HEUYEBOD Ri) Dig R N 3 N BER & SESBETSSLSSSSSBEDTOSOSSS 200200228060008009002008 26030202029020200009.228. 02.2358822°209020.0000002088 RTL KIT IN N 6900er 0092020908000 RL 0292899808092200000008 ZAHLT HL TEN EHRT, ELLE LLELLLLLLLLLLLLLLN SIoNY m er ENT GNG ZN ERERTENNE BE 0°200602990008988 8 Ko A DT IDIZS KR I > dr any Wr «or dr iv dr xy vr x ir dr Az Ir So ” Se VLNDNGN KR r KR PN * IT ISIZN Ss ; PR Kl 5. € e ® nn (=) Di . nn — | RR GESCHICHTE DER BIOLOGISCHEN THEORIEN SEIT DEM ENDE. DES SIEBZEHNTEN JAHRHUNDERTS Dr. EM! RADL IEEIT. 2 EIER LEIPZIG VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 1905 vr A A I, Alle Rechte, ins esondere das I rsetzung, ' VER OR T. Während die naturphilosophische Spekulation in der Mehrzahl ihrer Vertreter ihr Ziel durch Analyse entweder einer Reihe von Tatsachen oder eines bzw. einiger weniger philosophischer Systeme zu erreichen strebt, habe ich in dieser Arbeit die biologischen Theo- rien in ihrer geschichtlichen Entwicklung zu verfolgen unternommen. Daß dieser Versuch in mehrfacher Hinsicht mangelhaft geblieben ist, weiß ich selbst nur zu gut. Ich meinte ein ziemlich abgeschlos- senes Ganzes zu erhalten, wenn ich meine Studien auf die durch LEIBNIZ eingeleitete Periode beschränkte; doch erkannte ich bald, daß es zweckmäßig, ja geboten wäre, die unmittelbar vorangehende Periode wenigstens in großen Umrissen mit in Betracht zu ziehen, wenn die am Anfang des ı8. Jahrhunderts herrschenden biologischen Ideen historisch erklärt werden sollten. Die eigentliche Renaissance der Wissenschaft habe ich leider nicht mehr berücksichtigen können, weil eine derartige Gebiets- erweiterung eine erhebliche Überschreitung der dieser Arbeit ge- steckten Grenzen zur Folge gehabt hätte. Den dadurch bedingten Mangel verkenne ich keineswegs; ich verhehle mir auch nicht, daß ich eigentlich die historisch wie sachlich bedeutsamste Periode über- ging, indem ich PARACELSUS und VAN HELMONT außer acht ließ. Ein weiterer Mangel meines Werkes liegt darin begründet, daß ich als Zoologe nicht kompetent bin, über verwandte Gebiete der Wissenschaft ein Urteil abzugeben. In dieser Beziehung sah ich mich auf die Autoritäten angewiesen, deren Auffassungen ich, sofern ich sie teilte, im einzelnen Falle gefolgt bin. IV Vorwort. Außer vielen sachlichen Schwierigkeiten hatte ich auch mit meiner ungenügenden Kenntnis der deutschen Sprache zu kämpfen. Meine Schrift könnte nicht in dieser lesbaren Form erscheinen, wenn der Herr Verleger mir nicht die besondere Freundlichkeit erwiesen hätte, das Manuskript in sprachlicher Hinsicht korrigieren zu lassen. Ich spreche ihm dafür auch an dieser Stelle meinen besten Dank aus. Prag, 6. Juli 1905. i Dr. Em. Rädl. INHALT. Vorwort. Einleitung. I. Kapitel. Aristoteles und die Aristoteliker.. A. Aristoteles . B. Die Aristoteliker 1. A. Caesalpinus . 2. W. Harvey. 3. F. Glisson . 4. F. Redi II. Kapitel. Die Begründung der mechanistischen Theorien BAR Descartes. G. A. Borelli .. Friedr. Hoffmann . a Walhs....\n:.. © neun II. Kapitel. Die Anatomie im 17. Jahrhundert. 1. M. Malpighi 2. J. Swammerdam IV. Kapitel. Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien A. G. W. Leibniz B. Der Vitalismus . G. E. Stahl V. Kapitel. Die Biologen der ersten Hälfte des ı8. Jahrhunderts. . 1. Die Epigonen von Malpighi und Swammerdam . . 2. Die Ovisten und Animalkulisten. Die Lehren von den die Körpermaschine treibenden Spiritus . Seite IOoI VI Inhalt. Seite 3..Ch. "BOnnetk Sn 5.4 00 nahen sun ut 6 na 0m LE a: Bullon 21,2 so Sec ass vance, u, ee 0722 BB laler 2... NE Run 5 5550 01) 6. Der Verfall der Biologie Be Dabaie. ee v1 en Die Linn&sche Systematik ..... A . o. 1' I. Die Entwicklung der Systematik vor ne Se... 525 2. Karl von Linne. .. ee En a 3 OT 3. Die Ansichten über die Sexualität . A 0 0: VI. Kapitel. Begründung der epigenetischen Theorien (C.F. Wolf) ....... 150 VII. Kapitel. Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt ... 161 I. Die Theorien der Erde bis auf Cuvier. .. x...“ . . „SEE a) Geologische Theorien . . .». .2... 0.0 2.2 m R b) Paläontologische Theorien . . . ee HE 2. Entwicklung der genetischen Philosophie : im a ee ee RR 3. Der Übergang vom Leibnizschen Entwicklungsgedanken zur genetischen Auffassung der Nature age ee Nr): 4- Der Bruch mit der Religion . . ». . 2% 2 ern an u. Er IX. Kapitel. Begründung und Entwicklung der Morphologie . . . ....... 187 1. Begriff der Morphologie. . . ie 2. Die tierische Morphologie vor Crdier und Geoffroy St. -Hilaire ie De Ever ee a ken kennst ee.1e Ye r 4. Geoffroy St. -Hilaire NEE Rec 5 208 5. Die Schule Geoffroys . . . N. 5, 2 6. Die Entwicklung der bofanischen Metbhologie ni X. Kapitel. Der Vitalismus gegen Ende des 13. Jahrhunderts... .. .. 2 2207234 PIREBichat 222 0 2220 Se ee ee 2 2 Er XI. Kapitel. Die deutsche Nafurphilosophle-. 2. . 2 2.2.2 2 oiMiE Eee 1. Begriff der Naturphilosophie 7 u. !. 2 ==... 0 m A. Die Philosophen . 7 > » kW Wine ae Een = A 2..7. G. Herder. . ... 222 u 2a un 2 2 NE 77112, »erskant, 2% leer he 2 000 20 ee re 4. Fichte und Schelling ea ei ana ei. 5, ee u B. Die Biologen... . „au al wanna e, 6 Vo re BI KEUE, einer 0 ee ms =. 2: $ OEE 6. J. W;,Goethe. . 2... 0 er as ae ee Me 1 in BE SD u EU Er Aa nn 5 en eren Naturphilosophen . . . XII. Kapitel. 3 Se XII. Kapitel. 2. SE » ®, 1 az } ' ri 292 297 317 EINLEITUNG. $ ı. In dieser Geschichte der biologischen Theorien soll die historische Aufeinanderfolge und womöglich auch der innere Zu- sammenhang solcher biologischen Lehren geschildert werden, welche eine allgemeine Beachtung, sei es aus historischen, sei es aus sach- lichen Gründen, verdienen. Die neu entdeckten Tatsachen, sowie einzelne Hypothesen werden für uns nur insofern von Bedeutung sein, als sich bei ihnen eine beachtenswerte Beziehung zu allgemeineren Theorien nachweisen läßt. So werden wir die epigenetischen Theo- rien, die Lehre von der Seele der Tiere, von dem Vitalismus zu schildern haben, wir werden auch die Entdeckung der Spermatozoen und der ausgestorbenen Organismen beachten müssen; wir werden aber ferner auch außerbiologische literarische Erscheinungen beachten müssen, welche die Biologie beeinflußt haben, so z. B. die Lehren eines ROUSSEAU, HERDER u. a. Es ist viel Wahres an der heute so allgemein verbreiteten Über- zeugung, daß das Studium der Geschichte der Wissenschaft nicht in dem Grade den fortwährend nach etwas Neuem strebenden Geist befriedigt, wie ein gelungenes Experiment oder die Entdeckung einer noch unbekannten Tatsache. Das angenehme Gefühl, daß wir ex- perimentierend und beobachtend an der Entwicklung der Wissen- schaft selbst teilnehmen, fehlt beim historischen Studium, bei welchem wir uns begnügen müssen mit der Bewunderung und dem Registrieren dessen, was andere getan haben. Dazu kommt noch, daß wir kaum hoffen können, beim wiederholten Durchsuchen des schon hundert- mal von andern Gelesenen auf etwas überraschend Neues in der Geschichte der Wissenschaft zu stoßen. Trotzdem hat die Geschichte der Wissenschaft ihre sehr wichtige raison d’ötre. Wie alles auf der Welt, so hat auch die Biologie neben ihrer sachlichen Seite eine historische, d. h. der Inhalt unserer jetzigen Biologie hängt nicht nur von ihrem wahren Objekt, von der Struktur, Lebensweise, Entwicklung usf. der Organismen ab, Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. 1. Teil, f 2 Einleitung. sondern ist wesentlich auch von der Art abhängig, wie unsere Vor- gänger die Biologie aufgefaßt haben. Von NIETZSCHE ist bekanntlich der originelle Gedanke ausge- sprochen worden, daß das Studium der Geschichte geradezu lähmend auf die Originalität des schaffenden Geistes wirkt, daß man sich daher von der Wirkung der Geschichte emanzipieren soll. Diesem Gedanken kann seine Berechtigung nicht abgesprochen werden: wenn irgendwo, so soll man in der Wissenschaft frei und unabhängig — auch von der Tradition sein. Dies ist jedoch nur als ein Ideal mög- lich. Tatsache ist, daß, wenigstens in der Biologie, seit dem Ende des ı7. Jahrhunderts niemand es versucht hat, aus eigenen Kräften, ohne sich auf die Vorgänger zu stützen, die Biologie zu bearbeiten, und daß sich auch bei den originellsten und scheinbar unabhängigsten Geistern, wie DESCARTES, VESALIUS, KANT, CUVIER, nur zu deutlich Spuren der Einwirkung bestimmter Schulen nachweisen lassen. Die Aufgabe des historischen Studiums ist es, die historischen Ele- mente in unserem Wissen zu entdecken und danach das Material für die Unterscheidung des tatsächlich Begründeten von dem von andern Übernommenen zu sammeln, um auf diesem Wege zu einer freien Übersicht über das Gebiet der Biologie zu gelangen. Bei der Verfolgung jener Elemente kommt man namentlich auf zwei allgemeine Regeln: erstens, daß eine allgemeine Lehre nicht durch eine andere, ihr nachfolgende sachlich überwunden wird, son- dern daß sie sich überlebt, in Vergessenheit gerät, durch Asgitation, welche nur das Oberflächliche an derselben kritisiert, unterdrückt wird, überhaupt, daß eine solche Lehre nicht darum verlassen wird, weil man ihre Unrichtigkeit erkennt, sondern aus andern, nicht einfach logischen Gründen; und zweitens, daß die Geschichte des Denkens innerhalb der Biologie der Neuzeit keine bloße Aufeinanderfolge der Theorien darstellt, sondern, sofern man nur das Allgemeine im Auge behält, als eine Entwicklung der innerlich zusammenhängen- den Gedanken erscheint. Was den ersten Punkt anbelangt, so können konkrete Beweise erst an verschiedenen Stellen dieser Studie angeführt werden; hier kann nur beispielsweise bemerkt werden, daß ARISTOTELES durch die neuen Reformatoren der Wissenschaft, speziell durch die mecha- nische Richtung von DESCARTES, BORELLI u. a., zwar überwunden, aber nicht vernichtet wurde; denn in den Lehren von LEIBNIZ und STAHL erhob er wieder seinen Kopf. Der Vitalismus STAHLs wurde für tot gehalten, und es ist allgemein bekannt, wie er wieder neue Einleitung. 3 Anhänger gewinnt. Wer spricht heute von LEIBNIZ in der Bio- logie? Und doch werde ich zeigen müssen, wie in den neuesten theoretischen Versuchen die Gedanken dieses großen Philosophen wieder zur Geltung kommen. Oder man nehme das lustige Spiel mit der Präformation und Epigenese: ARISTOTELES war Epigenetiker, zur Zeit LEIBNIZens waren fast alle Biologen für die Evolution be- geistert, in der ersten Hälfte des ı9. Jahrhunderts kam wieder die Epigenese zur allgemeinen Geltung, in den achtziger Jahren des- selben Jahrhunderts wurde nochmals die Präformation verehrt, und eben schicken wir uns wieder an, der Epigenese zum Sieg über die Evolution zu verhelfen. Diese Schwankungen in der Überzeugung der wissenschaftlichen Welt können doch keinen andern Sinn haben, als daß, wenn die Lehre aufhört offiziell zu werden, dies nicht infolge ihrer Unrichtigkeit, sondern aus andern Gründen geschieht, welche in jedem speziellen Falle anzugeben eben die Aufgabe des Geschicht- schreibers ist. $ 2. Ich komme nun zum zweiten Punkt, zu der Behauptung nämlich, daß die Geschichte der Biologie im großen und ganzen eine Entwicklung der innerlich zusammenhängenden Gedanken darstellt. Die Tatsache der Entwicklung ist auf allen Gebieten des geistigen Lebens konstatiert worden: kein neuer Gedanke fällt aus seiner Zeit heraus, keiner kommt ganz neu und gleich anfangs vollständig auf die Welt; immer fängt er an mit Ahnungen, unvollständigen Ver- suchen, ein untergeordneter Teil eines Systems wird später zum Grundprinzip einer neuen selbständigen Lehre usw. Bis zum Über- druß hat man dies von der Entwicklungstheorie, von der Zellen- theorie, dem Artbegriff, dem Korrelationsprinzip und andern Lehren nachzuweisen gesucht. Auf den ersten Blick wirkt diese Tatsache der allmählichen Entwicklung überraschend; es haben auch so viele origi- nelle Köpfe bereits über die Natur nachgedacht, ein jeder hat sich bemüht, etwas Neues, Unabhängiges zu bringen, die Originalität ist doch die treibende Kraft des Naturforschers, und doch hat es bisher keiner vermocht, sich von der herrschenden Zeitrichtung zu emanzi- pieren! Man entdeckt leicht die Ursache dieser vermeintlichen Diskrepanz zwischen dem Streben nach Originalität und der Tatsache der un- unterbrochenen historischen Entwicklung. Einmal liegt dieselbe in der Ähnlichkeit der Geistesorganisation bei allen Menschen, infolge deren sie zu ähnlichen Resultaten gelangen müssen, wenn sie über ein ähnliches Thema nachdenken, und zweitens: durch das Streben ı* 4 Einleitung. nach Unabhängigkeit stellt sich der Forscher keineswegs außerhalb der herrschenden Richtungen, sondern lehnt sich noch inniger an dieselben an; denn man sucht nicht originell überhaupt zu sein, man bemüht sich vielmehr, etwas Neues in der Biologie zu ent- decken, und wiederum nicht in der Biologie überhaupt, sondern man will etwas Neues über das Centrosoma, über die Regeneration, über- haupt über ein gerade aktuelles Problem aussagen, und es ist leicht zu begreifen, wie man auf diese Art bei allem Suchen nach der Originalität in den herrschenden Strömungen bis an den Hals stecken bleibt. Es ist keineswegs nötig, sich zu den herrschenden Theorien be- jahend zu verhalten, um von ihnen beeinflußt zu werden: die Polemik gegen irgendwelche Anschauung impliziert bereits die Annahme, daß die verfochtenen Gedanken ihre Bedeutung haben, und indem ich meine Ansicht als die Negation der gegnerischen aufstelle, stelle ich sie eben dadurch in nähere Verbindung mit derselben. So z. B. polemisiert in der neuesten Zeit H. DRIESCH gegen den Darwinismus; er bleibt nichtsdestoweniger dem von DARWIN anerkannten Prinzip treu, daß die genetische Auffassung der Natur die wichtigste ist, und steht so DARWIN viel näher als etwa CUVIER. BUFFON, HALLER und LinnE waren Biologen von sehr verschiedener Geistesrichtung und haben einander nichts weniger als anerkannt; alle drei haben jedoch an den Satz »natura non facit saltus« geglaubt, welcher für ihre Zeit charakteristisch war. CUVIER und GEOFFROY haben sehr heftig polemisiert, beide aber haben die Morphologie (und nicht etwa die Entwicklungsgeschichte) als die höchste Stufe der Biologie auf- gefaßt — und solcher Beispiele könnte man eine beliebige Anzahl anführen. Diese Tatsache hat man nicht genug beachtet, und dies hat zu mehreren Unrichtigkeiten geführt. Daraus, daß BUFFON nicht die Bedeutung LinNEs anerkennen wollte, hat man gleich schließen wollen, daß BUFFON ein »Vorläufer DARWINs« war, und aus ähn- lichem Grunde wurde GEOFFROY zu einem Darwinisten, CUVIER zu einem Gegner des Darwinismus gemacht, obwohl es, wenn man es ruhig erwägt, sehr naiv ist zu glauben, daß BUFFON und GEOFFROY schon darum, weil sie nicht an LINNE und CUVIER geglaubt haben, Anhänger oder Vorläufer eines andern philosophischen Systems sein sollten. $ 3. Ein anderes Problem, welches viele spekulative Köpfe der Neuzeit sehr beschäftigt hat, ist die Frage, wie neue Tatsachen ent- Einleitung. _ 5 deckt werden und wie man zu neuen Theorien gelangt. Es ist dies überhaupt ein Spezialfall des Problems, wie überhaupt etwas Neues entsteht, eines Problems, welches DARWIN und seine Schule zu lösen gesucht haben, und welches in den Spekulationen vom Wesen der Genialität enthalten ist; HuUME, KANnT und SCHOPENHAUER haben in ihrer Verfolgung des Begriffs der Verursachung diese Frage vor Augen gehabt, um eine große Reihe anderer Philosophen, welche die Sache mehr oder weniger originell untersuchten, nicht zu er- wähnen. Schon daraus, daß sich so viele originelle Köpfe mit dieser Frage beschäftigt haben, ist deutlich ihre Schwierigkeit zu sehen. Dicke Bände hat man mit Ratschlägen gefüllt, wie man es anfangen soll, um etwas Neues zu entdecken, und doch kommt der beste Rat darauf hin, daß, um eine neue Tatsache entdecken zu können, man sie bereits haben muß, oder, mit andern Worten, man weiß, daß man etwas Neues entdeckt hat, erst nachdem man es entdeckt hat. Ein jeder kann sich übrigens selbst davon überzeugen; denn obwohl wenige von uns so glücklich sind, etwas objektiv Neues gefunden zu haben, so hat doch gewiß ein jeder eine solche Tatsache entdeckt, welche sub- jektiv, für ihn selbst, den Wert von etwas Neuem hat. Man wird umsonst den Ursprung einer solchen Entdeckung in der eigenen Seele suchen. Ich habe es mehrmals versucht, bin aber entweder zu- letzt auf solche allgemeine Vorstellungen gekommen, welche schließ- lich alles in sich enthalten, oder ich kann mich zwar erinnern, daß mir dies oder jenes an einem bestimmten Tag eingefallen ist, finde aber keine Ursache gerade dieses Einfalls. Nun beachte man, daß man bei literarischer Verfolgung irgend- eines Gedankens nur die dürftigsten Mittel an der Hand hat; wir sind darauf angewiesen, was uns der Autor selbst sagt, und auf das vergleichende Studium mit den Lehren der möglicherweise auf denselben einwirkenden Forscher, und diese Mittel, auch wenn sie beide vorhanden sind, führen kaum jemals zu einer exakten Er- kenntnis. Aus diesem Grunde kann ich z. B. nicht erklären, warum am Ende des ı8. Jahrhunderts die Morphologie ihren Höhepunkt er- langt hat, auch weiß ich nicht, warum die Lehre von der Evolution am Anfange desselben Jahrhunderts so eifrig diskutiert und so all- gemein angenommen wurde; ich sehe zwar, wie sich diese Lehren aus kleineren Anfängen entwickelt haben, warum aber eben diese Lehren und keine andern, das zu erklären möchte ich nicht einmal versuchen. 6 Einleitung. Es ist überhaupt schwer anzugeben, welche Tatsache und wann sie als neu zu bezeichnen ist. Heute wird, kann man sagen, jeden Tag etwas entdeckt, und die Bücher wimmeln von »neuen« Tatsachen; aber von solchen Entdeckungen, welche im hundertsten Falle be- stätigen, was in 99 bereits bekannt war, kann man nur in gewisser Hinsicht behaupten, daß sie neu sind, obwohl selbstverständlich immer nur ein gradueller Unterschied zwischen denselben und den großen Entdeckungen besteht. Bekanntlich entwickelt sich aber jede Lehre; wann ist sie also neu? War die epigenetische Theorie WOLFFs eine neue Theorie? Es hat doch NEEDHAM vor WOLFF sehr ähnliche Ansichten ausgesprochen, und WOLFF hat sie gekannt. War also die Lehre NEEDHAMs neu? Seine Lehre hat jedoch ihre Wurzeln in den Vorstellungen von einer formativen Kraft, welche auf HARVEY und über diesen auf ARISTOTELES zurückzuführen ist. Unzweifelhaft bedeutet die Lehre WOLFFs etwas Neues, aber auch diejenige NEED- HAMs ist neu: des Neuen ist an jeder. derselben sehr wenig, viel weniger, als die Geschichtschreiber anerkennen wollen, so wenig, daß es kaum möglich ist, dies durch Worte anzugeben; denn hebe man diesen oder jenen Punkt an ihnen als ganz neu hervor, immer wird irgend jemand mit dem Nachweis kommen können, daß das von uns als neu Bezeichnete schon früher bekannt war. Überhaupt besteht die Genialität viel weniger in der Entdeckung von Neuem, als in der Kraft, aus der Masse des Bekannten das Wich- tige hervorzuheben und dasselbe in eine neue, ungewöhnliche Be- leuchtung zu rücken. Die angeführten Erörterungen betreffen in gleichem Maße die Tatsachen wie die Theorien. Überhaupt finde ich nicht zwischen diesen beiden den großen Unterschied und Gegensatz, wie er so oft geschildert wurde. Daß vereinzelte Tatsachen keine Bedeutung im System der Wissenschaft haben, ist einleuchtend ; nur allgemeine Tat- sachen, nur Begriffe sind Elemente der Wissenschaft. Zwischen einem Begriff und einer allgemeinen Hypothese gibt es jedoch eine Reihe von Übergängen, so z. B. zwischen dem Begriff der Zelle und der Zellentheorie, zwischen dem Begriff des Organs und der Auffassung der Beziehungen zwischen der Physiologie und Morphologie usw. Daß allgemeine Theorien auf die spezielle Forschung von Einfluß sind, ist zu deutlich zu sehen, um bestritten werden zu können: so hat LEIBNIZ die Theorie von dem einheitlichen Bauplan der Tiere beeinflußt; ROUSSEAU und HERDER haben die anthropologischen Unter- suchungen gefördert usw. Einleitung. 7 $ 4. Es seien ferner einige Worte über die bisherigen Darstel- lungen der Geschichte der Biologie bemerkt. Sie haben namentlich zweierlei Ziele gehabt: die einen, wie das Buch von V. Carus, wollen in ihrer Erzählung den historischen Fortschritt der Wissenschaft verfolgen, wie er sich der unmittelbaren Betrachtung darstellt; die wichtigen Autoren werden gelobt, ihre Entdeckungen angeführt, und das Datum des Erscheinens einer Schrift dient als das Verbindungs- glied zwischen derselben und andern Schriften. Zwar wird auch hier und da kritisiert, und es werden stellenweise auch historische Quellen irgendeiner Erscheinung vorgeführt, doch wird dies eben nur stellen- weise, als eine Nebensache, getan. In dieser Art sind namentlich auch die medizinischen Geschichten (von HAESER, NEUBURGER und PAGEL) geschrieben. Andere Historiker, an deren Spitze J. SACHS steht, schildern die Geschichte der Biologie in der Art, wie sie heute in den Einleitungen zu konkreten Monographien geschildert wird: es bleibt gänzlich unberücksichtigt, was man Forschungsrichtung nennt, indem nur die eben heute geltende Richtung als die einzig wahre anerkannt wird. Als Aufgabe der Geschichte wird dann be- trachtet, die Theorien und Tatsachen, wie sie in der Entwicklung der Wissenschaft vorkommen, die eine nach der andern anzuführen, während stets scharfe Kritik aus dem Standpunkte der heutigen Lehren geübt wird; was mit diesen übereinstimmt, wird gelobt, alles andere getadelt. Eine solche Geschichte ist wertvoll für die Beurteilung des heutigen Standes unserer Wissenschaft, bzw. ihres Verhältnisses zu den in der Geschichte vorgekommenen Lehren; diese Lehren selbst werden jedoch bei einem solchen Gesichtspunkt oft sehr schief auf- gefaßt. Indem beispielsweise J. SACHS annimmt, daß der Darwinis- mus den letzten und höchsten Punkt der Biologie bildet, findet er an andern Systemen alles unrichtig (scholastisch, idealistisch, platoni- sierend, wie er sagt), was nicht mit der genetischen Auffassung der Natur übereinstimmt; man sieht es namentlich an seiner Darstellung der Bedeutung LINNEs und DECANDOLLES. Ich halte weder die erstere noch die zweite Art der Geschicht- schreibung für richtig, die zweite namentlich aus dem wichtigen Grunde, daß ich die heutige Lehre nicht a priori für die beste halte, sondern ihr Wesen und ihr Verhältnis zu andern Lehren erst aus dem geschichtlichem Studium ergründen will. Die Theorien der Autoren voriger Jahrhunderte sind nicht deshalb unrichtig, weil sie heute durch andere ersetzt worden sind; obwohl sie heute keine offiziell anerkannte Geltung haben, können sie trotzdem sehr tiefsinnig sein s Einleitung. und das Wesen der Sache viel besser als die heutigen Theorien treffen. Es ist ein sehr beschränkter Standpunkt, die älteren Autoren schon deshalb für überwunden zu halten, weil sie unrichtige Tatsachen an- geführt oder diese und jene Tatsache noch nicht gekannt haben. Die embryologischen Theorien von ARISTOTELES, sein natürliches System beweisen am besten, daß nicht nur das Tatsachenmaterial, sondern auch der Geist des Forschers über die Richtigkeit der Theorie entscheidet. Ich habe es bereits bemerkt: die Theorien vergehen nicht wegen ihrer inneren Unrichtigkeit, sondern sie verlieren an Interesse und werden durch andere in gewissem Sinn »interessantere« ersetzt. $ 5. Wenn man über die Geschichte der Biologie nachdenkt und sie mit der historischen Entwicklung anderer Wissenschaften, nament- lich der Astronomie und der Physik, vergleicht, so kann man sich des unangenehmen Eindrucks nicht erwehren, daß die Geschichte der Biologie nicht einen solchen inneren Zusammenhang zeigt, wie die zwei andern erwähnten Wissenschaften; die Tatsache wird allgemein anerkannt, und man versucht sie gewöhnlich dadurch zu erklären, daß die Biologie mehr dem Einfluß der Philosophie preisgegeben ist als die Physik und Astronomie, und daß mit dem Verschwinden des philosophischen Systems auch für die biologischen Theorien, welche unter seinem Einfluß gebildet worden sind, der Tod für alle Ewig- keit gekommen ist. Allgemein betrachtet man heute die Systeme von STAHL, LEIBNIZ, C. F. WOLFF als nur historisch interessante Erscheinungen, welche für den jetzigen Zustand der biologischen Theorien ohne Bedeutung sind; ich erinnere mich wenigstens nicht, in den letzten Jahren irgendeine neue Abhandlung in der Hand gehabt zu haben, in welcher eine heute aktuelle Theorie durch das Studium oder durch den Hinweis auf einen Autor, sei es nur aus dem ı8. Jahrhundert, gestützt worden wäre, es sei denn, daß dieser Hinweis die Form hat: »Bereits ARISTOTELES hat ge- wußt...e u.ä. Ich mache darauf aufmerksam, daß dieses Verhältnis der Ge- schichte gegenüber in andern Wissenschaften nicht, wenigstens nicht in dem Grade besteht, wie in der Biologie. Ich bitte den Leser, über die Tatsache etwas nachzudenken, daß die Astronomen noch heute ihre KEPPLERschen Gesetze haben, daß sie noch heute NEWTON studieren und eine Reihe von Lehren direkt an ihn anknüpfen, daß GALILEI noch heute für sie eine wissenschaftliche Autorität ist. Wir in der Biologie können nichts dem Ähnliches anführen. Der Leser möge Einleitung. g sich etwa die Frage beantworten, welche Bedeutung für die Biologie, wie sie heute geschrieben wird, etwa der Mann hat, dem wir den kühnen Namen des »Vaters der Zoologie« gegeben haben; man ver- gleiche nur die Bedeutung desselben für die Biologie mit der Be- deutung GALILEIs für die Physik: das Resultat muß den Leser überraschen. Unsere Biologie, wie sie heute besteht, mit alleiniger Ausnahme der letzten Arbeiten von DRIESCH braucht ARISTOTELES nicht oder, richtiger gesagt, sie gebraucht ihn nicht. Es ist viel Wahres an der Behauptung, daß die Biologie dem Einfluß der philosophischen Systeme mehr preisgegeben war und noch ist als die Physik. Doch wolle der Leser sich wieder in Er- innerung bringen, welche große Bedeutung LEIENIZ als ein aner- kannter Metaphysiker für die Physik hat; nun aber war LEIBNIZ eigentümlicherweise in seiner Denkart viel mehr Biologe als Me- chanist; ist es nicht überraschend, daß die Physiker ihm die Ein- führung des Begriffes der lebendigen Kraft, also einer Kraft, welche etwas vom Leben an sich hat, verdanken — bitte, was verdanken wir Biologen dem Biologen LEIBNIZ? So ganz absolut gar nichts, daß es der Leser gewiß absurd findet, daß ich überhaupt eine solche Frage zu stellen wage. Nun, man lasse LEIBNIZ, den Metaphysiker, beiseite, was ver- danken wir also DESCARTES, der als Mechanist unserer Anschauungs- weise näher steht? Ich suche vergebens in den Lehrbüchern der Biologie irgendeinen Satz, der auf DESCARTES zurückzuführen wäre. Oder soll ich nicht die Philosophen von Fach beachten, soll ich vielmehr bei den Biologen bleiben? Was ist also in der heutigen Wissenschaft aus STAHL, aus CUVIER geblieben? Sie sind zu nichts anderem gut, als um in den Einleitungen zu Handbüchern mit ihren Namen zu paradieren. Man wird mir einwenden, daß ich die Sache zu schwarz schildere. Denn, wird man behaupten, glauben wir nicht noch heute wie vor 300 Jahren HARVEY an den Blutkreislauf und schreiben wir nicht das Verdienst um die Entdeckung desselben eben HARVEY zu? Preisen wir nicht C. F. WOLFFs Verdienst, daß er die Epigenesis entdeckt hat, loben wir nicht an ARISTOTELES, daß er als erster die ver- gleichende Anatomie und die natürliche Systematik in die Wissen- schaft eingeführt hat’? Ja, das alles tun wir und noch viel mehr. Wir erweisen Herrn DE GRAAF die Ehre, daß wir nach ihm die GRAAFschen Follikel nennen, nach CAESALPIN nennen wir sogar eine ganze Pflanzen- 10 Einleitung. ordnung; wir ehren unsere Vorgänger, wie es eben geht. Daß man sie aber auch beachten, verstehen lernen sollte, das fällt niemandem ein. Wir loben an HARVEY, daß er, als der erste, behauptet hat, daß alles Lebendige aus Eiern entsteht, und wenn einer recht pfifig ist, so versucht er nachzuweisen, daß der Satz »omne vivum ex ovo« nicht von HARVEY stammt; wenn man jedoch fragt, was also eigentlich HARVEY gelehrt hat, wie es kommt, daß er an die Entstehung aller Tiere aus Eiern glauben konnte und gleichzeitig damit die spontane Generation angenommen hat, so weiß es kaum jemand zu 'erklären, und es bemüht sich auch niemand, dies zu begreifen. Man lobt wohl an C. F. WOLFF, daß er die Epigenesis begründet hat, und ein ge- wissenhafter Berichterstatter wird auch hinzufügen, daß er leider Vitalist war; wer kümmert sich aber darum, daß die WOLFFsche Epigenesis ohne Vitalismus unmöglich ist? Um es kurz auszudrücken, man lobt nicht die früheren Forscher, weil man gelernt hat, sie zu verstehen, sondern man zeigt nur, daß sie bereits in dieser oder jener Sache so pfiffig waren wie wir — eigentlich waren sie nicht so pfiffig, denn ein jeder wird besser die großen Fehler als die Verdienste derselben anführen können. Nur unsere heutige Philosophie entscheidet über die Vorstellungen der älteren Autoren; wo sie etwas vielleicht nur wörtlich Ähnliches gesagt haben, da werden sie gepriesen, wo sie abweichende Vorstellungen gehabt haben, da werden sie gar nicht berücksichtigt. Oben habe ich gezeigt, daß man unrichtigerweise die älteren Forschungsrichtungen für a priori überwunden hält, denn manche von solchen überwundenen Standpunkten kehren wieder in die Wissen- schaft zurück. Zwar wird man nicht alles, was einst für bedeutend gehalten wurde, auch noch heute für wichtig und richtig halten, aber wenn man eine Theorie, eine Vorstellungsweise verwirft, so muß man sie zuerst verstehen, um dieselbe mit Gründen bekämpfen zu können, und man versteht den Autor nicht, wenn man hervorhebt, was er Neues entdeckt hat, wo er geboren wurde und wo er Kollegien ge- halten hat; man muß ihn selbst studieren, den Sinn in seinen Theorien suchen und an diesem Sinn seiner Lehren Kritik üben, so und nur so wird man zu einer richtigen und unabhängigen Anschauung über das Gebiet der Biologie gelangen. Ich habe mich bemüht, einen solchen Versuch in dieser Ge- schichte zu bieten, und glaube deshalb, daß dieser Versuch, sofern er selbstverständlich das Wesen der einzelnen Lehren richtig dar- stellt, nicht nur ein historisches, sondern ein aktuelles Interesse Einleitung. 11 hat, ganz ebenso wie die Kritik irgendeiner neuen, heute gültigen Theorie. $ 6. Übersicht der wichtigsten Werke über die Geschichte der Biologie. Über Biologie handeln: CUVIER, GEORGES, Cours de l'histoire des sciences naturelles, profess€ au College de France; redig@ par Magdeleine de Saint-Agy. 3 Pts. Paris 1830—32. (Unter einem etwas weiteren Titel in 5 Vols. 1841—45.) BLAINVILLE, DUCROTAY, Histoire des sciences d’organisation. 1847. (Von mir nicht benutzt; ich zitiere nach LEwes, Aristoteles, S. 156. In Engelmanns Biblio- theca hist. nat. wird das Buch nicht angeführt.) MEYER, ERNST, Geschichte der Botanik. 4 Bde. 1857. ADANSON, MICHEL, Histoire de la botanique. Paris 1864. (Von mir nicht gesehen.) CARUS, VICTOR, Geschichte der Zoologie bis auf Joh. Müller und Ch. Darwin. München 1872. Sachs, JuLıus, Geschichte der Botanik vom 16. Jahrhundert bis 1860. München 1875. HAESER, HEINRICH, Lehrbuch der Geschichte der Medizin und der epidemischen Krankheiten. 3 Bde. Jena 1881. ZITTEL, KARL ALFRED von, Geschichte der Geologie und Paläontologie bis Ende des 19. Jahrhunderts. München und Leipzig 1899. FoSTER, MICHAEL, Lectures on the History of Physiology during the 16, 17 and 18 centuries. Cambridge 1901. PUSCHMANN, TH., NEUBURGER, MAX, PAGEL, Julius, Handbuch der Geschichte der Medizin. Jena 1903. Über Philosophie (nebst den Büchern über die Geschichte der Philosophie) siehe insbesondere: SCHALLER, JuLIvs, Geschichte der Naturphilosophie von Baco von Verulam bis auf unsere Zeit. 2 Bde. Leipzig 1841. WHEWELL, WiıLr., History of the inductive sciences, from the earliest to the present times. 3 Vols. London 1837. LANGE, FRIEDR. ALB., Geschichte des Materialismus. Iserlohn 1866. HEUSSLER, HEINR., Der Rationalismus des 17. Jahrhunderts in seinen Beziehungen zur Entwicklungslehre. Breslau 1885. Von diesen Schriften sind zum Studium namentlich diejenigen von J. SACHS, M. FOSTER, H. HAESER zu empfehlen; dem Buche von V. Carus fehlt die Kraft der Charakteristik der einzelnen Forscher wie der Perioden der Wissenschaft; das Werk von WHEWELL zeigt zuviel, daß es von keinem Fachmann geschrieben wurde; die Bearbei- tung der einzelnen Gebiete der Biologie steht dort in keinem Ver- hältnis zu deren Bedeutung. Ich fürchte, daß das neue, noch nicht vollständige Handbuch von PUSCHMANN, NEUBURGER und PAGEL an Gründlichkeit hinter dem älteren Werke von HAESER zurück- 12 Einleitung. bleiben wird; zwar habe ich nur die Einleitung (von MAx NEUBURGER) und die Geschichte der Physiologie von BORUTTAU gelesen, habe aber nicht die Überzeugung gewonnen, daß die Autoren auch nur an einigen wenigen Stellen die Literatur vor dem ıg. Jahrhundert selbständig studiert haben. Wenn man aber über einen Autor aus sekundären Quellen berichtet, ist es leicht begreiflich, daß man sich an Worte halten muß, und daß von cinem Begreifen des Autors keine Rede sein kann. L.KAPLIEL. Aristoteles und die Aristoteliker. Sehr oft wird das Aufblühen der Wissenschaft am Anfange der Neuzeit in die engsten Beziehungen mit der Opposition gegen ARISTOTELES gestellt; die Bekämpfung seiner Biologie, namentlich seiner Lehre van den Qualitäten, sollte den neuen Geist in die Wissenschaft eingeführt haben. Diese Behauptung wiederholen die Biologen nur nach den Physikern, welchen tatsächlich durch die Betonung des Quantitativen, des Meßbaren, dem Qualitativen gegen- über eine neue Epoche der Wissenschaft durch GALILEI geschaffen wurde. In der Biologie war es jedoch anders. Zwar hat GALILEI auch indirekt, durch seine Nachfolger (BORELLI, DESCARTES), die Bio- logie beeinflußt, und dieser Einfluß wurde später zu einem ganz über- wiegenden, immer hat sich jedoch daneben und anfangs kräftiger als die mechanischen Lehren die Aristotelische Anschauungsweise erhalten. Man vergesse nicht, daß ARISTOTELES dem Wesen seiner Philosophie nach viel mehr ein Biologe als Physiker, und daß um- gekehrt DESCARTES mehr ein Physiker als Biologe war. Die Schilderung der Anfänge der Biologie im ı5. und ı6. Jahr- hundert kann hier übergangen werden: man müßte in dieser Hinsicht auf die schwärmerischen Naturphilosophen GIORDANO BRUNO (1548 — 1600), THOMAS CAMPANELLA (1568—1639), HIERONYMUS CARDANUS (1501— 1576) u. a. zurückgreifen, welche durch ihre Phantasien von der Weltseele, von dem überall zerstreuten Leben, von dem Stufen- gang der Wesen die philosophischen Grundzüge der Neuzeit vor- bereitet haben; doch ist die Metaphysik das vorwiegende Element dieser Lehren, und die Biologie gibt ihnen nur die allgemein- sten Begriffe (Leben, Seele, Selbsterhaltungstrieb usf.).. Neben diesen Theorien, welche einen konkreteren Ausdruck in den chemi- schen Theorien von PARACELSUS gefunden haben, behauptete sich die Aristotelische Philosophie als die offizielle Lehre. Die wich- tigsten Vertreter derselben auf dem Gebiete der Biologie sind: 14 I. Kapitel. der Botaniker A. CAESALPINUS, welcher ARISTOTELES treu in der logischen Gliederung und in der theoretischen Auffassung seiner Wissenschaft gefolgt ist; ferner W. HARVEy, welcher sich zwar durch seine Experimente auf einen viel freieren Standpunkt als CAESALPINUS gestellt hat, nichtsdestoweniger aber wie in den Problemstellungen, so auch in der Art ihrer Lösung als ein wahrer Aristoteliker erkannt werden kann. Aristoteliker war auch der Histologe und Physiologe F. GLISSON, welcher den Übergang von ARISTOTELES zu LEIBNIZ bildet. Aristotelisch war auch die Theorie von REDI über die Ent- stehung der Tiere. In der Systematik der Tiere hat die Aristotelischen Prinzipien konsequent der Engländer EDWARD WOTTON (1492—1555) angewendet in der Schrift »De differentiis animalium« (Paris 1552). Im allgemeinen kann behauptet werden, daß der Einfluß von ARISTOTELES, am Anfange der Neuzeit sehr stark, später durch die mechanistischen Lehren von DESCARTES erschüttert wird; gegen das Ende des 17. Jahrhunderts kennt sich kaum ein Biologe noch in seiner Biologie aus, bis LEIBNIZ und STAHL seinem System in einer neuen Form wieder Geltung verschaffen. Wie vergessen jedoch bereits damals ARISTOTELES war, davon zeugt am besten, daß STAHL denselben, obwohl er ihm in seiner Denkart verwandt war, nicht mehr als seinen Geistesgenossen anerkennt und gegen ihn fast wie gegen einen Mechanisten polemisiert. Es ist nicht leicht, in die Aristotelischen Gedanken einzudringen; der Leser wird ganz gewiß nicht in den Zitaten an den Worten von ARISTOTELES haften bleiben und nur den Gedanken, den sie aus- drücken, verfolgen. A. Aristoteles. ARISTOTELES (384—322 v. Chr.) nimmt insofern eine vereinzelte Stellung unter allen Naturforschern ein, als er historisch den größten Einfluß auf die Nachkommenschaft ausgeübt hat, und ferner, weil seine Lehre, welche in von uns so entfernten Zeiten und unter ganz verschiedenen Bedingungen, als welche heute gelten, entstand, doch noch aktuelles Interesse (mehr aktuell, als man gewöhnlich anzu- nehmen geneigt ist) bietet. Die Epoche, in welcher ARISTOTELES über die Natur nachgedacht hat, ist von der unsrigen so entfernt, seine Vorgänger und seine Zeitgenossen, die Probleme seiner Zeit sind so sehr verschieden von unserer Epoche, daß uns nicht nur seine Ausdrucksweise, sondern Aristoteles und die Aristoteliker. 15 auch seine Begriffe, seine Auffassung der Natur, seine Polemik anderer Ansichten sehr fremdartig anmuten. An dieser Stelle können nur die Grundsätze seiner Naturbetrachtung angeführt werden, welche die Anschauungen der ersten Vorkämpfer der Neuzeit beeinflußt haben. PLATO hat die sinnliche Natur als etwas Trügliches aufgefaßt und nur die Begriffe (Ideen) als wahr erklärt, also: dieser Mensch, der lebendige Körper da, die chemischen Veränderungen, welche in ihm stattfinden, seine Bewegungen, sein Wachstum, seine Geburt und sein Tod, überhaupt der ganze Fluß der Erscheinungen muß als etwas Nebensächliches betrachtet werden; man würde nach PLATO zu keiner wahren Auffassung der Natur gelangen, wenn man auf diesen Strom der Veränderungen sein Augenmerk richten würde. Dagegen sind die Gesetze, welche Allem zugrunde liegen, also der allgemeine Begriff dieses lebendigen Wesens, der Begriff dieses seines Organs, das Gesetz der chemischen Veränderungen, das ist das einzig Wahre und der Erforschung Würdige. Diese Gesetze schweben nun nach PLATO in einer übersinnlichen Welt als ewige Ideen, als Muster, nach welchen die Erscheinungen geformt und geregelt werden. Ganz ebenso wie PLATO hat ARISTOTELES das Hauptgewicht auf die allgemeinen Begriffe und die Gesetze gerichtet, doch hat er nicht ihre metaphysische Deutung angenommen: die Gesetze sind nach ARISTOTELES nicht über der Natur als Vorbilder der sinnlichen Objekte vorhanden, sondern sie liegen in der Natur selbst, sie sind die Wesen- heiten der Natur. Der Leser wird sich das Verständnis dieser Vor- stellungsweise des ARISTOTELES sehr erleichtern, wenn er sich in Erinnerung bringt, daß ARISTOTELES, wie überhaupt die Alten, keinen Unterschied zwischen dem subjektiven Begriff, den ich mir von einem Ding mache, und zwischen diesem Ding anerkennen will; der subjek- tive richtige Begriff des Dinges und das Wesen desselben ist ein und dasselbe. Wenn man dies beachtet, so wird man gleich den Grund- gedanken der "Philosophie von ARISTOTELES verstehen können, der so schroff den modernen Anschauungen gegenübersteht, daß nämlich das im Werden Nachfolgende in bezug auf das Wesen des Dinges das »Vorangehende sei. Nach der Aristotelischen Auffassung sind nicht zuerst die chemischen Elemente, dann die histologischen, dann die morphologischen und endlich die Einheit des Organismus, sondern gerade umgekehrt: diese Einheit ist zuerst und die chemischen Elemente zuletzt. Das Wesen des Organischen. Die Naturkörper teilt ARISTOTELES in beseelte und unbeseelte. Zwar ist die Trennungslinie zwischen 16 I. Kapitel. beiden scharf gezeichnet, trotzdem aber schreitet die Natur durch kleine aufsteigende Schritte von einem Wesen zum andern, vom Un- beseelten geht sie zu den Tieren durch Wesen hinüber, welche aller- dings noch nicht Tiere zu nennen sind, welche ihnen aber doch so gleichen, daß beide nur durch leichte Grenzen getrennt sind. Diese Lehre von dem Stufengang der Wesen hat ARISTOTELES von PLATO übernommen; sie wurde später von LEIBNIZ erneuert und hat seit- dem bis auf den heutigen Tag geblüht. Die beseelten Naturkörper sind diejenigen, welche eine Psyche haben, worunter die Seele im modernen Sinn und dazu noch das Leben (die Lebenskraft) und die Form (die äußere und innere Struktur), alle diese drei Elemente als eine Einheit betrachtet, verstanden werden. ARISTOTELES äußert sich darüber z. B. in folgender Weise‘): »Da die Vermögen des Wissens, Fühlens, Denkens, Wünschens, Wollens und die Begierden im allgemeinen, ebenso auch Lokomotion, Wachstum, Reife und Verfall, Eigenschaften der Seele sind... Einige sagen, das Lebensprinzip sei teilbar, der eine Teil denkt, der andere begehrt: wenn dies aber so wäre, was hält die Teile zusammen ? Der Körper gewiß nicht, denn das Lebensprinzip scheint ihn zu- sammenzuhalten, da er vom Moment, wo jenes ihn verläßt, stirbt und zerfällt . - .< Daß auch die Form (die Organisation) nach ARISTOTELES Eigen- schaft der Seele ist, folgt aus folgender Stelle?): »Man soll deshalb nicht fragen, ob die Psyche und der Körper eins seien, wie man auch nicht fragt, ob das Wachs und die Form desselben eins sind, oder ob der Bildungsstoff irgendeines Gegen- standes und der gebildete Gegenstand eins sind: denn eins und sein wird in mehrfacher Bedeutung gesagt, was aber hauptsächlich so genannt wird, ist die Entelechie ... Wenn das Auge ein Tier wäre, so würde das Sehen seine Psyche sein; denn dies ist abstrakt ge- nommen das Wesen des Auges; das Auge aber ist das Stoffliche des Sehens, und fehlte das Sehen, so wäre es nicht länger ein Auge, wenn nicht dem Namen nach.« Man sieht, wie die Psyche bei ARISTOTELES den vollkommenen realisierten Begriff (die Entelechie) des organischen Wesens bedeutet. Die Psyche ist bei ARISTOTELES ferner Ursache des Lebens, Ursache in al’ dem Sinne, welcher diesem Worte zugeschrieben wird. ARISTOTELES unterscheidet folgende Arten von Ursachen: 1) LEwES, Aristoteles, S. 231. (Aus ARISTOTELES, De anima, Kap. 4 u. 5.) 2) Ebenda, S. 235. Aristoteles und die Aristoteliker. 17 ı. Die formelle Ursache oder das Wesen, in dem Sinne wie: die Ursache (der Grund, das Wesen) eines Kreises, besteht in der Äquidistanz aller Punkte seiner Peripherie vom Mittelpunkte. 2. Die materielle Ursache ist die Materie selbst, ohne ihre Form aufgefaßt, z. B. das Wachs einer Wachsfigur. 3. Die bewegende Ursache ist das Prinzip der Bewegung und Veränderung. 4. Die finale Ursache gibt jeder Bewegung ein Ziel, verursacht die Harmonie, Regelmäßigkeit und Schönheit des Geschehens. Einteilung der Organismen. Die Pflanzen haben die erste Stufe der Seelentätigkeit, die Ernährung; sie nehmen die Nahrung durch die Wurzeln auf, welche den Nabelvenen des Embryos verglichen werden können, indem die Pflanze durch die Erde ernährt wird, wie der Embryo durch den Uterus. Der Zweck der Blätter ist, die Frucht zu beschützen. Der Same ist eine Art Abscheidung. Die zweite Stufe der belebten Natur bilden die Zoophyten, Pflanzen- tiere, welche im Meer an Felsen wachsen, und sterben, wenn man sie von ihrer Unterlage losmacht. Die dritte Stufe bilden die Tiere, deren Seelentätigkeit in Er- nährung und Sensibilität besteht; mit der Sensibilität tritt der Wille und mit ihm die Lokomotion auf. Dem Menschen ist die gottähnliche Natur eigen; doch ist er nur der höchste Punkt einer kontinuierlichen Entwicklung der Natur. Nur der Mensch bildet Begriffe, generalisiert und abstrahiert. Ein System der Tiere im heutigen Sinne des Wortes hat ARISTOTELES nicht entworfen; und wenn von einem natürlichen System bei ihm die Rede ist, so muß darunter nur verstanden werden, daß ARISTOTELES die angeführten Gruppen der Tiere, wenn er auf sie zu sprechen kam, als solche unterschied. Eine Übersicht der Tiere nach ihrer Verwandt- schaft findet sich bei ARISTOTELES nicht, und so ist es zu verstehen, daß verschiedene Autoren verschiedene Systeme als die Aristotelischen darzustellen pflegen‘). Doch führen die meisten (CUVIER, MEYER, V. CARUS) folgendes System als das Aristotelische an: A. Blutführend sind: ı. Die lebendig gebärenden Vierfüßer (Säugetiere mit Aus- schluß der Wäaltiere); 2. Die Vögel; 1) MEvER, Aristoteles, Tierkunde, S. 64. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. 1. Teil, 2 18 I. Kapitel. 