Überschätzung jener Gabe der mittelbaren Vorstellungen, der Sprache und der Reflexion hebt Schopen- hauer hervor, daß die Vernunft nicht, wie der Verstand, ein schöpferisches, sondern nur ein empfangendes Vermögen sei, das den von der Anschau- ung dargebotenen Inhalt verdeutliche und umforme, ohne ihn durch neue Vorstellungen zu vermehren.

Die objektive Erkenntnis ist in den Kreis unserer Vorstellungen eingeschlossen, alles Erkennbare ist Erscheinung. Raum, Zeit und Ur- sächlichkeit breiten sich wie ein dreifacher Schleier zwischen uns und dem Ansich der Dinge aus und verwehren den Anblick des wahren Wesens der Welt. Einen Punkt aber gibt es, wo wir mehr erkennen,

Falclcenberg, Neuere Philos. V. Aufl. in

466 Schopenhauer.

als bloße Erscheinung, wo von jenen drei trübenden Medien nur das eine, die Form der Zeit, uns vom Ding an sich trennt. Dieser Punkt ist das Bewußtsein unser selbst.

Einerseits erscheine ich mir als Leib. Mein Leib ist ein zeitlicher, räumlicher, materieller Gegenstand, ein Objekt gleich allen übrigen und wie sie den Gesetzen der Objektivität unterworfen. Neben dieser ob- jektiven Erkenntnis aber habe ich noch ein unmittelbares Bewußt- sein meiner selbst, durch welches ich mein wahres Wesen ergreife: ich weiß mich als wollend. Mein Wille ist mehr als bloße Vorstellung, er ist das Ursprüngliche in mir, das wahrhaft Reelle, das mir als Leib er- scheint. Der Wille verhält sich zum Intellekt als das Primäre zum Sekundären, als Substanz zum Akzidens, er verhält sich zum Leibe wie das Innere zum Äußeren, wie ReaUtät zur Erscheinung. Auf den Willensakt folgt sofort und unausbleiblich die gewollte Leibesbewegung, ja beide sind eins und dasselbe, nur auf verschiedene Weise gegeben; Wille ist der von innen gesehene Leib, Leib der von außen gesehene, der sichtbar gewordene, objektivierte Wille. Nach Analogie mit uns selbst aber, die wir uns als materielles Objekt erscheinen, in Wahrheit aber Wille sind, ist alles Dasein zu beurteilen. Das Universum ist der Makranthropos, die Erkenntnis unseres eigenen Wesens der Schlüssel zur Erkenntnis des Wesens der Welt. Wie unser Leib, so ist die ganze Welt die Sichtbarkeit des Willens. Der menschliche Wille ist die höchste Entwickelungsstufe desselben Prinzips, das sich in den verschiedenen Kräften der Natur wirksam erweist und seinen Namen füglich nach der vorzüglichsten Spezies erhält. Noch tiefer in das Innere der Dinge ein- zudringen, ist unmöglich. Was das an sich' ist, was sich als Wille dar- stellt und nach der Verneinung des letzteren (s. u.) noch übrig bleibt, ist für uns absolut vmerkennbar.

Die Welt ist an sich Wille. Von dem Urwillen sind alle die Prä- dikate fernzuhalten, die wir den Dingen infolge unserer subjektiven Auf- fassungsformen beilegen: die Determiniertheit durch Ursachen oder Zwecke sowohl wie die Vielheit: er steht außerhalb des Kausalgesetzes und außerhalb des Raumes und der Zeit, des principii individuationis. Er ist grundlos, blinder Drang, bewußtloser Trieb zur Existenz und ist einer, das Ein' und Alles, \v xai jcav. Was sich als Gravitation, als magnetische Kraft, als Wachstumstrieb, als Naturheilkraft kundgibt, ist nur dieser eine Weltwille, dessen Einheit (nicht Bewußtheit!) sich in der Zweckmäßigkeit seiner Verkörperungen bewährt. Das Wesen jedes Dinges, die verborgene Qualität desselben, bei der die empirische Er- klärung Halt machen muß, ist sein Wille: das Wesen des Steines ist der Wille zu fallen, das der Lunge Atmenwollen, Zähne, Schlund und Darm der objektivierte Hunger. Jene Qualitäten, in denen sich der Weltwille materiell darstellt, bilden eine Rangordnung zunehmender Voll-

Die Welt als Wille.

467

kommenheit, ein Reich unveränderlicher Gattungsformen oder ewiger Ideen, die (mit schwer bestimmbarem Wirklichkeitswerte) zwischen dem einen Urwillen und den zahllosen Einzelwesen in der Mitte stehen. Daß das organische Individuum dem Ideal seiner Gattung nicht vollkommen entspricht, sondern sich demselben nur mehr oder weniger annähert, hat seinen Grund darin, daß die Objektivationsstufen des Willens oder die Ideen gleichsam um die Materie kämpfen, und was an Kraft zur Überwältigung der niederen Ideen durch die höheren verbraucht wird, für die Ausgestaltung der Exemplare der letzteren verloren geht. Auf je höherer Stufe ein Wesen steht, um so ausgeprägter ist seine Indivi- dualität. Die allgemeinsten Naturkräfte, welche die rohe Masse konsti- tuieren, spielen den Grundbaß in der Symphonie der Welt, die höheren Stufen der unorganischen Natur nebst der Pflanzen- und Tierwelt die harmonischen Mittelstimmen, der Mensch die führende Oberstimme, die bedeutungsvolle Melodie. Mit dem menschlichen Gehirn steht mit einem Schlage die Welt als Vorstellung da, in diesem Organ hat der Wille sich eine Fackel angezündet, um sich selbst zu beleuchten und seine Absichten mit besonnener Überlegung auszuführen, er hat den Intellekt als sein Werkzeug hervorgebracht, das bei den weitaus meisten Menschen in der dienstbaren Stellung zum Willen bleibt. Gehirn undDenken sind dasselbe, jenes ist nichts weiter als der Wille zum Erkennen, wie der Magen Wille zum Verdauen. Von einer immateriellen Seele redet nur, wer die ihm bei der Konfirmation beigebrachten Begriffe in die Philo- sophie hineinträgt, wo sie nicht hingehören.

So eigenwillig und unharmonisch Schopenhauers Persönlichkeit, so reich an Inkonsequenzen ist seine Philosophie. „Er überträgt alle Wider- sprüche und Grillen seiner launenhaften Natur in sein System" (Zeller). Vom radikalsten Idealismus (die objektive Welt ein Erzeugnis der Vor- stellung) geht er in schroffer Wendung zum gröbsten Materialismus (das Denken eine Gehirnfunktion) : erst soll die Materie eine bloße Vorstellung, nun soll die Vorstellung ein materieller Vorgang sein! In einem ebenso harten Widerspruch, wie das erste (erkenntnistheoretische) und zweite (metaphysische) Buch der „Welt als Wille und Vorstellung" zueinander, stehen mit ihnen das dritte und vierte, welche den ästhetischen und ethischen Standpunkt des Verfassers entwickeln. Wenn nämlich anfangs behauptet wurde, alles Vorstellen stehe unter der Herrschaft des Satzes vom Grunde, so wird uns jetzt gesagt, es gebe außer dem kausalen ein höheres, von jenem Satze entbundenes Erkennen: die ästhetische und die philosophische Anschauung. Wenn es vorher hieß, der Intellekt sei das Geschöpf und der Diener des Willens, so erfahren wir jetzt, daß er in bevorzugten Individuen das Joch der Knechtschaft abzuschütteln und sich nicht nur zeitweilig zur Seligkeit einer völlig begierdelosen Betrachtung zu erheben, sondern sogar einen siegreichen Kampf gegen den Tyrannen

468

Schopenhauer.

einzugehen, den Willen zu ertöten die Macht gewinnt. Woher? wird uns verschwiegen. R, Haym (A. Schopenhauer, 1864, Abdruck aus den Preuß. Jahrbüchern Bd. 14, jetzt in den Ges. Aufs.) hat nicht so unrecht, die Schopenhauersche Philosophie als einen geistreichen, durch über- raschende Abwechselungen unterhaltenden Roman zu bezeichnen.

Die kausalitäts- und willensfreie Kontemplation ist das Wesen des ästhetischen, die partielle und totale Aufhebung, die Beschwichtigung und Verneinung des Willens das des sittlichen Verhaltens. Nur selten, nur im künstlerischen und philosophischen Genieß gelingt es dem Intellekt, sich von dem Supremat des Willens zu befreien und mit Beiseitelassung der Frage nach dem Warum und Wozu, dem Wo und Wann sich ganz in das reine „Was" der Dinge zu versenken. Während er bei der Mehrzahl der Menschen, wie bei dem Tier, für immer im Dienste des Willens zum Leben, der Selbsterhaltung, der persönlichen Interessen gefangen bleibt, streift er im genialen Menschen, im Künstler und Denker, alles Individuelle ab und wird im interesselosen Schauen der Ideen reines, willensfreies, zeitloses Subjekt. Die Kunst entindividualisiert sowohl das Subjekt wie das Objekt; ihre tröstende und beglückende Wirkung beruht darauf, daß sie dem Genießenden zu dem über alle Qual des Begehrens erhabenen Standpunkt einer festen, ruhigen, voll- kommen objektiven Betrachtung des unwandelbaren Wesens, der ewigen Musterbilder der Dinge emporhebt. Für die ästhetische Anschauung ist der Gegenstand nicht ein in räumlichen, zeitlichen, kausalen Verhält- nissen stehendes Ding, sondern nur Ausdruck, Beispiel, Vertreter der Idee. Über den bildenden Künsten steht die Poesie, welche, am voll- kommensten im Trauerspiel, die Idee der Menschheit darstellt. Der höchste Rang aber gebührt der Musik, da sie nicht, wie die übrigen Künste, einzelne Ideen, sondern eine unbewußte Metaphysik, ja eine zweite ideale Welt über der materiellen den Willen selbst abbildet. Kein Wunder, daß bei so hoher Würdigung der Tonkunst die Musiker zu der Schar der Schopenhauerverehrer ein beträchtliches Kontingent stellen. Ein anderes Anziehungsmittel für den größeren Leserkreis bildet die bekannte Würze des Pessimismus.

Wenn die Zweckmäßigkeit der Naturerscheinungen auf die Einheit des Urwillens hindeutet, so beweist das von Schopenhauer mit gleicher Beredsamkeit geschilderte unsägliche Elend des Lebens die Blindheit und Vernunftlosigkeit des Weltgrundes. Leben ist Leiden, die Welt enthält unvergleichlich mehr Pein als Lust, sie ist die schlechteste, die möglich war. In der untertierischen Natur zielloses Streben, in der ani- malischen unersättlicher Trieb zum Genüsse, ein zukünftiges Glück sich

1 Vergl. R. Falckenberg, Artikel „Genie" in Reins Enzyklop. Handbuch der Pädagogik, 1896.

Kunst und Sittlichkeit. 469

vorgaukelnd, das ihm stets versagt bleibt, zwischen Not und Langeweile unaufhörlich hinundhergeworfen, gelangt der Wille niemals zur vollen Befriedigung. Die Lust, der er nachjagt, ist nichts als Beseitigung einer Unlust und erlischt sogleich nach Stillung des Begehrens, um von neuen Bedürfnissen, also neuen Schmerzen abgelöst zu werden. Angesichts des unbeschreiblichen Jammers in der Welt dem Optimismus huldigen, zeugt nicht sowohl von Torheit und Verblendung, als von frevelhafter Gesinnung. Das alte Wort hat recht: Nichtsein ist besser als Sein. Das Elend aber ist die gerechte Strafe für die Urschuld des Individuums, das sich sein Einzeldasein durch intelligible freie Tat selbst gab. Er- lösung von Sünde und Unglück des Daseins ist nur durch einen zweiten Akt der transzendentalen Freiheit möglich, der, weil er in der gänz- lichen Umänderung unseres Wesens besteht, und wegen seines über- natürlichen Ursprungs, von der Kirche mit Recht als Wiedergeburt und Gnadenwirkung geschildert wird.

Die Sittlichkeit hat zur Voraussetzung die pessimistische Einsicht in die Schlechtigkeit der Welt und die Fruchtlosigkeit alles Begehrens und die pantheistische Einsicht in die Unwahrheit der Einzelexistenz und die metaphysische Wesensidentität aller Individuen. Nur durch die doppelte Erkenntnis, daß alles Streben vergeblich, die ersehnte Lust unerreichbar und daß alle Individuen in der Wurzel eins, nämlich Er- scheinungen desselben Urwillens sind, vermag der Mensch sich von der egoistischen Selbstbejahung zu befreien. Dies geschieht für Augenblicke im Mitleid, das als einziges Gegengewicht gegen die natürliche Selbst- sucht die wahrhaft moralische Triebfeder und die Quelle aller Liebe und Gerechtigkeit ist. Der Mitleidige erkennt im andern sich selbst wieder und fühlt dessen Leiden als sein eigenes. Höher aber als die vulgäre Tugend des Mitgefühls mit fremden Schmerzen steht die gänz- liche Willensv er n einung, von der die christlichen Asketen und morgenländischen Büßer erhebende Beispiele geben. Hier hört die vom Einzelnen und Nichtigen zum Ganzen und Echten hingewandte Er- kenntnis auf, Beweggrund des Wollens zu sein, und wird Beschwichtigungs- mittel, der Intellekt verwandelt sich aus einem Motiv in ein Quietiv und rettet den sich an das All Hingebenden aus dem Sturm der Leiden- schaften in den Frieden der Erlösung vom Dasein. Die Willenslosigkeit, die Resignation ist Heiligkeit und Seligkeit in einem. Für den, der den Willen in sich ertötet hat, ist der bunte täuschende Traum der Erscheinung verschwunden, er lebt in dem Äther der wahren Wirklich- keit, die für unsere Erkenntnis ein leeres Nichts („Nirwana"), aber (als das unfaßliche, bei Aufhebung des Willens übrig bleibende letzte Ansich) doch nur ein relatives relativ auf die Erscheinung -r- Nichts ist.

Mit den für seinen Determinismus unbequemen Tatsachen des Gefühls der Verantwortlichkeit und des strafenden Gewissens findet sich

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Schopenhauer.

Schopenhauer so ab, daß er beide sich nicht auf die einzelne Tat und den empirischen Charakter, sondern auf den unteilbaren Akt des intelli- giblen Charakters beziehen läßt. Die Gewissensbisse klagen mich nicht darüber an, daß ich so gehandelt habe, wie ich bei meinem Charakter und den gegebenen Motiven handeln mußte, sondern daß ich so bin, wie ich mich in jenen Handlungen offenbare. Operari sequitur esse. Mein Handeln folgt aus meinem Sein, mein Sein habe ich mir selbst freigewählt, und nur eine neue Tat der Freiheit vermag es umzu- schaffen.

Wenn Schopenhauer sich gern auf die Übereinstimmung seiner Lehre mit der der ältesten und vollkommensten Religionen beruft, so liegt der Gedanke im Hintergrunde, daß die Religion, die aus dem- selben metaphysischen Bedürfnisse wie die Philosophie erwachse und der großen Masse, der es an Muße und Befähigung zum Philosophieren fehle, jene ersetze, als Metaphysik des Volkes die nämlichen Grund- wahrheiten, welche der Philosoph in Form des Begriffs darbietet und auf Vernunftgründe stützt, in das Gewand des Mythus und der Allegorie kleidet und unter den Schutz einer äußeren Autorität stellt. Wo man diesen Charakter der Religion verkennt und, was symbolisch gemeint ist, als buchstäbliche Wahrheit nimmt (nicht bloß die Supranaturalisten, auch die Rationalisten mit ihren verflachenden Deutungen gehen von dieser unbilligen Forderung aus), wird sie der schlimmste Feind der wahren Philosophie. Am Christentum sind unserem Philosophen besonders die Dogmen der Erbsünde und der Erlösung, sowie die Mystik und Askese sympathisch. Für die schlechteste Religion erklärt er wegen seines Opti- mismus und abstrakten Theismus den Islam, für die beste die buddhi- stische, weil sie idealistisch, pessimistisch und atheistisch ist.

Auch über die Geschichte denkt er pessimistisch. Den allgemein behaupteten Fortschritt des menschlichen Geschlechts verneint er: die Menschheit ist unveränderlich, wenigstens in moralischer Beziehung bleibt sie sich stets gleich. Die Geschichte hat nur die Bestimmung, daß ein Volk aus seiner Vergangenheit sein eigenes Wesen erkennen lernt, so wie auch der Einzelne sich selbst nur aus den Handlungen erkennt, die er vollzogen hat. Die Staatengeschichte ist ein eintöniges Einerlei, eine ewige Wiederholung desselben Dinges in mannigfachen Formen.

Erst nach dem Erscheinen der zweiten Auflage seines Hauptwerkes hat Schopenhauer in wachsendem Maße die von der Ungeduld seines Ehrgeizes viel früher erwartete Genugtuung erlebt, seine Philosophie ernstlich beachtet zu sehen. Ein eifriger Apostel erstand ihm in Julius Frauenstädt (f 1878; Briefe über die Schopenhauersche Philosophie 1854, Neue Briefe über die Schop. Philos. 1876), der, anfangs Hegelianer, aus der Lehre des Meisters den Pessimismus zu entfernen versucht. Wie Ed. v. Hartmann, von dem noch später zu handeln ist, will Julius

Nietzsche. 47 1

Bahnsen' Schopenhauersche mit Hegeischen Elementen verbinden, während der Weltreisende C. Peters (Willenswelt und Weltwille 1883) nach anderer Seite Berührungspunkte mit dem erstgenannten zeigt. Von jüngeren Mitgliedern der Schule nennen wir Paul Deußen in Kiel (geb. 1845; Die Elemente der Metaphysik 1879, 3- ^^A- 1902) und Ph. Mainländer (Pseudonym für Philipp Batz, 1841 76; Philosophie der Erlösung 1876, 3. Aufl. 1894; über ihn Fritz Sommerlad in der ZPhKr. Bd. 112, 1898 und in VKSt. Bd. 3, 1899). Wie erwähnt, hat Schopenhauers Lehre auch auf Künstlerkreise 2 Anziehungskraft ausgeübt. Richard Wagner (1813 83; Gesammelte Schriften und Dichtungen, neun Bände 1871 1873, zehnter Band 1883; dritte Auflage 1897 bis 1898; Nachgelassene Schriften 1895), dessen frühere ästhetischen Schriften (Das Kunstwerk der Zukunft 1850, Oper und Drama 1851) den Einfluß Feuerbachs verraten, bekennt sich in den späteren („Beethoven" 1870; „Religion und Kunst", im dritten Jahrgang der Bayreuther Blätter 1880) zum Standpunkt Schopenhauers, nachdem er bereits vor der Bekannt- schaft mit dessen Werken in dem „Ring des Nibelungen" einer der Schopenhauerschen nahe verwandten Weltanschauung dichterischen Aus- druck geliehen. Über ihn Fr. v. Hausegger, Wagner und Schopen- hauer 1878, 2. Aufl. 1891; Hugo Dinger, R. Wagners geistige Ent- wickelung, Bd. i, 1892. Dem Bayreuther Kreise steht nahe Malwida von Meysenbug in Rom (1816 1903): Memoiren einer Idealistin 1876, 4. Aufl. 1899; Der Lebensabend einer Idealistin 1898, 4. Aufl. 1903; Individualitäten 1 90 1 .

Zu den verständnisvollsten Verehrern des Frankfurter Philosophen und des Bayreuther Dramatikers gehörte in seiner ersten Periode Friedrich Nietzsche. Er wurde am 15. Oktober 1844 als der Sohn eines Pfarrers in Röcken bei Lützen geboren, verlor fün^ährig den Vater, erhielt seine GA'mnasialbildung in Schulpforta, besuchte seit 1864 die Universitäten Bonn und Leipzig und wurde 1869 auf Fr. Ritschis Empfehlung noch bevor er promoviert worden als Professor der klassischen Philologie nach Basel berufen, wo er sich mit Jakob Burck- hardt und dem Thei:)logen Overbeck befreundete. Nach zehnjähriger Wirksamkeit legte er diese Stelle wegen eines Augenleidens nieder und verbrachte die Sommer im Engadin, die Winter an der Riviera, in den

1 Bahnsen (1830 81): Beiträge zur Charakterologie 1867; Zur Philosophie der Geschichte 1872; Das Tragische als Weltgesetz 1877; Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt, Prinzip und Einzelbewährung der Realdialektik 1880—81.

2 So auch auf den Dichter Robert Hamerling (1830 89): Atomistik des Willens 1890. Dei eine Allwille verendlicht sich, ohne sich dadurch zu teilen, in vielen Atomkräften oder Willeusmonaden. Das Bewußtsein eines höheren Einzel- wesens ist ein Summationsphänomen, in welchem die Bewußtseine seiner Elemente zu einem Gesamtbewußtsein verschmelzen.

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Nietzsche.

Ruhepausen der Krankheit emsig schaffend, bis er Januar i88g in Geistesumnachtung verfiel. Er fand Pflege bei seiner Mutter in Naum- burg a. S., seit deren Tode 1897 bei seiner Schwester in Weimar und starb am 25. August 1900. Nach VeröffentUchung einiger philologischer Abhandlungen (zur Quellenkunde des Laertius Diogenes u. a.) trat Nietzsche mit der unklaren aber geistvollen „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" 1872 hervor, der vier Stücke Unzeitgemäße Betrachtungen 1 1873 76 folgten. Sie sind ein Aufruf zur Umkehr von den Irrwegen der durch die Erwerbenden, den Staat, die eleganten Schriftsteller und die Gelehrten, insbesondere die Philosophieprofessoren verfälschten modernen Kultur, welche die Menschen, statt einfach und ehrlich, feig und verlogen, zu selbstgefälligen „Bildungsphilistern" gemacht habe. In den Schriften seit 1878 ^ gibt sich Nietzsche als Voltairianer und Positivist. Wiederum ein andrer Geist, der der Renaissance, weht durch das klassische Werk der letzten Periode, den dichterisch hervor- ragenden Zarathustra. Man hat demnach bei ihm drei Entwicklungs- phasen zu unterscheiden: eine ästhetische Jugendperiode (romantischer Pessimismus, bis 1876), in der er unter Anlehnung an Schopenhauer und Wagner in der Kunst das Höchste' erblickt; eine aufklärerisch intellek- tualistische Übergangszeit (metaphysikfeindlicher, utilitarischer Optimismus), in der die Erkenntnis der Wahrheit als das einzige Ziel hingestellt

1 D. Strauß, der Bekenner uud der Schriftsteller; Vom Nutzen und Nachteil der Historie fürs Leben; Schopenhauer als Erzieher; R. Wagner in Bayreuth.

- Menschliches, Allzumenschliches, ein Buch für freie Geister 1878 (den zweiten Band dieses Werkes bilden: Vermischte Meinungen und Sprüche 1879 und Der Wanderer und sein Schatten 1880); Morgenröte, Gedanken über die menschlichen Vorurteile 1881. Die fröhliche Wissenschaft 1882; Also sprach Zarathustra, drei Teile 1883 84 (der vierte Teil 1885 resp. 1892); Jenseits von Gut und Böse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft 1886; Zur Genealogie der Moral 1887; Der Fall Wagner, ein Musikanten-Problem 1888; Götzendämmeruug, oder wie man mit dem Hammer philosophiert 1889. Von dem geplanten Hauptwerke „Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwertung aller Werte" ist nur der erste Teil (1888) zur Vollendung gelangt: Der Antichrist, Versuch einer Kritik des Christentums, ge- druckt im achten Bande der Werke 1895; Studien und Fragmente zum Hauptwerk (darunter zu einem Kapitel „Physiologie der Kunst") füllen den fünfzehnten Band der Werke 1901. Die Gesamtausgabe der Werke zerfällt in zwei Abteilungen. Die erste (Bd. I 8, Leipzig, C. G. Naumann 1895) bringt das schon Gedruckte in neuen Auflagen und außerdem im achten Bande Gedichte, den Antichrist und die ebenfalls 1888 entstandene Schrift Nietzsche contra Wagner (sämtliche Abschnitte derselben sind früheren Werken entnommen). Die zweite Abteilung, von der bis jetzt Bd. 9 bis 13 und 15 (1896 1903) vorliegen, bringt bisher ungedruckte Schriften und Ent- würfe (Vorarbeiten und Nachträge, Bruchstücke und einzelne Gedanken) aus den Jahren 1869—72, 72—76, 76—80, 81 86, 82—88. Gedichte und Sprüche 1898. Briefe, herausgeg. von Elis. Förster-Nietzsche mit Peter Gast (pseudonym für Heinrich Köselitz) u. a., 3 Bände, Berlin 1900 05. Französische Übersetzung der Werke von H. Albert, englische von A. Tille.

Nietzsche. 473

wird; und eine antichristliche Periode des Kraftnaturalismus, der Herren- moral mit dem Ideal der Züchtung des Übermenschen. Wer weiß, welche weiteren Wandlungen, Losreißungen und Selbstüberwindungen das tragische Geschick des hochbegabten Mannes abgeschnitten hat. Sein unruhiger, in jähem Wechsel von Vergötterung zu Haß und Verachtung überspringender Geist gleicht einem Weibe, das alle paar Jahre mit einem neuen Ideal durchgeht. Trotz solchen Stimmungs- und Überzeugungs- umschlags („ich habe mich zweimal überlebt"; „ich habe das Talent nicht, treu zu sein"; für das Schönste habe ich oft „einen grimmigen Rückblick, weil es mich nicht halten konnte") sind jedoch bestimmte Tendenzen den drei Perioden gemeinsam: das Problem einer neuen Kultur; der Philosoph ein Richter und Gesetzgeber des Lebens, befugt, alte Werte umzuwerten; die Neigung zur Paradoxie; die ungeschichtliche Denkart; der mit dem Geniekultus zusammenhängende Individualismus oder um ein von Nietzsche selbst akzeptiertes Schlagwort zu gebrauchen der aristokratische Radikalismus, die Verwerfung der sozialistischen Gleichmacherei (Zweck der Welt und Aufgabe der Menschheit ist nicht das grüne Weide-Glück der allgemeinen Wohlfahrt, sondern die Erzeugung bedeutender Menschen; das Volk nur ein Umschweif der Natur, zu sechs, sieben großen Männern zu kommen). Den lebhaftesten Widerspruch erfuhr Nietzsches naturalistische Ethik. Der Grundtrieb des Lebendigen ist nicht der Trieb der Selbsterhaltung, sondern der Wille zur Macht; Leben ist wesentlich Verletzung, Unterdrückung, Ausbeutung, Überwälti- gung des Fremden und Schwächeren. Die herrschende, die christliche (und die schopenhauerische) Sittenlehre des neminem laedere, der Nächsten- liebe und der Selbstverleugnung ist lebensfeindlich und widernatürlich, eine „Sklavenmoral", welche die Menschen unmännlich und klein macht, den Helden in unsrer Seele tötet; das Mitleid erhält das Schwache, das zugrunde gehen sollte. Was die Herdenmenschen (die viel zu Vielen, die Niedrigen und Schlechten) bös nennen, das Starke, ist das Gute („das Böse ist des Menschen beste Kraft"; gut ist alles, was die Macht im Menschen erhöht, schlecht alles, was aus der Schwäche stammt); die männlichen Instinkte, das Feindselige, Gewalttätige, Raubtierartige, Kriegs- und Siegesfrohe, sind die echten und ursprünglichen Werte. ^ Werdet

1 Eine kurze, treffende Kritik in Frieda Freiin von Bülows Roman „Abend- kinder" (190x3, S. 390 391), Worte Julianens: „Wozu den Starken das Evangelium der Kraft predigen ? Sie kennen es mehr als gut. Und den Schwachen hilft es erst recht nichts. Einfachheit und Güte tut uns not als Korrektur des triebhaften Egoismus, das Andere kommt von selbst. Nein, dieser ganze wundervolle Aufbau ist nur der trotzige Versuch eines zum Leiden verdammten Titanen, seinen Abend in Morgen und seine Nacht in Tag zu verkehren. Und so ragtet er sich selbst aber nicht Andere." Die „Idealistin" M. v. Meysenbug urteilt: Der Wille zur Macht ist kein Prinzip einer höheren Lebensauffassung. Er ist auf den niedrigen Kultur-

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Nietzsche.

hart! Die Forderung einer Moral für alle ist eine Beeinträchtigung gerade der höheren Menschen. Diesen Standpunkt als Immoralismus tadeln ist insofern ungerecht, als von der vornehmen Seele (zu deren Wesen allerdings der Egoismus gehört und der sich die andern opfern müssen) verlangt wird, daß sie sich selbst beherrsche und nach ihrem Werke, nicht nach Glück trachte. Krankhaft erscheint an Nietzsche vor allem der feministische Zug zum Harten und Grausamen. Als Ersatz für den zerstörten Glauben an Gott, das Jenseits, das Übermenschliche, bietet Nietzsche den Glauben an den Übermenschen, die Fernstenliebe, die Arbeit für das Kinderland: aufwärts zur Überart! Der Mensch ist kein Zweck, sondern eine Brücke, ein Übergang, ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Alle Wesen schufen etwas über sich hinaus : und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein? Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter und eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein. Der Übermensch ist der Sinn der Erde. „Meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden. Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht."

Vergl. den schönen Essay „Fr. X. der Künstler und der Denker", von Alois RiEHL (Frommanns Klassiker der Philos. Bd. 6, 1897, dritte Aufl. 1901), der vor- trefflich ergänzt wird durch das Buch von Theob. Ziegler (Vorkämpfer des Jahr- hunderts Bd. i) 1900. Ferner E. Horneffer, Vorträge über N. 1900, 4. Aufl. 1903; Ders., N.s Lehre von der ewigen Wiederkunft 1900; Ed. v. Hartmann, Nietzsches neue Moral (Preuß. Jahrbücher, Mai) 1S91, aufgenommen in die Ethischen Studien; H. Kaatz, Die Weltanschauung N.s, 1892 93, neue Aufl. 1899; L.Stein, N.s Welt- anschauung 1893; W. Weigand, N., ein psychologischer Versuch 1893; Lou Andreas-Salome, N. in seinen Werken 1894; E. Kretzer, N. 1895; R. Steiner, N., ein Kämpfer gegen seine Zeit 1895; Elis. Förster-Nietzsche, Das Leben Fr. N.s, Bd. I 1895, Bd. II I. Abt. 1896; Georg Simmel, N., eine moral-philosophische Silhouette (ZPhKr., Bd. 107, S. 202 f.) 1896; R. M. Meyer, Der Kampf um den Einzelnen (D. Rundschau, Jahrg. 22) 1896; O. RiTSCHL, N.s Welt- und Lebensan- schaiuing 1896; F. TÖNNIES, Der Nietzsche-Kultus 1897; J. K. Wilhelmi, Carlyle u. Nietzsche 1897; H. Gallwitz, N., ein Lebensbild 1898; W. Waldmann, N. 1898; E. H. Schmitt, N. an der Grenzscheide zweier Welt.alter 1898; H. Lichtenberger, Die Philos. N.s, übers, von El. Förster-Nietzsche 1899; Ed. Grimm, Das Problem N.s 1899; G. TiENES, N.s Stellung zu den Grundfragen der Ethik genetisch darge- stellt (Erlanger Diss. ; Berner Studien Bd. 17) 1899; J. Zeitler, N.s Ästhetik 1900; E. L. Fischer, N. 1901; P. Deussen, Erinnerungen an N. 1901 ; H. Leser, Zur Würdigung N.s (ZPhKr., Bd. 118) 1901; O. Stock, N. der Philosoph und der Pro- phet 1901; Hans Belart, N.s Ethik 1901 ; H. Vaihinger, N. als Philosoph 1902 (V. unterscheidet sieben Tendenzen bei N., die er aus Einem Grundprinzip ableitet:

stufen einfach das Recht*des Stärkeren und auf den höheren die Klippe, an welcher jede wahre Größe scheitert, wie es das Beispiel Napoleons I. zeigt. Das iingestörte Recht freier Entwickelung ist ein solch höheres Prinzip.

Italien. 475

„N.s Lehre ist positiv gewendeter Schopenhauerianismus unter dem Einfluß des Darwinismus"); P. J. MÖBlus, Über das Pathologische bei N. 1902; Friedr. Rittel- meyer, N. und das Erkenntnisproblem 1903; Ders., N. und die Religion 1904; Raoul Richter, N., sein Leben und sein Werk 1903; Richard Oehler, N. und die Vorsokratiker 1904; A. Drews, N.s Philosophie 1904.

Fünfzehntes Kapitel. Das Ausland.

I. Italien.

Gegen die in Italien weitverbreitete, noch von Sig. Gerdil (1718 bis 1802) im Sinne des Malebranche vertretene cartesianische Philosophie als eine ungeschichtliche Weltansicht erhob seine Stimme der kühne und tiefe Schöpfer der Geschichtsphilosophie Giambattista Vico^ (1668 bis 1744; seit 1697 Lehrer der Rhetorik an der Universität Neapel). Die leitenden Gedanken sind diese: Der Mensch macht sich selbst zur Richtschnur des Universums, beurteilt das Unbekannte und Fernliegende nach dem Bekannten und Gegenwärtigen. Der freie Wille des Einzelnen lehnt sich an die aus einem allgemein menschlichen Instinkte unreflek- tiert entstandenen Urteile, Sitten und Gewohnheiten des Volkes an. Gleichförmige Ideen bei einander unbekannten Nationen haben gemein- same Motive des Wahren. Die Geschichte ist die Entwickelung des menschlichen Wesens; es herrscht in ihr weder der Zufall noch ein Fatum, sondern die gesetzgeberische Macht der Vorsehung, kraft welcher die Menschen aus eigener Freiheit die Idee der Menschennatur fort- schreitend verwirklichen. Der allgemeine Gang der Zivilisation ist der, daß die Bildung ihren Sitz aus den Wäldern und Hütten in die Dörfer, die Städte, endlich die Akademien verlegt; die Natur der Völker ist zuerst roh, dann streng, allmählich wird sie mild, ja weichlich, endlich ausgelassen; die Menschen empfinden zuerst nur das Notwendige, weiter- hin beachten sie das Nützliche, das Bequeme, das Gefällige und An- mutige, bis der aus dem Sinn fürs Schöne entsprungene Luxus in törich- ten Mißbrauch der Dinge ausartet. Das Altertum zerlegt Vico in drei Zeitalter: die göttlichen (Theokratie), die heroischen (Aristokratie), die menschlichen (Demokratie und Monarchie) Zeiten. Derselbe Gang der Dinge wiederholt sich bei den Völkern der neueren Zeit: der patriarcha- lischen Herrschaft des phantasie vollen, mythenschaffenden Orients ent-

^ Vico : Grundsätze einer neuen Wissenschaft von der gemeinsamen Natur der Völker 1725, ins Deutsche übersetzt von Weber 1822; Werke in 6 Bcänden heraus- gegeben von Gius. Ferrari 1835 37' "^^^^ Ausgabe 1853 f. Über ihn K. Werner 1877 und 1879.

476

Italien.

sprechen die geistlichen Staaten der Völkerwanderung, der altgriechischen Adelsherrschaft das Ritter- und Räubertum der Periode der Kreuzzüge, der Republik und der Monarchie des späteren Altertums die moderne Zeit, die auch den Bürger und Bauer an der allgemeinen Gleichheit teil- nehmen läßt. Wäre nicht die europäische Bildung nach Amerika verpflanzt worden, so würde sich dort das gleiche dreiaktige Schauspiel der mensch- lichen Entwickelung abspielen. Die Dreiteilung führt Vico auch bei Be- trachtung der Sitten, Rechte, Sprachen, Charaktere usw. durch.

Wenn Vico die Hegeische Geschichtsbetrachtung antizipiert, zeigt sich Antonio Genovesi (1712 1769), der noch zu des ersteren Leb- zeiten an der gleichen Universität Neapel lehrte, von einer Vorahnung der Kantischen Kritik beseelt. ^ Leibniz und Locke schätzend, von jenem den Begriff" der Monade, von diesem die Unerkennbarkeit der Substanz sich aneignend, gelangt er nach brieflichen Äußerungen zu der Überzeugung, daß die sinnlichen Körper nichts als Erscheinungen intelligibler Einheiten, jedes Wesen für uns eine Tätigkeit sei, deren Substrat und Grund uns unbekannt bleibe, Selbstbewußtsein und Kenntnis äußerer Eindrücke uns nur Phänomene darbieten, durch deren Bear- beitung wir die intellektuellen Welten der Wissenschaften hervorbringen. Im übrigen rät Genovesi seinen Freunden: studiert die Welt, pflegt Sprachen und Mathematik, denkt etwas mehr an die Menschen, als an die Dinge über uns und überlaßt die metaphysischen Grillen den Mön- chen! Seine Landsleute verehren in ihm den Mann, der zuerst die Ethik und Politik in den philosophischen Unterricht einreihte und auf dem Katheder wie in seinen Schriften sich des Italienischen bediente: eine Nation, meinte er, deren wissenschaftliche Werke nicht in ihrer eigenen Sprache abgefaßt sind, sei barbarisch.

Der Condillacsche Sensualismus gewann von Parma aus Einfluß auf Melchiore Gioia (1767 1828; Statistische Logik 1803, Ideologie 1822) und Giandomenico Romagnosi (1761 1835; Was ist der gesunde Geist? 1827), jedoch nicht ohne von beiden erheblich modifiziert zu werden. Die Bedeutung dieser Männer liegt übrigens mehr auf sozial- philosophischem als erkenntnistheoretischem Gebiete.

Von den drei größten italienischenPhilosophen des XIX. Jahrhunderts: Galluppi, Rosmini, Gioberti, steht der erstgenannte dem Kantischen Standpunkt näher, als er selbst es worthaben will. Pasquale Galluppi^

1 Für die folgende Darstellung wurde eine von Dr. J. Mainzer (f 1892) uns freundlichst zur Verfügung gestellte Übersetzung des Schlußabschnittes von Fran- cesco FiORENTlNOs Handbuch der Geschichte der Philos. 1879 81 benutzt. Vergl. von demselben Verfasser: Die zeitgenössische Philos. in Italien 1876. Ferner Bona- TELLi: Die Philos. in Italien seit 1815, ZPhKr. Bd. 54, 1869, S. I34f., Karl Werner: Die italienische Philos. des XIX. Jahrb., 5 Bände, 1884 86 und LuiGl Credaro in der 9. Auflage des Überweg-Heinze, § 63 70.

- Galluppi: Philosophischer Versuch über die Kritik der Erkenntnis i8i9ff.,

I

i

Galluppi, Rosmini. 477

(1770 1846, seit 1831 Professor in Neapel) bekennt sich zum Prinzip der Erfahrung, faßt diese jedoch nicht als das sinnlich Gegebene, sondern als die Verarbeitung desselben durch die aus der Tätigkeit des Geistes hervorgehenden synthetischen Beziehungen (rapporti) der Identität und des Unterschiedes. Der Ansicht Galluppis, daß einige Beziehungen ob- jektiv, andere subjektiv seien, treten entgegen Vincenzo de Grazia (Versuch über die Realität des menschlichen Wissens 1839 1842), der alle Beziehungen für objektiv, und Ottavio Colecchi (f 1847; Philo- sophische Untersuchungen 1843), der alle für subjektiv erklärt. Nach de Grazia ist das Urteil ein Beobachten, nicht ein Verknüpfen, es findet die in den Daten der Empfindung enthaltenen Beziehungen auf, entdeckt sie, aber produziert sie nicht. Colecchi führt die Kantischen Kategorien auf zwei, Substanz und Ursache, zurück. Testa und C. Cantoni^ sind Kantianer; auch Feiice Tocco hat Kantstudien 1881 veröffentlicht. Barzellotti hat über Schopenhauer, Faggi über Hartmann geschrieben. Antonio Labriola (1843 1904, seit 1874 Professor in Rom), im Hegelianismus aufgewachsen, hat sich dem Marxismus zugewandt [Del socialistno 1 889, Socialis?ne et philosophie 1 899).

Antonio Rosmini-Serbati^ (geb. 1797 zu Roveredo, gest. 1855 in Stresa) betrachtet die Erkenntnis als das gemeinschaftliche Produkt von Sinnlichkeit und Verstand, jene liefert die Materie, dieser die Form. Die Form ist eine einzige: die allem Urteilen vorangehende, nicht von mir stammende, angeborene, durch unmittelbare innere Wahrnehmung erfaßbare Idee des Seins (essere ideale, ente universale^ Die reinen Be- grifife (Substanz, Ursache, Einheit, Notwendigkeit) entstehen dadurch, daß

Vorlesungen über Logik und Metaphysik 1832 ff., Philosophie des Willens 1832 ff. ; Über Fichtes System oder Betrachtungen über den transzendentalen Idealismus und den absoluten Rationalismus 1841. Durch die Briefe über die Geschichte der Philo- sophie von Descartes bis Kant 1827, in den späteren Ausgaben bis Cousin, wurde er für sein Vaterland der Schöpfer dieser Disziplin.

1 Cantoni: Em. Kant, 3 Bde., 1879 84; viel benutzt wird sein Elementarkursus derPhilos., dessen dritter Teil, ein Kompendium der Geschichte der Philos., in 5. Aufl. 1897 vorliegt.

2 Rosmini: Neuer Versuch über den Ursprung der Ideen 1830; Prinzipien der Moralphilosophie 1831; Rechtsphilosophie 1841. Deutsch ist erschienen ,, Rosminis philosophisches System" nach der italienischen Ausgabe von 1850 übersetzt, Regens- burg 1879. Hier werden unterschieden Wissenschaften der Anschauung: Ideologie und Logik, der Wahrnehmung: Psychologie und Kosmologie, des Schlusses: Onto- logie (nebst natürlicher Theologie) und Deontologie. Der zweite Band von Paolis Lebensbeschreibung des Rosmini 1880 84 enthält eine Bibliographie. Gio- berti: Einführung in das Studium der Philosophie 1840; Die Irrtümer Rosminis 1842; gleichzeitig Über das Schöne, Über das Gute (Grundzüge eines Systems der Ethik, deutsch von K. SUDHOFF, Mainz 1844); Protologie, herausgegeben von Massari 1857. Über Rosmini und Gioberti siehe R. Seydel in der ZPhKr. (Bd. 34 u. 35) 1859 und Giov. Gentile, Pisa 1898.

478 Italien: Gioberti.

die reflektierende Vernunft jene generelle Seinsidee auseinanderlegt; die gemischten Ideen (Raum, Zeit, Bewegung; Körper, Geist) dadurch, daß der Verstand sie auf die sinnliche Erfahrung anwendet. Der allge- meine Seinsgedanke und die besonderen Existenzen sind dem Sein nach identisch, dem Modus des Seins nach aber verschieden. In der post- humen Theosophie 1859 f- ^^ßt Rosmini das allgemeine Wesen seine Bestimmungen nicht mehr von außen empfangen, sondern aus seinem eigenen Innern mittels einer apriorischen Entwickelung hervorbringen. Vincenzo Gioberti ^ (geb. 1801 zu Turin, gest. 1852 zu Paris) wird als Patriot mit Fichte, nach seiner Denkrichtung mit Spinoza verglichen. Er will an die Stelle des von Descartes aufgebrachten, zum Skeptizismus führenden „Psychologismus" Rosminis den Ontologismus setzen, der allein Wissenschaft und katholische Religion wahrhaft zu versöhnen ver- möge. Durch unmittelbare Anschauung (deren Inhalt Gioberti in die Formel faßt: „Das Sein schafft die Existenzen") erkennen wir das Ab- solute als den schöpferischen Grund zweier Reihen, der des Gedankens und der der Realität. Rosminis und Giobertis Bemühungen, die Vernunft mit dem kirchlichen Glauben in Einklang zu bringen, werden heftig be- kämpft von Gius. Ferrari (181 1 76) und Aus. Franchi^ (1820 95), während sich Franc. Bonatelli (Gedanke und Erkenntnis 1864, Bewußt- sein und innerer Mechanismus 1872) und Ter. Mamiani (1800 85; Bekenntnisse eines Metaphysikers 1865) in einer den platonisierenden Anschauungen der erstgenannten Denker verwandten Richtung bewegen. Die von Mamiani 1870 ins Leben gerufene Zeitschrift Filosofia delle scuole italiane wurde seit 1886 von Luigi Ferri (1826 95, seit 187 1 Professor in Rom) als Rivista italiana di filosofia fortgesetzt; diese er- scheint jetzt unter der Leitung von Cantoni und Juvalta als Rivista filosofica.

Die thomistische Lehre zählt in Italien, besonders bei den Jesuiten, viele Anhänger, von denen M. Liberatore, P. Taparelli und Sanseverino genannt sein mögen. Auch die Hegeische Philosophie hat dort (nament- lich in Neapel) Anklang gefunden. Ihr huldigen Vera, Spaventa, P. Ceretti, P. d'Ercole, Fiorentino, Mariano, Ragnisco und Masci. Dem Positivismus diente die von Morselli gegründete Rivista di filosofia scientifica 1881 f., an deren Stelle // pensiero italiano getreten ist ; eine verwandte Tendenz verfolgte E. Caporalis La imova scienza 1884 f Pietro Siciliani (Siil rinnovamento della filosofia positiva in Italia 1871) läßt mit Vico die dritte, die kritische Periode der Philosophie anheben, durch welche die Schola- stik gestürzt und die Vernunft zur Autorität gemacht wird, und gründet

1 S. Note 2 auf S. 477.

2 Franchi (Boiiavino) brach 1849 mit der katholischen Kirche, zu der er iS zurückkehrte.

Frankreich.

479

seine Lehre auf Vicos Formel: Konvertierung (Umsetzung) des verum mit dem factum und umgekehrt. Später hat er sich dem vormals be- kämpften Positivismus angenähert, von dessen Vertretern noch erwähnt seien: Rob. Ardigo in Pavia (La psicologia come scienza positiva 1870, La morale dei positivisti 1885; Opere filosofiche 1883 f.) und Andrea AngiuUi in Neapel (f 1890; La filosofia e le scuole 1889), welche Stoff und Geist für zwei Erscheinungen desselben Wesens erklären; ferner P. Villari, Gius. Sergi, Giov. Cesca und der Psychiater Ces. Lombroso, das Haupt der positivistischen Strafrechtsschule.

Von psychologischen Arbeiten verzeichnen wir G. Cesca, Über die Existenz von unbewußten psychischen Zuständen, VwPh. Bd. 9, 1885; Ders., Die Lehre vom Selbstbewußtsein, ebenda B. 11, 1887; A. Mosso, Die Ermüdung, deutsch 1892; Guido Villa, Einleitung in die Psychologie der Gegenwart 1899, übers, v. Pflaum 1902.

II. Frankreich.

Von den französischen Philosophen des XIX. Jahrhunderts ^ kann sich keiner an weitreichendem Einfluß, auf das Inland wie das Ausland, mit Auguste Comte, dem Schöpfer des Positivismus (geb. zu Mont- pellier am 19. Januar 1798, gest. zu Paris 5. Sept. 1857) messen, dessen sechsbändiges Hauptwerk: Kursus der positiven Philosophie 1830 1842 erschien. Eine gute Einführung in den Coiirs (dessen Einleitung G. E. Schneider ins Deutsche übertragen hat, Leipzig 1880) gibt der Discours sur l'esprit positif 1844.

Über Comte B. Pünjer, Jahrbb. f. prot. Theol. 1878; R. EüCKEN, Zur Wür- digung Comtes und des Positivismus, Aufsätze zum Zelleijubiläum 1887; Maxim. BrÜTT, Der Positivismus, Programm des Realgymnasiums des Johanneums, Hamburg 1889; H. WÄNTIG, C. u. s. Bedeutung für die Entw. der Sozialwissenschaft, Bd. 2 von MiASKOWSKis Staats- u. sozial wiss. Beiträgen 1895. Paul Barth, Die Philos. der Geschichte als Soziologie I, 1897, S. 23 61. L. Levy-Bruhl, Die Philosophie C.s 1900, übers, v. H. Molenaar 1902.

Comte ist der Schüler des Grafen Saint- Simon (1760 1825, Aus- gewählte Werke 1859; über ihn und seine Schule Janet 1879, Weill 1894, 1896), aus dessen Lehre folgende sechs Punkte bei P. Barth

i Darstellungen der französischen Philosophie des XIX. Jahrhunderts haben Taine [Les philosophes classiques 1857, 7. Aufl. 1895), Janet [La Philosophie fran^aise contemporaine, 2. Aufl. 1879), A. FrancK [Moralistes et philosophes 1872), Ferraz [Ettcdes, 3 Bände, 1877 1887), Felix Ravaisson (186S u. ö., deutsch von EdäI. KÖNIG 1889), J. Borelius (Blicke auf den gegenw.ärtigen Standpunkt der Philos. in Deutschland und Frankreich, deutsch von Jonas 1887), Picavet {Les ideologties 1891), Adam {La Philosophie en France 1894) und Th. Ruyssen (Überweg IV^, § 39 bis 50) gegeben.

480 Frankreich.

(a. a. O. S. 23) als wichtigste Neuerungen angeführt werden: „i. Die Politik ist eine positive Wissenschaft, d. h. eine Wissenschaft der Beobachtung, so positiv wie etwa die Physik. 2. Nicht die Staatsverfassung, sondern der gesamte Zustand der Gesellschaft ist ihr Gegenstand. 3. Es herrscht im Gange der Entwickelung des menschhchen Geistes eine feste Richtung, die inbezug auf die Weltanschauung von der Theologie durch die Metaphysik hindurch immer mehr zur positiven Wissenschaft i, im praktischen Leben von kriegerischer Tätigkeit zu der friedlichen Arbeit führt. 4. Jede Stufe dieser geistigen Entwickelung, jedes philosophische System ist verbunden mit einem politischen System, das darauf gegründet ist. Daneben aber ruht jedes politische System auch auf einer bestimmten Ordnung des Eigentums und der Produktion, die eine bestimmte Klassen- bildung zur Folge hat. 5. Er gibt zum erstenmal eine Skizze der Ge- schichte dieser Klassenbildung, wobei er sich auf Frankreich beschränkt, mit Seitenblicken auf England. 6. Er will so die Geschichte aus der Literatur in die Wissenschaft erheben." Von solchen Gedanken hat Comte die (von ihm selbst freilich später verleugnete) Anregung zur Entwickelung eines bedeutenden sozialphilosophischen Systems empfangen. Die positive Philosophie will dem tausendjährigen Irrtume ein Ende machen, als sei unserer Erkenntnis irgend etwas anderes zugänglich als das Gegebene, die Tatsachen: die Phänomene und deren Relationen. Wir erkennen nicht das Wesen der Erscheinungen, ebensowenig ihre ersten Ursachen und letzten Zwecke, wir erkennen nur durch Beob- achtung, Versuch und Vergleichung die konstanten Beziehungen zwischen den Erscheinungen, die Verhältnisse der Aufeinanderfolge und der Ähnlichkeit der Tatsachen, deren Gleichförmigkeiten man ihre Gesetze nennt. Alles Wissen ist somit relativ, es gibt keine absolute Erkenntnis, denn das innerste Wesen der Tatsachen, desgleichen ihr Ursprung, die Art und Weise, wie sie hervorgebracht werden, ist uns unerforschlich. Wir wissen nur, und zwar durch Erfahrung, daß die Er- scheinung A mit der Erscheinung B unwandelbar verknüpft ist, daß die zweite stets auf die erste folgt, und nennen das beständige Antezedens einer Erscheinung deren Ursache. Wir erkennen nur solche Ursachen, die selbst Phänomene sind. Daß unsere Erkenntnis auf die Sukzession und Koexistenz der Erscheinungen beschränkt ist, verdient nicht als Mangel beklagt zu werden: das einzige uns erreichbare Wissen ist zu- gleich das einzig nützliche, dasjenige, welches uns praktische Gewalt über

1 Hierzu bemerkt Barth: „Diese Abfolge der Zustände des menschlichen Geistes ist eine Ansicht Turgots, die aber von diesem nur gelegentlich, ohne ihr weitere Folge zu geben, ausgesprochen worden ist. Vergl. R. Flint, Philosophy of history in France and Germany, Edinb. u. London 1874, S. Ilßf. [in der Umarbeitung von 1894 S. 286 f.]. Die Einfügung der Abfolge in das Ganze der sozialen Er- scheinungen bleibt Saint-Simons Werk."

A. COMTE. 4g I

die Erscheinungen verleiht. Wenn der Mensch der Ursache nachforscht, so will er die Wirkung sei es beschleunigen oder aufhalten oder nach seinen Wünschen ändern oder wenigstens sie vorherwissen, um dann seine Vorkehrungen darnach zu treffen. Solche Voraussicht und Beein- flussung der Ereignisse aber kann nur auf Grund der Kenntnis ihrer Ge- setze, ihrer Folgeordnung, ihrer phänomenalen Ursachen erlangt werden. Savoir pour prevoir. Obwohl nun das Vorhersehen der Tatsachen das einzige Wissen ist, dessen wir bedürfen, so haben doch die Menschen von jeher noch einem andern, „absoluten" Wissen nachgejagt oder gar gemeint, ein solches zu besitzen, und selbst die Vorläufer der positiven Philosophie, ein Baco und Descartes, waren noch in diesem Vorurteil befangen. Es bedurfte einer langen geistigen Entwickelung, um zu der Einsicht zu gelangen, daß unser Wissen nicht über die Kenntnis der Aufeinanderfolge und des Zusammenbestehens der Tatsachen hinaus- reiche und daß auf die abstrakten Spekulationen dasselbe Verfahren ausgedehnt werden müsse, welches der gewöhnliche [Verstand von selbst bei seinen einzelnen Handlungen anwendet. Anderseits ist die positive Philosophie, so wenig sie Metaphysik sein will, weit entfernt, dem Empirismus das Wort zu reden. Jede isolierte empirische Beobach- tung ist nutzlos und unsicher; Wert und Brauchbarkeit erhält sie erst dann, wenn sie durch eine Theorie bestimmt und erläutert und mit anderen Beobachtungen zu einem Gesetz verknüpft wird: dies macht den Unterschied zwischen den Beobachtungen des Gelehrten und des Laien.*

Dem positiven Stadium einer Wissenschaft, welches da beginnt, wo man die Erscheinungen durch ihre Gesetze zu erklären lernt, gehen zwei andere voraus: ein theologisches, das denselben fingierte persön- liche Mächte, imd ein metaphysisches, das ihnen abstrakte Natur- kräfte unterlegt. Die drei Perioden bezeichnen die Kindheit, die Jugend und das Mannesalter der Wissenschaft.

Die ursprüngliche Weltansicht ist die theologische, welche die Ereignisse der Welt von Willensakten übernatürlicher intelligenter Wesen herleitet. Die rohe Natur auf fassung sieht in jedem einzelnen Dinge ein menschenähnlich beseeltes Wesen; später gewöhnt man sich, eine ganze Klasse von Objekten von einem unsichtbaren Wesen, einer Gottheit,

1 Über Comtes Erkenntnis lehre siehe HÖFFDING II, S. 391 396. „Den Stachel des eigentlichen Erkenntnisproblems hat Comte nicht gefühlt. Er hat es versucht, die positive Erkenntnis zu systematisieren; er stellte sich aber nicht die Auf- gabe, die letzte Grundlage dieser Erkenntnis zu erörtern." „Die verbindende Tätig- keit des Geistes verfolgt er nicht näher, obgleich er sie als fundamental betrachtet: tout se reduit toujotirs a lier!^'- „In welcher Beziehung die Befriedigung des Dranges nach Einheitlichkeit und Einfachheit der Weltauffassung zur positiven Wirklichkeit steht, das untersucht er nicht."

Falckenberg Neuere Philos. V. Aufl. gi

482 Frankreich.

beherrscht zu denken; schließHch weichen die vielen Götter einem einzigen Gotte, der das Universum schafft, erhält, regiert und durch außerordentliche Akte, durch Wunder, in das Getriebe der Ereignisse eingreift. So sind Fetischismus (in seiner höchsten Form Gestirndienst), Polytheismus und Monotheismus die Entwickelungsstufen der theolo- gischen Denkart. In der zweiten, der metaphysischen Periode treten an die Stelle der göttlichen Willensakte Entitäten, abstrakte Begriffe, die man für Realitäten, für das wahrhaft Wirkliche hinter den Erscheinungen hält. Man läßt den Dingen eine Kraft, ein Vermögen, eine verborgene Eigenschaft oder Wesenheit innewohnen, nennt das geheimnisvolle Wesen, welches die Ereignisse lenkt, nicht mehr Gott, sondern „Natur" und stattet diese mit gewissen Neigungen aus, mit einer Furcht vor dem Leeren, einer iVbneigung gegen Sprünge, einer Tendenz zum Besten, einer Heilkraft u. ä. m. Ebendahin gehören die Pfianzenseele des Aristoteles, die Lebenskraft und der Bildungstrieb der neueren Forscher. Endlich das positive Stadium wird erreicht, wenn man alle solche noch immer halb persönlich und willkürlich handelnd gedachten Abstraktionen verläßt und allein durch Beobachtung und Experiment die unabänderlichen und ausnahmslos geltenden Gesetze der Erscheinungen feststellt. Die Naturgesetze selbst aber zu erklären, über- steigt nach Comte die dem menschlichen Wissen gezogenen Grenzen. Der Anfang der Welt liegt jenseit des Wißbaren, der Atheismus ist nicht besser begründet, als die theistische Hypothese, und wenn Comte einen blind wirkenden Mechanismus für minder wahrscheinlich erklärt als einen Weltplan, so ist er sich bewußt, eine bloße Vermutung aus- zusprechen, die sich nie zur wissenschaftlichen Theorie erheben lasse. Ursprung und Ende der Dinge sind unlösbare Fragen, in deren Beant- wortung, solange Menschen denken, noch kein Fortschritt gemacht worden ist. Nur was in der Mitte liegt zwischen den beiden unerforsch- lichen Enden der Welt, ist Gegenstand des Wissens. Die positive „Philo- sophie" aber hat die von den positiven „Wissenschaften" eruierten Ge- setze zu einer Weltanschauung zusammenzuordnen; für den Mangel einer einheitlichen Spitze entschädigt die Gleichheit der Methode auf allen Gebieten.

Es ist nicht nur der menschliche Geist im allgemeinen, der den geschilderten Fortschritt von der theologischen durch die metaphysische zur positiven Denkart zeigt, sondern jede einzelne Wissenschaft durch- läuft jene drei Perioden, nur daß die verschiedenen Disziplinen sich mit ungleicher Schnelligkeit entwickelt haben. Während die eine bereits den Gipfel der positiven Behandlungsart erklommen hat, stecken andere noch tief in der theologischen Anfangsperiode und noch andere befinden sich in dem metaphysischen Übergangsstadium. Noch jetzt bestehen alle drei Entwickelungsphasen nebeneinander und selbst unter den

A. COMTE.

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Gegenständen der entwickeltsten Wissenschaften gibt es solche, die wir fortfahren theologisch zu betrachten; es sind diejenigen, die wir noch nicht zu berechnen verstehen, wie der Wechsel der Witterung oder die Verbreitung von Epidemien. Welche Wissenschaft hat zuerst den posi- tiven Zustand erreicht, und in welcher Reihenfolge sind ihr die übrigen gefolgt? Nach diesem Maßstabe entwirft Comte seine Klassifikation der Wissenschaften, bei der er jedoch nur die von ihm sogenannten abstrakten Wissenschaften berücksichtigt, diejenigen, welche „Vorgänge" im Unterschied von „Gegenständen" behandeln. Die abstrakten Wissen- schaften (wie die Biologie) ergründen die für alle Erscheinungen geltenden allgemeinsten Naturgesetze, aus denen sich noch nicht die bestimmten Erscheinungen, welche uns die Erfahrung zeigt, ableiten lassen, auf Grund deren vielmehr auch eine ganz andere Welt möglich sein würde, wo- gegen es die konkreten (z. B. Botanik und Zoologie) mit den in der Wirklichkeit gegebenen Verbindungen von Phänomenen zu tun haben. Jene verfolgen jedes einzelne von den allgemeinen Gesetzen durch alle seine möglichen Wirkungsweisen, diese betrachten nur die in einem Gegenstande gegebene Vereinigung der Gesetze. So sind Eiche und Eichhörnchen das Resultat sehr vieler Gesetze, sofern die Organismen nicht nur von biologischen, sondern auch von chemischen, physikalischen und mathematischen Gesetzen abhängig sind.

Der abstrakten Wissenschaften zählt Comte sechs und ordnet sie so, daß jede von den Wahrheiten der vorhergehenden abhängt und dazu noch ihre eigenen speziellen hinzufügt, während die erste (allgemeinste und einfachste) gar keine früheren Gesetze voraussetzt, aber von sämt- lichen späteren vorausgesetzt wird. Nach diesem Prinzip zunehmender Besonderung und Verwickelung ergibt sich folgende Stufenleiter oder enzyklopädische Hierarchie der Wissenschaften: i. Mathematik, innerhalb deren die Zahlenwissenschaft als die absolut voraussetzungslose der Geometrie und der Mechanik voraufgeht, 2. Astronomie, 3. Physik (mit fünf Unterabteilungen, von denen der Lehre von der Schwere die erste, der Elektrologie die letzte Stelle gebührt, während die Lehre xon der Wärme nebst der Akustik und Optik in der Mitte stehen), 4. Chemie, 5. Biologie oder Physiologie, 6. Gesellschaftslehre oder (nach der \on Comte herrührenden, übelgebildeten, aber nunmehr eingebürgerten Be- zeichnung) „Soziologie". In dieser durch die wachsende Komplikation und Abhängigkeit ihrer Objekte bestimmten Reihenfolge haben sich die Wissenschaften historisch entwickelt, ehe die Spezialgesetze der kompli- zierteren Wissenschaft erforscht werden können, müssen die allgemeinen Gesetze der einfacheren genau bekannt sein und zugleich ist es rät- lich, im Studium derselben diese Ordnung zunehmender Zusammen- setzung und Schwierigkeit einzuhalten, denn die Bekanntschaft mit den Methoden der elementaren Wissenschaften ist die beste Vorschule für

31*

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Frankreich.

die Bearbeitung der höheren.^ In der Arithmetik und Geometrie studiert man die Positivität an der Quelle, im soziologischen Geiste findet sie ihre Vollendung. Die Mathematik ist ziemlich früh, die Chemie und die Biologie erst unlängst in das positive Stadium eingetreten, in der höchsten und kompliziertesten Wissenschaft aber kämpft noch immer die metaphysische (negative, liberale, demokratische, revolutionäre) Denk- art gegen den Feudalismus der theologischen. Die Gesellschaftslehre positiv zu machen ist die Aufgabe der zweiten Hälfte des Comteschen WerJces, auf dieses Ziel hin war von Anfang an seine philosophische Tätigkeit gerichtet. Über die Bestrebungen der Nationalökonomie, mit Ausnahme derjenigen des A. Smith, urteilt Comte sehr abfällig und will sie, als auf falschen Abstraktionen beruhend und unfruchtbar, nicht als Vorarbeit zur wissenschaftlichen Soziologie gelten lassen. Die Psycho- logie, die man in der obigen Aufzählung vermissen möchte, soll einen Zweig teils der Biologie, teils der Soziologie bilden und sich ausschließlich der Beobachtung anderer bedienen, vornehmlich der Phrenologie (den drei Seelenvermögen „Herz, Charakter, Verstand" entsprechen drei Regio- nen des Gehirns). Die Selbstbeobachtung, lehrt Comte, indem er aus einer Schwierigkeit eine Unmöglichkeit macht, kann uns höchstens über unsere Gefühle und Leidenschaften, aber gar nicht über unser eigenes Nachdenken belehren, da die Retlexion den Vorgang, auf den sie sich richtet, zum Stillstehen bringt und so ihren Gegenstand vernichtet. Wie vermöchte sich der Geist in zwei Teile zu spalten, einen beobachtenden und einen zweiten, dessen Tätigkeit beobachtet wird? Die einzige Quelle der Erkenntnis ist somit die äußere sinnliche Wahrnehmung. In seiner Politique positive hat Comte später noch eine siebente Grund- wissenschaft, die Ethik oder Anthropologie, hinzugefügt.

Die Soziologie-, deren Erhebung zum Range einer positiven Wissenschaft die Hauptabsicht unseres Philosophen ist, befolgt dieselbe Methode wie die Naturwissenschaften, Befragung und Auslegung der Erfahrung durch Induktion und Deduktion, nur daß sich hier das ge- wöhnliche Verhältnis der beiden Erkenntnismittel umkehrt. Zwischen der unorganischen und der organischen Philosophie, welche beide gleicher-

1 Allerdings droht hierbei die Gefahr des Materialismus, d. h. eines übermäßigen Einflusses der niederen Fächer auf die höheren. Der Biolog z. B. muß sich gegen die Aufsaugung seiner Wissenschaft durch die Chemie wehren, ihn selbst aber trifft der Vorwurf, in der Soziologie alles durch die nur untergeordneten Einflüsse von Klima und Rasse erklären zu wollen. (Der Positivismus, übers, v. RosCHLAU, S. 46 f.)

2 Vergl. Krohn: Beiträge zur Kenntnis und Würdigung der Soziologie, Jahrb. f. Nationalökonomie und Statistik, N. F., Bd. i und 3, 1880 und 1881. Barth macht auf die kurze Zusammenfassung der Comteschen Geschichtsansicht aufmerksam, die sich in der 57. Vorlesung des Cours Bd. 6, p. 409 434 der 3. u. 4. Aufl. (1877) der LiTTREschen x\usgabe findet. Bei Rig-Kirchmann II, S. 405 417.

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maßen den Weg vom Bekannten zum Unbekannten nehmen, besteht der Unterschied, daß bei der ersteren von den Elementen als dem allein unmittelbar Zugänglichen zu dem Ganzen, das aus ihnen zusammengesetzt ist, vorgeschritten wird, bei der letzteren hingegen umgekehrt, denn hier ist das Ganze bekannter als die einzelnen Teile, aus denen es besteht. Daher werden in der Wissenschaft vom Unorganischen die Gesetze der zusammengesetzten Phänomene durch Deduktion (aus den auf induk- tivem Wege entdeckten Gesetzen der einfaclien Tatsachen) gewonnen und durch Beobachtung bestätigt; in der Gesellschaftslehre dagegen werden die Gesetze durch (geschichtliche) Erfahrung gefunden und durch Deduktion (aus der biologisch festgestellten Natur des Menschen) nur nachträglich bewahrheitet. Da die Erscheinungen der Gesellschaft nicht bloß durch die allgemeinen Gesetze der menschlichen Natur, sondern vor allem durch den wachsenden Einfluß der Vergangenheit bestimmt werden, so müssen historische Studien die Grundlage der soziologischen Forschung bilden.