3. Die eierlegenden Vierfüßer (Reptilien und Amphibien); 4. Die Waltiere; 5. Die Fische. B. Blutlos sind: 6. Die Weichtiere (d. h. Cephalopoda); 7. Die vielfüßigen Weichschaltiere oder Malakostraka (höhere Krustentiere); 8. Die vielfüßigen Kerbtiere oder Entoma (Insekten); 9. Die fußlosen Schaltiere oder Ostrakodermata (Mollusca). Von dem heutigen Standpunkte, wo der Begriff der Art, wie über- haupt jeder Begriff, für etwas Künstliches erklärt wird, ist es nicht leicht, die Auffassung des ARISTOTELES richtig zu verstehen. Die systematischen Begriffe Art, Gattung, Familie usw., wie sie seit LINNE angewendet werden, waren ARISTOTELES unbekannt. Er hat nur die Bezeichnungen yzvos (Gattung) und etöos (Art) angewendet (nebstdem noch yevos w£yıstov — allgemeinste Gattung), seine Gattung und Art ist aber nur ein logischer Begriff; eine Gattung nennt ARISTOTELES alles, was irgendwelche Artunterschiede zuläßt, und eine Gattung kann gegenüber einer höheren Gruppe wieder nur eine Art sein. Es wäre aber sehr unrichtig, daraus schließen zu wollen, daß er infolge- dessen dem darwinistischen Standpunkte nahe war, der die Arten für nur künstliche Begriffe erklärt, denen in der Natur nichts ent- spricht. ARISTOTELES hat angenommen, daß z. B. die Raubvögel, die Tauben, die Selachier, die bienenartigen Vierflügler und andere Tier- gruppen ebenso natürliche Einheiten sind, wie etwa ein Individuum, es fehlte ihm aber der allgemeine Name für die Bezeichnung der- selben. Er sagt z. B., daß auch die Weibchen der Krebse Scheren haben, die im Hinblick auf ihren Zweck nur den Männchen zukommen sollen, weil Scheren zu haben im yevos der Krebse begründet sei. Eine solche Behauptung wäre im Geiste des Darwinismus sinnlos. Wie ARISTOTELES darauf gezielt hat, die Einteilung der Tiere auf der vergleichenden Untersuchung ihrer Teile aufzubauen, folgt z.B. aus folgendem Satz’): »Einige Tiere nun haben alle Teile gleich, andere haben verschiedene. Dieselben Teile der Art nach sind z. B. die Nasen unter den Menschen, ebenso die Augen; auch gleicht das Fleisch dem Fleisch und der Knochen dem Knochen .... Andere Tiere sind zwar dieselben, unterscheiden sich aber durch größere oder ge- ringere Ausbildung; es sind solche, die einer Gruppe angehören. Eine ı) Vgl. MEYER, S. 108. Aristoteles und die Aristoteliker. 19 Gruppe nenne ich z. B. Vogel und Fisch; von diesen hat jedes Unter- schiede in der Gruppe, und es gibt viele Arten Fische und Vögel. Es unterscheiden sich aber die meisten Teile bei ihnen nach den Gegensätzen folgender Beschaffenheiten, der Farbe und Gestaltung, durch größere oder geringere Ausbildung, durch die größere oder geringere Zahl der Teile, durch Größe und Kleinheit und überhaupt gradweise.« Man ersieht zugleich aus diesem Zitat, wie ARISTOTELES sich des Unterschiedes zwischen der Art und der Gattung (oder, wie in dem Zitat steht »Gruppe«) bewußt war: die Menschen, die verschiedenen Vögel oder Fische sind untereinander nur durch weniger wesentliche Merkmale unterschieden als die Vögel von den Fischen. Anatomie. ARISTOTELES hat auch eine Art Anatomie (Histologie) entworfen. Erunterschied gleichartige und ungleichartige Körper- teile, d. h. solche, welche aus gleichartigen Elementen zusammen- gesetzt sind, wie das Fleisch, dessen Teile wieder Fleischstücke sind, und solche, welche aus ungleichartigen Elementen bestehen, wie z. B. die Hand, deren Teile nicht Hände, sondern Fleisch, Knochen usf. sind. In den derselben Klasse angehörigen Tieren sind die Teile nur der Größe nach voneinander verschieden; die mehr voneinander entfernten Tiere haben wieder Teile, welche einander nur ähnlich sind und analog genannt werden können: »so verhält sich der Knochen zur Gräte, der Nagel zur Klaue, die Hand zur Schere und die Feder zur Schuppe, denn was beim Vogel die Feder, das ist beim Fisch die Schuppe«'). Es gibt überhaupt drei Arten der Zusammensetzung der Teile bei den Tieren: erstens die aus den Elementen: Feuer, Erde, Luft und Wasser (also unsere chemische Zusammensetzung); zweitens aus gleich- artigen Teilen (unsere Gewebelehre); drittens aus ungleichartigen Teilen (Anatomie in unserem Sinne). Die gleichartigen Teile werden wieder eingeteilt in ı) weich und flüssig, wie Fleisch, Fett, Talg, Mark, Lymphe, Blut, Galle, Milch; 2) hart und fest, wie Gefäße, Sehnen, Knochen und Gräten. Physiologie. Die Ernährung geschieht so, daß die Nahrung in den Magen kommt und dort durch die tierische Wärme gekocht wird; dadurch wird sie flüssig und kommt als solche in den Darm, wo sie verdampft und durch kleine Gefäße aufgesogen wird und nun zum Herzen geführt wird, wo sie aus dem ungekochten Blut (Ichor) I) Geschichte der Tiere; vgl, LEewes, S, 286. 20 I. Kapitel. zum wahren Blut wird. Aus dem Herzen wird das Blut durch die Adern in den gesamten Körper geführt: »Durch die Adern und durch die überall befindlichen Kanäle sickert die Nahrung hindurch, wie das Wasser in rohen Tongefäßen, und wird zu Fleisch oder dem diesem Entsprechenden, indem es durch die Kälte gleichsam gerinnt, und deshalb wird es auch durch Feuer aufgelöst«. Die edleren Or- gane, Fleisch und Sinne, bekommen den süßesten Teil des Blutes, die Knochen, Haare usw. die bitteren Teile. Das Herz ist der Mittelpunkt des Lebens, es ist der große Koch- apparat, und in ihm wird die Wärme erzeugt. Indem das Blut im Herzen gekocht wird, dehnt es dasselbe aus; auch die Brust wird dadurch ausgedehnt, und in den so gebildeten Raum dringt von außen die kalte Luft ein und veranlaßt durch die Kälte ein Zusammen- schrumpfen der Brust, und diese drückt wieder das Herz zusammen; so läßt sich die Atmung und die Herzbewegung mechanisch erklären. Das Atmen hat also die Aufgabe, das heiße Blut abzukühlen; bei den Fischen geschieht die Abkühlung durch das Wasser. Das Gehirn kann nicht Sitz der Empfindung sein, da es un- empfindlich und kalt ist; es ist dies der kälteste Teil des Körpers und dient dazu, die große Hitze des Herzens zu mäßigen. Die Bewegung wird aus dem Herzen reguliert: die Seele wirkt nämlich auf das Pneuma (den Spiritus), welches im Herzen sitzt; im Herzen kommen auch die Nerven (Röhren) aus dem ganzen Körper zusammen, dort liegt auch der Mittelpunkt der Empfindung. Die Bewegung geschieht nicht durch Zusammenziehung der Muskeln, sondern durch Spannung der Sehnen; das Fleisch ist Empfindungs- organ, es ist der Sitz der Sensibilität, das Zeichen der Tierheit. Embryologie. Zur Zeugung sind zwei Elemente, das männliche und das weibliche, nötig; doch sind beide nicht immer voneinander geschieden. Das männliche ist dasjenige, in dem der Anfang der Bewegung und der Zeugung, das weibliche, worin der Anfang des Stofflichen liegt. Der Mann produziert den Samen, welcher die Kraft hat, die Zeugung und Entwicklung zu beginnen. Auch das Weib produziert eine Art Samen (Menstruum), welcher aber wesentlich Stoff zu der Entwicklung gibt. Der weibliche Samen ist aber nicht tot und roh, sondern er hat nur die niedrigere Stufe des Lebens als der männliche Samen, er hat nur die Ernährungsseele, während der Same des Mannes auch die Empfindungsseele hat. Dieses Verhältnis gilt auch in gewissem Sinne von Mann und Weib: das Weib ist die niedrigere Stufe der Entwicklung des Menschen als der Mann. Aristoteles und die Aristoteliker. 21 ARISTOTELES formuliert ganz scharf die Frage über Präformation oder Epigenese‘): »Wenn sich die Organe im Samen voneinander getrennt (— Epigenese) befinden, auf welche Weise können sie leben ? Wenn sie aber zusammenhängen, so hätten wir schon ein kleines Tier (— Präformation). Und wie steht es mit den Geschlechtsteilen ? Denn das, was vom Männchen kommt, ist dem vom Weibchen Kom- menden nicht ähnlich. Ferner, wenn der Same auf gleiche Weise von allen Teilen beider Eltern kommt, so müssen zwei Tiere werden; denn das Werdende wird alle Teile von jedem der beiden Eltern haben . . .«e ARISTOTELES entscheidet sich für die Epigenese, aber selbstverständlich eine ganz andere Epigenese, als was darunter heute verstanden wird, für eine etwa dynamische Epigenese?): »Und so ist es auch erklärlich, daß die Abkömmlinge den Erzeugern ähnlich sind, da das, was zu den Teilen hingeht, demjenigen, was als Samen zurückbleibt, ähnlich ist, so daß die Hand oder das Gesicht, oder das ganze Tier im Samen auf unbestimmte Weise vorhanden ist, und was ein jedes derselben in Wirksamkeit (d. h. in voller Ent- wicklung, &vepysıa) ist, das ist der Same der Möglichkeit (öövausı) nach, entweder nach seiner Masse, oder indem er eine gewisse Kraft in sich besitzt. « Zuerst entsteht das Herz und dann eines nach dem andern die übrigen Organe. An einer andern Stelle sagt ‚ARISTOTELES, daß die Differenzierung der Glieder nicht dadurch entsteht, daß die Ele- mente des Mutterkörpers sich aus allen Teilen des Körpers an den Embryo hinbewegen und dort an ähnlichen Stellen stehen bleiben (wie DEMOKRITOS geglaubt hat), sondern das Kind ist der Mutter deshalb ähnlich, weil in dem vom Weibe geweckten Bildungsmaterial die Natur der Mutter der Anlage nach enthalten ist. Diese epigenetische Theorie hängt innig mit der Erkenntnistheorie des ARISTOTELES zusammen. Nach den heutigen Theorien kommt der Mensch dadurch zu einem Begriffe, daß er zuerst einzelne Er- scheinungen erfährt und dann aus ihnen den allgemeinen Begriff abstrahiert; der Begriff folgt den einzelnen Vorstellungen; ebenso nimmt man in der Embryologie (und Phylogenie) an, daß zuerst Ele- mente dasind oder aber dawaren, und erst dann das auf ihnen Auf- gebaute. ARISTOTELES faßt die Sache umgekehrt auf: das Allgemeine ist nach ihm zuerst und das Besondere folgt, in der Erkenntnistheorie ı) Von der Zeugung der Tiere; vgl. LEwES, S. 350. 2) Ebenda. S. 355. 22 I. Kapitel. wie in der Embryologie: das Kind nennt zuerst jeden Mann Papa, jede Frau Mama, erst später lernt es, Individuen zu unterscheiden ‘); ebenfalls ist das Ei ein Allgemeines, aus welchem das Spezielle wird. — Höhere Tiere lassen nach ARISTOTELES Geschlechtsunterschiede erkennen und entstehen durch Zeugung; von den Blutlosen haben einige Männchen und Weibchen, andere nicht, und bei diesen sind beide Prinzipien in einem Körper undifferenziert enthalten. Nament- lich die Pflanzen haben kein differenziertes Geschlecht. "Viele der niederen Tiere, von den höheren Aale und Frösche, entstehen spontan aus faulenden Substanzen. Wieder muß man beachten, daß die spontane Generation bei ARISTOTELES einen andern Sinn hat als heute; es wäre seiner Philosophie ganz zuwider, anzunehmen, daß zu- fällig irgendwo günstige Bedingungen zusammentreffen, welche den Organismus hervorbringen; auf solche Weise könnte nach ARISTOTELES niemals etwas Einheitliches entstehen, indem das, was entstehen soll, bereits in den Bedingungen der Anlage nach enthalten sein muß. ARISTOTELES faßt die spontane Generation folgendermaßen auf”): »Es entstehen aber die Tiere und die Pflanzen in der Erde und im Feuchten, weil in der Erde Wasser vorhanden ist und im Wasser Luft (Pneuma), in aller Luft aber Lebenswärme, so daß gewisser- maßen alles von der Psyche erfüllt ist. Daher bilden sich auch Körper, sobald dieselbe in einen Raum eingeschlossen wird; sie wird aber umschlossen, indem sich bei der Erwärmung der körperhaften Flüssigkeit eine Art schaumartiger Blase bildet. Ob nun das, was sich bildet, eine vollkommenere oder minder vollkommene Art wird, dieser Unterschied liegt in der Einschließung des Lebenskeims, und davon ist die Ursache in dem Ort und dem eingeschlossenen Stoffe zu suchen. Im Meerwasser ist eine Menge erdigen Stoffes, daher entspringt aus einer solchen Mischung die Bildung der Schaltiere ... Bei richtiger Betrachtung muß man aber fragen: was ist es, was bei dieser Art von Bildung dem stofflichen Prinzip (bei den andern Tieren) entspricht? Denn bei den weiblichen Tieren ist dies ein Ausscheidungsstoff des Tieres, der die Anlage zu einem gleichen Tier enthält... und durch das vom Männchen stammende Prinzip erregt wird. ... Was soll man aber hier als solches ansprechen, und woher kommt und welches ist das der Kraft des männlichen Tieres entsprechende Erregungsprinzip? ... Was [bei den durch I) Dieses Beispiel ist LEwEs entnommen. 2) Von der Zeugung der Tiere; vgl. LEWES, S. 375. u 2 m u es u eur rise ee Aristoteles und die Aristoteliker. 23 Zeugung entstehenden Tieren] die tierische Wärme aus der Nahrung bereitet, das mischt die Wärme des Sommers in der Atmosphäre aus Meerwasser und Erde durch Kochen zusammen und vereinigt es zu einer Bildung. Und der miteingeschlossene oder in der Luft abgesonderte Teil der Psyche bildet den Keim und legt die Erregung zur Entwicklung hinein.« Also nur darum, weil alles in gewisser Art belebt ist, kann die spontane Generation stattfinden. Bedeutung. Der Einfluß des ARISTOTELES auf die Nachwelt war bekanntlich ungeheuer. Auch wenn wir die lange Zeitdauer von fast 17 Jahrhunderten, welche seit seinem Leben bis zur Wieder- erneuerung der Wissenschaften verflossen sind, nicht beachten und nur seinen Einfluß auf die neue Wissenschaft im Auge behalten, so kann sich mit ARISTOTELES kein anderer Biologe oder Philosoph messen. DESCARTES und LEIBNIZ haben die Biologie sehr beeinflußt, was jedoch die Tiefe anbelangt, wird der erstere von ARISTOTELES weit übertroffen, und der letztere schöpfte gerade seine originellsten bio- logischen Gedanken direkt oder indirekt aus ARISTOTELES. Viel Wahres ist in den Worten eines französischen Naturforschers’) ent- halten: »Es ist das Geschick und der Ruhm des Anatomen von Stagira, nur Vorläufer vor sich und nur Schüler nach sich gehabt zu haben«. Hinzuzufügen wäre noch, daß er nebst Schülern auch Be- kämpfer gehabt hat; jeder selbständig denkende Naturforscher mußte direkt oder indirekt gegen ARISTOTELES Stellung nehmen. Die neue Wissenschaft hat sich ihre Selbständigkeit sehr oft durch die Bekämpfung der Aristotelischen Theorien erobert; so HARVEY in seiner Lehre vom Blutkreislauf, DESCARTES in der Nega- tion der Qualitäten und der Zurückführung der Wissenschaft auf die Quantitäten. Trotzdem ist aber eben HARVEY in seinen entwicklungs- geschichtlichen Ansichten ganz Aristoteliker; die Aristotelische Lehre von dem Pneuma (Spiritus) erhält sich noch im 18. Jahrhundert und wird von HARVEY wie von DESCARTES angenommen. Die Lehre endlich von der überall verbreiteten Psyche, welche die spontane Entstehung der Organismen verursacht, ist bis in das ı8. Jahrhun- dert als Lehre von der plastischen Kraft der Natur zur Erklärung der Entstehung von Fossilien herangezogen worden. Die Aristote- lischen Anläufe zu einer vergleichenden Anatomie wurden erst am 1) Js. GEOFFROY ST. HILAIRE, Hist. gener. des Regnes organiques. Paris 1854, 1.8410; 24 I. Kapitel. Ende des ı8. Jahrhunderts anerkannt, und seine embryologischen Theorien wirken bis in die neueste Zeit hinein. Überhaupt kann man wohl mit etwas Schematisierung behaupten, daß die Entwicklung der neuen Wissenschaft entweder in der Be- hauptung oder in der Negation der Aristotelischen Gedanken vor sich ging. DESCARTES, GALILEI, BORELLI bedeuten den Gegensatz gegen die Qualitäten des ARISTOTELES: nicht der einheitliche sich entwickelnde Organismus, sondern die Maschine wird betont. LEIB- NIZ geht wieder auf ARISTOTELES zurück und versucht nochmals alles zu beleben; die Nachwirkung von DESCARTES und die neu ent- stehende englische Philosophie erlauben der Aristotelischen Philosophie zwar nicht, sich wieder vollständig zu entwickeln, aber trotzdem er- hält sich etwas von dieser Lehre bis in die erste Hälfte des ı9. Jahr- hunderts; der Darwinismus unterdrückt auf einige Zeit gänzlich die Aristotelische Lehre; man sieht aber bereits, wie sie in den letzten Jahren wieder ihren Kopf zu erheben anfängt. Sie wird gewiß noch sehr lange leben und noch zu vielen Ehren gelangen. Literatur. Die wichtigsten biologischen Schriften des ARISTO- TELES sind: »Über die Psyche«') (De anima), »Naturgeschichte der Tiere« (Historiae animalium), »Über die Teile der Tiere« (De parti- bus animalium), »Von der Zeugung der Tiere« (De generatione ani- malium). Meine kurze Darstellung der Aristotelischen Gedanken ist nach mehreren Quellen verfaßt; von diesen sind besonders beachtenswert die Schriften von MEYER und von LEWES. Literatur. MEYER, J. B., Aristoteles’ Tierkunde. Berlin 1855. Lewss, G. H., Aristoteles. Ein Abschnitt aus einer Geschichte der Wissenschaften nebst Analysen der naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles. Aus dem Englischen übersetzt von J. V. Carus. Leipzig 1865. Außerdem siehe auch: CUVIER, G., Cours de l’histoire des sciences naturelles. Paris 1830—32. Carus, J. V., Geschichte der Zoologie. München 1872, und jede Geschichte der Philosophie des Altertums. - Von diesen Schriften ist diejenige von CUVIER zu enthusiastisch; die Abhandlung von MEYER ist sehr gründlich und von den ange- ı) Das Wort »Psyche« wird verschiedenartig übersetzt; wir haben kein Wort, welches sich mit der Bedeutung desselben decken würde. Man achte also auf die Erklärung, welche von der Psyche oben gegeben worden ist. Aristoteles und die Aristoteliker. 25 führten gewiß die beste; die von LEWES ist leichter zu lesen, aber es fehlt ihr das Verständnis des philosophischen Geistes bei ARISTO- TELES; darum fällt bei LEwES das Urteil über ARISTOTELES sehr ungünstig aus. B. Die Aristoteliker. 1. A. Caesalpin. ANDREAS CAESALPINUS (1519— 1603) war Professor in Pisa und später Leibarzt des Papstes Clemens VIII. Er hat über Medizin ge- schrieben und ist in dieser Hinsicht den alten Theorien treu ge- blieben; doch soll er bereits den Lungenkreislauf gekannt haben; in einer andern Abhandlung hat er wichtige Mineralien beschrieben (1596) und wieder in einer andern den Versuch gemacht, ein philosophisches System nach den Grundsätzen des ARISTOTELES zu entwickeln (1603). Sein wichtigstes Werk handelt über die Pflanzen; namentlich die Einleitung zu demselben gibt eine Übersicht seiner Vorstellungen von dem Wesen der Pflanzenwelt. Caesalpins Lehre. Beim Keimen der Pflanze entsteht nach CAESALPIN zuerst die Wurzel; dieselbe wächst entweder aus dem Samen oder entsteht direkt aus faulenden Substanzen. Wohl können sich manche Pflanzen auch durch Sprosse, Pfropfen u. ä. fortpflanzen, doch ist das eine unvollkommenere Fortpflanzungsart, denn der Zweck der Pflanze ist der Same. Derselbe entsteht wie das Ei der Tiere, welches das Produkt der Ernährung durch die feinsten Nährstoffe ist, die im Herzen aus dem Blut ausgeschieden werden; dem Ei wird noch die vom Herzen geschaffene Lebenswärme') gegeben, und so wird dasselbe befruchtet; ähnlich entsteht bei den Pflanzen der Same aus der Substanz, welche dem Herzen analog ist, nämlich aus dem Mark im Holz. Nur braucht der Pflanzensame keine Befruchtung, da bei den einfach organisierten ‚Pflanzen die befruchtende Lebens- wärme wie der Stoff, welcher durch dieselbe befruchtet wird, inner- halb eines und desselben Individuums liegt. Die Entwicklung fängt nun an, indem durch die Feuchtigkeit der 1) Unter Lebenswärme oder Wärme überhaupt muß man bei den Aristotelikern nicht nur die Wärme als Zustand des Körpers verstehen, wie wir es heute tun, son- dern auch, und zwar an erster Stelle, die Kraft, die Tätigkeit, welche sich durch das Leben offenbart. Diese Vorstellung von der Wärme hat sich sehr lange erhalten, sie spielt noch in der Theorie von LAMARCK eine große Rolle. Man vergleiche damit den verwandten Begriff des Spiritus bei DESCARTES. 26 I. Kapitel. Erde die im Samen latent enthaltene Wärme befreit wird, etwa wie der Kalk durch Wasser heiß wird; daraufhin mischt sich die zu- strömende Feuchtigkeit mit dem milchigen Inhalt des Samens und vermehrt dadurch die Nahrung, welche für die wachsende Wurzel und für den Stengel mit seinen zwei Blättern das Material liefert. Die Seele, welche das den Organismus realisierende Prinzip (actus) ist und welche bei den Tieren im Herzen liegt, ist bei den Pflanzen im Mark enthalten, und namentlich ist sie konzentriert an der Grenze zwischen Wurzel und Stamm, dort, wo am Anfange der Entwicklung die ersten zwei Blätter wachsen. An jener Stelle befindet sich die Seele wirklich als solche (actu); dadurch soll aber keineswegs ge- leugnet werden, daß sie auch in andern Teilen der Pflanze sich befindet: das Auswachsen des Weidenzweiges zur ganzen Pflanze be- weist, daß auch in ihm die Seele der Anlage nach (potentia) ent- halten sein muß; überhaupt ist sie der Möglichkeit, der Anlage nach in allen solchen Teilen enthalten, welche der Regeneration fähig sind. Die Samen (CAESALPIN wie überhaupt die älteren Autoren iden- tifizieren den Samen mit der Frucht) haben verschiedene Hüllen wie: die Blüte, die Hülse, die Schote usf. Die Bedeutung der Blüte ist eine zweifache: einmal kommt sie »ex necessitate« der Pflanze zu, d.h. sie ist aus der Ausscheidung eines notwendig die Befruchtung (die Em- pfängnis) begleitenden Spiritus entstanden; es ist etwas Analoges auch bei den Tieren vorhanden, wo der Same (darunter ist nicht der materielle Same, sondern die Kraft in demselben verstanden) nicht ohne eine Ausscheidung (dies ist die Materie) und ohne Erregung herauskommt; etwas dieser Ausscheidung und der damit verbundenen geistigen Erregung Ähnliches ist auch bei den Pflanzen vorhanden, und daher kommt es, daß die Blüten so fein und duftig sind und daß sie Honig enthalten — denn sie sind aus einem Spiritus entstanden. Zweitens sind die Blüten »alicuius gratia«, und zwar zum Schutze des Samens'). Das System der Pflanzen soll nicht nach ihren zufälligen Eigen- schaften (quae accidunt ipsis) eingeteilt werden, wie z. B. nach ihren medizinischen und andern nützlichen Kräften, sondern nach Merk- malen, welche dem Wesen (substantia) der Pflanzen angehören. Nun ist die Ernährung die wesentliche Eigenschaft, und demgemäß werden die Pflanzen in Holzpflanzen und Kräuter geschieden; die zweite ı) Der Gegensatz zwischen »ex necessitate«e und >alicuius gratia« ist, wie der Leser sieht, etwa derart, wie der zwischen den sog. homologen und den analogen Organen in der heutigen Terminologie. Aristoteles und die Aristoteliker. 27 wichtige Eigenschaft ist die Reproduktion, und deshalb werden die Unterabteilungen der Pflanzen nach den Fruktifikationsteilen gebildet; so werden daher die Pflanzen in Bäume, Sträucher und Kräuter ein- geteilt, und jede dieser Klassen nach der Beschaffenheit der Frucht in kleinere Gruppen geschieden. Unter den Namen »species« und »genus« versteht CAESALPIN mit ARISTOTELES nur den logischen Begriff, nicht eine natürlich gegebene Einheit. Er spricht z. B. von vier Gattungen (genera) der Pflanzen: Bäume, Sträucher, Halbsträucher, Kräuter; aber die ver- schiedenen Arten von Helleborus bilden auch ein »genus«. Die Behauptung, daß die Klassifikation das Wesen der Pflanzen, nicht die Akzidenzien betreffen muß, erläutert er durch folgendes Beispiel: wenn der Verstand (intellectus) des Menschen zu seiner Offenbarung Organe benutzen würde (so wie z. B. zur Bewegung Beine, Hände usf. dienen), so würde man die Menschen je nach diesen Organen in viele Spezies einteilen; da aber der Intellekt, welcher das Wesen des Menschen ausmacht (per quem homo est), keiner Organe sich be- dient, »daher hat die Natur nur eine menschliche Spezies gegründet«, und wenn es Riesen und ähnliche Leute gibt, so sind es nur Akzidenzien, keine Arten‘). Mit dieser Philosophie hängt auch seine eigentümliche Behauptung zusammen, daß man die Einteilung nicht nach der größten Anzahl der unterscheidenden Merkmale aufstellen darf, indem dann viele Pflanzen weit von ihrem natürlichen Genus entfernt würden, wie z. B. Helleborus niger und albus, welche einer Gattung angehören, obwohl sie sich durch viele Eigenschaften von- einander unterscheiden. Wie ARISTOTELES, so schreibt auch CAESALPIN den Pflanzen eine niedrigere Seele (eine anima altrix) als den Tieren zu; während die Pflanzen nur die Kraft der Ernährung haben, haben die Tiere auch die der Empfindung und Bewegung. Die Ernährung als Verähn- lichung (gignere quale ipsum) zielt einmal auf die Erhaltung des Individuums, und das ist Nahrungsaufnahme, zweitens auf die Erhal- tung der Art, und das ist Samenbildung. Daher besitzen die Pflan- zen zwei wesentliche Organe: die Wurzel, welche die Nahrung auf- saugt, und den Stengel, welcher die Frucht hervorbringt. Der Ernährungsvorgang geschieht bei den Pflanzen analog, wie ihn ARISTOTELES bei den Tieren schildert: Der Darmkanal ist hier der nährende Humus, aus welchem durch die Gefäße die flüssige ı) De plantis I. Kap. XIII. 28 I. Kapitel. Nahrung aufgesogen und an die Stelle geführt wird, welche weder Wurzel noch Stengel ist (Wurzelhals), und die Lebenswärme der Pflanze erzeugt; zwar läßt sich diese Lebenswärme der Pflanzen nicht durch Beobachtung nachweisen, doch wahrscheinlich nur darum, weil sie zu schwach ist. Diese Lebenswärme beschleunigt die Saft- strömung, und so kommt der Nahrungssaft in alle Teile der Pflanze. Allgemeines. Wie man sieht, lassen sich alle Ausführungen CAESALPINS leicht auf ARISTOTELES zurückführen; die Lehre. von der Pflanzenseele, von der bewegenden Lebenswärme, von der Ernährung, der Anlauf zum natürlichen System, die Unterscheidung von actus (energeia bei ARISTOTELES) und potentia (dynamis), von accidens und substantia, dies alles ist echt Aristotelisch. Doch hat CAESALPIN inso- fern einen bedeutenden Fortschritt gegenüber seinem Meister gemacht, als er die Aristotelischen Begriffe mit neuem und nicht geringem Erfahrungsinhalt, namentlich im systematischen Teile des Werkes, über welchen wir hier nicht berichten können, versehen hat. Aus historischen Rücksichten ist bemerkenswert, wie sich die allgemeinen Vorstellungen über die Pflanzen dadurch gebildet haben, daß auf dieselben einfach die Vorstellungen von dem Menschen, leicht modifiziert, übertragen wurden: die Pflanze ist bei CAESALPIN, könnte man sagen, ein sehr vereinfachter Mensch. Dieser Einfluß von Theorien über den Menschen auf die Theorien anderer Tiere läßt sich noch weit in spätere Jahre verfolgen. Einfluß dieser Theorien. Andere Botaniker jener Zeit. CAE- SALPIN gebührt die große geschichtliche Bedeutung, die Philosophie des ARISTOTELES auf die Pflanzen systematisch angewandt und sie in dieser Form in die Neuzeit übertragen zu haben. Im 16. Jahrhundert hat CAESALPIN einen geringen Einfluß auf die Botaniker geübt; erst das Zeitalter LiNN£s und namentlich LinNn&E selbst hat seine Theorien in die allgemeine Botanik eingeführt. CAESALPIN stand mit seiner streng philosophischen Betrachtung der Natur den übrigen Botanikern seiner Zeit etwa so gegenüber, wie heute HERB. SPENCER den Biologen. Es gab eine große Reihe von Botanikern, welche na- mentlich durch die Herausgabe von Herbarien sich bekannt gemacht haben; die bedeutendsten waren: HIERONYMUS BOCK (1498—1554), L. FUCHS (1501— 1566), PIERANDREA MATTIOLI (1501— 1577), dessen Kräuterbuch über 60 Auflagen erlebte, KONRAD GESSNER (1516 bis 1565), KASPAR BAUHIN (1550— 1621). Man findet bei den ältesten dieser Pflanzensammler nur das Be- streben, möglichst viele Pflanzen zu beschreiben und abzubilden. Aristoteles und die Aristoteliker. 29 Die begriffliche Analyse des Tatsachenmaterials ist bei ihnen zuerst kaum zu finden, offenbart sich jedoch später in der Anwendung einer eigens für die Zwecke der Beschreibung bestimmten Terminologie; somit schloß man sich enge an die volkstümliche Auffassung der Pflanzen an. Infolgedessen hat man nicht Arten und Gattungen unterschieden, auch nicht einzelne künstliche Merkmale zur Charak- terisierung und Unterscheidung der Pflanzen gesucht, sondern man bemühte sich, durch die Worte den Habitus jeder Pflanze auszu- drücken; auf diese Art kam man nur unbewußt dazu, in einzelnen Fällen Spezies zu erkennen, während in andern Fällen nur die Gattung als eine einheitliche Gruppe unterschieden wurde. Der Gedanke des Pflanzensystems entwickelte sich auf diese Art erst all- mählich, halb unbewußt, und so standen sich gleich anfangs zwei Rich- tungen gegenüber: die durch CAESALPIN eingeführte philosophische und die durch die angeführten Botaniker verteidigte empirische. Beide Richtungen haben schließlich auf den Aufbau eines Pflanzen- systems gezielt und wohlgemerkt, eines natürlichen Pfanzensystems; GESSNER und BAUHIN wurden durch die unmittelbare Praxis, durch das Bedürfnis, die beschriebenen Pflanzen im Buch am passendsten anzuordnen, auf ein Pflanzensystem und auf die Unterscheidung von Arten und Gattungen geführt; ihre Methode zielte ferner insofern auf ein natürliches System, als ihre Beschreibung sich unmittelbar an die Anschauung anschloß, ohne Vermittelung irgendwelcher deduktiv gewonnener Begriffe. CAESALPIN auf der andern Seite hat aus philosophischen Gründen das Pflanzensystem für das Ziel der Wissenschaft erklärt, indem er als Prinzip aufstellt‘): »Da alle Wissenschaft in der Zusammenstellung der ähnlichen und in der Trennung der unähnlichen Dinge in bestimmte, auf reale Unterschiede derselben gegründete Genera und Spezies besteht, so habe ich es versucht, eine solche Unternehmung für das ganze Pflanzenreich aus- zuführen...« Hier wird also das System und werden auch die Genera und Spezies aus a priorischen Gründen postuliert. Das Pflanzensystem CAESALPINS sollte nicht weniger natürlich sein als das von BAUHIN, nur war die Methode eine andere: indem CAESALPIN die zufälligen (accidens) von den wesentlichen Eigenschaften (substantia) trennte, war er auch auf dem richtigen Wege, die natürlichen Gruppen zu erlangen; künstlich war jedoch an seiner Methode, daß er die we- sentlichen Eigenschaften nicht durch Vergleichung ermittelt hat, ı) DE PLanrtis, Dedicatio. 30 I. Kapitel. sondern sie aus dem Begriffe (Wesen) der Pflanze deduzieren wollte; wie bereits bemerkt, nahm er die Ernährung als das Wesentlichste an der Pflanze an. So traten gleich am Anfange der wissenschaftlichen Entwicklung zwei Anschauungen einander gegenüber: die empi- rische, welche immer geneigt ist, das unmittelbar Angeschaute für natürlich und deshalb für wissenschaftlich, das Gedachte für künstlich zu halten, während die andere, die rationalistische, das klar Begriffene für wissenschaftlich und deshalb natürlich, das noch nicht in Begriffe Aufgeklärte für unwissenschaftlich und daher unnatürlich zu halten bereit ist. Literatur. CAESALPINUS, A,, Speculum artis medicae Hippokraticum. De Plantis libri XVI. 1583. —— De Metallicis. 1596. —— Questionum peripateticarum libri V. Roma 1603. Die wichtigsten Herbarien: Bock, H., Neu Kräuterbuch. Straßburg 1539. Fuc#s, L., Historia stirpium. 1542. DOoDoNAEUS, R., Stirpium historiae pemptades. Antwerpen 1583. BRUNFELS, OTTO, Herbarium. 3 Vols. Argent. 1537. Diese Periode der Botanik ist ausführlicher, als es mir möglich war, bei J. SACHS und ERNST MEYER geschildert. Ich selbst habe nur CAESALPINS »De plantis« gelesen. 2. William Harvey. W. HARVEY (1578—1657), Schüler des Anatomen FABRICIUS AB AQUAPENDENTE, wurde 1615 Professor der Anatomie und Physio- logie am Royal Coliege, später Leibarzt der Könige Jacob I. und Karl I. HARVEy hat sich durch zwei Arbeiten bekannt gemacht: durch die Entdeckung des Blutkreislaufs und durch die Arbeit über die Entwicklung der Tiere. Ich werde mich nicht lange bei der ersten Arbeit aufhalten; ihre Bedeutung ist so oft hervorgehoben worden, daß es überflüssig wäre, von neuem auf sie einzugehen. Blutkreislauf. HARVEY beweist zuerst, daß der Pulsschlag nicht dieselbe Bedeutung haben kann wie die Atmung, und daß durch denselben nicht aus dem Körper schädliche Dünste ausgeschieden werden. Er beweist ferner, daß die Theorien ganz unrichtig sind, nach welchen die linke Herzkammer die Luft aus der Lunge schöpft Aristoteles und die Aristoteliker. 31 und dieselbe in Spiritus verwandelt, welche in das Blut hineingemischt werden; daß es unrichtig ist, daß das Blut aus der linken Herzkammer in die rechte durch die Poren ihrer Scheidewand hindurchdringt. Als unrichtig beweist er ferner die Annahme, daß die aktive Bewegung des Herzens in der Diastole besteht. Entgegen diesen Vorstellungen weist er nach, daß die Blutbewegung in geschlossener Bahn geschieht, daß das Blut durch die Zusammen- ziehung des Herzens bewegt wird, daß die Atmung und der Herz- schlag zwei unabhängige Vorgänge sind, daß die Klappen in den Venen den Zweck haben, dem Blutstrom die Bewegung gegen das Herz zu erleichtern, und daß das Blut im Körper aus den Arterien in die Venen übergeht. Die Kapillaren und Lymphgefäße waren HARVEY noch unbekannt; in ersterer Hinsicht glaubte er, daß das Blut aus den Arterien in das Körperparenchym sich ergießt und von dort durch die Venen aufgenommen wird. HARVEY selbst hat sich in dieser seiner Arbeit wesentlich nur an das Experimentelle gehalten; erst seine Nachfolger haben diese Lehre zu einem philosophischen System ausgearbeitet, insbesondere BORELLI und die Jatrophysiker, welche wie den Blutkreislauf, so auch alle andern Vorgänge im Körper mechanisch erklären wollen. Die Entdeckung HARVEYs wurde später (1622) durch die Ent- deckung der Lymphgefäße durch CASPAR ASELLI und der Kapillaren durch M. MALPIGHI (1661) vervollständigt. Zeugungstheorie. Man führt gewöhnlich HArVEY als den Ent- decker des Blutkreislaufs an und preist ihn auf Grund dieser Entdeckung als einen Mann, der die alte Philosophie vernichtet und eine moderne, experimentelle Wissenschaft eingeführt hat. Daß HArRVvEY die alte Ansicht von der Funktion des Herzens ganz gründlich vernichtet hat, ist wahr, es ist aber keineswegs wahr, daß er die alte Philoso- phie vernichtet und daß er ihr gegenüber die experimentelle Methode aufgestellt hat; HARVEY nahm die Aristotelische Philosophie ganz bewußt an und wußte seine Experimente ganz gut mit der- selben zu vereinigen. Er erscheint in seiner wichtigen Schrift über die Zeugung der Tiere (1651) als Aristoteliker. Die Anregung zu seinen embryologischen Untersuchungen fand HARYEY bei seinem Lehrer FABRICIUS AB AQUAPENDENTE (1537— 1619), welcher bereits einige Beobachtungen über die Entwicklung des Menschen, der Säugetiere und des Hühnchens veröffentlicht hatte (1615). FABRICIUS hat bereits die Eierstöcke der Henne untersucht und die Bildung der Eier in denselben verfolgt; doch lehrte er, daß 32 I. Kapitel. sich der Embryo aus den Chalazen bildet, während der übrige Inhalt des Eies dem neuen Tier nur als Nahrung dient. Im Sinne des ARISTOTELES nimmt FABRICIUS an, daß die Henne im Ei die nötige Masse, das Bildungsmaterial für den Embryo gibt, während der Hahn den unsichtbaren spiritus seminalis liefert, welcher den Chalazen die Bildungskraft verleiht; diese Bildungskraft ist zuerst eine »facultas alterativa«, dann eine »facultas formativa, augmentativa« usf. Unter dem Einflusse des FABRICIUS haben VOLCHER COITER (1535 —ı600) und PARISANUS (lebte zur Zeit HARVEYs) ebenfalls die Entwicklung des Hühnchens studiert; doch weitaus am besten und weitesten hat HARVEY die Aufgabe gelöst. Auch er hat die Bildung des Eies bis in den Eierstock der Henne, aber auch anderer Vögel verfolgt, und richtig erkannt, daß der Embryo nicht aus den Chalazen, sondern aus einem Teil des Dotters sich bildet, und hat auch die ersten Stadien der Entwicklung, soweit diese ohne Vergrößerung möglich war, beschrieben. Auch den Anfang der Entwicklung der Säugetiere hat HARVEY an den Rehen untersucht, welche ihm in großer Anzahl vom König Karl I. zur Verfügung ge- stellt wurden, und er ist zu dem Resultat gekommen, daß die Säuge- tiere, wie alle andern Tiere, ihre Entwicklung mit einer Form be- ginnen, welche er Ei benannt hat. Unter dem Worte Ei hat jedoch HARVEY nur den organischen Anfang der Entwicklung in der Form einer noch nicht differenzierten Masse verstanden, keineswegs das Ei in unserem Sinne; HARVEY sah nicht nur das Ei der Säugetiere nicht, sondern er erkannte auch nicht die GRAAFschen Follikel; sein Säugetierei war bereits ein Embryo. Wir wollen nun zur Betrachtung der Theorien HARVEYvs über die Entwicklung schreiten. Es gibt nach ihm überhaupt zwei mög- liche Arten der Entwicklung’): entweder ist bereits das gesamte Material vorhanden und aus demselben wird das neue Ding geformt, wie etwa wenn der Bildhauer eine Statue aus Stein bildet; oder die Masse entsteht und wird gleich bei ihrer Entstehung geformt (cum materia simul et formatur et fit). Die Entstehung der ersteren Art willer Metamorphosis nennen, die andere Epigenesis. Beide Entstehungsarten kommen bei den Tieren vor; einige Tiere ent- stehen aus einer bereits vorbereiteten Masse (ex materia prius cocta et aucta formantur et transfigurantur), indem ihre Organe durch die Metamorphose jener Masse entstehen; andere Tiere jedoch entwickeln ı) Exercitatio. XLV. S. 154, Aristoteles und die Aristoteliker. 33 sich so, daß ein Teil nach dem andern entsteht, wobei das Organ gleichzeitig wächst und eine bestimmte Form annimmt; diese Ent- stehungsart, die Epigenesis, ist die eigentliche Zeugung (generatio). Durch Metamorphose entstehen die Insekten, d.h. die niederen Tiere, wobei der Wurm (die Larve) aus dem Ei oder aus faulenden Substanzen entsteht, und aus dem Wurm durch wiederholte Meta- morphose das entwickelte Insekt wird, welches dann nicht mehr wächst. Bei diesen niederen Tieren ist es am meisten der Zufall, welcher die Entwicklung fördert (casus seu fortuna videtur maxime generationem promovere), indem die wahre Ursache der Entstehung hier eher die Kraft der bestehenden Materie ist (potentia materiae praeexistantis), als die Wirkung der Außenwelt; daher sind diese Tiere auch weniger vollkommen und in ihren Gattungseigen- schaften weniger beständig (genus suum minus servantia), als die höheren, blutführenden Tiere, welche niemals durch Zufall, sondern immer durch Zeugung aus einer und derselben Tierart entstehen. Folgender Satz gibt die Vorstellungsweise HARVEYs gut wieder‘). »Verschieden sind nämlich die Anfänge verschiedener lebendiger Wesen: je nach deren mannigfacher Eigentümlichkeit anders, und anders sind die Arten der Zeugung der Tiere; welche jedoch alle in dem Einen übereinstimmen, daß sie von einem vegetativen An- fang entstehen, nie aus der Materie, welche die Kraft zu wirken (virtute efficientis dotata) hat, in dem aber verschieden sind, daß dieser Anfang entweder zufällig und von sich selbst entsteht, oder daß sie von einem andern präexistierenden Wesen (als wie Frucht) hervorkommen. Daher werden jene spontan entstehend, diese von den Eltern erzeugt genannt.« So geschieht, sagt HARVEY an einem anderen Ort, in der Ent- stehung der Tiere dasselbe, was auch in den mechanischen Erzeug- nissen des Menschen: wie unter diesen einige zufällig von sich selbst geschehen, wie z. B. die Gesundheit (man beachte an diesem Bei- spiel, was HARVEY unter »zufällig« und »spontan« versteht, daß es nicht Zufall in unserem Sinn ist), andere aber niemals ohne die Kunst, wie ein Haus. Höhere Tiere (perfectiora animalia sanguinea) entwickeln sich epigenetisch und wachsen nach ihrer Geburt. Beim Hühnchen ge- schieht diese Entwicklung so, daß aus dem Ei, welches das Leben potentia enthält, zuerst ein Blutfleck (punctum sanguineum), also nicht 1) Exercitatio. LXII. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. I, Teil, ws 34 I. Kapitel. das Herz (wie bei ARISTOTELES), entsteht, und dieser Blutfleck gebiert dann die andern Körperteile, einen nach dem andern. Das Ei enthält nicht nur die Masse, sondern auch das Lebensprinzip in sich, welches die spezielle Struktur des künftigen Tieres bestimmt und dem Organismus die Ernährungskraft und alles Andere, welches das Wesen des Lebens ausmacht, gibt. HARVEY drückt sich folgendermaßen aus’): »Und erstens weil es feststeht, daß das Hühnchen durch Epigene- sis oder durch den Zuwachs der neu entstehenden Teile (partium exori- entinm additamentum) gebildet wird, sollen wir zusehen, welcher Teil vor allen andern gebildet wird, und was über denselben und dessen Entstehungsart zu beobachten ist. Es ist gewiß ausgemacht, und es erscheint klar im Ei, was ARISTOTELES über die Zeugung der voll- kommenen Tiere aussagt: nämlich, daß nicht alle Teile auf einmal entstehen, sondern der Ordnung nach der eine nach dem andern; und daß zuerst das zeugende Teilchen entsteht, durch dessen Kraft (virtus) als wie aus einem Anfang alle übrigen Teile hervorkommen. So erkennen wir auch bei den Samen der Pflanzen (in den Bohnen, vielleicht auch in den Eicheln), daß zuerst die Knospe oder der Gipfel hervorbricht, als der Anfang des ganzen künftigen Baumes. Und dieses Teilchen ist wie der selbständig gemachte und ins Freie gesetzte Sohn (velut filius emancipatus seorsumque collocatus), und wie der selbständig lebende Anfang, aus welchem dann die Ordnung der Teile bestimmt wird, und Alles, was zum vollständigen Aufbau des Tieres gehört, verteilt wird.« Und ferner‘): »Weil kein Teil sich selbst erzeugt, sondern, nach- dem er erzeugt ist, sich selbst schon vermehrt (wächst), so ist es nötig, daß zuerst der Teil entsteht, welcher (sei es nun bei der Pflanze oder bei dem Tiere) das Prinzip des Vermehrens enthält, und daß in allen Teilen das ist, was die Kraft hat, zu wachsen oder sich zu er- ernähren (vim vegetandi sive nutriendi), und das zugleich alle übrigen Teile, jeden in seiner Ordnung, differenziert und bildet; und daher ist in demselben erstgeborenen Partikelchen vom Anfang an die Seele, die Empfindung und Bewegung und die Vermehrungskraft und das Prinzip des ganzen Lebens enthalten.« Zur Erzeugung der höheren Tiere ist die Befruchtung durch das Männchen nötig; der Same desselben wirkt auf das Ei etwa wie die Ansteckung, oder wie der Magnet, der dem Eisen seine magnetische Kraft überbringt; und diese Wirkungsart des Samens läßt auch die I) De gen. lib. II. cap. 4. Aristoteles und die Aristoteliker. 35 Tatsache der Vererbung von väterlicher Seite als verständlich er- scheinen. HARVEY veranschaulicht dies durch folgenden Vergleich: wie das Gehirn des Weibes die Fähigkeit hat, die Welt zu begreifen, also den Gegenständen ähnliche Vorstellungen zu erzeugen, so hat ihr Uterus, dessen Ideen die Eier sind, diese Eier dem sie befruch- tenden Mann ähnlich zu bilden; ein Vergleich, welcher ebenso kühn als originell ist und uns sehr gut die Richtung veranschaulicht, in welcher sich HARVEys Gedanken bewegt haben. Begriff des Eies. HARVEY wird von manchen der Satz zuge- schrieben, daß alles Lebendige aus den Eiern entsteht, und der Satz wird als Gegensatz gegen die spontane Generation gedeutet. In dem Wortlaut »omne vivum ex ovo« befindet sich der Satz bei HARVEY nicht; man kann jedoch genug Stellen finden, welche sich mehr oder weniger dem Inhalt nach mit ihm decken. Es sei z.B. folgende allgemeine Behauptung angeführt: Omnia tum natalia, tum pe- destria, tum volatilia, sive animalis, sive ovi forma proveniunt, simili modo gignuntur«'). Alle allgemeinen Erörterungen HAR- vEys zielen darauf, daß er gewiß überzeugt war, daß alle Tiere aus Eiern entstehen. Nur darf nicht unter dem Ei ein Ding verstanden werden, wie wir es heute tun, sondern ein Begriff. HARVEY stellt sich vor, daß alle Tiere, auch die spontan entstandenen, diesen Zu- stand in ihrer Entwicklung durchmachen, welcher als undifferenzierte lebendige Masse erscheint, und diesen Zustand nennt er Ei. Unter Ei versteht er also nicht nur die Eier der Vögel, sondern auch die Larven und Puppen der Insekten und den (gemutmaßten) Anfang der Embryonalentwicklung des Menschen. Er sagt z. B. von den Insektenlarven: »So sind auch die Samen der Insekten beschaffen, welche ARISTOTELES Würmer nennt, welche, anfangs unvollständig erzeugt, sich die Nahrung suchen, dadurch genährt werden, und aus der Larve zur Puppe, aus einem unvollständigen Ei zu einem vollständigen Ei und Samen wachsen«’). In dem Kapitel »über das Ei als Anfang aller Tiere« sagt er: .»Welche [Tiere] gleich ein Tier gebären [actu animal pariunt], heißen lebendig gebärend; welche nur der Möglichkeit nach, eier- legend. Jeden Anfang nämlich, welcher der Möglichkeit nach lebt, wollen wir (mit FABRIcıUs) ein Ei nennen; das- jenige ferner, was ARISTOTELES Wurm [d. h. Larve) nennt, unter- 1) Exereitatio. LXII. 2) Exercitatio. XI, 36 I. Kapitel. scheiden wir keineswegs vom Ei: sowohl weil es dem Auge so er- scheint, als weil es auch mit dem Verstand übereinstimmt« usw. So kommt er zu dem Schlusse, daß alle Tiere entweder vivipar oder ovipar sind. Unter den Eiern unterscheidet er vollkommene, welche die gehörige Größe in dem Uterus erreichen, wie bei den Vögeln, und unvollkommene, welche im Freien noch wachsen müssen; das sind die Larven der Insekten. Nun beginnt aber auch die Entwicklung der lebendiggebärenden Tiere mit einem Anfang, welcher dem Ei analogisiert werden kann: »was bei den spontan entstehenden Tieren »primordium«, bei den PflanzenSame (semen) und bei denEierlegenden Ei (ovum) genannt wird, ebendasselbe ist bei der Erzeugung der Viviparen ‚primus concep- tus‘: welches wir nicht nur werden sehen, sondern auch begreifen können. Was wir früher von dem Ei behauptet haben, daß es näm- lich das Sperma und der Same der Tiere sei, dem Samen der Pflanzen analog, das behaupten wir jetzt von dem Conceptus, welcher wahr- lich der Same der Tiere ist, und daher auch Ei heißt.« Kurz gesagt, HARVEY behauptet, daß der erste Anfang der Ent- wicklung ein Stadium ist, welches der Möglichkeit nach den ent- wickelten Organismus in sich enthält, und diesen Anfang der Ent- wicklung nennt er Ei. Allgemeines. Aus dem ÄAngeführten ist zu sehen, daß HARVEY von ARISTOTELES die Einteilung der Tiere in blutführende und blut- lose nicht nur angenommen, sondern dieselbe auch dahin verschärft hat, daß er die ersteren epigenetisch, die letzteren durch Metamor- phose sich entwickeln ließ. Den Ansporn zu dieser für die nach- folgende Zeit so wichtigen Unterscheidung der zwei Möglichkeiten der Entwicklung hat HARVEY ebenfalls von ARISTOTELES übernom- men, und ich bitte den Leser, zu beachten, wie tief und philosophisch dieser Gegensatz hier, bei HARVEY und ARISTOTELES, also gleich am Anfange der Entwicklung der Wissenschaft, erfaßt wird. Seit dieser Zeit hat keiner es versucht, die Wurzel des Streites zwischen Epigenese und Metamorphose mit einer solchen Originalität zu fassen wie HARVEY und sein griechischer Lehrer. Wirkung auf die Nachfolger. An HARVEYs positive Unter- suchungen über die Entwicklung der Tiere haben namentlich MAL- PIGHI, DE GRAAF und SWAMMERDAM angeknüpft; der erste unter- suchte die Entwicklung des Hühnchens, der zweite die des Kaninchens und der dritte die Entwicklung der Insekten. Alle diese Forscher Aristoteles und die Aristoteliker. 37 haben bewußt an HARVEY angeknüpft, seine Beobachtungen teils bestätigt, teils berichtigt und vervollständigt. HARVEY hat durch seine Unterscheidung der Metamorphose und Epigenesis (dieselbe wurde bereits von ARISTOTELES gemacht, wie oben gezeigt wurde) die nachfolgenden evolutionistischen Theorien verursacht. Die Bemühungen seiner Nachfolger, DE GRAAF, VALLIS- NIERT u. a., richteten sich nämlich erstens darauf, das von HARVEY postulierte Ei der Säuger als wirklich vorhanden nachzuweisen; dies ist ihnen nur zum Teil gelungen; zweitens fing man aber an einzusehen, daß das Ei in dem Sinne, wie es HARVEY angenommen hat, überhaupt nicht vorhanden ist, nämlich als eine strukturlose Masse: MALPIGHI und SWAMMERDAM haben nachgewiesen, daß die »Eier der Insekten«, die Larven und Puppen, eine sehr komplizierte Struktur haben, und MALPIGHI hat auch Strukturen im Ei der Vögel gefunden. So war die Aufgabe der Epigenesis, das Strukturlose zu einem Or- ganismus aufzubauen, gegenstandslos, und darum warf man die Epi- genesis überhaupt als unrichtig weg, ohne zu bedenken, daß auch der Übergang von einer Form zu einer andern nur epigenetisch er- klärt werden kann. Es wird weiterhin erklärt werden, wie die neuen philosophischen Ansichten die Evolutionstheorien unterstützt haben; hier soll nur darauf hingewiesen werden, wie die Evolutionstheorien an HARVEY angeknüpft haben. Im Zusammenhange mit diesen Bemerkungen sei darauf hin- gewiesen, daß HARVEY die Entwicklung, speziell die Epigenesis vitalistisch, dynamisch auffaßt: der Übergang vom Strukturlosen zu einer bestimmten Struktur konnte offenbar nur durch eine Kraft (Lebenswärme, Seele) geschehen. Als durch DESCARTES die dyna- mische Anschauungsweise beseitigt wurde, konnte diese Theorie keinen Sinn mehr haben. Man wußte dann auch nicht mehr die Ausdrücke von HARVEY zu verstehen, wie z. B., daß der entwickelte Organismus der Möglichkeit nach im Ei enthalten ist; die Analogie zwischen dem Baumeister und der die Entwicklung treibenden Kraft hatte keinen Sinn mehr. So kam es, daß man HARVEY nicht ver- stand und nicht las: es ist überraschend, wie wenig HARVEY von den Embryologen des 18. Jahrhunderts zitiert wird — und eigentüm- licherweise ist seine Abhandlung über die Entwicklung der Tiere noch heute viel weniger bekannt, als etwa die Arbeiten von SWAMMERDAM, MALPIGHI, HALLER usf. Im Anschluß an HARvEYy wollen wir noch die Entdeckung von REGNIER DE GRAAF (1641— 1673) erwähnen, welcher das Glück hatte, I. Kapitel. on I bei der Untersuchung der Eierstöcke des Kaninchens die nach ihm benannten Follikel zu entdecken; GRAAF hat sie für Säugetier- eier erklärt und ihre Entwicklung weiter verfolgt; er erzählt, wie sich diese »Eier«e von den Övarien ablösen und in die Hörner des Uterus kommen und sich dort zu Embryonen entwickeln. Es muß auch angeführt werden, daß DE GRAAF zuerst konsequent auf die Ovarien der Säugetiere und des Menschen den Namen ovaria angewendet hat; vor GRAAF hat man nicht klar zwischen der’Struktur der weiblichen Ovarien und der männlichen Hoden unterschieden und allgemein die ersteren »testes muliebres« genannt. Durch den Nachweis der GRAAFschen Follikel fiel auch die durch HIPPOKRATES begründete und bis auf GRAAF erhaltene Lehre, daß der Mann wie das Weib bei der Empfängnis Samen liefern. Allerdings hat die aristotelische Schule immer an dieser Theorie gezweifelt. Es sei noch hinzugefügt, daß namentlich SWAMMERDAM die Priorität der Entdeckungen GRAAFs nicht anerkennen wollte; die Entdeckung der Eier bei den Säugetieren sollte vor GRAAF N. STEIN, VAN HORN und FABRICIUS gemacht haben. Literatur. HaArvEy, W., Exereitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus. Franco- forti (a. M.) 16238 und Rotterdam 1649. Exercitationes de generatione animalium. Londini 1651. GRAAF, REGNIER DE, De virorum organis generationi inservientibus. Lugduni Batav. 1668. De mulierum organis etc. ibid. 1672. FABRICIUS AB AQUAPENDENTE, De formato foetu. Pataviae 1615. VOLCHER COITER, Externarum et internarum principalium humani corporis partium tabulae etc. Nürnberg 1573. Die HArVEvsche Lehre vom Blutkreislauf ist in FOSTERsS Ge- schichte der Physiologie erklärt; ich selbst habe zwar beide Schriften HARVEYys studiert, eingehender jedoch nur die über die Zeugung. Die kurzen Angaben über die übrigen Autoren sind aus sekundären (Quellen geschöpft. 3. Francis Glisson. FRANCIS GLISSON (1597— 1677), Professor in Cambridge, später Arzt in London, wird namentlich als der erste Begründer der Lehre von der Irritabilität von den biologischen Historikern angeführt; die Philosophen sehen in ihm den Vorläufer von LEIBNIZ. Aristoteles und die Aristoteliker. 39 In seinen anatomischen Arbeiten schreitet GLISSON treu in den Fußstapfen des ARISTOTELES. Seine Anatomia hepatis (1654), welche für sein bestes Werk gilt, beginnt mit strengen Defini- tionen, welche nach aristotelischer Art als logische und sachliche auseinandergehalten werden; es wird an den Körpern Materie und Form unterschieden und diese Unterscheidung ähnlich wie bei Arı- STOTELES begründet, usw. GLissoN stellt folgende allgemeine Vorstellungen über die Ana- tomie auf. Als das nächste Objekt der Anatomie muß der mensch- liche Körper betrachtet werden; zwar darf auch die Sektion der Tiere nicht vernachlässigt werden, aber nur insofern, als sie jener verschiedentlich dienen kann‘). Die Materie ist ein Körper, welcher eine Form anzunehmen imstande und fähig ist, nach dem Plan des Wirkenden geformt zu werden; so ist das Blei die Materie für die Kugel, nicht für das Schwert. Die Form dagegen ist eine von dem Wirkenden an dem Material geübte Bearbeitung, durch welche sie für ein vorher bestimmtes Ziel bequem gemacht wird. So ist die Bleikugel zum Schießen dienlich. Das auf die Materie Wirkende ist nicht nur der Mensch, sondern auch die Natur, welche ebenso wie jener ihren Zwecken vollkommen angepaßte Formen bildet. Nach dem Unterschied der Materie und der Form werden auch die Teile des Körpers (wie bei ARISTOTELES) in ähnliche und or- ganische (unähnliche bei ARISTOTELES) eingeteilt; die ersteren sind durch das Material bestimmt, aus welchem sie aufgebaut sind, die andern durch die Form, welche sie annehmen. Auch die weitere Einteilung erinnert etwas an ARISTOTELES; GLISSON unterscheidet: Ähnliche Teile spermatisch blutführend (mit wenig Blut) (mit viel Blut öö— — —— ee weich hart dehn- Fett- Paren- (Gehirn) (Knochen) bar gewebe chym Ge ini. —___ hautartig fibrös fibrös und eigentlich phlegmatisch (Pia m.) (Mandeln) hautartig blutführend (Hoden, Haut u. ä.) (Herz, Lunge) Pancreas u.ä. In dem naturphilosophischen Traktat über die energetische Natur der Substanz (1672) hat GLISSON zu zeigen versucht, daß alle Erschei- 1, GLisson begründet dies sehr scholastisch: sunt tamen illa subjecta [Tiere] huius artis extranea duntaxat, proprioque subiecto (hominis nempe dissectioni) famularia. 40 IR Kapitel. nungen der lebendigen Wesen, Tiere wie Pflanzen, sowie auch die der toten Körper sukzessive Entwicklungen der Fundamentalenergie der Natur sind; aus einer allgemeinen Naturkraft entwickelt sich dieselbe in die Pflanzen- und tierische Energie; die materielle, vegetative und sensitive Seele sind verschiedene Stufen der Entwicklung jener Kraft. Indem er in der Abhandlung über die Leber (1654) die Frage löst, wie es kommt, daß die Galle sich nur zu bestimmten Momenten in den Darmkanal ergießt, zeigt GLISSON, daß die Gallenblase mehr Galle gibt, wenn sie gereizt ist, und daß sie dazu die Fähigkeit, ge- reizt zu werden, besitzen muß, und diese nennt er »irritabilitas«e. Irritabilitas ist nach GLISSON die Reizbarkeit des lebendigen Körpers überhaupt, etwa in dem Sinne, wie sie heute verstanden wird, nicht in dem engeren Sinne, den HALLER später eingeführt hat, nämlich dem der spezifischen Reaktion des Muskelgewebes auf den Reiz. Sonstige Bedeutung Grissons. GLISSON hat als erster den Kinderkrankheiten eine größere Beachtung gewidmet; ferner hat er den Blutkreislauf in der Leber untersucht. Er hat auch als erster nachgewiesen, daß der Muskel bei der Zusammenziehung nicht an Volum zunimmt. H. MARION behauptet von demselben (1880), daß durch seine philosophischen Ansichten LEIBNIZ beeinflußt worden sei; es soll dies unter anderem aus der Annahme GLISSoNs folgen, daß die Substanz bei ihm auch die Vorstellungs-, Begehrungs- und Bewegungskraft ebenso wie bei LEIBNIZ hat. Andere bestreiten den direkten Zusammenhang der Theorien von LEIBNIZ und GLIS- SON: einerseits haben seine Anschauungen auf die Zeitgenossen nicht viel gewirkt, andererseits ist es möglich, die Ähnlichkeiten zwischen beiden Philosophen auf ihre gemeinschaftliche Quelle, auf ARISTO- TELES, zurückzuführen. Die GLissonsche Lehre von der Irritabilität wurde erst nach ı0o0 Jahren durch HALLER wieder auferweckt. Literatur. GLIssoNn, FRc., Tractatus de rachitide.e Londini 1650. Anatomia hepatis. Londini 1654. —— Tractatus de natura substantiae energetica. Londini 1672. —— Tractatus de ventriculo et intestinis. Londini 1677. Über GLIssoN haben insbesondere geschrieben: FoSTER, M., History of Physiology in the ı6th, 17th and 18th centuries. Cambridge 1901. MARION, H,, Fr. Glissonius quid de natura substantiae senserit et utrum Leibnizio de natura substantiae cogitanti quidquam contulerit. Paris 1880. Leider habe ich den Traktat über die energetische Natur der Substanz nicht lesen können. Aristoteles und die Aristoteliker. 41 4. F. Redi. Als einer der späteren Aristoteliker muß auch FRANCESCO REDI (1626—ı694) wenigstens kurz erwähnt werden. Wie die übrigen Naturforscher seiner Zeit war auch REDI Arzt und trieb neben seiner Praxis und neben der Wissenschaft auch Philologie und Dichtkunst. ARISTOTELES hat, wie oben erwähnt, bei den niederen Tieren teils Geschlechtsunterschiede angenommen, teils bestritten; unter die letzteren sollen nebst andern auch unsere Insekten gehören, indem sie spontan aus modernden Substanzen entstehen. REDI hat nun diesen Gedanken insofern spezialisiert, daß er unter den Insekten zwei Gruppen unterscheidet, solche mit Geschlechtsunterschieden und an- dere ohne dieselben; alle Insekten der ersten Gruppe sollen nun nicht durch spontane Generation, sondern durch die bei den übrigen Tieren übliche Zeugung entstehen. Daß dem so ist, hat REDI insbesondere bei den Fliegenmaden experimentell nachgewiesen: als er die faulen- den Substanzen durch Glasdeckel vor den Eiern der Fliegen geschützt hatte, entstanden darin keine Maden. Für die übrigen Insekten, bei denen REDI keine Geschlechts- organe erkannte, nahm er ruhig die spontane Generation im ari- stotelischen Sinn an; so sollen die Gallinsekten durch die Wirkung einer sensitiven Seele entstehen, welche die Pflanzensubstanz direkt in die tierische Materie und Form umwandelt. Literatur. Repı, F., Esperienze intorno alla generazione degli Insetti. Firenze 1668. Außerdem hat REDI über parasitische Würmer, über das Vipern- gift geschrieben und verschiedene physikalische Probleme zu lösen versucht. Sein Dithyrambus auf den Wein wird von italienischen Dichtern sehr gelobt. ILIRABELRL.. i Die Begründung der mechanistischen Theorien. Wesen der mechanistischen Auffassung der Natur. Unter der mechanistischen Biologie wird diejenige Richtung verstanden, welche den Organismus für eine Maschine erklärt, deren Funktionen aus der Struktur derselben erraten (berechnet) werden können. Die Mechanisten stellen sich vor, daß der Menschenkörper ein Analogon z. B. der Uhr ist: wie es nur nötig ist, den Bau der Uhr zu kennen, um ihren Gang zu erraten, und wie es nötig ist, etwas an der Struktur zu ändern, wenn man eine Änderung ihrer Funktion erlangen will, so ist es auch mit dem organischen Körper; um z. B. den kranken Körper zu heilen, muß man die kranke Struktur desselben, das kranke Organ oder die kranken Säfte angreifen; um zu erklären, wie der Muskel arbeitet, muß man dessen Bau eruieren, und je besser man. diesen kennt, desto besser kennt man auch die Funktionsweise des- selben. Historische Quellen. Die Aristotelische Philosophie wurde nicht durch Biologen, sondern durch die Physiker und Mathematiker des ı6. Jahrhunderts unterdrückt; erst der Einfluß der Physiker auf die Biologie hat es mit sich gebracht, daß auch diese mathematisch- physikalisch zu werden sich bemüht hat. Der Prozeß fing mit dem Physiker GALILEI (1564— 1641) an, wurde dann durch dessen An- hänger BORELLI und durch DESCARTES in die Physiologie übertragen; mit dem Ende des 16. Jahrhunderts fing der Einfluß von DESCAR- TES an schwächer zu werden, indem LEIBNIZ seiner mechanistischen Philosophie eine erneuerte Lehre von der Unabhängigkeit des Orga- nismus der toten Natur gegenüber aufgestellt hat. Die philosophische Quelle der mechanistischen Lehren läßt sich wahrscheinlich auf die Schwärmereien der Naturphilosophen des ı5. und ı6. Jahrhunderts über die Einheit der Natur zurückführen. Die Begründung der mechanistischen Theorien. 43 Es ist lehrreich, in dieser Hinsicht einen Blick auf die Spekula- tionen von JOH. KEPLER (1571—1630) zu werfen. Die Hauptidee, welche KEPLER bei seinen Versuchen geleitet hat, war die Idee der Weltharmonie, die Idee eines inneren Zusammenhanges von Allem in der Welt. Diese Weltharmonie kann durch Zahlen ausgedrückt werden: ein algebraisches oder geometrisches Verhältnis zwischen den Distanzen, den Planeten und ihren Umlaufszeiten hat KEPLEX a priori angenommen. Wie ARISTOTELEs hat auch KEPLER an die Allbeseeltheit geglaubt: es kommt bei ihm die Vorstellung von der Welt als einem Tier vor, und er läßt die Planeten durch Geister um die Sonne treiben; allein darin bedeutet KEPLER einen Fortschritt über ARISTOTELES hinaus und einen Schritt in die neue Epoche der physikalischen Wissenschaften, daß er nicht mehr über das Wesen der Welt, der Planeten usf. nachdenkt, sondern über die Verhältnisse, in welchen die Erscheinungen stehen, Rechenschaft zu geben sich be- müht. Phantastisch wie er war, sucht er diese Verhältnisse überall, und sein Glaube an die Astrologie ist auch ein Glaube, daß die Lebenserscheinungen des Menschen in einem einfachen Verhältnis zu den Planetenbewegungen stehen. | ARISTOTELES hatte unter dem Einfluß PLATOs und des Studiums der Organismen auf das Wesen, auf den qualitativen Unterschied in den Naturerscheinungen das Hauptgewicht gelegt; er konnte auf die Verschiedenheit der tierischen Individuen, Arten und Gattungen hinweisen, welche tatsächlich qualitativ ist, und er hatte auch guten Grund den qualitativen Unterschied der Erscheinungen der anorgani- schen Natur anzunehmen. KEPLER hat nun infolge seines Suchens nach Zahlenverhältnissen die Tatsache, daß einzelne Planeten qualitativ voneinander verschieden sind, beiseite gelassen und nur das Meß- bare, also die quantitativen Unterschiede zwischen denselben, ge- sucht. Diese von KEPLER angebahnte Richtung wurde durch G. GALILEI (1564— 1641) bewußt und konsequent durchgeführt. Auch GALILEI ist überzeugt, daß die Mathematik die physikalischen Erschei- nungen ausdrücken kann, daß die Qualitäten in der Natur auf Quan- titäten reduziert werden müssen, und daß die mechanistische Welt- anschauung die einzig richtige ist. Er glaubt, daß das Buch des Weltsystems mit mathematischen Buchstaben geschrieben ist, daß unsere Erkenntnis nur so weit reicht, als die Möglichkeit, die Er- scheinungen zu messen; das Qualitative, das Wesen der Sachen bleibt uns unbekannt. 44 II. Kapitel. Gewöhnlich wird die Sache so geschildert, daß GALILEI und seine Zeitgenossen den Glauben an das qualitative Wesen der Dinge inner- halb der Wissenschaft für immer vernichtet haben; dies ist aber ein Irrtum. GALILEI hat nur den Mechanismus des Geschehens her- vorgehoben, sogleich aber, als man wieder selbständiger über den Or- ganismus nachzudenken anfıng, hat wieder die Qualitätenlehre Platz gegriffen; ich erwähne dies an dieser Stelle, um dem Leser den Gegensatz des Mechanismus und Organismus vor Augen zu führen, welcher in der nachfolgenden Entwicklung der Biologie große Be- deutung gehabt hat. In die Biologie wurden die mechanistischen Lehren durch DES- CARTES und BORELLI eingeführt. Obwohl die DESCARTESschen phy- siologischen Ansichten auf schwachen Füßen stehen und bereits zur Zeit ihrer Veröffentlichung von den Biologen angegriffen wurden, so ist nichtsdestoweniger nicht zu zweifeln, daß diese Forschungsrichtung viel positiv Neues gebracht hat. Die mechanistischen Studien von BORELLI über die Muskelbewegung sollen noch heute Wert haben; STENO, ebenfalls ein Mechanist, hat den mikroskopischen Bau der Muskeln durchforscht, und das Problem der mechanistischen Erklärung der Sekretion hat auf die Durchforschung der Drüsen günstig gewirkt. Die übeln Folgen dieser Philosophie haben sich in den Schulen der Iatrophysiker und Iatromechaniker gezeigt, welche auch die praktische Medizin nach mathematischen und physikalischen Formeln ausüben wollten. Im allgemeinen kann behauptet werden, daß die mechanistischen Theorien in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts ihre Blütezeit gehabt haben; die Philosophie von LEIBNIZ hat sie teilweise unterdrückt, teilweise in andere Bahnen gelenkt. 1. Rene Descartes. DESCARTES (1596— 1649), der bekannte Begründer der neuen Philosophie, hat zwar keine positive Entdeckung in der Biologie ge- macht, trotzdem hat er sie sehr durch seine mechanistische Auf- fassung der Natur beeinflußt. Konsequent diesen seinen Standpunkt verfolgend, sucht er in seinem Buch über den Menschen (1662) den Menschen- und Tierkörper als eine Maschine zu begreifen. »Ich nehme an«, sagt DESCARTES'), »daß der Körper nichts anderes ist FARBE ID. 227: Die Begründung der mechanistischen Theorien. 45 als eine Statue oder Maschine aus Erde, die Gott ganz so bildet, daß sie uns möglichst ähnlich erscheint, so daß er derselben nicht nur in ihrem Äußeren die Farbe und die Form aller unserer Glieder gibt, sondern auch, daß er in ihr Inneres alle die Teile legt, welche nötig sind, auf daß sie schreitet, ißt, atmet und schließlich sie alle diejenigen Funktionen den unserigen ähnlich ausübt, von denen man sich vorstellen kann, daß sie aus [den Eigenschaften] der Materie folgen und nur von den Lagebeziehungen der Organe abhängig sind. « Er stellt sich weiterhin vor, daß die Nerven Röhrchen sind, welche in die Gehirnhöhlen einmünden, doch von denselben durch verschließR- bare Klappen getrennt sind; ein peripherer Reiz öffnet diese Klappen, und die in den Gehirnhöhlen eingeschlossenen Spiritus (welche als eine feine Materie aufzufassen sind) strömen heraus, fließen in RER Muskel und rufen die Bewegung hervor. Im Herzen entsteht die Wärme, welche die Blutbewegung hervor- ruft”). Aus dem Blut scheiden sich die beweglichen Elemente, die Lebensgeister (spiritus animales), welche dann in die Poren des Ge- hirns eintreten und von da in die Nerven; und je nachdem sie in den einen mehr, in den andern weniger eintreten, oder auch nur einzutreten suchen, haben sie die Kraft, die Gestalt des Muskels, in den die Nervenröhren einmünden, zu verändern und dadurch alle Glieder in Bewegung zu setzen. »So ist z. B.«, meint DESCARTES, san den Grotten und Springbrunnen, die in königlichen Gärten zu sehen sind, die Kraft, mit welcher das Wasser seinem Behälter ent- strömt, hinreichend, um verschiedene Maschinen zu bewegen und diese sogar Instrumente spielen und Worte aussprechen zu lassen, je nach der verschiedenen Lage und Stellung der Wasserröhren. Und wirklich können die Nerven der tierischen Maschine, die ich beschreibe, sehr gut mit den Röhren dieser Wasserkünste verglichen werden; ihre Muskeln und Sehnen den andern verschiedenen Maschi- nen und Brunnen, die sie in Bewegung zu setzen scheinen; ihre Lebensgeister dem Wasser, das sie in Bewegung setzt und dessen Quelle.das Herz ist, während die Höhlen des Gehirns das Haupt- reservoir bilden .. .« Die Vorstellungen, der Verstand, die Sprache gehören der im- materiellen Seele, welche der Mensch noch neben dem Körper hat und welche den Körper beherrscht. Die Tiere haben keine solche Seele, sie sind bloße Maschinen. I) DESCARTES kannte die Entdeckung HARVvEYs, nahm sie aber nicht an. 46 II. Kapitel. Die grob mechanistischen Ausführungen DESCARTES’ waren auch für seine Zeit unhaltbar; dies hat ihm in einer Polemik der Anatom N. STENO nachgewiesen. Der prinzipielle Gedanke von DESCARTES, der ihn in einen Gegen- satz zu ARISTOTELES und STAHL setzt, ist, daß die Funktionen des Körpers die Folgen der Struktur sind, welches man so verstehen muß, erstens daß nur, insofern die Struktur eines Tieres oder Menschen bekannt ist, uns auch seine Funktionsweise bekannt ist; die Funktion ist nichts Selbständiges, sondern nur Abhängiges, und zweitens, daß, wenn etwa Gott die menschliche Körpermaschine konstruiert hat, dieselbe schon eo ipso anfıng, ihre Funktionen aus- zuüben. Der mechanistische Standpunkt von DESCARTES zeigt sich auch in seiner Auffassung der Zeugung und Entwicklung. Die Zeugung hält DESCARTES für eine Art Gärung der miteinander vermischten männlichen und weiblichen Samenflüssigkeiten. Gleich nach dieser Gärung fängt das Wachstum des neuen Organismus an, welches nicht von innen her durch eine dem Embryo immanente Kraft ge- schieht, sondern in einer Vermehrung der Masse desselben besteht, indem sich ihm neue Partikelchen nach mechanischen Gesetzen an- schließen; man könnte kurz sagen, die Tiere entwickeln sich nach DESCARTES epigenetisch und mechanisch — also im wesentlichen etwa so, wie dies heute gelehrt wird. Es ist noch erwähnenswert, daß bei DESCARTES Spuren des später so wichtig gewordenen Entwicklungsgedankens vorkommen. Im »Discours de la methode« sagt er‘): »Ich wollte jedoch aus allem dem nicht schließen, daß diese Welt auf die von mir angegebene Weise geschaffen worden sei, denn es ist viel wahrscheinlicher, daß Gott dieselbe von Anfang an so gemacht habe, wie sie in Zukunft sein sollte. Aber es ist gewiß und bei den Theologen allgemein angenommen, daß die Kraft, mit der er sie jetzt erhält, dieselbe ist, wie die, mit der er sie einst geschaffen hat: so daß, wenn er ihr auch im Anfange nur die Gestalt des Chaos gegeben hätte und ihr nach der Aufstellung der Naturgesetze nur seinen gewöhnlichen Bei- stand zur Kraftäußerung liche, man ohne alle Ungerechtigkeit gegen das Wunder der Schöpfung glauben könnte, schon allein hierdurch hätten alle bloß materiellen Dinge mit der Zeit so hervorgebracht werden können, wie wir sie jetzt schen. Aber die Natur derselben I) Zit. nach H. HEUSSLER, Die Begründung der mechanistischen Theorien. 47 kann besser begriffen werden, wenn sie so in ihrer allmäahlichen Ent- stehung erblickt, als wenn sie nur als fertig und vollkommen be- trachtet werden.« Ich führe diese Auseinandersetzung an, um darauf hinzuweisen, wie gleich am Anfange der mechanistischen Auffassung der Natur der Gedanke an die Entstehung der Dinge sich dem spekulierenden Geiste darbot; der Gedanke selbst hat jedoch weder bei DESCARTES selbst, noch bei seinen unmittelbaren Nachfolgern irgendeine größere Beachtung gefunden. Literatur. DESCARTES, R., Discours de la methode etc. Leyden 1637. Trait€ de l’homme et de la Formation du Foetus. Paris 1664. (In lateinischer Übersetzung erschien die Schrift 2 Jahre früher.) Ich habe benutzt: GARNIER, A., (Euvres philosophiques de Descartes. 3 Vols. Paris 1335. HEUSSLER, H., Der Rationalismus des 17. Jahrhunderts in seinen Beziehungen zur Ent- wicklungslehre. Breslau 1885. 2. G. A. Borelli. GIOVANNI ALPHONSO BORELLI (1608— 1679) war Arzt, Mathe- matiker, Physiker, Astronom und Physiologe. Die Physiologie trieb er, man könnte sagen, als spezielle Physik, nicht als Biologie; er sagt auch ausdrücklich, daß die Physiologie einen Teil der Physik ausmacht. Sein wichtigstes Werk handelt über die Bewegung der Tiere (1680). Man war bereits weit über ARISTOTELES fortgeschritten, welcher, wie oben erwähnt worden ist, die Ursache der Bewegung nicht im Fleisch, sondern in den Sehnen suchte; es hat dies zuerst der Anatom VESALIUS (1543) auf Grund der makroskopischen Unter- suchung erkannt, und N. STENO (1664) hat mit Hilfe des Mikroskops gefunden, daß das Fleisch des Muskels aus parallelen Fasern zu- sammengesetzt ist, welche wieder aus Bündeln von feinen Fibrillen bestehen; die einzelnen Muskelfasern sind miteinander durch [binde- gewebige] Querfasern verbunden. BORELLI kannte die Beobachtungen von STENO und wußte bereits wie dieser und wie VESALIUS, daß der Muskel arbeitet, indem sich sein fleischiger Teil zusammenzieht und hart wird. Er stellte sich nun vor, daß die Muskelfasern aus reihenweise angeordneten Rhomben bestehen, und daß während der Zusammenziehung zwischen einzelne 48 II. Kapitel. Rhomben keilartige Elemente eingeschoben werden, welche dadurch entstehen, daß beim Impuls zur Bewegung eine feine Substanz durch die Nerven in den Muskel strömt und in demselben eine andere Sub- stanz antrifft, welche mit der ersteren gemischt in eine plötzliche Fermentation gerät, deren Produkt die Lücken im Muskel ausfüllt und so die Turgeszenz und Zusammenziehung verursacht. Ebenfalls mechanisch will er die Tätigkeit der Drüsen erklären. Die Flüssigkeiten sind nämlich nach BORELLI aus elementaren, frei- beweglichen Partikelchen zusammengesetzt; die Mannigfaltigkeit der Flüssigkeiten besteht in Verschiedenheiten in der Konsistenz, Form und Bewegungsart der sie zusammensetzenden Teilchen. Die Sekretion in den Drüsen geschieht nun auf die Art, daß die einen Flüssigkeits- teilchen durch die porösen Drüsenwände durchdringen können, die andern nicht. So z. B. wird man nach BORELLI in der Niere Poren von zweierlei Größe annehmen müssen: durch die einen wird das venöse Blut hindurchgelassen, durch die andern die Urinflüssigkeit. BORELLI ist nebst DESCARTES der Vater der iatromechanischen Phantasien, welche gegen das Ende des ı7. Jahrhunderts geblüht haben. Als die berühmtesten von den Iatrophysikern werden GIORGIO BAGLIVI (1668&— 1707) und ANTONIO PACCHIONI (1665— 1726) ange- führt, von welchen der erstere die Dura mater sich aktiv wie das Herz bewegen ließ, wodurch im Nervensystem der Kreislauf der Nervensäfte erhalten werden soll (1701), der letztere die mathe- matische Deutung der physiologischen und pathologischen Lebens- vorgänge in das Extrem trieb. Literatur. BORELLT, A. G., De motu animalium. Leyden 1680—81. STENO, N., De musculis et glandulis observationum specimen. Copenhag. 1664. Elementorum myologiae specimen. Ibid. 1667. PACCHIONI, A., De durae matris fabrica et usu. Roma 1701. Der Abschnitt ist nach sekundären Quellen geschrieben; lesens- wert sind insbesondere das Buch von FOSTER und PINToO, G. Al- fonso Borelli e la medicina iatromecanica in Italia nel secolo ı7 mo. Boll. dell’ Ac. med., Parma 1893. 3. Fr. Hoffmann. FRIEDRICH HOFFMANN (1660— 1742), Professor der Medizin in Halle, hat nebst einer großen literarischen Tätigkeit in der Pathologie Die Begründung der mechanistischen Theorien, 49 den Cartesianismus systematisch in die theoretische Medizin ein- geführt. Seine theoretischen Prinzipien hat er lehrbuchartig in einem Büchlein über die Fundamente der Medizin (1695) zusammengestellt; dieselben sind nicht besonders originell, wir wollen sie trotzdem in aller Kürze anführen, da sich das System STAHLs als eine Negation dieser Lehren entwickelt hat. Wenn der Leser die später erörterten Theorien von STAHL mit den jetzt anzuführenden vergleicht, wird er sich eine Vorstellung davon machen können, wie der Vitalismus aus dem Mechanismus entstand. »Nur die Mechanik, mit der Anatomie und Chemie verbunden, führt die Naturwissenschaft und Medizin von dem niedrigen zu einem erhabenen Standpunkte: wer mit einer solchen Wissenschaft gehörig bewaffnet ist, wird am leichtesten die Ursachen der dunkeln Vor- gänge ermitteln, die zweifelhaften Kontroverse und Meinungen der Ärzte lösen, kräftige Medikamente auch in den hoffnungslosen Krank- heiten glücklichst erfinden können; diese Wissenschaft verwendet die geringste Anzahl der Prinzipien, welche eben Prinzipien der künstlichen wie der natürlichen Dinge sind, nämlich die Materie und die Bewegung« '). | »Die Medizin ist die Kunst, die physiko-mechanischen Prinzipien auf die Erhaltung und Heilung der verlorenen Gesundheit anzu- wenden«?). »Es gibt keine substantialen Formen, sondern alle For- men sind in bezug auf die Materie zufällig...« »Unser Körper ist wie eine Maschine oder ein Automat, welcher aus verschiedenen Organen zusammengesetzt ist, die zu einer Figur und Größe zu- sammengestellt und konstruiert sind, welche bewegt und belebt werden durch die flüssigen Teile unseres Körpers«®). Das Leben besteht nach HOFFMANN in der Bewegung der Flüssigkeiten (= der Spiritus) durch die festen Teile; diese werden durch jene bewegt. Literatur. HOFFMANN, F., Fundamenta Medicinae ex prineipiis naturae mechanicis in usum Philiatrorum suceincte proposita. Halae 1695. 4%. Th. Willis. THOMAS WirLris(iuUS) (1621—ı675), ein berühmter Londoner Arzt, hat die Cartesianische Lehre auf die Auffassung der Gehirnfunktionen ı) S.4 (der Einleitung). 2). 5.%#, 3) S. ıı. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien, I. Teil. 4 50 II. Kapitel. angewendet; er hatte einen großen Einblick in die Funktionen der Seele, er hat die Physiologie der Sinnesorgane im allgemeinen, den Bau und die Funktionen des Gehirns und der Nerven, die Er- scheinungen der Krämpfe, die Hysterie und die psychischen Krank- heiten überhaupt monographisch bearbeitet. FOSTER schildert ihn jedoch als einen nicht sehr ehrlichen Mann, welcher bei seinen Studien seinen Genossen RICHARD LOWER mehr als zulässig aus- genützt hat. ‚ In seiner Schrift über die Anatomie des Gehirns (1659) beschreibt WirLıs eingehend das Gehirn des Menschen, sowie einiger Säugetiere und zieht zum Vergleich auch das Gehirn der Vögel hinzu. Man könnte in dieser Schrift die ersten Spuren der vergleichenden Anatomie suchen. Folgendermaßen berührt WILLIS diese wissenschaftliche Richtung‘): »Um die Kenntnis des Gehirns und seiner Teile zu erlangen, wird es nötig sein, nicht nur die menschlichen Köpfe, son- dern auch die Köpfe anderer Tiere jedweder Gattung anatomisch zu untersuchen«, denn erstens sind die menschlichen Leichen schwer zu erlangen, ferner ist das Gehirn des Menschen sehr groß und des- halb nicht leicht übersichtlich... »Und wenn ich bei dieser Unter- suchung einige Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten nachweisen werde, welche bei verschiedenen Tieren, wenn untereinander und mit dem Menschen verglichen, bestehen, so werden gewiß von einer sol- chen vergleichenden Anatomie nicht nur die Fähigkeiten und Funk-‘ tionen jedes Organs, sondern auch die Spuren, die Einflüsse und die verborgenen Wirkungsarten der sensitiven Seele entdeckt werden können.«e Das Gehirn des Menschen ist nach WiırLLıs dem der Säugetiere sehr ähnlich, das der Vögel wieder dem der Fische, wel- ches WILLIS mittelalterlich so erklärt”): »Wie nämlich die ersten Bewohner der eben gegründeten Welt so geschaffen worden sind, daß der eine Tag zugleich die Vögel und Fische, der andere den Menschen und die Vierfüßler gleichzeitig hervorgebracht hatte, so ist in jeder dieser beiden Gruppen der Gehirnapparat ähnlich; ein großer Unterschied wird jedoch gefunden in den Gehirnteilen der Nachkommenschaft des ersten und des zweiten Tages«. Die spezielle Beschreibung des Gehirns muß hier übergangen werden; wir wollen nur noch WiırrLıs’ Vorstellungen über die Seele erwähnen, welche er bei dieser Gelegenheit entwickelt. Im 1) Cerebri Anat. S. 2. 2) Ebenda, S. 2. Die Begründung der mechanistischen Theorien. 51 Gehirn werden alle Begriffe (conceptus) der rationalen wie der sensi- tiven Seele, so die Ideen, der Wille, die Fähigkeiten, gebildet, und nachdem sie dort ihre Form erlangt haben, werden sie verwirklicht. Nur der Mensch hat eine unsterbliche Seele, welche nach dem Him- mel zielt, und deshalb ist sein Großhirn an der höchsten Stelle, nämlich über dem Kleinhirn, ausgebreitet. Die tierische und die niedrigere menschliche Seele (anima sensitiya) ist materiell und läßt sich mit dem Feuer vergleichen; sie besteht aus feinen und sehr beweglichen Partikelchen, welche im Gehirn aus dem Blut durch die porösen Wände der Blutgefäße filtriert werden. Alle seelischen Funktionen sind Folgen dieser feinen Substanz, dieser Spiritus; so ist die Vorstellungskraft »eine gewisse Undulation der tierischen Spiritus«, welche in das Gehirn gerichtet ist und von dort wieder gegen die Peripherie zielt; ähnlich kann auch das Gedächtnis und das Streben (appetitus) erklärt werden; die Empfindlichkeit und Be- weglichkeit, die Affekte und Instinkte hängen nur mittelbar vom Gehirn ab und haben ihren wahren Sitz im Kleinhirn und in der Medulla oblongata. Die Dura mater zieht sich an verschiedenen Stellen des Gehirns zusammen und reguliert auf diese Art den Zu- fluß des Blutes zu verschiedenen Gehirnteilen und dadurch auch die Produktion der Spiritus. Diese Spiritus werden in der grauen Sub- stanz des Großhirns gebildet, durch die weiße Substanz werden sie auf bestimmte Körperstellen gesendet, von dort strömen die Spiritus nämlich in die Nervenröhren, welche sie in die Muskeln und andere innervierte Körperteile führen. Diese Ansichten hat WILLIS auch auf die niedrigeren Tiere an- gewendet (1672). Die tierische Seele ist je nach der Struktur des organischen Körpers verschieden, sagt WILLIS, und um die Mannig- faltigkeit der Tierseelen darzustellen, muß man zuerst die Geschichte der Tiere, ihre Anatomie und Einteilung schreiben. Die Tiere können entweder nach ihren Atmungsorganen in solche, welche durch Kiemen, und solche, die durch die Lunge atmen, eingeteilt werden, oder nach «der Beschaffenheit des Lebenssaftes in blutlose und blut- führende; die letzteren sind teils weniger vollkommen und kalt (z. B. Lumbricus), teils vollkommen und warm. Die blutlosen sind entweder Landtiere, wie viele Insekten, oder Wassertiere, unter die andere Insekten und verschiedene Fische gehören; die Fische sind teils weich, wie Sepia, teils mit einer Schale versehen, wie die Auster und die Krustentiere (Krebs). In allgemeinen Umrissen wird die Anatomie der Auster und des u 52 II. Kapitel. Krebses beschrieben. Der vergleichende Standpunkt von WILLIS zeigt sich dabei in seiner ganzen Naivität. Von dem Krebs wird nämlich behauptet, daß er, wie er nach rückwärts schreitet und schwimmt, so auch invers gelagerte Organe besitzt, nämlich die Knochen nach außen, die Muskeln nach innen; die Aorta und das Herz liegen oben, die Eingeweide und die Medulla unten. Wie man sieht, sind WILLIS’ Ansichten nicht eben sehr originell; interessant ist, dabei zu verfolgen, wie der Cartesianische Gedanke bei WILLIS ganz konkrete, greifbare Formen annimmt und mit den Resultaten der exakten Forschung in Übereinstimmung gebracht wird. WirLıs’ Ansichten über die Funktionen des Gehirns wurden von Joun MAyowW und von STENO kritisiert. Literatur. Wiıruıs, TH., Cerebri Anatome nervorumque descriptio et usus. Londini 1659. —— De anima brutorum, quae hominis vitalis ac sensitiva est, exercitationes duae. Oxonii 1672. Daneben eine Reihe Abhandlungen medizinischen Inhalts. Ich habe benutzt: WILLIS, THOMAE, Opera omnia. 2 Vols. Genevae 1680. Über WILLIS’ chemische Theorien siehe den nachfolgenden Artikel. 5. Die Lehren von den die Körpermaschine treibenden Spiritus. Es ist ein schwacher Punkt jeder mechanistischen Theorie, zu er- klären, wie die Körpermaschine sich bewegt. In den modernen Theorien weiß man sich gut mit dem Begriff der potentiellen (che- mischen) Energie, welche als Nahrung in den Körper eingeführt wird, und mit dem der aktuellen Energie, welche aus dem chemischen Zerfall dieser Nahrung entsteht, zu helfen. Zur Zeit DESCARTES’ kannte man die Begriffe potentiell und aktuell nicht, oder vielmehr, man verschmähte sie als Aristotelischer Philosophie angehörend. So wurde man genötigt, die Bewegungsvorgänge im Körper auf Mole- kularphysik zurückzuführen. Zu diesem Zweck nahmen DESCARTES, und mit ihm BORELLL, WILLIS und viele andere, den Aristotelischen Begriff des Spiritus, des Pneuma in ihre Philosophie auf; während aber das Pneuma bei ARISTOTELES wesentlich die (an eine feine Materie gebundene) Kraft Die Begründung der mechanistischen Theorien. 53 bedeutet, versteht darunter DESCARTES nur eine aus feinen runden Molekeln bestehende Materie, welche die Eigenschaft hat, daß ihre einzelnen Molekeln fortwährend auseinanderzutreten streben. Diese Molekeln sind nun die »Spiritus«e oder die »anima brutorum« bei DESCARTES, WILLIS u.a. Die »Geister (spiritus)«, sagt WILLIS'), »sind eine sehr feine Sub- stanz, und des göttlichen Hauches teilhaftig, welche der Vater der Natur in dieser sublunaren Welt als Werkzeuge des Lebens und der Seele, der Bewegung und der Empfindung jedes Dinges gegründet hat; dieselben sind einmal selbständige Elemente, immer ausgedehnt und wegzufliegen strebend; damit sie jedoch ihre Subjekte nicht zu schnell verlassen, sind sie bald an gröbere Partikelchen gebunden, wo sie, verschiedenartig von diesen gröberen Partikelchen getrieben, das Ding zur Reifung bereiten, wie es in dem Wachstum der Körper und in der Fermentation geschieht, bald sind sie in ge- wissen Höhlen, in den Gefäßen und Eingeweiden der Tiere ein- geschlossen und nötigen diese, die Zustände ihrer Bewegung je nach den Aufgaben des Lebens, der Empfindung und Bewegung öfters zu wiederholen. Von ihrer Bewegung kommt die Belebung der Körper her, die Vegetation der Pflanzen, das Reifen der Früchte, der Lösungen und anderer Präparate; sie bestimmen die Form und Figur jedes Dinges, welche, wie nach göttlicher Bestimmung vorher- gegeben ist...« Die Mineralien haben fast keine Spiritus, die Pflanzen eine ge- ringe Menge; in größerer Anzahl sind sie bei den Tieren vorhanden; auch in künstlichen Präparaten, namentlich in solchen, welche durch Gärung reif werden, gibt es davon eine größere Menge. Neben den Spiritus unterscheidet WILLIS in den Körpern im Sinne der damaligen Chemie Sulphur (Schwefel; nicht mit unserem Schwefel zu verwechseln), welcher von etwas gröberer Beschaffenheit als Spiritus ist, nach diesem ist er aber das aktivste Element; ferner Sal, noch gröber als Schwefel und nicht so flüchtig; Wasser ist das Element, welches Schwefel und Salz in den Flüssigkeiten zu einer Einheit ver- bindet; Erde tut dasselbe in festen Teilen, was das Wasser in Flüssigkeiten: sie füllt die Lücken aus, welche Sulphur und Sal im Körper bilden. Wenn man diese Ansichten mit den heutigen allgemeinen Theorien vergleicht, so muß man überrascht sein, wie wenig die dreihundert ı) De Fermentatione S. 3 f. 54 II. Kapitel. Die Begründung der mechanistischen Theorien. Jahre, welche uns von ihnen trennen, daran geändert haben: Die Spiritus kennt man heute kaum mehr; Sulphur ist jedoch unser Äther, und das, was den Spiritus früher zugeschrieben wurde, wird heute teils dem Äther, teils den Molekülen der übrigen Elemente zugeschrieben; die Schwingungen und die Ausdehnungskraft spielen heute dieselbe Rolle wie vor dreihundert Jahren. Und doch, wenn man demgegenüber die heutige Chemie mit der damaligen vergleicht, welch radikale Unterschiede! Man sieht daran sehr anschaulich, was eine philosophische Überzeugung vermag: die verschiedensten Wissenschaften unter einen und denselben Hut zu bringen. Literatur. WırLıs, TH., De Fermentatione sive de motu corporum naturalium inorganico. Hagae 1659. Ill. KAPITEL. Die Anatomie im 17. Jahrhundert. Als eine unerschütterliche Autorität in der Anatomie hat GALEN gegolten. Der Anfang der selbständigen anatomischen Forschung in der Neuzeit ist nicht bestimmt anzugeben: aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts wird MUNDINUS (MONDINO) als ein selbständig ar- beitender Anatom angeführt, dessen »Anatomia Mundini« als Lehr- buch von den Ärzten viel benutzt war. Von den Späteren werden namentlich JACOBUS BERENGARIUS oder CARPI (1470— 1530) und JA- COBUS SYLVIUS (1478— 1555) gerühmt. Diese Anatomen haben be- reits hier und da gegen GALEN polemisiert, gründlich hat mit ihm aber erst ANDREAS VESALIUS (1514— 1564) aufgeräumt, welcher auf Grund ausgedehnter selbständiger anatomischer Untersuchungen die (menschliche) Anatomie als Erfahrungswissenschaft begründete. VE- SALIUS war kein Theoretiker im gewöhnlichen Sinne des Wortes; die Morphologie kann auf ihn nur insofern zurückgeführt werden, als sie nicht durch logische Konstruktionen, sondern durch Anatomie studiert werden muß. Sein Standpunkt war jedoch ein physiologi- scher, wie bereits aus dem Titel seiner Hauptschrift: »Fabrica humani corporis« folgt. Der Körper ist ihm eine Summe von Or- ganen, deren Bedeutung in der Funktion liegt, die sie ausüben; daß auch die Form an sich ihren Zweck hat, das haben VESALIUS und seine Zeitgenossen nicht beachtet. Auch die Histologie, sofern bei der Unkenntnis des Mikroskops von einer solchen die Rede sein kann, war wesentlich physiologisch, wie die obenerwähnte Einteilung der Gewebe von GLISSON nachweist. Neue Vorstellungen haben in die Anatomie MALPIGHI, SWAMMER- DAM, GREW und HoOkE gebracht, die sich bereits des Mikroskops zu bedienen wußten. MALPIGHI insbesondere bildet eine selbständige, von der Umgebung unabhängige literarische Erscheinung; er ist der erste, welcher das Organ bis zu einem gewissen Grad unabhängig von dessen 56 III. Kapitel. Funktion betrachtet hat und also tief in die Kenntnis der tierischen Struktur eingedrungen ist; desto eigentümlicher ist, daß seine Unter- suchungen über hundert Jahre keinen würdigen Nachfolger fanden. 1. M. Malpighi. MARCELLO MALPIGHI (1628— 1694) war ein sehr fleißiger und gewissenhafter Forscher, nicht in Allgemeinheiten sich verlierend, sondern immer in die feinsten Einzelheiten einzudringen -strebend. Er war der erste, welcher mit größerem Glück das Mikroskop zu wissenschaftlichen Untersuchungen angewendet hat. Der Zeitpunkt der Entdeckung des Mikroskops ist nicht genau bekannt, fällt aber bestimmt in die Jahre 1590— 1600. Das Mikroskop, auch wenn man die unvollkommene Form, in welcher es zuerst an- gewendet wurde, beachtet, hatte anfangs bisweilen nicht die Be- deutung, welche es heute hat. Die Arbeiten der ersten Mikroskopiker waren meistens auch keine histologischen Arbeiten; es waren ge- wöhnlich überhaupt keine bestimmten wissenschaftlichen Probleme, welche mit Hilfe des Mikroskops gelöst wurden, sondern man unter- suchte damit ohne Wahl alles, was sich untersuchen ließ, und das Beobachtete diente mehr als Beweis für die Vergrößerungskraft des Mikroskops, denn als Ziel der Untersuchung selbst. So haben sich nicht nur Biologen von Fach wie MALPIGHI, sondern auch Dilet- tanten wie LEEUWENHOEK und Physiker wie HUYGHENS mit der Mikro- skopie befaßt. MALPIGHI entdeckte die Kapillaren und den kapillaren Blutkreis- lauf (1661) und vervollständigte dadurch die HARVEYsche Lehre be- deutend; viel besser als HARYEY hat er die erste Entwicklung des Hühnchens beschrieben; einer gründlichen Untersuchung hat er den Bau der Drüsen unterzogen (1665); von ihm rührt eine sehr ein- gehende mikroskopische Untersuchung des Pflanzengewebes (1675) und eine monographische Bearbeitung der Anatomie vom Seiden- wurm (1669) her. Die Beobachtungen MALPIGHIs waren nicht von der Art, daß sie die herrschenden Theorien von der Funktion der Körpermaschine bestätigten, sie haben aber auch nicht direkt gegen diese Theorien gesprochen, sondern sie haben, wie es überhaupt bei einem wirklich neuen Gedanken oder bei einer neuen Entdeckung gewöhnlich zu geschehen pflegt, ohne die tatsächlichen Streitigkeiten über den Mechanismus oder Organismus zu entscheiden, das Problem der lebenden Körper von einem ganz neuen Gesichtspunkte beleuchtet. en ur Die Anatomie im 17. Jahrhundert. 