Von den beiden Teilen der Soziologie, der Statik, welche das Gleichgewicht (die Bedingungen des dauernden Bestehens der gesell- schaftlichen Zustände), und der Dynamik, welche die Bewegung (die Gesetze des Fortschritts) der sozialen Phänomene untersucht, ist die erstere im wesentlichen von Aristoteles bereits festgestellt. Der Grund- begriff" der Statik ist der des Konsensus, der tibereinstimmung, Soli- darität oder gegenseitigen Abhängigkeit der Glieder des sozialen Orga- nismus. Alle seine Teile, Wissenschaft, Kunst, Religion, Politik, Industrie müssen gleichzeitig betrachtet werden; sie stehen in so inniger Harmonie und Wechselbeziehung, daß man sicher sein darf, zu jeder bedeutenden Zustandsänderung in einem dieser Teile entsprechende in sämtlichen übrigen als deren Ursachen und Folgen hinzuzufinden; auch wird es dem Gesetzgeber nie gelingen, eine dem allgemeinen Kulturstande wider- sprechende Änderung zu erzwingen. Neben den selbstischen Neigungen wohnt dem Menschen gleich ursprünglich, aber von Haus aus schwächer ein Trieb zur Gemeinschaft inne, der ihn instinktiv, ohne Reflexion auf zu erwartenden Nutzen, die Gesellschaft der Mitmenschen aufsuchen läßt, und ein mäßiger Grad von Wohlwollen. Wie der Altruismus mit dem Egoismus, so liegt die Vernunft nebst dem nur durch Arbeit zu befrie- digenden Drange vorwärtszukommen mit der angeborenen Abneigung gegen geregelte Tätigkeit (zumal geistige Anstrengung) in beständigem Kampfe. Der Charakter der Gesellschaft hängt von der Kräftigkeit der edleren Antriebe ab, nämlich der sozialen Neigungen und der geistigen Lebendigkeit gegenüber den egoistischen Trieben und der natürlichen Trägheit. Die ersteren nähren den fortschrittlichen, die letzteren den konservativen Geist. Die Frauen sind den Männern durch eine stärkere Entwickelung des Mitgefühls und der Geselligkeit ebenso überlegen, als

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sie ihnen hinsichtlich der Einsicht und Vernunft untergeordnet sind. Die Gesellschaft ist eine Gruppe von Familien, nicht von Einzelnen (das Individuum ist eine Abstraktion!), und das häusliche Leben (Herrschaft des Mannes über das Weib, der Eltern über die Kinder) Grundlage, Vorbereitung und Muster für das soziale. Die Familie, das Mittelglied zwischen dem Einzelnen und seiner Gattung, preist Comte als eine Schule der Selbstlosigkeit und billigt die katholische Strenge hinsichtlich der Unlösbarkeit der Ehe. Er bemerkt die schlimmen Folgen der immer weitergehenden Arbeitsteilung, welche den Menschen egoistisch und borniert macht, da sie die soziale Bedeutung der Beschäftigung des Einzelnen, deren Zusammenhang mit dem Wohle der Gesellschaft mehr verhüllt als aufdeckt, ur j I sinnt auf Mittel, denselben zu steuern. Außer einer universalen Jugendbildung verlangt er die Errichtung einer geist- lichen Behörde, welclie den Mitgliedern aller Stände und Berufsarten un- aufhörlich das Interesse des Ganzen zum Bewußtsein bringen, die Er- ziehung leiten und in moralischen und intellektuellen Dingen die gleiche Autorität genießen soll, wie sie in Angelegenheiten ihres Faches den Astronomen zugestanden wird. Sie würde die Stellung einzunehmen haben, welche bisher der Klerus innehatte. ^ Comte denkt sie sich von den positiven Philosophen gebildet, ganz unabhängig von der weltlichen Obrigkeit, dafür jedoch ihrerseits von politischer Macht und Reichtum ausgeschlossen. Die weltliche Macht aber wünscht er in die Hände einer Aristokratie von Kapitalisten gelegt und an die Spitze der herr- schenden Großindustriellen die Bankiers gestellt zu sehen.

Die Dynamik, die Lehre von der zeitlichen Folge der sozialen Vorgänge, operiert mit dem Prinzip der Entwickelung. Der Fortschritt der Gesellschaft, die als ein großes Individuum zu betrachten ist, besteht in dem wachsenden Übergewicht der höheren, humanen Tätigkeiten (Intelligenz und Sympathie) über die niederen, animalischen. Das Men- schentum wird zwar die Herrschaft über die Tierheit in uns niemals vollständig erreichen, aber wir können uns dem Ideal mehr und mehr annähern und haben die Pflicht, diesen Gang der Zivilisation zu unter- stützen. Obwohl das Gesetz des Fortschritts für alle Seiten des geistigen Lebens gilt, für Kunst, Politik und Moral, wie für die Wissenschaft, so ist doch der wichtigste Faktor in der Entwickeluno; des Menschenge-

1 Mit Saint-Simon teilt Comte die hohe Schätzung der katholischen Hierarchie des Mittelalters, die ihm sichtlich bei der Zeichnung der geistlichen Gewalt 'des Zu- kunftsstaates vorschwebt. Der Protestantismus und der Deismus sind ihm sittenge- fährliche Halbheiten, widerspruchsvolle Vermittelungsstandpunkte ohne Lebenskraft. Die gleiche Mißbilligung erfährt der Konstitutionalismus. Nicht unzutreffend heißt es bei HuxLEY (Der wissenschaftliche Geh.ilt des Positivismus 1869; Reden, deutsch V. Fritz Schultze, S. 146, vergl. S. 132): Comtes Ideal ist die katholische Organi- sation ohne die katholische Lehre oder m. a. W. Katholizismus minus Christentum.

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schlechts die Ausbildung des Verstandes als der nicht an sich stärksten (denn ihm gehört kaum ein Viertel des Gehirns), aber lei- tenden Kraft in uns. Geweckt zuerst durch die niederen Bedürfnisse, übernimmt die Intelligenz in zunehmendem Grade die Führung der menschlichen Verrichtungen und gibt den Gefühlen eine bestimmte Richtung. Die Leidenschaften trennen die Menschen und würden, ohne die Leitung der spekulativen Fähigkeit, sich gegenseitig lähmen; was sie zu einer Gesamtkraft vereinigt, ist allein ein gemeinsamer Glaube, eine Idee. Die Idee verhält sich zum Gefühl um ein Gleichnis aus der von uns vielfach benutzten schätzenswerten Schrift über Comte von John Stuart Mill 1865 anzuführen wie der Steuermann, der das Schiff lenkt, zu dem Dampf, der es vorwärts treibt. So ist denn die Geschichte der Menschheit durch die Geschichte der intellektuellen Überzeugungen', und diese wiederum durch die bekannten drei Stadien der Theorien vom Universum bestimmt worden. Mit der Entwickelung von der theologischen zur positiven Denkweise hängt dann weiter der Übergang von der kriegerischen Lebensweise zur industriellen aufs engste zusammen. Wie der religiöse Geist den wissenschaftlichen vorbereitet hat, so hätte sich ohne die Herrschaft des militärischen Geistes die Industrie nicht entwickeln können. Nur in der Schule des Krieges konnten die ersten Gesellschaften lernen, Ordnung einzuhalten; die Sklaverei hatte das Heilsame, daß durch sie dem größeren Teile der Menschheit, trotz ihres Widerwillens, die Arbeit auferlegt wurde. Dem metaphysischen Mittelzustande entspricht hier die politische Herrschaft der Rechtskundigen, während deren der kriegerische Geist sich mehr und mehr auf die Verteidigung beschränkt und dem produktiven Geiste Platz zu machen anfängt, bis dieser endlich zum vollen Siege gelangen und die soziale Forderung des Rechtes aller auf Arbeit und auf geistige Entwickelung erfüllt werden wird. Dies die soziologische Anwendung des Gesetzes der drei Zustände, das Comte im Jahre 1822 entdeckt zu haben behauptet, während er es von Saint-Simon und dieser es von Turgot empfangen hat (s. oben S. 480 •).

In seiner Geschichtsphilosophie gibt Comte die weitere Ausführung dieser Grundsätze und hat selbst von seinen Gegnern das Lob eines achtungswerten Gerechtigkeitssinnes und eines umfassenden Blickes geerntet. Die hier gelegentlich eingestreuten Aussichten und Vorschläge für die Zukunft sind in späteren Schriften (Positivistischer Katechismus 1852,

1 Von ihnen allein empfängt die geschichtliche Bewegung ihre Richtung, während der Wettbewerb und die äußeren Verhältnisse, wie die Naturumgebung, nur ihre Geschwindigkeit beeinflussen. Die Abhängigkeit des sozialen Lebens von der Weltanschauung soll allerdings nur für die theologische und die positive Periode gelten, in der Neuzeit (1300 1789) dagegen umgekehrt die unterste Ent- wickelungsreihe, die industrielle, die Vorherrschaft über die höheren geübt haben.

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deutsch von E. Roschlau 1891; System der positiven Politik', vier Bände 1851 54. Vergl. Pünjer: A. Comtes „Religion der Menschheit" in den Jahrbüchern f. prot. Theologie 1882) zu einer umfassenden Theorie der Wiedergeburt der Gesellschaft ausgearbeitet worden, deren schwärmerische Haltung seine Kritiker veranlaßt hat, die zweite „sub- jektive oder sentimentale" Periode seines Denkens, in der sich der Philosoph in den Hohenpriester einer neuen Religion verwandle, von der ersten objektiven, wissenschaftlichen, gänzlich abzutrennen, obwohl die meisten der als charakteristisch für dieselbe bezeichneten Eigenschaften nur Steigerungen von solchen sind, welche sich bereits an der ersten nachweisen lassen. Unter der Kruste der nüchternsten Forschung pul- sieren von Anfang an mystische und diktatorische Neigungen, und die Wissenschaft galt ihm stets nur als ein Mittel der Menschenbeglückung. Jetzt aber verlangt er zur Erreichung dieses Zieles nicht mehr den selb- ständigen Betrieb der Wissenschaft, sondern allein die gläubige Annahme ihrer Resultate. Der Intellekt soll unter die Botmäßigkeit des Herzens gestellt und nur ein solcher Gebrauch von ihm gemacht werden, der einen direkten Nutzen für die Menschheit verspricht; die Bestimmung des jeweilig dringendsten Problems steht der Priesterschaft zu. Die syste- matische Einheit oder Harmonie des Geistes fordert jene Herrschaft des Fühlens über das Denken und das Handeln. Die positivistische Religion der Humanität, welche „die Liebe zum Prinzip, die Ordnung zur Grundlage und den Fortschritt zum Ziele" hat, ist eine Religion ohne Gott und ohne eine andere Unsterblichkeit als die Fortdauer im dank- baren Gedächtnis der Nachwelt. Die Dogmen der positiven Religion sind wissenschaftliche Sätze. Ihr öffentlicher Kultus, mit neun Sakra- menten und einer großen Zahl jährlicher Feste, gilt dem erhabenen (nicht etwa allmächtigen, sondern wegen seiner Zusammengesetztheit höchst abhängigen, dennoch jedem seiner Teile unendlich überlegenen) Wesen „Menschheit", daneben sind Gegenstände der Verehrung der Raum, die Erde, das Universum und hervorragende Menschen der Vorzeit, deren jedem ein Tag, eine Woche oder ein Monat im positivistischen Kalender geweiht ist. Die Privatandacht besteht in der Anbetung lebender oder verstorbener Frauen als unserer Schutzengel. Die Moral der Zukunft erklärt für das einzig sittliche Motiv der Handlungen das Wohl des An- deren (Altruismus). Comtes letztes Werk, die „Philosophie der Mathe- matik" 1856, ergeht sich in seltsamster Zahlenmystik. Die geschichtliche

1 In dieses Werk sind ältere Abliandlungen Comtes aufgenommen worden, so der Plan des travaux scieniifiqiies nicessaires pour reorganiser la societe 1822 (1824 wiedergedruckt als Poliüque positive)^ die Considerations philosophiques stir les sciences et les savants 1825 und der Discozirs pre liminaire sur l' enseinble dtipositivisme 1848, der letzte deutsch von Roschlau unter dem Titel; Der Positivismus in seinem Wesen und seiner Bedeutung, Leipzig 1894.

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Wirkung, welche Comte durch che späteren Schriften geübt hat, ist ver- schwindend gering neben derjenigen seines Hauptwerkes. Ein Auszug aus demselben von Jules Rig (Pseudonym für Emile Rigolage, 1881, der zweite Band, die Soziologie, in neuer Auflage 1897) ist in einer deutschen Übersetzung von Kirchmann (zwei Bände 1883 84) erschienen. Außer Blignieres und Robinet hat der bekannte Verfasser des Wörter- buchs der französischen Sprache (1863 f.) E. Littre, der hervorragendste seiner Anhänger und Herausgeber seiner sämtlichen Werke (1867 ff.), über Leben und Leistung des Meisters geschrieben (Comte und die positive Philosophie 1863, 3. Aufl. 1877, u. a.). Comtes Schule hat sich in zwei Gruppen gespalten: die Abtrünnigen, welche die subjektive Wendung verwerfen und an der älteren Lehre festhalten, an ihrer Spitze Littre (1801 1881), und die Treuen, d'ie sich bis 1877, wo innerhalb dieser Gruppen abermals eine Trennung von freieren und strengeren Comtianern eintrat, um Pierre Laffite (1823 1903) scharten.' Die Häupter des englischen Positivismus sind Fred. Harrison (geb. 1831) und R. Congreve; auch in Schweden, Brasilien, Chile und anderwärts bestehen positivistische Vereine. Mit selbständigem Geiste ist der Positivismus durch St. Mill und H. Spencer fortgebildet worden.

Über den Entwickelungsgang der französischen Philosophie des XIX. Jahrhunderts sei noch kurz folgendes bemerkt. Gegen den von Cabanis, Destutt de Tracy (s. oben S. 227) und mehreren Physiologen fortgesetzten Condillacschen Sensualismus (die sogenannte „Ideologie") erhob sich eine doppelte Reaktion. Die eine ging aus von der theo- logischen Schule, vertreten durch den „Traditionalisten" Louis de Bonald (Werke 1 8 1 7 f.), Josef de Maistre^ (1753— 1821; Petersburger Abende 182 1) und F. R. de Lamennais (1782 1854), der jedoch nach seinem Bruche mit der Kirche (Worte eines Gläubigen 1834) in dem „Entwurf einer Philosophie" 1841 f nach italienischen und deutschen Mustern ein ontologistisches System ausbildete. Die andere von der spiritualistischen Schule, an deren Spitze Maine de Biran^ (1766

1 Über jene Spaltung vergl. E. Caro, Littre und der Positivismus 1883 und Herm. Gruber (S. J.), Der Positivismus vom Tode Comtes bis auf unsere Tage 1891.

2 Über de Maistre, Bonald und Chateaubriand s. Georg Brandes, Die Lite- ratur des 19. Jahrhunderts, 3. Band: Die Reaktion in Frankreich, Leipzig 1898.

3 Birau: Über die Grundlagen der Psychologie, 1806 verfaßt; die Werke sind von Cousin 1841, Naville 1859 u. Al. Bertrand 1887 herausgegeben worden. Über ihn E. KÖNIG in den Philos. [Monatsh. Bd. 25, 1889, S. i6of. ; L. Marillier, Paris 1903; A. KÜHTMANN, Bremen 1901. Birans Lehre zeigt Berührungspunkte mit Fichte, Leibniz und Kant. Mit dem letzteren verbindet ihn der Gedanke der Spontaneität' des Subjekts, der aktiven Einheit des Selbstbewußtseins, die jedoch bei Biran eine mehr psychologische als transzendentale Bedeutung hat. Das Ich unter- scheidet sich selbst als ein tätiges Wesen sowohl von den äußeren Gegenständen als von seinen eigenen Zuständen. Die Grundtatsache der inneren Wahrnehmung

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bis 1824) und P. Royer-Collard (1763— 1845), ^^r die Pliilosophie der schottischen Schule in Frankreich einbürgerte, stehen. Ihr Schüler Victor Cousin' (1792 1867), zugleich ein Verehrer Hegels - er war von 1817 an dreimal in Deutschland , wurde das Haupt der eklek- tischen Schule. Er will die Metaphysik weder mit den Schotten leugnen, noch mit den Deutschen apriori konstruieren, sondern mit Descartes auf die Psychologie gründen. Eine Zeitlang Idealist im Hegeischen Stil (die unpersönliche Vernunft erfaßt unmittelbar das Absolute, erst in der Reflexion wird sie subjektiv; Unendliches und Endliches, Gott und Welt sind voneinander untrennbar; in der Geschichte, den Völkern, den großen Männern offenbaren sich die Ideen), ist er allmählich auf den Stand- punkt des gesunden Menschenverstandes zurückgesunken. Seine Anhänger, unter denen Theod. Jouffroy (f 1842) der hervorragendste ist, haben sich namentlich auf dem Gebiete der Geschichte der Philosophie Ver- dienste erworben. Aus Cousins Schule, die von P. Leroux (Die Mensch- heit 1840) und J. Reynaud (Himmel und Erde 1854) bekämpft wurde, sind hervorgegangen Felix Ravaisson (1813 igoo; über ihn Boutroux, Revue de me'taphysiqiie 8, e), Saisset, Jules Simon, Charles Secretan^ in Lausanne, Paul Janet^ und E. Caro (1826 87; Die Philosophie

ist die Willensanstrengung. Durch den Widerstand, den der eigene Leib der be- wegenden Kraft des Ich bereitet, gewinnt es den Begriff der Ursache und wird sich gleichzeitig seiner selbst und eines Nichtich bewußt. Auch Birans Freund, der große Physiker Andre-Marie Ampere (1775 1^36) geht bei seinen assoziations- psychologischen Studien von dem unmittelbaren Bewußtsein der Willensenergie aus. Bruchstücke einer psychologischen Arbeit und seine Korrespondenz mit Biran sind erst 1866 von Barth. Saint-Hilaire {^Philosophie des deux Ampere) veröffentlicht worden; sein Versuch einer Klassifikation der Wissenschaften {Philosophie des Sciences, 2 Bände) erschien 1834 43. Ampere bestreitet Kants Lehre von der Un- erkenubarkeit der Dinge an sich, sofern die beständigen Verhältnisse zwischen den Erscheinungen (Kausalität, Zahl, Raum, Zeit) auch für die Noumene gelten. Die Annahme einer materiellen, seelischen und göttlichen Substanz sind berechtigte Hypothesen.

' Cousin: Philosophische Fragmente 1826. Vorlesungen über Geschichte der Philosophie in zwei Serien: der erste Lehrgang von 181 5 20 umfaßt 5 Bände 1841 ; den zweiten Band bildet das schon 1837 gedruckte Hauptwerk Vom Wahren, Schönen und Guten, den dritten bis fünften füllen die sensualistische, die schottische und die Kantische Philosophie. Der zweite Lehrgang von 1828 29 erschien in 3 Bänden 1829. In den späteren Bearbeitungen beider Zyklen hat Cousin vieles, was ihm zu kühn erschien, abgeschwächt. Über ihn Fuchs 1847; J. B. Meyer (ZPhKr. Bd. 32) 1858; M. Kronenberg, Moderne Philosophen, München 1899, S. in 145.

2 Secretan (1815 95): Philosophie der Freiheit, 1849 u.ö.; Prinzip der Moral, 1883; Religion u. Theologie, deutsch 1895; Zivilisation und Glaube 1887, 3. Aufl. 1893; Soziale Schriften, in Auswahl übersetzt von Ed. Platzhoff 1896 (aus Biudes sociales 1889, Mon iitopie 1892 u. a.).

3 Janet (1823—99): Geschichte der Moral und Politik 1838, 3. Aufl. 1887; Der Materialismus unserer Zeit 1864, deutsch 1S66; Die Familie 1855; Philosophie des

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Goethes 1866). Von Kant sind beeinflußt Etienne Vacherot (180Q bis 97; Metaphysik und Wissenschaft 1858, 2. Aufl. 1863; über ihn Se'ailles, Reime philos. 1880, 9), Charles Renouvier^ (geb. l8i8; Essais tie critiqtie ge'nerale, 4 Bände 1854 64, 2. Aufl. 1875 96; La nou- velle monadologie (mit L. Prat) 1899; Uchronie, l' Utopie dans rhistoire, 2. ed. 1901; Les dilemmes de la me'taphysique pure 1901), J. Lache Her (geb. 1832) und sein Schüler Emile Boutroux.^ Renouviers Kritizis- mus unterscheidet sich nicht unerheblich vom Kantischen, mit dessen Apriorismus er den Humeschen Phänomenalismus verbindet. Er verwirft das Unendliche, das Ding an sich und die Substanz, gibt aber der Freiheit, als Bedingung der Sittlichkeit, einen Platz in der realen Welt. Gegeben sind uns allein die Vorstellungen unseres Bewußtseins, die den Charakter des Relativen tragen. Die Formen, unter denen wir die Er- scheinungen auffassen, sind unser Werk. Das Vorgestellte und das Vor- stellende oder Objekt und Subjekt hat man als zwei untrennbare Seiten derselben Tatsache, ihre Verbindung als das wahrhaft Wirkliche anzu- sehen. Die Gesetze der Relationen oder die Bedingungen der Erfahrung sind die Kategorien: Relation, Zahl, Lage oder Raum, Reihenfolge oder Zeit, Qualität, Werden, Ursache, Zweck, Persönlichkeit. Jeder der neun Kategorien entspricht eine Seelentätigkeit.

Von sonstigen namhaften Denkern seien erwähnt der Physiolog Claude Bernard (1813 78), der positivistische Historiker und Schöpfer der Lehre vom „Milieu" Hippolyte Taine^, Ernest Renan (1823 bis 92; Leben Jesu 1863, Philos. Dialoge und Fragmente, deutsch von Zdekauer 1877; über ihn Allier 1895, Ed. Platzhoff 1900), die Evo- lutionisten Alfred Fouillee^ (geb. 1838; L'avenir de la me'taphysique

Glücks 1862; Gehirn und Gedanke 1867; Elemente der Moral 1869; Die Moral 1874; Die Fiualursachen 1877.

' Renouvier gab 1872 89 die Zeitschrift Critique philosophique heraus; an ihre Stelle ist seit 1890 die von seinem Schüler E. Pillon geleitete L'annee philo- sophique getreten. Über R. vergl. M. Ascher, Renouvier und der französische Neu- kritizismus (Berner Studien, Nr. 22"! 1900.

2 E. Boutroux (geb. 1845): Etudes tfhistoire de philosophie 1897; De la con- tingence des lois de la tiaiure, 2. ed. 1895, ^^ l'idee de loi naturelle^ 1895; Qtie- stions de morale 1896.

3 Taine(i828 93): Philosophie der Kunst, deutsch 1866 (die Übersetzungvon Ernst Hardt, 2 Bände 1902 03, bringt einen andern, viel ausführlicheren Text) ; Der Ver- stand 1872, deutsch von Siegfried 1880. Über ihn Barzellotti 1895, ins Französische übersetzt von AuG. Dietrich 1900; über Taines Kunstphilosophie JUL. Zeitler 1901.

•^ In dem Werke La seiend sociale coniemporaine 1883, 3. Aufl. 1896 bemüht sich Fouillee um eine Weiterbildung der biologischen Gesellschaftslehre Spencers; denselben Standpunkt teilt R. Worms {Organisme et societe 1896), während de Greef {Introduction a la sociologie 1886 89, Les lois sociologiques 1893, Le trans- formisme social 1895) ^i^h an Comte anschließt. Vergl. P. Barth, Die Philos. der Geschichte, I. 1897.

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fonde'e sur Vexperience 1889, La morale, l'art et la religion d' apres Guyau 1889, L' e'volutionisme des ide'es-forces 1890, La Psychologie des ide'es-forces 1893, Le mouvement positivisfe, Le inouvement idc'aliste 1896), und sein Stiefsohn Jean Marie Guyau (1854 88; Les problemes de Vesthetique contemporaine 1884, 4. Aufl. 1897, Esqtiisse d'/ine morale saus Obligation ni sanctiofi 1885, L' irre'ligio7i de l'avenir 1887), die Psychologen Th. Ribot ', Herausgeber der Revue philosophique de la France et de l'Etranger (seit 1876) und Alfred Bin et {La suggestibilite 1900), die Religionsphilosophen Aug. Sabatier (protestantischer Theolog, f 1901 in Paris, verfaßte: Theologische Erkenntnislehre 1893, deutsch von D. A. Baur 1896, Religionsphilosophie 1897, deutsch von Baur 1898) und Jean Reville (Religiöse Reden 1884, deutsch 1902), der Philosophiehistoriker L. Levy- Bruhl [L' Allemagtie depuis Lcibniz 1890) und Challemel -Lacour (t 1900), aus dessen Nachlaß Studien und Betrachtungen eines Pessi- misten, deutsch 1902, herausgegeben worden sind. Seit 1893 erscheint zweimonatlich unter Xavier Leons Redaktion die Revue me'taphysiqiie et de morale, seit Ende 1900 die von E. Peillaube geleitete Revue de Philosophie.

III. England.

Von den englischen Philosophen des XIX. Jahrhunderts ^ kennt und schätzt man bei uns seit langem den Psychologen Alexander Bain^ in Aberdeen (18 18 1903), dessen Willenslehre in Deutschland von mehreren Seiten Zustimmung gefunden hat, Jer. Bentham (1748 1832)

1 Ribot (geb. 1839): Die Erblichkeit 1873, deutsch von Holzen 1876; Das Gedächtnis und seine Störungen 1881, deutsch 1882; Der Wille 1883, deutsch nach der 8. Aufl. von Pabst 1893; Die Krankheiten der Persönlichkeit 1885; Psychologie der Aufmerksamkeit 1889; Psychologie der Gefühle 1896; Die Schöpferkraft der Phantasie 1900, deutsch von W. Mecklenburg 1902; Die deutsche Psychologie der Gegenwart 1879, deutsch 1881.

2 Vergl. Harald Höffding, Einleitung in die englische Philos. unserer Zeit (dänisch 1874), deutsch (mit Änderungen und Zusätzen des Verfassers) von H. Kurella 1889. Dav. Masson, Recent british ptiilosophy 1865, 3. Aufl. 1877. RiBOT, Za/jy- cliologie angtaise contemporaine 1870, 2. Aufl. 1S75. GuYAU, La inorate anglaise contemporaine 1879. D. HiCKS bei Überweg 9 § 51—58. N. H. Marshall, Die gegenwärtigen Richtungen der Religionsphilos. in England 1901 ; Ders., Kant und der Neukantianismus in England (VKSt. 7, 4) 1902.

3 Bain: Die Sinne und der Verstand 1855, 4. Aufl. 1894; Die Gemütsbewegungen und der Wille 1859, 3. Aufl. 1875; Geistes- und Sittenlehre 1868, 3. Aufl. 1872; Geist und Körper (das letzte Kapitel eine Geschichte der Seelentheorien) 1873, 3. Aufl. 1874, deutsch 1874 als Band 3 der Internationalen wissenschaftlichen Bibliothek; den 45. Rand derselben bildet die zuerst 1878 erschienene Erziehung als Wissenschaft. Die von Bain 1876 begründete Vierteljahrsschrift Mind wurde bis 1891 von G. Croom Robertson und wird seitdem von G. F. Stout redigiert.

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als Verfechter des Nützlichkeitsprinzips in der Moral, J. St. Mill (1806 bis 1873) als Theoretiker der Induktion und gleichfalls utilitarischen Ethiker und H. Spencer (1820 1903) als denBegründer eines umfassen- den philosophischen Systems. Die beiden letztgenannten (über sie Bernh. Pünjer, Jahrbb. f. prot. Theol. 1878) fordern eine eingehendere Betrachtung.

Die schottische Philosophie setzt sich ins XIX. Jahrhundert fort mit James Mackintosh (Über den Fortschritt der Moralphilosophie 1830) und William Whewell (sprich Juel; History of the inductive sciences 1837, 3. Aufl. 1857, deutsch von Littroav 1839 f-» Philosophy of the in- ductive sciences 1840), Ihr bedeutendster Vertreter, der wie Whewell zugleich unter Kantischem Einfluß steht, ist William Hamilton 1 in Edinburgh (1788 1856). Er gründet die Philosophie auf die ursprüng- lichen Tatsachen des Bewußtseins, legt aber der Assoziationspsychologie gegenüber auf die geistige Tätigkeit des Unterscheidens und Urteilens Gewicht. Unsere Erkenntnis ist relativ und hat nur Relationen zum Gegenstand. Das Bewußtsein kann nicht sich selbst überfliegen, es ist an den Gegensatz von Subjekt und Objekt gebunden und faßt das Existierende in räumlich-zeitlichen Verhältnissen auf; nur die Eigen- schaften oder Erscheinungen der Wesen sind wahrnehmbar. Daher ist das Unbedingte das einerseits das Absolute oder Vollständige, andrer- seits das Unendhche oder Unvollendbare bedeutet dem Wissen ver- schlossen und nur dem Glauben erreichbar. Zu Hamiltons Schülern gehören Henry L. ManseP (1820 71) und J. Veitch (f 1894). J. Mc Cosh (181 1 94, lebte seit 1868 in Amerika;. The intiiitions of the mind 1860; Thelaws of disciirsive thotight 1879; Fi}-st and fundamental tniths 1889) kehrte zu Reid zurück. H. Calderwood (f 1897) kritisierte Hamilton in seiner Philosophie des Unendlichen (1854, 2. Aufl. 1861). Demselben Kreise darf beigerechnet werden Artur Balfour, der Neffe Lord Salis- burys, seit 1902 Premierminister (geb. 1848; Rechtfertigung des philo- sophischen Zweifels 1879; ^'^^ Grundlagen des Glaubens 1895, 8. Aufl. 1901, deutsch von R. König 1896). Ein Gegner der schottischen Philo- sophie war Ferrier {Institutes of vietaphvsics 1854, Werke 1866).

Jeremy Bentham^ ist merkwürdig durch den Versuch, den Epi-

1 Hamilton: Philosophie des Unbedingten (in A&r Edinbiirgh Review) 1829. Er- örterungen über Philosophie 1852. Vorlesungen über Metaphysik und Logik, her- ausgegeben von seinen Schülern ^Iansel und Veitch, 4 Bände 1859 60. Über ihn Veitch 1879 und 1884.

2 Mansel: Metaphysik oder Philosophie des Bewußtseins 1860; Die Grenzen des religiösen Gedankens 1858; Philosophie des Bedingten 1866.

3 Bentham: Einleitung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung 1789, verbesserte Ausgabe 1823. Die Deontologie 1834 und die Werke 1843 herausge- geben von BowRiNG. Die Grundsätze der Zivil- und Kriminalgesetzgebung, aus

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England.

kureismus in moderner Form wiederherzustellen. Die Tugend ist das sicherste Mittel zur Lust, als dem einzigen Werte, der durch sich selbst einleuchtet. Jeder strebt nach dem Glücke, aber nicht jeder auf dem rechten Wege. Der Brave rechnet richtig, der Verbrecher falsch; daher eine kluge Berechnung des Wertes der verschiedenen Vergnügen und eine besonnene Verwaltung der Lustmittel die erste Bedingung der Tugend; dabei dürfen die leicht erreichbaren kleinen Freuden, deren Addition eine beträchtliche Größe ergibt, nicht vernachlässigt werden. Der Wert der Lust bemißt sich nach ihrer Stärke, Dauer, Gewißheit, Nähe, Fruchtbarkeit in Erzeugung weiterer Lust, Reinheit oder Freiheit von beigemischter Unlust, und Ausdehnung auf die möglichst große An^ zahl von Personen. Jede tugendhafte Handlung hat ein Übergewicht von Lust zur Folge. Füge dir und anderen kein Übel zu, aus dem nicht ein überwiegendes Gut resultiert. Der Zweck der Sittlichkeit ist die Erzeugung der größtmöglichen Quantität von Glück in der Gesell- schaft, wobei jeder ^zunächst für das eigene Wohl zu sorgen hat: wer sich selbst mehr schadet, als er anderen nützt, handelt nicht sittlich, denn er verringert die Summe des Glücks in der Welt; das individuelle Interesse fällt mit dem sozialen zusammen. Die beiden Klassen der Tugend sind Klugheit und Wohlwollen. Das letztere ist eine natürliche, doch nicht uninteressierte Neigung:' die von anderen mitempfundene Freude ist größer als die einsam genossene, Liebe ist eine genußreiche Erweiterung des Ich, man leistet Dienste um Dienste zu empfangen.

Der in England eingewurzelten empiristischen und nominalistischen Anschauungsweise getreu und auf Humes Phänomenalismus sowie der (in einigen Punkten verbesserten) Assoziationspsychologie seines Vaters James Mill (1773— 1836) fußend, erklärt John Stuart Mill 1 die Er-

Benthams Handschriften französisch bearbeitet von dessen Schüler Et. Dumont (1801, 2. Aufl. 1820), hat F. E. Beneke ins Deutsche übertragen 1830. Die Analyse des Einflusses der natürlichen Religion auf das zeitliche Glück der Menschheit hat nach einem Benthamschen Manuskript unter dem Pseudonym Phil. Beauchamp der Hi- storiker George Grote 1822 herausgegeben; vergl. L. Stephen, English iitiUtarians Bd. 2, S. 338 f., und Saenger, Mill, Vorwort. Eine gute Darstellung und Kritik des Utilitarismus bei P. Hensel, Hauptprobleme der Ethik 1903. Oskar Kraus, Zur Theorie des Wertes, eine Bentham-Studie 1902.

1 J. St. Mill ist am 20. Mai 1806 in London geboren, war 1823 58 Beamter im India House, 1865 68 Parlamentsmitglied vmd lebte seit dem Tode seiner Gattin abwechselnd in Blackheath und in Avignon, wo er am 8. Mai 1873 starb. System der Logik 1843, deutsche Übers. v.J. SCHIEL, 4. Aufl. 1877; Über Freiheit 1859, deutsch bei Reclam 1896; Dissertationen und Diskussionen, 4 Bände 1859 74; Utilitarianis- mus 1863; Prüfung der Philosophie Hamiltons 1865, 4. Aufl. 1874; beachtenswert sind auch die Anmerkungen zu seines Vaters ,, Analyse der Erscheinungen des menschlichen Geistes" (1829) in der neuen Ausgabe dieses Buches 1869; Hörigkeit der Frau 1869; Autobiographie 1873, deutsch von KoLB 1874; Drei Essays über Religion 1874; Ge- sammelte Werke, deutsch von Th. Gomperz, ii Bände, 1869 75, 12. Band 1880.

Bentham. J. St. Mill. ^q^

fahrung für die einzige Quelle aller Erkenntnis, auch der mathematischen, die von den Kantianern behauptete eigentümliche Gewißheit der letzteren ist eine Einbildung und die Induktion für die einzig er- folgreiche Methode aller (auch der Geistes-)Wissenschaften. Der Syllo- gismus ist selbst eine versteckte Induktion. Wenn ich die obere Prämisse ausspreche, ist die eigentliche Folgerung bereits geschehen, im Schluß- satze wird nur die in der Prämisse gegebene zusammenfassende Formel für viele Einzelwahrheiten entziffert, interpretiert. Weil ihm das allge- meine Urteil nur der kurze Ausdruck für eine Summe von (durch Beob- achtung gewonnenen) einzelnen Wahrheiten ist, darf Mill sagen, alles Erkennen sei ein Generalisieren, und zugleich behaupten, alles Folgern geschehe vom Besonderen auf das Besondere. Der Durchgang durch den allgemeinen Satz ist nicht notwendig, aber nützlich als Vorsichts- maßregel, sofern die syllogistischen Formen uns leichter die begangenen Fehler erkennen lassen. Die Grundlage der Induktion, die Gleichmäßig- keit der Natur sowohl hinsichtlich" der Gleichzeitigkeit als der Folge der Erscheinungen, ist, da sie selbst auf Induktion beruht, nicht unbedingt sicher, darf aber solange als höchst wahrscheinlich gelten, bis ein (an sich denkbares) gesetzloses Geschehen tatsächlich nachgewiesen worden. Wie das Kausalgesetz, so sind auch die logischen Grundsätze nicht apriori, sondern nur die höchsten Verallgemeinerungen aus der ganzen bisherigen Erfahrung, nur Erzeugnisse sehr fester Assoziationen.

Mills glänzendste Leistung ist die Theorie der experimentellen For- schung, für die er vier Methoden aufstellt, i. Methode der Überein- stimmung: wenn mehrere Fälle, in denen eine in ihren kausalen Be- ziehungen zu erforschende Naturerscheinung vorkommt, nur einen einzigen Umstand gemeinsam haben, so ist dieser die Ursache resp. Wirkung derselben. 2. Methode der Differenz: wenn ein Fall, bei dem die zu erforschende Naturerscheinung eintritt, und ein Fall, worin sie nicht eintritt, alle Umstände außer dem einzigen gemein haben.

Über ihn die Studien von H. Taine, Le positivisme anglais 1864, Al. Bain 1882 und Ch. Douglas 1895, deutsch 1897, zwei Werke von Courtney über Mills Metaphysik 1879 und sein Leben 1889, Leslie Stephen, The english utilitarians Bd. 3, 1900 und Samuel Saenger, J. St. Mill (Frommanns Klassiker der Philos. Bd. 14) 1901. Max. Lewels behandelt in seiner Münsterer Dissert. 1902 Mills Stellung zur Reli- gion. Hans Reichel gibt in der ZPhKr. Bd. 122 u. 123 eine Darstellung und Kritik von Mills Theorie der induktiven Methode 1903 04. In den Philos. Monats- heften, Bd. 15, 1879 S. I29f. berichtet Imelmann über die Einwürfe, welche W. Stanley Jevons {^Contemporary Review Dez. 1877 ff.) gegen Mills Lehre von dem induktiven Charakter der Geometrie, seine Behandlung der Ähnlichkeitsbeziehung und seine Darlegung der vier Methoden der Experimentalforschung in ihrem Ver- hältnis zum Kausalitätsgesetz erhoben hat. Vergl. ferner die feinsinnige Abhandlung über den Utilitarismus von C. Hehler (1821—98), Philos. Aufsätze 1869, S. 35 66, und den dritten Vortrag in Th. Lipps, Die ethischen Grundfragen 1899.

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der nur im ersten Falle vorhanden ist, so ist dieser die Ursache oder Wirkung derselben. Die beiden Methoden (die cfes Beobachtens und die des künstlichen Experimentierens) können auch kombiniert zur An- wendung gebracht werden; das Prinzip der vereinigten Methode der Übereinstimmung und des Unterschiedes lautet: wenn mehrere Fälle, in denen eine Naturerscheinung stattfindet, nur einen Umstand, mehrere andere aber, in denen sie nicht stattfindet, nur die Abwesenheit dieses Umstandes gemein haben, so ist eben dieser Umstand, durch den allein die beiden Reihen sich unterscheiden, die Ursache oder Wirkung jener Erscheinung. 3. Methode der Rückstände oder Reste: man ziehe von einer Naturerscheinung denjenigen Teil ab, der durch frühere Induk- tionen als die Folge gewisser Antezedentien bekannt ist; der Rest ist dann die Wirkung der übrig bleibenden Bedingungen. 4. Methode der sich begleitenden Veränderungen: Eine Erscheinung, die sich immer bei einer bestimmten Veränderung einer anderen verändert, ist mit der letzteren kausal verknüpft. Bei verwickeiteren Erscheinungen muß zur Ergänzung die deduktive Methode hinzutreten: sie erschließt aus den induktiv ermittelten Gesetzen der Wirksamkeit einzelner Ursachen die Gesetze ihrer vereinigten Wirksamkeit; doch bedürfen die Ergebnisse solcher Folgerung der Verifikation durch den Nachweis ihrer Überein- stimmung mit empirischen Tatsachen. Erklärung einer Erscheinung bedeutet Angabe ihrer Ursache; Erklärung eines Gesetzes Zurückführung desselben auf andere, bekannte Gesetze. Dabei bleiben wir immer im Umkreis der Erscheinungen; das Wesen der Natur entzieht sich unserer Erkenntnis. Äußere Gegenstände sind permanente Wahrnehmungs- möglichkeiten; diesen als beständigen Objekten oder Substanzen legen wir die wechselnden wirklichen Wahrnehmungen als Eigenschaften bei. Soll Entsprechendes auch vom Geiste gelten? Ist auch er nur eine be- ständige Möglichkeit von Empfindungen und nichts Reales neben seinen Zuständen? Mill möchte den Kreis der Assoziationspsychologie nicht überschreiten ; aber er ist zu scharfblickend, um die ihr aus der Einheit der Person erwachsende Schwierigkeit zu übersehen, und zu gewissenhaft, sie zu verschweigen. Darum fügt er mit geringerer Zuversicht hinzu : das Ich ist eine Reihe wirklicher und möglicher Bewußtseinszustände (Ge- fühle), die wenn man sich zu dieser Paradoxie entschließen mag! sich ihrer selbst als einer Reihe bewußt wird.

In dem Kapitel über die Freiheit (VI, 2) hebt Mill hervor, daß die Notwendigkeit, welcher die menschlichen Handlungen unterliegen, nicht, wie es gewöhnlich geschieht, als unwiderstehlicher Zwang gefaßt werden dürfe, sondern nichts weiter bedeute, als die gleichförmige Ordnung der- selben und ihre Fähigkeit, vorausgesagt zu werden. Was praktisch wert- voll und berechtigt ist an der Idee der Freiheit, wird hierdurch nicht verkümmert: wir haben die Macht, unseren Charakter zu ändern, er

J. St. Mill. Spencer. ^j

wird durch uns, nicht für uns gebildet; der Wunsch, ihn zu ändern, ist einer der einflußreichsten Umstände, die ihn bilden. Das Prinzip der Sittlichkeit ist die Beförderung des Glückes aller empfindenden Wesen. Es liegt in der Menschennatur, nichts zu wünschen, was nicht ein Teil der Glückseligkeit oder ein Mittel zu ihr ist: begehren heißt lustbringend finden. Manches anfänglich Gleichgültige erlangt jedoch durch Assozia- tion mit der Lust des dadurch Erreichten selbst den Charakter eines Zweckes. Auch erfahren die geselligen Neigungen durch das Leben in der Gemeinschaft eine stetige Verstärkung. Ferner bestehen auch qua- litative Unterschiede der Gefühle: die eine Art der Lust erscheint als höherwertig und wird einer anderen viel stärkeren vorgezogen. Von Bent- ham, dem Mill den Grundsatz des Utilismus entlehnt, unterscheidet er sich durch diese Anerkennung von Artunterschieden der Lust, sowie durch Betonung der sympathetischen Gefühle und des Triebes nach sittlicher Selbsterziehung (Höffding, Einleitung S. 68). Unter den Gegnern der Nützlichkeitsmoral ist erwähnenswert JohnGrote, Examination of the utili- taria?i philosophy 1870.

Herbert Spencer ist im April 1820 als Lehrerssohn in Derby geboren, wurde sehr jung Eisenbahningenieur, wandte sich 1843 nach London, wo er fünf Jahre hindurch in der Redaktion einer Zeitschrift tätig war, und lebte daselbst seit 1852 bis zu seinem Tode am 8. Dez. 1903 als Privatgelehrter. Im Jahre 1860 gab Spencer den Prospekt eines um- fassenden Systems der synthetischen Philosophie aus, und 1896 hatte er die Genugtuung, nach Überwindung sowohl der pekuniären Schwierig- keiten als auch der aus seinem Gesundheitszustande erwachsenden Hemmnisse, das große Werk vollendet zu sehen. Es umfaßt in zehn Bänden (1862 96) fünf Teile: die Grundlagen der Philosophie, die Prinzipien der Biologie (neue Ausgabe 1898 1900), der Psychologie (die bereits 1855 erschienen waren), der Soziologie und der Ethik. Eine gute deutsche Übersetzung hat B. Vetter geliefert, Stuttgart 1875 f-» fortgesetzt von V. Carus. Eine knappe Darstellung des Ganzen gibt F. H. CoLLlNS, An epitome of the synthetic philosophy 1889, fünfte (voll- ständige) Aufl. 1901. Deutschen Lesern ist der Überblick über Spencers System und die treff'liche „Entstehungsgeschichte der Entwickelungsphilo- sophie" bei Otto Gaupp (5. Band von Frommanns Klassikern der Philo- sophie, 1897) zu empfehlen. Die Essays (in 2 Bänden 1858 f., in 3 Bänden 1885, wiederum vermehrt 1891) haben leider noch keinen Übersetzer gefunden; besonders wichtig sind die Abhandlungen über die Entwickelungs- hypothese 1852 und über das Gesetz und die Ursachen des Fortschritts 1857. Die Einleitung in das Studium der Soziologie 1873 ist dem deut- schen Publikum durch H. Marquardsen (Bd. 14 und 15 der Inter- nationalen wissenschaftlichen Bibliothek, 2. Aufl. 1896), ein Aufsatz über Kants Ethik durch Vetter (ZPhKr. Bd. 95, 1889), die sehr interessante

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 03

4g8 England.

Erziehungslehre 1861 durch Fritz Schultze (1874, 4. Aufl. 1898) zu- gänglich gemacht worden. Spencers letzte Veröffentlichungen tragen die Titel Packs and comments und An Autobiography 1904.

Die First principles (Grundsätze einer synthetischen Philosophie, nach der 6, Aufl. neu übersetzt von Carus, 1900) beginnen mit dem „Unerkennbaren". Da die menschlichen Ansichten, so falsch sie erscheinen mögen, aus wirklichen Erfahrungen entsprungen sind, und, wenn sie weiteren Anklang finden und hartnäckig festgehalten werden, irgend etwas haben müssen, wodurch sie sich dem Geiste der Menschen empfehlen, so ist anzunehmen, daß in jedem Irrtum ein wenn auch nur kleiner Kern von Wahrheit enthalten sei. Von entgegengesetzten Mei- nungen darf man keine als vollständig wahr und keine als vollständig irrig ansehen. Um die ihnen zugrunde liegende unbestreitbare Tatsache zu finden, muß man die mannigfaltigen konkreten Elemente, in denen sie einander widersprechen, beiseite schaffen und für den übrig bleiben- den Faktor einen abstrakten, für alle Modifikationen gültigen Ausdruck suchen. Kein Gegensatz aber ist älter, verbreiteter, tiefer und wich- tiger als der zwischen Religion und Wissenschaft Der Streit wird so lange währen, als jede von beiden sich an Aufgaben wagt, denen nur die andere gewachsen ist. Er ist jedoch schlichtbar, denn auch hier muß irgend eine allgemeinste Wahrheit, eine letzte Tatsache zugrunde liegen. Die religiösen Grundbegriffe sind in sich widersprechend und unvollziehbar. Keine von den möglichen Hypothesen über das Was und Woher der Dinge jede Religion läßt sich definieren als eine apriori- stische Theorie des Weltalls, der begleitende Kodex von Sittengesetzen ist ein späterer Auswuchs ist logisch zu verteidigen : ob man die Welt atheistisch als selbstexistierend oder pantheistisch als selbsterschafifen oder (fetischistisch, poly-, mono-) theistisch als durch ein äußeres Agens erschaffen ansehe, überall stößt man auf Undenkbarkeiten. Der Begriff" der ersten Ursache oder des Absoluten ist (wie, im Anschluß an Hamilton, Mansel in seinen „Grenzen des religiösen Denkens" 1858 bewiesen) voller Widersprüche. Gleichwohl glimmt unter der Asche auch der unvollkommensten religiösen Vorstellungen ein Wahrheitsfunke. Soweit auch die Bekenntnisse auseinandergehen, darüber herrscht vom gröbsten Aberglauben bis zu den entwickeltsten Theorien des Mono- theismus vollkommene Einstimmigkeit, daß die Existenz der Welt ein stets nach Aufklärung verlangendes, aber niemals ganz aufzuklärendes Geheim- nis sei. Darin eben besteht das Verdienst der Religion, daß sie das Bewußtsein eines Jenseitigen, Unerkennbaren wacherhält, dessen Offen- barungen alle Dinge sind, und uns so davor schützt, das Relative, Erkenn- bare für die ganze Wirklichkeit zu halten. Und in der Entwickelung der Religion vom rohen Fetischismus bis zur ausgebildeten Theologie unserer Tage tritt die anfangs bloß geahnte Wahrheit, daß es ein all-

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gegenwärtiges Unerforschliches gebe, dessen Kundgebungen alle Erschei- nungen seien, immer deutlicher hervor. Dieser fundamentalen Wahrheit der Religionen kommt die Wissenschaft mit der von Protagoras bis Kant mit steigender Klarheit erfaßten Erkenntnis entgegen, daß die hinter allen Erscheinungen verborgene Realität stets unbekannt bleiben muß, unser Wissen nie absolut sein kann. Dieselbe ist sowohl induktiv aus der Unrealisierbarkeit der wissenschaftlichen Grundbegriffe, als deduktiv aus der Beschaffenheit des Erkenntnisvermögens durch Analyse des Denkprodukts und des Denkprozesses zu erhärten, i. Die Begriffe Raum, Zeit, Materie, Bewegung, Kraft, desgleichen die ersten Zustände des Be- wußtseins, die Empfindungen, sowie die bewußte Substanz, das Ich als Einheit von Subjekt und Objekt, repräsentieren sämtlich Realitäten, die in ihrem Wesen und ihrer Entstehung völlig unbegreiflich sind. Sie sind nur „Symbole" des Wirklichen. 2. Die Subsumtion einzelner Tatsachen unter allgemeinere führt letzthin auf eine allgemeinste oberste Tatsache, die nicht auf noch höhere zurückgeführt, folglich nicht erklärt und be- griffen werden kann. 3. Alles Denken ist (wie Hamilton in seiner „Philosophie des Unbedingten" und sein Anhänger Mansel gezeigt) ein Setzen von Verhältnissen, nämlich von Beziehung, Verschiedenheit und (wie Spencer hinzufügt) Gleichartigkeit. Somit ist das Absolute, dessen Begriff jede Relation ausschließt, für ein Denken, das sich nur in Rela- tionen bewegt und stets in einem Unterscheiden, Begrenzen und Gleich- setzen besteht, schlechthin unzugänglich, es ist dreifach unerkennbar. Also: Religion und Wissenschaft stimmen in der höchsten Wahrheit überein, daß der menschliche Verstand nur einer relativen Erkenntnis oder einer Erkenntnis des Relativen fähig ist (Relativismus). Dennoch, meint Spencer, ist es zu weit gegangen, wenn die ebengenannten Männer die Vorstellung des Absoluten für rein negativ, für einen bloßen Aus- druck der Unvorstellbarkeit und das Dasein desselben für problematisch erklären. Das Wesen des Absoluten ist unerkennbar, nicht jedoch die Existenz eines Trägers des Relativen und Phänomenalen. Die Er- wägungen, welche für die Relativität der Erkenntnis und ihre Beschränkung auf Erscheinungen sprechen, sprechen zugleich für das Vorhandensein eines Nichtrelativen, dessen Erscheinung das Relative ist; mit dem Begriffe des Relativen und der Erscheinung ist eo ipso, als Korrelat des- selben, der des Absoluten, das sich darin manifestiert, gesetzt. Wir haben zwar kein bestimmtes, aber wenigstens ein unbestimmtes Be- wußtsein von dem Unerkennbaren als der unbekannten Ursache, der universellen Kraft, und auf dieses gründet sich unser unzerstörbarer Glaube an objektive Realität. Wer sich der Grenzen der menschlichen Erkenntnis bewußt ist, wird willig das Dasein eines geheimnisvollen, unergründlichen Weltgrundes anerkennen, über Gottes Persönlichkeit aber sich weder im positiven noch im negativen Sinne entscheiden.

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Alles Wissen beschränkt sich auf das Relative und besteht in zu- nehmender Verallgemeinerung; die Spitze dieser Pyramide bildet die Philosophie. Das gemeine Wissen ist noch nicht vereinheitlichte, die Einzelwissenschaft teilweise vereinheitlichte, die Philosophie, welche die obersten Generalisationen der übrigen Wissenschaften in einer höchsten ver- knüpft, vollkommen vereinheitlichte Erkenntnis. Die allgemeinste Tatsache ist der (in unendlichem Wechsel sich wiederholende) Doppel- prozeß der Andersverteilung von Materie und Bewegung: Entwickelung und Auflösung {evolution and dissolutio7i); jene besteht in Zerstreuung (Abgabe) von Bewegung und Zusammenschluß (integraiton) des Stoffs i, diese in Aufnahme (Absorption, Ansammlung) von Bewegung und Locke- rung {disintegratiori) des Stoffs. Die allgemeinste Wahrheit ist das Fort- bestehen der Kraft, aus welcher sich außer den Axiomen von der Unzerstörbarkeit des Stoffes und der Fortdauer der (aktuellen und poten- tiellen) Bewegung noch weitere Wahrheiten von der Gleichförmigkeit der Natur (gleichen Kundgebungen der Kraft müssen unter gleichen Formen und Umständen gleiche Kundgebungen vorausgehen resp. folgen], der Umsetzbarkeit der Kräfte ineinander, nebst Gesetzen über Richtung und Rhythmus der Bewegung ableiten lassen. Auf die näheren Bestimmungen des Begriffs der Entwickelung z. B. mit der wachsenden Integration des Stoffes (dem Übergang von Zerstreuung zur Konzentration) geht zu- nehmende Ungleichartigkeit (Differenzierung, Artikulation 2) und Bestimmt- heit (Individuation) Hand in Hand , für welche Spencer aus allen Ge- bieten der Natur wie des geistigen und sozialen Lebens Beispiele beibringt, kann hier nicht eingegangen werden. Wenn selbst von Hegel gesagt werden durfte, daß er sich vergeblich abmühe, mit formalen Begriffen die konkrete Fülle der Wirklichkeit zu bemeistern, so findet dieser Vorwurf in erhöhtem Maße auf Spencer Anwendung. Die dürren, der Naturwissen- schaft entnommenen Schemata der Konzentration, des Übergangs zur Mannigfaltigkeit, der Anpassung usw., unzulänglich schon auf eigenem Gebiete, erweisen sich als vollständig ohnmächtig zur Bewältigung der verwickelten und eigenartigen Erscheinungen geistigen Lebens.

Spencers „spezielle" Philosophie will, mit Überspringung der un- organischen Natur, die organischen, geistigen und sozialen Erscheinungen

1 Das Wachstum des Organismus ist ein Ansammeln von früher getrennten Stoffen ; vergl. das Zusammentreten von nomadisch lebenden Familien zu seßhaften Stämmen, von Staaten zu einem Staatenbund.

2 Auch hier werden Beispiele aus den verschiedensten Gebieten angezogen: bei der Erde die Bildung des Gegensatzes von warmer und kalter Zone, Festland und Wasser, Berg und Tal; beim Lebewesen der Fortschritt vom homogenen Keim zu den mannigfachsten Orgauen ; beim Menschengeschlecht die Spaltung in Rassen und weiter in Volksstämme; im sozialen Leben gewahren wir infolge der Arbeitsteilung eine Gliederung in Stände; auf ästhetischem Gebiet die ursprüngliche Einheit und spätere Sonderung von Dicht-, Ton- und Tanzkunst usw.

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in Ausdrücken von Materie, Bewegung und Kraft interpretieren; man darf das nicht Materialismus nennen, denn jene Symbole erheben keines- wegs den Anspruch, das Wesen des Unerkennbaren wiederzugeben. Sie zerfällt in vier Teile, bei denen wir uns mit der Hervorhebung einiger Grundgedanken begnügen.

Die Biologie definiert das Leben als beständige Anpassung innerer Verhältnisse an äußere. Die Angleichung, auf der die Höherentwickelung der Organismen und die Entstehung neuer Arten beruht, ist teils eine indirekte, teils eine direkte. Bei den niederen Organismen überwiegt die erstere, die natürliche Zuchtwahl oder das Überleben des Tüchtigsten; bei den höheren aber, wo den verwickeiteren äußeren Bedingungen gegen- über viele Tätigkeiten zur Erhaltung des Lebens zusammenwirken müssen, tritt unmittelbare Anpassung ein: Veränderung der Funktion bewirkt Ver- änderung der Struktur, die sich vererbt. Spencer tadelt die Forscher, die wie Weismann , Darwin übertrumpfend, Vererbung erworbener Eigenschaften leugnen und alle Wandlungen auf die natürliche Auslese allein zurückführen wollen.

Die Lehre von den seelischen Erscheinungen zerfällt in zwei Teile, die objektive und die subjektive Psychologie. Jene bedient sich der äußeren Beobachtung, betrachtet das Seelenleben in seinem Zusammen- hange mit den Tätigkeiten des Leibes ', als eine Summe von Lebens- funktionen, und ist ein Zweig der Biologie. Diese dagegen gründet sich auf innere Beobachtung und Analyse, hat zum Gegenstande das Bewußt- sein und ist eine Wissenschaft stii generis, die allen übrigen Wissenschaften gegenübersteht wie das Subjekt dem Objekt. Die wechselnden Zustände des Bewußtseins sind Erscheinungsweisen einer einheitlichen geistigen Substanz, die jedoch als solche sich niemals kundgibt, also unerkennbar ist. Die seelischen Tätigkeiten unterscheiden sich von den niederen Lebens- funktionen durch ihre Anordnung in Reihenform, In gradweisem Fort- schritt erhebt sich das psychische Leben von der Reflexbewegung und dem Instinkt durch Gefühl und Gedächtnis zu Vernunft und Wille. An diese synthetische Betrachtung schließt sich die analytische, die von den höchsten Bewußtseinserscheinungen zu den einfachsten Elementen hinabsteigt. Das Denken wird als ein Auffassen von Ähnlichkeit und Unterschied erwiesen. Überall herrscht dasselbe Gesetz: das höchste Schließen ist im Wesen nichts anderes wie die niedrigste Instinkthandlung: Denken ist auch nur ein Assimilieren von Eindrücken, und das Unter-

1 In den seelischen Erscheinungen sieht Spencer die innere Seite derselben Vor- gänge, als deren äußere Seite sich die Nerven- und Gehirnprozesse darstellen. Ob- wohl nicht beweisbar, empfiehlt sich ihm diese identitätsphilosophische oder paralle- listische Ansicht durch ihre Übereinstimmung mit allem, was die Erfahrung uns lehrt. Übrigens betont er die Unvergleichbarkeit des Geistigen und Körperlichen: Bewußt- sein ist nicht Bewegung.

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scheidende der Verstandestätigkeiten beruht lediglich auf der größeren Verwickeltheit der Eindrücke. Der Denkinhalt entsteht dem Bewußtsein durch „Differenzierung" seiner Zustände; soll der neue Zustand erkannt, soll er ein Gedanke werden, muß er mit früheren „integriert" werden.

Die Erkenntnistheorie sucht den „höheren" (transfigured) Rea- lismus — die Annahme einer wirklichen aber unerkennbaren Außen- welt, die unseren „lebhaften" Bewußtseinszuständen korrespondiert positiv und negativ zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhange erhebt Spencer die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit, als welches er die Undenkbarkeit des kontradiktorischen Gegenteils (also die Denk- notwendigkeit, die Unauflösbarkeit gewisser Gedankenverbindungen) aufstellt, und erörtert die Streitfrage zwischen Empirismus und Aprioris- mus, die er im vermittelnden Sinne zu lösen unternimmt. Gegen die Empiristen bemerkt Spencer, das Beweisen setze unbeweisbare, ursprüng- liche, aus der Erfahrung nicht ableitbare Wahrheiten voraus, die anzu- erkennen das denkende Individuum durch seine Natur genötigt wird. Gegen die Aprioristen macht er geltend, daß jener ursprüngliche Besitz des Einzelnen ein Erbteil aus den Erfahrungen der vorangegangenen Generationen sei. Er erkennt ein Apriori zwar für das Individuum an, aber nicht für die Gattung, sofern die für den Einzelnen ursprünglichen Erkenntnisformen von den Vorfahren mittels Anpassung empirisch er- worben worden seien. Demgemäß verteidigt er gegen Weismann die Erblichkeit erworbener Eigenschaften,

Die Soziologie betrachtet die Gesellschaft nicht als etwas Gemachtes, sondern als etwas natürlich Gewordenes, als einen Organismus. Denn sie zeigt gleich dem Lebewesen Zunahme an Masse, an Verwickelung der Struktur, an Solidarität der Teile und Unabhängigkeit des Ganzen von dem Leben der Elemente. Freilich dürfen über diesen Analogien die Unterschiede zwischen dem sozialen und dem physischen Organismus nicht übersehen werden, insbesondere der, daß im Tierkörper nicht die einzelnen Teile, sondern nur die Zentralorgane mit (einem Gesamt-) Be- wußtsein ausgestattet sind, in der Gesellschaft dagegen nicht das Ganze, sondern jede der sie zusammensetzenden Einlieiten Bewußtsein besitzt; woraus folgt, daß der Einzelne nicht dem Wohle des Ganzen geopfert werden darf: der Staat ist um der Einzelnen willen da. Spencer vertritt das Prinzip des individualistischen Liberalismus. Der Staat soll nur die Bedingungen des Lebens schützen und sich nicht in Angelegenheiten des Lebens selbst einmischen, da solche Einmischung schlimmere Übel herbeiführt als die sind, die sie zu beseitigen wünscht. Wie die Religion (der Glaube an Götter) aus dem Animismus, der Totenverehrung, so ist die politische Gewalt aus dem militärischen Oberbefehl entsprungen. Zwang, Bevormundung, Zentralisation hemmen den Fortschritt. Sie paßten für den kriegerischen Typus der Gesellschaft; der in du-

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striellen Periode, in die wir eingetreten sind, entspricht es, wenn die Regierung auf die Sicherung des Friedens und der Rechte eingeschränkt wird und die darüber hinausgehenden Aufgaben teils dem spontanen Zusammenwirken der Einzelnen, teils freien Verbänden überlassen bleiben. Spencer hofft, daß auf die industrielle Ära und das unvermeidliche Zwischenstadium des Sozialismus (vergl. Brief an Gaupp, bei Gaupp S. 146) in der Zukunft ein neuer Lebenstypus folgen wird, der neben der Arbeit um des Erwerbes willen den höheren geistigen Tätigkeiten einen breiteren Spielraum gewährt (vergl. Höffding, II S. 542).

Den Abschluß bildet die Ethik des individuellen und des sozialen Lebens. Das Prinzip der Entwickelung gilt wie für die Natur, so auch für die sittliche Welt: das Sittengesetz ist die Fortsetzung des Naturgesetzes. Das sittliche Handeln zeichnet sich vor dem unsittlichen durch größere Konzentration, Differenzierung und Bestimmtheit aus. Wir nennen eine Handlungsweise gut, wenn sie Lebenserhaltung und -erhöhung für den Einzelnen, seine Nachkommen und die Mitmenschen zur Folge hat. Der Maßstab der Güte sind die lustbringenden Wirkungen der Hand- lung; denn alles, was Freude macht, ist lebensf ordernd. Aber Spencer bestreitet nicht, wie der empiristische Utilitarismus, jegliches moralische Apriori: für das Individuum ist das Gewissen in der Tat ursprünglich, unmittelbar, intuitiv, während es evolutionistisch betrachtet allerdings das verdichtete Ergebnis der Erfahrung der Gattung vom Nützlichen ist. Das autoritative „Soll", welches das moralische Gefühl begleitet, erklärt sich aus seinem Ursprünge aus der Furcht vor Strafe. Das Pflichtbewußt- sein wird dereinst, wenn die Sittlichkeit organisch geworden, in Wegfall kommen, wie auch der Gegensatz von Egoismus und Altruismus kein ewiger ist, denn sie setzen einander voraus und sind gleich wesentlich: die egoistischen Gefühle und Handlungen sind ebenso unentbehrlich, wie die altruistischen natürlich sind. Von der Zukunft dürfen wir eine vollkomrüene Harmonie zwischen beiden erhoffen; solange die fortschrei- tende Anpassung des Einzelnen an den gesellschaftlichen Zustand noch nicht vollendet ist, muß man sich mit einem vorläufigen Vertrage zwi- schen den streitenden Antrieben begnügen. Spencer schließt sein System ab mit der Erörterung der sozialen Tugenden der Gerechtigkeit (jeder darf tun, was er will, sofern er damit nicht die gleiche Frei- heit jedes anderen verletzt) und des negativen und positiven Wohl- tuns (Verzicht auf egoistischen Gewinn, Opferung eines Besitzes zu- gunsten anderer).

In seiner treffenden Kritik der biologischen Gesellschaftslehre Spencers tadelt P. Barth (S. 122 127) mit Recht ihren Naturalismus; er habe den Dualismus der Wirklichkeit, den Gegensatz von Natur und Geist nicht erkannt (S. 126). „Er überträgt gern räumlich-physikalische Ver- hältnisse auf das seelische Geschehen Aber die organische und

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erst recht die seelische Weh hat höhere Gesetze als die der bloßen mechanischen Ausgleichung" (S. 125). Vergl. ferner K. Busse, Sp.s Philosophie der Geschichte, Halle 1894; Albert Hesse, Der Begriff der Gesellschaft in Sp.s Soziologie (Jahrbb. f. Nationalök. 3. Folge Bd. 21) iQOi; Paul Hensel, H. Sp. (Sonntagsbeilage Nr. 51 zur Vossischen Zei- tung Nr. 595 vom 20. Dez.) 1903.

Wenn J. St. Mill und Spencer (der übrigens schon vor Darwins ^ Auftreten die Entwickelung als Weltgesetz proklamiert hatte) sich in einer dem Positivismus verwandten Richtung bewegen, so sind als Anhänger der positivistischen Grundlehren zu nennen Harriet Martineau, die das Comtesche Hauptwerk frei übersetzt hat (1853, neue Ausgabe mit Einleitung von Fr. Harrison 1896), Atkinson und der Goethe-Biograph und Gatte der großen Romanschriftstellerin George Eliot2 George Henry Lewes (1817 78; Problems of life and mind 1874 f.).

Unter den Anhängern und Fortbildnern der Darwin-Spencerschen Entwickelungslehre ist eine metaphysikfeindliche und eine metaphysische Richtung zu unterscheiden. Jene wird vertreten durch die „Agnostizisten" Th. H. Huxley3 (1825—95) und John TyndalH (1820—93). Huxley hat zuerst (1869) den Namen Agnostizismus gebraucht. Von der Materie und dem Geiste wissen wir nichts, außer daß sie die unbekannte und hypothetische Ursache der Zustände unseres Bewußtseins bezeichnen : sie sind nur Namen für das vorgestellte Substrat von Gruppen natürlicher Phänomene. Und die eherne „Notwendigkeit" des Naturgesetzes ist eine leere Ausgeburt meines Denkens. Bisher sind nach menschlicher Erfahr- ung überall nichtunterstützte Steine zu Boden gefallen, und wir haben allen Grund zu glauben, daß sich dies stets so verhalten werde. Ver- wandeln wir aber das Fallenwerden in ein Fallenmüssen, so schieben wir die Idee der Notwendigkeit unter, die ganz sicherlich in den be- obachteten Tatsachen nicht liegt. Wenn wir also von dem Wesen weder der Materie noch des Geistes jemals etwas wissen können und der Be- griff der Notwendigkeit illegitimer Weise in die legitime Vorstellung des Gesetzes eingeschoben wird, so ist die materialistische Behauptung, daß es in der Welt nichts gebe als Stoff, Kraft und Notwendigkeit, vollständig

1 Über Darwin vergl. Höffding, Gesch. d. n. Ph. II. S. 490 506 ; Wernicke in der VwPh. 1882.

2 Eine Reihe schöner Aussprüche aus den Romanen der G. Eliot (1819 80) haben A. Passow und C. v. Kessinger gesammelt unter dem Titel „Das Menschen- herz", Bremen 1889.

3 Huxley: Reden und Aufsätze, deutsch nach der 5. Aufl. von Fritz Schultze 1877; Htmie 1879; Evolution and ethics 1894; Collected essays, 9 Bände 1893 94. Life and letiers, von seinem Sohne Leonard Huxley, 2 Bände 1900.

■1 Tyndall: Fragmente aus den Naturwissenschaften (Vorlesungen und Aufsätze) 1871, deutsch nach der 8. Aufl. des Originals von A. v. Helmholtz und E. DU Bois- Revmond 1899.

HuxLEY. Clifford. Romanes.

505

unbegründet: der Materialismus ist ein schwerer philosophischer Irrtum. Seine Grundlehren wie die des Spiritualismus liegen ebenso außerhalb der Grenzen der philosophischen Forschung wie die unter den Mond- bewohnern herrschende Politik. Hume hat gezeigt, daß diese Fragen ihrer Natur nach unbeantwortbar sind. Für die wissenschaftliche Arbeit ist jedoch die materialistische Terminologie der unfruchtbaren spiritualistischen unbedingt vorzuziehen; ein Schaden kann daraus nicht erwachsen, solange wir uns erinnern, daß wir es einzig und allein mit Ausdrücken und Svmbolen zu tun haben. In dem Fortschritt der mo- dernen Wissenschaft springt klar der Hang hervor, alle wissenschaftlichen Probleme, mit Ausnahme der rein mathematischen, in Aufgaben der Molekularphysik umzuwandeln, d. h. sie auf die Anziehungen, Abstoß- ungen, Bewegungen und die Anordnung der kleinsten Teile der Materie zurückzuführen. Im Laufe der Zeit dehnen sich die Grenzen des Physizismus immer weiter aus. „Der Anthropomorphismus hat sich in seine letzte Burg, den Menschen selbst, zurückgezogen. Aber die Wissen- schaft berennt heftig die Mauern und Philosophen rüsten sich zum Kampf um das letzte und größte aller spekulativen Probleme: besitzt die menschliche Natur irgendein freies, willkürliches, also wahrhaft anthropo- morphistisches Element, oder ist sie nur der feinste aller natürlichen Mechanismen? Manche, zu denen ich mich selbst zähle, glauben, daß die Schlacht auf immer unentschieden bleiben wird" (Reden S. 156; vergl. S. 135 f.). Die sittliche Tätigkeit soll nach Huxley nicht den kosmischen Prozeß fortsetzen, sich ihm anschließen, sondern wider ihn ankämpfen. Einen kühneren, metaphysikfreundlichen Evolutionismus treffen wir dagegen an bei William Kingdon Clifford^ (1845 79), der die Em- pfindung aus „Geistesstofif", seelischen Atomen bestehen läßt, G, J. Ro- manes (t 1894; The World as an eject 1886, aufgenommen in das Werk Mind and molion, and monism 1895) und Schiller [Riddles of the sphinx, by Troglodyte 1891, Humanism 1903). Romanes, ein namhafter Schrift- steller auf dem Gebiete der vergleichenden und genetischen Psychologie (Die geistige Entwicklung im Tierreich 1883, deutsch 1885, Die geistige Entwicklung beim Menschen 1889, deutsch 1893) und der Entwick- lungslehre {^Darwin and after Darwin 1892, An exainination oj Wei'sman- m'sm 1894), war in dem Werke A candid cxatnination of theism by Phy- sicus 1878 als Gegner des Theismus aufgetreten, kehrte jedoch, nach-

1 Über die Natur der Dinge an sich, im driUen Bande des Mind 1878, wieder abgedruckt in den posthumen Lectzires and essays, herausgeg. von L. Stephen und F. Pollock, 2 Bände 1879, 3. Aufl. 1901; jene Abhandlung deutsch von Hans Kleinpeter 1903. Rede über die Ziele und Werkzeuge des wissenschaftlichen Den- kens 1872, deutsch von Schmidt u. Silberstein 1896. Seeing and thinking 1879. Mathetnatical papers 1882. The conifnon sense of the exact sciences, herausgeg. von Pearson 1885, 4. Aufl. 1898.