57 Ich habe oben erwähnt, wie VESALIUS den Menschenkörper als eine aus einer bestimmten Anzahl von Organen bestehende Maschine aufgefaßt hat; ich habe auch die Einteilung der Gewebe von GLISSON angeführt, welche ebenfalls mehr abstrakt und gewiß künstlicher war, als es der Feinheit der Struktur der Gewebeformen entsprechen konnte. Indem sich nun MALPIGHI dem Studium der feineren Strukturen widmete, konnte er nicht übersehen, daß die Organe und ihre makroskopischen Teile unmöglich mit den Rädern eines Uhrwerks verglichen werden können, da die Räder des Uhrwerks homogen sind, während die Teile des Organismus wieder aus feinen Strukturen bestehen, die sich aus dem Bau und der Funktion des ganzen Körpers nicht begreifen lassen. So drängte ihn das beobachtete Material zur Vorstellung der organischen Struktur, als einer Tat- sache, die aus der Tätigkeit des Organismus nicht erschlossen wer- den kann, sondern etwas Selbständiges darstellt. HARVEY und seine Anhänger kannten die Kapillaren noch nicht; diese Unkenntnis hin- derte sie jedoch keineswegs an der konsequenten und logisch rich- tigen Durchführung der Lehre von dem Blutkreislauf. Als nun MALPIGHI die Kapillaren entdeckte, hat er dadurch keineswegs die Vorstellungen vom Blutkreislauf als unrichtig nachgewiesen, er hat aber doch in die Lehre etwas Neues eingeführt, was man aus der Lehre selbst nicht deduktiv gewinnen konnte. Durch die Anatomie des Seidenwurms hat er nachgewiesen, daß auch die niederen Tiere, welche man für Klumpen undifferenzierter Masse gehalten hatte, sehr verwickelte und ungeahnte Strukturen besitzen, und zu einem ähn- lichen Resultat kam MALPIGHI auch durch seine Untersuchung des pflanzlichen Körpers; als seine Elemente erklärt er verschiedenartig gebaute Röhren und kugelförmige Gebilde. So wurde durch MAL- PIGHI an die Stelle der Aristotelischen Unterscheidung des feuchten und trockenen Gewebes eine rein morphologische Betrachtungsweise in die Wissenschaft von den Organismen eingeführt. Der geringe Einfluß, welchen die Untersuchungen MALPIGHIs auf die nachfolgenden Zeitalter ausgeübt haben, ist überraschend. Man kann nicht sagen, daß MALPIGHI nicht gelesen wurde; er wurde immer sehr gepriesen, und seine Beobachtungen wurden wiederholt; trotz alledem findet man aber erst am Ende des 18. Jahrhunderts Forscher, welche MALPIGHI verstehen konnten. Was LEEUWENHOEK, REAUMUR, LYONET und andere Nachahmer MALPIGHIs nach ihm ge- leistet haben, war theoretisch wertlos und brachte nichts Neues. Es 8 III. Kapitel. wurden nämlich weniger die allgemeinen Gedanken, auf welche die Entdeckungen MALPIGHIs führen, ergriffen und erörtert, sondern bei weitem mehr einzelne Versuche und Beobachtungen. Man begann eifriger die niederen Tiere zu untersuchen (SWAMMERDAM, REAUMUR, LvoNET), wobei aber mehr die entwicklungsgeschichtlichen, physio- logischen, ethologischen und systematischen Probleme gelöst wurden als die Morphologie. Seine (und GREWs) phytotomischen Unter- suchungen blieben unbeachtet, da man sie bei der nach der Syste- matik zielenden Pflanzenforschung des ı8. Jahrhunderts nicht zu brauchen glaubte. Desto mehr hat MALPIGHI durch seine embryologische Theorie gewirkt; er war der erste, welcher sich für die Theorie der Evolution und gegen die Epigenesis aussprach. Wie HARVEY sucht auch MALPIGHI sich den Vorgang der Entwicklung durch eine Analogie zu verdeutlichen. Die künstlich erzeugten Maschinen, sagt er, werden so gebaut, daß zuerst einzelne Teile für sich konstruiert werden, und aus diesen wird dann die Maschine zusammengesetzt. So entsteht jedoch nach MALPIGHIs Ansicht der Organismus nicht; denn es ist möglich, bereits im Ei das ganze künftige Tier zu finden, und anstatt des ersten Anfangs desselben sehen wir die aufeinander folgende Ent- faltung der Organe. Wie der Tod weder des lebendigen noch des bereits gestorbenen Körpers Eigenschaft ist, so wird etwas Ähnliches auch bei der Entstehung des Organismus statthaben‘). MALPIGHI bekennt, daß er die erste Entstehung des Embryos nicht gesehen hat; dies führt ihn zu der nicht ganz deutlich ausgesprochenen Mei- nung, daß der Embryo überhaupt nicht entsteht, sondern sich nur entfaltet und entwickelt. Und in diesem Glauben wurde er noch mehr durch die Beobachtung bestärkt, daß die Furchung des Hühner- eies oft bereits vor der Befruchtung beginnt. Außerdem hat MAL- PIGHI die Analogie zwischen dem Ei der Tiere und dem Samen der Pflanzen gezogen und auch in diesem Samen die bereits vollständige künftige Pflanze als vorhanden erklärt. Begriff der Evolutionstheorie. Bei HARVEY haben wir den Begriff der Epigenesis erklärt; es sei diese Stelle dazu benutzt, die Evolutions- und Präformationstheorie kurz zu charakterisieren, die uns von nun an noch öfters beschäftigen wird. Jede Evolutionstheorie geht von dem Grundgedanken aus, daß nichts Neues während der Embryonalentwicklung entsteht, und versteht diesen Gedanken ı) De form. pull. Einleitung. ie Mn an ten se Die Anatomie im 17. Jahrhundert. 59 lediglich so, daß keine neue Form entsteht, daß also ein Em- bryonalstadium formal dasselbe ist wie jedes andere vorangehende und nachfolgende. Die in der Geschichte aufgetauchten Evolutions- theorien sind nicht alle gleich konsequent gewesen. Während z.B. BONNET richtig betont hat, daß während der Entwicklung ein un- gleichmäßiges Wachstum der Teile vorkommt, haben andere mehr konsequent (und weniger richtig) die Evolutionstheorie in die Präfor- mationstheorie umgewandelt, nach welcher z. B. der Mensch im Keim bereits als ultramikroskopisch kleiner Mensch vorhanden wäre. Wir können nun leicht erraten, wie MALPIGHI auf seine evolutio- nistische Theorie kam. ARISTOTELES wurde bereits vergessen oder verfochten, und die Lehre vom Übergang des Potentiellen in die Wirklichkeit wurde als Scholastik bekämpft. Hätte MALPIGHI also überhaupt eine epigenetische Theorie annehmen können, so hätte er den neuentstehenden Körper nur durch Zusammenkristallisierung der einzelnen Organe entstehen lassen müssen. Dies verwarf er, da es den Tatsachen nicht entsprach; so blieb nichts anderes übrig, die Entstehung des neuen Organismus überhaupt zu leugnen und nur Wachstum des vorhandenen anzunehmen. Auf diese Weise, nämlich durch das Hineinspielen der mechanistischen Gedanken, er- kläre ich mir das Aufblühen der evolutionistischen Spekulationen in den nachfolgenden Zeiten. Auch die positiven Beobachtungen MAL- PIGHIs haben in dieser Richtung direkt gewirkt; namentlich LEIBNIZ beruft sich in seinen evolutionistischen Theorien auf ihn. Vor MALPIGHI hat den zelligen Bau der Pflanzen ROBERT HOOKE (1635 —ı703) beobachtet (1667). HOOKE war kein Botaniker von Fach; außer den Flugmaschinen hat er eine Reihe von physikalischen und astronomischen Problemen gelöst, mit HUYGHENS stritt er um die Priorität in der Anwendung des Pendels zur Zeitmessung, er hat ferner chemische Experimente gemacht und war daneben noch ein geschickter Architekt. Auch das Mikroskop verbesserte er wesent- lich, und nun bemühte er sich, die Kraft desselben zu beweisen und den Augen der Zeitgenossen Neues an verschiedenen botanischen Objekten zu zeigen. Die Zellen sah er an einem dünnen Schnitt des Flaschenkorkes; der Name Zelle rührt von ihm her. Doch glaubte HookE von den Zellen, daß es Löcher, Poren in der Pflanzen- substanz sind, und war erfreut, durch seine Entdeckung die Porosität der Materie bewiesen zu haben. Eine der MArpiGHischen Arbeit über die Pflanzenanatomie ähn- liche Untersuchung hat-der Engländer NEHEMIAH GREW (1628— 1711) als 60 III. Kapitel. veröffentlicht; seine Anatomie ist vieflach im beschreibenden Teil noch gründlicher als die von MALPIGHI, es fehlen ihr jedoch die allgemeinen morphologischen Begriffe. Literatur. MALPICHI, M., De pulmonibus epistolae duo ad Borellium. Bonon. 1661. —— De viscerum structura exereitatio anatomica. Londini 1669. —— De structura glandularum conglobatarum epistola. Londini 1697. , — — Anatome Plantarum cum appendice observationes de ovo incubato continente. Londini 1672. —— Opera omnia, zuerst Londini 1686 und später mehrmals (ich habe diese Ge- samtausgabe benutzt). Die »Anatome Plantarım« erschien stark verkürzt und mit Anmerkungen versehen in Ostwalds Klassikern der exakten Wissen- schaften. Nr. 120. Leipzig 1901. HOookE, Rop., Micrographia or some physiological descriptions of minute bodies made by magnifying glasses. London 1667. GREW, NEH., The anatomy of plantes begun with a general account of vegetation founded thereupon. London 1671. Ein Teil dieser letzteren Abhandlung ist in französischer Übersetzung er- schienen; nur diese war mir zugänglich. 2. J. Swammerdam. Das Leben von JOHANN SWAMMERDAM (1637— 1680) weist meh- rere Ähnlichkeiten mit dem seiner Zeitgenossen PASCAL (1623 bis 1662) und SpinoZA (1632—1677) auf. Wir wollen dasselbe deshalb kurz beschreiben. Der Name unseres Forschers war der Name eines Ortes in der Nähe von Amsterdam, von wo sein Großvater nach Amsterdam übersiedelte. Der reiche Vater SWAMMERDAMS hatte sich große Sammlungen von Kuriositäten angelegt, und der junge Sohn hatte bei dem Ordnen derselben, womit er vom Vater betraut worden war, bereits in der frühesten Jugend Gelegenheit, sich ziemlich große naturwissenschaftliche Kenntnisse zu erwerben. SWAMMERDAM studierte Medizin in Leiden, wo er mit N. STENO und R. DE GRAAF befreundet wurde; mit dem letzteren geriet er je- doch später in eine Polemik, welche ihm das Leben sehr ver- bitterte. Die innigste Freundschaft schloß er während einer Reise nach Frankreich mit dem französischen Gesandten in Genua, MEL- CHIOR THEVENOT; dieser wurde ihm, wie SWAMMERDAM vor seinem Tode schrieb, der einzige »certus, fidus, verus amicus, cui neminem parem usquam inter mortales reperisset«. Nach Amsterdam zurück- gekehrt, beschäftigte er sich zunächst mit der Anatomie und Physiologie des Menschen und verbesserte wesentlich die Injektionsmethoden; 1666 Die Anatomie im 17. Jahrhundert. 61 wurde er, auf Grund einer Dissertation über die Atmung, promoviert. Zwar wurde er an den Toskanischen Hof eingeladen (STENO folgte dieser Einladung), wo er Muße und Verständnis genug für seine Arbeiten gefunden hätte, doch lehnte er den Vorschlag ab, da ihm einmal das Leben am Hofe nicht gefiel, und da er ferner seine Selbständigkeit in Sachen der Religion nicht opfern wollte. Zu Hause erwarteten ihn jedoch nur Mißverständnis und Not. Da er nämlich stets nur in seine wissenschaftlichen Arbeiten vertieft war und keine ärztliche Praxis übte, und die Wissenschaft nur zu viel Geld kostete, hörte sein praktischer Vater auf, ihn zu unterstützen. Große Anstrengungen und das äußere Mißgeschick zogen eine Krankheit nach sich, welche sehr deprimierend auf das empfind- liche Gemüt SWAMMERDAMSs wirkte. Er fing an, sich vorzuwerfen, daß er in seinen wissenschaftlichen Bestrebungen nur dem Ehrgeiz gefolgt wäre, und suchte in den Gedanken an Gott Ruhe zu finden. Es kamen ihm die Schriften einer durch religiöse Schwärmerei da- mals berüchtigten Jungfrau in die Hand, ANTOINETTE DE BOURIGNON, welche eben in Holstein prediste. In seinem zerrütteten Gemüts- zustand wandte sich SWAMMERDAM an diese Person um Rat, trat mit ihr 1673 in Briefwechsel, folgte ihr 1675 nach Schleswig und, als sie von dort ausgewiesen wurde, nach Kopenhagen. Das Leben in der Gnade Gottes war seitdem sein einziger Gedanke. Auch N. STENO, sein ehemaliger Freund, hat einen ähnlichen inneren Kampf durchgemacht und ist vom Protestantismus zur katholischen Kirche übergetreten; doch hatte er in seinem religiösen Kampf insofern mehr Glück als SWAMMERDAM, als ihm der Übertritt zum Katholi- zismus die Stellung und den Titel eines Bischofs eintrug. STENO suchte auch für seinen Freund ein ähnliches Glück zu erlangen; er machte ihm den Antrag, ebenfalls zum Katholizismus überzutreten; er wollte ihm dann am Toskanischen Hof eine angemessene Stel- lung erbitten; doch SWAMMERDAM lehnte die Zumutung mit den Worten ab, daß er seine Seele nicht feil habe. In den letzten Jahren seines Lebens entsagte SWAMMERDAM der Wissenschaft; die unter großen körperlichen Leiden verfaßte Abhandlung über die Biene hat er einem Freunde im Manuskript gegeben, ohne sich um ihr Schicksal weiter zu kümmern. Endlich erlöste ihn 1680 der Tod von den körperlichen wie geistigen Leiden. Seine Sammlungen und Handschriften (über die Insekten) vermachte er THEVENOT, dem es aber nicht gelang, aller seiner Arbeiten hab- haft zu werden; erst H. BOERHAAVE, der berühmte Mediziner, hat 62 III. Kapitel. die Arbeiten SWAMMERDAMs gesammelt und 1737 unter dem Titel »Biblia naturae« veröffentlicht. PASCAL war um ı4 Jahre älter als SWAMMERDAM; auch er hat mit der Wissenschaft begonnen, wurde dann infolge eines ununter- brochenen körperlichen Leidens pessimistisch; er fing an, in dem wissenschaftlichen Streben etwas Kleinliches zu sehen, und der Ge- danke an Gott erfüllte seitdem sein ganzes Gemüt. Doch war PASCAL insofern glücklicher als SWAMMERDAM, wenn da überhaupt,von Glück die Rede sein kann, als ihm sein Glaube, welcher durch tiefe philosophische Bildung unterstützt wurde, die Kraft verlieh, das körperliche Leiden ruhig zu tragen, während SWAMMERDAM, dem die philosophische Bildung fehlte, in seinem Gemüt vergeblich nach der Ruhe suchte, die ihm in der äußeren Welt versagt war. Aus den oben angeführten Ansichten HARVEys, welche doch nur die Aristotelische und deshalb offizielle Überzeugung jener Zeit wiedergaben, haben wir gesehen, daß zu jener Zeit nur die Wirbel- tiere für eigentliche Tiere, für selbständige Geschöpfe der übrigen Natur gegenüber gehalten wurden, während die niederen Tiere, ins- besondere die Insekten, nur als zufällige Produkte der Natur betrachtet wurden; der Glaube an das Herauskristallisieren derselben aus fau- lenden Substanzen ist nur ein Ausdruck ihrer Geringschätzung. SWAMMERDAM spricht als erster den Satz aus’), daß große und kleine Tiere gleichen Wert haben, ja daß die kleinen, einfacher organisiert, für den Forscher wichtiger sind. Aus diesem Grund erklärt er die Ansicht für unrichtig, daß kleine Tiere nur zufällig oder aus faulenden Substanzen entstehen sollen; sie gehören ebenso zum Wesen der Natur wie die großen Tiere, übrigens entstehen auch die großen wie die kleinen Organismen aus kleinen Anfängen. An einer andern Stelle?) sagt er: »Und nun lasse ich alle verständigen Leute urteilen, ob ein Geschöpf (die Fliegenmade), an dem sich so viel Kunst, Ordnung, Weisheit und der allmächtige Arm Gottes sehen läßt, wohl aus Fäulnis oder zufälligerweise entstanden sei. Muß die Vernunft selbst hierzu nicht nein sprechen? Ich sollte es wahrlich meinen.« Zu einer solchen Überzeugung kam SWAMMERDAM durch sein eingehendes Studium der Organisation der Insekten. Seine Beob- achtungen in dieser Hinsicht können hier nicht aufgezählt werden; ı) Biblia naturae, cap. 1. 2) Ebenda. S. 280. Die Anatomie im 17. Jahrhundert. 63 es sind dies Beobachtungen eines fleißigen Forschers, welcher, von der verwickelten Organisation seiner kleinen Objekte überzeugt, die einzelnen Organe mit dem Messer herauspräpariert, mit dem Mikro- skop untersucht, ihre Funktion zu erraten sucht, und sie endlich abbildet. Es sind dies Arbeiten eines gewissenhaften und das Innere des Tieres erforschenden Entomologen, also nur Anatomie und Physiologie, keineswegs Morphologie. Eingehend hat SWAMMERDAM die Anatomie der Biene untersucht; er lieferte eine Untersuchung des Baues der Schnecken, der Urogenitalorgane des Frosches u. a. Die ausgedehntesten Bemühungen widmete SWAMMERDAM den Untersuchungen über die Entwicklung der Insekten. Aus ähnlichen Gründen wie MALPIGHI verteidigt er sehr eifrig die Evolution und bekämpft die Epigenesis. SWAMMERDAM rühmt sich wiederholt dessen, daß er die Evolution durch Erfahrung stützen könne, und daß die Epigenesis ein Hirngespinst sei. Die Erfahrung zeigt ihm nun, daß die Raupe eine Organisation hat und daß sie nicht, wie viele Autoren behauptet haben, eine strukturlose, halbflüssige Masse ist. Er hat die Schmetterlingspuppen anatomisch untersucht und unter der Haut der Puppe bereits den fertigen Schmetterling gefun- den. Ist das nicht eine Tatsache, welche für die Evolution spricht und mit der Epigenesis unvereinbar ist? SWAMMERDAM und seine Zeitgenossen waren davon überzeugt. Auch theoretische Gründe sprechen nach SWAMMERDAM gegen die Aristotelische Lehre. Er weist nämlich eine Konsequenz dieser Lehre, die Metamorphose der Steine, d.h. die Verwandlung derselben in Fossilien, zurück, weist nach, daß sich die Lehre von der Ver- wandlung der Insekten nicht mit der christlichen Lehre von der Auferstehung analogisieren läßt, da sich die Puppe in den Schmetter- ling durch Wachstum, nicht durch Tod verwandelt; ferner weist er die spontane Generation zurück. Alle diese tatsächlich unrichtigen Ansichten bildeten einen Teil der epigenetischen Theorien; was ist natürlicher, als daß SWAMMERDAM in deren Zurückweisung zugleich auch den Beweis der Evolution sah ? Seine Evolutionstheorie faßt nun SWAMMERDAM folgendermaßen auf: Die Verwandlung der Puppe in das entwickelte Tier ist wesent- lich dieselbe Metamorphose, wie das Wachstum der Tiere und wie die Entstehung und Sprossung der Pflanzen und ihrer Blüten. Die Raupe verwandelt sich nicht, sondern wächst zur Puppe auf, und in dieser ist bereits das fertige Insekt enthalten. In früheren Stadien der Puppe findet man wohl nicht den Schmetterling, doch ist 64 III. Kapitel. dies leicht dadurch zu erklären, daß sein Körper noch sehr weich und durchsichtig ist, so daß er einerseits kaum herauszupräparieren, andererseits wegen seiner Durchsichtigkeit nicht zu sehen ist. Auch die Entwicklung des Frosches aus der Kaulquappe geschieht nur durch Wachstum dieser letzteren, und ebenso ist das Keimen der Pflanzen aufzufassen, da die ganze Pflanze bereits im Samen enthalten ist. Nach ihrer Entwicklungsart hat SWAMMERDAM die Irsekten in vier Klassen eingeteilt: ı. Klasse: Insekten, welche das Ei ziemlich in derselben Form verlassen, die sie als fertige Insekten haben sollen (Spinnen, Schnecken, Regenwürmer, Blutegel usf.); 2. Klasse: Insekten, welche mit 6 Füßen auf die Welt kommen, allein die Flügel zuerst unter der Haut verborgen haben (Heu- schrecken, Libellen usw.); 3. Klasse: Insekten, welche nach der letzten Häutung lange be- wegungslos ruhen (Schmetterlinge u. ä.). Die 4. Klasse bilden endlich die Insekten, welche nach der letzten Häutung den Eiern ähnlich sind; später öfinet sich ein Deckel an diesem »Ei«, und das erwachsene Tier kriecht heraus (Fliegen). Man beachte wohl, wie SWAMMERDAM trotz seiner anatomischen Erfahrungen keinen Sinn für das Morphologische hat, indem er ein- mal Schnecken und Spinnen in eine Klasse stellt, und die Schmetter- linge in eine andere, andererseits aus den Fliegen wegen eines gering- fügigen Merkmals eine besondere Klasse bildet; interessant ist ferner, wie noch bei ihm, wie bei HARVEY, der Begriff dessen, was ein Ei sein soll, unklar ist. Die Wirkung SWAMMERDAMSs auf die Nachfolger war groß, aber wie diejenige MALPIGHIs betraf sie nicht die Ideen, sondern nur einzelne Tatsachen. REAUMUR, BONNET, SPALLANZANI, LYONET, TREMBLEY waren es insbesondere, welche seine Untersuchungen weiter verfolgten. Wie MALPIGHI, so hat auch SWAMMERDAM namentlich das ethologische Studium der Insekten angeregt; und es hat sich nun gleich zu jener Zeit die eigentümliche Erscheinung gezeigt, welche wir bis in die neueste Epoche verfolgen können, daß das Studium der wirbellosen Tiere ganz unwillkürlich auf eine oberfläch- liche Auffassung der Biologie geführt hat. Es ist dies überraschend und nicht leicht zu erklären; ich glaube jedoch, daß sehr viele Leser mit mir darin übereinstimmen werden, daß das Studium der Wirbel- tiere immer philosophischer war und noch heute ist, als das der Die Anatomie im 17. Jahrhundrrt. 65 Wirbellosen. MALPIGHI und SWAMMERDAM haben auch die Wirbel- losen für vollkommene Tiere erklärt, und die Folge davon war der Verfall der Wissenschaft. CUVIER hat seine Arbeiten mit den Wirbel- losen begonnen; wie sich aber sein theoretischer Geist zu entwickeln anfıng, widmete er sich dem Studium der Wirbeltiere, das ihm dann Anerkennung und Ruhm gebracht hat. GEOFFROY hat seine Theorien nur gelegentlich und nicht gerade glücklich auf die Wirbellosen an- gewendet. Noch heute ist die Morphologie und die Histologie wesent- lich auf der Kenntnis der Wirbeltiere aufgebaut, während das Studium der Wirbellosen meistens nur systematischen Zwecken dient. Ich glaubte mir dies früher dadurch erklären zu können, daß das Studium der Wirbeltiere am meisten von medizinisch gebil- deten Leuten getrieben wird, welche physiologisch und chemisch besser geschult sind als die Nichtmediziner, diese Erklärung ist aber nicht genügend. Wahrscheinlich ist der Bau der Wirbellosen doch nur im Äußerlichen mannigfaltig genug, um eine ähnliche Ver- tiefung in das Studium derselben zu erlauben, wie die große innere Mannigfaltigkeit der Struktur der Wirbeltiere. So ist die Unter- scheidung der vollkommenen und unvollkommenen Tiere, welche bereits durch SWAMMERDAM bekämpft wurde und seither theoretisch fortwährend verworfen wird, bis heute nicht gänzlich beseitigt worden. Literatur. Die gesammelten Abhandlungen SWAMMERDAMs (mit Ausnahme der medizinischen und religiösen Schriften) hat H. BOERHAAVE unter dem Titel veröffentlicht: Biblia naturae sive historia Insectorum, in classes certas redacta, nec non exemplis et anatomico variorum animalculorum examine, aeneisque tabulis illustrata, in- sertis numeris naturae observationibus. (Latein. u. holländ.; mit der Lebens- geschichte SWAMMERDAMSs.) Leydae 1737. Ich habe diese Schrift benutzt. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. I. Teil. 5 INARAPITEL: „ Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. Das Aufblühen der mechanistischen Theorien zur Zeit DES- CARTES’ bedeutet zwar in der Physik einen großen Fortschritt der Wissenschaft, und auch in der Biologie ist es dadurch wichtig ge- worden, daß es einem BORELLI z. B. den theoretischen Impuls für seine physiologischen Arbeiten gab; sonst aber blieben die mecha- nistischen Ideen nicht sehr fruchtbar — denn die Iatrophysiker wird man kaum ernst nehmen können. Der Mechanismus wurde der Bio- logie sehr von außen aufgedrängt, und deshalb hörte bereits gegen das Ende des 17. Jahrhunderts unter den Biologen der Glaube auf, daß durch Mathematik und Physik alles in der Erforschung der lebendigen Welt geleistet werden könne; die älteren vormechanistischen Autoren, welche an ARISTOTELES und an andere alten Schriftsteller angeknüpft haben, gelangten wieder zu Ansehen. Nun waren die älteren bio- logischen Denker teils aristotelisch wie GLISSON, teils neuplatonisch wie PARACELSUS und VAN HELMONT. Die Systeme dieser beiden Richtungen betonen die qualitativen Unterschiede der lebendigen Einheiten und ein der Natur inhärentes Streben nach vorn, und ferner eine Hierarchie der Wesen; diese drei Punkte werden nun zum Losungswort der neuen Systeme, welche insbesondere durch LEIBNIZ und STAHL repräsentiert werden. Der Mechanismus wurde jedoch nicht vollständig beseitigt; wie LEIBNIZ und STAHL, so sind auch ihre biologischen Nachfolger, und besonders die letzteren, zum größeren oder geringeren Teil Me- chanisten geblieben. Von den Biologen des 18. Jahrhunderts wurde ein Kompromiß zwischen dem Mechanismus und Vitalismus ange- nommen, der sich namentlich in den evolutionistischen Theorien jener Zeiten offenbart. Überhaupt muß man im Auge behalten, daß zwar LEIBNIZ am Anfang des ı8. Jahrhunderts zu wirken anfıng, daß aber die Blütezeit seiner Lehren von der Biologie erst in das Ende _ desselben und in den Anfang des ı9. Jahrhunderts fällt. Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 67 Beachtenswert ist ferner, daß mit LEIBNIZ die Biologie und die Medizin auch in den Theorien ihre besonderen Wege einzuschlagen anfingen. LEIBNIZ ist immer mehr der Philosoph der Biologen, STAHL der der Ärzte geblieben; und diese Sonderung blieb trotz der Versuche der deutschen Naturphilosophie bis auf die neue Zeit erhalten. A. G.W. Leibniz. Wie DESCARTES, so hat auch GOTTFRIED WILHELM LEIENIZ (1646 — 1716) die biologischen Theorien namentlich im 18. Jahrhundert sehr beeinflußt; andererseits hat er selbst aus den biologischen Theorien seiner Zeit viel geschöpft. Der wesentliche Unterschied zwischen ihm und DESCARTES besteht (innerhalb der Biologie) darin, daß DESCARTES den lebenden Körper nur als einen Spezialfall der mechanisch sich entfaltenden toten Natur betrachtete, während LEIBNIZ das Leben als den Ausgangspunkt seiner Naturphilosophie wählte und in diesem Punkte wissentlich auf ARISTOTELES zurückgrif. Das Leben hat LEIBNIZ jedoch nicht so weit wie ARISTOTELES gefaßt, sondern er betonte an ihm wesentlich nur das Streben, die Energie des Lebendigen, welche sich in der embryonalen Entwicklung, im Wachstum, in dem Willen offenbart, während er das formale Prinzip, nämlich die Organisation (Struktur), weniger beachtete. Das leben- dige Wesen entwickelt sich, es strebt zu etwas und hat ein Ziel, es realisiert seine Vorstellungen und steht so der Natur gegenüber da als etwas Unabhängiges, Tätiges, als etwas, was Kraft hat, zu wirken. Die Kraft stellt sich LEIBNIZ folgendermaßen vor: »Um davon einen Vorgeschmack zu geben«, schreibt er‘), »will ich nur sagen, daß der Begriff der Kraft oder des Virtuellen (was die Deut- schen Kraft und die Franzosen la force nennen), für dessen Er- klärung ich eine besondere Wissenschaft der Dynamik bestimmt habe, sehr viel dazu beiträgt, um den wahren Begriff der Substanz zu erfassen. Denn die tätige Kraft ist von der bloßen Macht (potentia), die in den Schulen behandelt wird, verschieden, weil die tätige Macht der Scholastiker oder das Vermögen nichts anderes ist, als die nahe Möglichkeit, zu wirken, welche aber dabei einer Erweckung von außen und gleichsam eines Stachels bedarf, um in Wirksamkeit überzugehen. Allein die tätige Kraft enthält eine gewisse Wirksamkeit oder &vre- Aöysıav und ist ein Mittelding zwischen der Fähigkeit, zu wirken, und ı) De primae philosophiae emendatione (1694). Kirchmann, S. 53. 5*+ 68 IV. Kapitel. dem Wirken selbst. Sie enthält das Streben und wird so durch sich selbst zur Wirksamkeit übergeführt, ohne einer Hilfe zu bedürfen; nur die Hindernisse müssen beseitigt werden.« Die Kraft ist bei LEIBNIZ das Wesen eines jeden lebenden Körpers; sie ist das, was ihn nach vorn treibt, was ihn aus dem Ei sich entwickeln läßt, was ihn Nahrung aufnehmen und wachsen läßt, wodurch Vorstellungen und Begehrungen in ihm hervorgerufen werden. Nach seiner Philosophie lebt und strebt alles, und die anorganische Natur ist nur ein Konglomerat aus lebenden Wesen. Die anorgani- schen Körper leben zwar nicht, lehrt LEIBNIZ'), »denn die Lebens- prinzipien gehören nur den organisierten Körpern an. Allerdings gibt es (nach meinem System) kein Stück des Stoffes, in dem sich nicht eine unendliche Menge organischer und belebter Körper be- findet, worunter ich nicht bloß die Pflanzen und die belebten Wesen verstehe, sondern möglicherweise noch andere Arten von Wesen, die uns ganz unbekannt sind.« Entwicklung. LEIBNIZ war der eifrigste Vertreter der Philoso- phie der Entwicklung. Dieses Wort (evolutio) hat bei ihm einen Sinn, an dem besonders folgende Merkmale hervorgehoben werden müssen: es bedeutet erstens den Gegensatz zu »Entstehung« (aus etwas anderem), und es bedeutet zweitens die Entwicklung einer Kraft (weniger die Veränderung der Form). Das Wort darf ferner gar nicht in einem historischen Sinn aufgefaßt werden (d.h. daß auf ein früheres Stadium ein späteres folgt), sondern es ist streng rationalistisch zu nehmen. Entwicklung heißt dann so viel wie Differentiation (Entwicklung von etwas, was bereits da, jedoch eingewickelt war). LEIBNIZ’s eigene Worte werden diese Charak- teristik seiner Auffassung anschaulicher darstellen. »Die Philoso- phen«, sagt er in der Monadologie?), »haben sich viele Schwierig- keiten gemacht mit dem Ursprung der Formen, Entelechien oder Seelen°). Indessen haben gegenwärtig genaue Untersuchungen, an- gestellt an Pflanzen, Insekten und Tieren, zu dem Resultat geführt, daß die organischen Körper der Natur niemals aus einem Chaos oder einer Fäulnis hervorgehen, sondern allemal aus Samen (semences), worin ohne Zweifel schon eine Präformation vorhanden war; so hat man geurteilt, daß in dieser Anlage nicht bloß der organische Körper ı) Sur les principes de la vie 1705. Kirchmann, S. 145. 2) Monadol. Nr. 74. Kirchm. S. 186. 3) Nach unserer Ausdrucksweise: der Arten. Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 69 vor der Zeugung existiere, sondern auch eine Seele in diesem Körper, mit einem Worte, das Individuum nur zu einer großen Form- umwandlung fähig gemacht werde, um ein Individuum einer andern Art zu werden. Man sieht selbst etwas Ähnliches außerhalb der Zeu- gung, wie wenn die Würmer Fliegen und die Raupen Schmetterlinge werden.« Das ganze Leben ist nur eine kontinuierliche Entwicklung; die Kraft jedoch, welche die Entwicklung treibt, welche immer neue und neue Veränderungen hervorbringt, stammt nicht von außen, son- dern alles, was sich entwickelt, entwickelt sich aus eigner Kraft — daher besteht die Entwicklung nicht nur in der Aufeinanderfolge der Erscheinungen, sondern die eine Erscheinung entwickelt sich aus der andern. Die Entwicklung ist — mit andern Worten — kein Wachstum durch Apposition, sondern sie ist Entwicklung etwa in dem Sinne, wie wenn der Redner einen Gedanken vor seinen Hörern entwickelt, oder wenn eine mathematische Formel in eine Reihe ent- wickelt wird: nur müßte man eben annehmen, daß diese Formel von Natur aus die Kraft hätte, sich selbst ohne äußere Hilfe entwickeln zu können. Wie die Evolutionisten unter den Naturforschern auf ihrem kon- kreten Gebiet die Epigenesis als die Entstehung eines Dinges aus etwas anderem bekämpft haben, so polemisiert LEIBNIZ aus analogen Gründen gegen die metaphysische Lehre von der Seelenwanderung und führt die Beobachtungen SWAMMERDAMs, MALPIGHIS und LEEU- WENHOERS als direkten Beweis dagegen an‘): »Übrigens, um zu den gewöhnlichen Formen oder zu den materiellen Seelen zurück- zukehren, diese Lebensdauer, welche ihnen zugeschrieben ist, an- statt jener, die man den Atomen zugeschrieben hat, könnte zu der Vermutung führen, ob diese Seelen nicht von einem Körper in einen andern übergehen, welches Metempsychose wäre, etwa derart, wie einige Philosophen an die Übertragung der Bewegung und der Artmerkmale geglaubt haben. Doch ist diese Hypothese weit entfernt von der Natur der Dinge. Es gibt keinen solchen Über- gang; und hier ist es, wo die Transformationslehre der Herren SWAMMERDAM, MALPIGHI und LEEUWENHOEK, welche die ausgezeich- netsten Beobachter unserer Zeit sind, mir zu Hilfe gekommen ist und mir die Annahme erleichtert hat, daß weder das Tier noch irgend- eine andere organisierte Substanz da beginnt, wo wir es annehmen, ı) Ein neues System. Kirchmann, S. 53. 70 IV. Kapitel. und daß ihre scheinbare Entstehung nichts ist als Entwicklung und eine Art Vergrößerung. Auch habe ich bemerkt, daß der Autor der ‚Recherche de la verite‘, Herr REGIS, Herr HARTSOEKER und andere geschickte Leute nicht weit entfernt waren von dieser Vorstellung.« Dasselbe gilt selbstverständlich auch für den Menschen‘): »So sollte ich meinen, daß die Seelen, welche eines Tages menschliche Seelen sein werden, wie jene der andern Gattungen dagewesen sind in den Samen, in den Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge immer in der Form organisierter Körper existiert haben; eine Ansicht, worin, wie es scheint, SWAMMERDAM, MALEBRANCHE, BAYLE, PITCARNE, HARTSOEKER und viele andere gelehrte Männer mit mir übereinstimmen. Und diese Ansicht ist zur Genüge be- stätiot durch die mikroskopischen Beobachtungen von LEEUWENHOEK und andern tüchtigen Naturforschern. « Aus diesen Zitaten, denen viele andere analoge folgen könnten, ist deutlich zu ersehen, wie fremd LEIBNIZ noch dem Gedanken der Struktur war. Er sieht gar nicht, daß die Veränderung des Vogeleies in das Küchlein, der Raupe in den Schmetterling, der Kaul- quappe in den Frosch, mit Formveränderungen verbunden sein muß; er sieht nur, daß die verschiedenen Entwicklungszustände kontinuier- lich ineinander übergehen, und indem er nur die Entwicklungskraft, das Streben des Embryos nach der entwickelten Form betont, ver- gißt er, daß dieses Streben eine Reihe von Formen überwinden muß, welche ebenso wesentlich für den Organismus sind, wie die Entwicklungskraft. Dieser Fehler der Evolutionstheorie LEIBNIzens hat sehr üble Folgen gehabt; denn er erlaubte auch weniger guten Denkern, das Morphologische in der Entwicklung zu übersehen und die Evolutions- theorie dann noch zu halten, als sie in den Zustand der Wissen- schaft nicht mehr paßte. Es gibt aber doch ganz radikale Veränderungen innerhalb der Entwicklung des Lebens, die Geburt nämlich und den Tod. LEIBNIZ erklärt sie nicht, er bestreitet sie. Es gibt nach ihm keine Geburt als Anfang des Lebens und keinen Tod als dessen Ende. Die Geburt besteht vielmehr in der Ausdehnung und Auswicklung (evolutio) des bereits früher bestehenden Individuums; der Tod besteht wieder in der Zusammenziehung, Einwicklung (involutio) der Individualität, in einer Art von Verpuppung. I) Theodic. I. S. 91. ht An a a re Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 71 Die Meinung LEIBNIZens über dieses Problem ist‘): »Aber die be- deutendste Frage war noch übrig; die, was aus diesen Seelen oder Formen durch den Tod des Geschöpfes oder durch die Zerstörung des Individuums der organisierten Substanz wird ..... Dies hat mich endlich zu der Ansicht geführt, ..... nämlich, daß nicht bloß die Seele, sondern auch das Geschöpf selbst und seine organische Maschine erhälten bleiben, wenn auch die Zerstörung seiner gröberen Teile es zu einer Kleinheit herabbringt, welche ebenso unseren Sinnen entgeht, wie die, in welcher es sich vor seiner Geburt befunden hat.« Phylogenie. Seine Evolutionstheorie erweitert LEIBNIZ auch über die Grenzen des Individuums und gelangt so zu einer Art phylo- genetischer Theorie. Er nimmt an, daß einige der Spermatozoen, welche eben damals LEEUWENHOEK beschrieben und für Anfänge des neuen Organismus erklärt hat, nicht bloß zu weiterer, sondern zu- gleich zu höherer Lebensentwicklung bestimmt sind und auf diesem Wege in eine höhere Ordnung der lebenden Wesen eingeführt werden: »Die Tiere), von denen einige zur Stufe größerer Tiere vermöge der Zeugung erhoben werden, können Samentiere genannt werden, aber diejenigen unter ihnen, welche in ihrer Art bleiben, und das ist der größte Teil, werden geboren, vervielfältigt und aufgelöst, wie die großen Tiere, und es ist nur eine kleine Zahl auserwählter, die einen höheren Schauplatz betreten«. An einem andern Orte?) sagt er wieder: »Es ist möglich, daß in irgendeiner Zeit oder in irgendeinem Orte des Universums die Arten der Tiere dem Wechsel mehr unterworfen sind oder sein werden, als sie es jetzt bei uns sind, und mehrere Tiere, welche etwas von der Katze haben, wie der Löwe, der Tiger und der Luchs, dürften von einer gleichen Rasse gewesen sein und werden jetzt gleich- sam als neue Unterabteilungen der alten Spezies der Katze gelten können. So komme ich immer wieder auf das zurück, was ich mehr als einmal gesagt habe, daß unsere Bestimmungen der natürlichen Arten provisorisch und unseren Kenntnissen entsprechend sind.« LEIBNIZ hat auch der Geologie und Paläontologie eine Ab- handlung gewidmet. In seiner Schrift »Protogaea« (1693) entwickelt er seine Gedanken darüber, wie unsere Erde entstand, wie sich auf ihr die Felsen bildeten, und wie ihre Oberfläche mehrmals ı) Syst. nouv. 1695. Kirchmann, S. 30. Vgl. auch ebenda S. 139, wo ausdrück- lich die Unsterblichkeit der Tiere behauptet wird. 2) Zitiert nach HEUSSLER. 72 IV. Kapitel. verändert wurde, spekuliert über den Ursprung der Edelsteine und Metalle, über das Feuer im Innern der Erde und auch über die Fossilien. Auf elf Tafeln führt er dem Leser eine Reihe von — für jene Zeit ziemlich gelungenen — Abbildungen der vorweltlichen Fische, Brachiopoden, Zephalopoden, Zähne der Haie u. ä. vor, beschreibt die- selben und bringt einen ausführlichen Nachweis, daß diese Petre- fakten keine »lusus naturae« sind, sondern Versteinerungen von wirk- lich einmal lebenden Tieren. An einigen von ihnen meinte er erkannt zu haben, daß sie zu Arten gehören, die noch heute bei uns leben; andere leben ebenfalls noch, jedoch in entfernten Gegenden. »Einige wundern sich«, fährt er fort‘), »daß manchmal in den Felsen Arten zu sehen sind, welche man entweder überhaupt auf der bekannten Welt, oder wenigstens in den benachbarten Gegenden umsonst suchen würde. So sollen die Ammonshörner, die für den Nautilen verwandt gehalten werden, manchmal wie durch ihre Form, so durch ihre Größe (denn es wurden auch solche gefunden, die einen Fuß im Durchmesser betragen) von all den Formen verschieden sein, welche das Meer hervorbringt. Doch wer hat seine versteckten Winkel oder die unterirdischen Höhlen durchforscht? Wie viele früher un- bekannte Tiere bringt uns nicht die Neue Welt? Und es ist glaub- würdig, daß durch jene großen Umwälzungen (der Erde) auch die Arten der Tiere sich verändert haben.« Die phylogenetischen Gedanken sind bei LEIBNIZ, wie aus dem Angeführten folgt, noch recht rudimentär; bemerkenswert ist aber, wie er trotz seiner rationalistischen Richtung, trotz seines Glaubens- satzes, daß nichts Neues entstehen kann, doch zu Spekulationen über den Ursprung der Welt und über die Umwandlungen der Tiere ge- drängt wird. Die Tatsachen waren eben mächtiger als die Philosophie. Die Lehre von der Form. LEIBNIZ spricht zwar sehr oft von der »Form« und identifiziert dieselbe mit der Seele des lebendigen Wesens, ich habe aber vergebens nach einer Stelle in seinen Schriften gesucht, in der deutlich erklärt wäre, was er unter dieser Form versteht. Gewiß darf man darunter nicht Struktur verstehen, denn die Form soll für den Organismus wesentlich sein, nicht aber die Struktur; also eher noch kann man in seiner Form eine forma- tive Kraft, das, was die Form bildet, sehen. Diese Kraft ist aber eine nach mechanischen Gesetzen wirkende Kraft, wie überhaupt der Organismus ein höchst feiner Mechanismus sein soll. Ins Meta- physische projiziert ist die Form die Monade. ı) Protogaea, $ 26. Opera, II. S. 220. Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 73 Die Monaden, innerhalb der Biologie die lebendigen Wesen, bilden eine kontinuierlich aufsteigende Reihe von der leblosen Welt bis zu dem höchsten Wesen. Demgemäß gibt es keinen Sprung innerhalb der Organismen, überall sind nur allmähliche Übergänge vorhanden. In dieser Hinsicht haben sich später die Naturforscher des 18. Jahr- hunderts insbesondere auf den folgenden Satz von LEIBNIZ berufen, in welchem er das Vorhandensein der Polypen vorausgesagt haben sollte‘): »Die Menschen sind mit den Tieren verknüpft, diese mit den Pflanzen und diese mit den Mineralien (fossiles)... Das Gesetz der Kontinuität verlangt, daß alle natürlichen Wesen eine einzige Kette bilden, in welcher die verschiedenen Klassen, wie ebensoviele Ringe, so eng aneinander angeschlossen sind, daß es unmöglich ist, bestimmt den Punkt anzugeben, wo die eine (Klasse) beginnt oder aufhört, da alle Arten, welche die Stellen der Biegung und Verbin- dung (d. h. an jener Kette) einnehmen, mehrdeutig (&quivoque) sind, und Eigenschaften haben, welche sich gleichartig auf die benach- barten Arten beziehen. So enthält z. B. die Existenz der Zoophyten, der Tierpflanzen, nicht nur nichts Monströses in sich, sondern es ist vielmehr der Anordnung der Natur angemessen, daß es solche gibt.« Je näher einander die Organismen in einer Reihe stehen, desto ähnlicher sind sie einander; die niederen Organismen sind — ihrem Wesen nach — in den höheren enthalten, d. h. die höheren Orga- nismen sind ein Spezialfall der niederen, wie die Ellipse der Spezial- fall einer Kurve zweiten Grades ist. Diesen Gedanken faßt LEIBNIZ philosophisch so auf, daß ein jeder Organismus (eine jede Monade) verworren die ganze Welt vorstellt; die einander nahestehenden Orga- nismen haben voneinander eine deutlichere Vorstellung als die ent- fernteren; die niederen Formen werden durch die höheren deutlich, die höheren durch die niederen nur undeutlich vorgestellt. »Alles in der Natur ist analog«, so drückt LEIBNIZ diesen Gedanken in anderer Form aus und zeigt durch diese Worte deutlich, wohin der ganze Gedanke der Analogie der Formen zielt, auf das vergleichende Studium der Formen, welches tatsächlich unter dem Einfluß seiner Ideen seine höchste Entwicklung erfuhr. Die Seele. DESCARTES hat die Seele radikal von dem Körper getrennt; der Körper soll eine Maschine und die Seele ein dem Körper nur künstlich angehängtes geistiges Prinzip sein. LEIBNIZ ı) Lettres de LEienIz. Ich zitiere die Stelle nach FLOURENS, Cuvier, Histoire de ses travaux. Paris 1845, S. 261. 74 IV. Kapitel. geht in seiner Auffassung der Seele auf ARISTOTELES zurück. Nach LEIBNIZ ist die Seele so viel wie die wesentliche Kraft eines jeden Organismus, und da von dieser auch die Form untrennbar ist — die Seele ist »eine in den Stoff eingetauchte Form«e, sagt er an einer Stelle')—, so ist auch dieForm des Tieres eine Manifestation der Seele. Die spezifische Struktur eines jeden Organismus, seine Reaktionen, seine Lebensweise, alles das sind Offenbarungen der Seele, und so- fern sie exakt studiert werden können, ist auch die Seele exakt durchforschbar. Wenn es möglich wäre, alle die erwähnten Erschei- nungen des Lebens durch einen Begriff, durch eine Gleichung wiederzugeben, so würde diese Gleichung zugleich die Gleichung der Seele dieses bestimmten Organismus sein’. Man beachte, wie LEIBNIZ z. B. die Vorstellung auffaßt?): »Wenn wir jeden Zu- stand der Monade als Kraftäußerung oder Handlung betrachten, so muß natürlich auch der Zustand der Präformation als Tätigkeit, als Ausdruck ursprünglicher Kraft angesehen werden. Im Zustande der Präformation ist präsent, was die Entwicklung in einer Reihenfolge von Stufen verwirklicht: also ist die Kraft, die jenen Zustand be- gründet, eine solche, welche präsent macht, d. h. eine vis reprae- sentativa oder Vorstellung. Wir verstehen daher unter Vorstellung die Kraft der Entwicklung.«e Man beachte, wie objektiv, wissen- schaftlich faßbar und gerade biologisch hier die Vorstellung aufge- faßt wird: man kann die Vorstellungen nicht nur sehen, sondern auch messen und vergleichen. Die bewußte Vorstellung ist nach LEIBNIZ nur ein spezieller Fall der unbewußten. Auch das Streben, einen anscheinend sehr subjektiven Vorgang, faßt LEIBNIZ sehr objektiv auf: es soll dies die Tätigkeit sein, welche einen Zustand in einen andern überführt. Bedeutung dieser Philosophie für die Biologie. LEIBNIZ war anfangs Aristoteliker (Scholastiker), dann hat er sich »dem Leeren und den Atomen« zugewendet, wie er von sich selbst erzählt®), und endlich hat er eine eigene Philosophie aufgebaut, welche etwas von der Aristotelischen und etwas von der Cartesianischen an sich hat, Man kann nun behaupten, daß das Aristotelische Element seiner Philo- ı) Ein neues System. 1695. Kirchmann, S. 58. 2) Von dieser weiteren Auffassung der Seele unterscheidet LEIBNIZ die Seele im engeren Sinn, welche außer der Perzeptionsfähigkeit noch die Fähigkeit der Empfin- dung hat. Vgl. z.B. De vi activa corporis, Opera II. S. 227. 3) Ich führe das Zitat nach K. FiscHEr, S. 214, an. 4) Ein neues System. 1695. Kirchmann, S. 56. Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 75 sophie biologisch, das Cartesianische mathematisch -physikalisch ist. Was den Umfang seiner Arbeiten betrifft, so sind die mathematischen und physikalischen Untersuchungen selbstverständlich bei weitem wichtiger als die biologischen. LEIBNIZ war auch kein praktischer Biologe, trotzdem seine Protogaea und seine Polemik mit STAHL wissenschaftlich tüchtige Arbeiten sind. Trotz alledem ist das philosophische System LEIBNIzZens seinem Grundgedanken nach biologisch, dem Gedanken nämlich, daß alles sich aus innerer Kraft entwickelt, und daß das Leben die Wurzel der Erscheinungen ist. Alle wichtigen philosophischen Begriffe hat LEIBNIZ der Biologie entnommen: die Monade (welche sozusagen ein metaphysisches Ei ist), die Entwicklung, die Seele, die (lebendige) Kraft, den Stufen- gang der Wesen usw. Obwohl LEIBNIZ den Gedanken des Organismus tief erfaßte, hat er sich doch von der mechanistischen Richtung, die DESCARTES eingeführt hatte, stark beeinflussen lassen. LEIBNIZ will keine spe- ziellen organischen Kräfte zulassen, er weist zwar die vitale Kraft nicht zurück, sie liegt aber nach ihm irgendwo im metaphysischen Anfange des Lebens; die wirklichen Lebenserscheinungen geschehen nur nach mechanischen Gesetzen. Er schreibt in dieser Hinsicht z.B.‘); »Auch ich habe immer angenommen, daß alles in (den lebenden) Körpern mechanisch vor sich geht, obwohl wir nicht immer die einzelnen Mechanismen bestimmt erklären können, daß aber die eigentlichen allgemeinen Prinzipien des Mechanismus aus einer höheren Quelle stammen..... « Immer und immer kommt er auf den Ge- danken zurück, daß DESCARTES im Unrecht war mit seiner Behaup- tung, daß die Tiere und der Menschenkörper Analoga der künstlichen Maschinen seien. Denn die lebendigen Körper unterscheiden sich von diesen Maschinen ganz wesentlich dadurch, daß sie in jedem einzelnen ihrer Teile wieder aus kleineren Maschinen bestehen; es sind dies unendlich zusammengesetzte Maschinen, während das Rad einer Uhr nicht mehr aus Maschinen besteht. Doch bleiben für LEIBNIZ die lebendigen Körper trotzdem nur Maschinen, sie sind keine Organismen. Gott verfügt über die Natur, sagt er an einer Stelle, »wie ein Ingenieur seine Maschinen dirigiert. Und an einer andern Stelle behauptet er”): »Die Tiere halte ich für voll- kommene Automaten, sie haben jedoch zugleich die Empfindlichkeit ı) Epistola de rebus philosophicis ad F. Hofimannum. Opera II. S. 260. 2) Epistola ad P. Des Bosses. Opera I, ı. S. 272. 76 IV. Kapitel. (perceptio)«. In seiner Abhandlung über die Theorie der Bewegung versucht er in ganz mechanistischer Weise aus der ursprünglichen Wirbelbewegung nicht nur die Gestalt der Erde zu erklären, sondern auch die Gravitation und die Elastizität und diese letztere soll in Ver- bindung mit den chemischen Eigenschaften der Materie die Muskel- bewegung erklären. Am deutlichsten jedoch tritt die mechanistische Anschauungsweise LEIBNIZens aus seiner Polemik mit dem Vitalisten STAHL hervor. In einem Briefe*) macht er Witze über STAHLs Behauptung, daß der kranke Organismus sich oft selbst helfen kann: STAHL wolle die Krankheiten durch Erwartung, d. h. durch Nichtstun heilen, und, gegen STAHL selbst sich wendend, hebt er unter anderem folgende angeblich falsche Punkte aus seiner »Theoria medica« hervor: STAHL ist im Unrecht, wenn er behauptet, es bestehe ein radikaler Unter- schied zwischen der Maschine und dem Organismus; dieser ist nur eine höhere, sozusagen göttliche Maschine”). Unrichtig sei die An- nahme STAHLs, in den Organismen geschehe etwas, was andern als mechanischen Gesetzen unterworfen ist. Von der embryonalen Entwicklung des lebendigen Körpers, seiner Ernährung, Regene- ration, Fortpflanzung glaubt LEIBNIZ, daß sich alles dies aus der Struktur des lebendigen Körpers erklären lasse®?), und daß die Flamme eine Analogie dieser Erscheinungen bildee Er bemüht sich, die Undenkbarkeit des STAHLschen Begriffes der Seele nach- zuweisen. Nach STAHL soll der Kern der Seele die Bewegungs- kraft sein, und diesem Begriffe wirft LEIBNIZ vor, daß er materia- listisch sei, da man sich die Bewegung ohne den sich bewegenden Körper nicht denken könne; ganz besonders schüttelt er den Kopf über die Behauptung STAHLs, daß es eine Bewegung an sich, ohne den sich bewegenden Körper, gebe. Es war offenbar nur der Gegensatz gegen STAHL, der LEIBNIZ genötigt hat, so große Konzessionen an den Mechanismus zu machen, wie er es hier getan hat; allein eben daran sind die Heterogenität seines Systems und dessen schwache Seiten gut erkennbar. Es bleibt uns noch übrig, über den Einfluß LEIBNIzens einiges zu der historischen Entwicklung der Biologie zu bemerken. Seine philosophischen Schriften sind meistens in einem sehr leichten Stil geschrieben; insbesondere seine Briefe lassen sich wie moderne ı) Epistola III. ad Schellhammerum. Opera II, 2. S. 73. 2) Animadversiones etc. Opera II, 2. S. 136. 3) Ebenda, S. 138. Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien, y7 Essays lesen, und es ist deshalb nicht zu verwundern, daß sie, sofern sie zugänglich waren, viel gelesen wurden. So ist es geschehen, daß LEIBNIZ bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts der Philosoph war, dessen Wirkung auf die Biologie gleich hinter der des ARISTOTELES steht. Erstens hat LEIBNIZ die embryo- logische Theorie der Evolution sehr gefördert; der Glaube an die Präformation der Keime hätte sich kaum so hartnäckig erhalten können, wenn er nicht den ihm von LEIBNIZ gegebenen philosophi- schen Hintergrund gehabt hätte. Und als dann durch C. F. WOLFF der Angriff auf die Evolution gemacht wurde, so geschah dies wieder im Namen der LEIBNIzschen Philosophie. Groß war auch der Einfluß seiner Ideen auf die Morphologie. Bis auf LEIBNIZ war keine solche Wissenschaft vorhanden, wenn wir ARISTOTELES unberücksichtigt lassen. Durch die Lehre von der Form der Tiere als einer Einheit, durch die Behauptung der durchgängigen Analogie der Formen hat LEIBNIZ die ersten Vor- stufen zum vergleichenden Studium der Organismen geschaffen. Aber seine Gedanken sind nicht auf fruchtbaren Boden gefallen; erst in der zweiten Hälfte des ı8. Jahrhunderts beginnt der Satz »Natura non facit saltus« auf die Organe der Tiere angewendet zu werden. Es entstehen die Theorien von der Einheit des Bauplanes der Tiere, von der Korrelation der Formen, der Streit über das Wesen der Art, alles auf der Grundlage der erwähnten LEIBNIZschen Ideen. LEIBNIZ hat ferner die deutsche Naturphilosophie stark beein- flußt; ihre Quellen, die Morphologie, KIELMEYERs und HERDERs An- sichten über die Entwicklung sind LEIBNIZens Kinder. Auch zum Aufblühen der phylogenetischen Theorien hat er beigetragen. Durch seine Philosophie hat er dem Entwicklungs- gedanken einen großen Vorschub geleistet; die embryologischen Vor- stellungen wurden, wie oben erwähnt, bereits durch selbst, aber noch viel mehr durch die Leibnizianer BONNET und ROBINET auf die Phylogenie übertragen. In der neuesten Zeit nähert sich DRIESCH wieder der LEIBNIZ- schen Philosophie. Es ist überraschend, daß LEIBNIZ die vergleichende Psychologie so wenig beeinflußt hat; dieselbe hat sich bis jetzt nicht auf die Höhe einer Wissenschaft erheben können, obwohl, wie ich wenig- stens glaube, bereits bei LEIBNIZ ihre Grundlagen zu suchen sind. Die Philosophen rühmen an LEIBNIzens Lehre von den. ange- borenen Ideen, daß sie das KAnTsche System von den apriorischen 7 8 IV. Kapitel. Begriffen vorbereitet hat. Analog kann man vom biologischen Stand- punkte behaupten, daß dieselbe Betrachtungsweise innerhalb der Biologie die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien vorbereitet hat. Tatsächlich erscheinen Gedanken, welche an diese Theorie er- innern, zuerst bei dem Leibnizianer BONNET und dann wieder in den Zeiten der deutschen Naturphilosophie. Der Unterschied zwischen dem LEIBNIzschen und unserem Entwicklungsgedanken besteht erstens darin, daß LEIBNIZ’ nur an innere Kräfte glaubte, die die Entwicklung treiben, während heute neben denselben auch äußeren Faktoren ein erheblicher Einfluß zugeschrieben wird (DARWIN glaubt sogar, nur mit äußeren Kräften als die Entwicklung fördernden ausreichen zu können). Zweitens sind wir der Ansicht, daß die Entwicklung Neues und Neues bringt, wäh- rend bei LEIBNIZ die Entwicklung nur eine Differenzierung war; infolgedessen wissen wir, daß wir die späteren Zustände aus den früheren weder berechnen noch sonstwie erraten können, während LEIBNIZ noch an die Möglichkeit glaubte, aus einem Zustand eines Dinges auf alle früheren und späteren schließen zu können. Drittens fehlt LEIBNIZ unser Gedanke der historischen Entwicklung, oder vielmehr dieser Gedanke ist bei ihm nur in rudimentärer Form vor- handen: seine Entwicklung ist wesentlich nur eine Entwicklung im Begriffe, mehr eine logische Entwicklung als wirkliche Auf- und Auseinanderfolge. Mit einem Wort, LEIBNIZ ist noch zu sehr Ratio- nalist und zu wenig Empirist, er verläßt sich noch zu viel auf seinen Verstand und zu wenig auf die Erfahrung. Literatur. Unter den Schriften LEIBNIZens sind vom biologischen Stand- punkte am wichtigsten die folgenden: Discours de la mätaphysique. 1689. Consid&rations sur les Principes de la vie et sur les Natures Plastiques. 1705. Systeme nouveau de la nature et de la communication des substances, aussi bien que de Yunion qu’il y a entre l’äme et le corps. 1695. Dazu: Eclaireissement ı, 2, 3. 1695. De vi activa corporis, de anima, de anima brutorum. (Brief an R. CH. WAGNER.) Animadversiones circa assertiones aliquas Theoriae medicae verae Cl. Stahlii cum eiusdem Leibnizii ad Stahlianas observationes responsionibus. 1737? Protogaea, sive de prima facie telluris et antiquissimae historiae vestigüs in ipsis na- turae monumentis dissertatio 1749. (Posthum.) Die Zitate im Text beziehen sich auf: G. Gu. Leibnizii Opera omnia studio LUD. DUTENS, Genevae 1768; J. H. v. KIRCHMANN, Die 2 Pa Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 79 kleineren wichtigeren Schriften von G. W. Leibniz. Philos. Bibliothek, Bd. 81. Von den Schriften über Leibniz habe ich benutzt die be- kannte Geschichte der Philosophie von KUNO FISCHER, ferner die bei DESCARTES zitierte Schrift von H. HEUSSLER und JUL. SCHALLER, Geschichte der Naturphilosophie von Baco v. Verulam bis auf unsere Zeit. 2 Bde. Leipzig 1841. B. Der Vitalismus. Derselben Quelle, wie die Philosophie von LEIBNIZ, nämlich dem Gegensatze gegen den Mechanismus, ist die speziell biologische Lehre, der Vitalismus, entsprungen. Bei ARISTOTELES und den Aristotelikern hätte die Betonung des Vitalismus noch keinen Sinn gehabt, da sie in Unkenntnis des Mechanismus eo ipso Vitalisten waren; der Vitalismus konnte erst dann entstehen, als es einen Nicht-Vitalis- mus gab. Der Begriff des Vitalismus. Eine konkrete Vorstellung von den verschiedenen Formen des Vitalismus muß sich der Leser durch das Studium dieser Systeme, wie sie im folgenden angeführt sind, zu verschaffen suchen; hier will ich nur eine allgemeine Charakte- ristik des Vitalismus geben. Jede Theorie über die Naturerschei- nungen muß mit der Tatsache rechnen, daß es in der Natur Ver- änderungen gibt; in der Auffassung derselben gehen jedoch die Theoretiker auseinander: die einen stellen sich nur die Aufgabe, die Veränderungen untereinander zu vergleichen; dies führt in der Physik auf die Behauptung, daß sie nur im Messen besteht, in der Biologie auf die vergleichende Morphologie (in der Fassung, wie sie später erklärt werden soll, nicht die, welche heute gelehrt wird) und auf die vergleichende Physiologie (eine noch kaum bestehende Wissenschaft. Im Satze »Alle Wirbeltiere haben das zentrale Nervensystem über dem Hauptblutgefäß« wäre ein Satz gegeben, welcher jenem Postulat entspricht; ebenfalls hierher gehört die Behauptung, daß durch die Beschleunigung und Masse die Kraft gemessen wird. Die Geometrie, welche die Mannigfaltigkeit (die das Analogon der Veränderungen ist) der Figuren untersucht, ist ein ideales Beispiel einer solchen Wissenschaft. Andere Systeme bemühen sich, durch den Begriff der Ursache die Aufeinanderfolge der Veränderungen zu verknüpfen; diese Systeme sind innerhalb der Biologie entweder mechanistisch oder vita- listisch. Die Dampfmaschine ist ein Mechanismus, da sie eine 8o IV. Kapitel. feste Zusammenordnung der Teile darstellt, welche durch eine von außen hinzukommende Kraft — den Dampf — bewegt wird; nicht die Dampfmaschine verändert sich während der Arbeit, nur die Kraft des Dampfes wird verändert. In diesem Sinne maschinell ist z. B. die Evolutionstheorie, indem sie annimmt, daß der Keim wäh- rend der Entwicklung keine andere Veränderung erleide, als daß er vergrößert wird. Wohl ist auch das eine Veränderung, doch nur infolge einer Inkonsequenz der Theorie. Mechanistisch ist ferner die Theorie, die Arbeit des Muskels bestehe darin, daß ihm eine be- stimmte Menge von Energie geliefert wird (etwa als chemische Energie), welche in dem Muskel zu mechanischer Energie wird. Die mechanistischen Theorien können mehr oder weniger konsequent sein. Die »reine« mechanistische Vorstellung wird für die Unter- scheidung mehrerer Energiearten nur subjektive Gründe anführen wollen; nach ihr gibt es nur eine, nämlich die mechanische Energie; und das Licht, die Wärme usw. sind auch mechanische Energien, nur werden sie von unseren Sinnesorganen nicht als solche (als Be- wegungen) erkannt. Der weniger konsequente Mechanist wird be- haupten, daß Licht, Wärme, Elektrizität usw. qualitativ verschieden sind, trotzdem sie gemeinsame Eigenschaften (ein Äquivalent) haben; er wird jedoch keine andern Qualitäten als die heute gelehrten Energiearten anerkennen wollen. Nach der vitalistischen Auffassung wirken nicht die Kräfte auf die lebendigen Körper, sondern die Kräfte, welche dieser Körper entwickeln kann, sind seine Eigenschaften, sind ihm inhärent. Nicht die chemische Energie arbeitet im Muskel, sondern der Muskel arbeitet mit Hilfe jener Energie. Der Mechanist nimmt an, daß die Kraft, welche Veränderungen verursacht, in der ganzen Welt zerstreut, an nichts gebunden ist: der Muskel wird durch chemische Energie bewegt, diese durch Licht und Wärme verursacht, diese etwa durch die Gravitation bewirkt, und diese kommt von einer noch unbekannten Ursache her. Der Vitalist dagegen individualisiert die Ursachen: der Mensch, die Pflanze, die Zelle, der fallende Stein (mit seiner lebendigen Kraft) sind ebensoviele individuelle Kräfte oder Ursachen. Der Mensch kann sehr Verschiedenes leisten: an seiner Leistungsfähig- keit kann man erstens das Quantum betrachten, man kann sie mit der Leistungsfähigkeit anderer Systeme messen; auf diese Art würde man eine Zahl bekommen, welche eine Eigenschaft der mensch- lichen Leistungsfähigkeit angeben würde. Neben dieser einen Eigen- schaft ist aber die Kraft des Menschen noch durch eine Reihe anderer ul = tn ee ED a Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. Sı charakterisiert: etwa auch dadurch, daß sein Körper bestimmte Teile regenerieren kann, oder daß seine Kraft an eine bestimmte Form des Körpers gebunden ist, usf. Die Vitalisten betonen diese Eigen- schaften, welche den Menschen oder den lebendigen Organismus als eine Einheit, als eine Qualität charakterisieren, nicht nur jenes Quantum der Leistungsfähigkeit. Ich fasse zusammen: Man verbannt entweder den Begriff der Wirkung überhaupt aus der Wissenschaft, oder man zerstreut die Wirkungen in quantitative überall vorhandene Elemente, deren Ur- sprung man für unerforschbar erklärt, oder man faßt sie als quali- tative Einheiten auf. Das erste führt auf die Geometrie, das zweite auf den Mechanismus, das dritte ist der Vitalismus. Die historische Entwicklung des Vitalismus. Wenn man von dem Vitalismus als von einer neuen Lehre erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts sprechen kann, so bedeutet dies keineswegs, daß die älteren Lehren sämtlich mechanistisch gewesen wären. In ge- wisser Hinsicht war auch ARISTOTELES Vitalist, und auch die Mystiker CAMPANELLA, GIORDANO BRUNO und VAN HELMONT haben an eine im speziellen verschieden aufgefaßte vitale Kraft geglaubt; was ihrer Lehre fehlte, um sie bestimmt als Vitalismus ansprechen zu können, war der noch nicht entwickelte Gegensatz zu dem Mechanismus. Wie wir anfangs erwähnt haben, waren die Begründer des Mechanismus in der Biologie insbesondere DESCARTES und BORELLI; das Wesen ihrer Lehre besteht darin, daß der Körper nur eine physikalische Maschine ist, daß die den Körper bewegende Kraft ein Druck oder Stoß ist, und daß die psychischen Vorgänge radikal von den materiellen verschieden sind. Wenn man ARISTOTELES und seine Schule unbeachtet läßt, so kann man den Vitalismus historisch bis auf VAN HELMONT (1577 bis 1644) verfolgen, der angenommen hat, daß die Archaeen Kräfte sind, welche die Vorgänge im Körper beherrschen: der Körper, sich selbst überlassen, würde der Fäulnis unterliegen, es ist der Archaeus, welcher ihn vor der Fäulniß schützt und die chemischen Vorgänge zur Erhaltung des Lebens lenkt. Modern aufgefaßt, könnte man unter diesem Archaeus die Kraft oder das System der Kräfte (als eine Einheit begriffen) verstehen, die während des Lebens bei- spielsweise im Verdauungskanal vorkommen: so viele verschiedene Systeme von Kräften, so viele verschiedene Archaei würde man an- nehmen müssen, um VAN HELMONT gerecht zu werden. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. I. Teil. 6 82 IV. Kapitel. VAN HELMONTs Lehre hat auf die Systeme der Iatrochemiker ge- führt, welche im Gegensatze zu den Anatomen und latrophysikern behaupteten, daß die chemischen Vorgänge (nicht die physikalischen und strukturellen) das Wesen des Lebens ausmachen, und daß bei jeder Krankheit insbesondere die chemischen Eigenschaften des Kör- pers zu beachten sind. Von den Iatrochemikern wird namentlich der Leidener Professor FRANZ SYLVIUS (FRANCOIS DE LA BOE oder DUBoIS, 1ı614— 1672) angeführt, welcher lehrte, daß die Gesundheit des Men- schen auf dem richtigen Verhältnis der sauern und alkalischen Flüssig- keiten im Körper beruht, daß die Krankheiten entweder aus zu großem Säuregehalt oder aus zu großer Alkalinität entstehen. Im Zu- sammenhang mit dieser Lehre wurde namentlich der Bau der Drüsen sowie ihre Funktionen untersucht, so daß aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Reihe von Entdeckungen in dieser Hinsicht zu erwähnen ist, welche namentlich an die Namen von SYLVIUS selbst, dann des bereits erwähnten N. STENO (1638—1686), R. DE GRAAF (1641— 1673), J. C. PEYER (1653— 1712), M. MALPIGHI (1628— 1694) anzuknüpfen sind. Was die Archaeen VAN HELMONTSs betrifft, so hat sie SYLVIUS nicht angenommen; es war eben die Blütezeit des Mechanismus ge- kommen, und in ihr hatten die nichtmateriellen Archaei keinen Platz. Die klügeren Köpfe gaben sich aber nicht mit der durch SYLVIUS verflachten und aus zweiter Hand gebotenen Lehre HELMONTs zufrieden, sondern griffen nach den Schriften HELMONTs selbst; und so finden wir unter den Schülern des SyLvIus den Deutschen GEORG WOLFGANG WEDEL (1645— 1721), einen eifrigen Spiritualisten, welcher auch eine Abhandlung über den Archaeus verfaßt hat'). Sein Schüler war der Vitalist G. E. STAHL. Die Lehre STAHLSs läßt sich also historisch genau bis auf VAN HELMONT verfolgen; sachlich steht sie ebenfalls in einem nahen Verhältnis zu HELMONT und auch zu ARISTOTELES. Es ist aus historischen Rücksichten beachtenswert, daß der STAHLsche Vitalismus als ein Gegensatz zu den Chemikern und Physikern, in der Medizin insbesondere zu F. HOFFMANN, in derselben Epoche entstand, als die LEIBNIZsche Lehre über die durch innere Kraft sich entwickelnde Monade gegen den Mechanismus DESCARTES’ aufgestellt wurde (STAHL war um 14 Jahre jünger als LEIBNIZ). I) Diese Angabe entnehme ich FosTERs History of Physiology, 1899. Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 83 G. E. Stahl. GEORG ERNST STAHL (1660— 1734), war zunächst Hofarzt in Wei- mar, dann seit 1694 Professor der Medizin in Halle, seit 1716 preußi- scher Leibarzt in Berlin. Ein Mann ernster und streng religiöser Lebensführung, wie er war, nahm er bald Anstoß an den mechanisti- schen Lehren und versuchte im Gegensatz zu diesen empiristischen Richtungen durch Intuition (durch »göttliche Offenbarung«) zu einem besseren Verständnis der organischen Vorgänge zu gelangen. Ich will seine Ansichten nach seiner Hauptschrift »Die wahre medizinische Theorie«') (1708) anführen. Mechanismus und Organismus. Das wichtigste Problem ist die Frage: Was ist das Leben, »worin besteht, wovon ist abhängig, auf welche Verhältnisse und Bedingungen stützt sich dasjenige, was man Leben nennt; warum und auf Grund welcher Einsichten wird der Körper als lebendig bezeichnet?)?« Zwar haben sich viele mit diesem Problem befaßt, doch haben sie zu keinem rechten Ergebnis kommen können, da sie keinen Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus machen. Die Worte Mechanismus, mechanisch, Maschine, mechanische Kräfte (potestates) werden heute sehr oft angewendet, und man ver- steht darunter gewöhnlich die Figur, Größe, Lage und Beweglich- keit; einige nehmen auch die tatsächlich am Mechanismus bestehende Bewegung oder die Tendenz zur Bewegung (nisus motorius) als zum Wesen des Mechanismus gehörend an. Niemals wird aber ange- nommen, daß diese Bewegungen oder die Tendenz dazu unter- einander in einem Verhältnis stehen, das durch eine gemeinsame Tendenz charakterisiert wäre. »Die heutige Anschauung ist, daß jeder Körper an sich mechanisch ist, und nicht nur an sich, son- dern daß er sich nur in bezug auf sich selbst bewegt, ohne irgend- ein anderes Ziel zu erreichen, weder warum er sich überhaupt, noch warum eben auf diese Weise, noch wie oder warum er sich in bezug auf einen andern Körper bewegen sollte«°). Zwar haben solche Be- wegungen auch ihre Resultate, doch sind diese niemals a priori (d. h. aus dem Zweck) zu erraten, sondern immer nur a posteriori (nach dem Effekt). 1) Theoria medica vera etc. Halae 1708. 2) Ebenda, S. 63, SESATA: 6* 84 IV. Kapitel. Der Organismus ist von dem Mechanismus grundverschieden; man könnte den Gegensatz durch den Ausdruck hervorheben, daß die Bewegungen am Mechanismus geschehen, am Organismus hervorgebracht werden (facere: efficere); dieses »hervorgebracht« bedeutet, daß die einzelnen Vorgänge des Geschehens nicht für sich selbst einen Sinn haben, sondern erst durch den Zweck, um dessentwillen sie geschehen; und ebenso haben die einzelnen Teile des den Zweck Hervorbringenden eben in diesem Zweck ihre raison d’etre. Solche für einen Zweck konstruierte Apparate müssen Orga- nismen im allgemeinen genannt werden. Wenn nichts anderes, so sind die menschlichen Instrumente solche Organismen. »Das Eigen- tümliche an dem Organismus ist immer und notwendigerweise dies, daß er eine mechanische Disposition hat; und zwar nicht nur im all- gemeinen, insofern in jedem Körper die mechanische Disposition ab- solut notwendig vorhanden ist, sondern auch im besonderen, so daß ein Organismus demjenigen Ding, dem er angepaßt ist, in seiner mechanischen Beschaffenheit entsprechen muß«'). Wohl hat man behauptet, daß man nicht ängstlich nach den Zwecken der Dinge suchen soll, und dies hat seine Richtigkeit, wenn von Problemen die Rede ist, welche dem Verständnis des Menschen so fern liegen, daß keine Hoffnung ist, in diese Probleme einzudringen, wie z. B., zu welchem Zwecke die so vielen Himmels- körper so angeordnet sind, wie sie es sind, oder zu welchem Zwecke nicht nur so unzählige Individuen, sondern auch einzelne Arten der Insekten geschaffen worden sind, die sich täglich vermehren. An- dererseits wieder gibt es Probleme, bei denen niemand auf den Ge- danken kommen wird, Erscheinung und Zweck zu sondern, so z. B., wenn es sich um organische Teile handelt, etwa daß die sensorischen Teile für die Sinne, die Muskeln zur Bewegung, die Zunge für die Sprache bestimmt sind usw. Das Verhältnis der Physik und Chemie zur Biologie (Medi- zin.. Durch die Bemühungen vieler Forscher sind in die Medizin ihr ganz fremdartige Lehren eingedrungen, welche das wahre Wesen der Medizin verschleiern. Es ist bekannt von der Physik seit den ältesten Zeiten die Geister mit ihren nackten und ab- strakten Sprach- und Begriffsformeln von der wahren Erkenntnis des Körpers und der Vorgänge im Körper abgelenkt hat; heute ist sie wieder in allgemeinste Begriffe von der Materie verflüchtigt, die L)SS-T7- Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 85 höchstens auf sehr wenige tatsächliche Erscheinungen passen; die wahren und tätigen Ursachen derselben und die Gründe des Ge- schehens, sowie die Energien läßt sie unberücksichtigt, oder erreicht sie wenigstens nicht. Die heutige Physik betont außerdem nur die Materie, die gröbere Struktur (conformatio) und die gegenseitigen Proportionen der Körper. Die Bewegungen, die Kraft und die Wirkung auf die Materie, ihre Zeitverhältnisse, ihre Intensität und ihre Veränderungen beachtet man nicht. Richtig haben die Alten gesagt, daß der Medicus dort anfängt, wo der Physiker aufhört, aber dies zieht man heute nicht in Betracht. Die Physiker können uns höchstens lehren, auf welche Art der Körper beschädigt werden könnte — doch ist dies keineswegs die Aufgabe des Mediziners, wel- cher wissen muß, auf welche Art der Körper beschädigt zu werden pflegt, und wie dem vorzubeugen ist. Aus ähnlichen Gründen kann auch die Chemie dem Arzte die Erklärung des Lebens nicht bieten. Es seien unter anderem folgende Unterschiede hervorgehoben: die einfachen chemischen Verbindungen haben in ihrer inneren Beschaffenheit keinen Grund dafür, wie lange sie bestehen sollen; die lebendigen Körper dagegen können sich niemals ununterbrochen lange als solche erhalten. Der Grund der Auflösung der chemischen Verbindungen liegt im einfachen Ver- hältnis zu andern chemischen Substanzen, welche auf sie einwirken. Nicht so bei den lebendigen Körpern, welche, obwohl ihre chemischen Bestandteile an sich sehr leicht zerfallen, trotzdem viel länger aus- halten, als es ihrer bloßen chemischen Beschaffenheit entsprechen würde. Die ganze Art der Wirkung und des Geschehens, welche auf die Erhaltung der chemischen Bestandteile des lebendigen Kör- pers abzielt, ist weit verschieden von den einfachen Wirkungen der toten Mischungen, indem das Bestehen der lebendigen Substanzen durch eine formale, unkörperliche und der ganzen materiellen Mi- schung fremde Wirkung ermöglicht wird. Auch die Assimilations- und die ihr verwandte Fortpflanzungsfähigkeit ist nur den lebendigen Körpern im Unterschied von den toten gegeben, nämlich die Fähig- keit, daß die Teile der lebendigen Körper, auch wenn sie ihre che- mischen Bestandteile durch Zufall verlieren, diese durch Verähn- lichung der sie umgebenden Substanz wieder neu hervorbringen; und dies geschieht ununterbrochen. Den toten Körpern ist diese »Regeneration« und »Restitution der Individualität« fremd, und wenn etwas Analoges dann und wann bei ihnen geschieht, so ist dies bloß Zufall, während die Tiere sogar Instinkte, Appetite, den Willen, die 86 IV. Kapitel. Sehnsucht haben, welche sie zur Vermehrung der Nachkommenschaft antreibt. Biologie (Medizin) und Anatomie. Auch die Kenntnis der Ana- tomie des menschlichen Körpers, welche von den Neueren so sehr betont wird, ist nicht nötig, um die Funktionen des Körpers er- kennen zu können. Die Anatomie führt uns bloß auf die Kenntnis des ruhenden Körpers, welche Kenntnis wesentlich physikalisch bleibt. Ebenso wie es unmöglich wäre, durch die Einsicht oder sögar Be- schreibung eines Uhrwerkleins, sei sie noch so vollkommen, die mathematisch-physikalischen Gesetze desselben zu erkennen, oder die Beziehungen der miteinander zusammenarbeitenden Teile, der Ziffern, Zähne und Räder, sowie die Folge der durch die Uhr gemessenen Zeiten zu begreifen, ebenso wie es ferner unmöglich wäre, durch jene Einsicht zu erkennen, wie die Uhr zu machen oder zu reparieren ist, so kann man aus jenen nackten physischen Beschreibungen des mensch- lichen Körpers nicht erkennen, auf welche Art er beschädigt wer- den könnte, besonders auch nicht, auf welche Art er gewöhnlich beschädigt wird. Die Seele als Wesen des Lebens. Die menschliche Seele — daß es so etwas gibt, daran zu zweifeln findet STAHL keinen Grund — vermag nichts ohne den Körper: sie kann nichts perzipieren und daher auch nichts erkennen ohne die körperlichen Sensoria; sie kann ihren Willen nicht realisieren ohne den Dienst der körperlichen Organe. Daher ist der Körper notwendig: er ist notwendig als Mittel, welches die Intentionen der Seele ermöglicht‘). »Weil der gesamte Körper in seiner ganzen Konstitution auf jene zwei Ziele (effectus) hinarbeitet und ihnen dient, erstens, daß er überhaupt erhalten bleibe durch die vitalen Vorgänge; zweitens, daß er den Sinnesempfindungen, den lokomotorischen Bewegungen und endlich dem Nachdenken selbst diene: desto klarer kann daraus eingesehen werden, daß dies eigentlich der Zweck ist, wegen dessen der Körper so kon- struiert ist.« Das, was den ganzen Körper erhält, ist etwas vom Körper selbst _ Verschiedenes, es ist dies eben die Seele: die Seele hat die Kraft über den Körper, sie beherrscht dessen Tätigkeit, sie gibt ihr die notwendige Richtung, sie vermehrt oder vermindert dieselbe. Nun aber wird von vielen das Problem aufgestellt und vergeblich zu lösen versucht, wie die Seele, als immaterielles Prinzip, auf den materiellen 1)28. 258. Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 87 Körper wirken kann‘). Einige haben sehr feine Substanzen als Mittel angesehen, auf welche die Seele direkt wirken kann; ihr Irrtum ist leicht einzusehen; denn wenn die Seele auf feine Substanzen wirken kann, so müßte sie auch auf die groben wirken können. Andere haben etwas richtiger angenommen, daß zwischen den Hand- lungen der,Seele und des Körpers ein festes, unveränderliches Ver- hältnis besteht; doch zeigt die Möglichkeit der Erfahrung und die Wirkung der Phantasie der Mutter auf die Frucht, daß kein solches festes Verhältnis besteht. Wieder andere haben sich auf verschieden- artigen Seelenqualitäten berufen: früher hat man eine vegetative und eine sensitive Seele unterschieden, und die Späteren haben noch weitere Unterscheidungen gemacht, indem sie verschiedene lebendige Kräfte (potestates faciendi) annahmen; dies hat auf den Begriff der Spiritus geführt, die man der Seele unterordnete, und VAN HELMONT hat anstatt der Spiritus seine Archaei eingeführt. Dies alles ist unrichtig, denn es ist unnötig, mehrere Prinzipien der Tätigkeit des Körpers anzunehmen. STAHL will im wesentlichen zwei Tätigkeiten der Seele unterschei- den: den Intellekt (intellectus) und das Urteil (ratiocinatio). Das Urteil (und das Gedächtnis) arbeitet nur mit dem Material, welches irgend- wie vorstellbar (figuralis) ist, der Intellekt dagegen hat einen viel größeren Inhalt. So z. B. unterscheidet der Intellekt — nach der heu- tigen Terminologie etwa »unbewußter Schluß« — verschiedene Gerüche, Farben, Töne, Tastempfindungen u. ä.; durch kein Urteil wird man dazu kommen, den Grund dafür anzugeben, warum wir diese Farbe von jener unterscheiden und etwa dieser wieder gleichstellen; auch das Gedächtnis hilft uns dabei nichts. Auch in dem Urteil selbst gibt es solche durch das Urteil oder das Gedächtnis nicht aufzu- fassende Elemente: wenn wir einen Schluß bilden, haben wir kein Bewußtsein von dem, was den Schluß bildet, keine Erinnerung daran, wie das gewirkt hat, was den Schluß hervorbrachte. Ähnlich ist es bei den Erscheinungen des Willens, wenn wir etwas nach einer be- stimmten Richtung werfen, wenn wir der Bewegung eine bestimmte Kraft geben, wenn wir die Füße einer Stiege angemessen empor- heben wollen usf. Jener Intellekt nun, welcher unmittelbar mit der Umgebung zusammenhängt, ist die Folge der Seelentätigkeit; die Urteilskraft ist sekundär und erst auf dem Intellekt aufgebaut. Die Seele und die Bewegung. Die heutigen Theoretiker hegen 2), S. 261 f. 8 IV. Kapitel. die unzutreffende Annahme‘), daß die Integrität der Bewegungen (d. i. der Gesamtheit der Veränderungen) im Körper einfach von der Materie und von der richtigen Proportion der körperlichen Organe abhängig ist, so daß, wenn die richtige und ungestörte Proportion der Materie vorhanden ist, auch die Bewegung ungestört fortdauert, und wenn sie irgendwo gestört wird, daß durch Verbesserung der Materie auch die Bewegung wieder in ihre Integrität zurück- kehrt. Dem gegenüber sieht man, daß die Bewegungen den ma- teriellen Veränderungen im Körper nicht proportioniert sind, sondern daß die Folge der Bewegungen, z.B. der psychischen Vorgänge, eine einheitliche Reihe bildet. Tatsächlich verhält sich die Sache folgendermaßen. Die Seele wirkt und vollendet ihre Ziele sehr glücklich, soweit und solange sie kann, durch die Bewegung. Diese Bewegung aber bildet nicht das ganze Wesen des Lebens. Das Leben wird erhalten durch die Ver- mittelung des Säftekreislaufs, doch ist dieser Kreislauf kein Leben, sondern nur eine Wirkung des Lebens, und zwar eine ziemlich ent- fernte. Als Bewegung erscheint das Leben zunächst in den Exkre- tionen und Sekretionen, aber auch diese sind kein Leben, sondern nur das unmittelbarste Instrument des Lebens. So wird das Leben hervorgebracht, nämlich durch die Erhaltung des Körpers und seiner Mischung und den Schutz vor jeder Beschädigung, welcher sonst der Körper infolge seiner materiellen Beschaffenheit preisgegeben ist. Die Bewegung ist die Eigenschaft des lebendigen Körpers; nichts vermag aber der Körper weniger als Materien zu bilden; doch kann er aus den von allen Seiten hergebrachten Materien durch seine Energie das Nötige sammeln und den Bedürfnissen anpassen. Dies ist die wahre Naturmedizin, durch welche ohne äußeren ärztlichen Rat und Hilfe viele Menschen genesen, wie schon HIPPOKRATES er- wähnt hat. So enthält?) der allgemeine Begriff des Lebens und des Leben- digen immer den Begriff einer Aktivität, oder eher den einer Handlung innerhalb der körperlichen Dinge, welche Handlung dem Leben imma- nent ist (nicht von außen erteilt), nicht vorübergehend. »... weil der Mensch’) eigentlich Seele ist, der gesamte Körper aber nichts als die Offizin derselben: indessen beruht diese Seele nicht nur in der körperlichen Beschaffenheit dieser Offizin, sondern auch in den Zu- ständen der Materie, in den Zielen, welche an diese Materien ge- I SA7S: 2)IS.ITTS: 3), 8.113. Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 89 bunden sind; überhaupt besteht das Leben des Menschen, d. h. der menschlichen Seele, nicht einfach in einer Wirkung überhaupt, sondern spezifisch in der Wirkung im Körper, durch den Kör- per, innerhalb und über die körperlichen Dinge hinaus und auch in der Wirkung auf den eigenen Körper. « Die Seele hat ferner nicht nur die Kraft, die Bewegungen inner- halb des Körpers, den Kreislauf der Säfte u. ä., zu beherrschen, son- dern auch die Lokomotion. STAHL drückt dies durch folgende Aus- einandersetzung aus’): »... Dasjenige, was nicht nur Schlüsse bildet (ratiocinatur), sondern auch, über die Schlußbildung hinaus, mit Hilfe der Empfindungen, des Organismus nämlich, welcher durch dasselbe verwirklicht und dirigiert wird, das Wahre richtig versteht (intelligit), und was auf beide Arten (durch Schlüsse und Verständnis) nicht nur will, sondern auch seinen Willen durch die Bewegungen realisiert (indem die Beschaffenheit dieser Tat im allgemeinen nach seinem Willen, im besonderen nach seinem Begriff, sei derselbe nun wahr oder falsch, bestimmt und beherrscht wird), dieses Prinzip nenne ich die rationale Seele und ihr schreibe ich die Kraft zu, die Lokomotion anzuordnen und zu dirigieren. « Ich fasse diesen Abschnitt kurz zusammen: Die Seele realisiert ihre Zwecke durch den Körper und durch die Bewegung innerhalb desselben; diese Zwecke können wir selbstverständlich nur empirisch erkennen. Die menschliche Seele hat andere Zwecke als die irgend- eines Tieres; um ihre Zwecke zu erreichen, muß die Seele dafür sorgen, daß der Körper unversehrt bleibe, und so wird durch die Seele der Vorgang der Sekretion und Exkretion, durch den unnütze und schädliche Bestandteile aus dem Körper entfernt werden, ver- mittelst des Säftekreislaufs erhalten. Die Ernährung. STAHL weist hier insbesondere auf den Hunger und auf die Fähigkeit des Menschen hin, sich angemessene Nahrung zu wählen. Der Appetit ist der Wille der Seele, einen bestimmten und notwendigen Zweck zu erreichen. Der Hunger und der Appetit sind nicht an das Vorhandensein, an die Wirkung der Nahrung gebunden, sondern sie entstehen auch, wenn die Nahrung nicht gesehen oder irgendwie empfunden wird. Der Appetit ist die Handlung desjenigen Prinzips, welches nicht nur des organischen Körpers, sondern auch der Erhaltung desselben um seiner Zwecke willen bedarf. Der letzte, elementarste Vorgang der Ernährung ist die Assimi- I) S. 551. 90 IV. Kapitel. lation*). Die komplizierten Vorgänge der Ernährung, z. B. die Herbei- schaffung der Nahrung, ihre Zerstückelung, Verdauung u. ä., bedürfen spezieller Organe; der Assimilation jedoch dient kein spezifisches Organ, sie geschieht unvermittelt durch eine ganz besondere Art der Bewegung, durch die Abzählung, Zusammenstellung und Anordnung der elementaren Nahrungspartikelchen, nicht nach der Menge der hergebrachten Nahrung, sondern danach, wieviel von derselben von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, im Verlaufe der Jahre, im beständig richtigen Verhältnis nötig ist. Die Zeugung und Entwicklung. Was der Same (sperma) ist, welcher die Kraft der Entwicklung hervorbringt, ist schwer zu sagen, immerhin ist es gewiß, daß seine Kraft nicht von außen kommt, sondern ihm inhärent ist. Die Kräfte, welche die Entwicklung her- vorbringen, werden verschiedenartig benannt, es ist aber am besten, die Entwicklungskraft der Seele zuzuschreiben, welche, indem sie den Körper als Instrument für ihre Zwecke beherrschen soll, auch die Fähigkeit haben muß, ihn diesen Zwecken gemäß zu bauen. Zwar ist es sehr schwierig, die Art anzugeben, wie die Seele den Körper bilden kann; trotzdem muß zugegeben werden, daß die rationelle Seele, welche den fertigen Körper beherrschen kann, auch die Kraft haben muß, denselben, sofern er unvollständig ist, zu bilden. Die Tatsache der Phantasie zeigt uns, daß so etwas möglich ist: denn wie in der Phantasie der unvollständige Körperteil zu einem vollständigen gemacht werden kann, so kann dies die Seele auch in der Wirklichkeit. Schwierig ist auch, die Vermehrung der Seelen zu begreifen, doch kann man sich da auf folgende Art helfen. Das Wesen der Seele besteht, wie oben gezeigt, in der Tätigkeit durch die Bewegung; die Bewegung besteht wieder in beständiger numerischer Teilung, indem sich nämlich die Bewegung mit der Zeitfolge verändert, also in verschiedenen Zeitpunkten verschieden ist, und diese Verschieden- heit kann auch auf die bewegende Ursache, die Seele, übertragen werden. Stammt die Seele des Nachkommen von dem Vater, von der Mutter, oder kann sie von beiden herkommen, oder entsteht sie aus der Verbindung des männlichen und des weiblichen Prinzips? STAHL will die Frage nicht entscheiden, neigt aber zu der althergebrachten Ansicht, daß der Mann die Seele gibt, das Weib den Körper. I) S. 484 Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. gI Das tiefste Problem ist das des ersten Anfangs des neuen Körpers, das übrige, die Bildung des vollständigen Organismus aus dem ersten Anfange her, besteht nur in der Ernährung; und zwar entsteht zuerst das Nervensystem, wie MALPIGHI nachgewiesen hat, was wieder beweist, daß die Seele, die bekanntlich im Gehirn und in den Nerven ihre Tätigkeit entwickelt, der Bildung des Körpers vorangeht, indem zuerst die unmittelbaren Instrumente derselben entstehen. Durch die Nerven wird dann der Bau des übrigen Körpers bestimmt und beherrscht. Diese Worte und einige andere scheinen für die Epigenesis zu sprechen, aber STAHL war sich über das Problem nicht klar, denn im weiteren stimmt er wieder den Ansichten LEEUWENHOEKS bei; konsequent würde aus seinem Standpunkt selbstverständlich eine Epigenesis in der Fassung folgen, die ihr ARISTOTELES ge- geben hat. Allgemeines. STAHL wendet nun diese seine Begriffe auf die Pathologie an, was hier übergangen werden soll. Das Verständnis der Lehre STAHLs ist nicht leicht; der Leser hat gewiß bereits an den Zitaten bemerkt, wie dunkel seine (lateinische) Ausdrucks- weise ist. Dies kann aber den Naturforscher, der mit seinem Verstand die Welt erobern will, am Studium der Werke STAHLs gewiß nicht hindern. STAHLs wichtigster Begriff ist der Begriff der Seele als des treibenden Prinzips des Lebens. Diese Seele ist für ihn zwar ein ebenso empirischer Begriff, wie es diejenige LEIBNIZens war, sie kann aus den Manifestationen des Lebens erkannt und nach ihnen beschrieben werden; allein der streng religiöse Sinn STAHLs hat hier seine Spuren zurückgelassen: er denkt sich die Seele zu unab- hängig vom Körper, wenn er behauptet, daß sich die Seele den Körper bildet; er denkt sich dabei den Körper allzusehr passiv und die Seele allzusehr als etwas über dem Körper Stehendes. Das hat seine Gegner dazu geführt, ihm »Animismus« vorzuwerfen, d. h. eine Lehre, von der aus nur ein kleiner Schritt zu der kirch- lichen spiritualistischen Auffassung der Seele führt. In diesem Punkt war LEIBNIZ geschickter, der sich die Seele als verwirklichten Begriff des lebendigen Körpers, der von ihm untrennbar ist, ge- dacht hat. STAHL hat ganz recht gehabt, wenn er auf die Kraft der leben- digen Körper hinwies hat, welche den Körper nach ihren Zwecken beherrscht; er ist aber, wenigstens in der normalen und vergleichen- den Physiologie, nicht genug in das Spezielle gegangen, er hat nicht 92 IV. Kapitel. versucht, die Seele in irgendeiner ihrer Handlungen durch Be- obachtung und Experiment zu verfolgen und ein oder mehrere Gesetze ihrer Wirkungen aufzustellen. Man sieht dies namentlich an seiner Stellung zur Anatomie, Chemie und Embryologie. Eine größere Vertiefung in die Anatomie hätte STAHL belehren müssen, daß man, wenn die Struktur des Körpers das Werk der Seele und ihr Instrument ist, aus dem Studium dieses Werkes eine wichtige Eigenschaft der Seele ebenso erkennt, wie aus dem Studfum der Veränderungen am Körper. Auch die chemische Zusammensetzung des Körpers, sei es nun, daß sie als Zweck betrachtet wird oder als Erscheinung an sich, hat doch einen Sinn, auch für die Bio- logie, insofern wir daraus etwas Gesetzmäßiges im Körper kennen lernen. Es ist interessant, zu verfolgen, wie in der ganzen Geschichte der Biologie, sobald irgend jemand vitalistische Gedanken als ein wichtiges Prinzip erfaßte, er für die Anatomie bzw. für die Mor- phologie jeden Sinn verlor. Wir können gleich auf PARACELSUS hinweisen, welcher gegen GALEN eine vitalistische Chemie auf- gestellt hat. VAN HELMONT hat zwar die Anatomie nicht ganz ver- schmäht, hat ihr aber doch sehr wenig Platz in seinem System ein- geräumt. STAHL will die Anatomie aus seiner Medizin fast aus- schließen. Ein solcher Gedanke wiederholt sich in den folgenden Zeiten nicht; anstatt dessen kommen aber Versuche vor, die Ana- tomie durch die vitalistische Kraft zu erklären, so bei C. F. WOLFF, der auf Grund des STAHLschen Systems die Embryologie auf- bauen wollte und eine dynamische Auffassung der Morphologie ein- zuführen versuchte. Wir können dasselbe auch in neuester Zeit an H. DRIESCH sehen, der die exakte Begründung der Morphologie nicht von der Vertiefung dieser Wissenschaft, sondern von der Phy- siologie erwartet. Sehr wichtig ist es, dies zu beachten, daß jeder Vitalismus die gesamte Biologie, insbesondere auch die Lehre von der Form, auf den Begriff der Kraft zurückführen und die Form durch Kraft erklären will. Ich kann hier gleich hinzufügen, daß bisher jeder Vitalismus an diesem Gedanken gescheitert ist. Der STAHLsche ganz bestimmt, denn er hat nicht einmal vermocht, die Form etwas kon- kreter aus seinem Begriff der Seele abzuleiten. — Außer dem Vitalismus begründet STAHL auch die Lehre vom Phlogiston als einer feinen Substanz, welche sich bei Verbrennung aus den Körpern verflüchtigt. Auch über die Versteinerungen hat er Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 93 (1710) geschrieben. Nach V. CARUS') weist er dabei die Ansichten LHhwvDs ab, daß die Versteinerungen aus organischen Keimen sich in der Erde entwickelt hätten. — STAHL hat mit seiner Lehre wesentlich auf die Neubegründung der Pathologie gezielt. In der Geschichte dieser Wissenschaft muß auch seine bedeutendste Wirkung gesucht werden. Die Biologie des 18. Jahrhunderts war in ihrer Oberflächlichkeit nicht fähig, das System STAHLs zu begreifen und mit der Kraft, mit welcher es begründet wurde, weiter fortzupflanzen. Die evolutionistischen Gedanken, welche die Forscher damals so sehr beschäftigten, waren jedem konsequenteren Vitalismus fern; die Evolutionisten brauchten höch- stens eine Kraft, welche den bereits fertig vorhandenen Keim nur an Größe zunehmen ließ: sie haben vergeblich nach einer solchen Kraft gesucht und sich in verschiedene Inkonsequenzen verwickelt; das ungleichzeitige Wachstum verschiedener Körper- teile sollte nur zu sehr einer Kraft bedürfen, welche es regu- lierte, aber die Annahme einer solchen Kraft wäre eine Kühnheit der Evolutionisten gewesen, an die sich keiner von ihnen heran- wagte. In derselben Zeit, wie STAHL, hat auch der Holländer M. HART- SOEKER (1656— 1725) eine plastische oder formbildende Seele an- genommen, die z.B. dem Krebs den abgebrochenen Fuß regenerieren sollte; dieselbe Seele sollte im Menschenkörper die Spermatozoen bilden. Diese Seele ist intelligent, intelligenter als die verständige Seele und beherrscht und vollführt alle Körperveränderungen, die Lokomotion, den Blutkreislauf, die Ernährung, das Wachstum usf. Auch die Tiere und Pflanzen haben eine solche Seele, und die Himmelskörper werden durch solche Seelen bewegt. HARTSOEKER war jedoch ein zu beweglicher Geist und blieb nicht lange bei dieser Theorie; es wurde ihm überhaupt vorgeworfen, daß er seine Theorien nur aufstelle, um mit andern Forschern streiten zu können. Ähn- liche Ansichten über die Bedeutung der Seele hat auch der Engländer CUDWORTH zu derselben Zeit ausgesprochen. Sehr konsequent hat den StaHLschen Gedanken C. F. WOLFF (1733—1794) erfaßt und auf Grund desselben die Lehre von der epigenetischen Entwicklung durch eine dem Organismus spezifische I) Gesch. d. Zoologie, S. 469. Der Brief Sranıs über diesen Gegenstand ist in der Abhandlung von D. S. BÜTTNER, Rudera diluvii testes etc., Leipzig 1710, ent- halten. 94 1V. Kapitel. Kraft begründet. In England hat für STAHL ROBERT WHYTT (1714 bis 1766) gearbeitet, welcher insbesondere die Reflextätigkeiten des Körpers untersuchte und diese in Gegensatz gegen den Mechanismus gestellte; namentlich lassen sich bei ihm deutliche Entwicklungen des Begriffes der spezifischen Reizbarkeit verschiedener Gewebe finden. In Deutschland schloß sich an STAHL JoH. AUG. UNZER (1727—ı799) aus Halle, bei dem sich ebenfalls die Andeutung der reflexartigen Bewegungen findet; er behauptet nämlich gegen STAHL, daß viele Bewegungen der Tiere ohne Mitwirkung der Seele ge- schehen, und zwar »indem derartige Reize gegen das Gehirn empor- streben, abwärts geleitet und. gleichsam reflektiert, nämlich durch die Nervenknoten aufgehalten und abgeleitet werden')«. In Frank- reich wurde der Vitalismus von Montpellier aus verbreitet, wo THEOPHILE DE BORDEU (1722— 1776) wirkte, welcher — gegenüber den physikalischen und chemischen Kräften — der tierischen Sub- stanz eine »Sensibilität« zuschrieb, die in jedem Organ spezifisch modifiziert ist, wodurch der Organismus wie zu einer Hierarchie der lebendigen Wesen wird. Insbesondere von den Drüsen hat er be- hauptet (1752), daß die Sekretion in ihnen nicht mechanisch ge- schieht, daß also etwa die Speicheldrüsen im Munde nicht durch den mechanischen Druck beim Kauen zur Abgabe des Speichels genötigt werden, sondern daß sie denselben nach einer ihnen inhä- renten Sensibilität sezernieren. Ebenfalls zu Montpellier wirkte ein anderer Vitalist, PAUL JOSEPH BARTHEZ (1734— 1806), welcher anstatt des STAHLschen Namens »Anima« den Namen »principe vital« einführte und diesem Prinzip die Kraft gab, die physiologischen Vorgänge im Körper zu be- herrschen. Seine Schriften sollen in einem sehr dunkeln Stil ge- schrieben sein. Ebendort hat ferner PHILIPP PINEL (1755— 1826) für den Vitalismus gewirkt, und von ihm hat ihn FRANZ XAVER BICHAT (1771— 1802) übernommen, der ihm neue Kraft verlieh. Seine Lehre soll erst später besprochen werden. Wie erwähnt, hat sich der Vitalismus meistenteils innerhalb der Grenzen der Medizin gehalten; gegen das Ende des ı8. Jahr- hunderts haben ihn auch die Biologen, wie CUVIER, GEOFFROY St. HILATRE u. a., doch nur dem Wortlaut, nicht dem Inhalt nach, angenommen; nur auf LAMARCK hat der Vitalismus merklich gewirkt und ihm die Grundlage für sein phylogenetisches System gegeben. ı) Nach H. HAESsER, Gesch. d. Medizin. Die Reaktion gegen die mechanistischen Theorien. 