5o6

England.

dem er eine „monistische" Phase durchgemacht, kurz vor seinem Tode zum christlichen Glauben zurück, wie die hinterlassenen „Gedanken über Religion" beweisen, die von seinem Freunde Canon Gore 1895 her- ausgegeben und nach der 7. englischen Auflage von E. Dennert 1899 verdeutscht worden sind. Als Ethiker des Evolutionismus seien ge- nannt Leslie Stephen (1832 1904, The science of ethics 1882) und Benj. Kidd (Soziale Evolution 1894, neue Aufl. mit Zusätzen 1898, deutsch von E. Pfleiderer 1895, Principles of Western civilisation 1902). Nach Kidd ist die gesellschaftliche Entwicklung von einer überver- nünftigen, religiösen Sanktion abhängig. Aber auch bei den Evolutio- nisten selbst hat sich in den letzten Jahren eine Reaktion gegen den Naturalismus und Agnostizismus fühlbar gemacht, begünstigt nicht nur durch den Einspruch von orthodoxer und neuhegelscher Seite, sondern auch durch den Einfluß von Vertretern ganz verschiedener Anschau- ungsweisen wie Balfour und J. Ward in England und James in Nord- amerika; vergl. auch Martineau.

Samuel Taylor Coleridge (1772 1834) und Thomas Car- lyle^ (1795 1881) hatten sich bemüht, dem deutschen Idealismus in England Eingang zu verschaffen, wobei jener an Schelling, dieser an Fichte anknüpfte. Aber erst den Bemühungen von J. Hutchison Stirling [The secret of Hegel 1865, neue Aufl. 1897), Green- in Oxford (1836 82; Einleitung zu Hume 1874) und Edw. Caird mit zwei Wer- ken über Kant (1877, 1889) ist es gelungen, das englische Denken mit den Ideen Kants und Hegels zu befruchten und zur Ausbildung selb- ständiger Systeme auf dem Boden des kritischen oder des spekulativen

1 Carlyle: Sartor Resartus 1834, deutsch von Th. A. Fischer 1882, 2. Aufl. 1903; Helden und Heldenverehrung 1841, deutsch 1853; Einst und Jetzt 1843, übers, von P. Hensel, als dritter Band von : Sozialpolitische Schriften, deutsch von Pfann- KUCHE mit Einleitung von P. Hensel, I 1895, II 1896; Lebenserinnerungen, deutsch von P. Jaeger, 1897 1900. Über Carlyle DiLTHEY im AGPh. 4. Bd. 1891 und Paul Hensel (Frommanns Klassiker der Philos. Bd. 11) 1901. Der Einfluß Carlyles wurde durchkreuzt durch den eines ähnlich unsystematischen Kopfes, des Kunstphi- losophen John Ruskin (1819 1900, Professor in Oxford; Moderne Maler 1843 f., Die Steine Venedigs, i85if.); eine deutsche Ausgabe der Gesammelten Werke in 15 Bänden erscheint bei Diederichs, sie ist mit den sieben Leuchtern der Baukunst, übersetzt v. W. ScHOELERMANN, eröffnet worden. Über ihn Paul Clemen 1900 und S. Saenger, Straßburg bei Heitz ; ebendort sind erschienen Aphorismen zur Lebensweisheit, eine Gedankenlese aus R.s Werken, zusammengestellt und übersetzt von Jakob Feis.

2 Green: Prolegomena to ethics 1883, 4. Aufl. 1899; Works, ed. by Nettleship, 3 Bände 1885 88. Über ihn G. F. James, Green und der Utilitarismus, Hall. Diss. 1894, A. Grieve, Das geistige Prinzip in der Philos. Greens, Leipziger Diss. 1895, W. H. Fairbrother 1896 und H. Sidgwick [Mind Nr. 37) 1901. Die Skizze der Grundgedanken seiner Lehre entnehme ich den Zusätzen, mit denen Prof. Armstrong in seiner Übersetzung dieses Grundrisses (New York 1893) den Abschnitt über die englische Philosophie bereichert hat.

Green.

507

Idealismus anzuregen. Diese idealistische Bewegung in England (und Amerika) ist „neukantisch" nicht sowohl im negativen, metaphysikfeind- lichen, als im positiven, konstruktiven, antiempiristischen Sinne und führt vielfach zu einem Neufichteanismus und Neuhegelianismus. Ihr Führer war Thomas Hill Green. Im Gegensatz zum Empirismus behauptet er, alle Erfahrung bestehe aus Beziehungen zwischen Tatsachen. Daher ist Erkenntnis nur möglich für ein Selbstbewußtsein ; ebenso hängt die Natur, als ein System von Beziehungen, von einem geistigen Prinzip ab, dessen Ausdruck sie ist. Der Kerngedanke seiner Philoso- phie lautet demnach: das Universum ist eine einzige ewige Tätigkeit oder Kraft, deren Wesen es ist, selbstbewußt d. h. selbst und nichtselbst zugleich zu sein. Wir sind Manifestationen oder „Kommunikationen" dieses allgemeinen Bewußtseins unter den Begrenzungen unserer physischen Or- ganisation. Als solche sind wir frei d. h. durch uns selbst, durch nichts Äußeres bestimmt. Das sittliche Ideal ist Selbstrealisation, Vervollkomm- nung, fortschreitende Reproduktion des göttlichen Selbstbewußtseins. Als selbstbewußte Persönlichkeit aber kann sich der göttliche Geist nur in Personen reproduzieren; und da „soziales Leben für die Persönlich- keit ist, was die Sprache für das Denken", so fordert die Verwirklichung der sittlichen Aufgabe das Leben in Gemeinschaft. Ihre nähere Be- stimmung ist in den Offenbarungen des ewigen Geistes in der sittlichen Geschichte der Einzelnen und der Völker zu suchen. Sie zeigt, was bereits in der Beziehung der Sittlichkeit auf Persönlichkeit und Gesell- schaft eingeschlossen lag, daß das sittlich Gute vor allem ein gemein- schaftlich Gutes sein muß, ein solches, worin das dauernde Wohlsein des Einzelnen auch das Wohlsein Anderer umfaßt. Zu dieser Gruppe gehören die Brüder Caird *, Br ad ley [Principles of logic \^^y, Appearence and reality 1893, 2. Aufl. 1897), W. Wallace (f 1897), Haidane, B. Bosanquet {Logic 1888, A history of aesthetic 1892), und Robert Adam-, son (t 1902 in Glasgow; The developnient of modern phtlosophy, ed. by SoRLEY 1903). In einem weiteren Sinne dürfte wohl auch, obwohl er mehr Empirist ist, hierher gerechnet werden Shadworth H. Hodgson, der erste Vorsitzende der Aristotelian Society 1880 -94 iPhilosophy of reflection 1878, The metaphysic of experience, 4 Bände 1898), dem auf dem Präsidentenstuhl jener Gesellschaft Bosanquet und Stout gefolgt sind. Der Schotte Andrew Seth [The development from Kant to Hegel 1882; Hegelianism and personality 1887, 2. Aufl. 1893) hat den hegelschen Stand- punkt verlassen und nimmt jetzt eine mittlere Stellung ein; er will zwischen

1 JohnCaird in Glasgow (f 1898): Einleitung in die Religionsphilosophie 1880, 2. Aufl. 1891, deutsch von A. Ritter 1893; The fundamental ideas of Christianity 1899. Edward Caird in Oxford: Hegel, in Blackwood' s Philosophical Classics 1888, Essays 1892, The evolution of religion, 2 Bände 1893, 3. Aufl. 1899, The evohition of theology in the Greek philosophers 1904.

5o8

England.

Psychologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik streng unterschieden wissen. Infolge einer Erbschaft hat er seinen Namen geändert, er heißt jetzt A. S. Pringle-Pattison. Sein Bruder James Seth {Freedofn as ethical postulate i8gi, A study of ethical principles 1894, 6. Aufl. 1902) studierte und lehrte einige Jahre in den Vereinigten Staaten, seit 1898 wirkt er in Edinburgh.

Ebenfalls antiempiristisch und dem Agnostizismus abgeneigt ist die theistische Schule, die sich um James Martineau (1805 1900; Types of ethical theo7y 1882, 3. Aufl. 1891, A study of religio?? 1888; über ihn Jackson, Boston 1901 und W. Jack, Einige Hauptfragen in M.s Ethik, Leipziger Dissert. 1900) schart. Martineau ist von Trendelenburg be- einflußt, während sein Anhänger Upton an Lotze anknüpft. In ähn- licher Richtung bewegen sich AI. C. Fräser in Edinburgh iPhilosophv of theism 1895 96, neue Aufl. 1899) und James Lindsay in Kilmar- nock {Recent advances i?i theistic philosophy of religion 1897; Die Entwick- lung der Ethik, ZPhKr, Bd. 117, 1900 01). Hier mag auch Max Müller in Oxford (aus Dessau, 1823 1900; Vorlesungen über Sprach- wissenschaft, deutsch V. C. Böttger 1863; Beiträge zur vergleichenden Religionswissenschaft, erster Band der Essays, deutsch 1869, 2. Aufl. 1879; Natural, Physical, Anthropological, Psychological religion 1889 92, deutsch von WiNTERNiTZ 1890 95; Kritik seiner Theorie der Religion von W. Schmidt, Leipziger Diss. 1896) angereiht werden. Eine konservativere Gesinnung zeigen R. Fl int in Edinburgh, der über Geschichtsphilosophie und über den Theismus geschrieben {Theism 10. Aufl. 1902, Anti-theistic theories 5. Aufl. 1894, Agnosticism 1903), und Ä. M. Fairbairn (The philosophy of ihe Christian religion 1902).

Wir wenden uns zu den Bearbeitungen der Einzelwissenschaften, Unter den Logikern Englands ' ragen hervor Hamilton, dessen auf die Lehre von der Quantifikation des Prädikats gegründete neue Analytik von Th. Sp. Baynes (^The new analytic of logical forms 1850) ausgearbeitet wurde, G. Boole (77?^ laws of thoughf 1854), W. Stanley Jevons [Pure logic 1864; The principles of science 1874, 2. Aufl. i8yy), J. Venn {Sym- bolic logic 1881, 2. Aufl. 1894; Empirical or inductive logic 1889), Whate- ley, De Morgan, Thomson, Auf dem Gebiete der Psychologie seien noch erwähnt James Sully in London {Sensation and iiituition 1874, Illusions 1881, Outlifies of psychology 1884, neue Aufl. 1892, Handbuch der Psych. für Lehrer 1886, deutsch von J. Stimpfl, The human mind 1892), James Ward in Cambridge, mit Rivers Herausgeber des British Journal of Psychology 1904 {Psychology in der Encyclopaedia Britannica, 9. w. ed..

1 Vergl. Nedich, Die Lehre von der Quantifikation des Prädikats, im dritten Bande von WPhSt. ; L. Liard, Les logiciens anglais contemporains 1878, deutsch von Tmelmann, 2. Aufl. 1883; Al. Riehl im ersten Baude der VwPh. 1877.

Amerika.

509

Bd. 20, 32; Naturalism and Agnosticism 1899, 2. Aufl. 1903), Carpenter, Maudsley, Galton, G. F. Stout {Analytic psychology 1896) und C. Lloyd Morgan {Animal life and iiitelligeyice 1890, Habit and instinct 1896, Ani- tiial beha-oiour 1900). Unter den Ethikern steht neben Spencer, Green und S. Laurie^ i^On the philosophy of ethics 1866) Henry Sidgwick^ in Cambridge (1835 1900) in erster Reihe, Von philosophiegeschicht- lichen Werken heben wir Benns Buch über die griechischen Denker 1882, George Grotes Plato 1865, die Piatonübersetzung von B. Jowett und die Piatonstudien von L. Campbell hervor, von welchen letzteren die wichtigsten in deutscher Übersetzung von Golling und Mekler in der ZPhKr. Bd. iii und 112 (1897 98) erschienen sind. Vergl. ebenda Bd. 109 S. 161 f. (1896) den Artikel von Th. Gomperz über die Jowett- Campbellsche Ausgabe des „Staates" und die platonische Chronologie. Endlich I. T. Merz, A history of European thought in the nineteenth Cen- tury, Band i 2: Scientific thought 1896, 1903.

Der englischen Sprache bedient sich der Finnländer Yrjo Hirn, The ongins of art 1900.

Nach NoAH Porter "^ war der erste und vielleicht größte philoso- phische Denker Amerikas der Calvinist Jonathan Edwards (1703 58; Hauptwerk: Über die Freiheit des Willens 1754; Werke herausgegeben von D WICHT 1829 und 1852; über ihn Allan 1889, Mac Cracken, Hallenser Diss. 1899 und Gardiner in der Philos. Review Nr, 54, Nov, 1900), der außer seinem gleichnamigen Sohne (f 1801) zahlreiche Anhänger, aber auch viele Gegner seiner deterministischen Lehre (u. a. Hazard) fand. Lange Zeit hindurch leuchteten über dem amerikanischen Denken die Sterne Lockes und Reids. Neben Mc Cosh (oben S. 493) war Noah Porter (f 1892; Tlie human intellect 1868 u. ö.; The elements oj moral sciencc 1885; über seine Erkenntnislehre Jenaer Diss. von Judd 1897), zugleich von Hamilton und Trendelenburg beeinflußt, Vertreter der schottischen Philosophie. Dann aber begann die Einwirkung der

^ Unter dem Pseudonym Scotus Xovanticus hat S. Laurie, Professor in Edin- burgh, veröffentlicht Metaphysica nova et vetusta, a return to dualism 1884, 2. Aufl. 18S9, französisch vodG.Remacle 1901 ; Eihica or the ethics ofreason 1885, 2. Aufl. 1891.

2 Sidgwick: Methods of ethics 1875, ''• Aufl. 1901; Lectures on the ethics of Green, Spencer and Martineau 1902; Philosophy, its scope and relations 1902.

^ Die Philosophie in Nordamerika, deutsch in den Philos. Monatsh. Bd, 11, 1875. Vergl. Armstrong, Die Philos. in den Vereinigten Staaten, ZPhKr. Bd. 105, 1 894 ; M. CuRTis bei ÜBERWEG^ § 59 ; L. van Becelaere, La Philosophie en Amiri- que, New York 1904. Über neuere Erscheinungen der anglo-amerikanischen Literatur siehe JODLs Jahresberichte in der ZPhKr. (seit Bd. 99, 1891), fortgesetzt von L. Busse (seit Bd. iii, 1898).

510

Amerika.

deutschen Spekulation, auf welche James Marsh 1829 durch seine mit einer Einleitung versehene amerikanische Ausgabe von Coleridges Aids io reflection aufmerksam machte. Später sammelte sich um Will. Ell. Channing (f 1842), das Haupt der Unitarier, ein Kreis von jungen Talenten, unter welchen das berühmteste, der Essayist Ralph Waldo Emerson^ (1803 82), der Führer der neuenglischen Transzendentalisten wurde. (Vergl. Frothingham, Historv of transcendentaUsni in Neiv Eng- land, New York 1876.) Emersons Methode ist die des Mystikers, der alles Beweisen verschmäht, seine Metaphysik eine Vereinigung von stark ausgeprägtem Individualismus und optimistischem Pantheismus, sein vor- wiegendes Pathos ethischer Natur. Er tritt als Prophet auf, der das Leben erneuern will. Der Stoff ist Geist, Ich und Ding sind substan- tiell identisch, die Menschen Erscheinungen und Organe des Weltgeistes. Alles Unsittliche geht zugrunde. Unser Schicksal ist das Echo unsres Geistes: unsere Taten sind unser Engel. Gleich Nietzsche kämpft Emerson gegen die Philisterseelen, feiert die großen Männer, warnt vor Überschätzung der Geschichte und predigt individuelle sittliche Autonomie. Vertraue auf dich selbst! Keine Lehre, kein Buch, kein Heiland kann uns sagen, was gut und böse ist; nur in uns selbst können wir die Ent- scheidung fällen. Kein Gesetz kann mir heilig sein, als das meiner eigenen Natur; jeder Mensch hat seine eigene Sittlichkeit. Recht ist allein, was meinem Wesen entspricht; aus unsrer tiefsten Überzeugung spricht Gott selbst. Aus dem inneren Ozean sollst du schöpfen und nicht um einen Trunk aus den Krügen anderer betteln. Der meta- physische Idealismus faßte bald festen Fuß in Amerika. Kant und Hegel wurden eifrig studiert G. Morris (f 1889), der Herausgeber von Griggs PhilosopJiical classics, Everett (f 1900), John Watson {A7i outline of philosophy, 3. Aufl. 1901), Sterret, Jos iah Royce {The religious aspect of philosophy 1885, The spirit of modern philosophy 1892, The loorld and

1 Auf Emerson hat bei uns Hermann Grimm in seinen neuen Essays 1865 aufmerksam gemacht. Außer zwei Bänden Gedichte 1846 und 1867 und der mit Margaret Füller herausgegebenen Vierteljahrsschrift für Literatur, Philosophie und Religion The Dial 1840 44 hat Emerson veröffentlicht: zwei Serien Essays 1841 und 1844; Engllsh traits 1856; Vertreter der Menschheit (Plato, Swedenborg, Mon- taigne, Shakespeare, Napoleon, Goethe) 1850; Lebensführung 1862, deutsch von E. S. V. MÜHLBERG (E. Sartorius) bei A. Unflad; Gesellschaft und Einsam- keit 1870, deutsch von Julian Schmidt. Billige Gesamtausgabe der Essays Lon- don, G. Routledge 1886. Gesammelte Werke, deutsch 4 Bände, bei Diederichs. Auswahl bei Hendel und Reclam. Emersons Gedanken über die Kunst, übertragen von A. Hingst, Bayr. Bl., 13. Jahrg. 1890. Eine Darstellung seiner Philosophie gibt Sanborn, Genhis and character of Emerson, Boston 1885. K. Francke, Emerson and German personality, The International Quarierly Bd. 8, i. G. Runze, Emerson und Kant (VKSt. Bd. 9) 1904. Alma von Hartmann (Preuß. Jahrbb. 116, 2, Mai) 1904.

Amerika. 511

the individual IQOO Ol), Dewey, Alex. Th. Ormond {The foundations of knowledge 1900), Howison, G. Fullerton ; William T. Harris schuf in stixi&va Journal of speculative philosophy (1867 88, letzter Band 1893) einen Sammelpunkt für idealistische Interessen. Daneben haben Lotze und Spencer Einfluß geübt, jener auf B. P. Bowne ' in Boston, dieser auf John Fiske^ (1842 1901), der in Verbindung mit seiner Ent- wickelungsphilosophie eine theistische Weltansicht ausgebaut hat. Seit dem Erscheinen von James' Will to believe 1897 (siehe unten) zählt der „Pragmatismus" viele Anhänger in den Vereinigten Staaten und auch in England, wo Schiller (S. 505) die Doktrin eifrig verficht. Neuestens hat J. Dewey, der Führer der sogenannten „Chicago-Schule", sich bemüht, die erkenntnistheoretischen Prinzipien und die psychologischen Resultate des Pragmatismus zu entwickeln [Stitdies in logical theory 1903).

In den letzten Jahrzehnten hat die philosophische Forschung sehr an Umfang und Tiefe gewonnen; insbesondere herrscht auf den ver- schiedenen Gebieten der Psychologie der physiologischen und experi- mentellen, genetischen, sozialen und neuerdings der religiösen Ps}cho- logie lebhafte Tätigkeit. Im Interesse, des sich rasch entwickelnden, aber noch mangelhaften Erziehungs- und Unterrichtswesens wird auch die Pädagogik, sowohl die philosophische als die psychologische und praktische, eifrig betrieben. Von den Psychologen der Gegenwart nennen wir G. Stanley Hall in Worcester, seit 1887 Herausgeber der Zeit- schrift Tlie American Journal of Psychologv , seit dem 7. Bande sind Mit- herausgeber Sanford und Titchener {An outline of psychologv , 3. Aufl. 1899); J. Mark Baldwin^, bis 1903 mit J. McKeen Cattell, seitdem mit H. C. Warren Herausgeber der Psychological Review (New York und London 1894 f.), G. T. Ladd {Elements of physiological psychology 1887; Psychology, descriptive and explanatory 1894; Philosophv of mind 1895; Philosophy of knowledge i^c^y ; Ä theory of reality 1899), William James ^, H. Münster- berg und David J. Hill {The elements of psychology 1888); von Ethikern W. Mackintyre Salter (Die Religion der Moral, deutsch von G.

1 Bowne: Theory of thought and knowledge 1897; Metaphysics 1882, ver- besserte Aufl. 1898, Theism 1903.

- Fiske: Oiitlines of cosmic philosophy 1874, neue Aufl. mit Einleitung von Royce 1903, The destiny cf man 1884, The idea of God as affected by modern knowledge 1885, Throtigh nature to God 1899, Life everlasting 1901.

3 Baldwin: Handbook of psychology 1890 91; Die Entwickelung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse 1895, 2. Aufl. 1899, deutsch von Ortmann 1898; Social and ethical interpretations in mental development 1897, 3. Aufl. 1902; Dictionary of philosophy and psychology I90lf. ; Development and evolution 1902.

4 W. James: Principles of psychology, 2 Bände 1890; Der Wille zum Glauben 1897, fünf von diesen zehn Essays deutsch von Th. Lorenz, Stuttg. 1899; Talks to teachers on psychology 1899, deutsch v. Friedr. Kiesow: Psychologie und Erziehung 1900; The varieties of religion expe7'ience 1902.

CI2 Schweden: Boström.

V. GiziCKi 1885; Moralische Reden, übers, von dems. 1889) und Warner Fite {An introductory study 0/ ethics 1903), der eine höhere Mitte von Hedonismus und Idealismus anstrebt. Die in Chicago erscheinende populärphilosophische Wochenschrift The. Open Court ist der Versöhnung von Religion und Wissenschaft, die von derselben Gesellschaft unter Leitung von Paul Carus {The soul of man 1891, 2. Aufl. 1900; Funda- mental problerns 1894, 3. Aufl. 1903), herausgegebene Vierteljahrsschrift The Monist (Chicago 1 890 f.) der Begründung einer einheitlichen Welt- anschauung, das von Burns Weston redigierte International Journal of Ethics (Philadelphia 1890 f.) dem Fortschritt der ethischen Theorie und Praxis gewidmet. Hierzu kommen noch The Philosophical Review (seit 1892), gegründet von J. G. Schurman {The ethical Import of Darwinism 1887), jetzt herausgegeben von J. E. Creighton und E. Albee, The Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods (1904), herausgegeben von Woodbridge, und mehrere pädagogische Zeitschriften, darunter N. M. Butlers Educational Review und G. S. Halls Pedagogical Seminarv, beide seit 1891. Soeben geht uns zu A. C. Armstrong, Transitional eras in thought 1904.

IV. Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland usw.

Auf die durch Leopold (f 1829) und Th. Thorild (f 1808) repräsen- tierte Periode eines sich an Locke und Rousseau anlehnenden Empiris- mus folgte in Schweden ^ nachdem durch Daniel Boethius 1794 dort Kant eingeführt worden, eine idealistische Strömung, in extremer Form durch den das Recht der philosophischen Konstruktion verteidigenden B. Höijer (f 181 2), einen Zeit- und Gesinnungsgenossen Fichtes, in milderer Form durch Christofer Jacob Boström (1797 1866), den bedeutendsten Systematiker seines Landes, vertreten. Als ^Vorgänger Boströms sind Biberg (f 1827), E. G. Geijer (f 1846) und Samuel Grubbe (t 1853), gleich ihm Professoren in Upsala, als seine Schüler der durch seine eigenartige Auffassung der platonischen Ideenlehre (deutsch 1863 bis 64) in Deutschland bekannt gewordene Sigurd Ribbing, der Historiker der schwedischen Philosophie (1873 f) Axel Nyblaeus in Lund, der Ethiker Sahlin (1869, 1877) und der Herausgeber der Werke Boströms (1883) H. Edfeldt in Upsala zu nennen. Aus der Boströmschen Schule sind auch Reinh. Geijer und Burman in Upsala, und Vitalis Norström in Göteborg (Was heißt ein moderner Standpunkt in der Philosophie? 1898) hervorgegangen. 2

* Vergl. HÖFFDING, Die Philosophie in Schweden, in den Philos. Monatsh. Bd. 15, 1879, S. 193 f., R. Geijer bei Überweg^ § 60 und Allan Vannerüs, Der Kantianismus in Schweden (VKSt. Bd. 6, S. 244 269) 1901.

2 Unter Boströms Einfluß stand auch der 1895 verstorbene Victor Rydberg,

Schweden. Norwegen.

513

Boströms Philosophie ist ein an Leibniz und Krause erinnerndes System der Selbsttätigkeit und des Personalismus. Das Absolute oder das Sein wird charakterisiert als eine konkrete, systematisch gegliederte, selbstbewußte, mit ihrem gesamten Inhalt jedem ihrer Momente ein- wohnende Einheit, deren Glieder sowohl den Charakter des Ganzen tragen als auch sich gegenseitig immanent sind, untereinander in orga- nischer Wechselbestimmung stehen. Ein Gegensatz zwischen Einheit und Vielheit ist nur scheinbar, nur für die trennende Auffassung des endlichen Bewußtseins, vorhanden. Gott ist unendliche, vollbestimmte Persönlichkeit (denn Bestimmtsein heißt nicht Begrenztsein), ein System graduell verschiedener, selbständiger lebendiger Wesen, worin wir unserem wahren Wesen nach ewig und unveränderlich enthalten sind, jedes Wesen ist ein bestimmter, ewiger und lebendiger Gedanke Gottes, es gibt nur vorstellende Wesen und deren Zustände und Tätigkeiten, alles "Wirkliche ist geistig, persönlich. Neben dieser wahren übersinnlichen, über Raum, Zeit, Bewegung, Veränderung und Entwickelung erhabenen, nicht durch Schöpfung oder einen Prozeß der Erzeugung entstandenen Welt der Ideen existiert für den zwar formaliter vollkommenen, aber materialiter (weil er das Wirkliche von einem beschränkten Standpunkte aus vorstellt) unvollkommenen Menschen, aber auch nur für ihn, als Sphäre seiner Wirksamkeit eine endliche, sinnliche Erscheinungs weit, zu der er selbst gehört und in der er den ihm ewig gegebenen über- sinnlichen Inhalt (d. h. sein wahres Wesen) spontan entwickeln, nämlich aus dem bloß potentiellen Zustand dunklen Ahnens zu klar bewußter Wirklichkeit erheben soll. Freiheit ist die Macht, unsere Unvollkommen- heit durch unser wahres Wesen zu überwinden, unsere übersinnlichen Anlagen zu verwirklichen, auch für uns zu werden, was wir an uns in Gott sind. Von der kantischen Ethik unterscheidet sicli die ihr verwandte Boströms hauptsächlich dadurch, daß sie die Sinnlichkeit nicht bloß in ein negatives Verhältnis zur Vernunft gesetzt wissen will. Die Gesellschaft ist eine ewige, auch persönliche Idee in Gott. Die \'oll- kommenste Staatsverfassung ist die konstitutionelle Monarchie, das ideale Ziel der Geschichte die Herstellung eines die ganze Menschheit um- schließenden Staatensystems.

Der Astronom Hugo Gylden (f i8g6) bekennt sich zu Kant. J. Bore- lius in Lund ist Hegelianer, weicht aber in der Lehre vom Widerspruch vom Meister ab. Auch in Norwegen zählt die Hegeische Philosophie Anhänger: so G. V. Lyng (f 1884; System der Grundgedanken), M. J. Monrad (1816—97; Denkrichtungen der neueren Zeit 1874, deutsch 1879; Die Mysterien des Christentums vom Gesichtspunkte der Vernunft,

dessen Schritt „Leibuiz' Theodizee und der Scliopenhauer-H:irtmaunsche Pessimismus'' 1903 deutsch erschienen ist.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 33

514

Norwegen, Dänemark.

deutsch 1896; Die menschliche Willensfreiheit und das Böse, deutsch 1898), beide Professoren in Christiania, und Monrads Schüler G. Kent (t 1892; Die Lehre Hegels vom Wesen der Erfahrung 1891).

Über die dänisolie Philosophie des XIX. Jahrhunderts berichtet HöFFDiNG im zweiten Bande des Archivs für Gesch. der Philos. 1888; vergl. auch sein Buch über Kierkegaard S. 1 7 f Vertreter der spekulativen Richtung waren Steffens (s. oben S. 406), Niels Treschow (1751 1833), Hans Christian Oersted (1777 1851, Der Geist in der Natur, deutsch München 1850 51), Fr. Christ. Sibbern (1785 1872), der Dichter J. L. Heiberg (1791 1860), der als Apostel Hegels auftrat, und der Religionsphilosoph Bischof Hans Martensen (1808 84). Eine Wendung wurde herbeigeführt durch den Individualisten Sören Kierkegaard^ (1813 55) und Rasmus Nielsen (1809 84, Religionsphilos. 1869), welche dem spekulativen Idealismus einen strengen Dualismus des Wissens und Glaubens entgegenstellten und ihrerseits von Georg Brandes (geb. 1842) und Plans Bröchner (1820 75) Widerspruch erfuhren. Unter den jüngeren Forschern stehen in erster Reihe die Kopenhagener Professoren Harald Höffding^ (geb. 1843) und Kristian Kroman^ (geb. 1846). Alfred Lehmanns Hauptgesetze des Gefühlslebens sind deutsch 1892 erschienen.

Über die holländische Philosophie im XIX. Jahrhundert hat G. v. Antal eine Studie (Utrecht und Wittenberg 1888) veröffentlicht, womit zu vergl. die Artikel von Land in „Mind" 1878, von Roorda im 10. Bande der ZPhKr. 1843 und von van der Wyck „Kant in Hol- land, II" in VKSt. Bd, 8, 1903. Bis zur Mitte des Jahrhunderts behauptet ein an die Alten, namentlich Piaton, zum Teil auch an Hegel, Krause und besonders Kant sich anlehnender Idealismus das Feld, vertreten durch Franz Hemsterhuis (172 1 90, Werke, neue Ausgabe von Meyboom

1 Kierkegaard: Entweder-Oder 1843, deutsch 1885; Stadien auf dem Lebens- wege 1845, deutsch von Bärthold 1886; Furcht und Beben 1843, deutsch 1882; Zur Philosophie der Sünde, der Bekehrung und des Glaubens (enthält Begriff der Angst 1844 und Philosophische Bissen), deutsch von Schrempf 1890; Einübung im Christentum 1850, deutsch von BÄRTHOLD 1878; Angriff auf die Christenheit, deutsch von Schrempf und A. Dorner 1896. Werke, Kopenh. igoof. Über ihn: Höffding, Frommanns Klassiker der Philos. Bd. 3, Stuttg. 1896.

2 Höffding: Die Grundlagen der humanen Ethik 1876, deutsch 1880; Psycho- logie in Umrissen 1882, deutsch von Bendixen 1887, 2. Aufl. 1893; Ethik 1887, deutsch von demselben 188S, 2. Aufl. 1901; Über Wiedererkennen (VwPh. Bd. 13 u. 14) 1889 90; Die Gesetzmäßigkeit der psychischen Aktivität (ebenda Bd, 15) 1891; Ethische Prinzipienlehre 1896; Religionsphilosophie 1901; die aus Gastvorlesungen in Upsala entstandenen „Philosophischen Probleme" 1903 behandeln das Bewußtseins-, Erkenntnis-, Daseins- und Wertungsproblem. Siehe auch oben S. 14, 228 1 und 514.

3 Kroman; Unsere Naturerkenntnis, deutsch 1883; Kurzgefaßte Logik und Psy- chologie, deutsch von Bendixen 1890.

Holland: Opzoomer. C15

1846—50), die Philologen D. Wyttenbach (f 1820; über ihn Prantl: W. als Gegner Kants, in den Sitzungsberichten der Münchener Akad. d. Wiss. 1877) und van Heusde (f 1839), die Kantianer P. van Hemert (t 1825) und Kinker (f 1845), welcher letztere allmählich von der Vernunftkritik zur Identitätsphilosophie überging. Dann hat Cornelis Wilhelmus Opzoomer ^ (1821- 92, Professor in Utrecht), auf Baco, jNIill und Comte fußend, aber in wichtigen Punkten über sie hinausgehend und dem Glauben neben dem Wissen ein gesondertes Gebiet anweisend, dem Empirismus Bahn gebrochen. Dem Apriorismus gegenüber sucht er nachzuweisen, daß die Erfahrung allgemeine und notwendige Erkennt- nisse zu geben vermöge, daß Raum, Zeit und Kausalität zusammen mit dem Inhalt empfangen werden, daß auch die Mathematik sich auf Er- fahrung gründe und daß die Methode der Naturwissenschaften, insbe- sondere die Deduktion auf die Geisteswissenschaften angewandt werden u^üsse. Die Philosophie des Geistes betrachtet den Menschen als Einzel- wesen, in seinem Zusammensein mit anderen, in seinem Verhältnis zu einem höheren Wesen, in seiner Entwickelung; darnach spaltet sie sich in Psychologie (welche Logik, Ästhetik und Ethologie umfaßt), Gesell- schaftslehre, Religionslehre und Philosophie der Geschichte. Im Mittel- punkt des Opzoomerschen Systems steht die Lehre von den fünf Quellen der Erkenntnis: Sinnesempfindung, Gefühl der Lust und Unlust, Schön- heits-, sittliches und religiöses Gefühl. Baut man nur auf die drei ersten Grundlagen, so kommt man zum Materialismus; läßt man nur die letzte unbenutzt, so gelangt man zum Positivismus; überträgt man dem religiösen Gefühl allein die Entscheidung über die Wahrheit, so entwickelt sich der Mystizismus. Die Kennzeichen der Wissenschaft sind Nutzen und Fortschritt. Wir vermissen sie noch an den Geisteswissenschaften, in denen die tausendmal beantworteten, aber nie entschiedenen Fragen immer wiederkehren, weil man weder die zur Grundlage der Ableitung gewählten Prinzipien einer genauen Kenntnis der Erscheinungen entlehnt, noch die Resultate an dem Zeugnis der Erfahrung geprüft hat. Die Ursachen dieses mangelhaften Zustandes können durch Nachahmung des Naturstudiums beseitigt werden: wir müssen einsehen, daß nur durch Tatsachen alles entschieden werden kann und daß wir nur nach der Erkenntnis der Erscheinungen und ihrer Gesetze streben dürfen. Wir haben kein Recht, außer und neben den Erscheinungen ein „Wesen" der Dinge anzunehmen, das sich darin offenbart oder dahinter versteckt. Schüler Opzoomers sind sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Utrecht van der Wyck und Allard Pierson (f 1896). Über die Freiheit des

' Opzoomer: Die Methode der Wissenschaft, ein Handbuch der Logik, deutsch von SCHWXNDT 1852; Die Religion, deutsch von MoOK 1869. Über ihn Van der Wyck, ZPhKr. Bd. 106, 1895.

33*

5i6

Holland u. s. w.

Willens hat J. H. Schölten (Der freie Wille, deutsch von Manchot 1874) mit Hoekstra (f i8g8) Fehde geführt. Wir nennen noch die Spinozisten van Vloten (f 1883) und Betz, den Neukantianer Land in Leiden (f 1897), den Kantkritiker Henri du Marchie van Voort- huysen ^ (1852 85), den Herbartianer v. Hartsen, den Schopen- hauerianer C. B. Spruyf^ in Amsterdam (f 1901J, der im AGPh. über die neueren Erscheinungen seiner Heimat berichtete, den Anhänger (früher Ed. v. Hartmanns, jetzt) Hegels Bolland in Leiden, den Apho- risten Multatuli 3, den Erkenntnistheoretiker G. Heymans in Groningen (Die Gesetze und Elemente des wissenschaftlichen Denkens, 2 Bände 1890 94), die Religionsphilosophen Cornelis Petrus Tiele (f 1902; Kompendium der Religionsgeschichte, übers, v. Weber; Einleitung in die Religionswissenschaft, deutsch von G. Gehrich: L Morphologie 1899, IL Ontologie 1901), Chantepie de la Saussaye in Leiden (Lehrbuch der Religionsgeschichte, Freiburg 1887 89, 2. AuH. 1897) und Rauwen- hoff (t 1889; Religionsphilos. 1887, deutsch von Hanne 1889, 2. Aufl. 1894; über ihn 0. Kuttner, Eine neue Religionsphilosophie, Oster- programm des Gymnas. zu Gnesen, Posen 1891 und O. Pfleiderer in der Zeitschr. für protest. Theol. 1890).

Des belgischen Dichters Maurice JMaeterlinck Philosophische Werke hat Friedr. von Oppeln-Bronikowski übersetzt (Leipzig bei Eugen Diederichs^: Der Schatz der Armen (1896), Weisheit und Schicksal (1898'), Das Leben der Bienen (preisgekrönt von der französischen Akademie), Der begrabene Tempel. Über ihn Monty Jacobs und H. Meyer- Benfey.

Über polnische Philosophie handelt Struve im 10. Bande der Philos. Monatsh. 1874 und im 8. Bande des AGPh. 1895 und Lutos- LAWSKi bei Überweg 9 § 73. Der Mathematiker Hoene-Wronski (f 1853) knüpft an Kant an, Trentowski (j 1869 in Freiburg i. B.) und der Ge- schichtsphilosoph Graf Cieszkowski (f 1 894) stehen Hegel nahe, H. Struve in Warschau (Einleitung in die Philos. 1896) bekennt sich zum Ideal- realismus. Zu den Gegnern des \on Ochorowicz u. a. vertretenen Posi- tivismus gehört Teichmüllers Schüler W. Lutoslawski (Tlic origin and

1 V. Voorthuysens Nachlaß, herausgeg. von DE Geer, 2 Bde. 1886 87, ist nur in wenigen Exemplaren gedruckt worden. Den ersten Band bildet ein scharfsinniges Werk über Kants Erkenntnistheorie. Wir verweisen auf die ausführlichen Referate von Land (Philos. Monatsh. Bd. 24) 1888 und von van der Wyck (VKSt. Bd. 3: ,,Kant in Holland, I") 1899.

2 Über Cornelis Bellaar Spruyts Leben handelt van der Wyck (Jahrbuch d. k. Akad. d. Wiss.) Amsterdam 1904.

3 Multatuli (Eduard Douwes Dekker, geb. 1S20 in Amsterdam, lebte seit 1870 in Wiesbaden, y 1887 in Nieder-Ingelheim a. Rh.): 7 Bände „Ideen" 1862 f. Seit 1899 erscheint in Minden eine deutsche Übersetzung seiner ausgewählten Werke von W. Spohr.

Die deutsche Philosophie seit Hegels Tode,

517

groii'fh of Plaio's Logic 1897, vergl. P. Meyer, L.s Theorie der Stylo- metrie, ZPhKr. Bd. iio, 1897; Seelenmacht 1899). Seit 1898 erscheint in Warschau eine ^■on Lad. Weryho recUgierte Philosophische Rundschau.

Über russische Philosophie siehe Jak. Kolubowsky in der ZPhKr, Bd. 104, 1894 und bei Überweg^ § 74. In INIoskau erscheint seit 1889 eine Zeitschrift „Probleme der Philosophie und Psychologie", begründet \'on Prof. Nik. v. Grot (f 1899). OssiP Lourie, La phUosophie rtisse contemporai7ic 1902, bespricht den JMystiker Wladimir Ssolowjow (1853 bis 1900), den „Psycho-Idealisten" Grot, den Empiristen Troitzkij (f 1899), den Skeptiker Preobrajenski u. a. Neben diesen und dem Reformator Grafen Leo Tolstoj^ (geb. 1828) haben sich in letzter Zeit einen Namen gemacht der Anthropologist Lawrow (f 1900), der Panpsychist Kozlow (t 1901), der Kantianer Alexander Wwiedienskij, Lopatin (geb. 1855) ^^'^'^ B- Tschitscherin, dessen „Philosophische Forschungen" (Die positive Philosophie und die Einheit der Wissenschaften ; Die Grundlagen der Logik und der Metaphysik) 1899 deutsch erschienen sind.

Über ungarische Philosophie hat M. Szlavik in der ZPhKr. Bd. 107, 1896 berichtet. Über das System des Cyrill Horwath (f 1884 in Pest) vergl. den Aufsatz von Em. Nemes ebenda Bd. 88, 1886.

Sechzehntes Kapitel. Die deutsche Philosophie seit Hegels Tode-

Mit Hegel erlischt das ruhmvolle Dynastengeschlecht, das seit Aus- gang des XVIII. Jahrhunderts die Geschicke der deutschen Philosophie mit starker Hand gelenkt hatte. Von seinem Tode (1831) dürfen wir die zweite Periode der nachkantischen Philosophie 2 datieren, die sowohl

1 Bei Diederichs erscheinen Tolstoijs Sozial-ethische Schriften, herausgeg. von Raph. Löwenfeld; der erste Band bringt Meine Beichte; Mein Glaube; Was ist Reli- gion? Über T. handeln R. LÖWENFELD 1901 ; G. Glogaus schöner Vortrag, Kiel 1893, der die vier Hauptschriften (Vernunft und Dogma; Kurze Auslegung des Evan- geliums; Was sollen wir also tun? Über das Leben j durchgeht; W. BODE 1900; Esther Axelrod, T.s Weltanschauung und ihre Entwicklung 1902.

2 Über die Philosophie seit 183 1 vergl. Ed. Erdmann, Grundriß, Bd. II, An- hang § 331 348; Überweg, Grundriß, 4. Teil, § 13 38; Lange, Gesch. d. Mate- rialismus; B. Erdmann, Die Philosophie der Gegenwart, in der Deutschen Rund- schau, Bd. 19 und 20, 1879, Juni- und Juliheft; (A. IvROHN:) Streifzüge durch die Philosophie der Gegenwart, in der ZPhKr. Bd. 87 und 89, 1885—86. Otto Sie- bert, Gesch. d. n. deutschen Philos. seit Hegel 1898; Ed. v. Hartmann, Die mo- derne Psychologie 1901, Die Weltanschauung der modernen Physik 1902; O. KÜLPE, Die Philos. der Gegenwart in Deutschland 1902, 2. Aufl. 1904; J. Baumann, Deutsche

5i8

Die Spaltung der Hegelschen Schule.

durch die Abnahme der spekulativen Schaffenskraft wie durch die Zer- spHtteruno der Arbeit erhebhch und unvorteilhaft von der ersten absticht. Wenn bis gegen Mitte des XIX. Jahrhunderts das alle Gebildeten um- fassende philosophische Publikum von gemeinsamen Problemen in Atem gehalten wurde und mit einmütiger Spannung die Verhandlungen ihrer Bearbeiter verfolgte, ist seitdem die Teilnahme weiterer Kreise für philo- sophische Fragen sehr viel matter geworden; so ziemlich jeder Denker geht, nur verwandten Stimmen sein Ohr öffnend, seine eigene Straße; der innere Zusammenhang der Schulen hat sich gelockert, die Fühlung mit Andersdenkenden ist verloren. Erst die letzten Jahrzehnte haben insofern eine Wandlung zum Besseren gebracht, als durch die neukan- tische Bewegung, die Systeme Lotzes und Hartmanns, die vom Darwinis- mus ausgegangenen Impulse für die Naturphilosophie, durch energische Bemühungen auf dem Gebiete der Ethik und Ästhetik und neue psycho- logische Untersuchungsmethoden Sammelpunkte des philosophischen Interesses geschaffen worden sind.

1. Von der Spaltung der Hegelsehen Schule bis zum Materialismusstreit.

Ein Jahrzehnt, nachdem die Philosophie Hegels ihre Herrschaft angetreten, wurde durch Strauß' „Leben Jesu" (1835) eine Spaltung in der Schule hervorgerufen. An religiösen Fragen, über welche Hegel sich nicht mit hinlänglicher Deutlichkeit geäußert, traten die Differenzen zu- tage. Das Verhältnis zwischen Wissen und Glauben, wie er es be- stimmt hatte, ließ abweichende Deutungen und Folgerungen zu, zugun- sten wie zuungunsten der kirchlichen Lehre. Die Philosophie hat denselben Inhalt, wie die Religion, aber in anderer Form, nämlich nicht in der Form der Vorstellung, sondern in der des Begriffs: sie ver- wandelt das Dogma in eine spekulative Wahrheit. Die konservativen Hegelianer halten sich an den gleichen Inhalt beider Erkenntnisarten, die liberalen an die veränderte Form, die auch eine Veränderung des Inhalts mit sich bringe. Nach Hegel ist die niedere Stufe in der höheren „aufgehoben", d. h. sowohl aufbewahrt als verneint. Die orthodoxen Mit- glieder der Schule betonen die Konservierung der religiösen Lehrsätze, ihre Rechtfertigung von selten des Philosophen, die fortschrittlichen die Negier ung derselben, ihre Überwindung durch den spekulativen Begriff Die allgemeine Frage, ob bei der Umwandlung des Dogmas in ein Philosophem die kirchliche Bedeutung des ersteren erhalten bleibe oder preiszugeben sei, gliedert sich in drei spezielle Fragen, die anthropolo-

u. außerdeutsche Philos. der letzten Jahrzehnte 1903. Im voraus sei auf den noch ausstehenden dritten Band von Windelbands Geschichte der neueren Philosophie verwiesen.

Hegelianer. ^ig

o-ische, die soteriologische und die theologische: ob nach Hegeischen Prinzipien die Unsterblichkeit als individuelle Fortexistenz der Einzel- geister oder nur als Ewigkeit der allgemeinen Vernunft zu fassen, unter dem Gottmenschen die Person Christi oder aber die menschliche Gattung, die Idee der Menschheit zu verstehen sei, der Gottheit schon vor der Weltschöpfung Persönlichkeit zukomme oder ob sie erst in den Menschengeistern zum Selbstbewußtsein gelange, ob Hegel Theist oder Pantheist sei, ob er die Transzendenz Gottes lehre oder die Imma- nenz. Für die orthodoxe Auslegung treten die Althegelianer ein, gegen dieselbe die Junghegelianer. Jene Göschel, Gabler, Hinrichs, Schall er (f 1868; Geschichte der Naturphilosophie seit Bacon 1841 flf.), Joh. Ed. Erdmann in Halle 1 bilden nach dem von Michelet aus- geführten parlamentarischen Vergleiche von Strauß die „Rechte", diese Strauß, Feuerbach, Br, Bauer und A. Rüge, der mit Echtermeyer (t 1844) die Halleschen, später Deutschen Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst 1838 bis 1842 herausgab die „Linke". Zwischen ihnen stehen, das „Zentrum" bildend, Karl Rosenkranz 2 in Königsberg (1805 79), C. L. Michelet in Berlin (1801 93; Hegel, der un- widerlegte Weltphilosoph 1870, System der Philos. 1876 ff.; oben S. 14) und die Theologen Marheineke (Schüler von Daub in Heidelberg) und W. Vatke (Religionsphilos., herausgeg. v. Preiss 1888). Ihnen gegenüber die Gruppe der Halb- oder Pseudohegelianer (S. 526 f.), welche sich mit den theistischen Lehren der Rechten einverstanden erklären, der Linken aber darin recht geben, daß sie Hegels eigene Meinung oder doch die richtigen Konsequenzen aus dessen Standpunkt vertrete.

Ferner sind als Hegelianer zu nennen der Pädagog Thaulow (t 1883 in Kiel), der Religions- und Rechtsphilosoph Ad. Lasson in Ber- lin, die Ästhetiker Hotho, Karl Werder (1806 93), Friedrich Theod. Vischer^ (1807 87), Ad. Zeising (1810 76; Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers 1854, Ästh. Forschungen 1855, Der goldene Schnitt '1884) und Max Schaslcr (1819 1903, Kritische

1 J. E. Erdmann (1805—92): Leib und Seele 1837; Psychologische Briefe 1851, 7. Aufl. 1897; Ernste Spiele 1871, 4. Aufl. 1890. Über ihn Nekrolog von B. Erdmann, Philos. Monatsh. Bd. 29, S. 2 19 f.

2 K. Rosenkranz: Psychologie 1837, 3. Aufl. 1863; Wissenschaft der logischen Idee 1858; Studien 1839 ff"., Neue Studien 18756".; Ästhetik des Häßlichen 1853; mehrere Werke über Geschichte der Poesie.

3 Vischer, Ästhetik 1846 58, Kritische Gänge i844ft". (im fünften Bande der neuen Folge die „Kritik meiner Ästhetik"), mehrere Hefte „Altes und Neues" ; das Tagebuch im zweiten Teile des Romans „Auch Einer" 1879 entwickelt eine ori- ginelle pantheistische Weltanschauung. Vorträge, herausgegeben von seinem Sohne Robert Vischer, erste Reihe: Das Schöne und die Kunst 189S, zweite Reihe: Shakespearevorträge 1899 f.

520

Die Hegelsche Linke.

Geschichte der Ästhetik 1872, Ästhetik iSSöj, die Philosophiehistoriker Seh wegler (f 1857; Geschichte der griechischen Philosophie 1859, 4. Aufl. 1886, herausgegeben von Karl Köstlin, dessen Ästhetik 1869 erschien), Ed. Zeller ^ (geb. 1814; seit 1872 Prof. in Berlin, hat sich nach Stuttgart zurückgezogen) und Kuno Fischer (geb. 1824; 1856 72 Professor in Jena, seitdem in Heidelberg; Logik und Metaphysik, 2. Aufl. 1865). Während Weißenborn (f 1874) unter dem gleichzeitigen Ein- flüsse \^on Schleiermacher steht, Zeller und Fischer von Hegel zu Kant zurückstreben, hat der von Hegel aus-, durch Schopenhauer und Hart- mann hindurchgegangene Johannes Volkelt 2 in Leipzig (geb. 1848) einen selbständigen erkenntnistheoretischen Standpunkt begründet und sich durch energische Bekämpfung des Positivismus (Das Denken als Hilfs- vorstellungstätigkeit und als Anpassungsvorgang, in der ZPhKr. Bd. 96 und 97, 1889 90) und als Ästhetiker Verdienste erworben.

Eingehendere Betrachtung erfordern die Häupter der Hegeischen Linken. Bei David Friedrich Strauß^ (1808 74, geb. und gest. in Ludwigsburg) wird die Religionsphilosophie zur historischen Kritik der Bibel und der Dogmatik. Die biblischen Erzählungen sind zum großen Teil nicht Geschichte (dies war der gemeinschaftliche Irrtum der offen- barungsgläubigen und der vernunftgläubigen Ausleger), sondern Mythen, d. h. übersinnliche Fakta in geschichtsartiger Form und s_ymbolischer Sprache vorgetragen. Aus den Widersprüchen der Berichte und der Unmöglichkeit der Wunder geht her^'or, daß es sich hier nicht um tat- sächliche Begebenheiten handelt. Die Mythen haben (spekulative, abso- lute) Wahrheit, aber keine (geschichtliche) Wirklichkeit. Sie sind absichts- lose Dichtungen der A'olksphantasie, aus den Verfassern der Evangelien redet der Geist der Gemeinde, welcher das Historische (die Lebens- geschichte Jesu) durch mythische Ausschmückung als Einkleidungsform für

1 Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwickelung i844f., 5 Bde., 3. Aufl., I. Bd. 5. Aufl., II. Bd. 4. Aufl.; drei Sammlungen Vorträge und Aufsätze 1865, 1877, 1884.

~ Volkelt: Die Traumphantasie 1875; Kants Erkenntnistheorie 1879; Über die Möglichkeit der Metaphysik, Antrittsrede in Basel 1884; Erfahrung und Denken, Kritische Grundlegung der Erkenntnistheorie 1886; Grillparzer als Dichter des Tra- gischen 1888; Vorträge zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart (gehalten in Frankfurt a. M.) 1892; Ästhetische Zeitfragen, Vorträge 1895; Ästhetik des Tragischen 1897; Das Recht des Individualismus (ZPhKr. Bd. iii) 1897; Psycho- logie und Pädagogik, in iLBERGs u. Richters Neuen Jahrbb. 1898; System der Ästhetik, Band l, 1905.

3 Strauß: Das Leben Jesu 1835 36, 4. Aufl. 1840, Bearbeitung desselben fürs deutsche Volk 1864; Die christliche Glaubenslehre 1840 41; Voltaire 1870. Die gesammelten Schriften, 12 Bände, i876f., sowie Ausgewählte Briefe 1895 hat Ed. Zeller herausgegeben. Über ihn Zeller 1874, Hausrath 1876 78 und Samuel Eck 1899.

Stracss. "21

eine überhistorische, ewige Wahrheit (die spekulative Idee der Gott- menschheit) benutzt. Der Mensch gewordene Gott, in welchem sich das Unendliche und das Endliche, die göttliche und die menschliche Natur vereinigt, ist die menschliche Gattung. Die Idee der Gottmenschheit stellt sich in einer ^Mannigfaltigkeit von einander ergänzenden Exemplaren dar, statt ihre ganze Fülle in ein einziges auszugießen. Als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt (Auferstehung. Himmel- fahrt usw.), ist statt eines einzigen Individuums die (reale) Idee der Gattung zu setzen. Die ]Menschheit ist der Sohn Gottes.

Einer gleich scharfen Kritik, wie in seinem ersten Hauptwerk die e\angelische Geschichte, unterzieht Strauß im zweiten die christlichen Dogmen, deren Vernichtung bereits in ihrer historischen Entvvickelung Aollzogen sei: die Dogmengeschichte ist die objektive Dogmenkritik. Christentum und Philosophie, Theismus und Pantheismus, Dualismus und Immanenz sind unversöhnliche Gegensätze. Um wissen zu können, muß man aufhören zu glauben. Das Dogma ist das Erzeugnis des unphilo- sophischen, idiotischen Bewußtseins, der Offenbarungsglaube nur für den, der sich zur Vernunft noch nicht erhoben hat. Bei Überführung der religiösen Vorstellung in die philosophische Idee bleibt nichts von dem Spezifischen der Vorstellung übrig, die Vorstellungsform muß wirklich über\\unden werden. Die christliche Gegenüberstellung von Jenseits und Diesseits erklärt sich daraus, daß der sinnlich-xernünftige Menschen- geist, solange er sich noch nicht philosophierend als Einheit des Un- endlichen und Endlichen weiß, sondern sich nur erst als endliches, .sinn- lich-empirisches Bewußtsein fühlt, das Unendliche, das er in sich hat, als ein fremdes aus sich herausstellt, als ein jenseitiges betrachtet. Diese gläubige Trennung ist durchaus unphilosophisch, die Aufgabe des Philo- sophen ist, alles Jenseits auf das Diesseits zurückzuführen. So ist ihm die Unsterblichkeit nicht etwas Zukünftiges, sondern die eigene Kraft des Geistes, sich über das Endliche zur Idee zu erheben. Und wie die jenseitige Fortdauer, so fällt auch der transzendente Gott hinweg. Das Absolute ist die allgemeine Welteinheit, welche das Einzelne als ihre Modi setzt und aufhebt. Gott ist das Sein in allem Dasein, das Leben in allem Lebendigen, das Denken in allen Denkenden: er steht nicht als Einzelperson neben und über anderen Personen, sondern ist das Unendliche, das in den Menschengeistern selbst sich personifiziert und zum Bewußtsein gelangt, und zwar von Ewigkeit her: als es noch keine Erdmenschheit gab, gab es Geister auf anderen Sternen, in denen Gott sich spiegelte.

Drei Dezennien später hat Strauß noch einmal viel von sich reden gemacht durch sein materialistisches und atheistisches Bekenntnis „Der alte und der neue Glaube" 1872 (seit der zweiten Auflage begleitet von einem Nachwort als Vorwort), worin er den Kampf gegen den religiösen

522

Die Hegelsche Linke.

Dualismus fortsetzt. Die Frage „sind wir die Gebildeten der Gegen- wart — noch Christen?" wird verneinend beantwortet. Das Christen- tum ist ein Kultus der Armut, weltverachtend, arbeits- und bildungsfeind- lich; wir aber haben gelernt, in Wissenschaft und Kunst, in Reichtum und Erwerb die Haupthebel der Kultur und des Fortschritts der Hu- manität zu achten. Das Christentum reißt dualistisch Leib und Seele, Zeit und Ewigkeit, Welt und Gott auseinander; wir aber brauchen keinen Schöpfer, denn der Prozeß des Lebens hat weder Anfang noch Ende. Die Welt ist zwar auf die höchste Vernunft, nicht aber von einer solchen angelegt. Unsere höchste Idee ist das gesetzmäßige, lebens- und ver- nuhftvoUe All, und unser Gefühl gegen das Universum das Bewußt- sein der Abhängigkeit von seinen Gesetzen übt einen nicht geringeren versittlichenden Einfluß, ist nicht minder verehrungsvoll und nicht minder verletzbar durch einen pietätlosen Pessimismus, wie dasjenige der From- men alten Stils gegen ihren Gott. Daher darf die Antwort auf die zweite Frage „haben wir noch Religion?" bejahend ausfallen. Eines Kultus und einer Kirche bedarf der neue Glaube nicht. Da die trockenen Gottes- dienste der freien Gemeinden nichts für Phantasie und Gemüt bieten, muß die Erbauung des Herzens auf anderen Wegen erreicht werden: durch Teilnahme an den Interessen der Menschheit, an dem nationalen Leben und nicht zuletzt durch ästhetische Genüsse. So kehrt der Greis in seinem letzten Buche, das in zwei Zugaben auf unsere großen Dichter und Musiker zu reden kommt, zu einem schon früher (1838) geäußer- ten Gedanken zurück, daß an die Stelle des religiösen Kultus der Kul- tus des Genies treten solle.

Wie Strauß vom Hegelianismus zum Pantheismus übertrat, so schlug Ludwig Feuerbach (1804—1872)1, ein Sohn des großen Juristen Anselm Feuerbach, nachdem er eine kurze Zeit sich in der gleichen Richtung bewegt hatte, die entgegengesetzte, individualistische ein, um schließlich ebenfalls im Materialismus zu endigen. „Mein erster Gedanke," so schildert er selbst seinen Entwickelungsgang, „war Gott, mein zweiter

1 Feuerbach, geboren in Landshut, studierte in Heidelberg und Berlin, habili- tierte sich 182s in Erlangen und lebte 1836 60 in dem Dorfe Bruckberg unweit Ansbach, dann bis zu seinem Tode in Nürnberg auf dem Rechenberg. Sämtliche Werke in 10 Bänden 1846 66, Neuausgabe der Werke von Bolin und Jgdl, Stuttg. seit 1903. Die Hauptwerke sind betitelt: P. Bayle 1838; 2. Aufl. 1844; Philos. und Christentum 1839; Das Wesen des Christentums 1841, 4. Aufl. 1883; Grundsätze der Philos. der Zukunft 1843; Das Wesen der Religion 1845; Vorlesungen über das Wesen der Religion (gehalten in Heidelberg 1848 49) 1851; Theogonie 1857; Gott, Freiheit und Unsterblichkeit 1866. Über F. handeln Karl Grün 1874, C. N. Starcke 1885, W. Bolin 1891, Wilh, Wintzer (Die natürliche Sittenlehre F.s, Diss.) 1898, Ders,, Die ethischen Untersuchungen F.s (AGPh. Bd. 12, S. 187) 1899, P. Hensel (Frankf. Zeitung vom 27. Juli) 1904 und vor allen Friedrich Jgdl (Frommanns Klassiker, Band 17) 1904.

Strauss, Feuerbach. c2'?

die A'ernuiift, mein dritter und letzter der Mensch." Wie die Theologie durch Hegels Vernunftphilosophie überwunden worden ist, so muß diese wiederum der Philosophie des Menschen den Platz räumen. „Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur als seiner Basis zum höchsten und alleinigen Gegenstand der Philosophie und demnach die Anthropologie zur Universalwissenschaft." Wahr und göttlich ist nur, was unmittelbar durch sich selbst gewiß ist. Sonnenklar aber ist nur das Sinnliche; nur wo die Sinnlichkeit anfängt, hört aller Zweifel und Streit auf. Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen; nur die Existenz in Raum und Zeit ist Existenz: Wahr- heit. Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Wenn die alte Philosophie zu ihrem Ausgangspunkte den Satz hatte: „Ich bin ein abstraktes, ein nur tlenkendes Wesen, der Leib gehört nicht zu meinem Wesen," so beginnt dagegen die neue Philosophie mit dem Satze: „Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen, der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, mein Wesen selber." Den Begriff Sinnlichkeit braucht jedoch Feuerbach in einer so weiten und verschwommenen Bedeutung, daß er, unterstützt oder getäuscht durch die Mehrdeutigkeit des Wortes Empfindung, auch die erhabensten und heiligsten Gefühle in denselben mitaufnimmt. Auch die Gegenstände der Kunst werden gesehen, gehört, gefühlt, auch die Seele anderer Menschen wird empfunden. In den Empfindungen sind die tiefsten und höchsten Wahrheiten verborgen. Nicht nur Äußerliches, auch Innerliches, nicht nur Fleisch, auch Geist, nicht nur das Ding, auch das Ich; nicht nur das Endliche, Erscheinende, auch das wahre göttliche Wesen ist Gegenstand der Sinne. Die Empfindungen beweisen das Dasein der Gegenstände außer unserem Kopfe: es gibt keinen anderen Beweis vom Sein, als die Liebe, die Empfindung überhaupt. Alles ist sinnlich wahrnehm- bar, wenn nicht unmittelbar, so doch mittelbar, wenn nicht mit den pöbelhaft rohen Sinnen, so doch mit den gebildeten, wenn nicht mit dem Auge des Anatomen und Chemikers, so doch mit dem des Philo- sophen. Alle unsere Ideen entspringen aus den Sinnen, aber zu ihrer Erzeugung bedarf es der Mitteilung und des Gesprächs mehrerer Menschen. Die hölieren Begriffe können nicht aus dem einzelnen Ich ohne ein sinnlich gegebenes Du abgeleitet werden; das höchste Sinnesobjekt ist der ^lensch; nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemein- schaft enthalten, nur im Leben mit anderen und für andere erreicht er seine Bestimmung und Glückseligkeit. Das Gewissen ist das an die Stelle des verletzten Anderen sich setzende Ich. Der Mensch mit Mensch, die Einheit von Ich und Du ist Gott, Gott ist die Liebe.

Der Religionsphilosophie stellt Feuerbach die x\ufgabe, die Reli- gion, statt Vernunft in ihr nachzuweisen, in ihrer Genesis psychologisch zu erklären. Das Doorma ist, indem es Wunder zu glauben befiehlt,

524

Die Hegelsche Linke.

ein Verbot zu denken. Daher soll der Philosoph es nicht rechtfertigen, sondern die Illusion aufdecken, der es seine Entstehung verdankt. Die spekulative Theologie ist eine betrunkene Philosophie, es wird Zeit, nüchtern zu werden und zu erkennen, daß Philosophie und Religion einen diametralen Gegensatz bilden, sich zueinander verhalten wie Gesundes und Krankes, wie Denken und Phantasie. Bildung und Gottesglaube, der immer zu- gleich Wunderglaube ist, sind un^•ereinbar.

Die Religion entsteht daraus, daß der Mensch sein eigenes wahres Wesen sich gegenständlich macht, es sich als ein persönliches Wesen gegenüberstellt, ohne daß ihm diese Entäußerung seiner selbst, jene Identität des göttlichen und menschlichen Wesens zu Bewußtsein kommt. Daher müssen die Hegeischen Sätze, das Absolute sei Selbstbewußtsein, im Menschen wisse Gott sich selbst, herumgedreht werden: das Selbst- bewußtsein ist das Absolute, der Mensch weiß in seinem Gott nur sich. Die Gottheit ist unser eigenes allgemeines Wesen, befreit von den in- dividuellen Schranken, angeschaut und verehrt als ein anderes, vcai uns unterschiedenes, selbständiges Wesen, menschenähnlich, aber von über- menschlicher Macht, von dessen Wunderwirken wir die Erfüllung unserer Wünsche erwarten. Gott ist das objektivierte Selbst, das ausgesprochene Innere des Menschen, der Mensch Anfang, Mittelpunkt und Ende der Religion. Alle Theologie ist Anthropologie, denn alle Religion ist Selbst- vergötterung des Menschen. ^ In der Religion entzweit sich der Mensch mit sidi selbst, er setzt sich doppelt, einmal als Beschränktes (als mensch- liches Individuum), sodann als Unbeschränktes, ins Unendliche Gestei- gertes (als Gott), und dieses vergöttlichte Selbst betet er demütig an und opfert ihm, um es günstig zu stimmen und von ihm die Befriedigung der Bedürfnisse zu erlangen, welche der Weltlauf unerfüllt läßt. So erwächst die Religion aus dem Egoismus: ihr Grund ist der Abstand zwischen unserem Wollen und unserem Können, ihr Zweck die Befreiung von der Abhängigkeit, in der wir uns der Natur gegenüber fühlen, die Erlösung vom Übel. (Gleich der Kultur will die Religion die Natur zu einem verständlichen und willfährigen Wesen machen, nur daß sie sich dabei der übernatürlichen Mittel des Glaubens, des Gebetes, der Zauberei bedient; erst allmählich lernt die Menschheit, die Übel durch natürliche Mittel zu bekämpfen.) Was der Mensch nicht selbst ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen Göttern als seiend vor; sie sind die in wirkliche Wesen verwandelten Herzenswünsche , der in der Phantasie befriedigte Glückseligkeitstrieb des Menschen . Das gleiche gilt von allen Dogmen: wie Gott das Jawort unserer Wünsche, so ist das

1 Die spätere Religion sieht ein, daß, was die frühere als Gott verehrte, nur etwas Natürliches und Menschliches war, und schilt sie Götzendienst, nimmt sich selbst aber von dieser Regel aus.

Feuerbach, Bauer. 525

Jenseits das \on der Phantasie verschönerte, idealisierte Diesseits. Statt „Gott ist barmherzig, er ist die Liebe, ist allmächtig, tut Wunder und erhört Gebete" muß es umgekehrt heißen: die Barmherzigkeit, die Liebe, die Allmacht, das Wundertun und Gebeteerhören ist göttlich. In den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls erblickt Feuerbach die Wahrheit, daß das Wasser und das Essen etwas Unentbehrliches und Göttliches sei. Als Feuerbach in der Fortsetzung der naturalistischen Richtung bei dem Extrem des Materialismus anlangte, hatte seine Philosophie (deren ^'erschiedene Phasen genauer zu verfolgen wir keinen Anlaß haben) den Kulminationspunkt ihrer Wirkung schon überschritten. Aus seinen späteren Schriften ist nicht viel mehr in die größere Öffentlichkeit gedrungen als das Witzwort, daß der INIensch ist, was er ißt.