95 Am Anfang des ı9. Jahrhunderts war der Vitalismus, insbesondere in Deutschland, fast allgemein angenommen, was ihm vielleicht mehr geschadet als genützt hat, da sich desselben Köpfe bemächtigt hatten, welche nichts anderes vermochten, als durch unbestimmte Redensarten den richtigen Kern, der in dem Vitalismus liegt, zu verschleiern. Heute fehlt für STAHL überhaupt das Verständnis. Literatur. G. E. StAHL, Theoria medica vera, physiologiam et pathologiam tamquam doctrinae medicae partes vere contemplativas e naturae et artis veris fundamentis in- taminata ratione et inconcussa experientia sistens. Halae 1708. (Im Text ist diese Ausgabe zitiert.) Wichtig sind ferner: De autocratia naturae sive spontanea morborum excursione et convalescentia. Halae 1696. Disquisitio de mechanismi et organismi diversitate. Halae 1706. De vera diversitate corporis mixti et vivi. Halae 1707. Die vitalistische Schule von Montpellier hat die gesammelten Schriften von STAHL (französisch) herausgegeben: G. E. STAHL, (Evres medico-philosophiques et pratiques, traduites et commentees par T. BLONDIN, revues par M. L. BOvER etc., Montpellier 1858—1864. R. WHYTT, An essay on the vital and other involuntary motions of animals. London 1751. T. BORDEU, Recherches sur les differentes positions des glandes et sur leur action. Paris 1752. P. ]. BARTHEZ, Oratio de principio vitali hominis. Montpellier 1773. —— Nouyeaux @l&ments de la science de l’homme. Montpellier 1778. Die Schriften von C. F. WoLFF und von X. BICHAT werden später in den ihnen gewidmeten Kapiteln besprochen werden. — Die An- gaben über HARTSOEKER, BORDEU und BARTHEZ habe ich aus ver- schiedenen Schriften kompiliert; die Arbeiten von WHYTT habe ich in deutscher Übersetzung gelesen. Ro. WHyvrts sämtliche zur theoretischen Arzneikunst gehörige Schriften. Aus dem Englischen von ]J. E. Lietzav. Berlin u. Stralsund 1790. VNARPERT; Die Biologen der ersten Hälfte des ı8. Jahrhunderts. Die in diesen Zeitraum fallenden biologischen Theorien gehören weniger durch ihren Inhalt als durch ein ihnen gemeinsames Streben, mehr geistreich als inhaltsreich zu sein, in eine Gruppe; sie sollen in die auf Nachahmung der von MALPIGHI und SwAM- MERDAM begründeten Ideen und in die Evolutionstheorien eingeteilt werden. Die bedeutenderen Forscher wie BONNET, LINNE, BUFFON, HALLER gehören zwar auch hierher, doch sollen sie in selbstän- digen Kapiteln besprochen werden. 1. Die Epigonen von Malpighi und Swammerdam. MALPIGHIs Schrift über den Seidenwurm und namentlich die Ar- beiten von SWAMMERDAM haben eine Reihe von Arbeiten angeregt, welche die anatomische Untersuchung, wenn überhaupt, sie doch nur oberflächlich berührten, desto mehr aber die Lebensgeschichte der Tiere beachteten. Da diese Studien nicht viel theoretisch Neues gebracht haben, will ich sie nur kurz berühren. Es gehören hierher die Arbeiten von REAUMUR, TREMBLEY, LYONET, MERIAN, ROESEL v. ROSENHOF u. a. Ihnen verwandt sind ferner die Untersuchungen von SPALLANZANI. RENE ANT. FERCHAULT, Seigneur de REAUMUR des ALPES et de la BERMENDIERE (1683— 1757), war Mathematiker und Phy- siker; auch praktische, industrielle Probleme haben ihn beschäftigt. Seine biologischen Arbeiten trugen viel zu seinem Ruhm bei — er wurde der PLINIUS des ı8. Jahrhunderts genannt, und aus der Literatur jener Zeiten sieht man, wie oft und wie respektvoll er zitiert wurde. REAUMUR interessierten namentlich folgende biologi- sche Probleme: die künstliche Bebrütung der Eier (1749), die Be- wegung der Meeresmuscheln, der Seeigel und Seesterne (1712), wobei ” rn ee ne TE Tr y- Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 97 er die Füßchen der beiden letzteren beschrieben und als Haftorgane erklärt hat, die Regeneration der Beine beim Flußkrebs (1712) und die praktische Anwendbarkeit des Spinngewebes (1710); außerdem hat er noch eine Reihe weniger wesentlicher Beobachtungen an verschiedenen Insekten angestellt (1734— 1742). Obwohl also das Gebiet, welches REAUMUR wissenschaftlich be- arbeitet hat, sehr ausgedehnt ist, und die Probleme, die er sich stellte, nicht uninteressant sind, so wird man doch beim Durchblättern seiner Arbeiten kaum begreifen, daß sie seinerzeit in so hoher Achtung stehen konnten: kein einziger origineller Gedanke, keine einzige neue Auffassung ist zu finden, sondern nur eine sehr verflachte Fortsetzung dessen, was MALPIGHI und SWAMMERDAM geleistet haben. In seiner Geschichte der Insekten stellt sich REAUMUR die Auf- gabe, die wichtigeren Gattungen der Insekten nach Lebensweise, Ver- wandlungen, Fortpflanzung und Fertigkeiten zu erforschen. Er spricht über die Versuche, die Kenntnis der Insekten zu systematisieren, und entscheidet sich, wenigstens theoretisch, für das System SWAMMER- DAMs. Es wird die Lebensweise und der Körperbau der Raupen geschildert; dabei werden auch Probleme untersucht wie die über die Seele der Tiere und über das Wesen der Metamorphose; in ersterer Hinsicht weist er den Gedanken DESCARTES’ über die maschinelle Natur der Insekten zurück, ohne aber etwas Positives über deren Seele aussagen zu können. In betreff der Metamorphose beruft er sich auf die »moderne Wissenschaft und moderne Philosophie«, welche nicht erlauben, die Epigenesis anzunehmen, — ein bewährter Kunst- griff aller derjenigen, welche nichts Sachliches für ihre Ansicht an- zuführen wissen. Origineller waren REAUMURS Versuche über die Verdauung. Er war der erste, der die künstliche Verdauung durchführte, indem er auf sehr einfache Weise den Magensaft gewann: er ließ die Vögel einen Schwamm verschlingen, der bald darauf, mit Magensaft durch- tränkt, von dem Tier wieder ausgeworfen wurde; diese Flüssigkeit ließ er dann auf zerriebene Samen einwirken. Um sich ferner darüber zu vergewissern, ob der Magen die von ihm mechanisch zerkleinerte Nahrung auch chemisch angreife, ließ er Vögel Samenpäckchen ver- schlingen, welche in offene Metallröhrchen eingebracht waren; die partielle Zersetzung der Päckchen überzeugte ihn, daß der Magen die Nahrung nicht nur zerreibt (trituratio), sondern auch chemisch verändert (putrefactio). Doch haben eben diese wichtigen Versuche REAUMURS fast keine Wirkung auf seine Zeitgenossen ausgeübt; erst Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. I. Teil. - 98 V. Kapitel. SPALLANZANI hat sie gegen das Ende des Jahrhunderts wiederholt und von neuem bekannt gemacht. Wie bemerkt, hat REAUMUR auch die Regeneration der Beine beim Flußkrebs untersucht. Er stellte sich vor (1712), daß im Körper des Krebses unsichtbare Keime für jeden Fuß vorhanden seien, die in höchst verkleinertem Maßstabe den ganzen Fuß wiedergeben; wenn nun der Krebs eine Extremität verliert, so reizen die sonst für diese bestimmten Säfte jene Keime und bringen sie zum Wachstum. REAUMUR weist dabei auf die Analogie mit der Regeneration der Zähne beim Menschen hin und spricht die Ansicht aus, daß es der Keime nur eine beschränkte Zahl gebe, wovon man sich durch wieder- holtes Abschneiden der Füße überzeugen könne. Diese Theorie hat BONNET später aufgenommen. REAUMUR war unzweifelhaft ein geschickter Forscher; wenn er trotzdem auf den Fortschritt der Wissenschaft nur geringen Einfluß gehabt hat, so liegt das an einer oberflächlichen Auffassung der Biologie, wie sie im 18. Jahrhundert allgemein verbreitet war. Er hat viele Tatsachen entdeckt, doch sind sie ohne jeden inneren Zu- sammenhang. In ähnlich ethologisierender Art wie REAUMUR hat ABRAHAM TREMBLEY (1700— 1784) wissenschaftlich gearbeitet. Namentlich wurde seine Monographie der Hydra (1744) gerühmt, in welcher er unter anderem die Regeneration der Teile dieses Tieres (und auch diejenige von Nais) beschreibt; dadurch ist er ein noch heute oft zitierter Autor geworden. Ein anderer, ebenfalls noch heute oft dem Namen nach angeführter Biologe dieser Richtung war PIERRE LYONET (1707—1789), welcher Zeit und Geduld genug gefunden hat, nicht mehr und nicht weniger als 4041 Muskeln an der Raupe des Weidenspinners zu beschreiben (1762). In Deutschland hat in ähnlicher Weise RÖSEL VON ROSENHOF (1705— 1759) die biologischen Beobachtungen fortgesetzt; namentlich hat er die Lebensweise der Frösche monographisch bearbeitet (1758); eine Zeitlang gab er auch monatlich erscheinende Berichte über das Leben der Insekten heraus (1746— 1761). Die von diesen Forschern gepflegte, etwas tändelhafte Auffassung der Biologie, welche so gut in die salonmäßige, von der damaligen Damenwelt geförderte Wissenschaft hineinpaßte, hatte etwa bis zum Ende des ı8. Jahrhunderts Bestand. Als einer der letzten Forscher dieser Art kann der italienische Abb& LAZARO SPALLANZANI (1729 Re B t Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 99 bis 1799) angeführt werden, ebenfalls eine Berühmtheit seines Jahr- hunderts. Dieser war Geologe, Mineraloge und Biologe; in der letz- teren Wissenschaft hat er sich namentlich durch die Versuche über die Generatio aequivoca, über die embryonale Entwicklung, über die Befruchtung der Tiere und Pflanzen und über die künstliche Ver- dauung bekannt gemacht. Seine Versuche und Beobachtungen sind wie diejenigen von REAUMUR originell und sehr heterogen; doch fehlt ihnen die logische Korrektheit; eine allgemeinere und tiefere Auffassung der Naturerscheinungen würde man vergeblich in seinen Schriften suchen. In seinen Versuchen über die Erzeugung der Tiere (1768) be- schreibt SPALLANZANI gründlich die Befruchtung der Frösche und die Entwicklung der Kaulquappe aus dem Ei. Gleich am Anfange der Entwicklung findet er im Froschei die Larve und folgert daraus, daß der (befruchtete oder unbefruchtete) Froschlaich keine Eier sind, sondern kleine Tierchen oder Fötus, »denn sie haben keine häutigen oder schalenartigen Hüllen an sich, wie die Jungen der eierlegenden Tiere, sondern sie erscheinen bloß und ohne Hüllen, wie man bei den Tieren, die ihre Jungen lebendig zur Welt bringen, wahrnimmt, nur das Schafhäutchen (amnion) ausgenommen, das sie umgibt«'). Folglich sind die Frösche nach SPALLANZANI lebendiggebärend. Die Kaulquappe und der Frosch sind ferner ein und dasselbe Tier, wie die Raupe und ihr Schmetterling, denn sie haben denselben Darm- kanal, dasselbe Nervensystem, Herz usf.; darin besteht der Beweis der Evolution nach SPALLANZANI. Ihm ist es gelungen, die Befruchtung bei den Fröschen und bei den Hunden künstlich durchzuführen, indem er im letzteren Fall einer Hündin frisches Sperma in die Geschlechtsteile eingespritzt hat. Daneben bewies er auch die Unrichtigkeit der sehr alten Lehre von der Wirkung einer Aura seminalis bei der Befruchtung, indem er die Froscheier auf ein Uhrgläschen legte und mit einem andern bedeckte, welches mit Sperma bestrichen war: eine Befruchtung trat selbstverständlich nicht ein. Die künstlich durchgeführte Kreuzung verschiedener Froscharten blieb ohne Erfolg. — Eigentümlich und sehr charakteristisch für die theoretische Oberflächlichkeit SPALLANZANIS ist nun, daß er an die Befruchtung durch die damals bereits sehr gut bekannten Spermatozoen nicht glaubte, obwohl er selbst ge- funden hatte, daß gehörig filtriertes Sperma seine Befruchtungskraft I) Versuche üb. die Erzeug. d. Tiere. Deutsch von CH. F. MICHELIS. 1786. S. 81. 7*F 100 VE Kapitel. einbüßt. Er stellte sich vor, daß bei der Befruchtung in das Ei Säfte eindringen, welche den im Ei eingewickelten Fötus zur Tätigkeit erwecken und so die Evolution beschleunigen. Auch über die Befruchtung der Pflanzen hat SPALLANZANI Versuche angestellt, jedoch ungenau durchgeführt, so daß er zu dem Schlusse gelangte, daß zur Befruchtung der Pollen nicht unumgänglich nötig ist; vielmehr soll der Pollen dem Samen nur eine gewisse Feuchtigkeit erteilen, die zur ferneren Fortpflanzung erforderlich sei. i In einer andern Reihe von Versuchen hat SPALLANZANI sich bemüht, die Unrichtigkeit der Versuche T. NEEDHAMs über die spon- tane Generation nachzuweisen. Letzterer behauptete nämlich, daß in verschiedenen Aufgüssen kleine Organismen von selbst und namentlich durch Zerfallen faulender Pflanzenteile entstehen. Eine solche Tatsache müßte die evolutionistischen Theorien stürzen; SPALLANZANI hat jedoch nachgewiesen, daß im ausgekochten Wasser keine solchen Organismen mehr entstehen, und glaubte so die Evo- lution gegen NEEDHAM gerettet zu haben. Schließlich hat er die Versuche von REAUMUR in neuer Anordnung wiederholt, deren Richtigkeit im wesentlichen bestätigt und sich so das Verdienst erworben, die damals eifriger getriebene physiologische Chemie auf sie aufmerksam zu machen. Die angeführten Naturforscher, namentlich REAUMUR und SPAL- LANZANI, geben uns ein warnendes Beispiel, daß auch die Originalität und der Fleiß nicht zu dauerhaften Resultaten führen, wenn sie keine konsequente Theorie finden, an die sie mit ihren Experimenten und mit ihrer Logik anknüpfen können. Die Natur ist in der Mannig- faltigkeit ihrer Erscheinungen unendlich, und wenn man vergißt, sich einen Weg vorzuzeichnen, auf dem man zu ihrer Erforschung schreitet, so wird man zwar immerhin noch den Beweis seiner Originalität erbringen können: der Nachwelt läßt man dann aber nur diesen Beweis zurück; für einen nach dem Begreifen der Naturerscheinungen strebenden Geist ist ein solcher Beweis kaum befriedigend. Literatur. REAUMUR, M&moires pour servir ä l’histoire des Insectes. Paris 1734—1742. 6 Bde. Die übrigen biologischen Arbeiten REAUMURs sind in den Memoires de l’Acad. des sciences (Paris) mit den Jahreszahlen, welche im Text angeführt sind, enthalten. A. TREMBLEy, M&moires pour servir ä& l’histoire d’un genre de polypes d’eau douce A bras en terme de cornes. Paris 1744, 2 Bde. P. LyoNET, Trait€ anatomique de la chenille qui ronge le bois de saule. La Haye 1762. Die Biologen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. IOoI RÖSEL v. ROSENHOF, Historia naturalis ranarum nostratium ete. Nurinbergi 1758. Monatlich herausgegebene Insektenbelustigungen. Nürnberg 1746—1761. 4 Bde. L. SPALLANZANI, Saggio di osservationi microscopiche concernenti il sistema della generazione de Signori di Needham e Buffon. Modena 1766. (Gegen die spon- tane Generation.) —— ÖOpuscoli di fisica animale e vegetabile. Modena 1776. 2 Bde. (Verdauung und andere Versuche. Auch gesammelte Arbeiten (Opere scelte). Milano 1825—1826. ı2 Bde. 2. Die Ovisten und Animalkulisten. Wir haben bereits, als wir von MALPIGHI sprachen, die geschicht- lichen Gründe angeführt, welche zu den evolutionistischen oder Präformationslehren in der Biologie geführt haben. Kurz gesagt, die philosophische Ursache dieser Theorien lag darin, daß man erstens noch nicht erkannt hatte, daß überhaupt etwas Neues ent- stehen kann — dies lernten die Biologen erst aus der englischen Philosophie —, und daß man zweitens die Lehre von dem Übergang aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit nicht mehr anerkannte. So kann man in gewissem Sinne die Evolutionstheorien als einen histo- rischen Übergang von der aristotelischen Philosophie zu den geneti- schen Theorien betrachten. Wie bereits erwähnt, haben MALPIGHI und SWAMMERDAM zuerst evolutionistische Gedanken in der Embryologie ausgesprochen; kon- sequent hat das Evolutionssystem zuerst A. VALLISNIERI durchgeführt. ANTONIO VALLISNIERI (1661— 1730), Professor der Medizin an der Universität zu Padua, hat in seinen Untersuchungen an die Arbeiten seiner unmittelbaren Vorgänger REDI und MALPIGHI angeknüpft. Wie MALPIGHI hat er die Anatomie des Seidenwurms veröffentlicht und in seinen Untersuchungen über die Entstehung der Insekten die Ver- suche REDIs wiederholt und die Nichtigkeit der Einwände, welche gegen sie erhoben wurden, nachgewiesen. Auch über die Entstehung der Fossilien hat er eigene Gedanken veröffentlicht. VALLISNIERI hat sich sehr bemüht, das Ei der Säugetiere aufzu- finden; denn er war überzeugt, daß das, was DE GRAAF beobachtet hatte, kein Säugetierei, sondern ein bereits fortgeschrittenes Entwick- lungsstadium sei. Trotz vieler Mühe, mit welcher er die Ovarien durchforschte, hat er dieses Ei nicht gefunden, war aber trotzdem von dessen Vorhandensein überzeugt. Desto mehr hat er, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, über dieses Ei spekuliert. 102 V. Kapitel. Seiner Ansicht nach soll im Ei das künftige Wesen materiell bereits ganz enthalten sein, das winzige, dort eingeschlossene Wesen hat selbstverständlich auch wieder ein Ovarium mit Eiern, in denen ein ganzes Tier enthalten ist, usf.; und ganz konsequent nimmt VALLISNIERI an, daß in dem Ovarium der Eva bereits das ganze menschliche Geschlecht materiell enthalten war. Da eine Generation in der andern wie in einer Schachtel eingeschlossen sein sollte, be- kam die Theorie den Namen der Einschachtelungstheorie. Der Un- geheuerlichkeit seiner Annahme war sich VALLISNIERI bewußt, doch half er sich durch den Hinweis auf die engen Grenzen der Fassungs- kraft der menschlichen Vernunft. Die zur Evolutionstheorie führende Überzeugung, daß nichts Neues entstehen kann, hat VALLISNIERI auch dazu geführt, die Herkunft der parasitischen Würmer im Menschenkörper durch eine sehr sonderbare Hypothese zu erklären. Bereits REDI bemühte sich vergeblich, den Ur- sprung jener Würmer zu erklären, denn wenn sie früher da waren als der Mensch, wie haben sie sich erhalten können, und wenn sie erst nach dem Menschen entstanden sind, woraus und wie sind sie entstanden? REDI hat sich noch mit dem aristotelischen Begriff der sensitiven Seele helfen dürfen, durch deren Hilfe die Würmer im Körper gebildet werden sollten; doch diese Erklärung war dem »moder- nen« VALLISNIERI nicht mehr erlaubt. Folglich blieb ihm kein anderer Ausweg als anzunehmen, daß die parasitischen Würmer gleichzeitig mit und im ersten Menschen erschaffen worden sind. Ein gefähr- licher Einwand gegen diese Hypothese war wohl, daß doch der vernünftige Gott solches Ungeziefer in den unschuldigen Körper von Adam nicht hätte hineinpflanzen dürfen. Doch kann man sich immer helfen, wenn man nur guten Willen hat: VALLISNIERI weist diesen Einwand dadurch zurück, daß die parasitischen Würmer vor dem Sündenfall dem Menschen nicht schadeten, sie beseitigten im Gegen- teil die überflüssigen Säfte aus dem Körper. Schlimmer war es jedoch zu erklären, wie der Wurm aus Adam in Eva gelangt ist. Ein gewisser LE CLERK soll geglaubt haben, daß vor dem Sünden- fall diese Würmer im Körper als Eier enthalten waren, und daß erst die Sünde sie zur Entwicklung gebracht hat; daß die Eier auf das Weib leicht übertragbar sind, das schien LE CLERK ganz annehmbar, doch fand VALLISNIERI eine bessere Hypothese: er nimmt an, daß der liebe Gott schon gewußt habe, auf irgendeine Art den Wurm in die Rippe Adams und so in das Weib zu bringen. Bereits vor VALLISNIERI ist jedoch der Theorie von der Entwicklung Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, 103 des Menschen aus dem Ei ein gefährlicher Gegner in A. v. LEEUWEN- HOEK erstanden. ANTON VON LEEUWENHOEK (1632—1723) war ein eifriger Dilettant in der Biologie, der mit den von ihm selbst ver- fertigten Mikroskopen alles mikroskopisch Sehenswürdige durchsuchte und auf diese Art viel Neues fand. Er bestätigte den Blutkreislauf in den Kapillaren, den MATLPIGHI zuerst beobachtet hat, entdeckte die roten Blutkörperchen, die Quer- streifung der Muskelfasern, beschrieb die feinere Struktur der Augen- linse, den Bau der Zähne usw. Ferner beschrieb er die zuerst von einem Leidener Studenten beobachteten Spermatozoen verschiedener Tiere; dieselben sollen lebendig sein, je nach der Tierart verschieden aussehen und sich in großer Menge in der Spermaflüssigkeit bewegen. Viele mikroskopische Organismen, so die Rädertiere und Infusorien, hat er entdeckt und gezeichnet. Auch botanische Objekte untersuchte er gelegentlich mit dem Mikroskop und fügte einige neue Tatsachen zu den von MALPIGHI und GREW entdeckten hinzu. Die Entdeckung der Spermatozoen wurde von andern Zeit- genossen bestätigt, und gleichzeitig fing man an, in diesen Elementen den Schlüssel zu allen Problemen zu sehen. Besonders haben sich in dieser Hinsicht N. AnpRy, N. HARTSOEKER, BOURGUET u.a. aus- gezeichnet. Der Franzose NICOLAUS ANDRY (1668—1731), »homo vermiculosus«, wie ihn VALLISNIERI nannte, sah in allen Dingen die neuentdeckten Spermatierchen (»Würmchen«); sie sollen nach ihm auch Ursache der Krankheiten sein. NICOLAUS HARTSOEKER (1656 bis 1725), Mathematiker, Physiker und Geometer aus Holland, hat sich seine Mikroskope wie LEEUWENHOEK selbst verfertigt, und diese standen den Apparaten jenes Forschers nicht nach; später konstruierte er auch Teleskope. HARTSOEKER wollte gegenüber LEEUWENHOER die Priorität der Entdeckung der Spermatozoen für sich beanspruchen; beobachtet hat er sie ganz gewiß; N. ANDRY hat überdies gefunden, daß die Spermatozoen nur bei den Männern, nicht bei Kindern, und weder bei Greisen noch bei geschlechtlich kranken Personen vor- kommen. Auf Grund solcher Befunde haben nun LEEUWENHOEK und ANDRY die Theorie von VALLISNIERI verworfen und eine neue auf- gestellt: der künftige Organismus ist nicht im Ei enthalten, sondern das Spermatozoon ist der Keim, aus welchem der Organismus sich durch Wachstum entwickelt. Sie stützten ihre Ansicht besonders darauf, daß das Spermatierchen lebendig und rege ist, während das Ei wie eine tote Masse liegt; gegen den Einwand, wozu denn die übermäßige Produktion dieser Tierchen, wenn nur so wenige zur 104 V. Kapitel. Entwicklung kommen, wehrten sie sich durch den Hinweis auf die Bäume, bei denen auch sehr viele Blüten zugrunde gehen. Eine »Bestätigung« dieser Theorie ließ nicht lange auf sich warten. Zuerst hat ANDRY beobachtet, daß jene Würmchen beim Menschen vorn eine Erweiterung mit einem Kopf besitzen, was nach ihm offenbar damit im Zusammenhange steht, daß auch der menschliche Embryo einen viel größeren Kopf hat als bei andern Tieren. Die Krone hat der Theorie jedoch ein gewisser DALENPATIUS aufgesetzt (1699), dem es gelungen sein soll, mit dem Mikroskop die Sperma- tierchen des Menschen in ihrer Entwicklung zu verfolgen, wobei er sah, wie sie, ursprünglich einer Kaulquappe ähnlich, später ihre Haut abzogen, und was darunter erschien, war nicht mehr ein Tier, son- dern ein kleiner Mensch, an welchem DALENPATIUS mit seinem Mikroskop zwei Hände, zwei Füße, die Brust und den Kopf gut unterscheiden konnte; an dem Kopfe sah er sogar eine Kappe, welche aus den Exuvien dieses Männleins gebildet wurde. Ich beeile mich hinzuzufügen, daß kein Animalkulist an diese Entdeckung geglaubt hat, aber charakteristisch bleibt sie doch; übrigens haben auch andere (]J. GAUTIER 1750) die Spermatozoen mit Menschen- gesichtern abgebildet. Wahre Triumphe hat die Phantasie der Evolutionisten auch in der Erklärung der Mißbildungen gefeiert. Der erwähnte ANDRY hatte eine sehr konkrete Vorstellung darüber. Jedes Ei hat nach ihm eine Öffnung, welche mit einer Klappe verschlossen ist; das Spermatierchen kommt an dieselbe, öffnet sie und kriecht in das Ei hinein, worauf es die Klappe mit seinem Schwanze schließt, damit kein anderer Gast hinein kann. Selbstverständlich kommt es aber vor, daß meh- rere Spermatierchen gleichzeitig an einer und derselben Klappe an- kommen; der Leser kann sich schon vorstellen, wie in ihnen ihre Menschennatur vorzeitig erwacht, wie ein Kampf entsteht, und kein Wunder, daß der Glückliche, der das Ei schließlich siegreich be- setzt, ein Bein oder sogar den Kopf auf dem Kampfplatze zurück- läßt und darum später als einbeinig oder als kopfloses Monstrum geboren wird! Man würde jedoch fehlgehen, wenn man nur die Evolutionisten aus dem Anfange des 18. Jahrhunderts als so oberflächlich und seicht betrachten wollte; die (etwas später gekommenen) Epigenetiker, wie BUFFON, waren nicht viel tiefer in ihren embryologischen Theorien; doch das soll später geschildert werden. Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 105 Literatur. LEEUWENHOEK, ANT. DE, Anatomia et contemplatio nonnullorum naturae invisibilium secretorum comprehensorum. Lugd. Batav. 1685. Die kleineren Abhandlungen LEEUWENHOERS sind in den Schriften der kgl. Ges. in London enthalten; dieselben sind später gesammelt herausgegeben worden unter dem Titel: Opera omnia, seu arcana naturae, ope exactissimorum microscopiorum detecta. 7 Vols. Lugd. Batav. 1722. VALLISNIERI, AnT., Istoria della generatione dell’ uomo, e degli animali, se sia da vermicelli spermatici o dale uovi. Venezia 1721. —— Considerazioni ed esperienze intorno alle generazioni de’ Vermi ordinari del corpo umano. Padova 1710, HARTSOEKER, NIK., Essai de dioptrique. Paris 1694. AnDRY, Nic., De la gen@ration des Vers dans le corps de l’homme. Paris 1700. GAUTIER D’AGOTI, JACQ., Zoogenesie ou gen@ration de ’homme et des animanx. Paris 1750. 3. Charles Bonnet. CHARLES BONNET (1720—1793) war Zoologe, Botaniker und Philosoph; in der Zoologie gehörte er zu den Epigonen SwAnM- MERDAMs, in der Philosophie zu denen von LEIBNIZ; die Pflanzen- physiologie betrieb er auf eigene Faust. Zuerst hat er das Leben der Insekten studiert, und als er sich durch dieses Studium die Augen verdorben hatte, beobachtete er die Pflanzen und spekulierte über all- gemeine Probleme. Unzweifelhaft sind seine entomologischen Arbeiten die besten; was er außer ihnen als Biologe geliefert hat, sind kaum mehr als Reminiszenzen eines alten Herrn an die Zeiten, wo er auch wissen- schaftlich gekämpft hat. Immer von neuem wiederholt er denselben nichts weniger als tiefen Gedanken, immer führt er dieselbe Tatsache als Beweis für seine Behauptung an, und mit solchem Hin- und Her- reden hat er ıo dicke Bände auszufüllen gewußt. SACHS wundert sich, wie sich seine botanischen Arbeiten seinerzeit einer so großen Achtung erfreuen konnten; aber auch die große Verehrung, mit der seine philosophischen Ansichten von den Biologen aufgenommen wurden, gibt der Urteilskraft jener Zeiten nur ein schlechtes Zeugnis. In seiner ersten Arbeit (1745) wies BONNET nach, daß sich die Blattläuse geschlechtlich sowie auch ungeschlechtlich fortpflanzen können; an die Versuche TREMBLEYs anknüpfend, beschrieb er die Regeneration einiger Süßwasserwürmer, sowie die Vermehrung der Nais durch Teilung und teilte verschiedene kleinere Beobachtungen aus dem Leben der Raupen mit, die aber über das von MALPIGHI, 106 V. Kapitel. SWAMMERDAM und REAUMUR Gebotene nicht hinausreichen. In seinen botanischen Arbeiten aus dem Jahre 1745 versuchte er den Gedanken durchzuführen, daß die Blätter die Aufgabe haben, Wasserdampf aufzunehmen, und beschrieb verschiedene Bewegungen der Pflanzen. Darauf hat er sich ausschließlich der Naturphilosophie gewidmet, in der er im wesentlichen sehr verflachte LEIBNIzsche Gedanken wiederholte. Als höchsten naturphilosophischen Gedanken erklärt BONNET, »daß es eine Gradation in allen Teilen dieses Weltalls gibt«'). Er ’gibt fol- genden Stufengang der Wesen an?): Mensch, Pflanzen, . Orang-Utan, Flechte, Affe, Schimmel, Vierfüßer, Pilze, Fliegendes Eichhörnchen, Trüffel, Fledermaus, Korallen, Strauß, Steinkorallen, Vögel, Asbest, Wasservögel, Talk, Gips, Selenit, Amphibische Vögel, Schieferstein, Fliegende Fische, Steine, Fische, Geformte (figure) Steine, Kletternde Fische, Kristalle, Aal, Salze, Wasserschlangen, Vitriol, Schlangen, Metalle, Nackte Schnecken, Halbmetalle, Schnecken mit Schale, Schwefel, Muscheln, Erdharz, Röhrenwürmer, Erden, Gallinsekten, Reine Erde (terre pure), Bandwurm, Wasser, Polypen, Luft, Aktinien, Feinere Materien. Sinnpflanze, Aus dem Grundsatze, daß es in der Natur lauter Übergänge gibt, folgert BONNET, daß unsere Klassifikation immer nur subjektiven Wert ı) Traites d’Insectologie. CEuvres I. p. 1. 2) Der Stufengang schließt nicht mit dem Menschen ab, sondern wird in den Engeln fortgesetzt. Alle Wesen sind ferner in gegenseitiger Abhängigkeit, jede Er- scheinung ist Ursache aller andern Erscheinungen. Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 107 haben kann und in der Natur keineswegs begründet ist. Derselbe Gedanke, wohl aber klarer ausgedrückt, findet sich zu jener Zeit bei manchen Naturphilosophen, insbesondere bei BUFFON (1749), und darin ist auch die Quelle der späteren Ansichten LAMARCKS zu suchen. Nach BONNET ist keine epigenetische Theorie möglich, da es aus- geschlossen ist, nach mechanischen Prinzipien den Anfang der Ent- wicklung zu erklären, — epigenetische und mechanische Theorie sind für ihn dasselbe. Er unterscheidet nicht die Theorien HARVEys und DESCARTES’ und führt als theoretischen Beweis der Evolution ins- besondere den inneren Zusammenhang der Teile des Körpers an. In dieser Hinsicht sagt er: »Man braucht kein MORGAGNI, kein HALLER, kein ALBINUS zu sein, um zu begreifen, daß alle Teile des Tieres so direkt, so verschiedenartig, so vielfach miteinander in Beziehung stehen, daß ihr Zusammenhang so eng, so unlösbar ist, daß sie immer miteinander haben bestehen müssen. Die Arterien setzen die Venen voraus, die einen wie die andern setzen wieder die Nerven voraus, diese das Gehirn, dieses das Herz, und aile bedingen eine Menge anderer Organe«'). Die Epigenesis ist also nicht möglich, da sie vor- aussetzt, daß das Tier wie ein Kristall durch Zuwachs neuer Teile sich vermehrt, die sich durch irgendwelche Beziehungskräfte (forces de rapport) aneinanderschließen würden. Als tatsächlichen Beweis der Theorie führt er namentlich die Be- obachtungen HALLERs an, daß der Dotter im Vogelei auch zum Körper des Embryos gehört, indem er einen Teil der inneren Organe bildet. Diese Beobachtung stand nämlich den älteren Vorstellungen gegenüber, nach denen sich der Embryo mehr oder weniger durch Apposition des Eiinhaltes bilden sollte. Der Keim erscheint nach BONNET anfangs nur wie ein winziges Netz; durch die Befruchtung wird das Herz desselben belebt und treibt nun die Blutflüssigkeit in die Gefäße; durch den Druck dieser Flüssigkeit erweitern sich die Maschen jenes Netzes, in die Lücken dringen die Nahrungspartikelchen, und so wächst der Keim zum fer- tigen Organismus. Wenn es möglich wäre, aus diesem alle Nahrung wieder zu extrahieren, so würde der Körper wieder zu dem ursprüng- lichen, unsichtbaren Keime zusammenschrumpfen. Die Keime sind von Gott geschaffen worden; man denke aber nicht etwa, daß sie den erwachsenen Formen gänzlich gleichen; wenn wir ı) Consid. corp. org. p. 261. 108 V. Kapitel. sie untersuchen könnten, so würden wir in ihnen die Säugetiere, Vögel, Reptilien, Insekten usw. nicht einmal erkennen können, »und wir würden an deren Stelle nur bizarr zugeschnittene Figuren sehen, deren unregelmäßige und formlose Umrisse uns in Ungewißheit lassen, ob das, was wir vor Augen haben, ein Vierfüßler oder ein Vogel ist. Es würde sich mit diesen Figuren so verhalten wie mit den optischen, deren wahre Natur man nicht erkennt, bis man sie durch einen Spiegel umkehrt. Der Befruchtung fällt hier die Rolle des Spiegels zu, sie ist das Prinzip der Entwicklung, welche die Formen herstellt und bemerkbar machte '). Die Unvorstellbarkeit der wiederholten Einschachtelungen verursacht ihm viel Mühe; einmal behauptet er, daß man die Einschachtelung nicht wörtlich nehmen darf, und (wenn ich richtig verstehe) daß man sich darunter mehr die Einheit der die Entwicklung treibenden Kräfte vorstellen soll”); ein andermal erklärt er wieder die Sache ganz wörtlich so, daß das Verhältnis der Keime zueinander wie das des Samens zur Pflanze ist: der Same ist ein Teil der Pflanze und schließt bereits eine neue Pflanze ein, die dann wieder Samen hat, usw., und verteidigt diesen Unsinn damit, daß hier der Ver- stand die Unfähigkeit der Sinne, sich die Sache vorzustellen, er- setzen müsse’°). Eine unüberwindliche Schwierigkeit bildeten für BONNET die Tat- sachen der Regeneration und die Erscheinungen der Kreuzung. Die Regeneration erklärt er ganz ähnlich*) wie unlängst WEISMANN. Er glaubt nämlich (und folgt darin einer Idee REAUMURSs), daß in dem Körper etwa von Lumbricus kleine Keime zerstreut, aber bestimmt gegen die Achsen des Körpers orientiert sind, welche zur Entwicklung gelangen, wenn der Körper verwundet wird. Zur Erklärung der Kreuzung nimmt er an, daß durch die Befruchtung von seiten des Männchens dem Keime nur eine Art Nahrung geliefert wird; durch diese Nahrung kann auch das Männchen die Form des künftigen Organis- mus beeinflussen. An einer andern Stelle’) behauptet er wieder, daß im Samen so viele Elemente des Körpers für den künftigen Embryo geliefert werden, wie im Ei des Weibchens; bei der Kreuzung des Esels mit der Stute gelangt in den Keim des Pferdes eine größere I) Contempl. de la nature. p. 268. 2) Consid. corp. org. p. 483. 3) Ebenda, S. 269. 4) Ebenda, S. ıı. 5) Ebenda, S. 241. Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 109 Anzahl der Elemente des Ohres aus dem Esel, daher die langen Ohren des Maulesels. Von den Monstrositäten, welche auch eine be- deutende Schwierigkeit für die evolutionistische Theorie bilden, glaubt er, daß sie durch äußere Einflüsse auf den Keim verursacht werden. Die evolutionistischen Gedanken überträgt BONNET weiter auf die Entwicklung der ganzen organischen Welt (1769), was man als kleines Rudiment der historischen Auffassung der Organismen ansehen kann. Die Welt entstand nach seiner Ansicht viel früher, als Moses lehrt; seit ihrem Bestehen hat sie mehrere Revolutionen erlebt. Da nun alle Wesen der Welt untereinander in Beziehung stehen, so muß auch jeder Organismus zu den Revolutionen, welche unsere Erde noch erleben soll, in bestimmtem Verhältnis stehen; so wie das Hühn- chen bei seiner Entwicklung verschiedene Formzustände durchläuft, so können wir uns vorstellen, daß auch die organischen Körper bei jeder Erdrevolution eine neue Form angenommen haben: »Alles das hilft uns die neuen Formen begreifen, welche die Tiere an- nehmen werden in jenem künftigen Zustande, zu dem sie, wie ich schließe, berufen sind. Dieser kleine organische Körper [der Keim], durch welchen ihre Seele jetzt mit dem sichtbaren Körper verbunden ist, schließt bereits in sich wie im unendlich Kleinen die Elemente aller Teile, welche jenen neuen Körper bilden werden, unter dem sich uns das Tier in seinem künftigen Zustande zeigen wird«'). Also auch hier wendet BONNET seine Einschachtelungstheorie an: nichts Neues wird in der ganzen Weltgeschichte produziert; alles, was kommen wird, war bereits am Anfange der Welt im Keime (materiell, nicht nur potentiell) vorhanden. Er führt auch philosophische Gründe dafür an, daß nichts Neues entstehen kann: »Alle Kombinatio- nen«, sagt er, »welche sich aus denselben Partikelchen der Materie bilden konnten, sind gebildet worden und haben ebensoviele ver- schiedene Spezies hervorgebracht. Andere Partikelchen, mit diesen verbunden, haben neue Kombinationen und infolgedessen neue Spe- zies gebildet. Dadurch sind alle Lücken ausgefüllt, alle Stellen ein- genommen worden«?). Ausdrücklich bemerkt BONNET, man dürfe nicht annehmen, daß in nachfolgenden Perioden etwa die Spinne vollkommener sein werde als der Esel, da beide gleichzeitig ein höheres geistiges Leben erlangen würden®). »Dann wird der Tiger aufhören, ein Raubtier ı) Paling. phil. p. 126. 2) Prineipes philos. sur la cause pr&miere. p. 227. 3) Paling. philos. p. 149. 1IO V. Kapitel. zu sein, und wird zu einem denkenden Wesen werden; unter den Affen und Elefanten wird ein NEWTON und LEIBNIZ erscheinen. « Der Leser sieht, wie die Phylogenie BONNETs ganz im Sinne von LEIBNIZ gehalten ist; aber auch ein kleiner Schritt zur historischen Auffassung ist nicht zu verkennen. Bei LEIBNIZ entwickelt sich alles, jedoch nicht in der Zeit, wenigstens ist die Zeit dabei Nebensache; nur das, was sich entwickelt, wird betont. In BoNNETs Palin- genesie tritt dieser Gedanke noch sehr hervor; zugleich sehen wir aber, wie mit der Theorie von den Erdrevolutionen der Gedanke von der Entwicklung als von etwas, was in der Zeit geschehen ist, eingeführt wird; so wird die ideelle, dynamische Fassung der Ent- wicklung LEIBNIZens bei BONNET teilweise durch eine mehr em- pirische ersetzt. Wie schwach jedoch dieser Anlauf zu einer empirischen Richtung bei BONNET war, ist zz. B. aus seiner Behauptung zu ersehen, daß, wenn wir in das wahre Wesen, in den Keim eines Tieres hineindringen könnten, wir darin alle seine Beziehungen zur Vergangenheit und Zukunft finden könnten‘). Zur Vergleichung mit den späteren Theorien sei noch folgender Satz angeführt: »Es gibt unter ihnen [den Or- ganismen]) ewige Kämpfe, doch sind die Erscheinungen so vernünftig kombiniert, daß die Vernichtung der einen den Grund für die Er- haltung der andern bildet, und daß die Fruchtbarkeit der Arten den Gefahren, welche die Individuen bedrohen, immer proportional ist« °). Schließlich muß bemerkt werden, daß die Konsequenz zu den schwächsten Seiten der BONNETschen Schriften gehört; er hat sich sehr durch die Ansichten der Zeitgenossen beeinflussen lassen, und so kommen wiederholt bei ihm z. B. BuUFFONsche Ideen über die überall verbreiteten organischen Keime vor, obwohl er diese ausdrücklich als phantastisch bezeichnet. Er selbst nimmt an, daß die Keime, welche nicht zur Entwicklung kommen, in andere, auch in anorga- nische Körper gelangen und dort auf eine günstigere Gelegenheit zur Entwicklung warten), daß sie durch Nahrung in den Körper ge- langen*). Daß seine Ansichten über die Evolution und über die Keime schwankten, haben wir bereits erwähnt. Die Kraft, einem Gedanken in seine Konsequenzen nachzugehen, hat BONNET gefehlt. In den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts ge- ı) Paling. philos. p. 380. 2) Contempl. de la nature. p. 188. 3) Paling. philos. p. 149. 4) Consid. corp. org. p. II. Die Biologen der ersten Hälfte der 18. Jahrhunderts. ı11 hörte BONNET zu den berühmtesten Biologen; seine philosophischen Schriften wurden ins Deutsche, Italienische und Englische übersetzt und vielfach diskutiert; er selbst konnte noch die Gesamtausgabe seiner Schriften besorgen. Von den bedeutenderen Biologen haben ihn namentlich HALLER und SPALLANZANI sehr geschätzt. In Deutschland sollen übrigens auch seine psychologischen Anschauungen Schule gemacht haben; unter anderm soll JACoBI von ihm beeinflußt wor- den sein‘). Das Verdienst BONNETs besteht nicht in der Aufstellung neuer Theorien; dadurch jedoch, daß er in leicht faßlicher Sprache die philosophischen Probleme von der biologischen Seite aus diskutierte, hat er auf die Zeitgenossen gewirkt und so mitgeholfen, das Interesse an allgemeinen biologischen Problemen zu erhalten. Literatur. CH. BONNET, Trait€ d’Insectologie, ou observations sur les pucerons et sur quelques especes des vers d’eau douce, qui coup@s par morceaux, deviennent autant d’animaux complets. 2 Parties. Paris 1745. —— Recherches sur l’usage des Feuilles dans les plantes et sur quelques autres sujets relatifs a l’histoire de la vegetation. Gottingue et Leyde 1754. —— Essai de Psychologie, ou considerations sur les op£@rations de l’äme, sur l’habi- tude et sur l’&ducation, auxquels on a ajout€ des principes philosophiques sur la cause premiere et sur son effet. Londres 1754 (1755). —— Essai analytique sur les facults de l’äme. Copenhague 1760. —— Considerations sur les corps organises, ou l’on traite de leur origine, de leur developpement, de leur r&production etc., ou l’on a rassembl& en raccourei tout ce que l’histoire naturelle offre de plus certain et de plus interessant sur ce sujet. 2 Vols. Amsterod. 1762. —— Contemplation de la nature. 2 Vols. Amsterod. 1764. —— La palingen&sie philosophique ou id&es sur l’&tat passe et sur l’etat futur des Etres vivants, ouvrage destin€ ä servir de suppläment aux derniers €crits de V’auteur et qui contient principalement le pr&eis de ses recherches sur le chri- stianisme. 2 Vols. Geneve 1769. —— Recherches philosophiques sur les preuves du christianisme. Geneve 1770. Die im Text angeführten Zitate beziehen sich auf: CH. BONNET CEuvres d’histoire naturelle et de Philosophie, Vol. .—X. Neuchätel 1779—1 783. Über BONNETs naturwissenschaftliche Theorien hat E. PERRIER (La philosophie zoologique avant Darwin, Paris 1886) geschrieben; selbstverständlich macht PERRIER aus BONNET einen Vorläufer DARwInSs. 1) Vgl. FALCKENBERG, Gesch. d. neueren Philos. S. 315, 396. (Böhmische Ausgabe.) IE2 VG Kapitel. 4. Buffon. GEORGES LOUIS LECLERC DE BUFFON (1707—1788) hat sich an- fangs mathematischen Wissenschaften gewidmet; 1733 wurde er in die Akademie als Geometer aufgenommen und ı739 zum Inten- danten des königlichen botanischen Gartens zu Paris ernannt. Seitdem lebte er teils zu Montbard, teils in Paris und schrieb seine Histoire naturelle. i Das Beste an BUFFON war sein Stil — und der gehört wohl weniger in die Naturwissenschaft. BUFFON besaß nicht im mindesten den Wissensdrang, welcher den Forscher treibt, irgendeinen Naturvorgang zu verfolgen, sich mit Experimenten zu plagen, Tiere zu sezieren. usw.; er verspürte nur Lust, zu schreiben, und so ist es gekommen, daß er die größte populäre Naturgeschichte herausgegeben hat, die je erschien. Andere haben die Beobachtungen und Versuche, wo solche nötig waren, für ihn gemacht: seine geologischen Kenntnisse schöpfte er aus STENO, WOODWARD und WHISTON; in der Anatomie hat DAUBEN- TON für ihn gearbeitet, wegen der mikroskopischen Untersuchungen hat er T. NEEDHAM zu sich eingeladen. BUFFONs eigene Versuche (über das Wachstum der Wälder) haben kaum eine wissenschaftliche Be- deutung. Noch eins ist der Erwähnung wert. BUFFON hatte erfahren, daß seine Theorie der Erde, in der er seine geologischen Ansichten über den Ursprung der Kontinente durch allmähliche Senkung der Meeres- oberfläche erklärt, auf Veranlassung der theologischen Fakultät der Zensur verfallen werde, als »Prinzipien und Maximen enthaltend, welche nicht konform sind mit denen der Religion« (1751). Auf diese Nachricht hin erklärte er sofort, zu einer Satisfaktion bereit zu sein. Nach- dem ihm von der theologischen Fakultät die Anstoß erregenden Stellen seiner Schrift bekannt gemacht waren, hat er es mit seinem wissenschaftlichen Gewissen als vereinbar gefunden, folgende Erklä- rung abzugeben’): »Ich erkläre, daß ich nicht die Absicht gehabt habe, dem Text der Heiligen Schrift zu widersprechen, daß ich sehr fest an alles das glaube, was dort über die Schöpfung erzählt wird, wie in betreff der Zeiten, so bezüglich der Umstände des Geschehenen; und daß ich das, was in meinem Buche die Bildung der Erde betrifft, zurücknehme, und überhaupt alles das im allgemeinen, was der mosaischen Erzäh- lung widersprechen könnte, indem ich meine Hypothese über die ı) Hist. nat. gener. I. p. 301. Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 113 Bildung der Planeten nur als eine philosophische Supposition angeführt Be. . usf. « Der kompilatorische Ursprung der Ansichten BUFFONS gestattete es selbstverständlich nicht, irgendein biologisches Problem tiefer aufzu- fassen; trotzdem hat er es verstanden, sich in mehrfacher Hinsicht zu einer gewissen Selbständigkeit der Ansichten durchzuarbeiten. Er pole- misiert gegen die mechanistischen Theorien DESCARTES’, aber auch gegen den Evolutionismus VALLISNIERIS und LEEUWENHOEKS und kon- struiert sich eine Theorie der Entwicklung, welche ein Konglomerat aus beiden Systemen bildet. Er verwirft das Systemmachen LinNnEs und strebt nach einer natürlichen Auffassung der Tierwelt, die er aber ganz eigentümlich beurteilt. Die geologischen Spekulationen und die Ein- führung der empirischen Philosophie in die Biologie bringen ihn ferner dazu, genetische Gedanken in die Auffassung der Tierwelt einzu- flechten. Systematik. Seine Ansichten über die Systematik hat BUFFON in der Einleitung zu seiner Naturgeschichte erklärt. Stellen wir uns, so meint er, einen Menschen vor, der, ohne irgend etwas von der Natur zu wissen, auf einmal in deren Mitte gestellt würde. Er wird bald Tiere, Pflanzen und Mineralien unterscheiden lernen, und indem er die Unterschiede zwischen Erde, Luft und Wasser bemerkt, wird er danach auch Vierfüßler, Vögel und Fische unterscheiden, bei den Pflanzen wird er leicht den Unterschied zwischen Bäumen und Kräutern machen. So wird er eine >»natürliche« Einteilung (une division donnde par la nature m&me) finden. Seine naive Betrach- tung der Natur fortsetzend, wird er endlich zu den Vorstellungen von der Natur gelangen, die wir heute hegen, und die Tiere nach den Beziehungen klassifizieren, welche sie zum Menschen haben: er wird im System dem Pferde, Hunde, Rind usw. den Vorrang geben; erst am Ende wird er die Bewohner der fremden Gegenden betrachten. Und diese Folge, die natürlichste von allen, ist die, welche wir anzuwenden bestimmt haben’). BUFFON hat also die natürliche Einteilung in unserem Sinne für ein Phantasiegebilde erklärt; was er natürliche Ordnung nennt, ist die volkstümliche Ordnung -— eine historisch wichtige Verwechslung. Zur Zeit BUFFONs hat nämlich die soziale Strömung begonnen, welche in der Philosophie ROUSSEAUs einen so lebendigen Ausdruck fand und in dem volkstümlichen Leben oder vielmehr in dem Leben des ı) S. 38. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. I. Teil. 8 114 V. Kapitel. Naturmenschen das Natürliche gegenüber dem Künstlichen der Zivilisation erblickte. Kein Zweifel, daß dieser Gedanke in die bio- logischen Theorien hineinspielte. Wir werden im weiteren noch sehen, wie diese Anschauung die Biologie nochmals beeinflußt und die Phylogenie vorbereitet hat. BUFFON polemisiert gegen das LinnEsche System, daß es zu wenige Klassen bilde; denn je mehr Unterabteilungen man für die Naturprodukte annehme, desto näher werde man der Wahrheit kommen, da es tatsächlich in der Natur nur Individuen gibt, und da die Gattungen, Ordnungen und Klassen nur in unserer Einbildung vorhanden sind’). Über die lebendigen Wesen hat sich BUFFON Vorstellungen ge- bildet, die eine eigentümliche Verschmelzung DESCARTESscher und LEIBNIZscher Gedanken darstellen. Die Tiere und Pflanzen, meint er, sind aufeinander angewiesen, namentlich durch ihre Nahrung. Diese Nahrung besteht aus feinsten lebendigen Partikelchen, aus denen die lebendigen Körper gebaut sind, ähnlich wie ein Kristall aus kleinsten Kriställchen zusammengesetzt ist. Diese Teilchen sind Pflanzen und Tieren gemeinsam — also nicht für jedes Tier eine besondere Art derselben (darin ist er DESCARTES gefolgt), und sie sind lebendig, or- ganisiert und unzerstörbar (LEIBNIZ). Übrigens war diese Theorie nicht seine eigene: MAUPERTUIS hat eine ganz ähnliche Ansicht vor ihm ausgesprochen. Letzterer er- wähnt zunächst den mißlungenen Versuch DESCARTES’, die Bildung der Tiere mechanisch zu erklären, verwirft dann die Evolutionstheorie, da sie nichts erkläre, und nimmt unsichtbare Körperchen an, welche die wesentlichen Eigenschaften der lebendigen Körper, wie Begehren, Abneigung, Gedächtnis, Gewohnheit usw., besitzen; diese Körperchen kristallisieren während der embryonalen Entwicklung zu einem neuen Organismus. Wenn es bei der Entwicklung an einigen wesentlichen Partikelchen mangelt, entstehen Monstra, und durch Umlagerung der- selben könnten neue Arten gebildet werden, so daß auf diese Weise aus einem zufällig entstandenen Organismenpaar alle die verschiedenen lebenden Wesen hervorgegangen sein könnten. Woher stammen aber die Form und die Strukturen eines leben- digen Wesens, fragte BUFFON weiter. Wie jeder Körper die Eigen- schaft der Gravitation hat, so eignet diesen lebendigen Teilchen eine eigentümliche Kraft, welche sie nötigt, sich zu bestimmten Strukturen I) S. 43. > pen, EG ee in er Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 115 zusammenzusetzen. BUFFON nennt diese Kraft moule interieur (innere Form) und streift damit den Begriff der wesentlichen Kraft (vis essen- tialis), welchen WOLF 1859 aufgestellt hat; beide Vorstellungen haben offenbar in dem LEIBNIZschen Begriff der sich entwickelnden Monade ihren Ursprung. Deutlicher hat sich BUFFON über diese innere Form nicht aus- gesprochen, er versichert nur wiederholt, daß man darunter nicht nur die äußere Form, sondern alle inneren Beziehungen der Teile zu ver- stehen habe. Über die Zeugung der Tiere hat er sich nach langer Diskus- sion der Ansichten von LEEUWENHOEK, VALLISNIERI und vieler anderer folgende Theorie gebildet. Solange der Körper wächst, werden die durch die Nahrung aufgenommenen Partikelchen zum Aufbau des Körpers verwendet; nachdem das Wachstum aufgehört hat, sammeln sich die übrigbleibenden Partikelchen aus dem ganzen Körper in den Reproduktionsorganen, wo sie sich zu kleinen Tierchen — den Sper- matozoen — zusammensetzen. Unrichtig sind nach BUFFON die An- sichten derer, welche in den Ovarien der Säugetiere Eier auffinden wollten; vielmehr sind auch in deren Reproduktionsorganen kleine Samentierchen enthalten, und durch die Verbindung der männlichen und der weiblichen Tierchen entsteht der Embryo. Wahrscheinlich bildet sich zuerst die Anlage der Generations- organe, da sie bei Mann und Weib verschieden sind, und um die- selben verteilen sich dann die übrigen Teilchen nach derselben Ordnung wie im entwickelten Organismus. Hiernach ist also die Evolutionstheorie unrichtig, richtig dagegen die epigenetische Theorie. Und doch sind im Embryo auch schon alle Teile des entwickelten Organismus enthalten, nur so eingewickelt, daß wir ihre künftige Form aus der Form des Embryo gar nicht erraten können. Es folgt daraus, sagt BUFFON, daß die Arten niemals auf dem Wege natürlichen Todes aussterben können, sondern »sie sind heute ebenso, wie sie vor 3000 Jahren waren; alle werden sich gleichbleiben, solange sie nicht vernichtet sein werden durch den Willen des Schöpfers«. Vergleichende Anatomie. BUFFON hat keine methodische ver- gleichend-anatomische Untersuchung durchgeführt. Die Tatsache, daß er aus den späteren Ausgaben seiner Naturgeschichte den verglei- chend-anatomischen Teil, der von DAUBENTON geschrieben war, ausgelassen hat, zeugt auch nicht dafür, daß er diese Wissen- schaft besonders geschätzt hätte; doch finden sich in seiner Natur- geschichte trotzdem Stellen, welche ein Verständnis dafür dartun. In 8*+ 116 V. Kapitel. dem Abschnitt über den Esel ist der Satz ausführlicher behandelt, daß, obwohl die Variationen der verschiedenen Tiere unendlich sind, trotzdem ein ursprünglicher und allgemeiner Plan sich nachweisen läßt. Denn nicht nur die Organe der Verdauung, des Kreislaufes und der Zeugung sind bei allen Tieren vorhanden, sondern auch die Teile, von denen die Mannigfaltigkeit der äußeren Form am meisten abhängt, sind bei sehr verschiedenen Tieren einander ähnlich, ‚wie die Rippen, die bei den Vierhufern, Vögeln und Fischen vorhanden sind. Man könnte noch manche ähnliche Stellen anführen, doch beweisen sie nicht mehr, als daß BUFFON der Gedanke der Einheit im Bau des Tierkörpers bereits vorschwebte, der später der vergleichenden Anatomie als philosophische Grundlage gedient hat. Empiristische und genetische Anläufe. Wir haben aus BONNET Stellen anführen können, welche Spuren einer empiristischen Auf- fassung der Natur erkennen lassen: bei BUFFON ist der allmähliche Übergang vom Rationalismus zur genetischen und historischen Auf- fassung noch deutlicher als bei BONNET nachweisbar. Ich will hier nicht seine vereinzelten Aussagen über die Veränderlichkeit der Spe- zies anführen, denen zufolge er von einigen zu einem Vorgänger DARWINs gemacht wurde. Denn nicht auf einzelne Worte und spo- radische Gedanken kommt es an, sondern auf den Grundgedanken, welcher sie hervorbringt. Es ist zunächst beachtenswert, daß BUFFON seine Naturgeschichte mit der Schilderung der geologischen Ent- wicklung der Erde beginnt (seine Theorie der Erde wurde 1744 ge- schrieben und 1749 das erstemal veröffentlicht); dabei wird bereits der Versuch gemacht, das Alter der Erde zu bestimmen (65 000 Jahre, eher mehr); und für jede der sechs (später sieben) von ihm bestimm- ten Epochen wird die Dauer in Jahren angegeben. Die Erde hat sich aus der heißen Sonnenmasse entwickelt; wahrscheinlich wurde sie durch den Stoß eines Kometen von ihr abgeschnitten und in die jetzige Bahn geworfen. Dann wurde die Erde allmählich kälter, und das Meer bedeckte ihre ganze Oberfläche; darum finden sich Versteine- rungen auf den höchsten Bergen. Die Tiere früherer Zeiten vermoch- ten in viel größerer Wärme zu leben als heutzutage. Durch große Katastrophen bildeten sich tiefe Abgründe, in denen sich das Wasser gesammelt hat, und so sank das Meer auf seine jetzige Höhe. Die Natur hatte damals noch frische Bildungskraft und brachte infolge- dessen viel größere Tiere als heute hervor. Wie sind die Tiere auf die Welt gekommen? Die lebendigen organischen Moleküle, von denen oben die Rede war, haben sich durch Einwirkung der Wärme Die Biologen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. 117 auf die die lebendigen Körper zusammensetzende Materie gebildet (ces molecules organiques, vivantes ont existe des que les Elements d’une chaleur douce ont pu s’incorporer avec les substances qui composent les corps organises)‘). Die so gebildeten organischen Moleküle haben dann eine große Menge von Pflanzen, Schalentieren, Austern und Fischen produziert, welche durch Zeugung ihre Art fortgepflanzt haben. zuerst waren die nördlichen Zirkumpolargegenden bewohnt, und dort sind zuerst Elefanten und andere Tiere, die jetzt die südlichen Gegen- den bewohnen, entstanden (nes). Die niederen Tiere sind vielleicht gleich am Äquator entstanden. Doch warum sind die Elefanten nur einmal im Norden geboren, und nicht später am Äquator (durch spontane Generation) entstanden? Die zuerst entstandenen Elefanten haben durch ihre kolossale Körpermasse ein große Menge der or- ganischen Moleküle verbraucht, deshalb blieb für Indien und Afrika, wohin die Elefanten von Norden her eingewandert sind, keine Masse für so große neue Formen übrig; in Amerika dagegen, in dessen heiße Gegenden keine großen Tiere von Norden her gekommen sind, wo also die organischen Moleküle noch nicht absorbiert waren, sind neue große Formen, wie das Tapir, entstanden. Die meisten aus- gestorbenen Tiere gehören nach BUFFON Arten an, welche noch heute leben; doch ließ er bereits die Möglichkeit offen, daß einige derselben auch in ihren Arten ausgestorben sind. Der Mensch, welcher keine große Hitze verträgt, ist wahrscheinlich später als andere Tiere entstanden’). Das, worauf ich in diesen teilweise sehr naiven Auseinander- setzungen BUFFONs den Leser besonders aufmerksam machen möchte, ist dies, wie hier die zwei Standpunkte, der des unbewußten Glaubens an die Geschlossenheit der Welt und die bereits sehr durchdringende Annahme der Entstehung von etwas Neuem, miteinander kämpfen. Zuerst kommen die ewigen organischen Moleküle in Betracht, die ein unveränderliches Substrat bilden, welches zu jeder Zeit vorhan- den und immer bereit war, zu bestimmten Formen zu kristallisieren. Damit aber die organischen Moleküle kristallisieren, ist es nötig, daß die Temperatur bis zu einem gewissen Grade sinke. Überall können die Elefanten aus der Erde entstehen, historische Momente haben jedoch entschieden, daß sie in Indien und Afrika sind, in Amerika dagegen fehlen. Wenn BUFFON die Frage nach der Veränderlichkeit 1) Epoques de la Nat. T. 12. S. 122. 2) S. 175. TTS V. Kapitel. der Arten besonders interessierte, so hätte er sie an dieser Stelle diskutieren müssen; sein noch zu wenig entwickelter Sinn für das Historische — er läßt die Elefanten Jahrtausende leben, von den Polen an den Äquator wandern und während dieser ganzen Zeit kon- stant bleiben — erlaubte ihm nicht, sich eine Frage wie die, woraus die Arten entstanden sind, klar vorzustellen. Wie soll er auch dazu kommen, da er nicht an die Arten glaubte, sondern nur Individuen annahm ? ; Wie in den eben angeführten Stellen, so können wir bei BUFFON eine ganze Reihe analoger Anläufe zu einer kausalen Auffassung der Er- scheinungen finden; so, wenn er die schwieligen Stellen am Knie des Kamels durch Reibung am Sand erklärt, oder wenn er im Kapitel über die Degeneration (Veränderung) der Tiere von dem Einfluß des Klima, der Nahrung und der Domestikation auf die Tiere spricht, wo- durch Varietäten entstehen sollen; oder wenn er über die Entstehung einer Art aus der andern — des Esels aus dem Pferde, des Affen aus dem Menschen — spekuliert. Die Unbestimmtheit der historischen Auffassung in BUFFONs Schrif- ten hat manche Autoren dazu verleitet, in den Anschauungen drei Perioden zu unterscheiden: die erste, in der er an die Verwandlung der Arten glaubte, die zweite, in der er diesen Glauben aus Furcht vor Verfolgung aufgegeben hatte, und die dritte, in der er wieder dazu zurückkehrte. Ob sich diese drei Perioden in BUFFONs Leben tatsächlich unter- scheiden lassen, habe ich selbst nicht untersucht, aber nach dem Eindruck zu schließen, den das Studium seiner Schriften auf mich macht, glaube ich, daß A. S. PACKARD) recht hat, wenn er diese Unterscheidung als unbegründet zurückweist. Mir scheint, daß jene Unbestimmtheit anderswoher stammt, und daß sie wesentlich drei Ursachen hat: einerseits die Oberflächlichkeit, mit der BUFFON über- haupt die Theorien behandelte, und seine Unfähigkeit, einem Ge- danken größere Bedeutung als die eines gelegentlichen, für einen speziellen Fall ausgedachten Einfalls zuzuschreiben, zweitens die damaligen philosophischen Strömungen, die als Folge des Kampfes zweier philosophischer Systeme anzusehen sind (Vıco, LEIBNIZ, ROUSSEAU, HUME usw.), und drittens zum Teil vielleicht auch die 1) LAMARcK, Lond. 1901. S. 198. Die Stellen, welche BUFFONs Glauben an die Entstehung der Arten beweisen sollen, finden sich zusammengestellt in PERRIER, S. 56 ff. Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 119 Furcht vor der Zensur, welche zu seinen Zeiten sehr streng gewesen sein mag. Bedeutung. Burrons Einfluß auf die Nachwelt war sehr be- deutend. Seine Naturgeschichte hat eine ungemein große Verbreitung innerhalb und außerhalb Frankreichs gefunden, und durch sie ist das Interesse an der biologischen Wissenschaft gewiß geweckt und ge- fördert worden. Man kann auch annehmen, daß sie durch ihre philo- sophierende Auffassung der lebendigen Welt einen gesunden Gegensatz gegen die Trockenheit der Verehrer Linn£s gebildet hat. Die spä- teren theoretischen Systeme, wie dasjenige CUVIERS und LAMARCKS, knüpfen bewußt oder unbewußt an BUFFON an. Auch die deutschen Biologen (PALLAS insbesondere) haben sich von BUFFON beeinflussen lassen. Die Momente, durch welche er vor- zugsweise gewirkt hat, waren: sein Interesse für die Geologie (CUVIER) und vergleichende Anatomie (derselbe), die Negation der Natürlichkeit der Art (LAMARCK), sein Hang zur Genialität (die deutsche Naturphilo- sophie). Literatur. Burron, G. L. L., comte de, Histoire naturelle gen€rale et particuliere. 44 Vols. Paris 1749— 1804. In den späteren Auflagen dieses Werkes fehlt der vergleichend- anatomische Teil von DAUBENTON. Ich habe teils diese erste, teils die Ausgabe in 54 Bänden, Aux Deux Ponts 1785— 1791, benutzt. Über BUFFONs Bedeutung siehe (außer den Reden von CUVIER und VıcQ D’AZYR, welche nur das Allgemeinste hervorheben): PERRIER, EpM., La philosophie zoologique avant Darwin. Paris 1886. (Vom Dar- winistischen Standpunkt.) PACKARD, A. S., Lamarck, the founder of Evolution etc. New York, London and Bombay 1901. 5. Albrecht von Haller. ALBRECHT VON HALLER (1708—1777) stritt mit seinen Zeit- genossen LINNE und BUFFON um die Weltberühmtheit. Schon der Knabe HALLER galt als Wunderkind. In Bern als Sohn eines reichen Vaters geboren, hat er bereits in seinem achten Jahre aus den ge- lehrten Wörterbüchern MORELLIs und BAYLEs über 2000 biographische Artikel ausgezogen; im zehnten Jahre konnte er fertig lateinisch und griechisch schreiben und war auch in der chaldäischen und hebräischen Sprache bewandert. In seinem ı5. Jahre verfaßte er bereits mehrere 120 V. Kapitel. Lust- und Trauerspiele und ein Heldengedicht von 4000 Versen; später hat er diese glücklicherweise verbrannt. 1723 ging er nach Tübingen, um die Arzneikunde zu erlernen, 1725 reiste er nach Leiden zu BOER- HAAVE, dessen Schüler und intimster Freund er wurde. 1727 wurde er Doktor, reiste nach England und Paris, wo er, bereits ein guter Botaniker, BERNARD JUSSIEU als Freund gewann. Dann studierte er in Basel Mathematik unter JOHANN BERNOUILLI, worauf er 1730 als Bibliothekar in Bern angestellt wurde. Nachdem er sich dort durch mehrere Gedichte berühmt gemacht hatte, wurde er Professor der Anatomie und Botanik in Göttingen. Hier entwickelte er eine beispiel- lose literarische Tätigkeit. 1753 kehrte er nach Bern zurück und wurde (als Anhänger der Aristokratie) politisch tätig. Nachdem er dort noch mehrere Gedichte religiösen Inhalts verfaßt, auch eine Her- ausgabe der Bibel veranstaltet und schließlich noch zwei politische Romane veröffentlicht hatte, starb er 1777 fast 70 Jahre alt, den um- stehenden Freunden den Augenblick andeutend, wo sein Puls nicht mehr schlagen werde. HALLER war dreimal verheiratet und hinterließ elf Kinder‘). Aus dieser Lebensgeschichte ist bereits zu ersehen, daß HALLER ein ganz ungewöhnlicher Mensch war. Seine Gedichte haben litera- rischen Wert wenigstens gehabt. Seine botanischen Arbeiten ver- schafften ihm ebenfalls große Anerkennung, und in der Physiologie bedeutet er den Anfang einer neuen Epoche. Trotzdem darf ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß SCHILLER nur sehr höflich von seiner Poesie spricht — er sagt: »Kraft und Tiefe und ein pathetischer Ernst charakterisieren den Dichter; nur überwiegt überall zu sehr der Begriff in seinen Gemälden, sowie in ihm selbst der Verstand über die Empfindung den Meister spielt. Daher lehrt er durchgängig mehr, als er darstellt; er ist groß, kühn, feurig, erhaben, zur Schönheit hat er sich selten oder niemals erhoben’). Auch SACHS weiß über seine bo- tanischen Verdienste gar nichts zu sagen, und so sollten ihn eigentlich seine physiologischen Entdeckungen retten; doch wird auch von den Physiologen seine Irritabilitätslehre ziemlich kühl behandelt. In der Poesie pflegte HALLER die Ode, beschreibende und (in späteren Jahren) religiöse Gedichte; in der Botanik wetteiferte er mit LinnE im Streben nach einem künstlichen System der Pflanzen, was 1) Diese Daten habe ich aus WHEWELL entnommen. 2) Über naive und sentimentale Dichtung. Ich habe dieses Zitat aus HETTNER, Gesch. des XVII. Jahrhunderts, II. T., 5. Aufl., entnommen. Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 121 ihm aber völlig mißlang‘). Die Anatomie bereicherte er um die Fasciculi anatomici (1743—1753), worin er genaue anatomische Zeich- nungen mit erklärendem Text wiedergab. Auch mehrere embryo- Iogische Untersuchungen hat er in großem Stil durchgeführt, jedoch nichts wesentlich Neues, dagegen viel Unrichtiges gefunden. HALLERs Bedeutung liegt nicht in seinen Entdeckungen, sondern in dem Systematisieren der biologischen Wissenschaft. In dieser Hin- sicht hat man im ı8. Jahrhundert sehr viel getan, doch hat HALLER nur in LINNE einen würdigen Nebenbuhler gefunden. Es ist über- haupt wunderbar, wie in der Mitte des ı8. Jahrhunderts die Forscher von einem wahren Fieber nach Systemen, nach möglichst breitem Wissen, nach dicken Büchern befallen waren: LiNNE als Anführer in der Botanik und Zoologie, HALLER in der Physiologie, BOERHAAVE in der Medizin und BUFFON in der Naturgeschichte. Sie alle waren nach besten Kräften bemüht, das große Gebiet ihrer Wissenschaften möglichst breit aufzufassen. Was Wunder, wenn dabei dann wenig Originelles herauskam. Theoretisch Neues hat HALLER in der Lehre von der Irritabilität geliefert. Zwar war die Lehre nicht ganz neu. Der Begriff wie das Wort stammt von dem englischen Arzt GLISSON, welcher unter der Irritabilität die natürliche Reaktion des lebendigen Gewebes auf Reize verstand — welche Reaktion einerseits von keiner Empfindung be- gleitet und andererseits nicht eine mechanische Bewegung, sondern der unmittelbare Ausdruck des Lebens ist. Vielleicht hat die Lehre von GLISSON BOERHAAVE übernommen, und von diesem kam sie auf seinen Schüler HALLER. Irritabel?) nennt HALLER (1753) einen solchen Teil des mensch- lichen Körpers, welcher sich verkürzt, wenn ein fremder Körper ihn berührt; je stärker die Verkürzung, desto größer ist die Irritabilität; sensibel dagegen ist diejenige Faser des menschlichen Körpers, welche nach erfolgter Berührung der Seele den subjektiv empfundenen Ein- druck der Berührung zuführt; bei den Tieren, bei denen wir die Seele nicht kennen, ist diejenige Faser als sensibel zu betrachten, deren Be- rührung objektive Zeichen von Schmerz und Unbehagen zur Folge 1) HALLER wollte die Gattungen mit einem Namen, die Spezies jeder Gattung mit Nummern I, 2, 3 usw. bezeichnen; vgl. seine Enumeratio plantarım horti gottin- gensis 1743; De methodo studii botaniei, Göttingen 1736; Opuscula botanica 1749. 2) Mir liegt die französische Ausgabe vor: M&moires sur la nature sensible et irri- table des parties du corps animal. Lausanne 1756. 122 V. Kapitel. hat‘). Durch viele Versuche, welche fast durchweg in ziemlich grober Art ausgeführt wurden (das untersuchte Organ wurde entblößt und dann durch Berühren, Kneifen, Stechen oder durch chemische Agen- zien gereizt), weist nun HALLER die Behauptung seines Lehrers BOER- HAAVE, daß alle festen Teile des Körpers innerviert und infolgedessen alle sensibel und irritabel sind, als unzutreffend nach. Er stellt fest, daß die Irritabilität nur in den muskulösen, die Sensibilität nur in den nervösen Elementen des Körpers anzutreffen ist. Die reizbarsten Teile, wie z. B. das Herz, sollen nicht sehr sensibel sein, und umgekehrt soll der Nerv, der sensibelste Teil des Körpers, gar nicht irritabel sein. Gegen die Stahlianer (WHYTT), welche vermuteten, daß durch den Reiz die Seele affıziert und erst von letzterer die Verkürzung des Muskels verursacht wird, nimmt HALLER an, daß die Irritabilität direkt an die Muskelsubstanz gebunden, ihr inhärent ist, und behauptet, daß sie nichts mit der Seele gemein hat, da sie doch noch einige Zeit nach dem Tode andauert. Die Irritabilität ist eine Grundeigenschaft des tierischen Körpers, und sie darf nicht mit der Elastizität verwechselt werden. Die Elasti- zität ist nämlich besonders an trocknen, harten und alten Fasern zu finden, während die Irritabilität an feuchten, gallertigen und jungen Elementen am stärksten ausgeprägt ist”). Sie darf auch nicht der Seele gleichgestellt werden, wie DE LAMETTRIE, der bekannte Mate- rialist?), es zu tun versucht hat; denn die Irritabilität dauert nach HALLER noch einige Zeit nach dem Tode des Tieres. Die Muskelsubstanz ist nach HALLER aus zwei Substanzen, einer erdigen und einer gelatinösen, zusammengesetzt; es soll sehr wahr- scheinlich sein, daß die Irritabilität an diese gelatinöse Substanz ge- bunden ist und ihre wesentliche Eigenschaft ausmacht, etwa so, wie die Gravitation die Eigenschaft aller Körper darstellt*). Noch heute sind viele Forscher geneigt, in HALLERSs Irritabilitäts- lehre etwas sehr Originelles zu sehen, obwohl die meisten von ihrer Hochschätzung durch die übeln Folgen, die sie hatte, zurückgebracht werden. Diese Lehre ist gewiß vitalistisch, wenngleich sie sich gegen STAHL und seinen Vitalismus wendet; es widerspricht nämlich dem Begriff des Mechanismus der Grundgedanke HALLERs, daß die Irrita- bilitäit dem Muskel inhärent ist. Seine Lehre wurde auch immer als ı) Memoires 1756, S. 8, 9. 2) Ebenda, S. 79. 3) DE LAMETTRIE, L’homme machine, S. 18. 4) Memoires, S. 82. Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 123 vitalistisch angesehen. Doch wäre das kein Fehler an ihr; ein großer Mangel aber ist ihre geringe logische Durcharbeitung, ein Mangel, der für die Arbeiten des ı8. Jahrhunderts allgemein charakteristisch ist. Die genialen und originell denkenden Köpfe treten oft mit einem nur undeutlich empfundenen Gedanken an die Arbeit. Während der Beobachtungen und der Versuche wird der Gedanke klarer und klarer von ihnen erfaßt; man sieht, wie sie mit tiefer Überzeugung von der Wahrheit des geahnten Grundprinzips, doch in größter Ungewißheit über dessen konkrete Beschaffenheit arbeiten, wie sie durch neue Be- obachtungen und Versuche überrascht und verwirrt werden, wie sie an dem Prinzip zweifeln, auf andere Gedanken kommen, aber dadurch endlich doch nur zu tieferer Erfassung des Anfangsproblems gelangen. Indem sie ihre Gedanken direkt aus der Anschauung schöpfen, geben sie ihren Sätzen eine solche Überzeugungskraft, daß man ihre Schriften immer und immer von neuem lesen kann und immer Neues darin findet. Solchen genialen Geisteserzeugnissen ist die HALLERsche Ab- handlung über die Irritabilität nicht beizuzählen. Kein tieferer Ge- danke, keine originelle Auffassung irgendeines Autors oder einer Er- scheinung, kein wesentlich neues Experiment ist in ihr zu finden; die darin mitgeteilten Versuche dienen nicht zur Vertiefung der Lehre, sondern nur zur Prüfung der Frage, ob der am Anfange aufgestellte Begriff der Irritabilität für jeden speziellen Fall paßt oder nicht, keines- wegs aber, wie er paßt. So erscheinen die Versuche sehr trocken und inhaltsleer, und ihre große Anzahl ist eher eine schwache als eine starke Seite der Abhandlung. Die Irritabilitätslehre hat großen Einfluß auf die Ärzte und die Biologen überhaupt ausgeübt. TıssoT, der Übersetzer der Schrift ins Französische, vergleicht den HALLERschen Gedanken mit der Ent- deckung der Gravitation; was diese für die Physik, das soll jener für die Physiologie bedeuten‘). Tatsächlich hat man bald aus der Irrita- bilität ein Prinzip gemacht, auf Grund dessen man die ganze tierische Ökonomie zu erklären versuchte: wie die Tätigkeit der Blutgefäße, so diejenige der Nerven, der Muskeln; und in der Pathologie machte sich die Ansicht geltend, daß alle Krankheiten aus der Vermehrung oder Verminderung der Irritabilität der Gefäße herrührten. So ist die Lehre von der Irritabilität nur an die Stelle der Iatromechanik getreten und für das große wissenschaftliche Publikum zu einer modernen Nah- rung geworden. Die Unklarheit in der ursprünglichen Auffassung der ı) M&moires, S. XIV. 124 V. Kapitel. Irritabilität ist auch von den Nachfolgern übernommen worden und hat namentlich auf die deutsche Naturphilosophie ihren Einfluß nicht verfehlt. Hallers Histologie und Embryologie. Wie durch die Irritabilitäts- lehre, so hat HALLER auch einen bedeutenden Einfluß durch seine großen physiologischen Sammelwerke ausgeübt, welche sehr klar und übersichtlich geschrieben sind, überall das Tatsächliche hervorheben, die Hypothesen zwar beachten, aber nicht entscheiden und namentlich umfassende Literaturangaben enthalten. Von geringerer Bedeutung sind seine Abhandlungen über die Atmung (1746), über die Blut- bewegung (1737), über die Entwicklung des Hühnchens (1757). In der Histologie stellte sich HALLER vor, daß der tierische Körper aus Gallerte (eiweißartiger Flüssigkeit) und erdiger Substanz zusammen- gesetzt sei. Je höher ein Tier organisiert ist, desto mehr erdige Be- standteile soll es enthalten. Aus der (chemischen) Mischung von Gallerte und Erde entsteht das organische Element des Körpers, die Faser; aus den unsichtbaren Elementarfasern setzen sich die sichtbaren Fasern zusammen; diese Fasern sind etwa unsern Zellen (theoretisch) analog. Als Embryologe vertrat HALLER die Evolutionstheorie. Für die Oberflächlichkeit seiner Auffassung dieser Theorie ist charakteristisch, wie er sie zu beweisen versucht hat. Er fand nämlich, daß der Dotter nicht außerhalb des sich entwickelnden Hühnchens liegt, daß dies nicht aus dem Dotter sich entwickelt, sondern daß der Dotter einen Teil des Hühnchens selbst bildet, indem er von den Häuten des Em- bryos umgeben und später in dessen Darmkanal aufgenommen wird. Diese Tatsache führt HALLER als exakten Beweis der Evolution an: sie zeige, daß das Hühnchen nicht aus dem von außen kommenden Baumaterial gebildet werde, sondern von innen aus entstehe. Als theoretische Gründe hebt er hervor‘), daß es zwar schwierig sei, zu sagen, wie der neue Embryo entsteht, doch weise der zweckmäßige Bau des menschlichen Körpers darauf hin, »daß der Mensch, wie er ist, das Werk Gottes ist, und daß folglich dasjenige, was in der voll- kommenen Frucht zugegen ist, schon in dem zarteren Keime vor- handen war, wenngleich Lage, Gestalt und Bindung der ersten Periode gänzlich von derjenigen verschieden scheint, die sich in der letzteren zeigt: eine unermüdete Geduld im Beobachten entdeckt uns, wie nun Lage, Gestalt und Ebenmaß so nach und nach verbessert werden«. I) Grundriß der Physiologie, deutsche Übersetzung, S. 657. s Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 125 Den Nachkommen galt HALLER immer mehr als eine Berühmtheit, eine Kuriosität in seinem umfassenden Wissen, weniger als origineller Denker, an den mit neuen Theorien anzuknüpfen wäre. Literatur. HALLER, A. von, Icones anatomicae. Gotting. 1745—1754. Primae lineae Physiologiae. Gotting. 1747. Opuseula botanica. Gotting. 1749. Elementa Physiologiae corporis humani. 8 Vols. Lausanne et Bern 1759—1766. De partibus corporis humani sentientibus et irritabilibus. Gotting. 1853. De formatione pulli in ovo. Gotting. 1757, 1758. Im Text sind die von mir benutzten Ausgaben zitiert. ABl 6. Der Verfall der Biologie nach Leibniz. Es ist merkwürdig, wie rasch das Interesse an tiefen biologischen Problemen, das in der Zeit von HARVEY bis SWAMMERDAM so viele tüchtige Männer erfüllte, am Ende des ı7. und am Anfang des 18. Jahrhunderts verschwand und einer flachen Naturanschauung Platz machte. In der vergleichenden Anatomie war bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts kein Fortschritt zu verzeichnen. Die Bearbeitung der Histologie hörte mit MALPIGHI auf, und erst BICHAT hat in den letzten Jahren des Jahrhunderts diese Wissenschaft von neuem ent- decken müssen. Die Embryologie war zwar ein sehr oft behandeltes Gebiet, aber der Streit der Ovisten und der Animalkulisten, sowie die evolutionistischen Theorien überhaupt geben ein nur zu deutliches Bild von dem kläglichen Zustand des biologischen Denkens in jener Zeit. Die wichtige Arbeit von C. F. WOLFF, welche in der Mitte des 18. Jahrhunderts erschien, wurde nicht verstanden und geriet in Vergessen- heit; im ı9. Jahrhundert mußte sie von neuem entdeckt und heraus- gegeben werden, damit man auf sie aufmerksam würde. In der Syste- matik hat LINNE zwar nachhaltig gewirkt, aber mehr in die Breite gehend als in die Tiefe, und aus der Physiologie hat nur die Lehre von der Irritabilität der Biologie einen verhältnismäßig neuen Gedanken zugeführt. Woher kam denn dieser Stillstand der Wissenschaft? Es ist mir nicht möglich, seine Ursachen vollständig anzuführen; aber das sehe ich deutlich, daß die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur Epigonen von MALPIGHI, SWAMMERDAM, BORELLI, STAHL usf. waren, und wie es die Art des Epigonentums ist, haben sie zwar die materielle Seite ihrer großen Vorgänger nachzuahmen gewußt, ohne 126 V. Kapitel. aber den Geist ihrer Naturanschauung erfassen zu können. Sie haben ganz richtig die Erfahrung betont, wie REAUMUR und HALLER; sie haben auch dicke Bücher über Naturphilosophie verfaßt, wie BONNET; sie haben viel Neues entdeckt, wie LEEUWENHOERK, doch hat ihnen die Kraft gefehlt, welche ihrer Erfahrung, ihren Theorien, ihren Entdeckungen innerliches Leben hätte verleihen können. Es scheint einem heute kaum begreiflich, daß damals die Evolu- tionstheorie sich so lange — über 100 Jahre — und so hartnäckig in der Biologie zu erhalten vermochte, da doch ein jeder mit eigenen Augen sehen konnte, daß z. B. der Frosch sich nicht evolviert, sondern seine Form verändert. Auch ist kaum zu begreifen, wie man eben die Entwicklung des Frosches als Beispiel einer Evolution anführen konnte. Keinem einzigen von diesen Forschern ist die Frage ge- kommen: bin ich noch ein Evolutionist, wenn ich annehme, daß ver- schiedene Körperteile in verschiedenen Entwicklungsperioden ver- schieden rasch wachsen, und wodurch ist diese Verschiedenheit zu erklären? Die Frage ist doch so naheliegend, gleichwohl habe ich nicht einmal einen Versuch zur Stellung und Beantwortung dieser Frage gefunden. Eine andere ebenfalls nicht sonderlich erfreuliche Erscheinung in der Biologie des ı8. Jahrhunderts ist die große Berühmtheit, die einigen Naturforschern damals zuteil wurde. Gewiß ist es dem Leser bereits aufgefallen, daß man noch heute immer von dem »be- rühmten REAUMUR«, dem »berühmten HALLER« spricht, nicht aber von dem berühmten C. F. WOLFF usf. Es kommt dies daher, daß im 18. Jahrhundert mehr als zu andern Zeiten die äußeren Schicksale für den Ruhm eines Forschers entscheidend waren. Die Wissenschaft war aristokratisch, sie hatte Zutritt in die Salons der hohen Gesellschaft erlangt, und das, was sich der oberflächlichen und genial sein sollenden Auffassung dieser Kreise anpaßte, wurde mit größten weltlichen Ehren aufgenommen; dasjenige aber, was als wirklich wahr zu gelten bean- spruchte und deshalb seichten Köpfen unzugänglich war, wurde mißachtet. Zu keiner Zeit, weder zuvor noch nachher, haben die Naturforscher sich gegenseitig so geehrt, wie damals. REAUMUR, HALLER, BONNET SPALLANZANI behandeln einander in ihren Schriften als lauter Genies und Weltberühmtheiten. Sie waren auch weltberühmt. BUFFON stand in besonderer Gunst beim König Ludwig XV., und Prinz Heinrich schrieb nach einem Besuch bei BUFFON: »Sollte ich einen Freund suchen, so würde er es sein; einen Vater, wieder er; eine Intelligenz, die mich erleuchten könnte, ach! wer anders als er?« Die russische Kaiserin Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 127 Katharina trat in Korrespondenz mit BUFFON, und ROUSSEAU küßte mit andächtigem Respekt die Schwelle seines Kabinetts. BUFFON hielt sich eines solchen Ruhmes auch für würdig: er hat sich selbst für den genialsten Menschen neben NEWTON, BACoNn, LEIBNIZ und MONTESQIEU erklärt. LiINNE konnte sich wieder dessen rühmen, daß nach Upsala fortwährend die Naturforscher von allen Seiten strömten, um ihn zu sehen. Ihm zu Ehren wurden in Schweden mehrere Denkmünzen geprägt; er wurde durch den höchsten schwe- dischen Orden ausgezeichnet, und der schwedische König brachte ihm sogar mit eigenen Händen aus Paris einige seltene Samen, die der französische König für ihn bestimmt hatte. HALLER wurde wiederholt vom englischen König und von der russischen Kaiserin auf ihre Uni- versitäten eingeladen; vom schwedischen König erhielt er denselben Orden wie LINNE. Dieser König besuchte ihn auch während einer Rundreise durch Europa; da er ihn krank antraf, sandte er ihm aus Wien einige Flaschen Wein, der, wie ich bei seinem Biographen fand, sehr fein war. Das Höchste hat in dieser Art von Berühmtheit gewiß REAUMUR erreicht, für dessen Schrift über das Spinngewebe sich sogar der chinesische Kaiser interessierte, der sie auch ins Chinesische übersetzen ließ. SPALLANZANI wurde bei seiner Rückkehr von einer wissenschaft- lichen Reise nach dem Balkan mit großem Pomp in Wien vom Kaiser Joseph II. empfangen, und auch seine Universität Padua hat ihn durch eine pomphafte Bewillkommnung gefeiert. Im ı8. Jahrhundert wurde der erste Schritt zur Laisierung der Biologie getan. In früheren Zeiten waren alle Biologen (ausgenommen etwa die Systematiker) Ärzte. LINNE hat anfangs noch die ärztliche Praxis geübt und auch mehrere medizinische Schriften verfaßt; SWAnM- MERDAM war wissenschaftlich noch in Berührung mit den medizinischen Theorien (über die Atmung, über die Drüsen usf.), LINNE war jedoch seiner wissenschaftlichen Richtung nach bereits wesentlich nicht Medi- ziner, sondern Biologe im allgemeinen. REAUMUR, BONNET, BUFFON, CUVIER waren keine Ärzte mehr und pflegten nur die Biologie als solche. Seit jener Zeit ist es trotz wiederholter Bemühungen nicht mehr gelungen, beide Gebiete wieder in eine Bahn zu lenken: heute gibt es Gebiete, die der Mediziner ebenso wie der Biologe be- arbeiten kann, andere dagegen, wie die Physiologie und die Morpho- logie der Wirbeltiere (Gebiete, welche die Entwicklung der Theorien in der Biologie eigentlich beherrschen), werden ganz überwiegend von medizinisch gebildeten Forschern in Anspruch genommen. 128 V. Kapitel. Die Biologen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der innere Niedergang der Biologie im 18. Jahrhundert hat etwa bis in die achtziger Jahre des Jahrhunderts gedauert. Mit CUVIER hat wieder eine ernstere Forschung angefangen, wenn man auch bei dem Ruhme, der sich an seinen Namen knüpft, die Nachwirkung der früheren Zeiten in Betracht ziehen muß. In Deutschland und in England ist es zu solchen Extremen, wie in Frankreich, nicht ge- kommen, doch hat sich mir wiederholt der Gedanke aufgedrängt, daß sich die spätere deutsche Naturphilosophie in mehrfacher Hinsicht mit der französischen Wissenschaft aus der Mitte des ı8. Jahrhunderts vergleichen läßt. Die französischen Biologen haben sich in der Mitte des ı8. Jahrhunderts wesentlich nur für das Geistreiche interessiert. Sie haben mit der Lösung biologischer Probleme weniger ein subjektiv empfundenes Bedürfnis nach der Erkenntnis der Wahrheit gestillt, ihre Theorien waren weit mehr für den Leser als für den Autor bestimmt: die französisch aufgefaßte Genialität war ihr Ziel. Ganz ähnlich kann man auch die deutsche Naturphilosophie als den Versuch einer genialen Auffassung der Natur — genial um jeden Preis — betrachten: das Wühlen in den abstraktesten Begriffen, das Verschmähen jeder Logik, die Geringschätzung der Erfahrung, die Betonung der Mathe- matik, der dunkle Stil usw. — alles trug die Merkmale der Genialität an sich. Auch hat KAnT und mehr noch SCHELLING eine großartige Theorie der Genialität aufgestellt. Wohl war dies eine auf deutsche Art begriffene Genialität: gegenüber der französischen Eleganz der dunkle Stil und überhaupt das Streben, den Leser fühlen zu lassen, daß nicht jeder berufen sei, so Tiefes und Originelles zu verstehen; den Bestrebungen der Franzosen, möglichst Heterogenes zu bearbeiten, steht hier die angebliche Tiefe der Naturphilosophen gegenüber; und der französische zynische Materialismus, der sich mit Leichtigkeit und in angeblich konsequenter Verfolgung der allgemeinen wissenschaft- lichen Theorien über die tägliche ethische Erfahrung hinwegsetzte, hat sein Gegenstück in der Geringschätzung der Erfahrung seitens der deutschen Naturphilosophen. GOETHE kann uns als Beispiel dienen: beide Seiten des damaligen Ideals der Genialität, die französische schöngeistige Vielseitigkeit wie das deutsche Streben nach Abstrak- tionen, waren in ihm verkörpert. DIZRAPITEI: Die Linnesche Systematik. 1. Die Entwicklung der Systematik vor Linne. Die Systematik wird als Wissenschaft nur in der Biologie getrieben; zwar verwertet man auch auf andern Gebieten recht eingehende Klassi- fikationen — man vergleiche z. B. die Klassifikationen der Wissen- schaften in der Logik oder die Einteilung der Kurven in der Geo- metrie —, nirgends aber bildet die Systematik einen so wesentlichen Teil der Wissenschaft wie in der Biologie, so daß nicht wenige in der Systematik deren höchstes Ziel sehen und die Zoologie wie die Botanik geradezu klassifikatorische Wissenschaften nennen. Das Wesen der biologischen Systematik besteht darin, daß die tierischen und pflanzlichen Individuen, welche die natürlichsten Ob- jekte der biologischen Beobachtung darstellen, nach ihrer äußeren und inneren Ähnlichkeit in hierarchisch geordnete Gruppen zusammen- gestellt werden. Da die Frage nach der Bedeutung des natürlichen Systems auch historisch wichtig ist, so wurde bereits bei CAESALPINUS bemerkt, daß das Wort »natürlich« in dieser Hinsicht nicht eindeutig ist. Man hat unter »natürlich« so viel wie rationell verstanden, etwa so wie in den Worten »ja, natürlich« (— es versteht sich von selbst). Andere faßten das Natürliche als das durch die Natur Gegebene auf, im Gegensatze zum Künstlichen, Zufälligen. Wieder andern bedeutete das Wort »natürlich« so viel wie volkstümlich im Gegensatz zu wissenschaftlich (BUFFON), und bei andern endlich wurde dem Begriff des Natürlichen der genetische Gedanke beigemischt (natürliche Verwandtschaft so viel wie Entstehung aus denselben Ahnen). Nach CAESALPIN war es besonders der Philosoph, Mathematiker und Botaniker JOACHIM JUNGIUS (1587—1607), der, immer noch unter dem Einflusse des ARISTOTELES, den ersten Versuch machte, die verschiedenen Pflanzenteile (Blätter, Stengel, Blüten) mitein- ander zu vergleichen. Indem er deren Definitionen unabhängig von Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. I. Teil. 9 130 VI. Kapitel. der Funktion aufzustellen suchte, war er bemüht, in die Auffassung der Pflanzen morphologische Gesichtspunkte einzuführen. Er hat be- reits die unrichtige Einteilung in Bäume und Kräuter beseitigt; seine Nachfolger haben aber trotzdem noch lange daran festgehalten. Außer JunGıUs werden von den Botanikern namentlich noch MORISON, RIVINUS, TOURNEFORT und RAy als Förderer der Systematik angeführt. ROBERT MORISONs (1620°—1683) besonderes Verdienst liegt darin, daß er einzelne Pflanzengruppen systematisch bearbeitet hat, während AUGUSTUS QUIRINUS RIvINnUs (1652—1725; Professor in Leipzig) zuerst die binäre Nomenklatur anwendete. JOSEPH PITTON DE TOURNEFORT (1656—1708) hat dann die Aufmerksamkeit auf die Gattungen der Pflanzen als natürliche Gruppen gelenkt. Es lag in der philosophischen Richtung jener Zeit, daß man sich bemühte, das Pflanzensystem rationalistisch aufzubauen, d.h. man suchte durch Abstraktion aus dem eben vorhandenen Tatsachen- material die wesentlichen Merkmale der Pflanzenwelt zu gewinnen und nach diesen für alle Pflanzen ein für allemal aufgestellten Regeln das System durchzuführen. CAESALPIN glaubte, daß er das natürlichste Pflanzensystem bekommen würde, wenn er die Pflanzen nach den Er- nährungs- und Fortpflanzungsorganen (d. i. Samen) einteilte, da er diese Organe für die wesentlichsten hielt. RıvinuUs und TOURNEFORT haben sich dagegen an die Form der Blüte gehalten, die das wichtigste Merkmal der Pflanze sein sollte, und von andern Botanikern wurden wieder andere Einteilungsmerkmale eingeführt. Ein in diesem Sinne künstliches System der Pflanzen wie der Tiere in größerem Maßtabe aufzubauen, hat der Engländer JOHN RAY (1628 bis 1705) versucht; doch ist auch in seinen Ansichten wenig theoretisch Neues aufzufinden. Er hat sein ganzes Leben hindurch Pflanzen und Tiere aus England und aus dem Kontinent gesammelt und klassifiziert. Was die Botanik betrifft, so hebt J. SACHS hervor, daß RAy zuerst die natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse in ihren größeren Zügen einigermaßen erkannt hat, während die systematische Gliederung der kleineren Gruppen durch ihn kaum gefördert wurde. Der Unterschied zwischen Mono- und Dikotyledonen ist ihm zuerst als klassifikatorisch wichtig aufgefallen, er hat ihn aber nur innerhalb kleinerer Gruppen (der Bäume) als Unterscheidungsmerkmal angewendet. RAy gehört in die obenerwähnte Klasse von Forschern, welche mit LINNE ihren Höhepunkt erreicht hat; ihr war es weniger darum zu tun, sich durch selbständiges Nachdenken in die biologischen Pro- bleme zu vertiefen, als vielmehr darum, möglichst in die Breite zu Die Linnesche Systematik. 137 arbeiten. Von Ray stammen folgende Werke: Klassifikation der Pflanzen (1686— 1704, drei Foliobände), Synopsis der Vierfüßer und Schlangen (1693), Geschichte der Insekten (d. h. Arthropoden, 1710) und — gemeinsam mit WILLUGHBY verfaßt — Ornithologia (1675) und Geschichte der Fische (1686); außerdem hat er noch eine Samm- lung von Sprichwörtern und von ungewöhnlichen englischen Lokal- ausdrücken veröffentlicht. RAvY huldigt wie die meisten Biologen seiner Zeit dem Satze »Natura non facit saltus« und deutet ihn in dem LEIBNIZschen Sinne, nämlich daß alle Organismen eine (nur eine) aufsteigende Reihe von Formen darstellen. Heute wird zwar allgemein die Lehre von den allmählichen Übergängen als Gegensatz zu der Überzeugung von der Konstanz der Arten betrachtet; so weit war man im 17. Jahrhundert noch nicht. RAy hat trotz seines aufrichtigen Glaubens an jenen Satz doch wieder die Konstanz der Arten als selbstverständlich angenom- men. Er konnte dies aus ganz ähnlichen Gründen tun, wie wenn der Geometer ganz allmähliche Übergänge zwischen verschiedenen geometrischen Gebilden annimmt und trotzdem jedes dieser Gebilde als von einem andern spezifisch verschieden ansehen kann; dies liegt eben im Wesen der rationalistischen Methode: der Begriff des Viel- ecks ist von dem der geschlossenen Kurve spezifisch verschieden, trotzdem sind beide tatsächlich durch eine Reihe von Übergängen mit- einander verbunden. RAy hat die Art als natürliche Einheit erkannt und definiert. Beachtenswert ist nun, daß er bereits zwei Gesichtspunkte in die De- finition der Art aufnimmt. Er bemerkt, daß die Formunterschiede nicht zur Begründung des Begriffs einer Art genügen, da solche auch bei den Geschlechtern einer und derselben Art vorkommen, und daß infolgedessen das sicherste Merkmal im Ursprunge von denselben Eltern zu finden ist. Denn die spezifisch verschiedenen Formen über- tragen diese ihre Verschiedenheit auf die Nachkommenschaft (speciem suam perpetuo servant). In diesem Hinweise Rays kann man den ersten Anlauf zu einer genetischen Auffassung der Art sehen. Dieser Anlauf wiederholt sich später, und er wird je weiter desto kräftiger, um endlich trotz der Gegnerschaft von CUVIER und DE CANDOLLE im 19. Jahrhundert den genetischen Gedanken zu ausschließlicher Geltung zu bringen. Man beachte hierbei, daß die Tatsache, daß die Eltern ähnliche Junge er- zeugen, Erfahrungstatsache ist, und daß sie, obwohl im täglichen Leben geläufig, in ihrer Allgemeinheit doch erst allmählich erkannt wurde. Nicht so lange vor RAY hatte ein gewisser P. ROMMEL (1680) gelehrt, g* 132 VI. Kapitel. eine Frau habe eine Katze, die sie im Magen empfangen hätte, durch Erbrechen von sich gegeben, und eine andere Frau eine Gans aus dem Uterus geboren‘). Und Ray war selbst noch nicht frei von solchen Ansichten. Öfter werden Stellen aus seinen Werken zitiert, die für seine Annahme einer Umwandlung der Arten sprechen sollen. Er vermutet nämlich, daß einige Samen nicht in die den Eltern ähn- liche Pflanze erwachsen, sondern in eine ganz andere, wohl aber — was zu beachten sehr wichtig ist — ebenfalls verwandte Art. Diese Annahme ist jedoch nur ein Verstoß gegen die Überzeugung von der Ähnlichkeit von Jungen und Eltern, aber kein Glaube an die Ent- stehung neuer Arten. RAY, der die Urzeugung verwarf und an die Präformation glaubte, war der genetischen Auffassung der Natur fremd, ganz abgesehen von seinem rationalistischen Standpunkt. Es ist ein großes Mißverständnis der historischen Entwicklung der Biologie, wenn Ray in einem Atem die Begründung des Begriffes der Art und der Glaube an die Entstehung der Arten zugeschrieben wird. Wie oben bemerkt wurde, hat RAy namentlich die seichte Syste- matik des ı8. Jahrhunderts, unter andern besonders LINNE, beeinflußt. Von der Kläglichkeit der zoologischen Systematik nach RAy und vor LINNE dürfte das System von J. T. KLEIN (1685 —ı759), das den Zweck haben soll, »fremde oder noch nie gesehene Tiere nach auf- fallenden Charakteren erkennen und benennen zu können«, ein gutes Beispiel geben. KLEIN will z. B. den Mangel der Backzähne bei den Amphibien nicht als Charakteristikum annehmen, weil man zu deren Erkenntnis das anatomische Messer braucht; er beruft sich auf das Bei- spiel Adams, welcher die ihm von Gott vorgeführten Tiere auch unter- schieden und benannt habe, ohne erst deren Eingeweide oder Zähne zu untersuchen. Und sein auf solchen Prinzipien aufgebautes System wurde noch von vielen Seiten angenommen! Literatur. Junc/mvs), JoACH., Doxoscopiae physicae minores 1662. Isagoge phytoscopica 1678. MorISoN, Rop., Plantarum umbelliferarum distributio nova. Oxoniü 1672. Rıvın(us), Aug. QUIr., Introductio generalis in rem herbariam. 