Kürzer dürfen wir uns über die übrigen Mitglieder der Hegeischen Linken fassen. Bruno Bauer ^ (f 1882; sein Hauptwerk ist die drei- bändige „Kritik der Synoptiker" 1841 42, welcher 1840 eine Kritik des Johannesevangeliums vorausgegangen war) hatte anfangs auf der rechten Seite der Schule gestanden, war aber bald auf die äußerste Linke übergetreten. Die evangelischen Erzählungen erklärt er für Ten- denzdichtungen, für absichtliche, aber nicht betrügerische Erfindungen, aus denen man trotz ihrer Unwirklichkeit recht gut Geschichte lernen könne, sofern sie den Geist der Zeit spiegeln, in der sie gedichtet wurden. Viel radikaler sind seine und seines Bruders Edgar Publikationen seit dem Jahre 1S44. Die Brüder vertreten hier den Standpunkt der „reinen oder absoluten Kritik", die sich auf alle Dinge und Ereignisse erstreckt, für oder gegen welche von irgendeiner Seite Partei ergriffen wird, und ruhig zusieht, wie alles sich selbst zerstört. Sobald etwas anerkannt ist, ist es schon nicht mehr wahr. Nichts ist absolut gültig, alles nichtig, Wahrheit hat nur das kritisierende, alles zerstörende, aller sittlichen Bande ledige Ich.

Noch ein weiterer Schritt über Feuerbach und Br. Bauer hinaus war möglich, der \ on der Gemeinschaft zum Einzelnen, selbstsüchtigen Indi- viduum, vom kritisierenden, also denkenden Ich zum genießenden sinnlichen. Ihn tut das seltsame Buch „Der Einzige und sein Eigentum", welches der 1856 in Berlin verstorbene Kaspar Schmidt 1845 unter dem Pseudonym Älax Stirner veröffentlichte - und welches bei der Nietzsche- gemeinde zu neuem Ansehen gelangt ist. Der Einzige, von welchem der Titel spricht, ist der Egoist. Mir geht nichts über mich, ich be- nutze die INIenschen und verbrauche die Welt zu meinem Selbstgenusse.

^ Nicht zu verwechseln mit dem Haupte der Tübinger Schule Ferd. Baur ("!' 1860).

- In zweiter Auflage 1882 bei Reclam erschienen. Stirners Kleine Schriften hat, J. H. Mackay 1S98 herausgegeben, t'ber St. vergl. K. JoÜL, Philosophenwege 1901 S. 228—262.

C26 Stirner, Marx. Die Theistenschule.

Ich will alles sein und haben, was ich sein und haben kann; ich bin zu allem ermächtigt, dessen ich mächtig bin. Sittlichkeit ist ein Trug- gebilde, Gerechtigkeit wie alle Ideen ein Gespenst. Wer Ideale gelten läßt und Allgemeinheiten wie Selbstbewußtsein, Mensch, Gesellschaft ver- ehrt, steckt noch tief im Vorurteil und Aberglauben und hat das alte orthodoxe Gespenst der Gottheit nur verscheucht, um an seine Stelle ein neues zu setzen. Gar nichts darf respektiert werden.

Aus der Hegeischen Schule sind auch die Führer der Sozialdemo- kratie hervorgegangen: Ferd. Lassalle (f 1864; Die Philosophie Hera- kleitos des Dunklen 1858) und Karl Marx ^ (1818 83, gest. in London). Marx hat, von Feuerbach für den Naturalismus gewonnen, unter Saint- Simons und Louis Blancs Einflüsse die seit Fr. Engels (f 1895; E. Dührings Umwälzung der Wissenschaft 1878) sogenannte materia- listische Geschichtsauffassung begründet, welche die sozialen, politischen und geistigen Entwickelungen ausschließlich von der Wandlung der wirt- schaftlichen Verhältnisse, der materiellen Produktivkräfte und der Pro- duktionsweise abhängen läßt. Mit der Technik der Naturbearbeitung, welche die Basis bildet, verändert sich der rechtliche und staatliche Über- bau — die Politik eine Folgeerscheinung der Ökonomie und weiterhin das geistige Leben in Moral, Religion, Kunst und Philosophie. Über die materialistische Geschichtsphilosophie siehe P. Barth in den Jahrbb. für Nationalök. Bd. 66, 1896 und in seiner Philos. d. Gesch. als Soz. 1897 S. 303 f.

Unter den Gegnern der Hegeischen Philosophie stehen ihr selbst am nächsten die oben (S. 519) als Halbhegelianer bezeichneten Mitglieder der „Theistenschule," welche, teilweis mit Beibehaltung der dialektischen Methode, in einer spekulativen Theologie die für den Philosophen un- aufgebbare, von Hegel nur zu ausschließlich betonte Immanenz des Ab- soluten mit der durch die christliche Glaubenserfahrung geforderten Trans- zendenz Gottes zu verschmelzen, einen die Wahrheit des Pantheismus als Moment in sich enthaltenden Theismus zu begründen suchen. Gott ist in allen Geschöpfen gegenwärtig, gleichwohl von ihnen geschieden, er ist sowohl inner- als außerweltlich, ist selbstbewußte Persönlichkeit, freier schöpferischer Geist, ist dies von Ewigkeit her und wird es nicht erst durch die Weltentwickelung. Er bedarf der Welt nicht zu seiner Vollendung, sondern schafft sie aus Güte. Statt mit dem leeren Beüriff

1 Marx: Das Elend der Philos. 1847, deutsch 1S85; Zur Kritik der politischen Ökonomie 1859; Das Kapital, Bd. I, 1867; ein zweiter und dritter Band folgten 1885 und 1894, herausgeg. von seinem Freunde Fr. Engels.

Weisse, der jüngere Fichte. ^27

des Seins, wie Hegels Logik, muß die Philosophie mit der lebendigen Gottheit beginnen. Denn die Kategorien drücken (ein schon von Schelling ausgesprochener Vorwurf) nur notwendige Formen oder allgemeine Gesetze aus, denen alles Wirkliche sich fügen muß, die aber niemals ein Wirkliches zu erzeugen vermögen: der Inhalt, der in ihnen erscheint und ihnen ge- horcht, kann nur von einer Gottheit geschaffen sein und nur durch Empirie erkannt werden. Dies der Standpunkt von Christian HermannWeiße^ in Leipzig (1801 66), Karl Philipp Fischer ^ (1807 85) in Er- langen, Immanuel Hermann Fichte ^ (1796 1879; 1842 65 Pro- fessor in Tübingen) und dem Schleiermacherianer Julius Braniß in Breslau (1792 1873). In ähnlichem Sinne philosophieren, gleich Weiße und K. Ph. Fischer von Schelling beeinflußt, Jac. Sengler in Freiburg (1799 1878; die Idee Gottes 1845 Q' Leop. Schmid in Gießen (1808 69; vergl. S. 445 Anm.), Johannes Huber (t 1879; über ihn Zirngiebl 1881) und Mor. Carriere^ (1817 95) in München, K. Steffensen in Basel (18 16 88; Ges. Aufsätze 1890, Zur Philos. der Geschichte 1894) und Karl Heyder in Erlangen (1812 86; Die Lehre von den Ideen I. 1874). Auch Chalybaeus in Kiel (f 1862) und Friedrich Harms in Berlin (f 1880; Metaphysik, Logik, Ethik u. a. aus dem Nachlaß herausgegeben von H. Wiese 1885 f.), die wie Fortlage (S. 443) und I. H. Fichte an die Lehre des älteren Fichte an- knüpfen, sind als Gesinnungsgenossen der Genannten zu bezeichnen. Ebenso Hermann Ulrici^ in Halle (1806 84), der langjährige Herausgeber

1 Weiße: System der Ästhetik 1830; Die Idee der Gottheit 1833; Grundzüge der Metaphysik 1835; Philosophische Dogmatik 1855. Mehrere Xachlaßschriften hat sein Schüler Rudolf Seydel herausgegeben ; auch H. Lotze bekennt, Weiße viel zu verdanken. Kud. Seydel in Leipzig (1835 92): Logik 1866; Ethik 1874; Der Schlüssel zum objektiven Erkennen 1889; Religionsphilos., herausgeg. von SchäUEDEL 1893 (über Seydels Religionsphilos. Erlanger Diss. von H. Lischewski 19031; vergl. S. 16. Ein Schüler von Weiße ist G. Portig in Stuttgart.

- K. Ph. Fischer: Die Idee der Gottheit 1839; Grundzüge des Systems der Philosophie 1848 ff. ; Die Unwahrheit des Sensualismus und Materialismus 1853.

3 I. H. Fichte: System der Ethik 1850 53, dessen erster Band eine Ge- schichte der Moralphilosophie seit 1750 bietet; Anthropologie 1856, 3. Aufl. 1876; Psychologie 1864; Die theistische Weltansicht 1873. t'ber ihn: EUCKEN in der ZPhKr. Bd. iio, 1897.

■1 Carriere: Religiöse Reden 1850, 3. Aufl. als Bd. 14 der ,, Werke" (1886 f. J 1894; Ästhetik 1859, 3. Aufl. 1885; Die sittliche Weltordnung 1877, 2. Aufl. 1891; Die Kunst im Zusaninaeuhange der Kulturentwickelung, 5 Bde. 1863 73; Lebens- skizzen 1890. Über ihn Nekrolog von W. Christ, Münchner Akad. 1895, S. 184 f.

■' Ulrici: Über Shakespeares dramatische Kunst 1839, 3. Aufl. 1868; Das Grund- prinzip der Philos. 1845 46; Glauben und Wissen 1858; Gott und die Natur 1861, 2. Aufl. 1866; Gott und der Mensch, 2 Bde.: ,,Leib und Seele" 1866, 2. Aufl. 1874, „Naturrecht" 1872; verschiedene Schriften über Logik, worin das Bewußtsein auf die Tätigkeit des Unterscheidens gegründet und die Kategorien als Funktionsweisen der

528

Der Materialismus.

der vom jüngeren Fichte 1837 gegründeten, 1886 1901 vom A'^erfasser dieses Buches, seit 1902 von L. Busse (im Verein mit Siebeck und Volkelt) redigierten „Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", welche als Organ der theistischen Schule zunächst den Pantheis- mus der Junghegelianer, sodann den seit Mitte des Jahrhunderts wieder mit lauter Stimme verkündeten Materialismus bekämpft hat. Den ver- änderten Zeitverhältnissen entsprechend, hat die Fichte-Ulricische „Zeit- schrift" eine Wandlung der Tendenz dahin erfahren, daß sie nunmehr den idealistischen und metaphysikfreundlichen Bestrebungen jeder Schat- tierung zu dienen sucht. Die 1868 von Bergmann ins Leben gerufenen, später von Schaarschmidt, dann von P. Natorp in Marburg heraus- gegebenen „Philosophischen Monatshefte" (im letzten Bande 1894 ein Register zu allen 30 Bänden], die jetzt als „Archiv für systematische Philosophie" fortgesetzt werden, neigen dem Neukantianismus zu, während die 1877 "^"ori R. AvENARius gegründete, seit 1899 (in Verbindung mit E. Mach und A. Riehl) von Paul Barth redigierte „Vierteljahrs- schrift für wissenschaftliche Philosophie" (seit 1902 mit dem Zusatz „und Soziologie") besonders die einer exakten Behandlung zugänglichen Teile der Philosophie pflegt.

Das Aufkommen des Materialismus war die Folge einerseits der Erschlaffung des philosophischen Geistes, anderseits der Unbefriedigt- heit der Vertreter der Naturwissenschaft durch die Konstruktionen der Schelling-Hegelschen Schule. Wenn gerade der deutsche Naturforscher leicht der Gefahr erliegt, alle Wirklichkeit nach dem ihm vertrauten Ausschnitt derselben, der Welt materieller Substanzen und mechanischer Bewegungen zu beurteilen, so liegt dies daran, daß er es nicht, wie z. B. der Engländer ohne Mühe, fertig bringt, die naturwissenschaftliche und die philosophisch-religiöse Weltanschauung als zwei vollständig heterogene Betrachtungsarten nebeneinander herlaufen zu lassen. Der metaphysische Trieb der Verallgemeinerung und Vereinheitlichung spornt ihn, die Schranke zwischen beiden Gebieten einzureißen, und da ihm die physikalische und biologische Anschauung in Fleisch und Blut übergegangen, sind ihm die psychischen Ereignisse nichts als Gehirn- schwingungen, die Willensfreiheit nebst allen religiösen Vorstellungen nichts als Illusionen, Am lebhaftesten entbrannte der Materialismusstreit auf der Göttinger Naturforscherversammlung 1854, wo RudolfWagner in seinem Vortrage „Über Menschenschöpfung und Seelensubstanz" gegen Karl Vogt (f 1895 in Genf) ausführte, claß die Physiologie keinen Grund habe, die Abstammung des Menschen von einem Paare und eine Stoff lose unsterbliche Seele zu leu2:nen. Vosfts Antwort ist

letzteren gefaßt werden, über den Spiritismus usw. Vergl. Grüneisen, Zur Erinne- rung an U., ZPhKr. Bd. 103, 1894.

-Neue Systembildungen.

529

betitelt „Köhlerglaube und Wissenschaft". Kritisierend und vermittelnd beteiligen sich an dem Streite u. a. Seh all er (Leib und Seele 1855), y. B. Meyer mit einer gleichnamigen Schrift 1856 und der Jenaer Phy- siker Karl SnelP. Eine viel vornehmere Natur als die bekannten Wortführer des Materialismus Moleschott (f 1893, Der Kreislauf des Lebens 1852, 5. Aufl. 1887, gegen Liebigs Chemische Briefe) und Louis Büchner (f 1899), ^^ dessen „Kraft und Stoff" (1855, 19. Aufl. 1898) noch heute mancher Gymnasiast seine freigeisterischen Bedürf- nisse stillt, ist der Arzt Heinrich Czolbe in Königsberg (1819 bis 1873; Neue Darstellung des Sensualismus 1855; Antwort an Lotze 1856; Grenzen und Ursprung der menschlichen Erkenntnis 1865; Grundzüge einer extensionalen Erkenntnistheorie 1875), ^^^ ^"^ sittlichen Gründen Ausschließung alles Übersinnlichen und Zufriedenheit mit der gegebenen Welt der Erscheinungen fordert, zur Erklärung der organischen und geistigen Vorgänge aber außer Stoff und Bewegung noch ewige, zweck- mäßige Formen und ursprüngliche Empfindungen einer Weltseele für notwendig hält. Über ihn H. Lotze (zwei Rezensionen im 3. Bande der Kl. Sehr.), Johnson 1873 und Vaihinger im 12. Bande der Philos. Monatshefte 1876.

II. Neue Systembildungen : Trendelenburg, Feohner, Lotze und Hartmann.

Der spekulative Trieb, zumal der deutschen Volksseele, ist unaus- rottbar. Er hat sich weder durch den Zusammenbruch des Hegeischen Gebäudes entmutigen, noch durch das Geschrei der Erfahrungsapostel beirren, noch durch päpstliche Empfehlung des Thomas von Aquin^ ein- schüchtern lassen. Mannigfache Versuche einer neuen Weltbesrreifuna:

1 Snell (1806 1886): Die Streitfrage des Materialismus 1858; Die Schöpfung des Menschen 1863; aus Snells Nachlaß hat R. Seydel Vorlesungen über die Ab- stammung des Menschen 1888 herausgegeben.

2 Von Rom aus wurde 1879 zur Wiederaufnahme und Verbreitung des thomis- tischen Systems als der allein korrekten Philosophie ermuntert (vergl. R. Eucken: Die Philos. des Thomas v. A. und die Kultur der Neuzeit, 1886; ders., Thomas und Kant, ein Kampf zweier Welten, aus VKSt. Bd. 6, 1901). Dieser Bewegung dienen die Zeitschriften ,, Jahrb. f. Philos. und spekul. Theol.", herausgegeben von Prof. E. CoMMER in Wien 1886 f., und ,, Philosophisches Jahrbuch", auf Veranlassung und mit Unterstützung der Görresgesellschaft herausgegeben von Prof. CoNST. Gutberlet in Fulda 1888 f. Die Lehrbücher von Hagemann (f 1903), Stöckl (1823 95), Gut- beriet (Der Kampf um die Seele, 2. Aufl. 1903), Commer, C. M. Schneider, Feldner, den Jesuiten Pesch und Cathrein u. a. halten sich ebenfalls in den Geleisen der Scholastik. Dagegen haben Bernard Bolzano (1781 1848; Wissenschaftslehre 1837; Selbstbiographie 1875; über ihn R. ZIMMERMANN, Wiener Akad. 1849 und M. PalÄgyi, Kant und Bolzano 1902), Martin Deutinger (f 1864; Grundlinien einer positiven Philos. 1843 49, 6 Bände; über ihn LOR. Kastner, D.s Leben u. Schrif-

Falckenberg, Neuere Philos V. Aufl. ■^4

c ^o ''^- GÜNTHER. Ad. Trendelenburg.

sind gemacht worden, mit ungleichem Erfolg. Von älteren Erscheinungen ^ haben nur zwei einen Anhängerkreis um sichzu versammeln vermocht: der dualistische Theismus Günthers (1783 1863) und die organische Weltanschauung Trendelenburgs (1802 72).

Anton Günther (seit 1827 schriftstellerisch tätig; Gesammelte Schriften 1881; über ihn Biographie von P. Knoodt 1881, der auch 1883 den Antisavarese mit Anhang herausgab), der 1857 seine Lehre widerrufen mußte, beschwört gegen den Hegeischen Pantheismus den Geist des Descartes, mit dem er den Ausgangspunkt vom Selbstbewußt- sein (im Ich sind Sein und Denken identisch) nimmt und sowohl Schöpfer und geschaffene Welt, als auch Natur (zu der auch die Seele zu rechnen ist) und Geist in einen ausschließenden Gegensatz zueinander setzt, im Menschen aber Natur (Leib und Seele) und Geist verbunden sein und unbeschadet ihrer qualitativen Verschiedenheit Wirkungen aus- tauschen läßt. Güntherianer sind J. H. Pabst (f 1838 in Wien), Knoodt in Bonn (f 1889), Th. Weber in Bonn (Metaphysik 1888 91), V. Knauer in Wien (f 1894), E. Melzer u. a.

Friedr. Adolf Trendelenburg 2 in Berlin, der scharfsinnige Kritiker der Hegeischen und Herbartschen Lehre, knüpft sein eigenes Denken an die Philosophie der Vorzeit, insbesondere des Aristoteles an. Grundtatsachen, dem Sein und dem Denken gemeinsam, zwischen beiden vermittelnd und die Übereinstimmung der Erkenntnis mit der

ten I, 1875) und sein Schüler Neudecker, Oischinger, Michelis und der von Schelling beeinflußte W. Rosenkrantz (1821 74, Wissenschaft des Wissens 1866 bis 68, Prinzipien der Theol. 1875) eine freiere Richtung eingeschlagen. Bolzano schei- det, worauf Husserl neuerdings zurückgekommen, den Inhalt des Urteils von der Denkhandlung des Urteilens. Jener „Sinn" des Urteils ist ewig, eine objektive Wahrheit an sich, und hat kein Dasein, dieser Denkakt dagegen ist ein zeitliches Ereignis, eine reale Tatsache.

1 Trahndorff, Gymnasialprofessorin Berlin (1782 1863): Ästhetik 1827 (vergl. E. v. Hartmann in den Philosophischen Monatsheften Bd. 22, 1886, S. 59 f. und J. v. BiLLEWicz ebenda Bd. 21, 1885, S. 561 f.). J. F. Reiff in Tübingen (f 1879): Das System der Willensbestimmuugen 1842. K. Chr. Planck (1819 80): Die Welt- alter 1850 f.; Testament eines Deutschen, herausgegeben von K. Köstlin 1881 (über ihn M. DiETZ in der ZPhKr. Bd. 89, 1886). F. Rose (1815—59): Über die Er- kenntnisweise des Absoluten 1841; Die Psychologie als Einleitung in die Individualitäts- philosophie 1856. An Rose schließt sich Emanuel Schärer an. Friedrich Rohmer (1814 56): Wissenschaft von Gott, Wissenschaft vom Menschen, in „Fr. Rohmers Wissenschaft und Leben", herausgegeben von Bluntschli und RuD. Seyerlen, 6 Bde. 1871 92.

2 Trendelenburg: Logische Untersuchungen 1840, 3. Aufl. 1870; Historische Bei- träge zur Philosophie, 3 Bände 1846, 1855, 1867; Naturrecht auf dem Grunde der Ethik 1860, 2. Aufl. 1868. Über ihn Bratuschecks Biographie (in den Philos. Monatsh. Bd. 8) 1873; Eucken (ebenda Bd. 20) 1884, wieder 'abgedruckt in den „Beiträgen" 1886, und in der Deutschen Rundschau, Dez. 1902.

Fechner und Lotze.

531

Wirklichkeit ermöglichend, sind ihm Bewegung und Zweck. Das Ethische ist die höhere Stufe des Organischen. Raum, Zeit und Kate- gorien sind sowohl Denk- als Seinsformen, die logische Form darf nicht vom Inhalt, der Begriff nicht von der Anschauung getrennt werden. Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß Trendelenburg eine eigentüm- liche und fruchtbare Behandlungsart der Philosophiegeschichte eingeführt hat, nämlich eine historische Untersuchung der einzelnen Begriffe, worin Teichmüller 1 in Dorpat (1832 88) und Eucken in Jena (vergl. S. 16) seinem Beispiel gefolgt sind. Schüler von Trendelenburg ist Kym in Zürich (1822 igoo; Metaphysische Untersuchungen 1875; ^^^ Problem des Bösen 1878).

Von neueren systematischen Versuchen erscheinen erwähnenswert: V. Kirchmann (1802 84, seit 1868 Herausgeber der „Philos. Bibl."): Die Philo- sophie des Wissens 1865; Ästhetik 1868; Über die Prinzipien des Realismus 1875; Katechismus der Philosophie, 4. Aufl. 1897. Eugen Dühring (geb. 1833): Natür- liche Dialektik 1865; Der Wert des Lebens 1865, 5. Aufl. 1894; Kritische Geschichte der Nationalökonomie u. des Sozialismus 1871, 3. Aufl. 1892; Kritische Geschichte der Prinzipien der Mechanik 1873, 3. Aufl. 1887; Kursus der Philosophie 1875; Logik u. Wissenschaftstheorie 1878; Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres 1883, 2. Aufl. 1897; Wirklichkeitsphilosophie 1895; Sache, Leben u. Feinde, 2. Aufl. 1903 (über ihn Helene Druskowitz 1889, Fr. Engels, Herrn E. D.s Umwälzung der Wissenschaft, 4. Aufl. 1901). A. Spir (1837 90): Denken und Wirklichkeit 1873, französich von Penjon 1896; Ges. Schriften, 4 Bände 1883. J. Baumann in Göttingen (geb. 1837): Evangelium der armen Seele 1871; Philosophie als Orien- tierung über die Welt 1872; Handbuch der Moral 1879; Religionsphilosophie 1886; Einfühnmg in die Pädagogik 1890, 2. Aufl. 1901; Elemente der Philos. 1891; Ein Lebensbund 1891 ; Die grundlegenden Tatsachen zu einer wissenschaftl. Welt- u. Le- bensansicht 1894; Realwissenschaftliche Begründung der Moral, des Rechts und der Gotteslehre 1898 u. a. L. Noire (f 1889): Der monistische Gedanke 1875 ^- ^- •^• Frohschammer in München (1821—93): Die Phantasie als Grundprinzip des Weltprozesses 1877; Über die Genesis der Menschheit nnd deren geistige Entwicke- lung in Religion, Sittlichkeit und Sprache 1883; Über die Organisation u. Kultur d. menschl. Gesellschaft 1885; Die Philos. des Thomas von Aquino 18S9; System der Philos. I, 1892.

In der ersten Reihe der Denker, die seit Hegel und Herbart auf- getreten, stehen Theodor Fechner und Hermann Lotze, beide Meister in der Handhabung exakter Methode, zugleich mit ganzer Seele den höchsten Fragen zugewandt, an Weite des Gesichtskreises, an Bedeutung und Tragweite der leitenden Gedanken ihren Zeitgenossen über- legen, Fechner abwechselnd Phantast und nüchterner Forscher, Lotze die Gegensätze in Leben und Wissenschaft mit weicher Hand harmonisierend.

1 Teichmüller: Studien zur Geschichte der Begriffe 1874; Neue Studien z. G. d. B. 1876 79; Unsterblichkeit der Seele, 1874, 2. Aufl. 1879; Das Wesen der Liebe 1880; Literarische Fehden im IV. Jahrh. v. Chr. 1881 und 1884; Die wirkliche u. die scheinbare Welt 1882; Religionsphilosophie 1886; Neue Grundlegung der Psycho- logie und Logik, herausgeg. von J. Ohse 1889.

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G. Th. Fechner.

I. Gustav Theodor Feclmeri (i8oi 87, Professor in Leipzig) bekämpft die in Naturforschung und Theologie gleichsehr einge- bürgerte abstrakte Trennung von Gott und Welt und setzt beide in dasselbe Verhältnis der Zusammengehörigkeit und des Aufeinanderbe- zogenseins, in welchem in uns Seele und Körper stehen. Der Geist gibt der Vielheit materieller Teile Zusammenhalt und bedarf ihrer als Unter- lage und Stoffes für seine einigende Tätigkeit. Wie unser Ich die Mannigfaltigkeit unserer Tätigkeiten und Zustände in der Einheit des Bewußtseins verknüpft, so ist der göttliche Geist die höchste Bewußt- seinseinlieit für alles Sein und Geschehen. In Gottes Geist ist alles so, wie im unsrigen, nur erweitert und gesteigert. Unsere Empfindungen und Gefühle, Gedanken und Entschlüsse sind auch die seinigen, nur daß er, dessen Leib die ganze Natur, dem nicht nur was in, sondern auch was zwischen den Geistern vorgeht, zugänglich ist, mehr empfindet, Tieferes fühlt, Höheres denkt. Besseres will als wir. Nach Analogie des menschlichen Organismus sind sowohl die Himmelskörper als die Pflanzen als beseelte Wesen zu denken, obwohl sie der Nerven, des Gehirns und der willkürlichen Bewegung entbehren. Wie sollte die Erde Lebendiges erzeugen, wäre sie selbst tot? Die Blume aber, sollte sie an den Farben und Düften, die sie hervorbringt und durch die sie uns erquickt, nicht selbst sich erfreuen? Ihr Seelenleben mag das eines Säuglings nicht übertreffen, ihre Empfindungen sind jedenfalls, da sie nicht die Basis einer höheren Tätigkeit bilden, an Kraft und Reichtum den animali- schen überlegen. So steht die menschliche Seele auf der mittleren Sprosse der Stufenleiter des geistigen Lebens: unter und neben uns die Seelen der Pflanzen und Tiere, über uns die Geister der Erde und der Gestirne, welche, die Leistungen und Geschicke ihrer Bewohner mit- erlebend und umspannend, ihrerseits von dem Bewußtsein des Allgeistes übergriffen werden. Die Welt ist sowohl unter als in Gott; Gutt ist nicht nur das Höchste, sondern auch das Ganze. Die Allgegenwart des

1 Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen 1S48, 2. Aufl. mit Einleitung von Lasswitz 1899; Zendavesta oder über die Dinge des Himmels und des Jen- seits 1851, 2. Aufl. besorgt von Lasswitz 1901 ; Physikalische und philosophische Atomenlehre 1855, 2. Aufl. 1864; Die drei Motive und Gründe des Glaubens 1863; Die Tagesansicht 1879. Vorschule der Ästhetik 1876, 2. Aufl. 1897—98. Elemente der Psychophysik 1860, 2. Aufl. 18S9; In Sachen der Psychophysik 1877; Revision der Hauptpunkte der Psychophysik 1882; Über die psychischen 2*Iaßpriuzi- pien und das Webersche Gesetz (WPhSt. Bd. 4) 1887. Kollektivmaßlehre, herausgeg. von G. Fr. Lipps 1897. Das Büchlein vom Leben nach dem Tode 1836, 4. Aufl. 1900; Über das höchste Gut 1846; Über die Seelenfrage 186 1. Kleine Schriften von Dr. Mises (Fechners Pseudonym) 1875. Über ihn J. E. KUNTZE, Leipzig 1S92, Kurd Lasswitz (Frommanns Klassiker der Philos. Bd. I) 1896, 2. Aufl. 1902, O. Külpe, Zu Fechners Gedächtnis (VwPh. Bd. 25) 1901, WuNDTs Gedächtnisrede 1901 und Reinhard Liebe, F.s Metaphysik im Umriß 1903.

G. Th. Fechner,

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göttlichen Geistes bietet zugleich die Mittel, der trostlosen „Nachtansicht" der modernen Wissenschaft zu entrinnen, welche die Welt außerhalb der empfindenden Individuen für dunkel und stumm erklärt. Nein, Licht und Schall sind nicht bloß ein subjektiver Schein in uns, sondern sie. breiten sich objektiv real um uns aus als Empfindungen des gött- lichen Geistes, dem alles Schwingende klingt und leuchtet.

Auch die Tür des Jenseits öffnet sich dem Schlüssel der Analogie. Gleiche Gesetze verbiiiden das Hier mit dem Dort. Wie die Anschau- ung die Erinnerung vorbereitet und in ihr fortlebt, so geht das irdische Leben in das künftige ein, in ihm fortwirkend und zu höherer Stufe er- hoben. — In eigenartiger Wendung behandelt Fechner das Problem des Übels. Man darf die Tatsache des Übels nicht getrennt von dem Streben, es zu heben, betrachten. Es ist der Sporn aller Tätigkeit: ohne Übel kein Arbeiten und kein Fortschreiten.

Ein völlig anderes Gesicht als Fechners Metaphysik die „Tages- ansicht'" gibt sich übrigens nicht als ein Wissen, sondern nur als einen (allerdings historisch, praktisch und theoretisch wohlfundierten) Glauben zeigt die von ihm in Anknüpfung an die Untersuchungen Bernoullis, Eulers und namentlich E. H. Webers ins Leben gerufene „Psycho- physik". Dieselbe will eine exakte Wissenschaft von den Beziehungen zwischen Leib und Seele sein und, was Herbart auf direktem Wege mißlang, auf einem Umwege erreichen: eine Messung psychischer Größen, wobei sie als Maßeinlieit die eben merklichen Unterschiede der Em- pfindungen benutzt. Das Webersche Gesetz über die Abhängigkeit der Empfindungsstärke von der Reizstärke besagt: der Empfindungs- zuwachs bleibt sich gleich, wenn der relative Reizzuwachs (oder das Ver- hältnis der Reize) sich gleichbleibt^; sodaß z, B. beim Lichte ein Zu- wachs von I zu einem Reize von der Stärke loo ebenso stark empfunden wird, wie ein Zuwachs von 2 (oder 3) zu einem Reize von der Stärke 2üO (300). Dieses Gesetz gilt nun viel allgemeiner, als der Entdecker desselben annahm, es gilt für alle Sinnesgebiete. Beim Drucksinn der Haut genügt, bei einem (auf die ruhende und unterstützte Hand ge- legten) ursprünglichen Gewicht von 15 Gramm, um eine merkbar stärkere Empfindung zu erzeugen, die Hinzufügung nicht von i, sondern erst von 5 Gramm, bei einem ursprünglichen Gewicht von 30 Gramm die Hinzu- fügung nicht von 5, sondern erst von 10 Gramm. Um eine durch ihre Stärke unzweifelhaft unterscheidbare Druckempfindung zu verursachen.

- Fechner lehrt: Die Empfindung wächst und nimmt ab proportional dem Logarithmus des Reizes und der psychophysischen Nerventätigkeit, die letztere ist dem äußeren Reize direkt proportional. Andere dagegen lassen zwischen Nerven- tätigkeit und Empfindung direkte, zwischen äußerem Reiz und Nerventätigkeit logarithmische Abhängigkeit stattfinden. Lotze ist mehr geneigt, dieser physiologi- schen .ils jener psychologischen Erklärung der Differenz zuzustimmen.

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reichen nicht gleiche Zusätze zu den Gewichten hin, sondern es bedarf desto größerer Zusätze, je größer die ursprünglichen Gewichte selbst sind: während die Intensitäten der Empfindungen eine arithmetische Reihe bilden, bilden die der Reize eine geometrische; die Empfindungs- veränderung ist proportional der relativen Reizveränderung. Dasselbe Verhältnis (3:4) wie die Druckempfindungen zeigen die Tonempfindungen, feiner ist die Empfindung des Muskelsinnes (beim Heben der Gewichte ist das Verhältnis 15:16) und des Lichtsinnes (die Helligkeitsgrade zweier eben noch an Stärke unterscheidbaren Lichter verhalten sich wie 100:101). Zu den Untersuchungen über die Unterschiedsschwelle kommen solche über die Reizschwelle (das eben Merklichwerden einer Empfindung), die Aufmerksamkeit, die Maßmethoden, die Fehler usw. Fechner unterläßt übrigens nicht, seine Psychophysik, gegen deren Voraussetzungen und Ergebnisse von mehreren Seiten Bedenken erhoben worden sind ^, mit seinen metaphysischen Überzeugungen zu verknüpfen. Durch beide geht die Grundanschauung hindurch, daß Körper und Geist zusammenge- hören (somit alles beseelt, nichts ohne materielle Basis ist), ja daß sie dasselbe Wesen sind, nur von verschiedenen Seiten gesehen. Körper ist (mannigfaltige) Erscheinung für andere, Geist (einheitliche) Selbst- erscheinung, dabei aber die innere Ansicht die wahrere. Was uns als materielle Außenwelt erscheint, ist nichts als ein über unser individuelles Bewußtsein übergreifendes und es beeinflussendes allgemeines Bewußtsein. Ein idealistisch gewendeter Spinozismus. In der Ästhetik erweist sich Fechner als extremer Vertreter des Assoziationsprinzips.

1 So von Helmholtz, Hering (Fechners psychoph. Gesetz 1875), P. Langer (Grundlagen der Psychoph. 1876), Georg Elias Müller in Göttingen (Zur Grund- legung der Psychoph. 1878), F. A. Müller (Das Axiom der Psychoph. 1882), A. Elsas (Über die Psychoph. 1886), O. Liebmann (Aphorismen zur Psychologie, ZPhKr. Bd. 101, aufgenommen in die Gedanken und Tatsachen I, 3). Wandt hat in den „Philosoph, Studien" 1881 ff. eine Reihe von Arbeiten aus seinem psychophysischeu Laboratorium veröffentlicht. Aus der Wundtschen Schule sind hervorgegangen Hugo Münsterberg, Professor an der Harvard-Universität in Cambridge (Mass.), Die Willenshandlung 188S; Neue Grundlegung der Psychoph., im dritten Heft seiner Bei- träge zur experimentellen Psychologie 1889 f.; Grundzüge der Psychologie Bd. I, 1900: Theodor Ziehen in Berlin, Leitfaden der physiol. Psychol. 1891, 6. Aufl. 1902; Psychophysiologische Erkenntnistheorie 1898; Über die .allgem. Beziehungen zwischen Gehirn u. Seelenleben, 2. Aufl. 1902; Oswald Külpe in Würzburg, Grundriß der Psychol. auf experimenteller Grundlage 1893; Einleitung in die Philos. 1895, 3. Aufl. 1903; Über die Beziehungen zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen (Zeit- schr. f. Hypnotismus, Bd. 7) 1898; Gustav Störring in Zürich, Vorlesungen über Psychopathologie 1900; Willy Hellpach in Heidelberg, Die Grenzwissenschaften der Psychologie 1902; Wilh. Wirth (Abhandlungen in WPhSt.) ; Gottlieb Friedr. Lipps in Leipzig, Die Maßmethoden der exp. Psych. 1904; u. a. Vergl. auch KÜLPE, Anfänge der experimentellen Psychol., AGPh. Bd. 6, Heft 2 und 4, 1892 f. und Aussichten der exp. Ps., Philos. Monatsh. Bd. 30, S. 281 £ 1894.

H. LOTZE. 525

Fechnersche und Schopenhauersche Elemente verbindet der Leipziger Nervenarzt P. J. Mob ins: Die drei Wege des Denkens (unter dem Pseu- donym J. Paul) 1891, Rousseaus Krankheitsgeschichte 1889, Über das Pathologische bei Goethe 1898, Über Schopenhauer 1899, Das Patho- logische bei Nietzsche 1902 (diese vier „Pathographien" seit 1903 in neuer Auflage als Ausgewählte Werke Bd. l 5), Über die Anlage zur Mathematik (worin für den Phrenologen Gall eine Lanze gebrochen wird) 1900, Über Kunst und Künstler 1901, Stachyologie 1901, l^ber den physiologischen Schwachsinn des Weibes, 5. Aufl. 1903. Über Möbius als Philosoph Dissert. von Heinr. Lorenz 1900.

2. Der bedeutendste von den in der Überschrift genannten Denkern ist Rud. Hermann Lotze (geboren am 21. Mai 1817 in Bautzen, studierte in Leipzig Medizin und unter Weiße Philosophie, 1844 81 Professor in Göttingen, gestorben am i, Juli 1881 in Berlin). Gleich Fechner mehr für das Feine und Sinnige als für das Große und Strenge ausgerüstet, mit größerer Scheu vor dem Mystischen und Absonderlichen als jener, ebenso scharfsinnig, vorsichtig und gründlich wie geschmack- voll und hochgestimmt, hat Lotze bewiesen, daß mit Hegel und Herbart die Klassiker der Philosophie nicht ausgestorben sind. Verdienter Ver- breitung erfreut sich sein Mikrokosmus (3 Bände, 1856 64, 5. Aufl. 1896 f.), der mehr ist als eine x\nthropologie, wie er sich bescheiden nennt, und seine Geschichte der Ästhetik in Deutschland 1868, die gleichfalls mehr bietet, als der Titel verrät. Diesen Werken waren, außer einer Pathologie und einer Physiologie, die Medizinische Psycho- logie 1852 (anastatischer Neudruck 1896) und eine Streitschrift gegen [. H. Fichte 1857 vorausgegangen und ist das unvollendet gebliebene System der Philosophie (erster Teil: Logik 1874, 2. Aufl. i88r; zweiter Teil: Metaphysik 1879) o^fo^g*. Von dem System hat auf Greexs Anregung Bosanquet eine englische Übersetzung (Oxford 1884, 2. Aufl. 1887 88) herausgegeben, nachdem Duval unter des Verfassers Bei- hülfe von der Metaphysik eine französische 1883 gefertigt hatte; von dem ersten Buche der med. Psvch. war bereits 1876 (2. Aufl. 1881) eine französische Übersetzung von Penjon erschienen: Principcs generaiix de Psychologie phvsiologiqiie. Der Mikrokosmus ist von KoRSCH ins Russi- sche (Moskau 1866 67), von E. Hamilton und C. Jones ins Englische (Edinburgh 1885, 4. Aufl. 1894) übersetzt worden. Peipers hat 1885 bis 1891 in drei Bänden unter dem Titel „Kleine Schriften" die Ab- handlungen und Rezensionen gesammelt (mit ausführlichem Register), Rehnisch 1881 84 acht Hefte Diktate aus Lotzes Vorlesungen ^

1 Grundzüge derPsychologie, der praktischen Philos., der Religionsphilos., der Naturphilos., der Logik und Enzyklopädie der Philos., der Metaphysik, der Ästhetik und die Geschichte der Philosophie seit Kant, welche alle, insbe-

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herausgegeben. Da diese „Grundzüge", die sämtlich in neuen Auflagen vorliegen, einen bequemen Eingang in seine Lehre gewähren und sich in aller Händen befinden oder doch befinden sollten, darf hier eine kurze Orientierung genügen.

Gegenstand der Metaphysik ist die Wirklichkeit. Wirklich sind Dinge, welche sind, Ereignisse, welche geschehen, Verhältnisse, welche bestehen, Vorstellungsinhalte und Wahrheiten, welche gelten. Geschehende Ereignisse und bestehende Verhältnisse setzen seiende Dinge als die Subjekte voraus, an und zwischen denen sie geschehen und bestehen. Das Sein der Dinge ist weder ihr Wahrgenommenwerden (denn wenn

sondere die erstgenannten und, trotz ihrer sehr subjektiven Haltung, die letztangeführte, den Studierenden dringend zu empfehlen sind. Über Lotze vergl. die Nekrologe von J. Baumann (Philos. Monatsh. Bd. 17), H. Sommer (Im neuen Reich), A. Krohn (ZPhKr. Bd. 81, S. 56—93), R. Falckenberg (Augsb. AUgem. Zeitung 1881, No. 233) und RehnisCH (Nationalzeitung und Revue philosophiqtie Bd. 12). Der letzte ist wieder abgedruckt worden im Anhang zu den Grundz. d. Ästh. 1884, 2. Aufl. 1888, der außerdem ein chronologisches Verzeichnis von Lotzes Werken, Abhandlungen und Rezensionen, sowie seiner Vorlesungen enthält. Der Popularisierung der Lotzeschen Lehre widmete sich mit Eifer Hugo Sommer. Vergl. ferner Falckenberg, H. Lotze,

1. Teil: Leben und Entstehung der Schriften (Frommanns Klassiker der Philos. Bd. 12) 1901 ; E. PFLEmERER, Lotzes philos. Weltanschauung nach ihren Grundzügen 1882,

2. Aufl. 1884; O. Caspari, Lotze 1883, 2, Aufl. 1895; R. Geijer, Darstellung u. Kritik der Lotzeschen Lehre von den Lokalzeichen, Philos. Monatsh. Bd. 21, 1885, aufgenommen in ,, Lotzes Philosopheme über die Raumanschauung", Skandinavisches Archiv, Lund 1891 ; Fritz Koegel, Lotzes Ästhetik, Göttingen 18S6; J. Wahn, Kritik der Lehre Lotzes von der menschlichen Wahlfreiheit (ZPhKr. Bd. 94) 1888; M. Wentscher, Lotzes Gottesbegriff 1893; Ders., Das Problem der Willensfreiheit bei Lotze (in der Haym-Gedenkschrift) 1902; Th. Simon, Leib und Seele bei Feeh- oer und Lotze 1894; Falckenberg, Entwicklung der Lotzeschen Zeitlehre (ZPhKr. Bd. 105, S. 178 f.) 1895; Ders., Aus Lotzes Briefen an Fechner (ebenda Bd. iii) 1898; Ders., Lotzes Briefe an Zeller (ebenda Bd. 113) 1899; Ders., Lotzes Briefe an L. Strümpell (Münchener Allgem. Zeitung, Beilage Nr. 95 vom 24. April) 1896; Ders., Zwei Briefe Lotzes an Seydel und Arnoldt (in der Sigwartfestschrift) 1900; Arthur Schröder, Geschichtsphilos. bei Lotze, Leipz. Diss. 1896; E. Tuch, Lotzes Stellung zum Okkasionalismus, Erlanger Diss. 1897; G. Heumann, Das Verhältnis des Ewigen und des Historischen in der Religionsphilosophie Kants und Lotzes, Erl. Diss. 1898; Edm. Neuendorff, Lotzes Kausalitätslehre, Berliner gekrönte Preis- schrift (ZPhKr. Bd. 115) 1899; Ders., Anmerkungen zu Lotzes Weltanschauung (ebenda Bd. 121) 1902; Cl. Otto, Lotze über das Unbewußte, Erl. Diss. 1900; Fr. Seibert, Lotze als Anthropologe, Erl. Diss. 1900; Kalweit, Die praktische Begrün- dung des Gottesbegriffs bei Lotze, Jenaer Diss. 1900; M. Wartenberg, Das Problem des Wirkens und die monistische Weltanschauung mit bes. Beziehung auf Lotze 1900; Ad. Müller, Die Behandlung der Hauptprobleme der Metaphysik bei Lotze (AsPh. VII, i) 1901 ; JOH. Friedr. Schwartz, Lotzes Geschichtsphilos., Gießener Diss. 1901; E. Schwedler, Die Beseeltheit der Atome bei Lotze (ZPhKr. Bd. 120) 1902; Else Wentscher, Das Kausalproblem in Lotzes Philos. (B. Erdmanns Abhh. zur Philos. Heft 16) 1903; Franz Chelius, Lotzes Wertlehre, Erlanger Diss. 1904.

H. LOTZE. c^y

wir sagen, ein Ding sei, so meinen wir, daß es fortfahre zu sein, auch wenn wir es nicht empfinden), noch eine reine, beziehungslose Position, ihre Setzung überhaupt, sondern Sein ist Stehen in Beziehungen. Weiter: das Was oder Wesen der Dinge, welche in jene Beziehungen eintreten, kann nicht als ruhende Qualität, sondern nur abstrakt als eine Regel oder ein Gesetz gedacht werden, welches die Verbindung und Aufeinanderfolge einer Reihe von Qualitäten bestimmt; die Natur des Wassers z. B. ist das unanschauliche Etwas, was den Grund enthält, daß bei zunehmender Temperaturerhöhung das Eis zunächst in den tropf- bar flüssigen Zustand, weiterhin in Wasserdampf übergeht und ebenso rückwärts der Wasserdampf in Wasser und Eis verwandelt werden kann. Und wenn man von einer unveränderlichen Identität des Dinges mit sich selbst spricht, vermöge deren es im Wechsel seiner Erscheinungen dasselbe Wesen bleibe, so meint man damit nur die Konsequenz, mit der es sich innerhalb der geschlossenen Formenreihe a^ «3 '^3 l^ält, ohne je in die Reihe d^ bc^ hinüberzutreten. Die Beziehungen aber, in welchen die Dinge stehen, können nicht wie Fäden oder wie Geister- chen zwischen den Dingen hin- und herlaufen, sondern sind Zustände in den Dingen selbst und der Wechsel der ersteren allemal eine Änder- ung dieser inneren Zustände. In Beziehungen stehen heißt Wirkungen austauschen. Um solche von- und aufeinander erleiden und ausüben zu können, dürfen die Dinge weder unvergleichbar verschieden (wie rot, hart, süß) und teilnahmslos gegeneinander, noch auch absolut selbständig sein, bei vollkommener Unabhängigkeit der Einzelwesen wäre der Vor- gang des Wirkens gänzlich unbegreiflich. Die Schwierigkeit im Begriff der Kausalität wie kommt das Wesen a dazu, in sich einen Zustand a zu erzeugen, deshalb weil ein anderes Wesen b in den Zustand /? ein- tritt? — wird nur gehoben, wenn man jene Dinge als Modi, Zustände, Teile eines einzigen umfassenden Wesens, einer unendlichen, unbeding- ten Substanz betrachtet, sofern dann eben nur eine Wirkung des Absoluten auf sich selbst stattfindet. Doch ist mit der Annahme, daß vermöge der Einheit und Folgerichtigkeit des Absoluten oder seines Selbsterhaltungstriebes auf den Zustand a des Wesens o wie auf eiiie Störung als Ausgleichung oder Kompensation im Wesen b der Zustand j3 eintritt, der Vorgang des Wirkens noch nicht erklärt, die Schwierigkeit, wie ein Zustand einen anderen herbeiführen könne, noch nicht beseitigt. Die ]Metaphysik vermag überhaupt nicht zu zeigen, wie Wirklichkeit gemacht werde, sondern nur gewisse der Denkbarkeit jener Begriffe im Wege stehende Widersprüche wegzuräumen. Seinen konkreten Inhalt erwartet der vorläufig noch leere Begriff" eines Absoluten erst von der Religionsphilosophie; der Begriff der Gottheit als unendlicher Persön- lichkeit (sie ist in viel höherem Sinne Person, als wir) kommt erst da- durch zu Stande, daß zu dem ontologischen Postulat einer umfassenden

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H. LOTZE.

Substanz das ethische eines höchsten Gutes oder einer allgemeinen Weltidee hinzutritt.

Unter „Ding" verstehen wir das einheitliche, beharrliche Subjekt wechselnder Zustände. Die einzige Bürgschaft aber dafür, daß die ver- schiedenen Zustände a ß y in der Tat Zustände eines Wesens, nicht ebenso viele verschiedene, einander in der Wirklichkeit ablösende Dinge sind, gewährt die Tatsache des Bewußtseins. Nur ein bewußtes Wesen, welches die Unterscheidung seiner selbst von den in ihm vorkommen- den Zuständen selber vollzieht und in Gedächtnis und Erinnerung sich als das identische Subjekt derselben fühlt und weiß, ist wirklich ein Subjekt, welches Zustände hat. Darum muß man den Dingen, wenn sie wirklich sein sollen, eine unserer Seele wesensverwandte Natur zuschrei- ben. Realität ist Fürsichsein. Alle Wesen sind geistig, nur geistigen Wesen kommt wahrhafte Wirklichkeit zu. So verknüpft Lotze die Mona- dologie des Leibniz mit dem Pantheismus des Spinoza, so wie er die (auch für die Erklärung des Organischen gültige) mechanistische An- schauung der Naturwissenschaft mit der Teleologie und dem ethischen Idealismus Fichtcs zu versöhnen weiß. Die Welt der Formen hat nur die Mission, der Realisierung der idealen Zwecke des Absoluten, der Welt der Werte, zu dienen.

Die von Kant auf unzulängliche Gründe gestützte Idealität des Raumes behauptet auch Lotze, nur daß er die Dinge in „intellektuel- len" Verhältnissen stehen läßt, die das erkennende Subjekt in die Sprache der Räumlichkeit übersetzt. Der gleiche Charakter der Subjektivität kommt nicht nur den sinnlichen Empfindungen, sondern auch unseren Gedanken über den Zusammenhang der Dinge zu. Die Vorstellungen sind Folgen; nicht Abbilder der äußeren Reize, die Erkenntnis fällt unter den allgemeinen Begriff der Wechselwirkung realer Elemente und hängt, wie jede Wirkung, ebenso sehr, nein noch mehr von der Natur des Wesens ab, das die Wirkung erleidet, als von der Natur desjenigen, das sie ausübt. Wenn sie gleichwohl den Anspruch auf objektive Gültig- keit erhebt, so darf unter Wahrheit nicht Übereinstimmung der Ver- stellung mit dem Vorgestellten verstanden (das Erkenntnisbild kann nie- mals dem Dinge selbst ähnlich sein) und die Aufgabe der Erkenntnis nicht darein gesetzt werden, eine ohne das Geisterreich schon fertige und abgeschlossene Welt, zu der das Vorstellen akzessorisch hinzukomme, noch einmal abzubilden. Licht und Klang sind keineswegs deshalb Täuschungen, weil sie die Wellen des Äthers und der Luft, aus denen sie entspringen, nicht treu kopieren, sondern sie sind der Zweck, den die Natur mit jenen Bewegungen erreichen wollte, aber nicht allein, sondern nur durch Einwirkung auf geistige Subjekte erreichen kann; die Pracht und Schönheit der Farben und Töne sind das, was in der Welt eigent- lich sein soll; ohne die durch Einwirkung äußerer Reize in den Geistern

Der Parallelismusstrkit.

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erweckte neue Welt der Vorstellungen würde die Welt ihres wesentlichen Abschlusses entbehren. Die Dinge haben den Zweck, von Geistern er- kannt, erlebt, genossen zu werden. Die Wahrheit der Erkenntnis besteht darin, daß sie Sinn und Bestimmung der Welt erschließt. Das Scin- sollende ist der Grund des Seienden, das Seiende ist dazu da, daß in ihm Werte realisiert werden, das einzig Reale das Gute. Freilich weiter zu dringen als bis zu der allgemeinen Überzeugung, daß die Idee des Guten Grund und Zweck der Welt sei, ist uns versagt; die Frage, wie nun aus jener höchsten Idee als dem Absoluten die Welt und warum gerade diese mit ihren bestimmten Formen und Gesetzen entstanden sei, ist unbe- antwortbar. Wir verstehen wohl den Sinn des Schauspiels, sehen aber nicht die Maschinerie hinter derBühne arbeiten, durch welche es zu stände kommt.

In der Ethik betont Lotze mit Fechner die Untrennbarkeit des Guten von der Lust: es läßt sich gar nicht angeben, worin der Wert oder die Güte eines Gutes dann noch bestände, wenn man sich dasselbe außer aller Beziehung zu einem Geiste denkt, der daran Freude haben könnte. Aber die Formen der Lust sind der Art nach verschieden, die eine ist der* andern über- oder untergeordnet und die vornehmste ist die an der Übereinstimmung jeder einzelnen Lust mit dem Gewissen, der Gesetzgebung über alle. In der Ästhetik tritt Lotze den Forma- listen entgegen: die Formen des Folgerechten, Harmonischen gefallen nicht durch sich selbst, sondern dadurch, daß sie an ein inhaltlich abs<:)lut Wertvolles erinnern, dem sie als Formen dienen. Das Schöne zeigt uns in anschaulicher Weise die drei „Gewalten des Weltbaus" die Gesetze, die Tatsachen, die Ideale oder Werte geeint, die unsre Erkenntnis nicht aufeinander zurückzuführen oder aus einem gemeinschaftlichen Grunde herzuleiten vermag.

Zu Lotzeschen Grundsätzen bekennen sich Ludwig Busse in Münster (Philosophie und Erkenntnistheorie 1894; Leil) und Seele, ZPhKr. Bd. 114, i8qq; Die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele und das Gesetz der Erhaltung der Energie, Sigwartfestschrift 1900; Wechselwirkung oder Parallelismus, ZPhKr., Bd. 116, igoo; Geist und Körper 1903) und Max Wentscher in Bonn (Über physische und psvchische Kau- salität und das Prinzip des psychophvsischen Parallelismus 1896; Der psychophys. Parall. in der Gegenwart, ZPhKr., Bd. 116 und 117; Zur Theorie des Gewissens, AsPh. Bd. 5, 1899; Ethik I 1902). Beide haben sich an dem wohl aus Anlaß der Stumpfschen Rede i8()6 jüngst lebhaft verhandelten Parallelismusstreite beteiligt, in welchem sie mit Sigw-art (im zweiten Bande der Logik), Erhardt (Die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele 1897; Psychophys. Parall. und erkenntnistheoret. Idealismus, ZPhKr., Bd. i r6), Rehmke (Außenwelt und Innenwelt 189S; Zum Lehrbegriff des Wirkens, ZPhKr. Bd. 120, 1902), Rickert (Psychophys. Kausalität und psychophys. Parallelismus, Sigwartfestschrift 1900) und

fAQ Ed. V. Hartmann.

Ed. V. Hartmann (Die moderne Psychologie 1901, Abschnitt 7) für die „Wechselwirkung" eintreten, wogegen Paulsen (Noch ein Wort zur Theorie des Parall., ZPhKr. Bd. 115, 1899; Parall. oder Wechselwirkung? ebenda Bd. 123, 1903) und E. König (Die Lehre vom psychoph. Parall. und ihre Gegner, ZPhKr., Bd. 115, 1900; Warum ist die Annahme einer psychophvs. Kausalität zu verwerfen? ebenda Bd. 119, 1901 ; eine wich- tige Ergänzung gibt König in dem Aufsatz Über Naturzwecke, WPhSt. Bd. 19, 1902) mit Wundt den „Parallelismus" verteidigen.

3. Wenn sich in Lotzes Philosophie Herbartische und Fichte-Hegel- sche Momente versöhnlich verbinden, geht Eduard von Hartmann (geb. 23. Febr. 1842, bis 1865 Militär, lebt als Privatgelehrter in Groß- Lichterfelde bei Berlin) auf eine Synthese von Schopenhauer und Hegel aus, indem er den Pessimismus des ersteren mit dem Evolutionismus des letzteren vereinigt und, während jener den Weltgrund als vernunft- losen Willen, dieser ihn als logische Idee faßt, nach dem Vorgange des späteren Schelling Wille und Vorstellung zu gleichberechtigten Attributen seines Absoluten, des Unbewußten, macht. Dem theoretischen Haupt- werke „Philosophie des Unbewußten" 1869 (i i. Aufl. in 3 Teilen 1904) folgte 1879 (2- Aufl. 1886 in den ausgewählten Werken) das ethische „Das sittliche Bewußtsein"; die beiden religionsphilosophischen Werke „Das religiöse Bewußtsein der Menschheit im Stufengange seiner Ent- wickelung" 1881 und „Die Religion des Geistes" 1882 bilden zusammen das dritte (als Vorläufer desselben ist anzusehen „Die Selbstzersetzung des Christentums und die Religion der Zukunft" 1874 nebst der „Krisis des Christentums in der modernen Theologie" 1880); das vierte ist die Ästhetik (erster Teil: Die deutsche Ästhetik seit Kant 1886, zweiter Teil: Philosophie des Schönen 1887). In der Kategorienlehre ist 1896 ein fünftes hinzugekommen. Den gesammelten Studien und Auf- sätzen 1876 gingen zwei naturphilosophische Schriften voraus: „Wahrheit und Irrtum im Darwinismus" 1875 und „Das Unbewußte vom Standpunkt der Physiologie und Deszendenztheorie" 1872 anonym, in deren letzterer Hartmann, als Darwinist maskiert, seine eigene Philosophie kritisiert (2. Aufl. 1877 unter seinem Namen mit Vorbemerkungen und Zusätzen; jetzt bilden beide Schriften den dritten Teil der Philos. d. Unbew.). Von neueren Ver- öffentlichungen seien erwähnt: Philosophische Fragen der Gegenwart 1885, Moderne Probleme 1886, die Streitschrift „Lotzes Philosophie" 1888, Das Grundproblem der Erkenntnistheorie 1889, Die sozialen Kernfragen 1894, Ethische Studien 1898, Geschichte der Metaphysik 189g 1900, Die moderne Psychologie 1901, Die Weltanschauung der modernen Physik 1902.

Über Hartmann vgl. VoLKELT in Nord und Süd, Juli 1881 ; derselbe : Das Un- bewußte und der Pessimismus 1873; Haym (Preuß. Jahrb. Bd. 31) 1873, aufgenom- men in die Ges. Aufsätze 1903; Vaihinger: Hartmann, Dühring und Lange 1876; R. KOEBER: Das philos. System Ed. v. Hartmanns 1884; A. Drews; Hartm.anns

Ed. V. Hartmann.

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l'hilos. 1890; ders., Hartmanns philos. System 1902; O. Pfleiderer: Rezension über die Phänomenologie des sittlichen üewußtseins (Im neuen Reich) 1879; L. v. GoLTHER : Der med. Pess. 1878; J, Huber; Der Pess. 1876; Weygoldt: Kritik des philos. Pess. der neuesten Zeit 1875; ^- Venetianer: Der Allgeist 1874; Agnes Taubert (Hartmanns erste Gattin, f 1877): Der Pess. und seine Gegner 1873; Olga PlÜ- MACHER: Der Kampf ums Unbewußte (angehängt ein chronol. Verz. der Hartmann- literaturj 1881, 2. Auti. 1891 ; dieselbe: Der Pess. in Vergangenheit und Gegenwart 1884; Krohn, Streifzüge (s. oben S. 5172); Seydel (s. oben S. 16). Das Jahr 1882 brachte vier Publikationen unter dem Titel „Der Pessimismus und die Sittenlehre" von Bacmeister, P. Christ, Rehmke und H. Sommer (2. Aufl. 1883).

In polemischer Anknüpfung einerseits an den naiven Realismus des Lebens, anderseits an den subjektiven Idealismus Kants oder vielmehr der Neukantianer, dessen Konsequenz der absolute Illusionismus sein würde, vertritt Hartmann einen zwischen jenen beiden Standpunkten ver- mittelnden „transzendentalen Realismus": die Existenz und wahre Be- schaffenheit der Welt außerhalb unserer Vorstellungen ist, wenn auch nur indirekt, erkennbar; die Erkenntnisformen haben trotz ihrer subjektiven Entstehung eine mehr als subjektive, eine transzendentale Bedeutung. Er begründet ihn mit dem Hinweis, daß die von dem Gefühl des Zwanges begleiteten und von einander verschiedenen Sinneseindrücke nicht aus dem Ich, sondern allein aus der Einwirkung äußerer, d. h. vom Bewußt- sein unabhängiger und anajog ^'crschiedener Dinge an sich erklärt werden können. Die Kausalität der Dinge an sich ist die Brücke, die uns die Kluft zwischen der immanenten Welt der Vorstellungen und der trans- zendenten Welt des Seins zu überschreiten gestattet. Die Kausalität der Dinge an sich beweist ihre Realität, die Verschiedenheit derselben zu verschiedenen Zeiten ihre Veränderlichkeit und Zeitlichkeit; die Ver- änderung aber fordert ein Beharrliches, das Dasein eine daseiende, un- veränderliche, überzeitliche und unräumiiche Substanz (ob für jedes Ding an sich eine besondere oder für alle eine gemeinsame, bleibt vorläufig da- hingestellt). Meine Einwirkung auf das Ding an sich versichert mich seiner kausalen Bedingtheit oder Notwendigkeit, die verschiedene Affektinn desselben Sinnes, daß ihrer viele sind, die eigentümliche Art der Ver- änderung einiger Körper, daß dieselben, wie mein Leib, mit einer Seele verbunden sind. So zeigt sich, daß außer dem Begriff der Ursache noch eine Reihe anderer Kategorien auf das Ding an sich, also transzendent, angewendet werden müssen.

Die von Hartmann auf „induktiver" Grundlage gewonnenen „speku- lativen Resultate" sind folgende. Das Ansich der empirischen Welt ist das Unbewußte. Die beiden Attribute dieses Absoluten sind der aktive, grundlose, unlogische, unendliche Wille und die passive, endliche Vor- stellung (Idee), jener der Grund des Daß, diese der Grund des (zweck- mäßigen) Was und Wie der Welt. Ohne den Willen könnte die an sich energielose Vorstellung nicht real, ohne die Vorstellung (eines Zweckes)

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Ed. V. Hartmann.

der an .sich vernunftlose Wille nicht ein bestimmtes Wollen werden (der relative oder immanente Dualismus der Attribute ein notwendiges Moment des absoluten Monismus). Der erfahrungsmäßige, durch Rechnung nach- zuweisende Überschuß der Unlust über die Lust ' beweist, daß die Welt schlecht ist, ihr Nichtsein besser wäre als ihr Sein ; die überall vv^ahrnehm- bare Zweckmäßigkeit in der Natur und der Fortschritt der Geschichte' einem, freilich negativen Endziele entgegen, daß sie gleichwohl die beste ist, die möglich war (Versöhnung des eudämonologischen Pessimismus mit dem evolutionistischen Optimismus). Die Weltschöpfung beginnt damit, daß der blinde Wille zum Leben grundlos und zufällig aus dem Wesen in die Erscheinung, aus der Potenz in den Akt, aus dem Übersein ins Sein tritt und in unvernünftigem Daseinsdrange den einzig realisierbaren Inhalt, die logische Idee an sich reißt. Diese sucht den vom Willen be- gangenen Fehler wieder gut zu machen, indem sie im Bewußtsein einen Kämpfer gegen den unersättlichen, ewig schmachtenden, nie befriedigten Willen ins Feld führt, der ihn dereinst in die Latenz, in den (vorwelt- lichen) seligen Zustand des Nichtwollen s zurückzwingen wird. Das Ziel der Weltentwickelung ist die Erlösung von der Qual des Daseins, der Friede des Nichtseins, die Rückkehr aus der Verräumlichung und Ver- zeitlichung des Willens und der Vorstellung in das ursprüngliche, durch die Weltentstehung gestörte harmonische Gleichgewicht der beiden Funktionen, in die vorweltliche Identität des Absoluten; die Aufgabe des Logischen, das Bewußtsein immer mehr die Illusion des Willens in den drei Stadien der kindlichen (griechischen) Erwartung eines diesseits, der jugendlichen (christlichen) eines jenseits, der männlichen eines in der Zu- kunft der Weltentwickelung zu erwerbenden positiven Glückes durch- schauen und endlich, in greisenhafter Sehnsucht nach Ruhe, erkennen zu lehren, daß nur die Aufhebung des unseligen Wollens und damit des Weltdaseins (durch Beschluß der Mehrzahl der Menschen) die einzig er- reichbare Seligkeit der Schmerzlosigkeit gewähre. Der Weltprozeß ist die Fleischwerdung, das Leiden und die Erlösung des Absoluten; die Zwecke des Unbewußten zu den seinigen zu machen, energisch mitzu- arbeiten an dem Weltprozeß in voller Hingabe an das Leben und seine Schmerzen und in kräftiger Förderung des Bewußtseins die Herbeiführung des Erlösungszweckes zu beschleunigen, nicht persönliche Entsagung und feige Zurückziehung ist die sittliche Aufgabe des Menschen; Bedingung der Sittlichkeit die Einsicht in die Fruchtlosigkeit alles Luststrebens und in die Wesenseinheit aller Einzelwesen untereinander und mit dem Allgeiste, der in den Individuen existiert, zugleich aber über denselben subsistiert. „Sich selbst als göttlichen Wesens zu wissen, das tilgt jede Divergenz

1 Vergl. Volkelt, Über die Lust als höchsten Wertmaßstab (in der ZPhKr. Bd. 88) i886 und O. Pfleiderer, Religionsph. I, S. 574 ff.

Ed. V. Hartmann.

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zwischen Eigenwillen und Allwillen, jede Fremdheit zwischen Mensch und Gott, jedes ungöttliche, d. h. bloß natürliche Gebahren."

Die Religion, welche mit der Philosophie zum gemeinsamen Grunde das metaphysische Bedürfnis oder das mystische Gefühl der iLinheit des menschlichen Individuums mit dem Weltgrunde hat, bedarf, da ihre herkömmlichen Formen der modernen Kultur widerstreiten, ein Aufgehen der Religion (als Gemütsbedürfnis) in Metaphysik aber unmög- lich ist, einer Umbildung. Die durch den spekulativen Protestantismus der Gegenwart bereits vorbereitete Religion der Zukunft ist der konkrete Monismus (die göttliche Einheit ist sowohl transzendent als der Vielheit der Weltwesen immanent, jeder Sittliche ein Gottmensch), der den ab- .strakten Monismus (Pantheismus) der indischen Religionen und den jüdisch-christlichen (Mono-)Theismus als überwundene Momente in sich befaßt. (Auf den ursprünglichen Henotheismus und seinen Verfall in Polytheismus, Dämonismus und Fetischismus folgte der ägyptische und persische, sowie der griechische, römische und germanische Naturalismus, dann der Supranaturalismus in der monistischen und der theistischen Form. Der Hauptmangel der christlichen Religion ist die transzendental-eudämonistische Heteronomie ihrer Moral.) Die „Re- ligion des Geistes" zerfällt in drei Teile. Die Religionspsychologie betrachtet die religiöse Funktion nach ihrer subjektiven Seite, den Glauben, als einen einheitlichen Akt von Vorstellung, Gefühl und Wille, in wel- chem eine von diesen drei Seiten überwiegen kann, das Gefühl aber den innersten Kern auch der theoretischen und praktischen Tätigkeit bildet, und als objektives Korrelat des Glaubens die (Offenbarungs-, Er- lösungs- und Heiligungs-)Gnade, welche den Menschen durch das Be- Mußtwerden einer zentralen und metaphysischen Abhängigkeit von Gott über die peripherische und phänomenale Abhängigkeit von der Welt hinaushebt und von dieser befreit. Die Religionsmetaphysik (in einem theo-, anthropo- und kosmo-logischen Abschnitt) erweist durch Induk- tion aus den religiösen Tatsachen die Existenz, Allmacht, Geistigkeit, Allwissenheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit des mit der moralischen Welt- ordnung zusammenfallenden All-Einen, ferner die Erlösungsbedürftigkeit und -fähigkeit des Menschen von Übel und Schuld, wobei eine unter- göttliche, widergöttliche und Gott gemäße oder eine natürliche, böse und sittliche Sphäre des individuellen Willens unterschieden wird, und zeigt, gleichsehr die Absolutheit Gottes und die Wirklichkeit der Welt auf- rechterhaltend, daß nicht sowohl der Mensch, als Gott selbst als Träger des gesamten Weltleidens das Objekt der Erlösung sei. Die Religions- ethik bespricht den subjektiven und den objektiven Heilsprozeß, nämlich Reue und Besserung des Individuums und den Sinnbilder und Kunst verschmähenden kirchlichen Kultus der Zukunft.

Gegenstand der „Kategorienlehre" sind die Verknüpfungsformen

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Ed. V. Hartmann.

oder formalen Beziehungen, die der Wirklichkeit ihren logischen Charakter verleihen. Apriori sind die Kategorien nicht al.s Begriffe, sondern als unbewußte Funktionen, als Betätigungsweisen der unpersönlichen Ver- nunft in den Individuen. Sie zerfallen in solche der Sinnlichkeit und des Denkens. Die ersteren sind die Kategorien des Empfindens (Qualität, Intensität, Zeitlichkeit) und des Anschauens (Räumlichkeit). Die letzteren die der Reflexion und zwar des vergleichenden, trennen- den und verbindenden, messenden, schließenden (die Formen -der lo- gischen Determination) und modalen Denkens, und der Spekulation (Kausalität, Finalität, Substantialität). Die Kategorien gelten aber nicht in gleichem Sinne in den drei Sphären der Wirklichkeit: der subjektiv-idealen, der objektiv-realen und der metaphysischen Sphäre.

Es ist ein von den Fachmännern lange Zeit nicht genügend ge- würdigtes Verdienst Hartmanns, in einer der Spekulation abgeneigten Zeit seine Kraft den höchsten Problemen der Metaphysik gewidmet zu haben und in deren Bearbeitung mit wissenschaftlichem Ernst und mit umfassender und eingehender Berücksichtigung des früher Ge- leisteten zu Werke gegangen zu sein. So enthält namentlich die Kritik der ethischen Standpunkte im historischen Teile der „Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins" vieles Beherzigenswerte; auch verdient der metaphysische Grundgedanke, daß das Absolute als Einheit von Wille und Vernunft zu fassen sei, in seiner Allgemeinheit lebhaftere Zu- stimmung, als demselben zu teil geworden ist, während die Verwerfung eines unendlichen Bewußtseins mit Recht Widerspruch erfahren hat. Auf die in Kürze nicht wiederzugebenden naturphilosophischen Er- örterungen über die Materie (Atomkräfte), die mechanistische und teleologische Auffassung des Lebens und seiner Entwickelung, den Instinkt, die Geschlechtsliebe usw., welche sehr geschickt im Sinne des metaphysischen Prinzips verwendet werden, konnte hier nicht einge- gangen werden.

Ein Schüler Hartmanns ist Arthur Drews in Karlsruhe: Das Ich als Grundproblem der Metaphysik 1897; Der Ideengehalt von R. Wagners Ring des Nibelungen 1898. Von beiden beeinflußt zeigt sich Max Walleser: Das Problem des Ich, Erlanger Dissert. 1902,

III. Von der Wiedererweckung der Kantischen Philosophie bis

zur Gegenwart.

I. Neukantianismus, Positivismus und verwandte Erscheinungen.

Die Kantische Philosophie hat zweimal Epoche gemacht: bei ihrem Auftreten und zwei Menschenalter nach dem Tode ihres Urhebers. Die neue Kantbewegung, welche einen der hervorstechendsten Charakter-

Die neue Kantbewegung. 545

Züge der Philosophie der Gegenwart bildet, hat vor vier Jahrzehnten ihren Anfang genommen. Denn wenn auch bereits vor 1865 einzelne Denker, wie Beneke, Ernst Reinhold in Jena (f 1855), der Friesianer J. B. Meyer in Bonn (1829—97), K. A. von Reichlin-Meldegg (f 1877) u. a. für ihre Überzeugungen eine Anknüpfung bei Kant gesucht hatten, durch K. Fischers Kantwerk 1860 eine lebhafte Anregung zum er- neuten Studium der kritischen Philosophie gegeben, ja von Fortlage (schon 1832 in der Schrift Die Lücken des Hegeischen Systems) und Zeller (S. 520) ausdrücklich der Ruf „zurück zu Kant!" erhoben worden war, so ist die Bewegung doch erst eine allgemeinere geworden, seit Fr. Alb. Lange in seiner Geschichte des Materialismus die von ihm eigenartig gefaßte Kantische Lehre energisch befürwortet, Helmholtz^ (182 1 94) auf die Übereinstimmung der Resultate der Physiologie mit denen der Vernunftkritik hingewiesen, und gleichzeitig das Jugendwerk O. Liebmanns „Kant und die Epigonen", jedes Kapitel mit dem unerbittlichen Refrain also muß auf Kant zurückgegangen werden!" abschließend, dem Verlangen der Zeit den kräftigsten Ausdruck ge- liehen hatte. -

Otto Lieb mann (vergl. auch das Kapitel über die Metamorphosen des Apriori in der „Analysis der Wirklichkeit" und „Gedanken und Tatsachen" II, i: Der Geist der Transzendentalphilosophie) erblickt die Grundwahrheit des Kritizismus in dem unumstößlichen Nachweis, daß Raum, Zeit und Kategorien Funktionen des Intellekts und daß Subjekt und Objekt notwendige Korrelate, unzertrennliche Faktoren der empirischen Welt seien, den von den Epigonen nicht verbesserten, sondern noch verschlimmerten Fundamental irr tum Kants in dem Un- begrifif des Dinges an sich, der als ein Rest von Dogmatismus, als ein fremder Tropfen Bluts, als ein die Kantische Philosophie verfälschender illegitimer .Eindringling aus ihr entfernt werden muß.

Nach Friedrich Albert Lange ^ (1828 75; zuletzt Professor in Marburg) muß der als Prinzip, System und Weltanschauung unfrucht-

1 Helmholtz: Über das Sehen des Menschen 1853; Lehre von den Tonempfin- duugea 1863, 5. Aufl. 1S96; Physiol. Optik 1867, 2. Aufl. i886f.; Das Denken in der Medizin 1878; Die Tatsachen in der Wahrnehmung 1S79; Vorträge und Reden 1884; Vorlesungen über theoretische Physik, herausgeg. von A. KÖNIG und Carl Runge, 1903, Einleitung. Über H. siehe C. STUMPF im 8. Bande des AGPh. 1895, die Bio- graphie von Leo Königsberger 1902 f. und A. Riehl, Helmholtz n seinem Ver- hältnis zu Kant (VKSt. Bd. 9, S. 261 285) 1904. Ähnlich stehen zu Kaut K. Ro- kitansky in Wien und andere Naturforscher.

2 Vergl. Falckenberg, Gedächtnisrede auf Kant, Erlanger Universitätsschrift 1904.

3 F. A. Lange: Logische Studien 1877; über ihn M. Heinze in der VwPh. 1877, Vaihinger in der oben S. 540 angeführten Schrift und die Lebensbeschreibung von Ellissen 1891.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. -ic

5^6 Neukantianer.

bare und unhaltbare, als Methode, als Forschungsmaxime jedoch nützliche und unentbehrliche Materialismus durch den formalen Idealismus ergänzt werden, der mit Verwerfung aller Wissenschaft aus bloßer Vernunft die Erkenntnis auf das Sinnliche, Erfahrbare beschränkt, dabei aber das Formale der Sinnenwelt als Produkt der menschlichen Organisation faßt und somit die Gegenstände sich nach unseren Vorstellungen richten läßt. Über der sinnlichen Welt der Erfahrung und des mechanischen Geschehens erbaut jedoch der spekulative Bautrieb, die fragmentarische Wahrheit der Wissenschaften zu einem einheitlichen Bilde der ganzen Wahrheit abrundend, die Idealwelt des Seinsollenden. Die Ideen haben trotz ihrer unerschütterlichen Gewißheit keine wissenschaftliche Wahrheit,, wohl aber einen moralischen Wert, der sie mehr sein läßt als Hirnge- spinste; der Mensch ist nicht bloß auf die Erkenntnis der Wahrheit,. sondern auch auf die Realisierung von Werten angelegt. Da aber die Bedeutung der Ideen nur eine praktische und Wertbestimmungen keine Erklärungsgründe sind, so müssen Wissenschaft und Metaphysik oder „Begriffsdichtung" streng auseinander gehalten werden.

Friedrich Paulsen in Berlin (geb. 1846, vergl. S. 290, 293 Anm. i) erblickt in der Kantischen Philosophie die Grundlage der Philosophie der Zukunft. Ein vertiefter Wolß" (Selbstherrlichkeit der Vernunft), ein preußischer Hume (die Verstandeskategorien, Beseitigung der anthropo- morphen Metaphysik) und ein deutscher Rousseau (Primat des Willens, Berücksichtigung der Gemütsanforderungen; allein der gute Wille, nicht die Leistung noch die Bildung macht den Wert des Menschen aus; Freiheit, Menschenrechte) in einer Person, hat Kant die theoretisch un- lösbare, praktisch zu bejahende Frage nach der Abhängigkeit der Wirklichkeit von den Werten oder dem Guten der wissenschaftlichen Diskussion entzogen und dem Glauben überantwortet. Kant ist so weit Positivist, daß er die Aufgabe des Wissens darauf beschränkt, die räum- lich-zeitlichen Beziehungen der Erscheinungen auf Regeln zu bringen, und die teleologische Macht der Werte für unbeweisbar erklärt. Dies aber vermag die Wissenschaft nachzuweisen, daß der vom Willen ge- forderte Glaube an eine übersinnliche Welt, die Unvernichtbarkeit des einzig Wertvollen und die Freiheit des intelligiblen Charakters nicht wissenschaftlich unmöglich sei. Da nach dem formalen Rationalismus die ganze Naturordnung ein Geschöpf des Verstandes ist, somit Atomistik und Mechanismus nur Vorstellungsformen sind, die zwar für unseren peripherischen Standpunkt, aber nicht absolut gelten, da ferner die em- pirische Weltbetrachtung ohne die (theoretisch freilich unvollziehbare) Idee der göttlichen Welteinheit des Abschlusses entbehren würde, so droht der unmittelbaren Herzensüberzeugung von der Macht des Guten in der Wirklichkeit keine Anfechtung von seiten der Wissenschaft, wenn- gleich diese dem Glauben keinen Dienst leisten kann, als daß sie ihm

Neukantianer.

547

entgegenstehende Hindernisse wegräumt. Der Wille, nicht der Intellekt bestimmt die Weltanschauung, aber sie ist nur ein Glaube, und in der Vorstellungswelt kann die intelligible Welt, mit der uns der Wille in Beziehung setzt, nur in der Form von Symbolen vorkommen. In seinen metaphysischen Überzeugungen kommt Paulsen Schopenhauer und Fechner nahe. Die Seelensubstanz ablehnend, behauptet er einen durchgehenden Parallelismus des psychischen und körperlichen Geschehens, sieht aber in den Einzelwesen nur Akzidentien einer geistigen Grund- einheit. (Einleitung in die Philos. 1892, 11. Aufl. 1904).

Während sich Alb recht Krause (1838 1902, Die Gesetze des mensch- lichen Herzens, eine formale Logik des reinen Gefühls 1 876), A. Gl a s s e n (Phy- siologie des Gesichtssinnes 1877, Über den Einfluß Kants auf die Theorie der Sinneswahrnehmung 1886) und Jak. Stilling (Psychologie der Gesichts- vorstellung 1901) strikte zu Kant bekennen, hat J. Volkelt (Kants Er- kenntnistheorie nach ihren Grundprinzipien analysiert 1879) ^^^ ^^^ t)e- klagten Inkonsequenzen und Widersprüche bei Kant bis in ihre Wurzeln verfolgt und nachgewiesen, daß in der bisher als zu einfach und durch- sichtig aufgefaßten, in der Tat höchst komplizierten und dunkel ringenden Denkarbeit Kants eine Anzahl völlig heterogener Denkprinzipien (eine skeptische, subjektivistische, metaphysisch rationalistische, aprioristische und praktische Grundtriebfeder) wirksam seien, welche, einander bekämpfend und lähmend, die Gewinnung zusammenstimmender Resultate unmöglich machen. Benno Erdmann (geb. 1851; S. 290) und Hans Vaihinger (S. 283 1 und 291) in Halle haben Kants Hauptwerken eine sorgfältige philologische Interpretation zuteil werden lassen. Vaihinger gibt seit 1896 die Zeitschrift „Kantstudien" heraus; 1904 ist eine Kantgesellschaft zusammengetreten.

Unter den mancherlei Meinungsverschiedenheiten, welche innerhalb des Neukantianismus bestehen, betrifft die wichtigste die Frage, ob als Ausüber der apriorischen Funktionen das Einzel-Ich oder eintrans- szendentales Bewußtsein anzusehen sei. In Übereinstimmung mit Schopen- hauer und Lotze, der die Subjektivität des Raumes, der Zeit und der reinen Begriffe mit derjenigen der Empfindungsqualitäten in Parallele stellt, lehrt Lange, das menschliche Individuum sei so organisiert, daß es das sinnlich Gegebene unter jenen Formen auffassen müsse. Dagegen machen andere geltend, daß die individuelle Seele und ihre Organisation selbst eine Erscheinung sei, mithin nicht Träger dessen sein könne, was der Erscheinung vorausgeht: Raum, Zeit und Kategorien als „Bedingungen" der Erfahrung sind Funktionen eines vorauszusetzenden reinen Bewußtseins. Der Gegensatz von Subjekt und Objekt, Seele und Welt entsteht erst in der Erscheinungssphäre. Das empirische Subjekt ist, wie die Welt der Objekte, selbst ein Produkt der apriorischen Formen, also nicht ihr Produzent. Der Gruppe der Transzendentalisten

35*

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Der deutsche Positivismüs: Laas und Riehl.

gehören an Hermann Cohen' und Paul Natorp (geb. 1851, Philos. Propädeutik 1903) in Marburg, A. Stadler^ in Zürich, Kurd Laßwitz in Gotha (S. 15; Die moderne Energetik in ihrer Bedeutung für die Erkenntniskritik, Philos. Monatsh. Bd. 29, 1893, Wirklichkeiten 1900, 2. Aufl. 1903), Edm. König (S. 15), Koppelmann (S. 290), Böhringer (S. 289), Staudinger in Darmstadt (Noumena 1884; Das Sittengesetz 1887, 2. Aufl. 1897), Zwermann (S. 292), L. Goldschmidt in Gotha, Ernst Marcus in Essen (Kants Revolutionsprinzip 1902; Ein Weg zur widerspruchsfreien Auslegung der Kr. d. r. V., Altpreuß. Monatsschrift Bd. 41). Zu den Neukantianern sind auch der Jurist Rud. Stammler in Halle (Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichts- auffassung 1896, Die Lehre von dem richtigen Rechte 1902), Walter Kinkel in Gießen (Beiträge zur Erkenntniskritik 1900) und Fritz Schnitze"^ in Dresden zu zählen.

Mit kritischer Anknüpfung an Kant entwickeln die deutschen Posi- tivisten* E. Laas in Straßburg (1837— 1885) ^i^<^ AI. Riehl in Halle (geb. 1844) eine sensualistische Erkenntnistheorie. Ernst Laas definiert den (von Protagoras gegründeten, in der Neuzeit durch Hume und J. St. Mill vertretenen, dem platonischen Idealismus feindlichen) Positivismus als diejenige Philosophie, welche keine anderen Grundlagen anerkennt, als positive Tatsachen (d. h. Wahrnehmungen) und von jeder Meinung fordert, daß sie die Erfahrungen nacliM'eise, auf denen sie ruht. Die Basis desselben bilden drei Lehrartikel: i. die korrelative Tatsache: Subjekt und Objekt be- und entstehen nur miteinander (Objekte sind un- mittelbar nur bekannt als Inhalte eines Bewußtseins, cui objccta sunt, Subjekte nur als Beziehungszentren, Schauplatz oder Unterlage von Vor- stellungsinhalten, cid sribjeda sunt; außer meinen Gedanken existiert weder der Körper als Körper, noch ich selbst als Seele); 2. die Variabilität der Wahrnehmungsobjekte; 3. der Sensualismus; alle spezifischen Unterschiede

1 Cohen (geb. 1842): Kants Theorie der Erfahrung 1S71, 2. Aufl. 1885; Kants Begründung der Ethik 1877; Kants Begründung der Ästhetik 1SS9; Logik der reinen Erkenntnis (als erster Teil eines Systems der Philos.) 1904. Über ihn Franz Tind- HEIMER (Beraer Studien, Bd. 21) 1900.

2 Stadler: Kants Teleologie 1874; Die Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie in der Kant. Philos. 1876; Kants Theorie der Materie 1883.

3 Fr. Schnitze: Philos. der Naturwiss. 1882; Kant und Darwin 1875; Die Grund- gedanken des Materialismus 1881; Die Grundgedanken des Spiritismus 18S3; Ver- gleichende Seelenkunde 18925.; den dritten Band dieses Werkes bildet die Psycho- logie der Naturvölker 1900; Grundlinien der Logik in schematischer Darstellung 1902.

* Laas (S. 290): Idealismus und Positivismus 1879 1884; über ihn Dissert. von Rud. Hanisch, Halle 1902. Riehl: Der philosophische Kritizismus 1876 87, Rede Über wissenschaftliche und nichtwisseuschaftliche Philosophie 1883, Philosophie der Gegenwart 1903. Hierher kann auch Carl Göring (y 1S79; System der krit. Philos. 1875) gestellt werden.

AvENARiüs, Mach. 549

des Bewußtseins müssen als graduelle, alle höheren geistigen Prozesse und Zustände, auch das Denken, als gesetzlich transformierte Wahrnehmungen und Erlebnisse fühlender, bedürfender, gedächtnisbegabter, spontan be- weglicher Wesen begriffen werden. Das Subjekt fällt mit seinem Gefühl der Lust und Unlust zusammen, von welchem sich die Empfindung durch ihren objektiven Inhalt unterscheidet. Die Illusionen der Metaphysik sind wissenschaftlich unhaltbar und praktisch- entbehrlich. Gewiß führen über die Sphäre des sinnlich und erfahrungsmäßig Kontrollierbaren mancherlei Sehnsuchten, Bedürfnisse, Ahnungen, Hoffnungen und Phan- tasien hinaus, aber für keine ihrer Positionen kann ein irgendwie zulänglicher Beweis erbracht werden. Wie die Physik sich der transzendenten Ursachen entschlagen hat und mit immanenten auszukommen weiß, so muß auch die Ethik versuchen, dem sittlich Guten ohne Exkursionen ins Übersinn- liche seinen Wert zu gründen. Die ethischen Verbindlichkeiten wachsen aus menschlichen Verhältnissen, aus irdischen Bedürfnissen natürlich hervor. Der dritte Band des Laasschen Werkes weicht von den früheren darin ab, daß er neben der Wahrnehmung auch den logischen Prinzipien die Würde des Tatsächlichen zugesteht. Alois Riehl stellt die (von dem Grundfaktum der Empfindung ausgehende) Erkenntnistheorie als wissen- schaftliche der Metaphysik als der unwissenschaftlichen Philosophie gegen- über und verweist die Lehre von den praktischen Idealen aus dem Bereich der Wissenschaft in die Nachbarschaft der Religion und Kunst.

Ein Nachbar des Positivismus ist der von Richard Avenarius^ in Zürich (1843 96) begründete Empiriokritizismus. Avenarius verficht bereits in der Schrift vom Jahre 1876 das Prinzip der „reinen Erfahrung". Die Empfindung, das einzige, was nach Absonderung der subjektiven Zutaten als objektiv gegeben übrig bleibt, macht den Inhalt, die Bewegung die Form des Seins aus. Die Resultate der beiden Hauptwerke lassen sich wegen der schwierigen Terminologie nicht in Kürze wiedergeben. Eine Einführung in die Kritik der reinen Erfahrung hat Fr. Carstanjen (Avenarius' biomechanische Grundlegung der reinen allgemeinen Erkennt- nistheorie 1894) geschrieben. Vergl. auch Wundt, Über naiven und kritischen Realismus, II und III (WPhSt. Bd. 13) 1896, Emil Koch im 4. Bande des AsPh. 1897, Jos. Petzold, Einführung in die Philos. der reinen Erfahrung 1900 04.

Ernst Mach- in Wien (geb. 1838) verbindet den Phänomenalis- mus (Empfindungsmonismus) mit einer evolutionistischen Willensmeta-

1 Avenarius (S. 105): Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes 1876; Kritik der reinen Erfahrung 1888 91; Der mensch- liche Weltbegriff 1891.

2 Mach: (Prinzipien der) Mechanik 1883, 4. Aufl. 1901 ; (Beiträge zur) Analyse der Empfindungen 1886, 4. Aufl. 1903; Populärwissenschaftliche Vorlesungen 1896,

55o Cornelius.

physik. Die Aufgabe der Wissenschaft bestimmt er im Gegensatz zu Helmholtz und in Übereinstimmung mit Kirchhoff dahin, das Ziel der Forschung sei die vollständige Beschreibung der Tatsachen, Physik sei ökonomisch geordnete Erfahrung. Alles Metaphysische ist als müßig und störend zu eliminieren, insbesondere der leidige Dualismus (Subjekt Objekt) zu vermeiden. Die Welt samt meinem Ich ist eine zusammen- hängende Masse von Empfindungen: die Welt besteht nur aus unsren Empfindungen; der Gegensatz zwischen Ich und Welt fällt weg. Die Farben, Töne, Räume, Zeiten sind für uns die letzten Elemente, deren gegebenen Zusammenhang wir zu erforschen haben. Körper ist ein Name für einen Komplex von Elementen, von dessen Veränderung wir absehen; Dinge sind abkürzende Gedankensymbole für relativ stabile Gruppen von Empfindungen, Symbole, die außerhalb unseres Denkens nicht existieren. Alles Seelische ist ein substratloses Geschehen. Die •mathematischen Sätze sind empirische Urteile; der Zwang, den wir dabei fühlen, beruht auf der Erinnerung an starke Erfahrungen, das Über- zeugende, das sie auszeichnet, auf ihrer leichten Verifizierbarkeit. Der verschwommene und vieldeutige Begriff der Ursache muß durch den der mathematischen Funktionsbeziehung ersetzt werden: lediglich die Ab- hängigkeit der Erlebnisse voneinander wünschen wir zu ermitteln.

Hans Cornelius (Einleitung in die Philos. 1903) gründet die Philo- sophie, die er als Klarheitsbedürfnis definiert, auf Bewußtseinsanalyse und erkenntnistheoretische Folgerung aus ihr. Er will unser Denken von allen unklaren Elementen, allem Dogmatismus und seinen Schein- problemen befreien, indem er sämtliche Begriffe auf das Erfahrungs- material zurückführt, dem sie Dasein und Inhalt verdanken, die nicht auf Tatsachen zurückführbaren Voraussetzungen aber beseitigt. Die psychologisch-erkenntnistheoretische Phase der Philosophie stellt und be- antwortet die Frage nach Ursprung und Bedeutung der vorwissenschaft- lichen Grundbegriffe unsres Weltbildes, welche die metaphysische Phase als selbstverständlich vorausgesetzt hatte.

Zu den Neukantianern, Positivisten und kritischen Empiristen gesellt sich weiter eine zusammengehörige Gruppe \on Erkenntnistheoretikern,

3. Aufl. 1903; Wärmelehre 1896, 2. Aufl. 1900. Über ihn die Artikel von J. Bau- mann (AsPh. Bd. 4 und 7), H. Kleinpeter, Natorp, Grünbaum (ebenda Bd. 5), Kleinpeter, Lucka (VKSt. Bd. 8j, Jos. Hickson (VwPh. Bd. 24, 4), Rich. Hönigswald, Zur Kritik der Machschen Philos., Berlin 1903 und Theodor Beer, Die Weltanschauung eines modernen Naturforschers, Dresden 1903. Nicht fern von Machs Standpunkt hat sich Richard Wähle den seinigen gewählt: Das Ganze der Philosophie und ihr Ende 1894; Kurze Erklärung der Ethik von Spinoza und Darstellung der definitiven Philosophie 1899. Hierzu vergl. Heinr. Gomperz (Bern): Die Welt als geordnetes Ereignis (ZPhKr. Bd. 118 119) 1901.

Der Bewusstseinsmonismus: Schuppe, Rehmke u.a. cci

welche, jegliches Extramentale verwerfend, alles denkbare Sein lediglich als Bewußtseinsinhalt fassen. Solcher Bewußtseinsmonismus wird ver- treten durch Wilh. Schuppe ^ in Greifswald (geb. 1836), Joh. Rehmke - ebendort, A. v. Leclair (Beiträge zu einer monistischen Erkenntnistheorie 1882), R. v. Schubert-Soldern "^ und Max Kauffmann (f 1896), den früheren Herausgeber der eine Zeitlang von Schuppe fortgeführten Zeitschrift für immanente Philosophie (1895 f.). Auch Th. Ziehen be- kennt sich zur immanenten Philosophie. Über diese Immanenztheofie vergl. den ersten Teil der oben zitierten Abhandlung von Wundt. Es ist dieselbe naturwissenschaftliche Stimmung der Zeit, die in den fünfziger Jahren die der idealistischen Spekulation Überdrüssigen dem Materialismus zuführte und jetzt die neukantischen und positivisti- schen oder neubakonischen Bestrebungen, welche die Metaphysik aus der Liste der Wissenschaften gestrichen, durch Erkenntnistheorie ersetzt und die Weltanschauung dem Glauben anheimgestellt sehen wollen, so breiten Raum und Vieler Gunst gewinnen läßt. Die Weltansicht der Gegenwart steht noch immer unter dem Zeichen der Physik und Physiologie, wie die vorsokratische und die der beginnenden Neuzeit. Die Welt wird ^'on der Natur aus begriffen, das geistige Geschehen teils unbeachtet gelassen, teils in seinen unbequemen Ansprüchen auf ein Minimum redu- ziert, selten in seiner Selbständigkeit, Gleichwertigkeit oder gar überge- ordneten Stellung gewürdigt. Die Macht, welche die Naturwissenschaft über die Philosophie gewonnen, schreibt sich wesentlich von einer Reihe namhafter Entdeckungen und Theorien her, durch welche die erstere ganz neue und weite Ausblicke eröffnet hat und denen ein Anrecht auf Berücksichtigung bei dem Entwurf des Gesamtbildes der Wirklichkeit nicht abzustreiten ist. Um nur Her\'orragendstes anzuführen; Joh. Müllers (1801 58) Lehre von den spezifischen Sinnesenergien, die Helmholtz als eine empirische Bestätigung des Kantischen Apriorismus verwertete, das von Robert Mayer-* (1842, 1850; f ^878) entdeckte

' Schuppe: Erkenntiiistheoretische I^ogik 187S; Grundriß der Erkenntnisth. u. Logik 1894; Der Zusammenhang von Leib und Seele das Grundproblem der Psycho- logie (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens Nr. 13) 1902,

2 Rehmke (vergl. S. 539): Die Welt als Wahrnehmung und Begriff 1880, Die Seelenfrage, im zweiten Bande der ZPs. 1891 ; Lehrbuch der allgem. Psychologie 1894; Grundriß der Gesch. der Philos. 1896.

^ V. Schubert-Soldern: Grundlagen einer Erkenntnistheorie 1884; t'ber die Trans- szendenz des Objekts und Subjekts 1882; Grundlagen zu einer Ethik 1887; Das menschliche Glück und die soziale Frage 1896.

^ Rob. M.ayer: Die Mechanik der Wärme 1867, 2. Au(l. 1874. Über ihn E. DÜHRiNG 1880 und Al. Riehl in der Sigwartfestschrift 1900. Vorangegangen waren Lavoisier mit der Erhaltung der Materie und Daltön mit der Konstanz der Atomgewichte. )

CC2 EiNFLDSS DER NATURWISSENSCHAFT AUF DIE PHILOSOPHIE.

Gesetz von der Erhaltung der Kraft (Helmholtz 1847, 1862), speziell der Umsetzung der Wärme in Bewegung, welches dazu aufforderte, alle in der Welt wirksamen Kräfte auf ihre Umwandelbarkeit ineinander zu prüfen, die durch Heinrich Hertz' ' epochemachende Untersuchungen eröffnete Einsicht in die Wesensverwandtschaft der Elektrizität und des Lichtes, die auch von Lotze befürwortete Ausdehnung der mechanischen Erklärung auf die Lebensvorgänge, sodann die Darwinsche Theorie- (1859), welche durch natürliche Zuchtwahl im Kampf ums Dasein mittels Vererbung und Anpassung die organischen Arten sich aus- einander entwickeln läßt, der erneute Kampf um die Berechtigung der Atomistik^, Fortschritte der Hirnanatomie und Versuche einer verbesserten Phrenologie'^, dazu die metageometrischen Spekulationen* von Gauß (1828), Bernhard Riemann (Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen 1854, veröffentlicht 1867), Helmholtz (1868), B. Erdmann (Die Axiome der Geometrie 1877), G. Cantor u. a., welche unseren euklidischen, dreidimensionalen Raum als einen Spezialfall des unanschaulichen aber denkbaren analytischen BegriSs eines Raumes von n Dimensionen betrachten, das alles gab auch der Philosophie bedeutende und weitaussehende Probleme. Der Umstand, daß jene Theorien auf dem eigenen Gebiete noch tief im Hypothetischen stecken, scheint den Eifer, sie auf fremde Gebiete und

1 H. Hertz (1857—94: Die Prinzipien der Mechanik 1894. Über ihn Klein- PETER und Hacks im AsPh. Bd. 5, Heft 2, 1899; R. Manko, H. Hertz für die Willensfreiheit? 1900.

2 Eine kritische Darstelhing der modernen Entwicklungslehre und ihrer Er- klärungsursachen gibt Otto Hamann, Entwicklungslehre und Darwinismus, Jena 1892. Vgl. auch O. LiEEMANN, Anal. d. Wirkl. ; Ed. V. Hartmann (oben S. 540); GiZYCKI, Philosoph. Konsequenzen der Entwicklungstheorie 1876; R. SCHMiD, Die Darwinsche Theorie 1876.

3 W. Ostwald in Leipzig (Die Energie und ihre Wandlungen 1888; Die Über- windung des wissenschaftlichen Materialismus, Rede auf der Naturforscherversamm- lung zu Lübeck 1895; Vorlesungen über Naturphilosophie 1901, 2. Aufl. 1902) tritt für eine energetische Weltansicht ein. Viktor Meyer, Probleme der Atomistik, Vortrag, 2. Aufl. 1896. A. Riehl, Philos. der Gegenwart, S. 146 150. Dippe, Atomismus, Dynamismus und Energetik, Soest 1904. Seit 1902 gibt Ostwald die Zeitschrift „Annalen der Naturphilosophie" heraus.

* Paul Flechsig in Leipzig (Gehirn und Seele. Rektoratsrede 1894, 2. verb. Aufl. 1896; vergl. Ziehen in der ZPs. Bd. 13, S. 350) trennt mehrere Sinnessphären und Assoziationszentren. Eine Zusammenstellung der Hauptresultate in Anm. 29.

5 Vergl. LiEBMANN, Anal, der Wirkl., 2. Aufl. S. 53 59. Auch G. Frege in Jena (BegrifTsschrift 1879; Die Grundlagen der Arithmetik 1884; Funktion und Be- griff 1891; Über Sinn und Bedeutung, in der ZPhKr., Bd. 100, 1892; Grundgesetze der Arithmetik, I. Bd. 1893) hat das Zwischengebiet zwischen Mathematik und Philo- sophie zu seinem Arbeitsfelde gewählt. Wir notieren noch Edmund Husserl in Göttingen, Philos. der Arithmetik, Bd. I 1891.

EINFLUSS DER NATURWISSENSCHAFT AUF DIE PHILOSOPHIE. C ^^

auf das Weltganze zu übertragen, eher geschürt als gemäßigt zu haben. So haben namentlich die Darwinisten ' die biologische Hypothese des Meisters unverzagt als philosophisches Weltprinzip zu fruktifizieren und den Gesichtspunkten der mechanischen Entwickelungslehre die Geistes- wissenschaften zu unterwerfen \ersucht.

Außer der Erkenntnistheorie, an deren Bearbeitung sich die hervor- ragendsten Naturforscher- mit Scharfsinn und Glück beteiligen, verraten auch die Psychologie und die praktischen Fächer den Einfluß des natur- wissenschaftlichen Geistes. Während Gesellschaftslehre und Ethik nach englischem Muster eine empirische (oft eine biologische) Grundlage suchen und die Resultate der Statistik philosophisch zu verarbeiten begonnen haben-^, bemüht sich die Psychologie neben Fechner und den Her-

1 An ihrer Spitze steht Ernst Hae ekel in Jena (geb. 1834): Generelle Morpho- logie 1866, Natürliche Schöpfungsgeschichte 1868, Anthropogenie 1874, Ziel und Wege der heut. Entwicklungsgeschichte 1875, Populäre Vorträge 1878 f., Der Monis- mus 1893, Die Welträtsel 1899 (über die letzteren vergl. Paulsen in seiner „Philo- sophia militans", 2. Aufl. 1901 ; J. Baumann, Häckels Welträtsel, 2. Aufl. 1900; E. Adickes, Kant kontra Haeckel 1901; M. Apel, Kritische Anmerkungen zu H.& Welträtseln 1903). Neben ihm nennen wir G. Jäger, A. Schleicher (Die darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft 1865), Ernst Krause (Carus Sterne, f 1903, der Herausgeber des ,, Kosmos" 1877 86; Werden und Vergehen 1876), O. Caspari, Carneri (Sittlichkeit und Darwinismus 187 1), O. Schmidt (Deszendenzlehre und Dar- winismus 1873), du Prel, Paul Ree (Psychologische Beobachtungen 1875, Der Ur- sprung der moral. Empfindungen 1877, Die Entstehung des Gewissens 1885, Die Illusion der Willensfreiheit 1885, aus dem Nachlaß: Philosophie 1903), G. H. Schneider, (Der tierische Wille 1880, Der menschliche Wille 1882, Freud und Leid des Menschen- geschlechts 1833), Rolph (Biologische Probleme 1882), Aug. Weismann in Frei- burg i. B. (geb. 1834; Studien zur Deszendenztheorie 1875 76, Aufsätze über Ver- erbung 1892, Äußere Einflüsse als Entwicklungsreize 1894, Vorträge über Deszendenz- theorie 1902, 2. Aufl. 1904), Heinrich Ernst Ziegler in Jena, Herausgeber des Sammel- werks Natur und Staat, Beiträge zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre 1903.

- Helmholtz, Virchow (1821 1902), Zöllner (1834 82, Über die Natur der Kometen 1872, 3. Aufl. 1883) und Emil du Bois-Reymond (1818 96), welcher in den Vorträgen Über die Grenzen der Naturerkenntnis 1872 und Die sieben Welt- rätsel 1880 (beide zusammen 1882, 9. resp. 5. Aufl. 1903, auch in der ersten Folge der Reden 1886) die Entstehung des Organischen, die zweckmäßige Natureinrichtung und das Denken für in der Zukunft lösbare Probleme, dagegen das Wesen der Materie (Atome) und der Kraft (Fernewirkung), den Ursprung der Bewegung, das Zustandekommen des Bewußtseins (der F^mpfindung nebst Lust und Schmerz) aus den erkennbaren Bedingungen dos geistigen Lebens und die Freiheit des Willens für unbedingte Grenzen des Naturerkennens erklärt. Über Mach siehe oben S. 549 550. B. Stallo, Die Begriffe und Theorien der modernen Physik, deutsch von Klein- peter, 1901. Felix Auerbach, Die Grundbegriffe der modernen Naturlehre (1902).

3 Albert E. Fr. Schäffle in Stuttgart (1831 1903): Bau und Leben des sozialen Körpers 1875 7^1 neue Aufl. in 2 Bänden 1896; AI. v. Öttingen (geb. 1827): Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Sozialethik, 3. Aufl. 1882. Über die ver- schiedenen Formen der Soziologie vergl. P. BARTH, Die Philos. der Geschichte I, 1897.

554

Idealistische Gegenströmung.

bartianern ist hier vor allem W. Wundt und seine Schule zu nennen um Gewinnung exakter Ergebnisse hinsichtlich des Seelenlebens und seines Verhältnisses zur leiblichen Unterlage. Wundt und Haeckel greifen beide auf die spinozistiscbe Parallelität der materiellen und der geistigen Existenz zurück, nur daß dieser bloß das Nichtohneeinander beider Seiten (des Zellkörpers und der Zellseele) bei realer Differenz und meta- physischem Übergewicht der körperlichen Seite, jener aber die wesentliche Einheit von Leib und Seele tuid die höhere Realität der geistigen Seite b)etont.

2. Idealistische Reaktion gegen den naturwissenschaftlichen

Geist.

Gegen die Präponderanz der Naturwissenschaft und die durch sie bedingte empiristisch-skeptische Tendenz der heutigen Philosophie macht sich mit den Jahren wachsend eine idealistische Gegenströmung geltend. Wilhelm Dilthey^ in Berlin (geb. 1834) gibt zwar die Metaphysik als Grundlegung preis, aber er erklärt sich (unter Zustimmung Gierkes, Preuß. Jahrbücher, Bd. 5,^, 1884) gegen die Übertragung der natur- wissenschaftlichen Methode auf die Geisteswissenschaften, die eines eigenen Fundamentes bedürfen. Um ihnen eine zuverlässige Grundlage zu bieten, muß die Psychologie auf Hypothesen und damit auf „Erklä- rung" der Erscheinungen des Seelenlebens verzichten, sich Beschreibung und Zergliederung derselben zum Ziel setzen und vom lebendig gegebenen Zusammenhang des Ganzen aus die einzelnen Vorgänge zu verstehen suchen.

Der Kritizist Wilhelm Windel band- in Heidelberg scheidet streng von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften ab; ihm

1 Dilthey (vergl. oben S. 15, 421): Einleitung in die Geisteswissenschaften, erster Teil 1883; Das Schaffen des Dichters, in den Zelleraufsätzen 1887; Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außen- welt und seinem Recht, Sitzungsber. der Berl. Akad. d. Wiss. 1890; Ideen über «ine beschreibende luid zergliedernde Psychol., Alcad. 1894; Beiträge zum Studium der Individualität, Akad. 1896; Die Entstehung der Hermeneutik, in der Sigwartfest- schrift 1900.

2 Windelband (geb. 1848): Präludien 1S84, 2. Aufl. 1903; Rektoratsrede: Ge- schichte und Naturwissenschaft 1894; Vom System der Kategorien, Sigwartfestschrift 1900, Über Willensfreiheit 1904. Für die von Windelband herausgegebene Fest- schrift für K. Fischer ,,Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts", 2 Bände, 1904 05 hat W. selbst die Logik und die Gescliichte der Philos. über- nommen. Mitarbeiter sind Wundt (Psychologie), Bauch (Ethik), Tröltsch (Religions- philosophie, Groos (Ästhetik), Rickert (Geschichtsphilosophie) und Lask (Rechts- philosophie).

Idealistische Gegenströmung.

555

folgt Heinrich Rickert in Freiburg i. B. (Der Gegenstand der Er- kenntnis 1892, 2. Aufl. 1904; Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 1896 1902; Rede: Kulturwissenschaft und Natvirwissen- schaft 1899). Von der C'ohenschen Schule, den Neukantianern im «ngeren Sinne, die in Kant den Theoretiker der mathematischen Natur- wissenschaft sehen, unterscheidet sich die Windelbandsche, die an die dritte Kritik und an Fichte-Hegel anknüpft, dadurch, daß sie das Haupt- gewicht auf die Geschichte legt, auf eine Wert lehre ausgeht (Kriti- zismus ist ihr die Lehre von den allgemeinen und notwendigen Wer- tungen) und in ihrer freieren Haltung mit verwandten Richtungen, wie denen Lotzes und Euckens, Fühlung gewinnt.

Dem Individualismus der Positivisten gegenüber verfechten die Völkerpsychologen an ihrer Spitze Steinthal und Lazarus (S. 462), zu der gleichen Richtung bekennt sich Gustav Glogau ^ in Kiel (1844 95) die Macht des Allgemeinen über die Einzelgeister. Der Volksgeist sei nicht eine Redensart, ein leerer Name, sondern eine reale Kraft, nicht die Summe der zum Volke gehörenden Individuen, sondern eine übergreifende und beherrschende Macht, welche in der Gesamtheit Prozesse (z. B. die Sprache) erzeugt, die in den Einzelnen als solchen nicht vorkommen würden. Wahrhaft Mensch werde jeder nur als Glied der Gesellschaft, die Gemeinschaft sei das Subjekt des höheren Geistes- lebens.

Wenn die Völkerpsychologie, deren Name nur sehr unvollkommen die umfassende Absicht einer Psychologie der Gesellschaft oder des all- gemeinen Geistes ausdrückt, gleichsam auf empirischem Wege Hegels Ansicht vom objektiven Geiste bestätigt, so will Rudolf Eucken- in

1 Glogau: Abriß der philosophischen Grundwissenschaften, erster Teil: Die Form tind die Bewegungsgesetze des Geistes 1880, zweiter Teil: Das Wesen und die Grund- formen des bewußten Geistes 1888. Grundriß der Psychologie 1884. Die Haupt- lehren der Logik und Wissenschaftslehre 1894. Vorstadium und Anfänge der Philos., aus dem Nachlaß herausgeg. von H. Siebeck 1895. Glogaus Vorlesung über Religions- philos., herausgeg. von Hans Glasen 1898. L^ber Gl. die Gedächtnisrede von Deussen, Siebecks Nachruf (ZPhKr. Bd. 107) 1895 und H. Glasen, Glogaus System der Philos. (ebenda Bd. 118 u. 119) 1901. Die Gustav Glogau-Gesellschaft hat seit 1899 bereits ihr fünftes Jahrbüchlein herausgegeben.

- Eucken: Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit 1888 (vergl. Falckenberg, Euckens Kampf gegen den Naturalismus, aus der Erlanger Luitpoldfestschrift 1901), Prolegomena dazu 1885 (eine ausführliche Analyse der letzteren von F.A.LCKENBERG in der ZPhKr. Bd. 90, 1887); Die Grund- begriffe der Gegenwart, 2. Aufl. 1893; Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt 1896; Die Stellung der Philos. zur religiösen Bewegung der Gegenwart (ZPhKr. Bd. 112) 1898; Der Wahrheitsgehalt der Religion 1901; Vortrag Das Wesen der Religion 1901 ; Gesammelte Aufsätze zur Philosophie und Lebensanschauung 1904. Andere Schriften Euckens siehe oben S. 16 und 479. Euckens Religionsphilosophie hat Kalweit (Archiv für Religionswissenschaft) 1902, seine Theologie Hans

556

Idealistische Gegenströmung: Eucken und Class.

Jena (geb. 1846) der Frage nach einem Gesamtgeschehen, einer durch- gehenden Kraft, einer tragenden Einheit („Inbegrifif") des Geisteslebens^ in Fischtescher Art von dem sekundären Tatbestande des Bewußtseins zu einem ursprünglichen Realleben vordringend, auf (weder rein er- kenntnistheoretischem noch metaphysischem noch psychologischem, son- dern) noologischem Wege beikommen und fordert, daß sich die Grund- wissenschaft oder Prinzipienlehre nicht auf das Erkennen für sich, sondern auf das Gesamttun des Geisteslebens richte. Dem antiken (ästhetischen) Lebenssystem der Formgebung wie den beiden modernen (dynamischen) Syntagmen oder Tatsystemen des Naturalismus und des Intellektualismu& wird das neue der „Personalwelt" entgegengestellt. Das Prinzip desselben ist die Wesensbildung das Aufsteigen zum Wesen durch eigene Tat , welche „Werk" und „Selbst" in das richtige Verhältnis zuein- ander setzt und ihren Höhepunkt (nicht im plastischen Gestalten, in der Kraftentfaltung oder dem Denkprozesse, sondern) im ethischen Handeln findet. In der Volltat ist der Gegensatz von Subjekt und Objekt, psychischer Funktion und Sache überwunden. Religion ist Überzeugung von der Überwelt. Für die „universale" Religion bedeutet Gottheit das absolute zugleich weltüberlegene und in der Welt wirk- same Geistesleben. In der „charakteristischen" Religion tritt hinzu die Lebendigkeit Gottes mit den Eigenschaften der Macht und der Liebe. Alle positiven Religionen arbeiten an dem großen Werke, dem Menschen eine neue Stufe der Wirklichkeit zu eröffnen und gegenwärtig zu halten, durch eine Umkehrung des nächsten Daseins ein wesenhaftes und ur- sprüngliches Leben zu erringen. Eine besondere Offenbarung wird abgelehnt, aber in dem Ganzen der Geschichte eine Bekundung und Entfaltung übergeschichtlichen Lebens erkannt.

Zu einem objektiven Idealismus verwandter Art gelangt auf eigenem Wege, von Schleiermacher und Hegel ausgehend, Gustav Class^ in seinem Hauptwerke 1896. Der phänomenologische Teil betrachtet das empirisch gegebene Verhältnis der Einzelgeister zu den allgemeinen geistigen Mächten, nämlich die Wechselwirkung zwischen den historischen Inhalten (bestimmten Gestalten des religiösen, rechtlich-moralischen oder kulturlichen Lebens) und den Individuen, die sich ihrer in intellek- tueller Anschauung bemächtigen vmd sich konservativ oder kritisch, um-

PÖHLMANN 1903, seine Welt- und Lebensanschauung O. SiEBERT 1904 dargestellt; Aug. Messer behandelt ihn als Vorkämpfer des Idealismus (Deutsche Monatsschrift, Januar) 1904. Auf den von Eucken und Class eingeschlagenen Bahnen bewegt sieb Dr. Kai weit, Die Begründung der Religion (Jenaer Lizentiatenarbeit) 1902.

1 Class: Ideale und Güter 1886; Untersuchungen zur Phänomenologie und Ontologie des menschlichen Geistes, 1896; Die Realität der Gottesidee 1904. Vgl. oben S. 246.

Idealistische Gegenströmung.

557

bildend oder schöpferisch zu ihnen verhalten. Der onto- (oder pneu- mato-)logische Teil will zu dem wahrhaft Realen, dem tiefsten Grunde jenes Geschehens vordringen. Er trennt von dem personalistischen seelisch-natürlichen Leben, das vom Gefühl bestimmt wird, das geistige oder sachliche, vom Gedanken regierte. Die wahre Wirklichkeit ist der Geist, d. h. das Zusammen fordernder Gedankensysteme und des frei sich entscheidenden und in Glaube und Liebe von dem idealen Inhalt durchdrungenen Ich. Wenn zum Schluß das Postulat der Unsterblich- keit aufgestellt wird, so ist nicht die der natürlichen Seele, sondern die des persönlichen Geistes gemeint. Da aber die vSeele potentiell geistig ist, so kann sie durch den bezeichneten Prozeß zu aktuellem Geist werden. In seinem neuesten Werke sieht Class die Realität der Gottes- idee verbürgt durch die „Zusage" oder den „kategorischen Indikativ", worin der absolute Geist dem sich für das Gebot entscheidenden, aber seines Könnens nicht gewissen Ich seinen Beistand, d. h. den Sieg des Geistes über die Natur verheißt, sowie historisch durch die göttliche Sendung providentieller Persönlichkeiten.

Über mannigfache Versuche zur Begründung einer empirisch wohl- fundierten, von den Tatsachen behutsam aufsteigenden Metaphysik haben wir an anderer Stelle ' gehandelt. In der Frage über die Möglich- keit der Metaphysik sind drei Richtungen zu unterscheiden. Links die Positivisten, die Neukantianer, die Bewußtseinsmonisten, welche sie rund- weg leugnen. Rechts eine freilich sehr zusammengeschmolzene Anzahl von Philosophen z. B. Anhänger von Hegel, Herbart, Schopenhauer , welche, ohne sich zu Konzessionen an die moderne Erkenntnis- theorie zu verstehen, an der Möglichkeit einer spekulativen Metaphysik im alten Stil festhalten. In der Mitte eine Gruppe von Denkern, die weder auf ein solides erkenntnistheoretisches Fundament, noch auf Ge- winnung metaphysischer Überzeugungen zu verzichten gewillt sind. So Ed. V. Hartmann, Wundt, J, Bergmann- in Marburg, Eucken, Lieb- mann, Volkelt (S. 520, 547), Franz Erhardt ^ in Rostock, L. Busse (oben S. 539). Auch Gideon Spicker^ in Münster (geb. 1840) darf

1 R. FalcKENBERG: Über die gegenwärtige Lage der deutschen Philos., Erlanger Antrittsrede, Leipzig 1S90.

~ Bergmann (1840 1904I: Grundlinien einer Theorie des Bewußtseins 1870; Reine Logik 1879; Sein und Erkennen 1880; Die Grundprobleme der Logik 1S82, 2. Bearbeitung 1895; Über das Richtige 1883; Vorlesungen über Metaphysik 1886; Über das Schöne 1887; Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie 1900; System des objektiven Idealismus 1903. Vergl. oben S. 13.

3 Erhardt: Mechanismus und Teleologie 1890; Der Satz vom Grunde 1891; Metaphysik, Bd. i : Erkenntnistheorie 1894; Kausalität und Xaturgesetzlichkeit (ZPhKr, Bd. 109) 1896. Vergl. oben S. 539.

•* Spicker: Die Ursachen des Verfalls der Philos. 1892: Der Kampf zweier Weltanschauungen 1898; Versuch eines neuen Gottesbegriffs 1902.

dc8 Idealistische Gegenströmung.

hierher gestellt werden. Spicker ist teleologischer Metaphysiker. Gegner sowohl des mechanistischen Materialismus als des konfessionellen „Mythologismus", hält er an der Einheit Gottes und der Welt fest^ unterscheidet aber scharf zwischen dem Ewigen und dem Zeitlichen. Die Welt als Inbegriff alles Gewordenen hat einen Anfang genommen; ihm steht das Ewige selbständig gegenüber und ist nach Analogie des Menschen als ein Vernünftiges zu denken. In der Materie sieht Spicker in unendlichen Stufen und Graden beseelte aktuelle Kraftpunkte, aber nicht Willenseinheiten noch auch Monaden. Diese Summe endlicher Wesen war ursprünglich j^otentiell im Absoluten enthalten; außer diesen potentiellen Kräften aber muß in der Substanz, als selbständigem Wesen, eine absolut aktuelle Kraft angenommen werden. Und zwar kommt Gott nicht nur Verstand und Wille zu, sondern auch „All- macht", d. h. Aseität und das Vermögen, eine Welt (iion ex inhilo) aus sich hervorzubringen. Das Universum ist nicht der adäquate Aus- druck des Absoluten, da sich im Endlichen ein Unendliches nie er- schöpfen kann; unter Unendlichkeit aber ist intensive Fülle von Macht und Gedanken zu verstehen. Raum ist die Summe der expandierenden Kräfte, Zeit deren Bewegung und Veränderung.

Otto Liebmann^ in Jena (geb. 1840) verlangt scharfe Trennung des Gewissen vom Ungewissen und genaue Abschätzung des Wahr- scheinlichkeitsgrades der Theorien, stellt die Prinzipien der Metaphysik unter die Rubrik logischer Hypothesen und gibt in seiner „Klimax der Theorien" 1884 zu bedenken, daß die Erfahrungswissenschaft außer not- wendig oder apodiktisch gewissen Axiomen und tatsächlich oder asser- torisch gewissen Empeiremen noch einer Anzahl von „Interpolations- maximen" (d. h. Grundsätzen, nach Maßgabe deren wir die fragmen- tarische und diskrete Reihe singulärer Wahrnehmungen und isolierter Beobachtungen durch Einschaltung der fehlenden Zwischenglieder zu einem zusammenhängenden Erfahrungstatbestand ergänzen), welche ein Attribut unseres intellektuellen Organisationstypus bilden, bedürfe. Die wich- tigsten dieser Maximen sind die Prinzipien der realen Identität, der Kontinuität der Existenz, der Kausalität und der Kontinuität des Ge- schehens. Die Erfahrung ist ein Geschenk des Verstandes; die dem gewöhnlichen Bewußtsein in der Regel latent bleibenden Prämissen, auf deren antizipierender Anwendung unsere Empirie durchgängig beruht, be- haupten etwas schlechthin Unerfahrbares. Wenn man behufs Herstellung einer „reinen Erfahrung" sämtliche in der Empirie enthaltenen subjek- tiven Verstandeszutaten (alles, was nicht momentan gegenwärtig, lokal

1 Liebmann: Über den objektiven Anblick 1869; Hauptwerk: Zur Analysis der Wirklichlvcit 1876, 3. Aufl. 1900; Gedanken und Tatsachen, erster Band 1S99, zweiter 1901 4; Weltwanderung, Gedichte 1899.

Idealistische Gegenströmung. 559

anwesend, kurz, was nicht direkter Gegenstand und Inhalt der aktuellen Beobachtung sein kann) eliminiert, so fällt dieselbe in ein ungeordnetes,, zusammenhangsloses Aggregat diskontinuierlicher Wahrnehmungsfrag- mente auseinander; damit ein vollständiger und artikulierter Erfahrungs- sachverhalt zustande komme, müssen jene Bruchstücke (der rein faktische Beobachtungsgehalt, der inkohärente Wahrnehmungsstoff) durch sehr viel Nichtbeobachtetes ergänzt und verbunden werden. Im zweiten Bande der „Gedanken und Tatsachen" gibt Liebmann einen Grundriß der kritischen Metaphysik 1901.

Wilhelm Wundt^ in Leipzig (geb. 1832) setzt an die Stelle des substantiellen Seelenbegriffs den aktualistischen und faßt die Apperzep- tion als Willenstätigkeit. Für das geistige Leben stellt er die Prinzipien der schöpferischen Synthese (deren Wirkung sich aus den Elementen, die sie verbindet, und ihrer bloßen Summierung nicht erklären läßt), der Heterogonie der Zwecke (vermöge deren ein INIittel, das ursprünglich um eines bestimmten Zweckes willen begehrt wurde, hinterher un- abhängig von jenem Zwecke einen unmittelbaren Eigenwert erlangt) und das aus ihnen sich ergebende des Wachstums der Energie im Gegen- satz zur Äquivalenz bei der Xaturkausalität auf. Weiteres siehe bei E. König, W. Wundt (Frommanns Klassiker der Philos. Bd. 13) 1901, 2. Aufl. 1902.

Ferner ist auf praktischem Gebiete eine Reaktion gegen den rohen Naturalismus bemerkbar, an der sich auch Nationalökonomen (Röscher) und Juristen rege beteiligen. Persönlich steht auch Rudolf V. Ihering in Göttingen (1818 92, Der Zweck im Recht, 2 Bände 1877—83, 2. Aufl. 1884—86) auf idealistischem Boden, obwohl er sich grundsätzlich, mit Verwerfung der nativistischen und formalistischen Theorie, zum „Realismus", zum Prinzip des Interesses und der so- zialen Utilität (das Sittliche ist das für die Gesellschaft dauernd Nütz- liche) bekennt.

Endlich liegen dem anwachsenden Interesse für die Geschichte der Philosophie zum Teil verwandte Motive zugrunde. Der idea- listische Trieb sucht die Nahrung, welche ihm die metaphysikscheue Gegenwart versagt, bei den Größen der Vergangenheit und hofft, durch Lebendighaltung der klassischen Leistungen der Vorzeit das Bewußtsein der Dringlichkeit und Unabweisbarkeit der höchsten Fragen zu ver-

1 Wundt: Essays 1885, darin „Philosophie und Wissenschaft". System der Philos. 1889, 2. Aufl. 1897. (Über das letztere vergl. Volkelts Aufsatz in den Philos. Monatsh. Bd. 27, 1891, über die Essays Desselben Anzeige ebenda Bd. 23,. 1887.) Über psychische Kausalität, in WPhSt. Bd. 10. Einleitung in die Philos. 1901, 3. Aufl. 1904. RUD. Eisler, Wundts Philos. und Psychol. 1902, Die mit dem zwanzigsten Bande abgeschlossene Zeitschrift „Philosophische Studien" (1881 1903) wird von E. Meumann unter dem Titel „Archiv für die gesamte Psychologie" fortgesetzt.

56o

Die philosophischen Einzelwissenschaften.

schärfen und den Mut zu erneuten Lösungsversuchen zu wecken. So tritt das historische Studium in den Dienst der systematischen Phi- losophie.

3. Die philosophischen Einzelwissenschaften.

Je mehr durch die neukantische Erkenntnistheorie und das Ein- dringen des positivistischen Geistes der Mut zur Inangriffnahme der zentralen Aufgaben der Philosophie gelähmt wurde, um so lebhafter hat sich die Arbeit der letzten Jahrzehnte auf die Spezialfächer geworfen: die Verlegung des Schwerpunktes aus der Metaphysik in die Einzel- wissenschaften ist das hervortretendste Merkmal der Philosophie der Gegenwart. Die Logik sieht Jahrhunderte alte Überzeugungen erschüttert und neue Grundmauern im Entstehen. Die Psychologie ist, meist unter Zurückschiebung der metaphysischen Fragen, mit wachsendem Mißtrauen gegen die Zuverlässigkeit der inneren Beobachtung, in einen Wetteifer mit der Physiologie um Ermittelung der Gesetze der von leiblichen Vorgängen abhängigen Seelenfunktionen eingetreten. Die Religionsphilo- ■sophie erfreut sich unverminderter, die Ästhetik nach längerer Ver- nachlässigung erneuter Teilnahme; die Philosophie der Geschichte ist im Begriff, in neuer Form alte Rechte wieder zu erobern. Ein besonders lebhaftes Interesse aber wird der Ethik gewidmet. Ferner nimmt die Erforschung der Geschichte der Philosophie einen breiteren Raum ein als je zuvor. Wir schließen unsere Skizze mit einem kurzen Rundblick über die einzelnen Disziplinen.

Auf dem Gebiete der Logik sind als klassische Leistungen die Werke von Christoph v, Sigwart^ in Tübingen, Lotze (S. 535), Wundt (Bd. I: Erkenntnislehre 1880, 2. Aufl. 1893; II: Methodenlehre 1883, 2. Aufi. 1895; Register von H.Lindau 1901), Benno Erdmann in Bonn (Logik, I. Bd. 1892) anzuführen. Außerdem verdienen Er. -wähnung Bergmann (S. 557^), Schuppe (S. 551^), Cohen (S. 531), Th. Lipps (Grundzüge der Logik 1893), F. Hildebrand (Die neuen Theorien der kategor. Schlüsse 1891), Anton Marty in Prag (Über subjektlose Sätze im 8., 18. u. 19. Bande der VwPh.; Über das Ver- hältnis von Grammatik u. Logik, in Symbolac Pragenses 1893; Über die Scheidung von grammatischem, logischem und psychol. Subjekt resp. Prädikat, AsPh. Bd. 3, 1897), AI. Riehl (Beiträge zur Logik 1892), H.

1 Sigw.art, Logik, I. Bd.: Urteil, Begriff und Schluß 1873, 2. Aufl. 1889; II. Bd. Methodenlehre 1878, 2. Aufl. 1893; dritte Aufl. im Erscheinen begriffen; Beiträge zur Lehre vom hypothetischen Urteil 1879; Die Impersonalien 1888; über Sigwarts Theorie der Kausalität vergl. Wartenberg (VKSt. Bd. 5) 1900.

Die philosophischen Einzelwissenschaften. 561

Cornelius (Versuch einer Tiieorie der Existentialurteile 1894), J. v. Kries (Zur Psychologie der Urteile, VwPh. Bd. 23, 1899), und Ed- mund Husserl in Göttingen (Logische Untersuchungen 1900 01), der gegen den Psvchologismus und das biologische Prinzip der Denk- ökonomie für eine reine Logik apriorischen Charakters eintritt. Vergl. auch W. Enoch, Brentanos Reform der Logik, in den Philos. Monatsh. Bd. 29 (1893), Melchior Palagyi, Der Streit der Psycholo- gisten und Formalisten in der modernen Logik 1902 und W. Win- delband, „Logik" in der K. Fischer- Festschrift I, 1904. Über die Methoden der Forschung in den Naturwissenschaften und deren Grundbegriffe (Materie, Äther, Bewegung, Energie) verweisen wir auf die lehrreichen ersten Kapitel der Allgem. Physiologie von Is. Rosen - thal 1901.

In der Psychologie haben sich hervorgetan Wilh. Wundt in Leipzig (geb. 1832): Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele 1863, 3. Aufl. 1897, Grundzüge der physiologischen Psycholo- gie 1874, 5. Aufl. 1903, Grundriß der Psychologie 1896, 6. Aufl. 1904, Zur Theorie der räumlichen Gesichtswahrnehmungen (WPhSt. 14, l)

1898, Völkerpsychologie, L Band: Die Sprache 1900 (vergl. B. Del- brück: Grundfragen der Sprachforschung 1901 und Wundts Erwide- rung „Sprachgeschichte und Sprachpsychologie" 1901), „Psychologie" in der von Windelband herausgegebenen K. Fischer-Festschrift „Die Philos. im Beginn des 20. Jahrh." I, 1904; A. Horvicz: Psychologische Analysen auf physiol. Grundl. 1872 78; Franz Brentano (geb. 1838): Psychologie vom empirischen Standpunkte, L Bd. 1874; Karl Stumpf in Berlin (geb. 1848): Über den psychologischen Ursprung der Raum- vorstellung 1873, Tonpsychologie I. Bd. 1883, IL Bd. 1890, Psychol. und Erkenntnistheorie 1891; Eröffnungsrede bei dem Münchener Kon- greß' 1896; Beiträge zur Akustik und Musikwissenschaft (als Fortsetzung der „Tonpsychologie") seit 1898, Über den Begriff der Gemütsbewegung (gegen James und Ribot, ZPs. Bd. 21) 1899, Zur Methodik der Kinder- psychol. (Zeitschr. f. pädag. Psychol. 2,1) 1900, Der Entwicklungsge- danke in der gegenwärtigen Philos. ^ 1900; Th. Lipps in München (geb. 1851): Grundtatsachen des Seelenlebens 1883, Der Begriff des Unbewußten in der Psychol. (3. internat. Kongreß für Psychol.) 1897, Die Quantität in psychischen Gesamtvorgängen (Münchener Akademie)

1899, Psychologie, Wissenschaft und Leben (ebenda) 1901, Das Selbst- bewußtsein, Empfindung und Gefühl iqoi, Einheiten und Relationen 1902, Vom Fühlen, Wollen und Denken 1902, Leitfaden der Psychol. 1903 und wertvolle Artikel in der ZPs; Joh. Rehmke: Lehrbuch der

1 In der zweiten Auflage ist Stumpfs KongreBvortrag „Leib und Seele" mit seiner Festrede über den Entwicklungsgedanken vereinigt worden: Zwei Reden 1903. Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 36

562

Die philosophischen Hinzelwissenschaften.

Allgem. Psychol. 1894, Zur Lehre vom Gemüt 1898, Die Seele des Menschen 1902; Fr. Jodl' in Wien (geb. 1849): Lehrbuch der Psychol. 1896, 2. Aufl. in 2 Bänden 1903; Alois Höfler in Wien: Psychologie 1897, Grundlehren der Psychol. (f. Gymnasien) 1897; Herrn. Ebbinghaus in Breslau (Herausgeber der Zeitschrift für Psy- chol. und Physiol. der Sinnesorgane 1889 f.): Über das Gedächtnis 1885, Grundriß der Psychol. I, 1896 1902; Georg Elias Müller: Zur Grundlegung der Psychophysik 1878, ders.: Die Gesichtspunkte und die Tatsachen der psychophysischen Methodik 1904, ders. (mit Schumann); Über die psycholog. Grundlagen der Vergleichung gehobener Gewichte (in Pflügers Archiv) 1889, ders. (mit Martin): Zur Analyse der Unter- schiedsempfindlichkeit 1899, ders. (mit Püzecker): Exper. Beiträge zur Lehre vom Gedächtnis 1900; v. Ehrenfels: Über Gestaltqualitäten (VwPh. Bd. 14, S. 249f.) 1890; Meinong: Zur Theorie der Kom- plexionen und Relationen (ZPs. Bd. 2, S. 245 f.) 1890; Hans Corne- lius: Psychol. als Erfahrungswissenschaft 1897: B. Erdmann (mit R. Dodge): Psychologische Untersuchungen über das Lesen 1898; Joh. Volkelt: Psychol. Streitfragen (ZPhKr. Bd. 90, 92, 102), Beiträge zur Analyse des Bewußtseins (ebenda Bd. 112, 118). Die Schriften der Wundtschüler Münsterberg, ^ Ziehen, Külpe, Störring, Hellpach siehe oben S. 534 Anm. i.

Daneben mögen genannt sein J. H. Witte: Das Wesen der Seele 1888; H. Spitta; Alfred Lehmann in Kopenhagen: Die Hypnose i8qo, Die Hauptge- setze des menschl. Gefühlslebens 1892; H. Schmidkunz: Psvchologie der Sugges- tion 1892; Theob. Ziegler: Das Gefühl 1893; Sommer, Lehrbuch der psycholo- gischen Untersuchungsmethoden 1899; W. Jerusalem: Lehrbuch der Psychol., 3, Aufl. 1902; S. Exner; Entwurf zu einer physiologischen Erkl.ärung der psychi- schen Erscheir.UDgen, L 1894; W. Heinrich: Die moderne physiologische Psycho- logie in Deutschland 1895; G. Martins in Kiel: Der Schmerz 189S; William Stern in Breslau: Über Psychologie der individuellen Differenzen 1900, Zur Psycho- logie der Aussage, exp. Untersuchungen über Erinnerungstreue 1902, Beiträge zur Psychol. der Aussage 1903 f.; Alex. Pfänder: Psychologie des WoUens, gekrönte Münchener Preisschrift 1900; Herrn. Schwarz: Psychologie des Willens 1900; K. Marbe: Exp.-psych. Untersuchungen über das Urteil 1901 ; E. Meumann: Ent- stehung und Ziele der experimentellen Pädagogik (in der Monatsschrift Die deutsche Schule, Febr. bis Mai) 1901, Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde (erweiterter Abdruck aus der Festschrift WPhSt. Bd. ao) 1902; K. Groos: Das Seelenleben des Kindes 1904; Arnold Kowalewski: Studien zur Psych, des Pessi- mismus 1904; J. V. Kries: Über die materiellen Grundlagen der Bewußtseinser- scheiuungen 1901 , und von den zahlreichen Untersuchungen zur Sinnesphysiologie M. Dessoir: Der Haulsinn, im Archiv für Anat. und Physiol. 1892, Zwaarde- maker: Physiologie des Geruches 1895 und V. Henri: Die Raumwahrnehmungen

1 Jodl gibt am Schlüsse seines Lehrbuchs, Münsterberg am Schlüsse jedes Kapitels seiner „Prinzipien der Psych." (des ersten Bandes seiner „Grundzüge" 1900) ein Literaturverzeichnis.

Die philosophischen Einzelwissenschaften. jgj

des Tastsinnes 189S. Endlich Max Verwurn: Allgem. Physiol., 4. AuH. 1903; G. von Bunge: Lehrbuch der Physiologie des Menschen, I 1901 ; Heinr. Sachs: Die P^ntwickelung der Gehirnphysiologie im 19. Jahrh. (in der Zeitschr. für pädagog. Psychol. u. PathoL, dritter Jahrg. Heft 4) 1901.

Auf der Grenzscheide zwischen Psychologie und Erkenntnistheorie bewegen sich Goswin K. Uphues in Halle (geb. 1841): Wahrnehmung und Empfindung 1888, Über die Erinnerung 1889, Psychologie des Er- kennens, I. Bd. 1893, Grundzüge der Erkenntnistheorie 1901; Hern». Schwarz in Halle: Das Wahrnehmungsproblem 1891, Die Umwälzung der Wahrnehmungshvpothesen 1805; W. Jerusalem in Wien: Die Ur- teilsfunktion 1895; Engelb. Lor. Fischer in Würzburg (geb. 1845): Die Grundfragen der Erkenntnistheorie 1887, Theorie der Gesichtswahr- nehmung 1891, (Ders.: Das Grundproblem der Metaphysik 1894, Der Triumph der christlichen Philos. 1900); Aug. Dorner in Königsberg: Das menschliche Erkennen 1887; Carl Siegel in Brunn: Zur Psycho- logie und Theorie der Erkenntnis 1903 (Von den beiden Grundfunktionen des Bewußtseins, Verbinden und Trennen, ist die Trennungsfunktion die ursprünglichere); Ernst Dürr in Würzburg: Über die Grenzen der Ge- wißheit 1903.

Die Literatur der Moralphilosophie hat eine wesentliche Bereiche- rung erfahren durch Wundt, Ethik 1886, 3. Aufl. 1903, Fr. Paulsen, System der Ethik 1889, 6. Aufl. 1903, und Th. LipjiS, Die ethischen Grundfragen 1899. Ferner sind zu nennen Baumann (S. 531); Schuppe: Grundzüge der Ethik und Rechtsphilos. 1882; Joh. Witte: Freiheit des Willens 1882; Big wart: Vorfragen der Ethik 1886: Rieh. Wallaschek: Ideen zur praktischen Philos. 1886; F. Tönnies in Kiel: Gemeinschaft und Gesellschaft 1887: Aug.Döring in Berlin (geb. 1834): Philosophische Güterlehre 1888; Paul Hensel: Ethisches Wissen und etliisches Han- deln 1889, Hauptprobleme der Ethik 1903; Th, Ziegler: Sittliches Seil und Werden, 2. Aufl. 1890, Die soziale Frage eine sittliche Frage 1890 u. ö.; Georg Simmel in Berlin: Über soziale Differenzierung 1890, Ein- leitung in die Moralwissenschaft 1892 93; Th. Elsenhans: Wesen u. Entstehung des Gewissens 1894, Theorie des Gewissens (ZPhKr. Bd. 121) 1903; A. Dorner: Das menschliche Handeln 1895; Joh. Unold: Grundlegung für eine moderne praktisch-ethische Lebensanschauung 1890; Wilh. Stern: Kritische Grundlegung der Ethik als positiver Wissenschaft 1897, Die allgemeinen Prinzipien der Ethik 1901: Felix Krueger: Der Begriff des absolut Wertvollen 1898; P. Barth: Beweggr. des sittlichen Handelns 1899; Herm. Schwarz: Das sittliche Leben 1901, Glück und Sittlichkeit 1902 (zu dem schon in der Ha\ mschrift erschienenen ersten Teil „Gefallen und Lust" kommt hier als zweiter hinzu „Naturhaftes uml sittliches Vorziehen"); M. Wentschcr, Ethik, I. Teil, 1902; Gustav Störring: MoralphiKis, Streitfragen I, 1903; W. Koppelmann: Kritik

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Die philosophischen Einzelwissenschaften.

des sittlichen Bewußtseins 1904; Max Offner in Ingolstadt: Willens- freiheit, Zurechnung und Verantwortung 1904; Bruno Bauch in Halle: „Ethik" in der K. Fischer-Festschrift I, 1904.

Wir fügen noch Arbeiten über die Wertlehre hinzu: Alexius Meinong in Graz, Psychol.-eth. Untersuchungen zur Werttheorie 1894, dazu Über Werthaltung und Wert (AsPh. Bd. i) 1895; Chr. v. Ehren- eis in Prag, "Werttheorie und Ethik (VwPh. Bd. 17, 1893 f.), Von der Wertdefinition zum Motivationsgesetze (AsPh. Bd. 2) 1896, System der Werttheorie, I 1898; Jonas Cohn, Beiträge zur Lehre von den Wer- tungen (ZPhKr. Bd. iio, 1897); G. Simmel, Philosophie des Geldes 1900; Oskar Kraus, Zur Theorie des Wertes, eine Benthamstudie 1902; Jos. Gl. Kreibig, Psychologische Grundlegung eines Systems der Wert- theorie 1902.

In Betreff der Rechtsphilosophie ist neuerdings wieder Begriff" und Berechtigung des Natur- oder Vernunftrechts und sein Verhältnis zur positiven Jurisprudenz zum Gegenstand lebhafter Erörterungen ge- worden. Man findet das Wichtigste aus der Literatur (Frank, Bergbohm, F. Dahn, Ad. Merkel, Schütze u. a.) in Jacques Sterns Broschüre „Rechtsphilos. und Rechtswissenschaft," Berlin 1904.

Von neueren Erscheinungen auf dem Gebiete der Ästhetik seien außer C. Hermanns Ästh. 1875, Hartmanns Philosophie des Schönen 1887 und den meisterhaften Arbeiten Ernst Brückes (f 1892) ange- führt: Karl Groos in Gießen (Einleitung in die Ästhetik 1892, Die Spiele der Tiere 1896, Die Spiele der Menschen 1899, Der ästhetische Genuß 1902), Theodor Lipps ^ Volkelt^, Ernst Meumann in Zürich (Beiträge zur Psych, u. Ästh. des Rhythmus, WPhSt. Bd. 10) 1894, Konrad Fiedler (Schriften über Kunst, herausgeg. von Hans Marbach) 1896, Karl Bücher (Arbeit und Rhythmus, AsGWph Bd. 17) 1896, 3. Aufl. 1902, Ad. Hildebrand (Das Problem der Form in der bilden- den Kunst, 2. Aufl. 1897, 3. Aufl. 1901: vergl. A. Riehl, Bemerkungen zu dem Problem der Form in der Dichtkunst, VwPh. Bd. 21 u. 22), Max Klinger (Malerei und Zeichnung) 1891, 2. Aufl. 1895, Josef Müller (Eine Philosophie des Schönen) 1897, Heinrich von Stein

1 Th. Lipps: Der Streit über die Tragödie 1890; Ästhet. Faktoren der Rauni- anschauung 1891 ; Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen 1 897 ; Komik und Humor 1898; Ästhetische Literaturberichte im AsPh, Bd. 4. u. f.; Ästhetische Einfühlung (ZPs. Bd. 22, S. 415 f.) 1900; Ästhetik, Band I, Grundlegung 1903.

2 Volkelt: Dem ersten Bande des Systems der Ästhetik 1905 waren vorange- gangen: Ästh. des Tragischen 1897, Die tragische Entladung der Affekte (ZPhKr. Bd. 112) 1898, Der ästhetische Wert der niederen Sinne (ZPs. Bd. 29), Die entwicke- lungsgeschichtliche Betrachtungsweise in der Ästhetik (ZPs. Bd. 29) 1902, Die Bedeutung der niederen Empfindungen für die ästhetische Einfühlung (ebenda Bd. 32) 1903.

Die philosophischen Einzelwissenschaften. 565

(t 1887, Vorlesungen über Ästhetik aus dem Nachlaß) 1897, Max Dessoir (Beiträge zur Ästhetik im AsPh, Bd. 3 6) 1896 1900, Jonas Cohn (AUgem. Ästhetik) 1901, Konrad Lange in Tübingen (Das Wesen der Kunst, 2 Bände) 1901, Alfred Lichtwark in Hamburg (Die Setle und das Kunstwerk) 1902, G. Wernick (Zur Psychologie des ästhetischen Genusses) 1903, Stefan Witasek (Grundzüge der allgem. Ästhetik) 1904. Volke Its letzterschienenes Werk zerfällt in drei Abschnitte: methodische, beschreibende, normative Grundlegung der Ästhetik. Der dritte Abschnitt stellt vier ästhetische Grund- normen in doppelter psychologischer und gegenständlicher Be- zeichnung auf: I. das gefühlserfüllte Anschauen (Einheit von Form und Gehalt), 2. Ausweitung unseres fühlenden Vorstellens (der mensch- lich-bedeutungsvolle Gehalt), 3. Herabsetzung des Wirklichkeitsgefühls, speziell Willen-, Stoff- und Erkenutnislosigkeit im ästhetischen Ver- halten (das Ästhetische als Welt des Scheines), 4. Steigerung der beziehenden Tätigkeit (der ästhetische Gegenstand als organische Einheit).

Von den Arbeiten über Geschichtsphilosophie notieren wir Conrad Hermann in Leipzig (1819— 97 i: Philos. der Geschichte 1870; rnst Bernheim: Geschichtsforschung und Ge chichtsphilos. 1880, Lehrbuch der historischen Methode, 4. Aufl. 1903, Geschichtswissen- schaft u. Erkenntnistheorie (Zeitschr. für immanente Philos.) 1898; J. G. Droysen: Grundriß der Historik, 3. Aufl. 1882; Ottokar Lorenz (1832 1904) in Jena: Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben 1886, H. Teil (L. v. Ranke, Die Generationenlehre und der Geschichtsunterricht) 1891; Dietrich Schaefer: Das eigentliche Ar- beitsgebiet der Geschichte 1888, Geschichte und Kulturgeschichte 1891; Gothein: Die Aufgaben der Kulturgeschichte 1889; P. Hinne- berg: Die philos. Grundlagen der Geschichtswissenschaft (in Sybels Histor. Zeitschr. Bd. 63) 1889; Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilos. 1892; R. Rocholl: Ph. d. G. Bd. II, 1893; Steffensen (S. 527, über ihn Hugo Renner im AGPh. Bd. 18, 1904); K. Lamp recht in Leipzig: Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft (darin Rankes Ideenlehre) 1896, Was ist Kulturgeschichte? (Deutsche Zeitschr. f. Gesch. 1896—97), Die geschichtswissenschaftlichen Probleme der Gegenwart (Zukunft Nov. 1896), Eine Wendung im geschichtswiss. Streit (ebenda Nr. 14, Jan. 1897), Die historische Methode des Herrn v. Below (gegen einen Ar- tikel des letzteren in der Histor. Zeitschr. Bd. 81, 1898) 1899, Die kulturgeschichtliche Methode (gegen Windelband) 1900; W. Frey- tag: Über Rankes Geschichtsauffassung (AsPh. Bd. 6) 1900; Kurt Breysig: Kulturgeschichte der Neuzeit 1900—01; I. Goldfried- rich: Die historische Ideenlehre in Deutschland 1902; A. G roten-

c66 Die philosophischen Einzelwissenschaften.

feit: Die Wertschätzung in der Geschichte 1903; F. Medicus: Kants Philos. der Geschichte 1902, Kant und Ranke (VKSt. Bd. 8, S. 129 bis 192) 1903.

In der vielfach auch von Theologen bearbeiteten Religionsphilo- sophie stehen sich eine neukantische und eine neuhegelsche Richtung gegenüber. Die erstere, sich wiederum spaltend, ist durch die Ritschl- sche' Schule Wilh. Herrmann in Marburg (Die Metaphysik in der Theologie i876,*Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit 1879, Ethik 1901 im Grundriß der theol. Wissenschaften V. 2), Jul. Kaftan in Berlin (Das Wesen der christlichen Religion 1881) einerseits, durch R, Ad. Lipsius- in Jena (1830 92: Dogmatik 1876, 3. AuH. 1893, Philosophie und Religion 1885) anderseits vertreten; die neuhegelsche durch AI. Em. Biedermann in Zürich (1819 85; Christliche Dogmatik 1868, 2. Aufl. 1884 85), einen Schüler von W. Vatke, und Otto Pfleiderer in BerHn (geb. 1839; Religionsphilosophie 1879, 3- A^fl- 1894 96; Die Entwickelung der protest. Theologie seit Kant 1891). Während jene die Religion ausschließlich auf die prak- tische Seite der menschlichen Natur, insbesondere das Sittengesetz gründen, sie aus dem Kontraste zwischen äußerer Abhängigkeit von der Natur und innerer Freiheit oder übernatürlicher Bestimmung des Geistes entspringen lassen und vor jeder Vermischung mit Metaphysik ])ewahrt wissen wollen, ist nach diesen das theoretische Moment der Religion nicht minder wesentlich und einer läuternden Bearbeitung, einer Erhe- bung aus der widerspruchsvollen Form der Vorstellung in die adäquate des reinen Gedankens, mithin der Versöhnung mit der Philosophie fähig. Hugo Del ff (f 1898, Über den Weg zum Wissen und zur Ge- wißheit zu gelangen 1882, Die Hauptprobleme der Philos. und Religion 1886) wandelt Jacobische Bahnen. Neuere Werke: B. Pünjer in Jena (t 1885), Grundriß der Religionsphilos. mit Vorwort von Lipsius 1886; M. Reischle, Die Frage nach dem Wesen der Religion 1889; R. Seydel (S. 527'); Th. Ziegler, Religion und Religionen 1893; P. Natorp, Religion innerhalb der Grenzen der Humanität 1894; J. Bau mann, Die Grundfrage der Religion 1895 u. a.; Günther Thiele, Die Philo-

1 Albrecht Ritschi in Göttingen (1822 89): Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 3 Bände 1870 74, 2. Aufl. 1883; Theologie und Metaj)hysik 1881. Über Ritschis Erkenntnistheorie handeln Esslinger 1891 und Traue (Zeitschr. f. Theol. u. Kirche) 1894. L. Stählin: Kant, Lotze, Ritschi 188S. Pfennigsdorf: Vergleichung der dogmat. Systeme von Lipsius und Ritschi 1896. lOH. Steinbeck: Das Verhältnis von Theologie und Erkenntnistheorie erörtert an Ritschi und Sabatier 1898. JoH. Wendland: R. u. seine Schüler 1899.

2 Lipsius' Erkenntnistheorie hat RULE 1894, seine Weltanschauung A. Xeumann behandelt 1896. Pfennigsdorf s. vorige Anmerkung.

Die philosophischen Einzelwissknschaften. x^^y

Sophie des Selbstbewußtseins 1895; Adolf Harnack in Berlin (geb. 1B51), Das Wesen des Christentums 1900, akad. Ausgabe 1902 (unter den Gegenschriften ist von besonderem Interesse die des 1857 geborenen Pariser Professors Alfred Loisy: Evangelium und Kirche 1900, deutsch 1904); G. Simmel, Beiträge zur Erkenntnistheorie der Religion (ZPh Kr. Bd. 119,8. II 22) 1901; R. Seeberg, Die Grundwahrheiten der christlichen Religion 1902; A. Dorner, Grundriß der Religionsphiloso- phie 190,^; und von weit überragendem Werte H. Sieljeck in Gießen (geb. 1842), Lehrbuch der Religionsphilosophie 1893, R. Eucken, Der Wahrheitsgehalt der Religion 1901 und die Arbeiten von Ernst Tröltsch in Heidelberg (gel). 1865; vergl. oben S. 291): Die wissenschaftl. Lage und die Anforderungen an die Theologie 1900, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte 1902, mehrere Abhandlungen in der Zeitschr. f Theol. u. Kirche (Band 3 6) 1892—95, „Religions- philosophie" im ersten Bande der K. Fischer-Festschrift 19O4 (S. 104 bis 162, wo man weitere Literatur angeführt findet).

Von den zahlreichen Arbeiten übt-r Geschichte der Philosophie sind außer den Meisterwerken Zellers, [oh. Ed. Erdmanns, Kuno Fischers und den oben S. 13 16 angeführten folgende Ixsonders beachtenswert:

Anathou .A.all: Der Logos, Geschichte der Logosidee ia der griech. Philos. 1896, in der christl. Literatur 1899. Otto Apelt: L'utersuchungen über dea Par- menides des Plato 1879; Beiträge zur Geschichte der griechischen Philos. 1891. Hans V. Arnim, Stoicoritin vetertwi fragmenta 1903^ GL Bäumker in Bonn, Herausgeber der Beiträge zur Philosophie des Mittelalters fseit 1891): Das Problem der Materie in der griechischen Philosophie 1890. H. Ronitz: Plato- nische Studien, 3. Aufl. 1886; Aristotelische Studien 1862 f.; Index aristofelicus 1870. P. Deußen in Kiel (geb. 1845): Das System der Vedanta 1883; Die Sütra's des Vedauta übers. 1887; Allgemeine Geschichte der Philos. I: Philos. des Veda, Philos. der üpanishads 1894, 1899; Sechzig Upanishads des Veda übers. 1897; Vedanta und Piatonismus im Lichte der Kantischen Philos. (Vor- träge der Comenius- Gesellschaft 12,3) 1904. H. Diels in Kerlin: Doxographi gyaeci 1879; Die Fragmente der Vorsnkratiker 1903. A. Döring in Berlin: Die Lehre des Sokrates 1895; Geschichte der griechischen Philos., gemeinverständlich nach den Quellen, 2 Bände 1903. J. Dräseke, Patristische Abhandlungen 1889. F e r d. D ü m m 1 e r in Basel (f 1 896) : Ajiiisihenica 1882; Academica 1889; Prolegomena zu Piatons Staat 1891; Delphica 1894; Zur Komposition des Piaton. Staates 1895; Kleine Schriften, 3 Bände, 1901. Eucken in Jena (S. 15 u. 16): Die Methode der aristo- telischen Forschung 1872; Rede Über den Wert der Geschichte der Philos. 1874. |. Freudenthal in Breslau (geb. 1839; S. 55, 103, 105): Hellenistische Studien, 3. Heft 1879; Über die Theologie des Xenophanes 1886; Das Leben Spinozas, Stuttg- 1904. Theod. Gomperz in Wien (geb. 1832): Zeitfolge jdatonischer Schriften 1887 (vergl. auch oben S. 509); Die Apologie der Heilkunst 1889; Die Poetik des Aristoteles übers. 1897; Griechische Denker I 1896, II 1902, 2. Aufl. 1903. Heinr. Gomperz: Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen 1904. ]NL Heinze in Leipzig: Die Lehre vom Logos in der griechischen Philos. 1872; Der Eudämonis-

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Die philosophischen Einzelwissenschakten.

mus in der griech. Philos. 1883. G. Freiherr v. Hertling in München (geb. 1843): Materie und Form und die Definition der Seele bei Aristoteles 1871; Albertus Magnus 1880. R. Hirzel in Jena: Untersuchungen zu Ciceros philos. Schriften, 3 Teile 1877 83; Der Dialog 1S95. Karl Joel in Basel: Der echte und der xenophon- tische Sokrates 1893 1901; Der Ursprung der Naturphilos. aus dem Geiste der Mystik, Baseler Programm zur Rektoratsfeier 1903. Fr. J odl (S. 14, 194). A. Kroh n (1840 891: Sokrates und Xenophon 1874; Der platonische Staat 1876: Die platonische Frage 1878; über ihn Nekrolog von Falckenberg im Biogr. Jahrbuch für Altertumskunde, 12. Jahrg. 1889. E. Kühnemann: Grundlehren der Philos., Studien über Vorso- kratiker, Sokrates und Piaton 1899. R. Löning, Die Zurechnungslehre des Aris- toteles 1903. Heinr. Mai er in Tübingen: Die Syllogistik des Aristoteles 1896 1900. Ed. Müller, Geschichte der Theorie der Kunst bei den Alten 1834. P. Natorp (S. 78, 528): Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum 1884; Die Ethica des Demokritos 1893 (vergl. K. Vorländer, Demokrits ethische Fragmente, ins Deutsche übertragen, ZPhKr. Bd. 107, 1896); Piatos Ideen- lehre 1903. H. Oldenberg in Kiel: Buddha, 4. Aufl. 1903. D. Peipers in Göt- tingen: Die Erkenntnislehre Piatons 1874. Edmund Pfleiderer in Tübingen (1842 1902; S. 99', 236): Empirismus und Skepsis in D. Humes Philos. 1874; Die Philosophie des Heraklit im Lichte der Mysterienidee 1886; Sokrates und Plato 1896. Rob. Pohl mann in München: Geschichte des antiken Kommunismus imd Sozialismus 1893 1901; Aus Altertum und Gegenwart 1895; Sokrates und sein Volk 1899. K. V. Prantl (1820 88): Geschichte der Logik im Abendlande, 4 Bde. 1855 70. Raoul Richter: Der Skeptizismus in der Philos. 1904. Constantin Ritter: Unter.suchungen über Plato 1888; Piatos Gesetze 1896. Erwin Rohde (1845 98J: Psyche, Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen 1890 94, 3. Aufl. 1903; über ihn O. CrUSIUS (Ergänzungsheft zu Rohdes Kleinen Schriften) 1902. Karl Schaarschmidt (S. 78, 102): Johannes Sarisberiensis 1862; Die Sammlung der platonischen Schriften 1866. A. Schmekel: Philosophie der mittleren Stoa 1892. Leop. Schmidt in Marburg (geb. 1S24): Die Ethik der alten Griechen 1882. Gustav Schneider in Gera: Die platonische Meta- physik 1884. H. Sieb eck: Untersuchungen zur Philos. der Griechen 1873, 2. Aufl. 1888; Geschichte der Psychologie, erster Teil 1880 84; Piaton als Kritiker aristotelischer Ansichten (ZPh.Kr. Band 107 u. 108) 1895 9^- Ghr. v. Sigwart (1830 1904; S. 16, 103). Heinr. von Stein in Rostock (1833— 96): Sieben Bücher zur Geschichte des Piatonismus 1862 75 Ludwig Stein in Bern, Herausgeber des 1887 gegründeten Archivs für Geschichte der Philos.: Die Psychologie der Stoa, I. Metaphysisch-anthropologischer Teil 1886, II. Erkenntnistheorie 1888; Leibniz und Spinoza 1890; Die soziale Frage im Lichte der Philosophie 1903. L. Strümpell: Geschichte der griechischen Philos. 1854, 1861. Susemihl in Greifswald (f 1901): Die genetische Entwickelung der platonischen Philos. 1855 f.; Die Politik des Aristo- teles, griechisch und deutsch mit Anm. 1879; Geschichte der griechischen Literatur in der Alexandrinerzeit 1891 f.; außerdem eine Reihe von Abhandlungen über Piaton und Aristoteles. Teichmüller (S. 531'). Trendelenbu rg (S. 530^): Aristotelis de anitna, 2. Aufl. von Belger, 1877. Fr. Überweg: Über die platonische Welt- seele (Rhein. Museum, N. F. 9) 1854; Untersuchungen über die Echtheit und Zeit- folge platonischer Schriften 186 1. H. Usener: Epicurea 1887. Th. Waitz: Aristo- telis Organon 1844 46- J. Walter in Königsberg: Die Lehre von der praktischen Vernunft in der griechischen Philos. 1874; Geschichte der Ästhetik im Altertum 1892. Tob. Wildauer in Innsbruck (y 1898): Die Psychologie des Willens bei Sokrates, Piaton und Aristoteles 1877, ^879. W. Windelband in Heidelberg (S. 13, 16): Geschichte der alten Philos. 1888, 2. Aufl. 1894. Theob. Ziegler in Straßburg (geb.

RÜCKBLICK.

569

1846): Geschichte der christlichen Ethik 1886, 2. Ausg. mit Register 1892; Geschichte der Pädagogik 1895, 2. Aufl. 1904; Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrh. 189g. Rob. Zimmermann: Studien und Kritiken 1870.

Wir sind, um den Schein konstruierender Willkür zu vermeiden, mit geschichtsphilosophischen Verknüpfungen sparsam gewesen. Am Schlüsse auf den durchmessenen Zeitraum zurückblickend, geben wir einer Über- zeugung über den leitenden Faden der Entwickelung der neueren Phi- losophie Ausdruck, die hier nur das Recht einer subjektieven Ansicht beansprucht.

Ein Spiegel der modernen, sich ihres scharfen Gegensatzes gegen die Scholastik bewußten Kultur, trägt die neuere Philosophie in ihrer vorkantischen Periode vorwiegend den Charakter des Naturalismus. Die Natur als ein System gesetzlich bewegter Massen bildet nicht nur den bevorzugten Gegenstand der Forschung, sondern auch den Maßstab der Beurteilung und Erklärung der geistigen Wirklichkeit. Die beiden Seiten, nach denen jener Naturalismus sich ausprägt: die mechanische Weltansicht, welche das Universum von der Natur aus, alles Geschehen von der Bewegung aus,' und die intellektualistische, welche den Geist vom Erkennen aus verstehen will, hängen aufs engste mit ein- ander zusammen. Wo das Gesamtbild des Alls Zeichnung und Farbe der Natur entnimmt, da können dem Geiste nirgends andersher Inhalt und Aufgabe erwachsen, als von der Außenwelt: ob man ihn nun (em- piristisch) von außen das Vorstellungsmaterial aufnehmen, oder (rationa- listisch) von innen den Inhalt der äusseren Realität ideell nachschaffen lasse, immer ist es die als Abbilden einer fertigen Wirklichkeit aufge- faßte Funktion des Erkennens, welche, weil sie den Kontakt mit der Natur herstellt, in den Vordergrund tritt und das Wesen geistiger Tätig- keit maßgebend bestimmt. Begreiflicherweise regt sich neben dogma- tischem Glauben an die Kraft der Vernunft, sich der gegenüberstehen- den Wirklichkeit zu bemächtigen und sie im System der Wissenschaft nachzukonstruieren, und triumphierendem Hinweise auf die mathema- tische Methode als eine Garantie für absolute Sicherheit des philoso- phischen Wissens die erkenntnistheoretische Frage nach den Mitteln, mit denen, und den Grenzen, bis zu welchen das menschliche Wissen jener großen Aufgabe gerecht zu werden \ermöge. Für alle diese ver- schiedenen Tendenzen mechanische Naturerklärung, absolute Tren- nung von Köiper und Geist (Entgeistung der Materie), das Denken das

1 Auch für Leibniz ist der Geist eine Maschine idutomaton spirituale), geistiges Tun eine Vorstellungsbewegung.

570

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Wesen des Geistes, Forderuii;j, einer gegen jeden Zweifel gefeiten Sicher- lieit der Erkenntnis, Frage nach dem Ursprung der Vorstellungen hat Descartes das Programm ausgegeben. Die Ausführung desselben durch seine Nachfolger zeigt nicht nur eine seithche Ausbreitung nach den verschiedensten Richtungen hin (dualistische Weltanschauung bei den Okkasionalisten, monistische oder pantheistische bei Spinoza^ pluralistische oder individualistische bei Leibniz; daneben der Gegensatz zwischen dem Sensualismus des Locke und Condillac und dem Ratio- nalismus des Spinoza und Leibniz), sondern, durch den alle Kräfte an- spannenden Kampf der Parteien vermittelt, auch eine fortschreitende Vertiefung der Probleme: welch ungeheuerer Schritt vom Empirismus des Baco bis zur Skepsis des Hume, von Descartes' angeborenen Ideen bis zu Leibniz' potentiellem Apriori! Mit dem Augenblicke, wo die negative und die positive Spitze der vorkantischen Gedankenbewegung

Hume und Leibniz in einem Kopfe zusammentrafen, waren die Bedingungen der Kantischen Reform ebenso gegeben, wie in der so- phistischen Skepsis und dem Nusprinzip des Anaxagoras die Vorberei- tung der sokratischen.

Kant, der die zweite Periode der neueren Philosophie bis herab zur Gegenwart beherrscht, steht in einem doppelten Verhältnis zu seinen Vorgängern. In seinem Kritizismus vollendet er die erkenntnistheore- tische Tendenz und überwindet zugleich den Naturalismus, indem er die mechanische Erklärung (mit ihr freilich auch die sichere Erkenntnis) auf die Erscheinungen beschränkt und dem Intellektualismus den Moralismus entgegenstellt. Die Natur muß vom Geiste aus (als dessen Produkt, denn alle Gesetzmäßigkeit stammt aus dem Geiste), der Geist vom Willen aus begriffen werden. Die Metaphysik wird, als Lehre von den apriorischen Bedingungen der Erfahrung, zum Range einer Wissenschaft erhoben, das Übersinnliche aber dem Gebiete des Beweisens und Widerlegens entrückt und auf den Felsen des sittlichen Willens gegründet. In der positiven Seite der Kantischen Philosophie

der Geist der Gesetzgeber der Natur, der Wille das Wesen des Geistes und der Schlüssel zur wahren Wirklichkeit sehen wir den Kern derselben, das ewig Gültige an ihr. Die Ausführungen über den absoluten Wert der sittlichen Gesinnung, den moralischen Endzweck der Welt, den in- telligiblen Charakter und das radikale Böse bekunden die Energie, mit welcher Ivant die Mission ergriff, den vom Christentum erschlosse- nen Lebens mächten, welche das Mittelalter unter der Kruste der ihnen ganz fremden Aristotelischen Begriffe mehr versteckt als bewahrt, die vorkantische Neuzeit fast gänzlich ignoriert hatte, in die Philoso- phie Eingang zu verschaffen und' von hier aus die moderne Welt- anschauung umzugestalten und zu bereichern. Kant steht dem spe- zifisch Modernen, der naturalistischen Stimmung der Neuzeit ebenso ab-

RÜCKBLIClv. C^l

lehnend und überlegen gegenüber, wie Piaton über das Niveau der griechischen Denkweise hinausragt als ein Fremdling und ein Prophet der Zukunft. Glücklicher jedoch als Piaton, hat er Jünger gefunden, welche die Richtung weiter verfolgten, auf welche das Zukunftsantlitz des Janushauptes seiner Philosophie hinauswies: der Kthelismus Fich- tes und der Historismus Hegels haben ihre Wurzel in Kants Lehre von der praktischen Vernunft. Sie sind Errungenschaften, die nicht aufgegeben werden dürfen, die gegen den Ansturm geist- und sitten- feindlicher [Mächte immer von neuem erobert werden müssen. Wir müssen den ethischen Idealismus, im Leben wie in der Wissen- schaft, immer wieder „erwerben, um ihn zu besitzen". Noch ist die Versöhnung des geschichtlichen und des naturwissenschaftlichen, des christlichen und des modernen Geistes nicht gelungen. Denn der ange- stammte Naturalismus der Neuzeit hat sich nicht nur neben Fichte, Schelling und Hegel, mit kantischen Elementen \erquickt, in der reali- stischen Metaphysik und der mechanistischen Psychologie Herbarts und dem Systeme Schopenhauers als Seitenströmung behauptet, sondern hat sich unter dem Eindrucke des erneuten gewaltigen Aufschwunges der Naturwissenschaften gegen die Traditionen der idealistischen Schule aber- mals zuversichtlich erhoben, wenn auch kritisch gemäßigt und den prak- tischen Idealen wenigstens das Dachkämmerchen des Glaubens gönnend. Die Überzeugung, daß die Herrschaft des Neukantianismus ein Proviso- rium, stützt sich nicht bloß auf die Wandelbarkeit alles Menschlichen. Die allgemeine und lebhafte Beschäftigung mit der Philosophie des großen Königsbergers läßt der Hoffnung Raum, daß auch diejenigen Elemente derselben immer mehr Beachtung und Würdigung finden werden, aus denen die Systeme der Idealisten als notwendige Konsequenzen her- vorgegangen sind; wie sich denn bei vielen Neokritizisten der Gegen- wart eine entschiedene Hinneigung zu Fichte kundgibt und sogar die lange gehegten Vorurteile gegen Hegel im Schwinden begriffen sind. Zu der Einsicht, daß die naturalistisch-mechanische Auffassung (die neuer- dings selbst innerhalb der Naturwissenschaft auf Gegnerschaft stößt) bestenfalls einen untergeordneten Teil der Wahrheit darstellt, wird sich die weitere gesellen, daß das Niedere nur aus dem Höheren erklärt werden könne. Auch wird man mehr und mehr die idealistische Grund- ansicht ihrem ewigen Gehalte nach von der bestimmten Gestalt, welche ihr die konstruktiven Denker gegeben, zu unterscheiden lernen; mag diese berechtigten Angriffen erliegen, jener wird durch sie nicht getroffen. Die Erneuerung des Fichte-Hegelschen Idealismus mittels einer Methode, welche den Anforderungen der Gegenwart durch engeren An- schluß an die Erfahrung, allseitige Verwertung der Erträgnisse der Na- tur- und Geisteswissenschaften und durch strengen und behutsamen Be- weisgang gerecht wird, darin sehen wir die Aufgabe der Zukunft. Das

572

RÜCKBLICK.

bedeutendste unter den nachhegelschen Systemen, das Lotzesche, be- weist, daß der naturwissenschaftliche Geist einer Versöhnung mit ideali- stischen Öiperzeugungen über die höchsten Fragen nicht widerstrebt, die Achtung, die es allenthalben genießt, daß ein starkes Verlangen in der angegebenen Richtung vorhanden ist. Wo aber ein tiefbegründetes Zeit- bedürfnis sich regt, pflegt es auch die Kräfte zu wecken, die sich seinem Dienste weihen und dem Werke gewachsen sind. Als die dringendste Pflicht der nächsten Zukunft jedoch erscheint es, dem geschicht- lichen Geistesleben \or dem Forum der Vernunftkritik sein volles Recht zu erobern, das ihm eine fast ausschließlich naturwissenschaftlich orientierte Erkenntnistheorie bislauii; vorenthalten hat.

Erläuterung der wichtigsten philosophischen Kunstausdrücke.

(Die Seitenzahlen beziehen sich auf den Text.)

A

Absolut: unbedingt; Gegensätze Re- lativ, Komparativ. Das i\bsoliite (dieser substantivische Ausdruck erst seit Fichte und Schelling): das Unendliche, Voraus- setzungslose, der Weltgrund. Dieser wird (monistisch) von Spinoza als unend- liche Substanz, von Fichte als absolutes Ich, von Schelling als Identität des Realen und Idealen, von Hegel als Begriff (Idee, Vernunft), von Schopenhauer als Wille, von Hartmann als das Unbewusste, (pluralistisch) von Herbart als die Realen bestimmt.

Abstrakt, s. konkret.

Affekt, s. Passion. Affektualismus

oder Ästhetizismus, s. Psychologie.

Agnostizismus: die Lehre, daß der Weltgrund, das Wesen der Dinge, uner- kennbar sei. Huxley S. 504, Spencer S.497f.

Akzidens: Eigenschaft. Vergl. Sub- stanz und Attribut.

Altruismus, s. Tuismus.

Analogie: Ähnlichkeit, vergleichbares Verhältnis. Analogieschluß : derSchluß, daß zwei erwiesenermaßen in mehreren Prädi- katen übereinstimmende Dinge resp. Be- griffe auch in einem weiteren Prädikate übereinstimmen. Z. B. die Erde ist bewohnt, der Mars ist inmehrfacher Hinsichtder Erde ähnlich, also wird auch er bewohnt sein. 1 Forschung ist die gleichnamige Methode

Analyse: Auflösung eines Zusammen- gesetzten in seine Bestandteile (z. B. des Körpers in Atome, der Erkenntnis in Form und Stoffj und Erklärung der Beschaffen- heit und Leistung des Ganzen aus der der Elemente. Gegenteil Synthese: Einigung einer Vielheit in einer umfassenden Ein-

heit (z. B. nach Hartmann sind Wille und Vorstellung die beiden Seiten des Abso- luten, dieses ist Einheit von Wille und Idee) und Erklärung des Seins und So- seins der "Teile aus dem Ganzen. Der analytische Kopf (S. 293) prüft jedes Ganze sogleich auf seine etwaige Zu- sammengesetztheit hin, ist geneigt, Un- terschiede als Gegensätze, Gegensätze als unvereinbar zu fassen, dient der Klarheit durch saubere Distinktionen und beruhigt sich, wenn er bei einem fundamentalen Dualismus der Prinzipien angelangt ist, während der synthetisch beanlagte Denker mehr die Verwandtschaft und Zu- sammengehörigkeit des Unterschiedenen im Auge hat und, statt bei dem Gegen- satz als einem Letzten stehen zu bleiben, nach einer Vermittelung des Entgegen- gesetzten in einem höheren Dritten sucht. Jener erklärt das Vorliegende durch Kom- position aus verschiedenen Elementen, dieser durch Determination aus einem einheitlichen, aber der Gliederung fälligen Prinzip. Jener neigt zur qualitativen Welt- auffassung (s. Qualität) und operiert gern mit Zweiteilungen, dieser bekennt sich zur organischen Weltansicht und bevorzugt das triadische Schema. Von der ana- lytischen resp. synthetischen Methode der

der Darstellung wohl zu unterscheiden. Der analytische Lehrgang läßt den Leser auf demselben Wege zum Resultate ge- langen, auf welchem der Forscher es ge- funden, der synthetische dagegen stellt das Resultat als These an die Spitze und läßt die Beweise folgen. Da das mitzu-

574

ANbiCHAUU.NG Charakter.

teilende Resultat in den meisten Fällen der ErkläruDgsgrund für eine Gruppe von Gegenständen ist, so läßt sich der Gegen- satz auch so ausdrücken: die analytische Darstellung dringt vom Erklärungsobjekt zum Erklärungsprinzip oder Gesetz vor, die synthetische schreitet, den Gang der Sache selbst wiederholend, vom Prinzip zu den daraus zu erklärenden Erscheinungen hinab. Anal, und synth. Urteil, Kant \ S. 279. 294. Vergl. Hume S. 196.

Anschauung Begriff. Jene ist eine Einzelvorstellung (mit unendlich vielen Merkmalen), die sich direkt, dieser eine Allgemeinvorstellung (mit wenigen angeb- baren Merkmalen), die sich nur vermittels anderer Vorstellungen (Anschauungen oder ebenfalls Begriffe) auf den Gegenstand bezieht. Kant S. 297.

Antinomie: Widerstreit zwischen zwei entgegengesetzten, mit gleicher Strlngenz beweisbaren Urteilen. Kant S. 328 329.

354- 358-

Anthropoiogismus: der Standpunkt, welcher alle Erkenntnis in Anthropologie (Lehre vom Menschen) auflösen oder auf dieselbe basieren will, sofern der Mensch unwillkürlich alles nach sich selbst be- urteile, seine Selbsterkenntnis den Aus- gangspunkt seines gesamten Wissens bilde. Jacobi S. 275, Troxler und Suabedissen S. 408, Schopenhauer S. 466, Feuerbach S. 523f. Vergl. Psychologismus.

Apperzeption, s. Perzeption.

Apriori : aus reiner Vernunft stammend(e Anschauungen, Begriffe und Urteile). Gegenteil Aposteriori oder Empirisch: aus der Erfahrung stammend (Kant S. 294. 298.) Die frühere scholastische Bedeutung S. 2942. Ebenda absolut und relativ apriori. S. 297 rein und gemischt apriori. Das Kennzeichen der Apriorität bei Kant; strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit. Ob die Hinsicht, daß einiges an der Er- kenntnis apriori sei, selbst eine apriorische Erkenntnis, S. 299 300. 437. Aprio- rismus: die Theorie, daß gewisse Ele- mente oder Faktoren der Erkenntnis (bei Kant: ihre F'ormen) apriori, nicht aus der Erfahrung geschöpft seien. Schel- ling: ,,die Natur ist apriori", S. 300.

Assoziation, s. Ideenassoz.

Asthetilc (wörtlich) Lehre von der Sinnlichkeit oder dem Vermögen der Empfindungen resp. Anschauungen (so bei Kant S. 295. 300); jetzt allgemein (seit Baumgarten S. 262) Lehre vom Schönen. Piaton hat zuerst das Schöne in den Kreis seiner Betrachtungen ge- zogen, Baumgarten die Lehre vom Schönen als selbständige Disziplin begründet, Kant (S. 351) sie durch Abgrenzung ihres Gegen- standes gegen die verwandten Werte des Angenehmen, des Guten, des Nützlichen, des Vollkommenen zum Range einer Wissenschaft erhoben. Vergl. noch Home und Burke S. 210 211, Schiller S. 364, Schelling S. 396, Hegel S. 433, Herbart S. 459, Zimmermann S. 462, Schopen- hauer S. 468, Vischer S. 519, Fechner S. 534, Lotze S. 539 und Hartmann S. 540. Ästhetische Weltanschauung der Griechen S. 6, vgl. Shaftesbury S. 175 f. und Leibniz S. 242.

Atomismus, Atomistil<: die im Altertum von Leukipp, Demokrit, Epikur und Lukrez vertretene, auf der Schwelle der Neuzeit von Gassendi (S. 54) er- neuerte, von den modernen Naturforschern innerhalb ihres Gebietes fast allgemein angenommene Lehre, daß die Körper aus letzten, nicht weiter teilbaren (körper- lichen) Elementen bestehen. Gegensätze Dynamismus (der Körper besteht aus Kräften) und Monadologie (der Körper besteht aus immateriellen Einheiten) ; vergl. Leibniz S. 238.

Attribut: die wesentliche, konstituie- rende, bleibende Eigenschaft eines Dinges (Spinoza S. 11 1 112) im Unterschied von den unwesentlichen und wechselnden Eigenschaften und Zuständen (Akzidentien, Modi).

Autonomie: Selbstgesetzgebung (poli- tisch) des Volkes, (moralisch, Kant S. 335 bis 339) der Vernunft. Gegensatz Hetero- nomie, das Stehen unter einem fremden Gesetz.

G

(Siehe auch K.) Charal(ter: die beharrliche Art des Wollens und Handelns, Vergl. Intelligibel.

Deduktion Empirismus.

57;

Deduktion : Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen; Gegensatz Induk- tion. Vergl. Fichte S. 381.

Definition: Begriffsbestimmung, An- gabe der wesentlichen Merkmale eines Begriffs, gewöhnlich der nächsthöheren Gattung imd der spezifischen Differenz.

Deismus: i. Behauptung der Existenz der Gottheit unter Abweisung einer Er- kenntnis ihres Wesens und ihres Verhält- nisses zur Welt (S. 333): Gott ist zwar Schöpfer, aber nicht Regent der Welt; Gegensatz Theismus, Pantheismus, Atheis- mus; 2, Vertretung einer natürlichen oder Vernunftreligion mit Abweisung einer übernatürlichen geschichtlichen Offenba- rung (S. 162 f.\ Gegensatz, Positivismus II. Vergl. S. 41. 71. 162 170. 201 203. 211 212. 214 230—233. 261 262. 265 bis 271. 333.

Dependenz : (Abhüngigkeits-) Verhältnis der Wirkung zur Ursache: Korrelat Kau- salität. S. 312.

Determinismus: die Lehre, daß die Entschlüsse und Handlungen der Menschen notwendig erfolgen, der Wille durch die Motive, res|). das stärkste unter ihnen unweigerlich bestimmt, ,, determiniert" werde. Vergl. Hobbes S. 67, Spinoza S. 104. 108. 117. 119. 122, Leibniz S. 251, Schleiern!. S. 416, Herbart S. 457.

Schopenh. s. 465. Gegensatz Indeter- minismus, Freiheitslehre, die Ansicht, daß der Wille frei sei, durch das Gewicht der Motive nicht zum Entschluß und zur Tat genötigt werde (z. B. sich auch für das an sich schwächere Motiv entscheiden könne) und von zwei entgegengesetzten Handlungen ebensowohl die eine wie die andere (die gute wie die böse) zu wählen vermöge. Lücke S. 154 155 und Kant S. 330 suchen Notwendigkeit und Freiheit zu vereinigen.

Dialeictilc wörtlich die Kunst der (wis- senschaftlichen) Gesprächsführung; über- tragen I. Erkeuntuislehre oder Logik, Schleiermacher S. 413 415 ; II. Gedanken- bewegung, Übergehen der Begriffe inein-

ander, Hegel S. 425 427. Dialektische Methode, Hegel ebenda und S. 376. III. Logik des Scheins, Kant S. 325 f. Dia- lektischer, vernünftelnder (täuschenderj Schluß, S. 327

Diskursiv s. Intuitiv.

Dogmatismus: der Versuch und das Vorgeben einer N'ernunfterkenntnis der Dinge, ohne zuvor die Möglichkeit (die Quellen und Grenzen) der Erkenntnis untersucht zu haben. Kant S. 281 282. Vgl. Kritizismus, Skeptizismus.

Dualismus: Annahme zweier entgegen- gesetzter Prinzipien, S. 84 85. 281.

Dynamismus: Erklärung der Erschei- nungen aus Kräften. Nach Kant (S. 283. 321') die Materie ein Produkt aus An- ziehungs- und Abstoßungskrafl. Ebenso verficht Schelling (S. 391) gegen die ato- mistische und mechanistische Theorie die dynami(sti)sche Naturauffassung. Ostwalds Energetik S. 552^.

Eklektiker: ein Philosoph, der durch Verbindung dessen, was ihm an verschie- denen Systemen richtig scheint, die Wahr- heit zu finden hofft. Ein unmethodisches und kritikloses Zusammenschweißen hete- rogener Gedanken heißt Synkretismus.

Emanation: Uervorfließen. I. Hervor- gang der Welt aus dem Absoluten auf dem Wege der Abschwächung (Xeuplato- niker), Gegensatz Schöpfung. 2. Hervor- gang des Niederen aus dem Höheren (das Ursprüngliche ist das Vollkommene), Ge- gensatz ,,Entwickelung" des Höheren aus dem Niederen. Vergl. S. 20 23. 571. S. auch Evolution.

Empirie: Erfahrung; im laxen und im strengen Sinne Kant S. 315.

Empirismus: Erfahrungsphilosophie, die Ansicht, welche in der Erfahrung da-; Fundament und die einzige (oder die Haupt-) Quelle der Erkenntnis erblickt. Ihr Begründer Baco S. 56 f. Vergl. S. 71. 276 f. „Empiriokritizismus" nennt R.Avena- rius (S. 549 ' seinen Standpunkt der reinen Erfahrung.

576

Energetik Gestaltqualitäten.

Energetik s. Dynamismus.

EthelismuS oder Thelematismus = Vo- luntarismus: die Ansicht, daß der Wille (i&slo), &sXr]fAa) die Grundkraft der Seele sei. Crusius S. 263. Fichte vertritt einen ethischen (= Moralismus), Schopenhauer einen naturalistischen Ethelismus (= Orek- tizismus). Gegensätze Intellektualismus und Sensualismus. Vergl. Panthelismus.

Ethik: Sittenlehre. Beschreibende (Spi- noza S. 121 122) und Imperativische (Kant S. 335 0- Von den vorkantischen Denkern wird die Moralphilosophie vor- zugsweise als Tugend lehre, von Kant und Fichte als Pflichtenlehre, von Schleiermacher (S. 419 421) als Güter- lehre behandelt. Bei Herbart S. 459 461 bildet die Ethik einen Teil der Ästhetik als der Lehre von den absolut gefallen- den Verhältnissen. Vergl. Moralprinzip.

EudämonismUS : Glückseligkeitslehre, die Ansicht, das Ziel des sittlichen Stre- bens sei die Erlangung der Glückseligkeit, bekämpft von Kant S. 339 341.

Evidenz: einleuchtende Klarheit und Gewißheit. Die Evidenz das Wahrheits- kriterium bei Descartes S. 80 und S. 133.

Evolution: Entfaltung, Auswickelimg (Gegensatz Involution, Ein Wickelung), Ent- wickelung (meist: des Höheren aus dem Niederen, Gegensatz Emanation; beim Cusaner S. 23 gehen die Gesichtspunkte der Vervollkommnung uad der Abschwäch- ung noch ungeschieden durcheinander). Eine teleologische Entwickelungstheorie bei Schelling, Hegel, Krause, Hartmann u. a. ; eine mechanistische bei Darwin und Spencer S. 500. 504. Der Evolutionsbe- griff des Leibniz S. 247 248 u. ö. ist gleichfalls vorwiegend mechanistisch.

Exakt: genau, zahlenmäßig bestimmt.

Existenz: Dasein; Gegensatz Essenz, Wesen, Inbegriff der (möglichen) Eigen- schaften eines Dinges ; Leibniz S. 243. Die Existenz kein logisches Prädikat, son- dern bloße Position, Kant S. 284. 332, Herbart S. 461.

Explikation : Auseinanderfaltung, Ge- gensatz Komplikation, Einfaltung, Zusam- menfaltung; Nikolaus Cusauus S. 20 23. Vergl. Evolution.

Fatalismus: die Ansicht, daß alle Er- eignisse durch ein Schicksal unabwendbar vorausbestimmt (mithin .alle Bemühungen, ihr Eintreten zu verhindern , vergeblich) seien.

Formalismus: i. die Ansicht, daß nicht der Inhalt, sondern die Form das Wesent- liche an einer Sache sei. Kants (S. 336. 340) ethischer, Herbarts (S. 459) und Zimmermanns (S.462) ästhetischer Forma- lismus. Gegensatz Realismus. Schelling und Hegel sind .ästhetische Realisten (= Idealisten), sofern sie im Inhalt, in der dargestellten Idee das sehen, worauf die Schönheit der Erscheinung beruhe. 2. ein Verfahren, welches sich in bloßen Formen bewegt, einen Stoff für begriffen hält, wenn er in vorher feststehende Schemata eiogefügt worden ist.

Freidenker S. 162. 166. Vgl. Deismus.

Freiheit, das Wesen des Geistes bei Fichte (S. 373.380) und Hegel (S.430 431. 432). Freiheit des Willens siehe unter De- terminismus.

Fundierte Inhalte siehe Gestaltquali- täten.

Genetisch : die Entstehung einer Sache betreffend, sie erkennen lassend; genetische Definition, Methode, Religionsbetrachtung (Hume S. 201 203, Feuerbach S. 523).

Gestaltqualitäten, ein von v. Ehren- fels (oben S. 562) geprägter Tei minus, oder, wie Meiuong in der ebendort an- geführten Abhandlung sie nennt, fun- dierte Inhalte bezeichnen die Eigen- schaften eines Komplexes, die nur ihm als Ganzem, aber nicht seinen einzelneu Bestandteilen zukommen. Eine räumliche Gestalt, ein Akkord, eine Melodie (die beim Transponieren in eine andere Ton- art als die gleiche wiedererkannt wird) zeigt Merkmale, die, da sie durch die Relationen zwischen ihren Teilinhalten bedingt sind, zu den Merkmalen dieser ihrer Elemente (der „fundierenden" In- halte, der Grundlagen oder Glieder der

Harmonie

Ich.

577

Beziehungen) als etwas Neues hinzukom- niea und von der bloßen Summe der- selben verschieden sind. Vgl. H. Cornelius, Psychol. S. 70 f. und S. 164 f., Einl. in die Philos. § 26; Höfler, Psych. S. 152 f. Th. Lipps dagegen faßt die „Einheiten und Relationen" (1902, bes. SchluBbemer- kuDgen S. 102J als Apperzeptionserlebnisse.

H

Harmonie: wohlgefälliges Verhältnis, Einklang zwischen Verschiedenen. Einheit in der Mannigfaltigkeit ein beliebtes Prin- zip der Ästhetik; sittliche Harmonie der Triebe bei Shaftesbury S. 176 177. Har- iiionia praestabilita (Leibniz S. 242): die von Gott bei der Schöpfung einge- setzte Übereinstimmung zwischen den Vor- stellungsreihen oder Weltbildern der ver- schiedenen Monaden, resp. zwischen Körper und Geist, vermöge deren die beiderseiti- gen Vorgänge einander genau korrespon- dieren, so \vie zwei gleich gut gearbeitete Uhren stets die gleiche Zeit anzeigen. Durch das System der vorherbestimmten Harmonie will Leibniz die Schwierigkeiten der beiden anderen Erklärungsversuche des Verhältnisses von Körper und Geist vermeiden, nämlich der Theorie vom m- ßitxtis physiciis (gegenseitige, direkte, na- türliche [nicht übernatürlich vermittelte^ Beeinflussung beider Substanzen) und der von den Okkasionalursachen (die körper- lichen Ereignisse sind nicht die bewirken- den Ursachen, sondern nur die Veran- lassungen für die entsprechenden seelischen und umgekehrt, in beiden Fällen ist Gott die eigentliche, die wirkende Ursache). ^'ergl. Okkasionalismus. Als vierte Ansicht kommt die des Spinoza hinzu, daß Seele und Leib dasselbe Ding seien , nur von zwei Seiten gesehen, s. Identitätssystem II.

HedonismUS: Lustlehre, die Ansicht, daß die Lust das allein Erstrebenswerte, (las höchste Gut sei,

Heteronomie: das Stehen des Willens unter einem anderen Gesetze, als dem- jenigen, welches er (die Vernunft) sich selbst gibt. Die Moralprinzipien der Selbstsucht, des Wohlwollens, der Furcht und Hofi'nung (Erwartung jenseitiger Ver-

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl.

geltung), überhaupt alle, welche dem Willen einen inhaltlichen Zweck setzen, sind nach Kant (S. 339) heteronomisch machen den Willen von einem fremden Gesetz, dem Naturgesetz, dem Naturtriebe abhängig. Gegensatz Autonomie.

Historismus: die Tendenz, alles ge- schichtlich, als Geschichte zu begreifen. I. Die Ansicht, daß die Welt nicht von der Natur, sondern vom Geistesleben aus, wie es sich in der Menschheitsgeschichte manifestiert, zu verstehen sei (Hegel S. 57O;; Gegensatz Physizismus, Natura- lismus. 2. Die Ansicht, daß die geistigen Erscheinungen, z. B. die Begriffe und In- stitutionen des Rechts, nicht aus einer ursprünglichen,beständigen,überallgleichen Konstitution der menschlichen Vernunft, sondern als Produkte der Entwickelung zu erklären, daß alles Geistige geworden, nichts apriori sei; Gegensatz Rationalis- mus II, s. d.

Humanismus: diejenige Kulturströ- mung, welche dem Menschen die Ausbil- dung aller seiner Kräfte zur Pflicht macht, speziell im Gegensatz gegen die religiöse Einseitigkeit die Entwickelung der welt- lichen (z. B. intellektuellen und künstleri- schen) Anlagen der menschlichen Natur betont und empfiehlt; S. 9 10. 273. 419.

HylozoismUS: naiver (oder auch ge- mäßigter) Materialismus, welcher, der scharfen Unterscheidung von Körper und Geist oder Stoff und Kraft noch unkund (oder jene Trennung mißbilligend), der Materie unmittelbar Leben und Geistig- keit innewohnen läßt. Z. B. Holbach S. 225, Strauß S. 522. VergL Kant S. 357.

I

Ich: Selbstbewußtsein; von Fichte S. 374 definiert als Identität von Subjekt und Objekt. Die Existenz des denkenden Ich bei Camp.-inella S. 33 und Descartes S. 79 80 die ursprünglichste Gewißheit; Identität der Person, Locke S. 144; das Ich, das Prinzip der Fichteschen Philo- sophie, gilt den Meisten als der tätige Grund der Vorstellungen, Herbart S. 452 bis 453 erklärt es vielmehr für das letzte Resultat des psychischen Prozesses, 37

578

Ideal Idealität.

Ideal: Ein erstrebtes oder erstrebens- wertes Vollkommenes , dessen Geltung unabhängig ist von seiner Verwirklichung, ein Seinsollendes. So bei den Neukantianern die praktischen Ideale. S. 546 f. Kant S. 331 nennt die Gottesidee das Ideal der reinen Vernunft und definiert, Ideal sei Idee als Individuum vorgestellt. Ähnlich in der Ästhetik: vollkommene Verkörpe- rung einer Idee in einer einzelnen Er- scheinung.

Idealismus, einer der vieldeutigsten Termini. I. derjenige erhenninistheore- tische Standpunkt, der einiges oder alles an der Erkenntnis für subjektiven Ursprungs, für abhängig von der Konstitution des Geistes, für bloße Vorstellung (Idee) in uns erklärt. So lehrt Kants kritischer oder formaler Idealismus, daß die For- men der Erkenntnis (die der Anschauung und des Denkens) aus dem Geiste stammen, im Gemüte a priori bereit liegen, nicht gleich der Empfindung und mit ihr von außen aufgenommen werden, = Aprioris- mus: es gibt apriorische, nichtempirische, subjektive Bestandteile in der Erkenntnis. Der absolute Idealismus Fichtes erklärt sämtliche Erkenntuiselementefür apriori, auch die Empfindung ist ihm eine Setzung, Selbstbeschränkung des Ich. II. in meta- physischer Bedeutung I. Anerkennung eines Geistigen (Ideellen), Nichtmateriellen überhaupt, Gegensatz Materialismus (es gibt kein von der Materie unterschiedenes Geistiges). 2. Überordnung des Geistes über die Materie oder die Natur, Erklä- rung des materiellen Daseins aus dem Geiste (des Seins aus dem Denken S. 372 bis 373), Annahme eines geistigen Welt - grün des, ohne daß die Existenz der Körperwelt zu bloßem Schein herabgesetzt würde; in diesem Sinne die Materie ein Produkt des (Welt-) Geistes faßt man Fichte, Schelling, Hegel und ihre Genossen unter dem Namen der idealistischen Schule

zusammen.! 3. Leugnung der materiellen Welt ^ Immaterialismus, Spiritualismus, die Lehre, daß es nur Geister gebe, die Körper aber nichts seien als Erscheinungen, Vorstellungen (Ideen) in den Geistern, S. 193, Berkeley S. 188 f., Leibniz S. 238, Fichte S. 372 385. III. In den Einzel- %vissenschaftejt modifiziert sich der Sinn des Wortes erheblich: i. in der Natur- philosophie und Psychologie bedeutet Idealismus Erklärung der Erscheinungen aus der Idee, dem Begriffe, dem Wesen, der Bestimmung oder Aufgabe des Gegen- standes = teleologische Erklärung im Unterschied von der mechanischen (aus dem naturgesetzHchen Zusammenwirken der Elemente) und der dj^namischen (aus Kräften oder Vermögen) ; vergl. konstruk- tives Verfahren. 2. In der Ethik alle die Standpunkte, welche die Aui"gabe des Menschen in etwas Höheres als die Be- friedigung sinnlicher Lust und egoistischer Bedürfnisse setzen. 3. In der Ästhetik bezeichnet Idealist den Vertreter der An- sicht, daß das Schöne schön sei durch die Idee, welche (den Inhalt, welcher) sich in der Erscheinung (Form) darstellt, = Rea- lismus, Hegel S. 433, Gegensatz Forma- lismus (Herbart und seine Schule), welcher die Schönheit ausschließlich auf der Form und formalen Verhältnissen beruhen läßt. Vgl. Kant S. 352: das Schöne gefällt durch seine bloße Form. IV. Im prak- tisch eti Leben: die Gesinnung, welche sich hohe und uneigennützige Ziele setzt; oft heißt mit tadelnder Nebenbedeutung derjenige ein Idealist, der bei Verfolgung seiner Ideale zu wenig die realen Um- stände und die entgegenstehenden Schwie- rigkeiten im Auge hat. Unausführbares für ausführbar hält, ein unpraktischer Schwärmer.

Idealität des Raumes und der Zeit, Kant S. 300 304. Raum und Zeit sind nicht Wirklichkeiten außer uns, sondern

') Gewöhnlich wird der Standpunkt Fichtes als subjektiver, der Schellings als objektiver, der Hegels als absoluter Idealismus bezeichnet. Besser charakterisiert man die drei Standpunkte als ethischen, physischen und logischen Idealismus. Jedenfalls ist der Fichtesche Idealismus ebenso absolut, wie der Hegeische, denn das Ich ist nicht der Einzelgeist, sondern die Weltvernunft; S. 374^

Idee

Indeterminismus.

579

Auschauungsformeu, bloße Vorstellungen 'Jdeen) in uns. Trotz ihrer transzen- dentalen (vom Standpunkt der Erkennt- uistheorie aus zu behauptenden) Idealität kommt ihnen jedoch, da äußere und innere Erscheinung nur durch sie möglich, aber alle Erfahrungävvirklichkeit bereits in jene Formen eingegliedert ist, empirische (nur diese, nicht absolute) Realität zu {S. 303). In der Erfahrung und ihren Gegenständen, deren Bedingungen Raum und Zeit sind, stecken eben diese Be- dingungen als Bestandteile drin, sie sind ebenso wirklich wie das, was in ihaen erscheint.

Idee: I. bei Piaton: Form, Gattungs- begriff, das den wechselnden Erscheinungen zugrunde liegende, durch die Vernunft erfaßbare übersinnliche, wahre, beharrende Wesen der Dinge, das Urbild, an welchem teilhabend die Individuen jeder Gattung das sind, was sie sind, z. B. Idee des Pferdes (die Pferdheit, das Pferd an sich), Idee des Gerechten. II. bei Descartes und Locke: Vorstellung überhaupt, allgemeiner Ausdruck für alle psychischen Vorgänge, gleichviel welcher Art, für alles, was unmittelbarer Gegenstand des Bewußtseins ist, vorzugsweise jedoch für die Produkte und Objekte des theoreti- schen Verhaltens (Bild S. 81); angebo- rene Ideen, behauptet von Descartes S. 81 bis 82 und Leibniz S. 249—251, geleugnet von Locke S. 136—139, vergl. S, 276. 273. 279—280. 297. in. bei Hume S. 195 : bloße Vorstellung (Gedächtnisbild und Begriff; im Gegensatz zum sinnlichen Ein- druck oder zur Wahrnehmung. IV. bei Kant S. 325: Vernun ft begriff eines Unbedingten, im Gegensatz zum Verstan- desbagriff; die psychologische, die kos- mologische und die theologische Idee S. 326. V. bei Hegel: das geistige Sub- jekt des Weltprozesses, namentlich im Stadium seiner Vollendung, als sich selbst denkender Begri ff. Vergl. Vorstellung. Idesnassoziation : Vergesellschaftung der Vorstellungen, gesetzliche Verknüpfung der psychischen Elemente , kraft deren die verknüpften Vorstellungen einander ins Bewußtsein zurückrufen oder reorodu-

zieren. Z. B. die Wahrnehmung eines Hauses a hebt mit der Gedächtnisvor- stellung desselben Hauses u die mit ihr assoziierte seines jetzigen oder einstigen Bewohners ß über die Schwelle des Be- wußtseins empor. Vergl. Locke S. 159, Hartley und Priestley S. 160— i6r, Hume S. 195, Herbart S. 454 f.

Identität : Selbigkeit, Gleichheit ; Locke S. 144. 14S. Principium identitatis, Satz der Identität: das logische Gesetz, daß jeder Denkinhalt sich selbst gleich sei. Identität der Gegensätze, Hegel S. 425 f. Identitätsphilosophie oder -System : l. er-

kenntnislheoretisch die Ansicht , daß Denken und Sein identisch, die logi- schen Formen zugleich Gesetze der Wirk- lichkeit seien, Hegel S. 424. 42S. IL meta- physisck die Lehrmeinung, daß die geis- tige und die körperliche Welt (also auch Seele und Leib) im Wesen und Gru nde identisch, zwei Seiten derselben Sache (Fechner S. 534, Spencer S. 501 1), daß das Absolute die Identität des Ideellen und Reellen, d. h. weder Geist noch Körper sei, sondern ein Drittes, das in diesen beiden Existenzformen erscheint; S. 84, Spinoza S. III 115, Schelling S. 396f., Schopen- hauer S. 466, Fechner S. 534. Vergl. Fries S. 439. Siehe auch Parallelismus.

Idol: Trugbild (Baco S. 59), falsches Ideal.

Imaginatio: Einbildungskraft, das Ver- mögen der sinnlichen Vorstellung, welche uns die Welt als ein System einzelner und veränderlicher Wesen darstellt, während das reine Denken der Vernunft erkennt, daß alles seinem Grunde und Wesen nach Eines und ewig ist. Spinoza S. 116 f., Schelling S. 397. 400.

Immanenz Transzendenz: i. me-

taph. und religionsph. Inner- Außer- weltlichkeit Gottes; 2. erkenninistheor. (Kant) imm. und transz. Gebrauch der Vernunft: Einhaltung Überschreitung der Erfahrungsgrenze ; vergl. Trauszen- dental.

Imperativ, kategorischer: unbe- dingtes Pflichtgebot, Kant S. 336 f.

Indeterminismus: Lehre von der Wahl- freiheit des Willens. S. Determ. 37*

;8o

Individualismus Intuitiv.

Individualismus : Verteidigung der Rechte der Individualität. I. metaph. : die Ansicht, daß dem Einzelwesen nicht bloß scheinbare, sondern \\ahrhafte Realität zukomme (und jedes Individuum ein Spiegel des Absoluten sei, Cusanus S. 21 22, Bruno S. 32) = Pluralismus, Leibniz S. 233. 238—239, Herbart S. 436- 45 ^ bis 452, resp. daß nicht das Allge- meine, sondern nur das Einzelne wirk- lich sei (Locke S. 142) = Nominalismus, s.d.;GegensatzPantheismus,vergl.S.272. IL ethisch: die Ansicht, daß dasjenige, wodurch sich die menschlichen Individuen vonein- ander unterscheiden, auch für die Sittlichkeit von hoher Bedeutung sei: Jacobi S. 275 bis 276, Fichte S. 380, Schleiermacher S.419; resp. daß der Staat um der Einzelnen willen dasei: Spencer S. 502. Ebenso III. ästhetisch: gerade das dem einzelneu (Künstler und dem einzelnen) Gegenstande Eigentümliche sei wertvoll, das Indivi- duum nicht ein gleichgültiges und ersetz- bares Exemplar, sondern ein in dieser Weise nicht noch einmal vorhandener cha- rakteristischer Ausdruck des Gattungstypus (oder des Absoluten). S. auch Mikrokosmos.

Individuation : Vereinzelung. Princi- piiim individtiationis : das, was macht, daß es (überhaupt oder von einer be- stimmten Gattung) viele Wesen gibt; nach Locke S. 144 und Schopenhauer S. 466 sind dies Raum und Zeit.

Induktion: Gewinnung eines allge- meinen Satzes (Gesetzes) aus Beobachtung mehrerer Einzelfälle; Gegensatz Deduk- tion. Induktionsschluß: Folgerung von vielen Fällen auf alle der gleichen Gat- tung, z. B. bei vielen Tieren zeigt ein bestimmtes Agens (ein Gift) eine bestimmte Wirkung, vermutlich wirkt dasselbe in ; allen tierischen Organismen gleichartig, j Bacon S. 60—61, Mill S. 493. 495 496. \

InfluXUS physiCUS: natürlicher unmit- telbarer Einfluß des Körpers auf die Seele und dieser auf jenen, vergl. Harm. ' praest.

Inhärenz: Verhältnis der Eigenschaf- ten zum Dinge als Träger derselben, dem | sie anhaften, „inhärieren". \

Intellektualismus: i. Bevorzugung des Denkens vor dem Fühlen und Wollen, die Ansicht, daß das Erkennen die wesentliche Kraft und Aufgabe der Seele sei. Solche Hoch- und Überschätzung des Eikennens, welche einen allgemeinen Charakterzug der modernen Denkweise ausmacht (S. 7. 23. 569), tritt besonders, ausgeprägt bei Leibniz S. 250 und Hegel S. 423 hervor; die Weltanschau- ung des letzteren (alles Wirkliche ist Ver- nunft, verkörperter Gedanke, Darstellung einer bestimmten Stufe in der Entwicke- luüg des Begriffs) wird häufig als Panlogis- mus bezeichnet. Gegensatz Ethelismus, Moralismus, Cberordnung des (sittlichen) WoUens über das Wissen. 2. Die Ansicht, daß die sinnliche Empfindung eine niedere Art oder Stufe des Denkens und aus diesem zu erklären sei, vergl. S. 250. 280 281; Gegensatz Sensualismus.

Intellektuelle Anschauung = intui- tiver Verstand: denkendes Anschauen, anschauendes (schöpferisches, die Gegen- stände erzeugendes) Denken; s. Kant S. 324. 358, Fichte S. 371. 374 und Schelling- 360. 394. 396. 426. Vergl. Anschauung, Intuitiv.

Intelligibel: übersinnlich, nur denkbar, nicht anschaubar oder erfahrbar. Vergl. Noumenon. Intelligibler Charakter: das Jenseitige, Außerzeitliche, was dem empirischen Charakter zugrunde liegt. Kant S. 330, Schelling S. 402, Schopen- hauer S. 470.

Intuitiv heißt die anschauliche, un- mittelbare Erkenntnis im Gegensatz zur diskursiven, begrifflichen, vermittelten; vergl. Anschauung Begriff. Meist wird unter Intuition nicht die sinnliche, son- dern die geistige Anschauung verstan- den und zwar I. die reine, apriorische Anschauung (Raum und Zeit) bei Kant S. 300 f.; IL die Selbstanschauung bei Locke S. 148; III. die Vernunftanschau- ung, auch Glaube (Gefühl, Empfindung, Erfahrung, Offenbarung) genannt, die un- mittelbare Erkenntnis der eines Beweises weder fähigen noch bedürftigen, durch sich selbst evidenten Prinzipien im Gegensatz

Kategorie Legalität.

S8i

zur Verstandeserkenntnis durch Beweise; so bei Jacobi S. 275 (vergl. Spinoza S. 117, Pascal S. 127, Reid S. 208, Rous- seau S. 230 233) und Fries S. 438; IV. die mystische Anschauung des Abso- luten, S.Mystik, Intuitiver Verstand s. Intellektuelle Anschauung.

K

Kategorie: allgemeinste Aussage, ober- ster Begriff, reiner (nicht empirischer) Be- griff. Die aristotelische Kategorientafel zählt zehn, die stoische vier, die kantische zwölf solcher Stammbegriffe des reinen Verstandes auf. S. 312.

Kategorischer imperativ: s. Imperativ.

Kausalität: Ursächlichkeit, s. Mecha- nismus und Teleologie; Verhältnis der Ursache zur Wirkung, Korrelat Depen- denz. Kausalnexus: Verknüpfung oder Kette der Ursachen und Wirkungen.

Koinzidenz: Zusammenfallen sc. der Gegensätze: Cusanus S. 19 21, Hegel S. 427.

Konicret: das Anschauliche, Besondere, Einzelne, Wirkliche oder dem Einzelnen und Wirklichen Nahebleibende (Einzel- vorstellung) ; Gegensatz Abstraltt (abstra- hiert, abgezogen): das Begriffliche, All- gemeine (Allgemeinvorstellung). Der konkrete Begriff ist nach Hegel (S. 426—427) ein Allgemeines, welches das Besondere nicht sich gegenüber, sondern in sich hat, sich selbst besondert.

Konstitutives Prinzip: ein Grundsatz, der etwas über den Gegenstand aussagt, ihn bestimmt; Regulatives Pr.: eine Regel für den Verstand, den Gegenstand zu suchen. Kant S. 326. 333^. 358. 3592.

Konstruiction: I. mathematisch: Dar- stellung, Realisierung eines Begriffs in der Anschauung (das Ziehen, Erzeugen einer Linie), Kant S. 302, vergl. S. 285. Yl. philo- sophisch: Synthetischer Gedankenaufbau, Ableitung der Erscheinungen aus Begriffen, z. B. der Geschichtsperioden aus einem abstrakt begrifflichen Schema (Fichte S. 383, Hegel S. 432 433). Konstruk-

tive Schule: Fichte, Schelling (S. 390), Hegel und Genossen, ^'ergl, Idealismus, Psychologie.

Kontemplation: i. theoretisches Ver- halten; das kontemplative (beschauliche, der Erkenntnis gewidmete) Leben von Ari- stoteles, den Scholastikern und Schopen- hauer höher geschätzt als das aktive (tätige, handelnde). 2. ästhetisch: reine, ruhige, uninteressie'rte Betrachtung im Gegensatz zur begehrlichen, Kant, S. 350 f., Herbart S. 459, Schopenhauer S. 468.

Kosmologie: (der allgemeine Teil der) Naturphilosophie. Kosmol. Gottesbe- weis: Schluß von der (zufälligen) Existenz der Welt (und der Bewegung) auf ein not- wendiges Wesen als Ursache derselben, Locke S. 148, Rousseau S. 230 231, Leibniz S. 253; Kants Kritik desselben y. 332.

Kritizismus: der Standpunkt, welcher der Erkenntnis der Dinge eine Prüfung der Möglichkeit (der Quellen und Gren- zen) der Erkenntnis vorauszuschicken für nötig hält. Gegensätze Dogmatis- mus: der blinde ungeprüfte Glaube an die Erkenntnisfähigkeit der menschlichen Vernunft, und Skeptizismus: der ebenso ungeprüfte Zweifel an derselben, der sich mit der Bestreitung der dogma- tischen Lehrsätze begnügt, ohne zu der kritischen Grundfrage nach der Möglich- keit, dem Ursprung und der Tragweite der Erkenntnis vorzudringen. Kant S. 281 2S2.

Kritik der Vernunft: Untersuchung

des menschlichen Erkenntnisvermögens (Kant).

Legalität: bloße Gesetzlichkeit, äußere Gesetzmäßigkeit des Handelns, Überein- stimmung der Handlung mit dem Sitten- gesetz. Gegensatz Moralität: wahrhafte Sittlichkeit, Übereinstimmung des Wil- lens, der Gesinnung, der Maxime, der Motive mit dem Sitteugesetz, Pflichterfül- lung aus Pflichtgefühl oder um der Pflicht willen. Kant S. 337. Etwas andres be- deutet „Sittlichkeit" bei Hegel, S. 431.

582

Logik

Monadologie.

Logik: Lehre vom Denken, vom Er- kennen. I. subjektive oder formale Logik: Lehre von den Formen und formalen Ge- setzen des Denkens (Regriff, Urteil, Schluß) und den Methoden der Forschung. 2. ob- jektive (transzendentale) Logik = Wissen- schaftslehre, Erkenntnistheorie: Lehre von den Kategorien, den reinen, nichtempi- rischen Grundbegriffen (und Grundsätzen) des Denkens und ihrtm Erkenntniswerte, ihrer Geltung für das objektive Sein. Da Hegel die Denkformen mit den Seins- fornien für identisch erklärt, fällt ihm Logik und Metaphysik zusammen, S. 428 bis 429.

M

Materialismus: die Lehre, daß alles Seiende körperlich, alles Geschehen Be- wegung materieller Teile, der Geist nichts von der Materie wesentlich Verschiedenes sei. Den Geist betrachten die Materia- listen entweder selbst als einen Körper (gewöhnlich = Gehirn) oder eine be- sondere Art körperlicher Vorgänge oder als ein Resultat von solchen, als Eigen- schaft oder Wirkung der organisierten Materie. Bewußtsein, Empfinden, Denken ist ein Nervenprozeß, eine Gehirnbeweg- ung. So lehren Hobbes S. 65, Priestley S. 160 161, Laniettrie S. 221, Diderot S. 222 223, Holbach S. 224, Cabanis S. 227, K. Vogt, Büchner, Moleschott S. 528 529 u. a. Vergl. S. 467. 569. Gegensätze: Dualismus, Spiritualismus, Dynamismus. Berkeley S. 190 be- zeichnet schon die bloße Annahme einer außer den Geistern existierenden Körper- welt als materialistisch.

Maxime: subjektiver Grundsatz im Gegensatz zum objektiven Gesetz, theo- retisch: Regeln der Forschung, Kant S. 326. 333^. 334^ 358; praktisch: Grund- sätze des Handelns, Kant S. 336. Un- sittlich sind nach Kant die eudämonistische und egoistische Maxime der Lust und des Vorteils, sittlich allein der Grundsatz der Pflicht, des Gehorsams gegen das Sittengesetz um des Gesetzes willen,

S- 337- (Vergl. Leg.ilität und Moralität^ Moralprinzip.)

Mechanismus: [objektiv) ein System wirkender oder bewegender Ursachen und deren Wirkungsweise, [subjektiv) die Lehre, daß alles Geschehen (überhaupt oder das- jenige eines bestimmten Gebietes) nicht auf Finalursachen oder Zwecke noch durch Freiheit, sondern lediglich auf effiziente Ursachen, durch (oder nach Analogie von) Druck und Stoß erfolge. Mechanisch: durch natürliche Kräfte, ohne Mitwirkung einer Absicht. Gegensatz: Teleologie, s. d.

Metaphysilt: prinzipieller Teil der Philosophie, Lehre vom wahren Sein und von den letzten Gründen der Dinge, wissen- schaftliche Weltanschauung. Bei Kant (S. 295 296) I. transzendente Wissenschaft vom Übersinnlichen; IL Inbegriff aller apriorischen Erkenntnis mit Abzug der mathematischen, also i. Vernunftkritik, Transzendentalphilosophie oder Erkennt- nislehre, 2. reine Naturwissenschaft == im- manente Metaphysik der Erscheinungen. Einteilung bei Wolff (Ontol., Kosmol., Psychol. und Theol.) S. 261. 327 und bei Herbart S. 447.

Methode: wissenschaftliches Verfahren. Vergl. Analyse und Synthese, Deduktion und Induktion, progressiv und regressiv, trans- szendental und psychologisch, dialektisch.

Mikrol<OSmGS: (der Mensch, jedes Einzelwesen) eine Welt im Kleinen, eia zusammengezogener, abgekürzter Ausdruck des Alls. Gegensatz: Makrokosmos, die große Welt, das Universum. Cusanus S. 21 23, Paracelsus S. 25 26, Taurellus S. 29, Bruno S. 32, Weigel S. 47, Böhme S. 49, Leibniz S. 239 240. Vergl. In- dividualismus.

Modus: Art und Weise, bei Spinoza S. 113- 114 und Locke S. 142 soviel wie Akzidens, (vorübergehender) Zustand (eines Beharrlichen und Wesentlichen).

Monadologie: Monadenlehre: die Theo- rie, daß ewige, individuelle, seelenartige, kraftbegabte (vorstellende) Einheiten das wahrhaft Wirkliche, die Körper aus un- körperlichen Elementen zusammengesetzt seien; ein ins Spirituelle übersetzter Ate-

Monismus

Natur.

583

mismus. Cus.inus S. 21—22, Bruno S. 31 bis 32, Leibniz S. 238; vergl. Herbart S. 451 452 und Lotze S. 538.

Monismus: Annahme eines einzigen Prinzips. Gegensatz : Dualismus und Plu- ralismus. Der Materialismus und der Spiritualismus sind ebenso sehr monistische Theorien wie die Identitätsphilosophie (Spinoza, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Hartmann). Heutzutage versteht man jedoch unter Monismus vorzugsweise die u. a. von Haeckel und Noire vertretene, dem Spi- nozismus verwandte Ansicht, daß den Ele- menten des Wiiklichen neben der Körper- lichkeit eine gewisse psychische Tätigkeit (Empfindung) beiwohne, daß sie Einheit von Materiellem und Geistigem seien, alles Körperliche mithin von einem Geistigen und umgekehrt begleitet sei.

Moralismus: die Ansicht, daß die Sittlichkeit als das einzige absolut Wert- volle die wesentlichste Aufgabe des Men- schen und der letzte Zweck der Welt sei. Kant S. 336— 337. 340. 364-365- 570. Fichte S. 378 379. Vergl. Ethelismus. Gegensätze: Intellektualismus, Asthetizis- mus, Hedonismus.

Moraiität s. Legalität.

Moralprinzip: oberster Begriff der Sittenlehre. Vergl. Ethik. Das Prinzip der Ethik kann entweder (vom Seienden aus, und zwar) metaphj'sisch (kosmo- logisch) von der Welteinrichtung oder anthropologisch von den Grundtrieben der menschlichen Natur, oder (von einem Seinsollenden, und zwar) teleologisch von einem zu erreichenden Zwecke oder Imperativisch von einem Gesetze aus bestimmt werden, z. B. I. (Beförderung der) Weltharmonie S. 174 175. 252, Wesensidentität aller Handelnden und Weltelend S. 469. II. Naturtrieb (s. Naturalismus II), sozialer Trieb des Wohl- wollens (S. 171) oder Mitleids (Sympathie S. 182), Trieb der Selbstbeurteilung (S. 171). III. Vollkommenheit (S. 252. 261), Lust (Hedonismus), Glückseligkeit (Eudämonis- mus), Nutzen (Utilitätsprinzip) des Handeln- den (Egoismus) oder (und) der Gesellschaft (S. 171— 172. 178. 494. 559), das Wohl

des anderen (Altruismus S. 4S5, 488, Tuis- mus S. 523), Übereinstimmung mit sich selbst, Seelenruhe, Selbständigkeit der Ver- nunft S, 380. IV. Die Gebote des Ge- wissens S. 134. 181. 3S0, des moralischen Sinnes S. 175 176. 180, der logischen Vernunft S. 171. 173 174, des Staates S. 67 69. 170— 171, der göttlichen Au- torität (des in der christlichen Offenbarung kundgegebenen W^illens Gottes mit Ver- heißung von Lohn und Strafe) S. 155 f, das unbedingte Soll des selbstgegebenen Sittengesetzes (Autonomie, Kant S. 335 f)- Motlv: Beweggrund, Triebfeder. Mo- tivation: Kausalität in der Sphäre des WoUens und Handelns. Schopenhauer S. 465.

Mystik: diejenige Richtung in der Phi- losophie, welche nicht durch methodische Begriffsvermittlung, sondern auf dem Wege der unmittelbaren Anschauung (Intuition), der Versenkung in die Tiefe des Gemüts, der Einigung [ttnio mystica) mit dem Weltgrunde, der Eingebung, Erleuchtung und Verzückung (Ekstase) der Wahrheit habhaft zu werden sucht (S. 19). Mystische Elemente finden sich bei fast allen großen Philosophen, jede geniale, nicht durch Begrififsarbeit vermittelte Konzeption fällt unter die Rubrik des Mystischen im weiteren Sinne.

N

Natur: I. das ursprüngliche W^esen eines Dinges (die Natur des Metalls, des Menschen, des Geistes). Gegensatz: Kul- tur, Kunst, das Gewordene, das durch Konvention und Herkommen Entstandene (S. 40 41), das Gekünstelte und Verküu- stelte ; Naturzustand: Grotius S. 40, Hobbes S. 67 f., Spinoza S. 124, Rousseau S. 228 229; Naturrecht S. 34 f., Kant S. 347 348, Fichte S. 381; natürliche Religion s. Deismus. IL der Inbegriff (und der Grund) des materiellen Da- seins; natura naturata (und naturans, S. 30. 109. 389 391); Gegensatz Geist, Geschichte.

584

Naturalismus Ontologismus.

Naturalismus: I. die Tendenz, das geistige Geschehen nach Analogie, unter dem Gesichtspunkt, nur als Fortsetzung des physischen zu betrachten, == Physi- zismus; Gegensatz Idealisnaus, Historis- mus. S. lO. 551 553. 569. Montesquieu S. 213, Herder S, 273. 389 391. II. der Versuch, die Sittlichkeit auf den Naturtrieb (der Selbsterhaltung) zu gründen, Hobbes S. 67f., Spinoza S. 121 122, Mande- ville, Bolingbroke S. 178 179, Condillac, Helvetius, Lamettrie S.217 221, Holbach, Cabanis 227, vergl. Sensualismus II. III. die Richtung, welche die Aufgabe der Kunst darein setzt, die Gegenstände unver- schönert, so wie sie wirklich sind, in voller Treue und in ungeschmälerter Häßlichkeit darzustellen. IV. ungeschultes, der Methode und Technik nicht mächtiges Verfahren,

Nominalismus : mittelalterliche Bezeich- nung für die Theorie, daß die Univer- salien (die Gattungen, das Allgemeine) keine Realität haben, bloße Vorstellungen (Begriffe, Konzeptualismus) , ja bloße Namen {fiomind) seien. Hobbes S. 65 bis 67, Locke S. 142, Berkeley S. 189 f. Gegensatz Realismus, s. d.

Noumenon, Ding an sich, I. in nega- iiver Bedeutung: das, was den Erschei- nungen zugrunde liegt, aber nur gedacht, nicht sinnlich angeschaut, folglich auch nicht erkannt werden kann. 2. in positiver Bedeutung: das jenseit der Erfahrung Liegende, Übersinnliche, Unbedingte, was Gegenstand zwar nicht unserer sinn- lichen, vielleicht aber einer intellektu- ellen Anschauung ist. Kant S. 303 311. 323—325- 334—335- Gegensatz Phäno- menon. Vergl. Intelligibel.

Objekt: (der seiende, der wahrgenom- mene, der gedachte) Gegenstand, Subjekt: das denkende (fühlende, wollende) Ich. Objektiv nennen wir i. was dem Gegen- stande (subjektiv, was dem auffassenden Geiste) angehört; 2. was für alle Geister (subjektiv, was nur für den einzelnen Geist) da ist und gilt. Diese beiden Bedeutungen „äußerlich oder gegenständlich inner-

lich oder geistig" und ,, allgemeingültig individuell", zwischen denen der heutige Sprachgebrauch schwankt (und die man durch die Unterscheidung von allgemein- subjektiv und einzelsubjektiv, also in der Dreiteilung ,, gegenständlich allgemein- geistig — einzelgeistig" vereinigen könnte), sind bei Kant nicht genügend geschieden. Im Mittelalter (Duns Scotus) und wei- terhin (Berkeley) bis ungefähr zur Mitte des XVIII. Jahrhunderts (Eucken, Ter- minol. S. 68. 134. 203 204) hatten jene Ausdrücke die umgekehrte Bedeutung, objektiv = (bloß) vorgestellt, subjektiv oder formal = wirklich, dem Gegenstande (dem, was dem Urteil ,, unterliegt") ange- hörig. Subjektivität der Empfindungen (Demokrit, Descartes u. a.) , der reinen Anschauungen und reinen Begriffe (Kant S- 305), vergl. Primär und sekundär.

Okkasionalismus: Lehre von den Ge- legenheitsursachen: Körper und Geist wir- ken nicht unmittelbar aufeinander, sondern Gott bewirkt bei Gelegenheit des körper- lichen Reizes in der Seele die Empfindung, auf Anlaß des psychischen Willensaktes die entsprechende Leibesbewegung, S. 95 bis 99. 130. Vergl. präst. Harm.

Ontoiogie: erster Teil der Metaphysik, handelnd von den allgemeinsten Bestim- mungen des Seienden , abgesehen von den Unterschieden der Körperlichkeit und Geistigkeit usw., Wolff S. 261 262. Ontologischer Beweis fürs Dasein Gottes: ,, Gottes Existenz folgt aus dem Begriffe Gottes, zu dessen Merkmalen das Sein gehört, Gott kann nicht als nicht- existierend gedacht werden", Anselm, Des- cartes S. 82, Spinoza S. iio, Leibniz S. 253 (nicht zu verwechseln mit dem Ar- gumente, daß wir die Vorstellung Gottes haben, aber nicht aus uns, sondern nur von Gott selbst haben können, Campanella S. 33, Descartes S. 82); Kants Kritik des- selben S. 332.

Ontologismus: der Standpunkt, der nicht, wie der ,, Psychologismus" (Rosmini), Tatsachen der inneren Erfahrung (z. B. das ,,Ich denke, .also bin ich" des Des- cartes), sondern metaphysische Prinzipien, speziell den Gedanken des (absoluten)

Optimismus I'hilosophid:.

585

Seins zum Ausgangspunkte der Philoso- phie wählt. Gioberti S. 478. Lamennais S. 489.

Optimismus: die Ansicht, daß diese Welt (als) die beste unter allen möglichen (ausgewählt worden) sei. Leibniz S. 243 f. 254 f., vergl. S. 9 10. 23. 424.

OrelctizlSmUS s. Ethelismus.

Organismus: ein lebendiges Wesen, ein System von Teilen, die sich gegen- seitig wie Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck verhalten. Kant S. 357. Eine organische Weltanschauung so bezeichnen Krause und Trendelenburg die ihrige ist diejenige, welche das Uni- versum wie ein Lebewesen, somit als zweckvoll eingerichtet und die Teile als durch das Ganze bestimmt und einander zugeordnet betrachtet.

Panentheismus: Allingottlehre, Krause S. 408.

PanlogismUS s. Intellektualismus.

Pantheismus: i. in wörtlichem und engstem Sinne : die Lehre , daß das All Gott, Gott das All sei, Toland S. 165; Holbach S. 224, Strauß S. 522; 2. auch wohl in weiterem Sinne: die Behauptung, daß das Endliche (insbesondere die mensch- liche Vernunft) dem Unendlichen wesens- verwandt sei. Gemeinsam ist beiden Be- deutungen die Ablehnung der Außerwelt- lichkeit Gottes, der dualistischen Fassung des Verhältnisses von Gott und Welt (S. 21). Im Gegensatz zu dem immanen- ten Pantheismus Hegels resp. der Jung- hegelianer (Gott gelangt erst im Menschen- geiste zum Selbstbewußtsein, wird erst in ihm wirklich Gott) vertritt Fortlage S. 444 den ,, transzendenten Pantheismus". 3. im Gegensatz zum Individualismus: die Lehre, daß die Vielheit der veränderlichen und vergänglichen Einzeldinge nur Schein sei und allein dem einheitlichen Weltgrunde volle Wirklichkeit zukomme; so die Eleaten, Schopenhauer S. 465 f., ähnlich Spinoza und Schelling in seiner Identitäts- periode.

PanthelismuS oderThelematismus: die Ansicht, daß alles im Grunde Wille sei Fichte, Schelling, Schopenhauer. Vergl. Ethelismus.

Parallelismus, psychophysischer: die Annahme, daß zwischen leiblichen imd seelischen Prozessen keine Wechsel- wirkung st.ittfinde, sondern daß die psychi- schen Erscheinungen den gewöhnlich als ihre Ursachen resp. Wirkungen betrach- teten physiologischen Vorgängen nur pa- rallel laufen, ohne durch sie bewirkt zu werden oder sie zu bewirken. Siehe S. 539. Vergl. Identitätssystem.

Passion : leidentlicher Zustand der Seele, Leidenschaft, Affekt. Über die Passionen handeln Descartes S. 92 93, Spinoza S. 118 120, Shaftesbury S. 175 bis 176, Hutcheson S. 180, Hume S. 203 bis 204.

Perzeption: (bloße) Vorstellung, Wahr- nehmung; Apperzeption: i. bewußte V., W. Leibniz S. 239, Herbart S. 452 bis 453. II. Bewußtsein; transzendentale Apperz. = reines (Selbst-) Bewußtsein (,,Ich denke"), Kant S. 315.

Person: mit Vernunft und Selbstbe- wußtsein begabtes, der Selbstbestimmung fähiges Wesen. PerSOnaÜSmUS: die An- sicht, daß alles wahrhaft Wirkliche per- sönlich (geistig, selbstbewußt) sei; Boström S. 513. Personalwelt, Eucken S. 556.

Pessimismus: die Überzeugung, daß die Welt (die) schlecht(este unter allen möglichen) sei. Der eudäm onologische Pessimismus behauptet, daß die Summe der Unlust die der Lust überwiege , der ethische, daß die Menschen und ihre Handlungen der Mehrzahl nach schlecht seien. Schopenhauer S. 468 f.. Hartmann S. 542 f. Vergl. S. 44. 133—134.

Phänomenon: Erscheinung, Gegensatz

Noumenon (s. d.j. Phänomenalismus: die

Ansicht, daß nur die Erscheinungen, nicht das wahre Wesen der Dinge, erkennbar seien.

Philosophie: wörtlich Weisheitsliebe. Zur Zeit der Griechen umfaßte die Ph. alle Wissenszweige. Die Mathematik zweigte sich zuerst ab, im Beginn der Neuzeit wurde

586

Physik Primäre und Sekundäre Qualitäten.

die Naturwissenschaft eine selbständige Disziplin, möglicherweise wird in Zukunft auch noch die empirische Psychologie aus dem philosophischenVerbande ausscheiden. Wolffs Definition der Philos. S. 260. Der positivistischen Absetzung und Herab- setzung der Philos. zu einem Durchgangs- stadium zwischen der theologischen und der positiven oder wahrhaft wissenschaftlichen Behandlung (Comte S. 481 f.) und einer bloßen Zusammenstellung der letzten Re- sultate der Einzelwissenschaften ist zu er- widern: Philos. ist unentbehrlich I. als Erkenntnislehre (Wissenschaft vom Wissen),

2. als Prinzipienlehre, welche das, was für die Einzelwissenschaften Voraussetzung, ununtersuchtes Erklärungs m i 1 1 e 1 ist (z. B. die Begriffe Kraft, Ursache, Gesetz), zum Problem, zum Erklärungs ob j ekt macht;

3. als Wissenschaft vom Seinsollenden, von den Normen des Erkennens, des künstlerischen Schaffens und des sittlichen Handelns oder den Idealen des Wahren, Schönen und Guten (Logik, Ästhetik, Ethik); 4. als Weltanschauung, welche das Ganze der Wirklichkeit zum Gegen- stande des Nachdenkens macht; 5. als rationale oder spekulative Behandlung der- selben Gegenstände, welche die Spezial- wissenschaften empirisch und reflektierend bearbeiten, z. B. neben der Geschichte die Geschichtsphilosophie, welche von den all- gemeinsten Grundsätzen und Gesichtspunk- ten, den treibenden Mächten der Geschichte, der Periodisierung usw. handelt. So bil- det die Philosophie teils die Grundlage, teils die krönende, abschließende Spitze, teils das spekulative Seitenstück der Eiu- zelwissenschaften.

Physik: i. Naturlehre überhaupt; 2. die empirische Naturwissenschaft ; 3. spekula- tive Ph. = Naturphilosophie. Physizis- mus (Gegensatz Moralismus und Historis- mus) s. Naturalismus I. Physikotheologisch s. Theologie.

Position : Setzung. Das Sein ist kein logisches Prädikat, sondern die Setzung des Begriffs samt allen seinen Merkmalen; Existenz bezeichnet nicht eine Eigenschaft des Dinges, sondern ein Verhältnis des- selben zu unserem Verstände, S. 332. 451.

461. Selbstbewußtsein ist Selbstsetzung,

S. 374-

Positivismus: I. erkenntnistheoreüsck (Gegensatz Idealismus): die Ansicht, daß empirische Tatsachen der einzige Aus- gangspunkt, Erscheinungen (das durch die Empfindung Gegebene) und ihre gesetz- lichen Verbindungen der einzige Gegen- stand der Erkenntnis seien und der Philo- sophie nur die Aufgabe bleibe, die Resultate der positiven Wissenschaften zu einem Gesamtbilde zu verknüpfen. Comte S. 480 f., deutsche Positivisten S. 548 549. II. in religionsphilosophischer Bedeutung heißt Positivist derjenige, der auf dem, Standpunkt der positiven (geoffenbarten) Religion steht, sich an das Positive (Ge- schichtliche, Statutarische S. 344 346) der Religion hält, im Gegensatz zur Ver- nunftreligion der Rationalisten. Vergl. Deismus.

Postulat: theoretisch nicht beweisbare, aber aus praktischen Motiven geforderte An- nahme. Kants moralische Postulate S. 342.

Potenz: I. Zustand der bloßen Mög- lichkeit = Latenz, Gegensatz Akt(ualität),. Leibniz S. 249. II. in einer der mathe- matischen analogen Bedeutung: Stufe, Schellings Potenzenlehre S.393f. 398. 404.

Praictische Philosophie: der Teil der Philosophie, welcher sich auf das Wollen und Handeln und die Gesetze desselben bezieht: Ethik, Rechtsphilosophie und Politik. Gegensatz Theoretische Philoso- phie: Wissenschaft vom Wirklichen. Der Glaube eine praktische Erkenntnis, Kant S. 342.

Prästabiliert s. Harmonie.

Primäre und Sekundäre Qualitäten:

jene sind diejenigen, welche dem Gegen- stande wirklich zukommen, abgesehen von seiner Beziehung zu einem empfindenden Subjekt, diese diejenigen, die wir ihm in- folge seiner Wirkung auf uns beilegen. Zur ersten Klasse gehören die quantitativen Bestimmungen Größe, Gestalt, Dichtig- keit, Bewegung, zur zweiten die qualitativen oder sinnlichen Eigenschaften Farbe, Ton, Geruch usw. S. 50, Galilei S. 53, Des- cartes S. 86, Boyle S. 55, Hobbes S. 66, Locke S. 139— 141. Durch Kants Lehre

Prinzip

Qualität.

587

von der Subjektivität des Raumes und der Zeit werden auch die quantitativen Be- schaffenheiten zu sekundären oder sub- jektiven degradiert (S. 141), und wenn bei ihm noch die Existenz eines unsre Sinnlichkeit affizierenden Dinges an sich als primär oder objektiv übrig bleibt, so fällt bei Fichte, der die vermeintliche Einwir- kung des Gegenstandes als eine Selbstbe- schränkung des Ich erklärt, auch dieser letzte Rest hinweg. Vergl. Berkeley S. 188. Prinzip: höchster Begriff, oberster Grundsatz, Gesetz, Erklärungsgrund, Aus- gangspunkt; z. B. Identitätsprinzip, Moral- prinzip. Proprinzipien S. 33 34.

Progressiv-regressiv: vom Grunde

zu den Folgen vor schreitend vom Be- dingten zur Bedingung zurückschreitend. Psychologie: Seelenlehre. Empirische und rationale Seelenkunde, Wolff S. 261. Die Vermögenstheorie (Locke, Kant) erklärt die Erscheinungen des Seelen- lebens aus Kräften, die mechanistische (die englischen Assoziationspsychologen S. 160, Herbart S. 454 f.) aus dem Zu- sammenwirken einfacher Elemente (der einzelnen Vorstellungen). Die erstere ist sowohl in pluralistischer (mehrere auf- einander nicht reduzierbare Kräfte ; Wolff: Erkenntnis- und Begehrungsvermögen, Te- tens: Vorstellen, Fühlen, Wollen S. 265) als in monistisc her Form (eine einzige Grundkraft, deren Modifikationen die ver- schiedenen Tätigkeiten sind) ausgebildet worden. Die monistische Vermögenstheorie wiederum erklärt entweder (sensualistisch, Condillac S. 215 218) das Höhere, Gei- stige aus dem Niederen, Sinnlichen, oder (intellektualistisch, Leibniz S. 248 250) dieses aus jenem; dort wird das Denken und Wollen als ein höher entwickeltes Empfinden, hier das Empfinden als ein unvollkommenes, undeutliches Denken ge- faßt. Zu der dynamistischen und mecha- nistischen Behandlungsart kommt als dritte, sachlich vielfach mit der zweiten Form der monistischen Vermögenstheorie über- einstimmend, die konstruktive (S. 377. 394.430) hinzu, welche, vom Begriff,Wesen oder Zweck der Seele ausgehend, die ein- zelnen psychischen Funktionen als stufen-

weise Realisierung der Idee oder Bestim- mung der Seele betrachtet, diese Aufgabe der Seele aber teils intellektualistisch (Hegel), teils moralistisch (Fichte) be- stimmt, während eine ästhetische oder affektualistische Fassung des Wesens der Seele (Schleiermacher) nur in der milderen Gestalt versucht worden ist, daß das Ge- fühl als einheitlicher Kern und Mittelpunkt der psychischen Existenz, Verstand und Wille aber als gleichfalls ursprünglich an- gesehen werden. Der „psychologischen" Behandlung der Erkenntnistheorie hat Kant (S. 299) die ,, transzendentale" ent- gegengestellt.— Völkerpsychologie: S.462,

555-

Psychologismus: die Ansicht, daß die innere Erfahrung unserer seelischen Zu- stände der einzige Ausgangspunkt alles Erkennens, Psychologie die Grundwissen- schaft, die übrigen Wissenschaften nur Anwendungen oder Teile derselben seien. Fries S. 437 438, Beneke S. 440, 462. Gegen die auch von Th. Lipps vertretene psychologistische Behandlung der Logik wendet sich E. Husserl S. 561. Veigl. Anthropologismus. Siehe auch Ontolo- gismus.

Psychophysik: exakte Lehre von den Beziehungen zwischen Leib und Seele. Fechner S. 533—534-

Purismus: (übertriebenes) Dringen auf Reinheit, z. B. der sittlichen Motive, Kant S. 338, der Sprache, Krause S. 408.

Qualität: Beschaffenheit, Art (z. B, qualitates ocailtae, die verborgenen Eigen- schaften der Dinge, aus denen das Mittel- alter die empirischen Eigenschaften und Wirkungen derselben zu erklären pflegte, S. 482), Quantität : Menge, Größe. Quali- tativer Unterschied = spezifischer; quanti- tativer = gradueller. ,, Quantitative Dif- ferenz": Unterschied des Mehr oderWeniger, Überwiegen des einen von zwei überall vorhandenen Faktoren (5« 2l>, 2a t^b), Schelling S. 397. Diejenige Weltan- schauung, welche bei gewissen Artunter-

588

Rationalismus

RezeptivitÄt.

schieden (Neigung und Pflicht, Gut und Böse, Empfindung und Denken) als letzten, nicht auf eine Einheit zurückführbaren Gegensätzen stehen bleibt, kann man die qualitative (Kant S. 293), diejenige, welche die Gegensätze zu bloßen Grad- unterschieden herabzusetzen (Spinoza S. 124, Leibniz S. 250. 256) oder (wie die moderne Naturwissenschaft S. 50 53) alles Qualitative quantitativ zu erklären, z. B. die Empfindungsqualitäten der Farbe, des Tones auf Bewegungen zurückzuführen sucht, die quantitative nennen. Siehe auch Primäre Qualitäten.

R

Rationalismus: I. in der Erkeiminis- iheorie: die Überzeugung, daß Wahrheit erreichbar und daß sie nicht in der Er- fahrung, der sinnlichen Wahrnehmung und Vorstellung, sondern allein im reinen Denken der Vernunft zu finden sei (Gegensätze Skeptizismus und Empiris- mus); S. 65. 71. 81. 106 107. 148- 150, 152 153. 200. 250. 258. 260 261. 276 f. u. ö. II. in der praktischen und Religionsphilosophie : die Annahme einer natürlichen oder Vernunftreligion, eines Natur rechtes als Kern der positiven ge- schichtlichen Religionen und Rechtssysteme und als Norm für die Beurteilung dersel- ben (Gegensatz Positivismus II, Historis- mus 2) S. 41. 162. 270. Vergl. Deismus.

Realismus: i. Im Mittelalter (= Idea- lismus nach dem heutigen Sprachgebrauch) die Annahme, daß die tiniversalia wirk- lich (real) seien, Gegensatz Nominalismus. 2. metaphysisch:, die Ansicht, daß das Er- kennen aus dem Sein abzuleiten sei, S. 372, desgleichen die Annahme, daß ungeistige Wesen den Grund und die Elemente der Wirklichkeit bilden : Materialismus, Ato- mismus; Herbarts Realen S. 450. 453 bis 454 ; Gegensatz Idealismus. 3. ästhetisch : die Ansicht, daß die Schönheit nicht (bloß) auf der Form, sondern (auch) auf dem Inhalt (der Idee = Idealismus) beruhe, Gegensatz Formalismus.

Reflektierende Urteilskraft, Kant

s. 349—350-

Reflexion s. Spekulation.

Regressiv s. Progressiv.

Regulativ s. Konstitutiv.

Relation: Verhältnis, Beziehung, Locke S. 144. Relativ: verhältnismäßig, Gegen- satz Absolut. Relativismus: die Lehre, daß alle Erkenntnis relativ sei (sich in lauter Relationen bewege) und sich nur auf Relationen (die gesetzlichenBeziehungen zwischen den in ihrem Ansich unerkenn- baren Dingen, also nur auf Erscheinungen) erstrecke. Kant S. 305, Comte S. 480 bis 481, Spencer S.499 500, vergl. Opzoomer S. 515.

Religion: Verhältnis des Menschen zum Unendlichen, zu Gott. Siehe die Defini- tionen bei Kant S. 343 344, der die Re- ligion auf die Sittlichkeit gründet, Hegel S. 434, der sie als ein Denken in Form der Vorstellung, als Vorstufe der Philosophie (ähnlich Schopenhauer S. 470 als populäre Metaphysik) betrachtet, und Schleiermacher S. 416 420, der sie als ein zuständliches Bewußtsein, als Fröm- migkeit, als Gefü'hl der Abhängigkeit faßt; also eine moralistische, intellek- tualistische und affektualistische (oder, in wörtlichem, nicht historischem Sinne pietistische) Auffassung, über deren Ver- hältnis S. 347. Locke S. 153 154 und Leibniz S. 253 unterscheiden vernunft- gemäße und übervernünftige Glaubens- lehren, Bayle erklärt die christlichen Dog- men für widervernünftig und gründet hier- auf seinen Zweifel an der Vernunft S. 132 bis 133. Die religiöse Weltanschauung des Mittelalters S. 8. Die Religionsphilo- sophie kann objektiv (als philos. Dog- matik, spekulative Theologie) die Gegen- stände des Glaubens und der Verehrung oder subjektiv (als Frömmigkeitslehre) den frommen Zustand und das religiöse Verhalten betrachten, oder kritisch (Kant S. 344 346) an die Glaubenslehren den Maßstab des aus bloßer Vernunft Erkenn- baren anlegen. Vergl. Positivismus II, Rationalismus II, Deismus, Theismus.

Rezeptivität Spontaneität: Em- pfänglichkeit für äußere Eindrücke Kraft des Hervorbringens von innen. Nach Kant ist die Sinnlichkeit das rezeptive Vermögen, durch Affektion von außen zu

Schematismus Synkretismus,

589

Vorstellungen (Empfindungen, Anschau- ungen) angeregt zu werden, der Verstand das spontane Vermögen, Vorstellungen (Begriffe) selbst zu erzeugen. S. 279 28 1. 296 298. 311. Vergl. Anschauung und Begrifl'.

Schematismus, Kant S. 316. 324.

Scholastik: die Philosophie des Mittel- alters seit dem IX. Jahrhundert (vorher: Patristik), welche, christliche Kirchenlehre und aristotelische Philosophie verbindend, Glauben und Wissen für vereinbar hält und wissenschaftliche Vertretung eines autori- tativ gegebenen Lehrinhalts der Philo- sophie (als der Magd der Theologie) zur Aufgabe setzt, S. 9. 409—410. Scho- lastisch heißt dasjenige Verfahren, welches sachliche Schwierigkeiten mit schul- mäßigem Formalismus durch abstraktes Raisonnement und spitzfindige Distink- tionen zu erledigen meint.

Sekundäre Eigenschaften s. Primäre Qualitäten.

Sensualismus: I. erketmtnistheore- tisch: die Lehre, daß aller Vorstellungs- inhalt aus der sinnlichen Empfindung stamme (Locke S. 137 139, das Denken (ebenso das Wollen) nur ein umgewan- deltes Empfinden sei (Condillac S. 215 f., Bonnet S. 218 219, Helvetius S. 219 bis 220). Gegensatz Intellektualismus, Vergl. Psychologie. IL moralisch: die Lehre, daß sinnliche Gefühle und Triebe die einzigen Motive alles Strebens und Tuns bilden, ihre Befriedigung das letzte Ziel auch der sittlichen Tätigkeit, das höchste Gut sei. Vergl. Naturalismus IL

Skepsis, Skeptizismus: Zweifelslehre, die Ansicht, daß ein sicheres Wissen dem Menschen unerreichbar sei. (Bei Kant S. 281 : derjenige Betrieb der Philosophie, welcher sich begnügt, die Lehren der Dogmatiker anzugreifen, ohne die Mög- lichkeit des Erkennens selbst zu prüfen; vergl. Kritizismus.) S. 43 45, Bayle S. I32f., Hume S, I96f., Diderot S, 222, Hirnhaym S. 257, Skeptische Elemente finden sich fast bei jedem scharfsinnigen Philosophen, Descartes benutzt den Zweifel

nur (als Ausgangspunkt), um zu einem Unbezweifelbaren zu gelangen, S. 78 80. Solipsismus, theoretischer Egoismus: der erkenntnistheoretische Standpunkt, daß, da mir unmittelbar nur meine Vor- stellungen gegeben sind, ich nichts weiter gewiß weiß, als daß ich selbst und meine psychischen Zustände [ego ipse solus) existieren, während die Körper und frem- den Geister, die ich wahrzunehmen und mit denen ich zu verkehren glaube, viel- leicht nur meine Vorstellung sind, ohne außer derselben wirklich zu existieren, S. 82,

Spekulativ, Spekulation: i. bei Kant

sehr oft = theoretisch, Gegensatz prak- tisch. 2. Erkenntnis des wahren Wesens und Grundes der Dinge aus bloßer Ver- nunft, aus reinen Begriffen, Gegensatz empirisch. 3. wörtlich: unmittelbare geistige Anschauung, im Gegensatz zur mittelbaren Erkenntnis durch Begriffe: vergl. Intuitiv, Mystik, 4, Hegel charak- terisiert das spekulative Verfahren als Er- kenntnis durch „konkrete" Begriffe im Gegensatz zu der mit bloß „abstrakten" Begriffen arbeitenden Reflexion, S, 425 bis 426, vergl. Konkret,

Spiritualismus s. Idealismus II 3.

Spontan s. Rezeptiv.

Subjekt s. Objekt.

Substanz: Ding. Descartes S. 83 de- finiert Substanz als ein Ding, welches zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf (Körper und Geist verhalten sich gegeneinander als Substanzen, als selb- ständige und unabhängige Wesen), Spi- noza S. 109 als dasjenige, was in sich ist und durch sich begriften wird (das Unendliche, Gott), Leibniz S. 237 als ein der Tätigkeit fähiges Wesen, Kant S. 317 als das Beharrliche im Raum. Im Wechsel der Akzidentien (Eigenschaften, Zustände) beharrt die Substanz und erfährt in ihrer Quantität weder eine Vermehrung noch eine Verminderung.

Syllogismus, logischer Schluß : Ablei- tung eines Urteils aus zwei anderen Ur- teilen, die einen Begriff" (Mittelbegriff) gemeinsam haben. Folgerung vom All- gemeinen auf das Besondere.

Synkretismus s, Eklektiker.

590

Synthese Zwiefache Wahrheit.

Synthese, Synthetisch s. Analyse.

System : ein zusammenhängendes Ganze I. von Dingen, 2. von Erkenntnissen.

Teleologie: Zwecklehre, die Theorie, daß nicht alles mechanisch (s. Mechanis- mus), durch caiisae efßciefites, sondern einiges durch Zwecke, vorgestellte Wir- kungen, causae finales geschehe. Ver- suche, den Gegensatz der mechani(sti)- schen und der teleologischen Erklärung resp. Beurteilung zu versöhnen, bei Leibniz (S. 244), Kant (S. 333^- 357—359) u. a. Vergl. Idealismus III, i. Teleol. oder physikotheol. Beweis s. Theologie.

Theismus: l. Anerkennung einer Gott- heit überhaupt, Gegensatz Atheismus; 3. Behauptung eines außerweltlichea per- sönlichen Gottes, Gegens.atz Deismus, Pantheismus. Theisteaschule S. 526—528.

Thelematismus s. Ethelismus.

Theodizee: Rechtfertigung Gottes we- gen der Übel in der Welt, Leibniz S.

253—256-

Theologie: Gotteswissenschaft, ein Teil der Metaphysik oder der Religionsphilo- sophie. Moraltheologie oder Ethiko- theologie: Begründung des Daseins und der Eigenschaften Gottes auf die Sittlich- keit (Kants moralischer Beweis S. 343), im Gegensatz zur Physikotheologie, welche aus der zweckmäßigen Einrichtung der Natur oder einzelner Naturerschei- nungen die Existenz, Allmacht, Weisheit und Güte Gottes demonstrieren will. Physikotheol. Beweis, Newton S. 160, Voltaire S. 215, Rousseau S. 230—231, Leibniz S. 253—254; Kants Kritik des- selben S. 331-333- Im Auf klärungs- Zeitalter waren bei Engländern und Deut- schen die physikotheologischen Betrach- tuQgen sehr beliebt, man schuf u. a. eine Bronto-(Gewitter), Ichthyo-(Fische), Me- litto-(Bienen)-Theologie.

Theoretisch: die Wahrheit, die Er- kenntnis und das Seiende betreffend. Gegensatz Praktisch: das Gute, das Wollen und Handeln und das Seinsollende betreffend.

Transzendent: die Grenze der Erfah- rung überschreitend, jenseit derselben liegend; Gegensatz Immanent, S. 295 bis

296. Transzendental: die formalen,

apriorischen Bedingungen der (Erfah- rungs-) Erkenntnis betreffend, diesseit der Erfahrung liegend. Kant S. 29S bis 299. Vgl. Immanenz, Psychologie (gegen Ende).

TuismuS oder Altruismus: für den Andren leben, sich das Wohl des Mit- menschen zum obersten Zwecke setzen; Gegensatz Egoismus. Siehe Moralprinzip.

u

Unbewußt- Unbewußte Vorstellungen, verneint von Locke S. 137 13S, behauptet von Leibniz S. 239—240. Das Unbe- wußte, Hartmann S. 540. 541.

UtilitarismUS: der ethische Stand- punkt, welcher das Gute dem Nützlichen gleichsetzt, den Nutzen (des Handelnden oder aller oder der größten Anzahl) für das Ziel des sittlichen Handelns erklärt. Vergl. Moralprinzip.

Vitalismus: Annahme einer ,, Lebans- kraft" zur Erklärung der organischen Er- scheinungen im Gegensatz zur mechani- schen Lebensauffassung. S. 391 392-

Voluntarismus s. Ethelismus.

Vorstellung: i. alles, was in der Seele vorkommt; 2. alle psychischen Ereignisse oder Akte nach Abzug des Fühlens und WoUens; 3. dasjenige theoretische Gebilde, welches zwischen Wahrnehmung und Be- griff in der Mitte steht, = Erinnerungs- und Phantasiebild. Vergl. Idee.

w

Willensfreiheit siehe unter Determi- nismus.

z

Zwiefache Wahrheit: theologische

und philosophische Wahrheit seien derart zweierlei, daß eine und dieselbe Lehre für die Philosophie wahr und für die Theologie falsch sein könne und umge- kehrt. S. 9^ 28.

Namenregister.

Die Ziffern bezeichnen die Seitenzahlen des Textes; in zweifelhaften Fällen sind die Hauptstellen

durch fette Schrift ausgezeichnet. Diejenigen Namen, welche in beiden Registern vorkommen,

sind mit einem Sternchen versehen.

L Verzeichnis der behandelten Philosophen.

Aall 567. Abbt 265. Achillinus 27. *Adamson 507. Agnostizisten 504. Agricola, R. 26. Agrippa von Nettesheim. 25. Ahrens 40S. 409. Albert d. Gr. 568. Albie, E. 512.

Alembert, d' 572. 212. 220. 222. Alexander v. Aphrodisias. 27. Alexandristeii 27. Al-Gazäli 1971. Allihn 462. Althegelianer 519. Althusius 35 1. 36. 39. 40I. 41. Ampere, Andre-Marie. 490 Anm. Anaxagoras 22. 570.

Änesidem-Schulze, siehe Schulze, G. E. Angiulli 479. Annet i66'.

Anselm v. Canterbury 82. Autiaristoteliker 27 29. *Apelt 439. 567. Ardigo 479.

Aristoteles i. 9. 16. 24. 25. 27. 28. 32. 33. 42. 45. 50. 51. 52. 58. 61. 67. 159. 234. 243. 261. 264. 265. 312. 366. 38S. 389. 482. 485. 530. 567. 568. 570.

Aristofeliker 24. 27.

* Armstrong VIII. 512.

Arnauld 77. 126.

Arnim, v. 567.

*Arnoldt 290. 536 Anm.

Arouet le jeune (siehe Voltaire).

Ashley 135.

Ast 405.

Atkinson 504.

Atomisten 54f. 61 1. 141. 238. 451, 546. 552.

Auerbach, Felix 553^.

Augustin 33. 78. 95. 127. 410.

*Avenarius 549.

Averroes 27. 28.

Averroisten 27.

^Baader 49. 388. 401. 406. 409 411. Baco von Verulam 5. 7. 12. 13. 14. 15.

17. 262. 43. 52. 53I. 55. 56—63. 65.

70. 71. 72. 81. 135. 136. 137. 153. 159.

162. 169. 170. 211. 233. 256. 279. 294.

481. 515. 519. 570. Baco, Roger 50. Baer, K. Ernst von 405'. *Bäumker, Cl. 567. Bahnsen 471. *Bain 210. 492. Baldwin 511. Balfour 493. 506. Baiguy 174. Barklay 39. Bardili 362. *Barth, P. 563. *Barzellotti 477. Basedow 266.

Batz, Philipp (Mainländer) 471. Bauch 5342. 564. Bauer, Br. 519. 525. Bauer, Edgar 525. *BaumaDn 531. 563. 566. Baumeister 262.

Baumgarten, Alex. 15. 262. 288. 350. Baumgarten, Sig. 262. Baur, F. 525'. Bayle 14. 45. 132 134. 212. 222. 254.

522I. Baynes 508. Beattie 210. Beausobre 266. Beck 362. 363. 370. 373. Bekker, Balth. 97. Bellarmin 42. Below, V. 565.

*Beneke 436. 437. 440—443. 462. 545. Benn 509.

Beutham 187. 492. 493 494. 497. 564. Bentle)', R. 166. Bergbohm 564. Berger, E. v. 405. 407. *Bergmann, J. 557. 560. Berkeley 72. 95. 136. 139. 159. 177I.

592

Xamenrej^ister.

187 193. 194. 195. 2002. 208. 209. 215. 283 1. 290. 292. 298. 304.

Bernard, Claude 491.

Bernheim 565.

*Bernoulli 533.

Bessarion 24.

Betz 516.

Biberg 512.

Biedermann, A. E. 347. 566.

Biltinger 260.

Binet, Alfred 492.

Biran, Maine de 489. 490 Anm.

Blanc, Louis 526.

Blignieres 489.

Bluett 177I.

Boccaccio 15. 24.

Bodinus 35. 36. 38 39. 213.

Boerhave 221 '.

Boethius 512.

Böhme, Jac. 46. 47 49. 74. 388. 389.

401. 410. *Böhringer 54S. *Bois-Reymond, du 553-. Bolingbroke 169. 171. 179. 212. BoUand 516. Bolzano 5292. 530 Anm. Bonald, de 489. *Bonatelli 478. Bonitz 567.

Bonnet 212. 218 219. 266. 274. Boole, G. 508. *Borelius 513. *Bosanquet 507. Bosses 247. Boström 512. 513. Bouille s. Bovillus. Bourdin 77. Bourignon 131. *Boutroux 491. Bovillus (Ch. Bouille) 24. Bowne 511.

Boyle 54 55. 160. 166. Bradley 495. 507. Bramhall 64. 65. *Braudes, G. 514. *Brandis 421. Braniß 527.

Brentano 541. 542. 561. Breysig, K. 565. Bröchner, H. 514. Brooke, Lord 192 Anm. Brown, Peter 215. 216. Brown, Thomas 210. Browne, Th. 71. Brucker, J. J. 264I. Brücke 564. Bruno, Giord. 12. 19. 22. 24. 30 33. 72.

96. 104. 106. III. 388. 389. 397. Bruyere 219I. Buchanan, G. 56. Bücher, K. 564. Büchner, L. 529. Budde 264.

Buddha 568.

Buflba 223.

Bunge, G. v. 563.

*Burckhardt 471.

Burdach 405.

Burgersdijck 103.

Buridan 251.

Burke 210. 211. 350.

Burman 512.

*Busse 539. 557.

Butler, J. 169. 179- 181.

Cabanis 227. 489.

Cäsalpin 27. 28.

*Caird, Edw. 506. 507.

Caird, John 507.

*Calderwood 493.

Calker 439.

Campanella 26'. 30'. 31. 33—35. 96.

Campbell 509.

Campe 266.

*Cantoni 477.

Cantor, G. 552.

Caporali, E. 478.

Cardanus, Hieron. 29 30. 31.

Carlyle, Th. 16. 474. 506.

Carneri 553'.

*CaT0 490.

Carpenter 509.

*Carriere 527.

Cartesianer 54. 97. 102. 137. 140. 151.

153- 237-_ 241. 283. Cartesius, siehe Descartes. Carus, F. A. 407 1. Carus, K. G. 405. 406. 407. *Carus, P. 512. ^Caspari, O. 553 1. Caterus 77. Cathrein 529^. Cattell, T. McKeen 511. Ceretti, P. 47S. Cesca, Giov. 479. Challemel-Lacour 492. *Chalybaeus 527. Chandler 169. Channing, W. 510, Chantepie de la Saussaye 516. Charron, P. 44. Chasseboeuf siehe Volney. Chateaubriand 4S9-. Cherbury, H. Graf von, siehe Herbert. Chubb 164. 167—168. Cicero 26. 264. 265. 568. Ciceronianer 27. Cieszkowski, v. 516. *Clarke, S. 166. 171. 173. I74- 235. *Class, G. 556-557- Classen, A. 547. Clauberg 97 ^ Clerc, le 135. Clifford 505. *Cohen, H. 548. 555. 560.

Verzeichnis der Philosophen.

593

'■Cohn, J. 564. 565.

Colecchi, O. 477.

Coleridge, S. T. 506. 510.

Collard, R. 490.

Collier 191 '.

CoUins, A. 164. 165 166.

Combachius 103.

Comenius, Arnos 26 1. 567.

*Commer 5292.

Comte, A. 16. 222'. 479—489. 491"*. 504.

515- Coudillac 74. 139. 212. 215 218. 219.

226. 476. 489. 570. Condorcet 226 227. Congreve 489. Conybeare 169. Coornhert 70-. Cordemoy 97.

Cornelius, H. 530. 561. 562. 576. Cotes 160.

*Cousin 3873. 477 Anm. 490. Creighton 512. Cremoniui 27. Crescas, Ch. 1033. 104. Creuz, V. 262. 266. Crousaz 264.

Crusius 263 264 283. 2S5. Cudworth 135. 137'. 171. 172. Culverwel 172'.

Cumberland, Rieh. 171. 171 172. Ciisanus, s. Xicolaus von Kues. Czolbe 529.

Dahn 564.

Dalton 55 H.

Dante 24.

Darjes 264.

Darwin, Erasmus 161.

Darwin, Charles 16. 393. 501. 504. 505.

540. 5483. 552. 553 1. ' Daub 519. Deisten 42. 70. 132. 161. 162 170. 201.

202. 211. 214. 220. 266. 267. 270. 271.

333- Dekker 516. Delbrück 561. *Delff, H. 566. Demokrit 7. 50. 568. De Morgan 508. Dennis, J. 1771. Des Bosses 247. Descartes, Rene 5. 6. 11. 12. 15. 17. 33

43- 50- 52. 53—55- 64. 71—75- 76-94 95 96. 98. 100. loi. 103. 106. 107 109. III. 115. 118. 119. 120. 124' 126. 127. 128. 132. 133. 135. 136. 1371 139 141. 159. 162. 169. 171. 187. 216 221. 233. 246. 249. 250. 253. 256. 281 283. 294. 323. 410. 440. 475. 477 Anm 47S. 481. 490. 530. 570.

*Dessoir 562. 565.

Destutt de Tracy 227. 489.

*Deußen 471. 567.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl.

Deutinger 529-.

Dewey 511.

Diderot 213I. 220 221. 222 223.

Diels 567.

Digbeus 55.

Digby 55—56.

*Dilthey, W. 554.

Diogenes 472.

Dodge 562.

Döllinger 405'.

Döring, A. 563. 567.

*Dorner, A. 563. 567.

Dräseke 567.

*Drews, A. 544.

*Drobisch 459. 461.

Droysen 365.

du Bois-Reymond, s. Bois-Reymond.

*Dühring 526. 531. 540.

Dümmler 567.

Dürr, E. 563.

Dumont, Et. 494 Anm.

Ebbinghaus, H. 562.

Eberhard 265. 266. 2S7. 361.

Echtermeyer 519.

Eckhart 46. 48. 410.

Edfeldt 312.

Edwards, Jonathan 509.

Edwards, Sohn 509.

Ehrenfels, v. 562. 364. 374.

Eklektiker 24. 412.

Eliot, George 504.

Elsas 534^.

Elsenhans 563.

Emerson, R. W. 510.

Empiristen 71. 72. 203. 264. 277 282.

293—294. 297. 299. 341. 502. 307. Empiriokritizismus 549 . Eftzyklopädisten 212. 220 222. Enden, van den loi. Engel 189^ 263. *Engels 326. Ennemoser 406. Epiktet 126. Epikur 9. 532. 55. 144. Erasmus, Desid. 27. 70-. 103. Ercole, d' 478. *Erdmann, Benno 194 Anm. 290. 464.

536 Anm. 547. 552. 560. 562. *Erdmauu, J. Ed. 519. 367. *Erhardt 539. 537. Eschenmayer 388. 400. Esenbeck, Nees von, siehe Xees. *Eucken 531. 355—556. 337. 567. 367. Euklid 107. 149. 164. 277. 294. 352. Euler 392. 533. Everett 510. Exner, Fr. 462. Exner, S. 362.

Faber Stapulensis (Lefevre d'Etapl

27-

esi 24.

594

Namenregister.

Faggi 477-

Fairbairn, A. 500.

Fardella 237 1.

Fechner, Th. 16. 256. 2832. 529. 531.

532—535- 536 Anm. 539. 547. 553- *Feder 265. 361. Feldner 5292. Ferguson 187. 265. *Ferrari 478. *Ferri 478. Ferrier 493. *Feuerbach, L. 6. 16. 443- 47 1- 5i9-

322—525. 526. Fichte, 3. G. 3. 5- 6. 7- 8. i3- H- 16 41. 74. 75- 85. 193- 216. 233. 274 299. 300. 31 2 1. 348. 360- 361- 362 363. 365-386. 387. 388. 389. 390 391- 394- 395'- 396. 399- 407- 409 410. 412. 422. 424. 425. 430. 431 436. 437- 440- 444- 445- 452- 4^1 463. 477 Anm. 478. 4893. 506. 512 527. 538. 540. 555- 556. 571.578'- *Fichte, 1. H. (der Sohn) 369. 385. 444-

527. 528. 535- Ficinus 24. Fiddes, R. 177^ Fiedler 564. Film er 157. *Fiorentino 478. *Fischer, E. L. 563. Fischer, K. Ph. 443I. 527. *Fischer, Kuno 283 1. 288. 289. 291. 520.

545- 5542. 561. 564. 567. Fiske 511. Fite, W. 512. Flechsig 552*. *Flint, R. 508. Fludd, R. 26. *Flügel 459. 462. Forberg 367. 369. *Forge, de la 97. 99. Formey 266.

*Fortlage 443—445- 527- 545- Fouillee, R. 491. Franchi 478. Franck, Seb. 46. Francke 259. Frank 564. Franklin 392. *Fraser 508. *Frauenstädt 470. Frege 552^. *Freudei)thal 567. Freytag 565.

Friedrich der Große 220. 22 ii. 284. Fries 299. 3162. 408. 436. 437—440.

453. 462. 545- Frohschammer 531. Fullerton, G. 511.

Gabler 519.

Galilei, G. 16. 29. 50. 52—53. 63. 64. 71 77. 141. 153. 159-

Gall 535.

Galluppi 476—477.

Galton 509.

*Garve 265. 291.

Gassend^i), P. 26. 50. 53—54. 64. 77

144. *Gaupp 503. Gauß 552. Gay 160. Gaza 243. Gaijer, E. 512. *Geijer, Reinh. 512. Gennadios s. Georgios Scholarios. Genovesi, A. 476. Gentilis, A. 38, 39. 40. *George 421.

Georgios von Trapezunt 24. Georgios Scholarius (Gennadios) 24'. Gerard, Alex. 354I. Gerdil 475. Gerson 35. Gersonides 104.

Geulincx, A. 96. 97—101. 126. 191. Gichtel 47. *Gierke 554. Gilbert 56.

Gioberti 476. 4772. 478. Gioia 476. Glanvil 197'. Glisson, Fr. 2372. *Glogau 555. Gnostiker 388. 389. Goethe 3. 16. 26. 233. 360. 361. 365.

419. 4261. 463. 491. 504. 510I. 535. Goldfriedrich 565. Goldschmidt, L. 548. Gomperz, Heinrich (der Sohn) 550, Anm.

567. *Gomperz, Th. 567. Göring, Carl 548*. Göschel 519. *Gothein 565. Gottsched 262. Gracian, Balth. 263. 464. Grassi 53I. Grazia, V. de 477. Greef, de 491 4.

*Green, Th. H. 506. 507. 509. Greville 192. Anm. Grillparzer 5202. Grimm, M. 223. *Groos, K. 5542. 562. 564. Grot, Nie. V. 517. *Grote, G. 509. Grote, John 497. *Grotenfelt 565—566. Grotius 35. 36. 38. 39—41- 42. 67. 162.

257- Grubbe 512. Günther 14. 530. *Gutberlet 5292. *Guyau, Jean Marie 492. Gylden 513.

Verzeichnis der Philosophen.

595

Haeckel 553 1. 554- 5^3-

Hagemann 51 9-.

Halbhegelianer 519. 526.

Halbkantianer 436.

*Hall, G. St. 511.

Ilallier 439.

Hamann, J. G. 271. 272.

*Hamberger 409'.

Hamerling 14. 471^-

*Hamilton, W. 493. 494'. 498. 499. 508.

509. *Harras 527. *Hamack, Ad. 567. Harris, W. 511. *Harrisson, Fred. 489. *Hartenstein 462. Hartley 159. 160 161. *Hartmann, Ed. V. 14. 16. 310I. ^yo. 477.

513 Anm. 516. 51S. 520. 540 544. 557.

564. Hartsen 516. Harvey 89. *Haym 103. 272 Anm. 291. 315 Anm.

536 Anm. 563. Hazard 509. Heereboord 103. *Hegel VII. 2. 3. 5. 6. 13. 14. 16. 42

74. 250. 256. 267. 270. 312I. 34^^ 376

377. 383. 386. 387- 388. 395'- 397 403. 405. 408. 409. 410. 413. 418 422-435. 436- 437- 44o. 444- 449

462. 471. 476. 478. 490. 500. 506. 507 510. 514. 516. 517. 518. 519. 520. 523 524. 526. 527. 528. 529. 530. 331. 535 540. 545- 555- 556. 557- 57i- 578i.

Hegelianer 470. 513. 518 f.

Heiberg 514.

Heinrich, W. 562.

*Heinze, M. 567.

Heidane 507.

Hellpach 534. 562.

*He]mholtz 291. 534^. 545. 550. 551.

552. 553'- HelmoDt, van (Vater) 26. 30I. (Sohn) 26. 237 1.

Helvetius 212. 219 220. 221. 223. Hemert, v. 515. Hemming 42. Hemsterhuis, Fr. 514. Hennings 219. 287^. Henri, V. 562. *Heasel 563. Heraklit 366. 568. *Herbart6. 13. 290. 309. 436. 437. 438'.

440. 441. 442. 443. 444. 445 462.

463. 464. 530- 531- 533- 535- 540. 557- 571-

Herbert, Graf von Cherbury 17. 41. 70.

bis 71. 137I. 164. 209. Herder 42. 227. 268'. 271. 272 274. 275.

287. 290. 388. 390. 391. 400. 419. Hering 534I.

Hermann, C. 564. 565.

Hermes 440.

Herrmann, W. 566.

*Hertlirg, v. 568.

Hertz. Heinrich 552.

Herz, M. 266. 286.

Heusde van 515.

Heydenreich 266.

*Heyder 527.

Heyman 516.

Hildebrand, Adolf 564.

Hildebrand, F. 560.

Hill, D. J. 511.

Hinneberg 565.

Hinrichs 519.

Hirn, Y. 509.

Hirnhaym 257.

Hirzel 568.

Hissmann 219. 266.

Hobbes 12. 16. 17. 35. 36. 50. 55. 63

bis 70. 71. 72. 77. 95. 118. 124. 153. 157- 159- 162. 170. 171. 179. 207.211.

257- Hodgson, Shadw. 507. Hoekstra 516. Hoene-VVronski 516. Hoffbauer 266. *Höffding, H. 514. *Hoffmann, Franz 409. *Höfler 562. 576. Höijer, B. 512. Holbach, von 161. 212. 221. 222. 223 bis

226. Hölderiin 386. Home 210. Homer 3. 139. Horvicz 561. Horwäth 517. *Hotho 519. Howison 511. *Huber, Joh. 527. Huber, U. 36*. Huet(ius), P. D. 45. 132. Hufeland 361.

Humboldt, Wilh. v. 364—365. Hume 15. 72. 84. 159. 169. 170. 171. 179.

180. 181. 182. 193—208, 209. 210.

211. 212. 274. 277. 282. 290. 291. 293*.

313. 314. 362. 491. 494. 504^- 505-

506. 548. 568. 570. Hungar 266.

Husserl 530 Anm. 5525. 561. Hutcheson 175. 179 181. 209. 210. 506. *Huxley 504 505. Huygens 234.

Ibbot 166. Irwing 219. 266.

*Iacobi iq6i. 209. 227. 265^ 268. 271. ' 272. 274—276. 362. 370. 373- 380». 387. 400. 412. 422. 436. 437- 438- 439- 440, 566.

38*

596

Namenregister.

Jäger, G. 553'. jakob, L. H. 266. James, W. 506. 511. 561. *Janet, F. 490. yansenisten 126. Jean Paul 27 1'. 360. 422. Jerusalem, W. 562. 563. Jesuiten 42. 126. 127. 478. *Jcvons, St. 508. Jheriüg, R. v. 559. *Jodl 562. 568. *Joel, Karl 568. Johannes v. Salisbur^' 568. Jouffroy 490. Jowett 509.

yunghegelianer 519. 520 f. 52S. Jungius 256.

*Kraus, O. 564.

*Krause, Albrecht 547.

Krause, E. 553'.

Krause, Friedr. 405. 408—409. 444. 513.

514. *Kreibig 564. Kries, v. 561. 562. *Krohn, A. 568. Kromau, K. 514, Krüger 266. Krüger, F. 563. Krug 445. *Kühnemann 568. *Külpe 534I. 562.

Kues, Nie. v., siehe Nicolaus von Kues. *Kym 531.

Kaftau 566.

*Kalweit 556 Anm.

Kames, Lord 210,

Kant 5. 6. 9. 11. 13. 14. 15. 16. 41. 45.

61 1. 72. 74. 75. 76. 84. 98. 99. lOI.

124. 136. 141. 153. 182. 187. 207. 216.

233. 236. 250. 260. 261. 262. 265. 270.

271. 272. 273. 274. 275. 276—361. 362.

363. 364. 365. 366. 367. 370. 371. 372.

373- 378. 379'- 3801. 381. 382. 3S8.

390- 391- 395^- 396- 401. 402. 410.

412. 414. 418. 421. 422. 423. 425. 426.

432. 436. 437. 438. 439. 440. 442. 443^-

444. 445. 447. 448. 451. 453- 454- 461.

465. 476. 477. 4893. 490 Anm. 491. 4922.

493- 497. 499- 506. 507- 510- 512. 513.

514. 515- 516. 520. 5292. 535I. 536 Anm.

538. 540. 541. 544. 545. 546. 547. 548.

551- 553* 555-566. 570. 571- Kauft mann 551. Keut, G. 514. Keppler 29. 32. 50. 51 52, 159. 256.

422. Kidd 506.

Kielmeyer 388. 391. Kierkegaard 16. 514. Kieser 405. * Kinkel 548. Kinker 515. Kirchhoff 550. *Kirchmann, v. 531. Klein, G. M. 405. Klinger, Max 564. *Knauer, V. 530. *Knoodt 530. Knutzen 262. Komensky 26 1. *König, Edm. 540. 548. *Köstlin, K. 520. *Koppelmann 548. Koppernikus 31. 32. 50. 52. 53. 54. 88.

323- Kowalewski 562. Kozlow 517.

■■•-"Laas 548. 549.

Labriola 477.

La Bruyere 219I.

Lachelier, J. 491.

Ladd, G. 511.

Laertius 532. 472.

I.affitte, P.' 489.

Lagrange 223.

Lambert 262 263. 266. 2942.

Lamennais, F. de 489.

Lamettrie 212. 219I. 221 222. 223.

Lami 99.

La Mothe le Vayer 45.

Lamprecht 565.

*Land 516.

*Lange, Fr. Alb. VL 540. 545—546. 547-

Lange, J. J. 259.

Lange, K. 565.

Langer, P. 534I.

Laplace 284.

La Rochefoucauld 219I.

*Lask 5542.

Lassalle 526.

*Lasson 519.

*Lasswitz 548.

Laurie S. 509-

*Lavater 366.

Lavoisier SSi'*.

Law, W. 177 ^

Lawrow 517.

Lazarus 462. 55-;

Leclair 551.

Lefevre d'Etaples s. Faber.

Lehmann, A. 514. 562.

Leibniz, Friedr. (der Vater) 234.

Leibniz, G. W. 3. 5. 6. 11. 14. 15. 16.

181. 22. 23. 27. 29. 31. 32. 42. 52. 72.

75- 85. 95. 98. 99. 106. 107. 124. 136.

138. 1591. 173. 193. 216. 223. 233 256.

258. 259. 260. 262. 263 Anm. 264. 267.

268. 277. 283. 286. 293. 293'. 2942.

323. 388. 395I. 400. 412. 416. 419.

422. 423. 436. 452. 476. 4893. 492.

513. 513 Anm. 538. 568. 570.

Verzeichnis der Philosophen.

597

Leon 492.

*Leonhardi, v. 409.

Leopold 312.

Leroux, P. 490,

*Lessing 42. 253. 265 1. 266^. 267—271.

272. 283. 346. 398. 400. Leuwenhoek 248. Le Vayer 45, 132. *Levy-Bruhl 492. *Lewes, G. H. 504. Liberatore, M. 478. Libertiner 70^. Lichtenberg 265. Lichtwark 565. Liebig 58. 529.

*Liebniann 373I. 534'. 545 557. 358-559. Liademann 409. Lindsay 508.

Lionardo da Vinci 50. 608. *Lipps, G. Fr. 334. *Lipps, Th. 560. 561. 563. 364. 576. Lipsius, J. 26.

*Lipsius, R. Ad. 347. 566. 566'. Littre, E. 489. Livius 362. Locke 3. II. 36. 55. 64. 72. 74. 75. 84I.

131'. 134—158. 159. 164. 167. 169.

171. 1721. 174. 179. 187. 188. 189.

194. 195. 207. 208. 211. 212. 213. 214.

214'. 215. 216. 230. 233. 235. 249. 250.

231. 263. 264. 2931. 323. 441. 476.

509. 512. 570. Löning 568. Loisy 367. Lombroso, Ces. 479. Lopatin 317. Lorenz, O. 565. Lossius 219. 266. *Lotze 8. 16. 99. 237. 2832. 290. 309.

421. -430. 308. 311. 518. 527I. 329.

531- 533'- 535-539. 540. 547- 552-

533. 360. 566>. 572. Lucrez 31. 33. Lullus 31. Luther 16. 42. 46. *Lutoslawski. 516. Lutterbeck 409 1. Lyng 513.

Maal> 266.

Mach, E. 328. 349-550- 553--

^Lachiavelli 34. 36 38. 42.

Mackintosh, J. 493.

Maeterlinck 316.

*Maier, H. 568.

Maimon 362 363.

^laimonides, 104.

Maine de Biran 489. 490 .\nrn.

Maiuländer 471.

*Mainzer 476 1.

Maistre 4S9.

Malebranche, Nie. 74. 96. 127 131. 133.

191. 473. Mamiaui 478.

Mandeville 171. 177—178. 1S7. *Mausel 493. 498. 499. Marbe, K. 362. Marcus 3872. Marcus, E. 548. *Marheineke 519. Mariana, Juan 42. Mariano 478. Marsh, James 510. Marsilius von Padua 35. *Martensen 514. Martin 562.

St. Martin, L. Cl. 49. 410. Martineau, H. 504. Martineau, James 506. 508. 5092. Martini, Jacob 103. *Martius 562. Marty, A. 560. Marx, Karl 477. 526. Masci 478. Masham 135. Maudsley 509. :\Iaupertuis 212. 220. Mayer, Fr. 463. Mayer, R. 16. 551 552. *Medicus, F. 566. *McCosh, J. 493, 509. Meier, G. Fr. 262. ^leiners 265. 361. *Meinong 562. 364. 574. Melanchthon 42. [Nlelville, A. 36. Melzer 330.

Mendelssohn, M. 263. 266. 277'. 360 Merian 266. Merkel, A. 564. Mersenne 54. 64. 77. Merz 309.

Meumann, E. 562. 364. =^Meyer, J. B. 529. 545. Meyer, Victor 552^. *Meysenbug, M. v. 471. *Michelet, C. L. 519. Michelis 530 Anm. Mildapettus 56'. Mill, James (der Vater) 494. *Mill,"j. St. 16. 6i2. 161. 210. 489. 493.

494—497. 504- 515- 548 Milton 137. Mirabaud 223. Mises 332'. *Möbius 535. Molescbott 329. Monrad 513. 514.

Montaigne, de 12. 43 44. 57. 126. 510'. Montesquieu 158. 211. 212. 213 214. 230. Monzambano 257'. More 137I. 172 1. Morelly 213. Morgan, de 50S.

598

Namenregister.

Morgan, C. Lloyd 509.

Morgan, Th. 168—169.

Moritz 266.

*Morris, G. 510.

Morselli 478.

Morteira 10 1.

Morus, Th. 38.

Mosso, A. 479.

Müller, Ed. 568.

Müller, F. A. 534*.

Müller, G. E. 534^- 562.

Müller, Joh. 551.

*Müller, Josef 564.

*Müller, Max 508.

Münsterberg, H. 511. 534'- 562.

Multatuli (E. D. Dekker) 516.

Nahlowsky 462.

Naigeon 223.

*Natorp, P. 548. 566. $68.

Naumann, C. G. 472 Anm.

Nees von Esenbeck 405.

Nettesheim siehe Agrippa von Nettesheim.

Neudecker 530 Anm.

Neukantianer 516. 528. 541. 544 54S-

550 551- 555- 557- 560. 566. 571- Neiiplatoniker 9. 22. 24. 56. 192 Anm.

388. 397. 410. Neuscholastiker oder Neuthonnsien 440.

5292. Newton 15. 29. 52. 153. 159-160. I73-

211. 212. 214. 235. 283. 285. 2S9. 392. Nicolai 265. 361. Nicolaus von Kues (Cusanus) 12. 17.

18—24. 31- 33- 35- 5i- 7i. V- Nicole 126. Nielsen, R. 514. Niethammer 367.

*Nietzsche 6. 16. 471—475. 510. 525. 535. Niphus 27. Nizolius, M. 27. Noire 531. 583. Norström 512. Novalis 419. Novanticus s. Laurie. Nyblaeus 512.

Occam 35.

Occasionalisten 96—101. 106. 108. 130.

134. 242. 570. Ochorowicz 516.

Oechslein, Nik. (Taurellus) 27—29. Oersted, H. Chr. 514. ^Offner, M. 564. Oischiuger 530 Anm. Oken 39S. 405. 406. Oldenbarneveldt 39 1. Oldeuberg 568. Oldendorp 42. Opzoomer, C. W. 515. Oratorianer 127. Ormond 511. Osiauder 31 3.

*Ostwald, W. 5523. Oswald, J. 210. Öttingen, AI. v., 5532. Overbeck 471.

*Pabst, J. H. 530.

Paley 187.

Paracelsus 25, 26. 30'. 46. 47. 410.

Pascal 74. 126 127.

Patritius, Franc. 30.

*Pattison, A. S. Pringle 508.

Paul, J. 535.

*Paulsen 540. 546—547. 563.

Pe illaub e 492

*Peipers 568.

Pesch 5292.

Pestalozzi 266. 366. 445. 446.

*Peters 471.

Petrarca 15. 24.

Pfänder 562.

*Pfleiderer, E. 568.

*Pfleiderer, O. 347. 566.

Pflüger 562.

Phidias 3.

Philanthropus (Locke) 154. Philaretus 98. Pico, Franz 25.

Pico, Joh. 25.

Pierson 515.

Pillon 49 li^.

Pilzecker 562.

Planck, K. Chr. 530I.

Platner 265. 266.

Piaton I. 8. 9. 16. 22. 24. 25. 31. 122. 171. 365. 412. 413- 422. 461. 464- 509- 510I. 514.548. 567. 568. 571.

Platoniker 24—27. 137I. 172*.

Plethon, G. G. 24.

Ploucquet 262. 266.

Pöhlmann, R. 568.

Poiret 131 132. 1592.

Polybius 37.

Pomponatius, Petrus 27.

*Porter, N. 509.

Portig 527 1.

Positivislen ä.'Jf) - ^()2. 504. 546. 548—549-

550- 551- 555- 557- 560. *Prant], K. v. 568. Prat 491. ;, Prel, du 5531. Preobrajensky 517. Price i6o2.

Priestley 160 161. 208. *Pringle-Pattison 508. *Proast 154.

Protagoras 152. 499. 548. Pufendorf, S. 36. 136. 257. *Pünjer 566. Pythagoras 22. 31.

yuesnay 213. Quintilian 26.

Verzeichnis der Philosophen.

599

Ragnisco 478.

Ramus (Pierre de la Ramee) 27. 56.

Ranke 290. 565. 566.

Rationalisten 71. 72. 81. 153. 233. 264.

267. 270. 278 282. 460. 546. 570. Rauwenhoff 516. *Ravaisson 490. Raymund v. Sabunde 31. 43. Ree 553'. Regius 77. 97.

*Rehmke 539. 551. 561—562. *Reichlin-Meldegg, v. 545. Reid 208 210. 493. 509. Reiff 530 1.

Reimarus 266. 266 267. *Rein 462.

Reinhold, Ernst (der Sohn) 545. Reinhold, K. L. 216. 361 362. 363. 367.

368. 371. 372. 373. 437. Reischle 566. *Renan 491. Renery 97. Renouvier, Chr. 491. Reuchlin, Joh. 25. 56. Reville, Jean 492. Reynaud J. 490. Ribbing 512. * Ribot Th. 492. 561. Richter, J. P. Friedrich siehe Jean Paul. ^Richter, Raoul 568. *Rickert 539. 5542. 555. *Riehl, AI. 528. 548—549. 560. 564. Riemaun 552. Rio, 1. 3. del 408. Ritschi, A. 566. 566 1. Ritschi, Fr. 471. Ritter, Constantin 568. *Ritter, H. 421. Rivers 508. *Rixner 405. Robinet, |. B. 223. 489. *Rocholl '565. Röder 409. Rohde I. 568. Rohmer, Fr. 530*. Rokitansky 52. 545 1- Rolph 553I. Romagüosi 476. Romanes 505. Romantiken- 375 Anm. 412. Röscher 559. Rose 530'.

Roseukrantz, W. 530 Anm. ^Rosenkranz, K. 519. Rosenthal, Is. 561. Rosmini 476. 477 478. Rothe, R. 421. Rousseau 13. 15. 16. 35. 36. 42. 73. 74.

81. 127. 158. 193. 194. 212. 213. 220.

222. 227—233. 271. 289. 2931. 348.

382. 512. 535. 546. Roy, van (siehe Regius) 97.

Royce, J. 510. Rüdiger 263 264. Rüge, A. 519. Ruskin 506 1. Ruysbroek 46. Rydberg 512^.

Sabatier, Aug. 492. 566 1.

Sachs, H. 562.

Sahlin 512.

Saint-Simon, H. 222I. 479. 480^. 4861.

487. 526. *Saisset 490. Salisbury 493. Salter, W. M. 511. Sanchez, Frz. 45. Sanford 511. Sanseverino 478. Sarisberiensis, Joh. 568. Saussaye, Chantepie de la 516. Savonarola 362. 37. *Schaar5chmidt, K. 568. Schaefer, Dietr. 565. Schäffle, A. E. Fr. 5533. Schaller 519. 529. *Schärer 530I. *Schasler 519. Scheffler 257. Scheibler 103. Schelling 6. 7. 8. 16. 49. 74. S5. 273.

274. 300. 3221. 360. 377. 386 405.

407. 412. 415. 422. 424. 425. 426. 430.

436. 437- 445- 506. 527. 528. 530 Anm.

540. 571- Schelver 405. Schiller, Fr. 15. 16. 276. 290. 339. 356.

360. 361. 364. 3951. Schiller 505. 511. Schlegel, Aug. Wilh. 368. 387. Schlegel, Fr. 368. 375 Anm. 412. Schleicher, A. 553*. Schieiden 439. Schleiermacher 5. 16. 102. 105^ 1252.

289. 347. 368. 406. 411—421. 437- 44°-

520. 556. Schmekel, A. 568. *Schmid, Leop. 527. Schmidkunz, H. 562. Schmidt, K. (Stirner) 525. Schmidt, L. 568. Schmidt, O. 553*. Schneider, C. M. 5292. Schneider, G. H. 553^. Schneider, G. 568. Scholastiker 40^. 2942. 569. Schölten 516. *Schopeuhauer i. 3. 5. 7. 8. 16. 291.

292. 395^. 418. 436. 461. 462. 463 471.

472. 473. 477. 513. Anm. 520. 535. 540.

547- 557- 571- Schoppe, Kaspar (Scioppius) 26.

6oo

Namenregister.

Schotlische Schule 187. 208 211. 227.

490. 509. Schubert, G. H. 405. 406. Schubert-Solderu, v. 551. *Schultze, Fritz 548. Scliulz, Job. (Schul(t)ze) 361. Schulze, G. E. (Änesidem-Schulze ) 362.

_^ 363- 373- 445- 463-

Schumann 562.

Schup]ie 551. 560. 563.

^Schurmann, J. G. 512.

Schütz 361.

Schütze 564.

Schwab 266.

*Schwarz, H. 562. 563.

*Sch wegler 520.

Schwenckfeld 46.

Scotus, Duns 78.

Search, Edward 161.

Secondat, Charles de (siebe Montesquieu).

Secretan 490.'-

* Seeberg 567.

Seiden 40 Aum.

Semler 267.

Seneca 41.

Seugler 445 1. 527.

Sennert, D. 50.

Sergi, Gius. 479.

Seth, A. 507.

Seth, J. 508.

*Seydel, R. 527 1. 536 Anm. 566.

Shaftesbury 135. 159. 166. 171. 174 177.

178. 179. 180. 206. 209. 214. 222. 293I. Shakespeare 32. 56. 210. 510I. 5193. 5274. Sherlock 166^. Sibbern, F. Chr. 514. Siciliani, P. 478 479. *Sidgwick, H. 509. Sidney 55I. 157. =^-Siebeck 52S. 567. 568. Siegel, K. 563. *Sigwart, Chr. 291. 536 Anm. 339. 340.

551"- 554^ 560. 563. 568. Silesius 257.

*Simmel, G. 563. 564. 565. 567. *Simon, Jules 490. Simon, Saint s. Saint-Simon. Skeptike7- ^^2)- 72. 127. 200. 207. 20S. 281. Smith, Ad. 171. 181 187. 484. Smith, John 172I. *Snell, K. 529.

Sokrates 122. 166. 233. 292. 567. 56S. 570. Solger 406. 407. Solowjew siehe Ssolowiow. *Sommer 562. Spaventa 478. Spencer 16. 207. 210. 489. 49 H. 493.

497—504. 509- 511- =;=Spicker 557 558. Spinoza 6. 14. 15. 16. 31. 33. 72. 78. 84.

85. 93. 96. 101-125. 126. 131. 1331.

135. 153. 165. 187. 223. 233. 236. 237.

238. 241. 251. 258. 267. 268. 272. 274.

275. 277. 290. 372. 388. 389. 397. 399.

400, 401. 412. 416. 478. 534. 538.

550 Anm. 554. 567. 568. 570! Spir 531. Spitta, H. 562. Spruyt 516. Ssolowjow 517. ^Stadler 548. Stahl, Fr. J. 406. Stallo, B. 5532. Stammler 548. Stapulensis 24. 27. * Staudinger 548- Steffens 3878. 388. 393. 398. 405. 406.

407. 514. Steffensen, K. 527. 565. Stein, H. v. 564 565. *Stein, H. v. (Rostock) 568. *Stein, L. 568. Steinbart 265. Steinthal 462. 555. *Stephen, L. 506. Stern, Jaques 564. Stern, Wilhelm 563. Stern, William 562. Sterne, C. 553^ Sterret 510. Stewart, D. 187. 210. Stilling, J. 547. *Stirling, Hutch. 506. Stirner 525 526. *Stöckl 5292. *Stöhr 292.

*Störring 534I. 562. 563. *Stout, G. F. 507. 509. *Strauß 16. 472I. 518. 519. 520 522. *Strümpell, Ludwig v. 462. 536 Anm. 56S. *Struve 516. ^Stumpf, C. 539. 561. Sturm, Chr. 256. Stutzmann 405. Suabedissen 405. 408. Suarez, Fr. 103. Sully, J. 508. Sulzer 265. 266. Susemihl 568. Suso 46. Swedenborg 286. 510'.

*Taine 491.

Taparelli 478.

Tauler 46.

Taurellus 27 29.

Taute 459.

Teichmüller 516. 531. 568.

Telesius 30. 31. 33. 159.

Temple, W. 55. 56.

Testa 477.

Tetens 219. 265 266. 296. 361.

Thaies 14.

Thaulow 519.

Theophilus 105.

Verzeichnis der Philosophen.

6oi

*Thiele, G. 566.

*Thilo 462.

Thomas von Acpino 8'. 9. 23. 28. 33.

40I. 124 1. 4io._ 529. 531. Thomas a Kempis 46. Thomasius, Christian 234. 257 258. 25g.

260. 2Ö4. Thomasius, Jakob (Vater des Vorigen) 234. Thomson 508. ihorild 312. Thorold, J. 177'. Thümmig 262. Tiecli 368. Tiedemann 266. Tiele 516. Tillotson 166. Tindal 164. 167. litchener 511. 'Tocco, F. 477. *Tönnies F. 563. Toland 159. 164 165. Tolstoj 517. Toscanelli 22'. Tracy s. Destutt. TrahndorfF 530'. *Trendelenburg 283'. 291. 508. 509. 529.

530—531- 568. Trentowski 516. Treschow, Niels 514. -Tröltsch 5542. 567. Troitzky 517.

Troxler 405. 407. 408.

Tschirnhausen 258 259. Tschitscherin 517. Tucker, Abraham 161. Turgot 213. 222 <. 226. 480I. _j^S>-. Tycho de Brahe 54. Tyndall, J. 504 505.

■^Uebe

aerweg 443. 368. *Ulrici 444. 528. Unold 563. Uphiies, G. K. 363. Upton 508. Usener, H. 36S.

Vacherot, E. 491.

*Vaihinger 547.

Valla, L. 26. 256.

Vanini 31.

Vatke 519. 566.

Vayer 45. 132.

*Veitch, M. 493.

Venn, ]. 508.

\'era 478.

Vervvorn, M. 563.

Vico 475—476. 478. 479.

Villa, G. 479.

*Villari 479.

Virchow 553-.

Vischer, P'r. Th. 519.

Vives 26.

*Vloten, Vau 316.

Voetius 77.

Vogt, K. 528.

* Volkelt 520. 328. 547. 537. 5Ö2. 564.

565. ^'olkmann v. Volkmar 462. Volney 226.

Voltaire 211. 212. 214—213. 222. 5202. Voorthuysen, van 516. *Vorländer, Fr. 421. *Vorländer, K. 368. Vries, de 112.

Wagner, J. J. 405. 407.

Wagner, Richard 471. 472. 344.

Wagner, Rud. 328.

Wähle, Richard 350 Anm.

Waitz, Th. 462. 368.

=^-Wallace 507.

Wallaschek 363.

Walleser, M. 544.

*Walter Jul. 368.

Warburton 169.

Ward 306. 308.

Warreu 311.

Watson 310.

Weber, E. H. 532'. 533.

*Weber, Th. 530.

Weigel, E. 234.

Weigel, Val. 46. 47.,

Weinhold 462.

Weismann 301. 302. 303. 533'.

*Weiße 16. 527. 533.

Weißenborn 520.

Wenck, Joh. 18.

*Wentscher 339. 363.

Werder. Karl 319.

Wernick, G. 563.

Wette, de 439.

Whatelev 508.

Whewell, W. 493.

Whichcote 172'.

Whiston 166'.

Wieland 361.

Wildauer, Tob. 568.

-Windelband 354—555- 5^5- 568.

Winkler, B. 42.

Wirth, W. 334I.

Witasek 363.

*Witte, I. H. 562. 363.

Wolff, Chr. 13. 15. 72. 2361. 259-261,

263. 264. 265. 266. 267. 26S. 282.

287. 293 1. 296. 327. 330. 443. 346. WoUaston 171. 173 174. Woodbridge 312. Woolston 166 1. Worms, R. 491*. *Wundt, W. 16. 534'. 540. 554. 3;?. 559.

560, 561. 362. 363. Wwiedienskij 517.

602

Namenregister.

*Wyck, van der 515. Wyttenbach, D. 515.

Xenophanes 567. Xenophon 568.

Zabarella 27.

Zeising 519.

*Zeller 103'. 520. 536 Anm. 545. 56S 569.

Ziegler, H. E. 553 1.

*Ziegler, Th. 562. 563. 566. 568.

*Ziehen 534I. 551 562.

Ziller 462.

*Zimmermaun, R. 450. 462. 569.

Zöllner 5532.

Zoroaster 214.

Zwaardemaker 562.

*Zwermann 548.

II. Verzeichnis der zitierten Schriftsteller.

(Philosophiehistoriker, Kritiker, Kommentatoren, Biographen. Herausgeber, Übersetzer etc.)

Aars, Kristian B.R. 289. Abbott, 56. 571. 58. Adam 78. 479I. *Adamson 292. 369. Adickes 287 1. 288. 289.

2931. 553'- Albert 4722. Allan 509. Allier 491. Ancona, Al. d' 33 1. Andkeas-Salome 474. Antal, G. V. 514. Apel 289. 292. 5531. *Apelt 61 2, ♦Armstrong VIII. 5062.

5093. Arnold, G. 131 1. *Arnoldt, E. 2873. 289.

290. 339*- Ascher 491 1. Assezat, J. 2222. Aster, E. v. 289. Auerbach, B. 102. Auerbach, S. 236. *AvENARius, R. 103. 105.

528.

Baader 471- Bach, J. 46 1. Back 103. Bacmeister 541. BAHR 464. Baensch 263 Anm. *Bain 495 Anm. Baku 54I.

Barach 32. 77I. 132. *Barth, P. 15. 16. 181. 479. 4801. 4842. 491*. 503. 526. 528. 5533. bärthold 514i. Bartholomäi 446. *Barzellotti 491 3.

*Bauch, Br. 289. *Baumann 13. 15. 409I. 5172. 536 Anm. 55oAnm.

553'- *Bäumker 197'. Baur, D. A. 492. Beauchamp 494 Anm. Becelaire, L. van 5093. Beckers, Hubert 3873.

388. Beeger 26 1. Beer, Th. 550 Anm. Belart, H. 474. Belger 568. Bendavid 292. Bender, W. 421. Bendixen 5142. 5143 *Beneke 464. 494 Anm. Benoit, V. 136. Bensow 369. Berduschek 362. Berger 364*. ♦Bergmann 13. 114I. 289.

528. *Bernouilli 263 Anm. Bertrand 4898. Beth 421. Beyersdorff 32. Bezold, f. V. 15. 353. Biedermann, Fr. K. 14. Biedermann, Otto 104I. BiLLEWicz, J. V. 530I. Bindseil 42 1. Birch 54I.

Bluntschli 15. 530'. Bodemann 236. Böhmer 58. 102. 103. *Böhringer 289. BöTTE 289.

BÖTTGER 464. 508.

*Bois-Reymond, DU221I.

5044.

Holin, W. 522I.

Bollert, Martin 289. *Bonatelli 4761. Bontekoe 97. 98.

*BoRELIUS, J. 479'.

Borgeaud 230'. bornstein 2623, borowski 292. *bosanquet 535. BOSSUT 1261. BOUILLIER 78. 127. BOURNE 136. 137!. *BOUTROUX 127. 292. 490. BOWRING 4933.

Brahn 289. ♦Brandes, G. 4892. ♦Brandis 412. Brasch 445 1. Brastberger 292. Bratuscheck 5302.

BREDE 2002.

Bresslau 257 1. Bretschneider 42 1. Brockerhoff 228 1. Brömse 236. Bröring 262. Brütt 479. Bruder 102. Brunnhofer 32. Buchenau 237. Buchner 28^9. Buckle 54 1.'

BÜLOW, Frieda von 473' . ♦Burckhardt, J. 15- Burton 194 Anm. Busch 464.

BusoLT 102. iioi. 112'. ♦Busse 103. 289. 307 1.

504. 5093. 528. Butler. N. M. 512.

l»AIRD 292.

♦Calderwood 194 Aum.

Verzeichnis der Schriftsteller.

603

CAMERER 102. 105'. 12$2.

Campagnac 1721. *Cantoni 292. 478. Capesius 239'. 446. Careil (s. Foucher). Carls, Wilh. 2631. *Caro, E. 489 1. *Carriere, M. 15. 369. Carstanten, f. 549. *Carus, P. 512. Carus, V. 497. 498. *Caspari, O. 536 Anm. Cassirer, Ernst 237. *Chalybaeus 14. 429. Chamberlain 292. Chelius, ¥r. 536 Anm. Christ, W. 5273. Christ, P. 541. Claassen, J. 48 Anm. *Clarke, Samuel 551. Clasen, H. 555'. *Class 246. Clemen, P. 506'. Clerselier 78. CoccEji 39 1.

*COHEN 277I. 2S9. 292. *COHN 15. COLERÜS 103.

Collins, f. H. 497. COLLINS, W. L. i8ii. *COMMER, E. 5292.

COMPAYRE, G. 194 Anm. Cornelius 462. corvin, r. x. 158. Courtney 495 Anm. *CousiN 78. 126'. 127.

136. 292. 4893. couturat 236. 237. Cracken, M. 509. Credaro, Luigi 476'. Crusius, O. I. 568. CuRTis, M. 3093.

D AMI RON 213

Danzel 2622. Daxer 289. Deichmüller 181. Delbos 103. *Delff, H. 272. Denhardt 229. Denifle, H. 46 1. Dennert 506. Desdouits 292. *Dessoir 15. 16. 161. 266. Deter 16. *Deussen 4S Anm. 289.

313- 474- 555'- Diebow 421. Dieterich, K. 289. Dietrich, Aug. 491 3. DiETZ 530'. Dillmann 236.

*Dilthey 9'. 14. 15. 33.

42I. 65. 702. 2873. 288.

289. 3631.365.421.5061. Dinger 471. DippE 5523. Disselhoff 272.

*DüRNER 289. 514^

Douglas 495 Anm. Dressler 440. *Drews 14. 290. 475. 540. Dreydorff 127. *Drobisch 136. 290. 446. Droz 127.

Druskowitz, Hel. 331. *Dühring 14. 33. 351^. durdik i39i.

DUTENS 236. DUVAL 333.

Dwight 309. Dyrenfurth, W. 43 1.

Eck, Sam. 16. 363. 5203. Eisler 16. 539'. Elbogen 103. Eleutheropulos 14. 262J. Ellinger, G. 362. Ellis 38. Ellissen 3433. *Engels, Fr. 326^. 331. Enoch, \V. 561. *Erdmann, Benno vi. 13.

137^- 153- 20o2. 236.

2621. 287'. 288. 290.

517-. 519*- *Erdmann, J. Ed. \ I. 9.

13. 461. 83. 112. 214.

233. 236. 239I. 261.

292. 293^ 375 Anm.

406. 464. 3172. *Erhardt, Frz. 290. Erxleben 161. esslinger 365 1. *Eucken SK 13. 16. 181.

25'- 51'- 55- 98^ 992. 1251. 1321. 259. 290. 4081. 423. 445'. 479. 5272. 529». 5302.

Fairbrother 3062. Falckenberg, K. 14. 16.

i8». 292. 3301. 3381.

468I. 528. 536 Anm.

5452- 5552. 557'- 568. Falkenheim 290. F'augere 126'. Favaro 32 1. Fechner, H. A. 47 1. Fechtner, Ed. 136. *Feder 236. Feis, J. 506 1. Feller 236.

*Ferrari, G. 473*. Ferraz 479^ *ferri, L. 478. Fester, R. 13. 36. 362. Festner 2632. *Feuerbah, L. 14. 132I. *Fichte, I. H. 14. Fickler, W. 423. *Fiorentino 301. 31.4761. *Fischer, KunoVI. 13. 58.

78. 104. 107 1. 112. 115.

1242. 131. 268 1. 2872.

28S. 289. 312. 3641.

383. 423. 437. 464.

*Fischer, E. L. 474. Fischer, L, 77'. Fischer, Th. A. 306'. Fleischer 131 1. *Flint 13. 480 1. *Flügel, O. 14. 446. Förster 290. förster-n1etzsche4722

••474-

*FORGE, DE LA 78.

*FoRTLAGE, Carl 14.292. 3402. 349. 085 436_

440. 464.

Foucher de Careil 236.

FOWLER 57. 58 1, 136.

173. I791.

Franck, A. 331. 479I. Francke, K. 510I. Frantz, K. 404'. *Fraser 136. 1871 209

Anm. *Frauenstädt 3874. 464. Frederichs 290. Frenzel 236. *Freudenthal 91. 16. 33.

103. 105. 192 Anm. 292. Fricker 290. Friedrich, Joh. 440. Fries, de 61 2. 136. Fromm 2873. Frommann, H. 464. Frothingham 310. Fuchs 421. 490'. Fürstenhagen 37'. Füller, Marg. 510'.

Gallwitz 474.

Gans 423.

Gardiner 309.

*Garve 187. 210'. 334'.

Gaspary 243.

Gast 472.

*Gaupp 16. 497. 303.

Geer, de 5161.

Gehrich, G. 316.

Geiger, L. 13.

*Geijer, R. 536 Anm.

Geil 1371.

6o4

Namenregister.

Gentile 477". * George 412. Gerhardt 235. 236. 365. Gfrörer 102. *Gierke 23 1. 35. 36'. 39.

401. 41. Gildemeister 272. Ginsberg 102.

GiZYCKI, V. 175, 203 1. 512.

552--

Gladstone 181 1. *Glogau 78. Göbel 194 Aum. Göpfert 98. Goldschmidt 292.

GOLDSTETN, JUL. I94 Alim. GOLLING 509.

golther, v. 541. *Gomperz, Th. 494^ 509. Gore, Canon 506.

*G0THE1N 33!.

Gramzow 440.

Grau 369.

*Green 194 Anm. 535.

Greenslet 197'.

Greiner, D. 290.

Grieve, A. 5062.

Grimm, Ed. 15. 64. 78.

99. 20o2. 474. Grimm, H. 510'. Griesebach 464. *Groos, K. 404'. Grose 194 Anm. *Grote, G. 494 Anm. *GROrENFELT VIII.

Gruber, H. 489'. Gruber, J. D. 236. Grün, K. 522'. Grünbaum 15. 530 Anm. Grüneisen 528 Anm. Grunwald 103. Grzymisch 103. Günther, S. 181. Güttler 701. 77 1. 4062. Guggenheim, M. 27. Guhrauer 236. 2562. *Gutberlet 127. 5292. *GuYAU 4922. Gwinner 464.

Hacks 552'. Haeghen, van der 9S. Hafferberg 361. Hahn, R. 236. *Hall 512. Halpern 4132. Hamann, O. 5522. *Hamberger 47'. Hamilton, E. 535. *Hamilton, W. 210. Hanne 516. Hanisch, R. 548^. ' Hardt, E. 491 3.

Harless, A. V. 47'. *Harms vi. 14. 274'. 369.

385. 392. 437. *Harnack, Ad. 15. Harnack, O. 364'. 365. *Harrison 504. ^Hartenstein 39'. 136.

236. 249 1. 28S. 445. 446. *Hartmann, Alma V. 5 ig'. *Hartmann, Ed.v. 1 5.2002.

236. 290. 292. 388. 4041.

423. 443. 445*- 474-

5172- 5301. 5522. Hartmann, Franz 252. Hasbach, W. 1812. 464. Hase, K. Aug. v. 367 1. Hase, K. Alfred 608. Hausegger, Fr. v. 471. Hausrat n 520». Havet 126'. *Haym, R. 272'. 365.

375 Anm. 387 1. 388.

421. 423. 424. 468. 540. Haymann 228'. Heath 58.

Hebler, C. 290. 495 Anm. Hecker 464. *Hegel, G. W. f. 112. Hegel, K. 423. Hegler, A. 46'-. 290. Heiland, K. 30'. Heineck 42 1. =i=HEiNZE, M. VI. 13. 78.

2652. 288. 461. 5453. *Helmholtz, A. V. 504^. Hemann 290, Henke 437. *Hensel 16. 494 Anm.

504. 506 1. 529 1. *Herbart 464. *Hertling, V. 78. 1371.

1531. 1721. Hertslet 464. Hesse, A. 504. Hessenberg 439'. Herzog 387. Heubaum 16. Heumann 536 Anm. Heussler Vil. 1 5. 53 1. 58.

61'. 107 1. *Heyder 369. 387. 404 ^ Heyse 407. Heym 266 Anm. HiCKS 4922. Hickson 550 Anm. Hingst 510I. Hirsch 252. 392'. Hoadley 173'. *Höffding 14. 16. 158. 2281. 2931. 481 1. 4922. 497- 503- 504'- 512'. 514. 514'- *Höfler 322 Anm.

Holder, A. 290. Hönigswald, R. 550 Anm. Hoffmann, A. 292. *Hoffmann, Franz 369. Hoffmann, H. 236. Hohlfeld 408'. Hollmann, G. 290. holtzmann, r. 42 1. Holzen 492'. Hoppe, Gerh. 262. Horneffer 474. hostinsky 446.

*HOTHO 423.

*HUBER, ]0H. 47'. 541.

Huber. Eugen 421. HuCH, RiCARDA 375 Anm. HusER 252.

*HuxLEY 164 .Anm. 486 1. HUXLEY, der Sohn 5048.

Ilberg 5202.

Imelmann 495 Anm. 508'.

Israel, H. 47.

Jachmann 292. Jack, W. 508. Jackson 508. *Jacobi 102. Jakob 194 Anm. Jakobs, Monty 516. Jacobskötter 266'. Jacobson 290. J.4GER, G. 136. Jager, P. 506'. James. G. F. 5062. "*Janet 479. Jansen, A. 228'. JÄSCHE 287. *Jevons, St. 495 Anm. *JODL 14. 16. 161. 194 Anm.

369- 387. 509^- 522'. *JOEL, K. 15. 5252. JOEL, M. 103.

JoHN, St. 136. Johnson, Ed. 217. 529. JoLY, H. 127. 128. Jonas 413. 421. Jonas 479'. Jones, C. 535. Judd 509. Juvalta 478.

Kaatz, H. 474. Kabitz, W. 369. Kahl, W. 78. Kaiser, K. 439 ^ Kaltenborn V. 42. *Kalweit 536 Anm. 5552. Kappes 209 Anm, Kastner, Lor. 5292. Kaufmann 15.

Verzeichnis der Schriftsteller.

605

Kayserling 2*^5 1. Kehrbach 288. 445. Keller, Ludw. 26 1. Kessinger, C. V. 5042. KiEsow 3 1 1 4. King, Lord 136. *KlNKEL 446. *KlRCHMANN, V. 39'. 58 1. 64. 78. I02. 136. 194

Anm. 236. 288. 420.

4842. 4S9. Kirchner i6. 236. Kleinpeter 305 1. 550

Anm. 552 1. 3332. Klopp, O. 236. *Knauer, V. 14. Knight 63. 194 Anm. *Knoodt 330. Koch, A. 91. Koch, Emil 349. Koeber, R. 16. 464. 340. Kögel, f. 336 Anm. Köhler, Max 65. König, A. 343'. *KöNiG, E. 13. 16. 61 1.

83 1. 263 Anm. 290. 479 1.

4^9^- 559- KÖNIG, R. 493. Königsberger 345'. körting, g. 13. Köselitz 4722. *köstlin 369. 423. 530i. Köttgen 194 Anm. KoLB 494 1. Kolubowsky 317.

*KoPPELMANN, W. 260.

Korsch 333. kortholt 236. Kothe 38 1.

*KRAtJS, Oskar 494 Anm. *Krause, Albr. 288. 292. *Kreibig, Jos. Cl. 13. Kretzer 474. Kroger 369. *Krohn, 'a. 4842. 3172.

526 Anm. 541. Kronenberg 292. 490'. *Kühnemann 103. 272'.

290. 364 1. KÜHN, E. 43 1. Kühtmann 4893. *Külpe 3172. 532 1. 3341. Kuhlenbeck 31I. 32. Kuhn 16. Kuntz, W. 13. Kuntze, J. E. 332'. Kurella, H. 4922. Kuttner, O. 316. Kvacsala 26 1. *Kym 369,

*Laas 290. Laban 464.

Lagarde de 31. *Land 97.98. 102. 3 14.3 16 1. *Lange, Fr. Alb. 13.332. 54. 341. 132. 1391. 221 1.

443- 517-- Larson 78. Lasch 421. *Lask, E. 370. *Lasson 31. 46 1. 48 Anm.

369- *Lasswitz 13. 16. 252.

30. 292. 332 1. Last 292.

Laurie, H. 209 Anm. *Lavater 219 Anm. Lechler 162I. Leder, H. 78. Lehmann, R. 464. Lehnerdt, M. 13. Leitzmann 363. *Leonhardi 408'. 409. Lepsius 263 Anm. Leschbrand 98. Lescoeur 127. Leser 290. 474. *LESsrNG 179. *Levy-Bruhl, L. 479. *Lewes 14. Lewels, M. 493 Anm. Lewkowitz 103. Lezius, Fr. 136. Liard 30S'. Lichtenberger 474. Liebe, R. 332'. *Liebmann, O. 189'. 289.

292. 324 1. 3402. 3522.

552^. Liebscher 44'. Lindau, H. 560. Linde, van der 102, Lindheimer, F. 548 1. Lindner 219. *LiPPS, G. Fr. 332 1. *LiPPS, Th. 194 Anm.

493 Anm. *LiPSius 443 1. 366. Lischewski 327 1. LiTTROW 493. LÖWE 78. 369. 385. Lohmeyer, K. 312. lommatsch 412. Lorenz, H. 333. Lorenz, Th. 464. 511-». LoTT 369.

*LoTZE 13. 424. 433. 329, LouRiE, OssiP 317. Lucas 103. Lucka 550 Anm.

LÜLMANN 14. 121'. 236.

290. 369. Ludovici, Karl Günther 236. 2591.

*LUTOSLAWSKI 316.

IUacaulay 37. Mackay 5252. *Maier, Heinrich 42'.

290. 292. 366. *Mainzer, J. 290. Manchot 316. Mangold 362. Manno 532 1. *Mansel 493 1. Makbach 364. *Marheineke 423. Marillier 4893. Marion, H. 2372. Marquardsen 497. Marquardt 203 2. Marshall 4922. *Martensen, H. 48 Anm. Martin, B. 408'. Martinak 136. ^Martius 292. Masaryk 194 Anm. Massari 4772. Masson 4922. Mattiesen, E. 136. Maurer 1041, Maxwell 171. Mayer, Ed. v. 464. *McCosH, T. 209 Anm.

509- Mecklenburg, W. 492 1. *Medicus 290. Meinhard 210'. *Meinong 194 Anm. Meinsma 103. Mekler 309. Mellin 292. Mengel 290. Menzel, Ad. 103. Menzer, P. 14. 16. 290. Merz, J. Th. 236. Messer 336 Anm. *Meumann, E. 339'. Meyboom 314. Meyer, Eugen 2002. *Meyer, J. B. VL 136. 290.

369- 443- 490'- Meyer, Ludw. 102. Meyer, P. 517. Meyer, R. M. 474. Meyer-Benfey, H. 316. *Meysenbug, Malvida

von 473'. Miaskowski 479. MicHALSKY, Otto 272 1. *Michelet, C. L. 14. 423.

INIlCHELIS, H. 464.

Michels 38 1.

MiCHELSEN 48 Anm. *Mill, J. St. 487. Misch 222 1.

*Moebius, P. 228 1. 464. 473-

6o6

Namenregister.

Molenaar 479. molesworth 65. molinier i26i. monchamp, g. 78. MooK 252, 5151- Moosherr 446. MoREAU 228 >.

MORLEY 213I.

*Morris 292. mosheim i72i. mühlberg 510i. MÜLLER, Ad. 536 Anm.

MÜLLER, H. 97'.

*MÜLLER, Josef 271 1. MÜLLER, Konrad 290. *Müller, Max 288. Müller, W. 26'. MÜNZ 292.

Natge 61 1. Nathanson 194 Anm. *Natorp 16. 50. 52 1. 53 1.

532. 78. 291. 446. 528.

550 Anm. Naville 4893. Nedich 508 1. Nelson, L. 439 ^ Nemes, Em. 517. Nerrlich, P. 27 ii. Neubert-Drobisch 461.

NEUENDORFF290.536ADm.

Neumann, A. 265. 5662. Neumann, W. 210'. Nettleship 5062. Niedermüller 194 Anm. *Nietzsche 464.

NiPPOLD 421. NOACK 16. 382.

Nolen 292. Norden 210'. Nostiz-Rieneck, V. 236.

Dehler, R. 475. Oettingen, Arturv. 52'. *Offner 219 Aum. Ohse 531 1. Olle-Laprune 128. Opel, J. O. 47. V. üppeln-Bronikowsky,

Fried. 516. Ortmann 51x3. Ossip-Lourie 517. *Ostwald, W. 5523. Otto 536 Anm.

Pabst 492 1. Pade, R. 262. PalÄgyi 5292. 561. Paoli 4772. Pappenheim 26 1. Passow 5042. *Pattison s. Pringle.

Paulinus 98. *Paulsen 15. 16. 194 Anm. 289. 290. 291.293I. 3071.

553^- Paulus 102. 387''. Pearson 505 J. Peip, A. 471. *Peipers' 535. Penjon 531. 535. Perez 266'. Pertz 236. *Peters 464. Petri 272. Petzold 549. Pfannkuche 506'. Pfeiffer, F. 46'. Pfennfgsdorf 566'. 5662. Pflaum 479. *Pfleiderer,Edm.99. 194

Anm. 236. 290. 3402.

506. 536 Anm. *Pfleiderer, O. 14. 267 1.

516. 541. 542I. Philippe, Leon 369. Picavet 369. 479 1. Pietsch, Theod. 1581. Planck, Ad. 4041. Platz 412. Platzhoff 4902. 491. Plitt 388.

Plümacher, Olga 541. Pöhlmann, H. 555'. PÖLITZ 288. Pollock, F. 505 1. Popple 154. Poritzky 221 1. ^Porter, Noah 509. *Prantl 27. 50. 515. Preiss 519. Presber, R. 464. *Pringle-Pattison 209

Aum. *Proast 153. Procksch 408 1. Prowe, L. 3i3. *Pünier vi. 14. 132. 290.

412. 479. 488. 493.

Quäbicker 290. 4132. Quast, Otto 194 Anm. 2oo2.

Rabus 16. 4072. Rall, H. Frank 236. Rand, Benj. 175. Raspe 235. 236. Ratjen 407. Rauschenbach 291. Rautenberg 210'. *Ravaisson 479 ^ Regler 446. Rehm 15.

*Rehmke 291. 541. Rehnisch 535. 536 Anm. Reich 464. Reichel 410 Anm. 495

Anm. *Reichlin-Meldegg , V.

369- Reicke 2873. 288. 291. *Rein 446. 4681. Reiner 128. Reininger 291. 303*. Remacle 509 1. Remusat, Cr. de 55. *Renan 197 1. Renner, Hugo 565. Reuchlin, H. 127. Reuschle 291. Reuter, H. 91. *Ribot 4922. Richter, P. 2002. *RiCHTER, R. 103. 127.

1871. 292. 475. Richter 5202. *Rickert 16. 367 1. Riedel 291. =*=RiEHL 16. 32. 289. 291.

2931. 474. 5081. 5451.

551'- 552- Riezler, S. 35'. RiG, J. 489. Rink 287.

RiNTELEN 236. RiTSCHL, O. 474.

Rittelmeyer 475. Ritter, Ad. 507'. *Ritter H. 13. 412. Ritter A. 221. *RixNER, 301 1. Robertson 65. 174I. 492^. *RocHOLL 15. Romundt 292. Roorda 514. roschlau 484 1. 488.

*R0SENKRANZ , K. 2222.

288. 387. 423.

Rosenthal, L. 363. Rossignol, Le 173'. Roth, Fr. 272. Roth, J. 272 1. Royce 511 2. Rüde 446. Rüge, S. 22 1. RuLE 5662. Runge C. 545 •• RuNZE 16. 510I. Russell 237. RUYSSEN 292. 479 1.

Saenger 16. 291. 494

Anm. 495 Anm. 506 1. Saftu 158. Saint-Hilaire 490 Anm.

Verzeichnis der Schriftsteller.

607

*Saisset 78. Sakmann 177 1. Salinger 103. Salits 291.

Sallwürk, E. V. 136. 446. Salome s. Andreas. Sanborn 5101. *schaarschmidt 78. i02.

103. 236. 292. 528.

Schalbruch 97 1. *ScHÄRER 136. Scharpff 181. *schasler 15. 433'.

SCHELER 291.

schelling, k. v.. a. 387. Schemann 464. ScHiEBLER 47. Schiel 494'. Schiele 412. 420. Schilling 236. Schindler, C. 123'. schirmacher, käthe

2142.

Schlapp 291. 354*. Schlüter 464. SCHMiD, A. 385 1. ScHMiD, E. 292. SCHMiD, Fr. AI. 289.

*SCHMID, LEOP. 445'. SCHMID, R. 5523. SCHMID - SCHWARZENBERG

28.

Schmidt, H. 47. Schmidt, 1. 510'. Schmidt, Karl 291. Schmidt, W. 508. Schmidt 505'. Schmiedel 527 1. Schmitt, E. H. 474. Schmoller 369. Schneider, G. E. 479. Schneider, O. 291. SCHOEL 446. Schoelermann 506'. Schönlank i6o2. *Schopenhauer 2872.

292. Schornstein 236. Schrempf 514I. Schröder 536 Anm. Schubert, E. 252. Schubert, Fr. W. 288. Schubert, J. iSi^. 365. Schuller, H. 102. *ScHULTZE, Fritz 13. 24 1.

486 1. 498. 5043. Schumann 136. *Schurman 293 1. Schwalbach, F. C. 77'. Schwarz, G. E. 268 1. SCHWARTZ, J. H. 536 Anm. *SCHWARZ, H. 78. 291. Schwedler, E. 536 Anm.

*SCHWEGLER VI. l6.

Schweizer 420. Schweitzer, A. 291. ScHwiNDT 5151. Scott, W. R. 1791. Seailles 491. *Seeberg 15. 136. 413'. Seibert 536 Anm. Selby-Bigge 1701. 194

Anm. Seltmann 257. Selver 236. Seydel, M. 464. *Seydel, R. 16. 464. 477-'.

5271. 529I. 541. Seyerlen, R. 530'. Seyfarth 97 1. Shew 541. Sibenlist 464. Siber 30'. *Sidgwick 5062. *Siebeck, H. 16. 46'. 1091.

365. 555'- Siebert 14. 5 i 72. 556 Anm. Siegfried 4913. Sierp 127. Sieveking 242. *Sigwart, Chr. V. 16. 25 1.

252. 32. 33'- 51'- 58.

6i2. 102. 103. Sigwart, H. C. 14. 1242. Silberstein 505 1. *SiMMEL 291. 474. *Simon, J. 127. Simon, Th. 536 Anm. Smith, W, 369. *Snell, Karl 159I. Snell 292. Sommer , H. 536 Anm.

541. ^''Sommer, R. 15. 1371. Sommerlad 471. Sorley 507. Spaulding 171'. Speck, 219 Anm. Spedding 53!. 57. 58. *Spicker, G. 268'. Spohr, 5163. *Stadler 289. Stählin söö*. Stange, C. 291. Starcke, C. N. 522". Staude, O. 2391. *Staudinger 291. Steckelmacher 291. *Stein, H. von 15. 365. *Stein, L. 15. 243. 97 1.

102'. 236. 2371. 2372.

474- Steinbeck 565 1. Steiner 365. 474. Steinhausen 33 1. Stern, A. 291.

*Stephen, L. 494 Anm.

495 Anm. 505 1. Stern, J. 16. Sticker 236. Stimpfl 508. *Stirling 292. Stock, O. 474. *Stöckl 14. *Stöhr, A. 291. Stölzle 405'. *Störring, G. 265^. *Stout 4923. *Strauss, Dav. Friedr.

2142. 2662. Strauss, Emil 52'. *Strümpell 446. *Struve 516. *Stumpf, C.:i4. 291. 545 1. Stumpf, T. 352. Sudhoff 252. 4772. Sybel 3i3. 353. 268'. 565. Szlavik 517.

' Taine 479'. 495 Anm. Tanner 78. Taubert, Agnes 541. *Thiele, G. 291. Thilly, Frank 841. *Thilo 14. 446. Thomsen 291. 440.

TiEFTRUNK 286. TiENES 474.

Tille 4722. TiSSOT 288. *Tocco 31. 32.

*TÖNNIES 16. 64 1. 65. 661.

103. 474.

TÖWE, K. 464. Traub 565 1. *Trendelenburg 16. 291.

369-

*Trültsch, E. 291. Tuch, 536 Anm. TuLLOCH 172'.

TWARDOWSKI, K. 78. TWESTEN 420.

Ueberhorst 291. *Ueberweg vi. 13. 102.

103. 187 1. 4761. 4791.

., 5172.

Ubinger iS'. Ufer 266.1 Ullrich 292. *Ulrici 14.

*Vaihinger 283 1. 288.

289. 290. 291. 293 1.

2982. 315 Anm. 474.

529. 540. 545 1. Valentiner 291.

Vannerus, Allan 512».

6o8

Berichtigungen und Zusätze,

=5=Veitch 493 1. Venetianer 541. Vetter 497. *ViLLARi 362. Villers 292. ViscHER, R. 5193.

ViTELLI 31.

*Vloten, van 102. Vogel 16. 365. Voigt 15. * Volkelt 14. 16. 107.

201. 272 Anm. 289. 364I.

4451.464.540.542I.559I. Volp 236.

VOLZ 236.

*Vorländer,Fr.VI 14.62. ^Vorländer, K. 14. 287.

287I. 289. 291. 292.

365-

"Waddington 27. Wagner 31. Wahn 536 Anm. Waitz, G. 387 1. Walden 57 1. Waldmann 474. *Wallace 292. *W alter, J. 291. 292. Wanke, G. 236. WÄNTiG, H. 479. Warmuth 127. Wartenberg 291. 536

Anm. 560I. Wasianski 292.

*Weber, Th. 292. Weber 516. Weber, Heinrich 272. Weber 475^. Weigand 474. Weill 479. Weiss, Br. 4132.

* Weisse, Chr. H. 292. Wendland, I. 566 1. Wendt, E. 236. Wentscher, Else 536

Anm. *Wentscher, M. 292. 536

Anm. Werckmeister 236. Werner, K. 1032. 475'.

476 1. Wernicke 504 1. Weryho, Lad. 517. Weston, B. 512. Weygoldt 541. Wieland, Rud. 272 1. Wiener, Ad. 272. Wiese 527. WiLHELMi 474.

WiLKE 158.

Willmann, O. 14. 446.

* Windele and VI. 13. 16.

471. 104. 214. 230. 265. 286.289. 291. 292.2931. 365. 518 Anm. 5542.561.

WiNTERNITZ 508.

WiNTZER 522 1.

*WlTTE 268 1.272 1.29. 2363.

Wohlgemuth 2 ig'. Wohlrabe 292 wolfers 159i.

WOLFF, E. 97 1.

WoLFF, James 608. Worms, M. 1971. Wreschner 2652. Wright 571. Wünsche 408 1. *Wundt 61 2. 292. 532'.

549- 551- *Wyck, van der, 514.

5x5'. 5I61. 5162

Wyneken 292.

Zange 292. Zart 2642. Zdekauer 491. *Zeller;Ed.V.VI. 13.16.

992. 132.220'. 2591. 261.

26S1. 292. 3402. 05g

375 Anm. 467. 520^. Zeitler 474. 491. *Ziegler 16. 38'. 474. *Ziehen 446. ZiMELS 194 Anm. Zimmer, F. 369. *Zimmermann, R. 15. 16.

181. 263 Anm. 292. 369.

385. 446. 452I. 5292. Zirngiebl 274'. 527. Zöllner 292. Zwanziger 292. *Zwermann 292.

Berichtigungen und Zusätze.

Seite 13 bei Windelband, Gesch. d. n. Ph., muß es statt ,,2. Aufl. i899' heißen: 3. Aufl. 1904.

Seite 15, letzte Zeile, ist hinzuzufügen: (DiltheY:) Die Funktion der Anthro- pologie in der Kultur des 16. u. x^. Jahrhunderts (Akad. 1904).

Seite 16 Zeile 28 bei „Kant von Paulsen" lies: (4. Aufl. 1904). Ebenda Zeile 35: Jodl's Feuerbach ist als Band 17 der „Klassiker der Philos." 1904 er- schienen.

Seite 46 Anm. 2 nach ,,Über ihn" ist einzuschalten: K. ALFRED Hase: Seb. Franck von Word der Schwarmgeist, 1869;

Seite 50 Zeile 12 ist als Anmerkung beizufügen: Über Lionardo da Vinci als Ästhetiker handelt James Wolff (Jenaer Dissert.) Straßb. igo'i.

Seite 51 Anm. i ist beizusetzen: Ernst Goldbeck, Keplers Lehre von der Gra- vitation (B. Erdmanns Abhh. Heft 6), Halle 1896.

Seite 65 Zeile II sind nachzutragen: ALBERT H. Abbott, Psychologische und erkenntnistheoretische Probleme bei Hobbes (Würzburger Diss.) 1904. Tönnies, Hobbesanalekten (AGPh. Bd. 17, 3) 1904.

Berichtigungen und Zusätze. 60Q

Seite 78 ist hinzuzufügen A. Hoffmann, Die Lehre von der Bildung des Uni- versums bei Descartes (AGPh. Bd. 17) 1904; das gleiche Thema behandelt Wilh. Krassmüller (Rostocker Dissert.) 1903.

Seite 103 Zeile 18 hinter „Ungedruckte" ist einzufügen: Freudenthal, Spinoza, sein Leben und seine Lehre, Band i: Das Leben, Stuttg. 1904.

Seite 136 Zeile 6 des Kleingedruckten ist hinter 1879 einzuschieben: und W. Freytag (B. Erdmanns Abhh. Heft 10) 1899.

Seite 223 Zeile 25 statt ,,aus der Pfalz" lies: aus Edesheim bei Landau in der Pfalz.

Seite 274 Anm. i ist beizufügen: Ernst Francks Erlanger Dissert. „Der Primat der praktischen Vernunft in der frühnachkantischen Philos." 1904 erstreckt sich auf Reinhold, Änesidem, Maimon, Beck und Jacobi.

Seite 289 Zeile 23 ist zu ergänzen: (E. Arnoldt:) Über den ersten Teil der ersten Antinomie der spekulativen Vernunft (Altpreuß. Monatsschrift Bd. 41) 1904.

Seite 290 ist nachzutragen: H. Kleinpeter: Kant und die naturwissenschaft- liche Erkenntniskritik der Gegenwart (VKSt. Bd. 8, S. 258 320) 1904. AuG. Messer: Kants Ethik, Leipzig 1904.

Seite 291 Zeile 5 nach 1900 ist beizufügen: (vergl. Ernst Steckelmachers Erlanger Dissert. : ,,Der transzendentale und der empirische Idealismus bei Kant 1904") ;

Seite 292 Zeile 18 ist zu ergänzen Busse (Ans])rache an die Königsberger Studentenschaft, ZPhKr. Bd. 124); ebenda Zeile 19 ist hinter Martius einzuschalten: Reininger (Das Wissen für Alle, Wien, Nr. 9 und 10); und hinter Windelband beizufügen : Dazu die Säkularbetrachtungen von Adickes (Auf wem ruht Kants Geist ? AsPh. 10, i), Baumgartner (Kathol. Schulzeitung, Breslau, Nr. 7 9), Lasson, H, Schwarz (Natur- und Geisteswissenschaft, Neue Jahrbb. für das klass. Alt.), Fr. Wiegand (Kant in Marburg, Hessenland Nr. 6 7), sowie die Artikel von Busse, Dorner, Uhl, Baumgart, Bezzenberger, Jeep, Franz Meyer, A. Kowalewski u. a. in den Abhandlungen ,,Zur Erinnerung an Kant", herausgeg. von der Universität Königsberg, Halle 1904.

Seite 292 Zeile 16 von unten vor Cantoni ist nachzutragen: Louis Couturat [La Philosophie des matkhiiatiqttes de Kant, Revue de Metaph. 1904);

Seite 423 ist am Schlüsse des Kleingedruckten anzufügen: JOH. Schubert, Hegels Religionsphilos. (in den „Philos. Aufsätzen" der Philos. Gesellschaft zu Ber- lin) 1904.

Seite 474 Zeile 10 von unten ergänze: Meta v. Salis-Marschlins, Philosoph und Edelmensch 1897.

Seite 475 Zeile 4 ergänze: OsKAR Ewald, N.s Lehre in ihren Grundbe- griffen 1903.

Seite 552 Anm. 3 ist hinter ,, Soest 1904" beizusetzen: Al. Höfler, Zur gegen- wärtigen Naturphilos. (Poskes Abhandlungen zur Didaktik und Philos. der Natur- wissenschaft, Heft 2) 1904.

Seite 564 ist am Schluß der 2. Anm. hinzuzufügen: (Volkelt:) Fausts Entwick- lung vom Genießen zum Handeln in Goethes Dichtung (Neue Jahrbb. für das klass. Alt.) 1903.

Seite 566 Zeile 3 ist beizusetzen: (Medicus:) Zur Philos. der Geschichte (Deutsche Monatsschrift, Sept.) 1904.

Seite 568 Zeile 16 ist einzuschieben: Wilh. Nestle: Euripides, der Dichter der griechischen Aufklärung, 1901.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl. 30

6o8

Berichtigungen und Zusätze.

*Veitch 493 1. Venetianer 541. Vetter 497.

*VlLLARI 362.

Villers 292. ViscHER, R. 519^.

ViTELLI 31.

*Vloten, van 102. Vogel 16. 365. Voigt 15. *Volkelt 14. 16. 107.

201. 272 Aum. 289. 364I.

445 1.464.540. 542 1.5591.

VOLP 236. VOLZ 236.

*Vorländer,Fr.VI 14.62. *Vorländer, K. 14. 287.

287I. 2S9. 291. 292.

363.

Waddington 27. Wagner 31. Wahn 536 Anm. Waitz, G. 387 1. Walden 571. Waldmann 474. *Wallace 292. *W alter, J. 291. 292. Wanke, G. 236. Wäntig, H. 479. Warmuth 127. Wartenberg 291. 536

Anm. 560I. Wasianski 292.

*Weber, Th. 292. Weber 516. Weber, Heinrich 272. Weber 475 1. Weigand 474. Weill 479. Weiss, Br. 4132. *Weisse, Chr. H. 292. Wendland, I. 5661. Wendt, E. 236. Wentscher, Else 536

Anm. *Wentscher, M. 292. 536

Anm. Werckmeister 236. Werner, K. 1032. 475 1.

476'. Wernicke 504 1. Weryho, Lad. 517. Weston, B. 512. Weygoldt 541. Wieland, Rud. 272 1. Wiener, Ad. 272. Wiese 527. WiLHELMi 474.

WiLKE 158.

Willmann, O. 14. 446. * Windelband VI. 13. 16.

471. 104. 214. 230. 265.

286. 289. 291 . 292. 2931.

365. 518 Anm. 5542.561. Winternitz 508. Wintzer 522 1. *Witte 268 1.272 1.29.2363.

Wohlgemuth 2101. Wohlrabe 292 Wolfers 1591. WOLFF, E. 97 1. WoLFF, James 608. Worms, M. 197 1. Wreschner 2652. Wright 571. Wünsche 408 1. *WuNDT 61 2. 292. 532 1.

549- 551- *Wyck, van der, 514.

5I51. 5I61. 5162

Wyneken 292.

Zange 292. Zart 2642. Zdekauer 491. *Zeller;Ed.V.VI. 13.16. 992. 132.220I. 259I. 261.

268 1. 292. 3402. o^g

375 Anm. 467. 520X Zeitler 474. 491. *Ziegler 16. 38'. 474. *Ziehen 446. ZiMELS 194 Anm. Zimmer, F. 369. *Zimmermann, R. 15. 16.

181. 263 Anm. 292. 369.

385. 446. 452I. 5292.

ZiRNGIEBL 274I. 527.

Zöllner 292. Zwanziger 292. *zwermann 292.

Berichtigungen und Zusätze.

Seite 13 bei Windelband, Gesch. d. n. Ph., muß es statt ,,2. Aufl. 1899-' heißen: 3. Aufl. 1904.

Seite 15, letzte Zeile, ist hinzuzufügen: (DiLTHEY:) Die Funktion der Anthro- pologie in der Kultur des 16. u. 17. Jahrhunderts (Akad. 1904).

Seite 16 Zeile 28 bei ,,Kant von Paulsen" lies: (4. Aufl. 1904). Ebenda Zeile 35: Jodl's Feuerbach ist als Band 17 der ,, Klassiker der Philos." 1904 er- schienen.

Seite 46 Anm. 2 nach ,,Über ihn" ist einzuschalten: K. Alfred Hase: Seb. Franck von Word der Schwarmgeist, 1869;

Seite 50 Zeile 12 ist als Anmerkung beizufügen: Über Lionardo da Vinci als Ästhetiker handelt James Wolff (Jenaer Dissert.) Straßb. igo'i.

Seite 51 Anm. i ist beizusetzen; Ernst Goldbeck, Keplers Lehre von der Gr.a- vitation (B. Erdmanns Abhh. Heft 6), Halle 1896.

Seite 65 Zeile 11 sind nachzutragen: Albert H. Abbott, Psychologische und erkenntnistheoretische Probleme bei Hobbes (Würzburger Diss.) 1904. TöNNiES, Hobbesanalekten (AGPh. Bd. 17, 3) 1904.

Berichtigungen und Zusätze.

609

Seite 78 ist hinzuzufügen A. HoFFMANN, Die Lehre von der Bildung des Uni- versums bei Descartes (AGPh. Bd. 17) 1904; das gleiche Thema behandelt Wilh. Krassmüller (Rostocker Dissert.) 1903.

Seite 103 Zeile 18 hinter „Ungedruckte" ist einzufügen: Freudenthal, Spinoza, sein Leben und seine Lehre, Band i : Das Leben, Stuttg. 1904.

Seite 136 Zeile 6 des Kleingedruckten ist hinter 1879 einzuschieben: und W. Freytag (B. Erdmanns Abhh. Heft 10) 1899.

Seite 223 Zeile 25 statt ,,aus der Pfalz" lies: aus Edesheim bei Landau in der Pfalz.

Seite 274 Anm. i ist beizufügen: Ernst Francks Erlanger Dissert. „Der Primat der praktischen Vernunft in der frühnachkantischen Philos." I904 erstreckt sich auf Reinhold, Änesidem, Maimon, Beck und Jacobi.

Seite 289 Zeile 23 ist zu ergänzen: (E. Arnoldt:) Über den ersten Teil der ersten Antinomie der spekulativen Vernunft (Altpreuß. Monatsschrift Bd. 41) 1904.

Seite 290 ist nachzutragen: H. Kleinpeter: Kant und die naturwissenschaft- liche Erkenntniskritik der Gegenwart (VKSt. Bd. 8, S. 258 320) 1904. Aug. Messer: Kants Ethik, Leipzig 1904.

Seite 291 Zeile 5 nach 1900 ist beizufügen: (vergl. Ernst Steckelmachers Erlanger Dissert.: „Der transzendentale und der empirische Idealismus bei Kant 1904");

Seite 292 Zeile 18 ist zu ergänzen Busse (Ansprache an die Königsberger Studentenschaft, ZPhKr. Bd. 124); ebenda Zeile 19 ist hinter Martius einzuschalten: Reininger (Das Wissen für Alle, Wien, Nr. 9 und 10); und hinter Windelband beizufügen: Dazu die Säkularbetrachtungen von AdicKES (Auf wem ruht Kants Geist? AsPh. 10, i), Baumgartner (Kathol. Schulzeitung, Breslau, Xr. 7 9), I.asson, H. Schwarz (Natur- und Geisteswissenschaft, Neue Jahrbb. für das klass. Alt.), Fr. Wiegand (Kant in Marburg, Hessenland Nr. 6 7), sowie die Artikel von Busse, Dorner, Uhl, Baumgart, Bezzenberger, Jeep, Franz Meyer, A. Kowalewski u. a. in den Abhandlungen ,,Zur Erinnerung an Kant", herausgeg. von der Universität Königsberg, Halle 1904.

Seite 292 Zeile 16 von unten vor Cantoni ist nachzutragen: Louis CoUTURAT ( La Philosophie des jiiathematiqjies de Kant, Revue de Metaph. 1904);

Seite 423 ist am Schlüsse des Kleingedruckten anzufügen: Jon. Schubert, Hegels Religionsphilos. (in den ,, Philos. Aufsätzen" der Philos. Gesellschaft zu Ber- lin) 1904.

Seite 474 Zeile 10 von unten ergänze: Meta V. Salis-Marschlins, Philosoph und Edelmensch 1897.

Seite 475 Zeile 4 ergänze: OsKAR Ewald, N.s Lehre in ihren Grundbe- griffen 1903.

Seite 552 Anm. 3 ist hinter ,, Soest 1904" beizusetzen: Al. Höfler, Zur gegen- wärtigen Naturphilos. (Poskes Abhandlungen zur Didaktik und Philos. der Natur- wissenschaft, Heft 2) 1904.

Seite 564 ist am Schluß der 2. Anm. hinzuzufügen: (Volkelt:) Fausts Entwicl<;- lung vom Genießen zum Handeln in Goethes Dichtung (Neue Jahrbb. für das klass. Alt.) 1903.

Seite 566 Zeile 3 ist beizusetzen: (Medicus:) Zur Philos. der Geschichte (Deutsche Monatsschrift, Sept.) 1904.

Seite 568 Zeile 16 ist einzuschieben: Wilh. Nestle: Euripides, der Dichter der griechischen Aufklärung, 1901.

Falckenberg, Neuere Philos. V. Aufl.

39

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■^T ~'"" ■:.'<?^" Lle,^'

Verlag von VEIT & COMP, in Leipzig.

HILFSBUCH

ZUR

GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE SEIT KANT

von

Dr. Richard Falckenberg,

ord. Professor der Philosophie an der Universität Erlangen.

gr. 8. 1899, .-^1^- I ^^- 40 Pf-' g^^- ""^ Ganzleinen i M. 80 Pf.

ÜBER DIE GEGENWARTIGE LAGE

DER

DEUTSCHEN PHILOSOPHIE,

Akademische Antrittsrede

gehalten von

Dr. Richard Falckenberg,

ord. Professor der Philosophie an der Universität Erlangen, gr. 8. 1890. geh. 60 Pf.

Verlai,- von VEIT & COMP, in Leipzig.

DIE LEBENSANSCHAUUNGEN

DER

GROSSEN DENKER.

Eine Entwickelungsgeschichtc des Lebensproblems der Menschheit

von Plato bis zur Gegenwart.

Von

Rudolf Eucken.

Fünfte, umgearbeitete Auflage.

gr. 8. 1904. geh. 10 M., geb. in Ganzleinen II M.

Die „Lebensanschauuiige n" wenden sich nach InhalUund Form an alle Gebildeten. Sie bieten eine auf Quellenforschungen beruhende Darstellung der Überzeugungen der großen Denker von dem Inhalt und Wert, von den Bedingungen und Aufgaben des menschlichen Daseins. Das Werk ist ebenso geeignet, das, was im Laufe der Jahrtausende die grolSen Denker, auf deren geistiger Arbeit unser heutiges Denken und Fühlen beruht, über Wahrheit und Glück gedacht haben, dem Verständnis der Gegenwart in historischer Entwickelung näher zu rücken, als auch in den religiösen^ politischen und gesellschaftlichen Reformbestrebungen der Gegen- wart eine sichere Grundlage zur Gewinnung einer eigenen Überzeugung zu schaffen.

„Die Bücher, die uns in unserer ganzen diesjährigen Lektüre am meisten angesprochen haben und denen wir den Ehrenpreis erteilen würden, wenn ein solcher zu unserer Verfügung stände, waren: ,Die Lebensanschauungen der grossen Denker' von Prof. Eucken in Jena. Zweite Auflage, i8gj . . ."

CARL HILTY. (Polit. Jahrbuch d. Schweiz. Eidgenossenschaft. XI. Jahrg.)

DER WAHRHEITSGEHALT

DER

RELIGION.

\'on

Rudolf Eucken.

gr. 8. 1901. geh. 9 M., geb. in Ganzleinen 10 M.

. . . „Uns aber soll dies nicht hindern, auszusprechen, daß wir kein philoso- phisches Werk der letzten Jahrzehnte kennen, das in ähnlich universaler und bei aller Kühnheit und Energie besonnener Weise der Tatsache der Religion gerecht zu werden versucht hat." Deutsche Rundschau 1903, S. 154.

. . . ,,Sein Buch ist keine Religionsphilosophie, eine solche zu schreiben, ist, wie er richtig bemerkt, die Lage der Gegenwart zu verworren. Aber um so eindring- licher hat er sicli bemüht, ausgehend vom gesamten Lebensprozesse, unter Aufweis der Tatsache eines allumfassenden Geisteslebens die Wahrheit der Religion zu er- weisen und sie, zumal in ihrer Ausprägung durch das Christentum, über alle Angriffe zu erheben."

Deutsche Monatssclir. f. d. ges. Leben der Gegenwart. Erster Jahrgang.

Verlag von VEIT cV' COMP, in Leipzig.

ÜBER DIE GRENZEN DES NATÜRERKENNENS. DIE SIEBEN WELTRÄTSEL.

Zwei Vorträge von

Emil du Bois-Reytnond.

Des ersten Vortrages neunte, der zwei Vortr.Hge fünfte Aufl.ige. 8. 1903. geh. 2 M.

DER KAMPF

UM EINEX

GEISTIGEN LEBENSINHALT

Neue Grundlegung einer Weltanschauung.

Von

Rudolf Eucken.

gr. 8. 1S96. geh. 7.50 M., geb. in Halbfranz 9 M.

PRAXITELES.

Von

Wilhelm Klein,

o. ö. Professor der klassischen Archäologie an der deutschen Universität zu Prag.

Mit zahlreichen Abbildungen. Roy. 8. 1898. geh. 20 AI., elegant in Halbfranz geb. 23 M.

In dieser gediegen ausgestatteten, mit vortrefflichen Abbildungen in großer Zahl versehenen Monographie wird das Werk des von den Alten als größtem Marmor- bildner gepriesenen Praxiteles in geistvoller Weise aufgebaut und dargestellt.

VORLESUNGEN

ÜBER

N ATU R P H I L OSO P H I E

geh:ilten im Sommer 1901 an der Universität Leipzig. Von

Wilhelm Ostwald.

Z-weite Auflage. Lex. 8. 1902. geh. 11 M., geb. in Halbfranz 13 M. 50 Pf.

Die ,, Vorlesungen über Naturphilosophie" des berühmten Chemiliers, der auch ein hervorragender Schriftsteller ist, sind eine der interessantesten Erschei- nungen der letzten Jahre; sie werden in den Kreisen der naturwissenschaftlich denkenden Gebildeten sich wachsende Verbreitung erringen. Die ,, Vorlesungen" stellen kein Lehrbuch oder System dar, sondern sind das Ergebnis umfassender Er- fahrung bei Forschung und Unterricht, das durch die schöne Form, in der es ge- boten wird, eine außergewöhnliche Anziehungskraft auf den Leser ausübt.

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