1690. TOURNEFORT, JoS. PITTON DE, Institutiones rei herbariae. 1700. Ray, Jon, Historia plantarum. 3 Vols. Londini 1686—1704. Philosophical lettres.. London 1718. Synopsis methodica animalium Quadrupedum et Serpenti generis etc. Londini 1693. —— Synopsis methodica Avium et Piscium etc. Londini 1713. —— Historia Insectorum. Londini I7IOo. ı) Nach V. Carus, Gesch. d. Zool. S. 388. Die Linn&esche Systematik. 133 KLEIN, JAC. THEOD., Summa dubiorum circa classes Quadrupedum in celebris domini C. Linnaei systemate naturae etc. Gedani et Lipsiae 1743. Natürliche Ordnung und vermehrte Historie der vierfüßigen Tiere. Danzig 1760. — (Außerdem eine große Reihe anderer Arbeiten.) 2. Karl von Linne. KARL VON LINNE (1707— 1778) aus Rashult in Schweden wurde 1735 auf Grund einer neuen Hypothese über die intermittierenden Fieber promoviert. Bereits vor dieser Zeit, namentlich aber nach er- folgter Promotion machte er kleinere und größere wissenschaftliche Reisen in Lappland, Dalekarlien, England, Holland, Frankreich und andern Ländern Europas. Seit 1741 Professor der Medizin in Upsala, wurde er 1757 in den Adelsstand erhoben. Die Lebensgeschichte LINNEs ist die eines in der Anerkennung der Zeitgenossen stetig steigenden und zu jeder Zeit sehr fleißigen Mannes. Zwar hat auch er mit Hindernissen zu kämpfen gehabt, doch waren es nur gewöhnliche Intrigen u. ä., Hindernisse, die sich im Leben eines jeden einzustellen pflegen. Er war aber der erste große Naturforscher der Neuzeit, welcher zu Ansehen und Ruhm ge- langte, ohne mit den bestehenden Institutionen in Widerstreit zu ge- raten und ohne erst das Verständnis der Mitwelt für seine Bestrebungen erringen zu müssen. Auch finden wir bei ihm kaum etwas von jenen innerlichen Revolutionen, die frühere Naturforscher so oft durchzu- kämpfen hatten. LiINNE ist der erste, auf den das häufig in Panegy- riken gehörte Lob zutreffen dürfte, daß sein Leben seine Bücher sind — und nichts mehr. In den Schriften LinnEs findet sich der Name Gottes oft angeführt, wenn wir nämlich dieses »oft« mit unserem Maßstabe messen; doch ist in dieser Hinsicht zwischen ihm und den älteren Biologen kaum ein Vergleich zu ziehen. Letzteren war ihr Glaube an Gott alles, und nur ein kleiner Teil von diesem Glauben war ihre Wissenschaft. Um- gekehrt bei LInNE; wenn ich es etwas übertrieben ausdrücke, so war für LinnE Gott ein Element der Natur wie irgendeine Spezies. Doch soll diese Ausführung keineswegs einen Vorwurf gegen LINNE ent- halten; die Sturmperiode war ja schon vorüber, und in Sachen der Religion hatten bereits LOCKE und HUME ihr Wort gesprochen. LinNnE war ein geborener Systematiker. Viel verdankt er gewiß dem Einflusse seines Vaters und seiner ganzen wissenschaftlichen Um- gebung; doch glaube ich nicht, daß sich aus diesem Einfluß das Systematisierende in ihm erklären läßt. Ich bin überzeugt, daß man 134 VI. Kapitel. nicht nur seine große Arbeitskraft und die Genialität, sondern auch das Spezielle an dieser Genialität, nämlich den Hang zum Systemati- sieren, als LINNE angeboren ansehen muß. Dieser Gedanke kommt einem unwillkürlich, wenn man seine Schriften ins Auge faßt. Es ist nicht auffallend, daß er seine großen, der Systematik gewidmeten Werke systematisch bearbeitet hat, denn das gehört zur Sache; doch hat er eben alle seine Schriften nicht nur im großen systematisch angeordnet, sondern das System bis ins kleinste, ja ins unmögliche verfolgt. Bereits seine erste Arbeit über die intermittierenden Fieber (1735) zeigt seinen Hang zum Systematisieren. Außer der ı'/, Seiten langen Einleitung ist dort alles in kleine und kleinste Absätze ge- gliedert, alles nach I. ı.a.« durchgeführt und in gedrängtem Stil dar- geboten. Man betrachte seine Philosophia botanica — sie ist wegen der minutiös durchgeführten Klassifikation kaum zu lesen. Wie üblich, führt er dort nach der Einleitung die Literatur des Gegen- standes an, doch so, daß er zunächst den Botaniker im allgemeinen definiert und dann verschiedene Klassen nach festen Merkmalen unter- scheidet: »Die Methodiker haben besonders die Einteilung und die darauf gegründete Benennung der Pflanzen bearbeitet; sie sind: Philosophen, Systematiker, Nomenklatoren. Die Philosophen haben die botanische Wissenschaft durch logische Beweise (demonstrative) aus den Prinzipien des Verstandes in die Form der Wissenschaft zurückzuführen, wie: die Redner, Streiter, Physiologen, Lehrer. Die Redner haben alles vorgeschlagen, was der Wissenschaft zur gelehrten Zierde gereicht, wie z. B. HELLWIGs Botanices nobilitas. Die Streiter (Eristici) haben in öffentlichen botanischen Schriften polemisiert. Die Physiologen haben die Gesetze der Pflanzenwelt und das Mysterium des Geschlechts der Pflanzen entdeckt« usw. Jeder Botaniker wird nun in dieser Weise charakterisiert und klassifiziert, z. B.: »CAESALPINUS est fructista et primus verus syste- maticus, secundum corculi et receptaculi situm distribuens’); TOURNE- FORTIUS est corollista secundum regulitatem et figuram cum duplici situ receptaculi floris”); MAGNOLIUS est calycista cum fructicistis com- binatus°)«. ı) Philos. bot. p. 18. 2) Ebenda S. 23. 3) Ebenda S. 24. Die Linnesche Systematik. 135 Man erkennt aus diesen Beispielen zugleich, was LiNNE unter Botanik verstanden hat; in seiner Klassifikation derBotaniker befinden sich zwar die Redner und Streiter, die Morphologen kennt er aber nicht, und die Physiologen faßt er ganz oberflächlich auf. Wie weit LiNNE seine Klassifikationen getrieben hat, ist vielleicht am besten aus seinen Reden zu ersehen; sie sind nämlich ganz ebenso wie seine andern Arbeiten streng nach Klassifikationen und Defini- tionen angeordnet. Folgendermaßen hat er z.B. den schwedischen König und die Königin, als sie die Universität besuchten, begrüßt: >»... Die Wissenschaften führen uns zur Ehrfurcht gegen Gott, zum Gehorsam gegen den Magistrat, zur Liebe gegen andere. Die Wissenschaften tragen uns die Fackel durch unser ganzes Leben voran. Sie lehren uns: durch die Sprache, zu erzählen von den Experimenten anderer, durch die Ökonomie, einen genügenden Vorrat der Dinge zu bereiten, durch die Geschichte, die Fehler der andern zu meiden« — usw. noch elf solche Zeilen. Dann kommt: »Welch eine Dunkelheit würde in unseren Ländern sein, wenn nur ein Teil der Wissenschaften in Vergessenheit geriete, wenn nie- mand im Königreiche sich daran versuchte, zu lösen ein schwieriges Problem, oder zu erklären dunkle Schriften, oder nach China zu treiben das Schiff, oder zu verfolgen den Strom des Flusses ...« usw. noch acht solche Sprüche, denen sich eine neue Litanei an- schließt, — und so geht es fort bis ans Ende der Rede. Andere Reden sind ebenfalls in dieser Art gehalten. Man begreift, daß für einen in dieser Weise begabten Mann die systematische Biologie ein Gebiet war, auf dem er alles zu leisten vermochte, was zurzeit geleistet werden konnte. Pflanzensystem. LINNE war der erste — wie J. SACHS treffend bemerkt —, der erkannte, daß auch die natürlichste rationelle Methode, also auch seine auf die sexuellen Organe der Pflanze gegründete Ein- teilung, zu einem künstlichen System führen, und daß das natürliche System, d. h. das System, welches die tatsächlichen Verwandtschaften der Pflanzen am besten ausdrücken würde, wegen der Mangelhaftig- keit unserer Kenntnisse unvollständig bleiben muß. Er hat das künst- liche System dem natürlichen bewußt entgegengesetzt, ersteres im großen Stil bearbeitet, das letztere nur angedeutet. 1 36 VI. Kapitel. Durch das Studium der Arbeiten des CAMERARIUS über die Sexualität der Pflanzen gelangte LINNE zu der Überzeugung, daß die Sexual- organe für die Pflanzen am wichtigsten sind; er behauptet, daß es keine Funktion der Pflanzen gibt, für welche die Natur so konstante Apparate ausgebildet hätte, wie die Fortpflanzung, und das ist die Ursache, warum er die Antheren und das Pistill als Einteilungsgrund des Pflanzensystems annimmt. Das Prinzip dieses Systems ist also im wesentlichen dasselbe wie bei CAESALPIN, MORISON, TOURNE- FORT und andern seiner Vorgänger. Besonders nahe steht es dem . CAESALPINschen Einteilungsprinzip; CAESALPIN, der mit ARISTOTELES die Sexualität der Pflanzen bestreitet, hat sein System auf die Früchte aufgebaut, LINNE hat nur die neue Entdeckung der Sexualorgane dazu benutzt, den CAESALPINschen Gedanken mehr zu vertiefen. Zwar hat CAESALPIN die systematische Bedeutung der Früchte aus dem Wesen der Pflanze abgeleitet und dabei auf die Funktion (Fort- pflanzung), nicht auf die Form der Pflanze den höchsten Nachdruck gelegt, während das von LINNE gewählte Merkmal, die Sexualorgane, bis zu gewissem Grade auch morphologisch wirklich konstant ist. Trotzdem aber ist LINNEs System wesentlich physiologisch; denn die Funktion, die Sexualität, nicht die Struktur, d. h. das Verhältnis der Teile, gibt ihm die Hauptmerkmale. Der beste Beweis dafür, daß LinNE die Sexualorgane aus physiologischen, nicht aus morphologi- schen Rücksichten als klassifikatorische Merkmale angenommen hat, ist der, daß er auch das System der Tiere auf ihr Sexualsystem auf- bauen wollte; er wurde jedoch durch die Rücksicht auf den Anstand — es war ja das ı8. Jahrhundert, und die Zoologie mußte salonfähig bleiben — davon zurückgehalten’). LIinNE wußte, daß sein Pflanzensystem künstlich ist, und hoffte, daß es einmal durch ein natürliches ersetzt werden würde”). Cha- rakteristisch ist jedoch, daß er diesen Fortschritt nicht vom Studium der Organisation der Pflanzen erwartete, sondern von der Entdeckung neuer Gattungen; so steht er in dieser Hinsicht in naher Beziehung zu den Darwinisten: von der Erfahrung erwartet er eine tiefere Erkennt- nis der Eigenschaften der Art, Gattung usw. nicht, sondern von der Auffindung bisher unbekannter Arten, durch die dann die noch vor- handenen Lücken im natürlichen System ausgefüllt werden sollen. 1) Diese Angabe habe ich der Eloge von VıcQa D’Azyr (CEuvres I, 178) ent- nommen. 2) Phil. bot. p. Ioo. Die Linn&sche Systematik. 137 Der Gedanke an ein natürliches System hängt bei LinNnE mit seiner Auffassung des LEIBNIzschen Satzes »Natura non facit saltus« zusammen; dieser Satz ist auch einer der ersten, den er in seiner botanischen Philosophie (1751) anführt. Auf diesen Grundsatz möchte er nun das natürliche System (natürliche Methode) aufgebaut wissen: »Die Fragmente der natürlichen Methode sind fleißig aufzusuchen. Dies ist das Erste und Letzte, was in der Botanik zu verlangen ist. Die Natur macht keine Sprünge")«. Doch begreift LinN& diesen Grund- satz besser als LEIBNIZ und RAY: nicht daß sich die Pflanzen in eine aufsteigende Reihe zusammenstellen lassen, sondern die ver- schiedenen Arten sind mit verschiedenen andern durch ihre Eigen- schaften so verknüpft, daß sie etwas wie ein Netz oder wie eine geographische Karte bilden. »Alle Pflanzen zeigen die Verwandt- schaft nach allen Seiten wie ein Territorium auf der geographischen Karte«?). Begriff der Art. Als Elemente seines Pflanzensystems hat LINNE unterschieden: Art, Gattung, Ordnung, Klasse. Die Arten und Gat- tungen sind natürlich. Die Ordnungen und Klassen sind zwar auch natürlich begründet; es ist aber schwierig, sie zu erkennen, und so helfen wir uns durch künstlich gewählte Merkmale. Darum sind die Ordnungen und Klassen natürlich und künstlich. »Das Werk der Natur ist immer die Art; das der Kultur öfters die Varietät; das der Natur und Kunst (ars) die Klasse und Ordnung. « In der Auffassung des Begriffes der Art stand LiNNE auf dem rationalistischen Standpunkt seiner Zeit. Um ihn zu verstehen, muß man sich von der heutigen genetischen Auffassung loszumachen suchen, sonst deutet man in seine Worte etwas hinein, was nicht in ihnen enthalten ist. »Wir zählen so viele Arten«, definiert LinNE die Spezies, »als verschiedene Formen am Anfange (in principio?)) geschaffen worden sind.« Dieser Satz ist nur eine andere Ausdrucksweise für die Behauptung: Der Artbegriff hat ein natürliches Substrat. Auf das Wort geschaffen darf man nicht besonderes Gewicht legen, wie es immer wieder geschieht; zwar ist es möglich, den Satz auch nach der Auffassung der Bibel zu verstehen, daß im Anfang von jeder Art nur ein Paar geschaffen worden ist, und daß alle Individuen einer Art von diesem ursprünglichen Paar abstammen, aber diese Auffassung ı) Phil. bot. p. 27. 2) Ebenda S. 27. 3) In den ersten Ausgaben der Phil. bot. stand >in initioe. Auch diese kleine Änderung ist charakteristisch. 1 38 VI. Kapitel. würde das Wesen jenes Satzes nicht treffen. Man beachte nur, daß LinNE die Gattung ganz ähnlich wie die Art definiert: »Wir unter- scheiden so viele Gattungen, als ähnlich gebaute Zeugungseinrichtungen von den verschiedenen natürlichen Arten hervorgebracht werden... Jede Gattung ist natürlich, von Anfang an (in principio) als solche geschaffen, und darf daher nicht nach Willkür und nach der Theorie eines jeden leichtfertig gespalten oder mit andern zusammengezogen werden.«e Das Wort »geschaffen« hat offenbar den Sinn, daß die Regeln, nach denen die Arten einer Gattung gebildet sind, von allem Anfang an vorgeschrieben sind, daß die Gattungsmerkmale natürlich, nicht künstlich, zufällig sind. Und ebendasselbe bedeutet der Satz, daß die Arten von Anfang an geschaffen sind; LINNE hätte auch behaupten können, daß der Kreis von Anfang an erschaffen sei, d.h. daß das Gesetz, nach dem der Kreis gebildet wird, aus der Natur der Dinge hervorgehe, daß es der Willkür nicht unterliege. Für diese Auffassung spricht auch die Stelle, welche einige allzu eifrige Darwinisten als auf die Transmutation der Arten bezüglich auffassen wollten, die Stelle nämlich, wo LINNE behauptet, daß anfangs nur je eine Spezies als Repräsentant einer jeden natürlichen Ordnung erschaffen worden ist, und daß durch Kreuzung dieser Spezies die heutigen Arten entstanden sind‘). »1. Der Schöpfer hat am Anfange das medullare vegetabilische Wesen (sozusagen das weibliche Wesen der Pflanze) mit den konstitutiven Prinzipien des mannigfachen kortikalen Wesens versehen (d. h. mit Eigenschaften des männlichen Wesens) woraus so viele verschiedene Individuen entstanden sind, als es natürliche Ordnungen gibt. 2. Diese klassischen Pflanzen hat der Allmächtige untereinander gemischt; infolgedessen sind so viele Gattungen innerhalb der Ord- nungen entstanden, als aus diesen Pflanzen entstanden sind. 3. Diese generischen Pflanzen hat die Natur gemischt, woraus so viele Spezies einer Gattung entstanden sind, als es deren heute gibt. 4. Diese Spezies hat der Zufall gemischt, woraus so viele Varie- täten hervorgehen, als vorzukommen pflegen.« Der Sinn dieser Auseinandersetzung ist der, daß die Ordnungen und Gattungen metaphysischen Ursprungs sind, etwa wie die Ideen PLATOos, die Spezies dagegen natürlichen Urprungs, etwa in dem Sinne, wie der Salzkristall natürlichen Ursprungs ist (»natürlich« als Gegen- satz gegen »zufällig«), während die Varietäten zufällig sind. Man be- 1) Genera plantarım. 4. Aufl. 1764. Die Linn&sche Systematik. 139 achte den Unterschied in der Bedeutung des Wortes »natürlich«: "heute werden die Varietäten als natürlich bezeichnet, die Arten als künstlich! Mit meinen Ausführungen will ich keineswegs behaupten, daß LinnE von der genetischen Auffassung der Organismenwelt ganz unbe- rührt geblieben sei. Erstens führt er neben der obenerwähnten logi- schen Definition der Art auch eine genetische an, indem er, wie vor ihm Ray, alle Artindividuen von einem Elternpaar ableitet. Zweitens zeigen sich Spuren der historischen Auffassung auch darin, daß er überhaupt davon spricht, die Pflanzen seien (einmal) entstanden; doch sind dies eben nur Spuren und nichts weiter. Ich will bei dieser Gelegenheit noch an eins erinnern, was man heute ebenfalls fast allgemein vergißt. Trotzdem durch den Darwi- nismus der stärkste Angriff gegen den Artbegriff, wie ihn LinNnE aufgestellt hat, unternommen wurde, haben doch schließlich alle Darwi- nisten diesen Artbegriff angenommen; es ist keinem von ihnen auf- gefallen, daß die LinnEsche Art vielleicht keine letzte Einheit ist, unter welcher nur noch die zufällig entstandenen Varietäten stehen würden, sondern daß sie vielleicht zu den Pflanzenindividuen nur in dem Ver- hältnis steht, wie die Ordnung zu den Arten. Und doch waren nament- lich in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mehrere Forscher mit der Untersuchung der sog. elementaren Arten beschäftigt, aus deren Gruppen erst die Arten LINNEs bestehen sollen. Ich will diese auf- fallende Erscheinung an dieser Stelle nur ganz kurz berühren; sie gewinnt erst in der neuesten Zeit, durch die Untersuchungen von DE VRIES, wieder an Interesse. Die Systematik der Tiere. Die Klassifikation der Tiere hat LinNE anfangs zu sehr auf äußerliche Merkmale aufgebaut, später hat er mehr Nachdruck auf die Organisation gelegt. So ändert er die bekannte ursprüngliche Einteilung: »die Steine wachsen, die Pflanzen wachsen und leben, die Tiere wachsen, leben und empfinden« in eine passendere, indem er die Steine als Aggregate (congesta), die Pflanzen und Tiere als organisiert bezeichnet. Anfangs werden die Säugetiere als behaarte Tiere mit vier Füßen, deren Weibchen leben- dige Junge gebären und säugen, definiert, später nennt er sie bereits Säugetiere (früher Vierfüßer), und als deren Merkmale führt er an: zwei Kammern und zwei Vorkammern im Herzen, rotes, warmes Blut, lebendig gebärend; dementsprechend hat er auch die Charakteristik anderer Tiergruppen verbessert. Das Tierreich im ganzen hat er in Säugetiere, Vögel, Amphibien, Fische, Insekten und Würmer eingeteilt. Obwohl LinnEs System der Tiere niemals in dem Grade künstlich 140 VI. Kapitel. war wie sein Pflanzensystem, so hat es doch keineswegs die morpho- logischen Kenntnisse seiner Zeit auszunutzen gewußt; am besten ist dies daran zu sehen, daß er die Einteilung der Insekten nach deren Entwicklung, wie sie SWAMMERDAM durchgeführt hat, nicht annahm und die unnatürliche Gruppe der Würmer bildete, womit er weit hinter dem zurückbleibt, was bereits ARISTOTELES geleistet hat. LINNEs System der Tiere hat viel weniger Einfluß geübt als sein Pflanzensystem. Terminologie. LINNE war viel daran gelegen, die ‚Charakte- ristiken der einzelnen Arten und Gattungen möglichst kurz und präzis aufzustellen, und er brachte es darin zu großer Virtuosität, mitunter allerdings auf Kosten der Klarheit. Das Streben nach kurzer Aus- drucksweise hat ihn auch dazu geführt, die binäre Nomenklatur in die Biologie einzuführen. Bereits Casp. BAUHIN (1560—1624) hat den Versuch gemacht, ohne sich indes der Tragweite des Gedankens bewußt zu sein, je eine Gattung mit einem einzigen Namen zu ver- sehen, während die Arten dann durch einen oder mehrere Namen charakterisiert wurden. Später sprach dann RıvInUs (1652— 1725) den Grundsatz aus, daß es am besten wäre, jede Pflanze mit zwei Namen zu bezeichnen, von denen der eine als Spezies-, der andere als Gat- tungsname in Betracht käme; er selbst hat es aber nicht versucht, diesen Gedanken systematisch durchzuführen. Dies tat erst LINNE: indem er in Gattung und Art Einheiten sah, die als solche durch die Natur gegeben sind, hat er den sachlichen Grund für die binäre Nomen- klatur gefunden. Er hat sich erst versuchsweise zu ihr durcharbeiten müssen; zum erstenmal wendet er sie in der botanischen Schrift »Pan suedicus« (1749) an, durchgängig dann in »Species plantarum« (1753). Allgemeines. LINNE war wesentlich Botaniker, und zwar nur Systematiker; zwar hat er auch durch die systematische Bearbeitung der Zoologie gewirkt, auch ein System der Mineralogie und ein System der menschlichen Krankheiten veröffentlicht, doch stammen alle seine allgemeinen Ansichten aus dem Studium der Botanik. LINNE war kein Anatom und kein Physiologe; gleichwohl haben seine ausgedehnten literarischen Kenntnisse und sein Talent, die Merkmale einer Art oder Gattung richtig zu erfassen, es ihm ermöglicht, auch aus andern Wissenschaften weit mehr als das Mittelmäßige in seine Arbeiten auf- zunehmen. LinNE hat in seinem ganzen Leben keine einzige biologisch wich- tige Tatsache entdeckt, auch war ihm die experimentelle Methode fremd, und der Sinn für die Vergleichung der Erscheinungen ging ihm ab; seine Größe liegt auf dem Gebiete des Formalen. Es macht wirklich auf Die Linn&sche Systematik. 141 den Leser seiner Philosophia botanica den Eindruck mittelalterlicher Scholastik, daß er die neuen Begriffe nicht durch mühsame Analyse aus der Erfahrung entwickelt, sondern einfach fertig vorführt. Doch möchte ich dieses dogmatische oder scholastische Verfahren nicht als eigentlichen Fehler ansehen, wie J. SACHS dies tut. LINNE war Rationalist, keineswegs Scholastiker; er hat das biologische Wissen seiner Zeit in ein System zu bringen versucht. Daß er dieses Wissen nicht tief genug erfaßt hat, mag ein Fehler sein; das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß er das Wissen seiner Zeit nach streng logi- schen Grundsätzen gesichtet und zusammengestellt hat. In seinen syste- matischen Arbeiten steckt nicht nur Logik, sondern auch positives Wissen, und das unterscheidet ihn von der Scholastik. J. SACHS — und dieser ist in dem Punkte der Typus eines modernen Empirikers — will den Rationalismus nicht anerkennen und nennt ihn Scholastik. Es ist der Mühe wert, hier auf diesen Punkt einzugehen, weil SACHS auch das Wesen der modernen Biologie gegen LINNE betont. Er sagt nämlich‘): »Das Wesen echter Naturforschung liegt darin, aus der genauen und vergleichenden Beobachtung der Naturerscheinungen nicht nur überhaupt Regeln abzu- leiten, sondern diejenigen Momente aufzufinden, aus denen der kausale Zusammenhang, Ursache und Wirkung, sich ableiten läßt. Indem die Forschung nach dieser Methode verfährt, ist sie genötigt, die vorhan- denen Begriffe und neue Theorien aufzustellen und so unser Denken dem Wesen der Dinge mehr und mehr anzupassen; der Verstand hat nicht den Objekten, sondern die Objekte dem Verstande Vor- schriften zu geben. Genau in entgegengesetzter Weise verfährt die aristotelische Philosophie und ihre mittelalterliche Form, die Scholastik; bei ihr handelt es sich gar nicht darum, neue Begriffe und neue Theo- rien zu gewinnen, denn diese stehen ein für allemal fest; die Erfahrung muß sich dem fertigen Gedankensystem fügen; was sich nicht fügt, wird dialektisch so lange gedreht und gedeutet, bis es scheinbar in das Ganze hineinpaßt.« Es ist nur nötig, auf ARISTOTELES selbst oder auf HARVEY hinzu- weisen, bei denen es sich doch nur zu sehr um neue Begriffe und neue Theorien gehandelt hat, um die SaCcHssche Behauptung zurück- zuweisen. Auf der andern Seite verstehen auch die noch unlängst ganz modernen Darwinisten die Art sehr gut, die Tatsachen so lange zu drehen, bis sie in das a priori gegebene System hineinpassen: wie wird da spekuliert, mit den Begriffen manipuliert und disputiertt— und handelt 2) Gesch.id. Bot. S. 9I. 142 VI. Kapitel. sich’s denn hier wirklich um neue Theorien oder neue Begriffe? Was ist das für ein neuer Begriff, wenn auf Grund des a priori als bewiesen an- genommenen Kampfes ums Dasein und des ganzen übrigen Rüstzeugs des Darwinismus der Ursprung der Säugetiere aus den Fischen eher als aus den Amphibien angenommen wird? Im Darwinismus sind Ur- sprung, Entwicklung, natürliche Auslese, Kampf ums Dasein usw. die fixen Begriffe, in welche das ganze biologische System hineinge- zwängt wird. - Es ist also keineswegs der Vorzug der neuen Zeit, nicht von anderswoher ein System von Begriffen anzunehmen und die Tatsachen danach zuzuschneiden. Das liegt nun einmal im Wesen der mensch- lichen Natur, daß sie so leicht an Autoritäten glaubt und gerade dann, wenn sie am meisten gegen den Druck der Autorität schreit, dieser völlig unterliegt. Um zu LINNE zurückzukehren, so sieht SACHS seine Scholastik z. B. in der Art, wie er die spontane Generation der Pflanzen ver- wirft. LINNE kommt nämlich zu seiner Behauptung nicht induktiv, sondern deduktiv, indem er zuerst das Prinzip aufstellt, daß am Anfang von jeder Spezies ein Paar geschaffen worden ist; zweitens, daß omne vivum ex ovo kommt, mithin auch die Pflanzen. Nun mißfällt SACHs be- sonders die Behauptung: »daß die Pflanzen aus dem Ei entstehen, lehrt uns die Vernunft und die Erfahrung, die Kotyledonen bestätigen es«. Vernunft, Erfahrung und Kotyledonen! Das ist eine merkwürdige Zusammenstellung von Gründen — ruft SACHS aus. Man beachte aber, daß LinNEan dieser Stelle die Umöglichkeit der spontanen Generation nicht entdeckt, sondern klassifiziert, und er klassifiziert sehr richtig: die Entstehung aus dem Samen ist vernunftgemäß (sie wider- spricht dem Verstande nicht), sie kann durch die Sinne beobachtet werden (Induktion), und es gibt Tatsachen, die durch sie ihre Erklärung finden (Kotyledonen; Deduktion). Wenn heutzutage irgend jemand versucht, die Möglichkeit der spontanen Generation nachzuweisen, so wird er sich ganz gewiß auf jene drei Instanzen berufen, welche LinNE anführt. Er wird zuerst nachweisen, daß die Theorie dem Darwinismus gemäß ist; er wird sich zweitens vielleicht auf die POUCHETschen oder auf irgendwelche andere Experimente berufen, und schließlich wird er Tatsachen anzu- führen suchen, die durch diese Theorie ihre Erklärung finden. Der einzige Unterschied ist, daß er auf die Unterscheidung, die Klassi- fikation dieser drei Beweisarten nicht solchen Nachdruck legen wird wie LinnE: die logische Seite der Beweisführung wird er vernachlässigen. Die Linnesche Systematik. 143 Linn&s größtes Verdienst ist, daß er den Begriff der Art als natür- licher Einheit in dem ganzen System der Organismen zur Anwendung gebracht hat. Wohl hat er Ray als Vorgänger gehabt. Die syste- matische und philosophische Bearbeitung des Artbegriffes ist aber aus- schließlich sein Werk. Befreit man den Artbegriff von der dogma- tischen Fassung, die ihm LINNE gegeben, so wird man eine Analogie dazu etwa in der Aufstellung der Zellentheorie finden. Zwar war die Art bereits vor LinN& als eine Einheit bekannt, und jeder bediente sich dieses Begriffs und wendete ihn zumeist auch ziemlich richtig an; Linn£ hat aber den Gedanken durchgeführt, daß die Art nicht nur eine logische, sondern eine natürliche Einheit ist. Seit LINNE versteht man unter Tier- art, Pflanzenart etwas ganz Spezifisches, und das Verhältnis zwischen Individuum, Art, Gattung ist seitdem in der Biologie ein ganz anderes, als etwa das Verhältnis von Art und Gattung in der Klassifikation der Kurven in der Geometrie. Es ändert nichts an dieser Behauptung, daß von einigen Seiten gegen die LinnEsche Art als das letzte Element der Klassifikation polemisiert worden ist; denn es ist leicht möglich, daß zwischen die Art Linn£s und zwischen das Individuum noch eine Einheit wird ein- geschoben werden müssen, ohne daß dadurch die Natürlichkeit der Art beeinträchtigt würde. Daß die Arten Qualitäten, nicht bloße Quanti- täten sind, wie die Darwinisten annehmen, das war der von LinNE eingeführte Gedanke. Man kann wirklich sagen, daß LinNE in diesem Sinne die Arten »entdeckt« hat. Auch die Zellen hat man vor SCHWANN gekannt, wie dem Namen so der Tatsache nach; aber daß die Zellen eine all- gemeine histologische Einheit der organischen Körper bilden, daß die Elemente des Körpers nicht Quantitäten (etwa Kubikmillimeter) orga- nischer Substanz, sondern Qualitäten sind, und was für Qualitäten sie sind, das hat erst SCHWANN entdeckt. Die Analogie zwischen Zellen und Arten hilft uns auch die darwinistische Kritik des LiNnNE- schen Artbegriffes verstehen. Man vergleiche nur, wie man sich fort- während bemüht, den qualitativen Charakter der Zellen zu verschleiern und Plasomen, Idanten und wer weiß, wie man all die Hirngespinste sonst noch genannt hat, an ihre Stelle zu setzen, oder Eiweißmole- küle u. ä. den Zellen zu substituieren. Dieses Streben ist ganz analog demjenigen, die Art als etwas Quantitatives durch bloß quan- titative Unterschiede zwischen den Individuen zu ersetzen. In beiden Fällen ist es nicht Erfahrung, sondern vielmehr Philosophie, welche die Geister bestimmt: nämlich die spekulative Überzeugung, daß es 144 VI. Kapitel. in der Natur keine Qualitäten gibt, sondern alles auf Quantitäten zurückgeführt werden muß. Zu dieser tieferen Bedeutung LINNEs, die in der Zukunft hoffentlich besser anerkannt werden wird, als es bei der heutigen Richtung der Wissenschaft möglich ist, kommt noch, daß er, allerdings mehr ober- flächlich, aber auf desto breitere Massen durch seine Auffassung der Botanik als Sammlung, Benennung und Kenntnis möglichst vieler Arten gewirkt hat. Namentlich in Deutschland und Schweden behielt diese Methode noch im 19. Jahrhundert ihre Geltung, bis sich dann der alle philosophische Einsicht beanspruchende Darwinismus in mühe- losen Erfolg verheißendem Kampfe gegen die von ihr gebotenen An- griffspunkte wendete. Literatur. Linn£, C. von, Systema naturae, sive regna tria naturae systematice proposita per classes, ordines, genera et species. Lugd. Batav. 1735. (Diese erste Ausgabe des Werkes ist die kleinste und enthält nur 14 Seiten; jede spätere Auflage wurde vermehrt, so daß die 13. Auflage ro Bände enthält.) —— Amoenitates academicae sive dissertationes variae physicae, medicae, bota- nicae antehac seorsim editae nunc collectae et auctae. 7 Vols. Holmiae, Lipsiae et Lugd. Batav. 1749— 1769. —— Philosophia botanica, in qua explicantur fundamenta botanica cum defini- tionibus partium exemplis terminorum, observationibus rariorum. Lugd. Batav. 1751. (Ich habe die 2. Aufl., Berolini 1780, benutzt.) 3. Die Ansichten über die Sexualität. An LINnNEs System der Pflanzen, welches auf der Beschaffenheit ihrer Sexualorgane aufgebaut ist, können wir eine kurze Übersicht der bis in das ı8. Jahrhundert herrschenden Ansichten über die Sexualität anknüpfen. Die sexuellen Unterschiede, die bei dem Menschen eine ausschließlich vitale Erscheinung darstellen — in der anorganischen Natur kommt nichts Ähnliches vor —, an welche sich anatomisch, physiologisch, psychologisch, soziologisch und wer weiß, in welcher Hinsicht noch, eine Reihe der wichtigsten Probleme anknüpfen lassen, reizten die Theoretiker immer wieder, sie durch irgendeine konkrete Auffassung in das Gebiet der Biologie einzuführen. Doch bekenne ich, daß mir auf keinem andern biologischen Gebiete die Theorien, die Versuche zur Lösung des Problems so kläglich, so wenig ersprieß- lich vorkommen wie in diesem Falle, die modernen Theorien keines- wegs ausgenommen. In den Zeiten der deutschen Naturphilosophie hat man in dem Geschlechtsunterschied eines der tiefsten Probleme Die Linn&sche Systematik. 145 gesehen; heute ist man dagegen der Ansicht, daß die Chromosomen, Centrosomen und ähnliche Elemente alle Schwierigkeiten beseitigen. Auch im 17. und ı8. Jahrhundert huldigte man der ganz ähnlichen Auffassung, daß verschiedene Säfte, Samentierchen, Geister den Ge- schlechtsunterschied erklären könnten. Das Problem besteht in folgendem. Der Mann unterscheidet sich vom Weibe durch den Körperbau, durch die physiologischen Er- scheinungen seines Körpers, durch die Anlagen; ebenso ist es bei Tieren und Pflanzen. Wenn man die Eigenschaften des Männlichen zu einem Begriff zusammenfaßt und dem Begriff des Weiblichen gegenüberstellt, worin besteht der Gegensatz? Die Unterschiede des Männlichen und des Weiblichen lassen sich in mancher Hinsicht bis in die feinsten Elemente verfolgen. Welchen Sinn hat das alles? Warum gibt es eben zwei Geschlechter, und nicht etwa drei oder vier? Die Ansichten des ARISTOTELES haben wir angeführt. Wie er überhaupt den Unterschied zwischen Form und Materie als die Grund- lage aller Erscheinungen betrachtete, so hat er auch den Ge- schlechtsunterschied auf den Unterschied dieser beiden Prinzipien zurückgeführt: bei der Befruchtung gibt das Männchen dem Embryo das formbildende Prinzip, das Weibchen das materielle; man darf dies aber selbstverständlich nicht so verstehen, daß das Männchen nur Form und das Weibchen nur Materie sei, beide sind beides, im Männchen ist aber mehr die Form, im Weibchen mehr die Materie realisiert. Die niederen Tiere entstehen nach ARISTOTELES spontan; bei ihnen und bei den Pflanzen gibt es also keine Geschlechtsunter- schiede. Darunter ist aber nur zu verstehen, daß das Geschlecht hier nicht sichtbar, nicht differenziert ist; die beiden Prinzipien, das männliche wie das weibliche, sind in eins verschmolzen, aber als Form und Materie doch vorhanden. Der Gedanke, daß nur die höheren Tiere geschiechtlich differenziert sind, hat sich sehr lange erhalten, und es ist historisch beachtenswert, daß die volkstümliche Ansicht von dem Geschlecht der Pflanzen und der niederen Tiere als unwissenschaftlich verworfen wurde. Bereits ARISTOTELES meinte die populären Vorstellungen von dem Geschlecht der diözischen Pflanzen verwerfen zu müssen, und in den folgenden Zeiten findet man eine Erwähnung der Geschlechtsunterschiede der Pflanzen nur dann, wenn populäre Vorstellungen hineinspielten; so sagt PLiNnIUS (wenn wir die Ansichten THEOPHRASTSs, eines Schülers des ARISTOTELES, übergehen) in seiner Historia mundi, wo er die Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. I. Teil. 10 146 VI. Kapitel. Dattelpalme beschreibt und namentlich den Blütenstaub als Befruch- tungsmittel bezeichnet, daß die Naturkundigen erzählen, alle Bäume und Kräuter besäßen beiderlei Geschlecht‘). HARVEY, der in neuerer Zeit die Untersuchungen über die Zeugung wieder aufgenommen hat, beurteilte den Geschlechtsunter- schied ähnlich wie ARISTOTELES: der weibliche Uterus hat die Vor- stellungskraft, und der Mann gibt ihm den Inhalt der Vorstellungen; wie das Gehirn die Umgebung auffaßt und ihr ähnliche Vorstellungen bildet, so faßt der Uterus die Einwirkung des Mannes auf und bildet den Embryo, aus welchem ein dem Vater ähnliches Kind wird. Mit MALPIGHI beginnt die Zeit, in der man, wie wir sahen, das Verständnis für die Erzeugung als Entstehung von etwas Neuem ganz verlor. Mochte man die Einschachtelungstheorie im Sinne der Animal- kulisten oder der Ovisten auffassen, immer war das Verständnis für die Bedeutung der Geschlechter a priori verschlossen. Wenn die ganze Nachkommenschaft im Weibe fertig eingeschlossen ist, wozu der Mann? Die Versuche mit künstlicher Befruchtung haben in jener Zeit be- gonnen. HARVEY hat die Befruchtung so verfolgt, daß er, nachdem eine bestimmte Zeit seit der Begattung der Versuchstiere verflossen war, das Weibchen öffnete und die Veränderungen an den Geschlechts- teilen untersuchte. Derselben Methode sind dann auch DE GRAAF, VALLISNIERI u. a. gefolgt. Doch versuchte bereits MALPIGHI, die Eier des Seidenwurms künstlich zu befruchten, aber ohne Erfolg. SWAMMERDAM hat fast zur selben Zeit die Befruchtung der Froscheier außerhalb des Körpers direkt beobachten können, und RÖSEL v. ROSEN- HOF (1705—1759) bestätigte seine Beobachtung bei verschiedenen andern Amphibien (1750). Die Bedeutung des Samens sah VALLISNIERI darin, daß mit ihm in das weibliche Ei Säfte kommen, welche den bisher ruhig im Ei schlafenden (präformierten) Organismus zum Wachstum bringen, und alle Ovisten, auch BONNET und SPALLANZANI, haben diese Theorie angenommen. REAUMUR war sogar der Ansicht, daß die Befruchtung keinen andern Zweck habe, als den Müttern die Ausscheidung der- jenigen Fötus zu erleichtern, die nicht zur Entwicklung bestimmt sind, damit die Mütter für die Nachkommenschaft, welche zu einer glück- licheren Zeit geboren werden würde, ihr Leben erhalten. LEEUWEN- HOEK, der Animalkulist, nahm dagegen an, daß je ein Spermatozoon in ein Ei eindringt und die Eisubstanz nur als Nährmaterial für sein ı) Nach J. Sachs, Gesch. d. Bot. S. 408. Die Linn&esche Systematik. 147 Wachstum benutzt; an diese Auffassung haben sich dann die Animal- kulisten gehalten. Was die Pflanzen betrifft, so hat man in jener Zeit ihr Geschlecht noch nicht erkannt. Bezüglich der Antheren nahm MALPIGHI an, daß durch sie eine Substanz ausgeschieden werde, welche der Samen- bildung hinderlich sein würde. Doch hat bereits GREW den Gedanken ausgesprochen, daß in der Blüte etwas wie männliches und weibliches Prinzip vorhanden sei. Im Sinne der damaligen Theorien stellte er sich vor, daß die Frucht die Konzentration der wesentlichen Substanzen der Pflanze ausmache; damit diese Substanz produziert werden kann, müsse alles Überflüssige ausgeschieden werden. Nun haben nach GREw die Blumenblätter den Zweck, die gröberen Substanzen fortzuschaffen (daher ihr Duft), während die feineren Substanzen durch die Antheren ausgeschieden werden. Der Pollen jedoch, der in den Antheren ge- bildet wird, lasse sich mit dem männlichen Samen der Tiere ver- gleichen; diese Annahme stützt GREW durch den phantastischen Hinweis auf die Ähnlichkeit zwischen dem Griffel und der Narbe einerseits und dem Penis der Tiere andererseits. Die Antheren nehmen dann die Rolle des Hodens an. Der Pollen fällt herunter auf den Grund der Blüte, wo er den Samen zum Wachstum befördert. Eine klarere Auffassung des Befruchtungsvorganges bei den Pflanzen hat sich aus dem Studium der älteren Angaben ADAM ZALUZANSKYS (1592) gebildet. Er behauptet, daß einige Pflanzen Zwitter, andere getrennten Geschlechts sind; die ersteren haben die Fähigkeit, ohne Paarung zu zeugen, andere wieder, wie die Dattelpalme, sind männlich oder weiblich, und bei ihnen entsteht keine Frucht, wenn nicht der Staub von dem einen auf den andern Baum übertragen wird. ZALU- ZANSKY unterscheidet auch richtig die geschlechtlich erzeugte Frucht vom ungeschlechtlichen Sproß. Die Lehre von der Sexualität der Pflanzen hat RUDOLF JACOB CAMERARIUS (1665— 1721) experimentell begründet. Angeregt durch die Beobachtung an einem weiblichen Maulbeerbaum, welcher Früchte trug, obwohl kein männlicher in der Nähe stand, allerdings taube Früchte, stellte er Experimente mit verschiedenen diözischen Pflanzen an, indem er die weiblichen Blüten isoliert kultivierte, oder bei monö- zischen die männlichen Blüten abschnitt. Auf diese Art überzeugte er sich, daß normale Samenbildung nur dann stattfindet, wenn der Inhalt der Antheren auf die weibliche Blüte gewirkt hat. »Im Pflanzenreiche findet keine Erzeugung durch Samen, dieses voll- kommenste Geschenk der Natur, dieses allgemeine Mittel zur Erhaltung 10* 148 VI. Kapitel. der Spezies, statt, wenn nicht vorher die Antheren die im Samen ent- haltene junge Pflanze vorbereitet haben. Es scheint daher gerecht- fertigt, jenen »apices« (Antheren) einen edleren Namen und die Bedeu- tung von männlichen Geschlechtsorganen beizulegen, da ihre Kapseln Behälter sind, in denen der Same selbst, nämlich jenes Pulver, der subtilste Teil der Pflanze, sezerniert und gesammelt wird, um von hier aus später abgegeben zu werden. Ebenso leuchtet ein, daß der Frucht- knoten mit seinem Griffel das weibliche Geschlechtsorgan der Pflanze darstellt« '). Eine Reihe von Autoren hat dann die Frage in ähnlicher Richtung wie CAMERARIUS, dessen Arbeiten bis auf LINNE wenig berücksichtigt wurden, verfolgt, freilich nicht mit demselben Glück. Die Frage, wie der Pollen auf den Griffel einwirkt, untersuchte SAMUEL MORLAND (1704) und GEOFFROY, der Botaniker (1714), ohne indes zu einem be- stimmten Ergebnis zu gelangen. Erst LINNE erkannte die Bedeutung der von CAMERARIUS angestellten Experimente und gründete sein System auf die Geschlechtsorgane der Pflanzen. Oben ist erwähnt worden, wie er dazu auch durch die Ideen des CAESALPINUS über die Bedeutung der Zeugung geführt wurde. Nach LinnNE sind keine bemerkenswerten Gedanken über das Geschlecht ausgesprochen worden, bis die Spekulation der deutschen Naturphilosophie kam. Seit ihrem Untergange ist das Interesse an dem Problem wieder geschwunden; die heutigen Theorien sind in mehrfacher Hinsicht den vorlinneischen, nämlich denen der BONNET, VALLISNIERI und anderer Forscher, ähnlich. Davon wird später die Rede sein. Beachtenswert ist, daß die morphologische Richtung der Biologie, welche um das Ende des ı8. Jahrhunderts so sehr blühte, keine beachtenswertere Theorie der Geschlechtsunterschiede geliefert hat, wenn auch Anläufe dazu vor- handen sind. Überhaupt ist nicht zu verkennen, daß die Biologen zu jeder Zeit die Tendenz gezeigt haben, die theoretische Bedeutung der Geschlechtsunterschiede im entwickelten Zustande zu übersehen und das ganze Problem zum Problem der Befruchtung zu machen; man nahm und nimmt noch immer ganz fälschlicher Weise an, daß, wenn man die Befruchtung an sich erklären könnte, damit auch das Wesen der Geschlechtsunterschiede im entwickelten Zustande erwiesen sein würde. Von seiten der Pflanzenphysiologie wurde zwar eine Richtung an- gebahnt, die eine tiefere Erkenntnis des Geschlechtswesens herbeizu- ı) Zitiert nach ]J. SAacHs, S. 419. Die Linn&sche Systematik. 149 führen schien, doch wurde sie bald wieder aufgegeben. Bereits die Entdeckung der dichogamen Pflanzen, bei denen das Pistill der zwitte- rigen Blüte früher reift als die Antheren, und die Entdeckung der Befruchtung der Blüten mit Hilfe der Insekten hat den deutschen Botaniker CH. K. SPRENGEL (1793) auf den Gedanken gebracht, daß sich die Pflanzen sehr oft eher kreuzweise als durch eigenen Staub befruchten. Diesen Gedanken verfolgte ANDREW KNIGHT (1758— 1839) weiter; er stellte den Satz auf, daß keine Pflanze eine unbegrenzte Zahl von Generationen hindurch sich selbst befruchte. 1887 fand dann WILLIAM HERBERT, daß man bei künstlicher Befruchtung ein besseres Resultat erhält, wenn die Blüte, von der man die Samen zu erlangen wünscht, mit Pollen einer andern Blüte als mit ihrem eigenen Pollen be- fruchtet wird. Durch diese Experimente hat sich dem Verständnis all- mählich die Tatsache aufgedrängt, daß die Geschlechtsunterschiede und namentlich ihre Verteilung auf zwei Individuen tiefer begründet sein müssen, als es auf den ersten Blick erscheint. Doch ist die Erkenntnis dieser Tatsache auf halbem Wege wieder beseitigt worden. DARWIN hat nämlich den Gegenstand ergriffen und ihn auf seine Theorie zugeschnitten. Nun scheint es, nach der Miene der heutigen Biologen zu schließen, als ob seine Auffassung der fraglichen Erscheinungen bis zum Ende der Welt recht behalten würde, ausgenommen etwa, daß die Welt nicht gleichzeitig mit dem Darwinismus untergeht. Literatur. ZALUZANSKY, A. von, Methodus herbaria. 1592. CAMERARIUS, RuD. Jac., Opusculi botanici argumenti. Pragae 1797 (von J. CH. MIKAN herausgegeben; die Originalabhandlungen sind als vorläufige Mitteilungen in den Ephemeriden der Leopoldina 1691—1694 enthalten). SPRENGEL, CHRIST. KONR., Das neuentdeckte Geheimnis der Natur in Bau und Be- fruchtung der Blumen. Berlin 1793. S. auch die neue Ausgabe in OsSTwALDs Klassikern der exakten Wissenschaften, Nr. 48—51. Der ganze Abschnitt ist aus verschiedenen Quellen kompiliert; die beste Schilderung der Geschichte der Sexualtheorie findet sich in J. SACHS. Die botanischen Autoren sind meist nach J. SACHS zitiert. VIE RAPITEL. 2 Begründung der epigenetischen Theorien. Die embryologischen Evolutionstheorien von VALLISNIERI, LEEUWEN- HOEK, HALLER u. a. habe ich bereits erörtert; ich habe gezeigt, daß sie sich bis zum Anfang des ı9. Jahrhunderts fast allgemeiner An- erkennung erfreuten. Trotzdem fehlte es auch vorher nicht an Skep- tikern, welche die Unrichtigkeit solcher Anschauungen nachzuweisen sich bemühten, und bereits 1759, also zu einer Zeit, wo die Evolution noch in voller Blüte stand, war die Epigenesis durch WOLFF in ziem- lich konsequenter Weise begründet. Wir wollen nun die epigenetischen Theorien verfolgen. Die Ansichten BUFFONs sind schon erwähnt worden. Von LEIBNIZ übernahm er die Hypothese der organisierten, überall vorhandenen Moleküle. Er vertrat die Ansicht, daß sich daraus der Organismus bei seiner Entwicklung nach einer ihm innewohnenden Kraft bilde. Daß die BUFFONsche Theorie die Vorstellungen von MAUPERTUIS im wesent- lichen in sich aufgenommen hat, wurde gleichfalls bereits angedeutet. Zu der Zeit, als BONNET und BUFFON mit ihren Thorien hervor- traten, hat ein Anonymus durch die Schrift »V@nus physique« (1745) die Theoretiker auf die Gedanken zurückzuführen gesucht, welche seinerzeit HARVEY entwickelte. BONNET und BUFFON loben die Schrift (BONNET wirft ihr die Sucht nach Sinnlichkeit vor), ohne auf ihren Inhalt näher einzugehen; doch soll sie den epigenetischen Standpunkt . verteidigen. Ich habe sie nicht zu Gesicht bekommen. Ein Epigenetiker, dessen Ansichten sich BUFFON ebenfalls teil- weise anschloß, war TURBERVILL NEEDHAM (1745). Seine »Beobach- tungen«') sind zwar sehr oberflächlich, aber zur Zeit BONNETs und BUFFONs wurden sie ziemlich beachtet, und BONNET und SPALLANZANI kämpften ebenso gegen sie, wie sich BUFFON ihrer annahm. 1) Mir lag die französische Ausgabe der Schrift vor: Nouvelles d&couvertes faites avec le microscope par T. NEEDHAM. Leyde 1744. Begründung der epigenetischen Theorien. 151 In dem zitierten Schriftchen erklärt NEEDHAM, daß die. mikro- skopischen Tierchen, welche in einem Wassertropfen leben, z. B. Daphnia, den großen Tieren im Meere analog sind. Es sei möglich, meint er, daß so ein kleines Tierchen wieder noch kleinere unter sich habe, so kleine, daß sich die mikroskopischen Tiere dazu so ver- halten wie der Walfisch zu jenen; so verbreite sich die Stufenleiter der Tiere ins Unendliche nach beiden Richtungen. Die Vorstellung von den AÄnalogien der Tiere und TREMBLEYSs Arbeit über die Hydra hat ihn ermutigt, Meerfische zu suchen, welche Polypen en gros wären, und er behauptet, solche Fische in den »bernacles« gefunden zu haben; leider hat er diese so oberflächlich beschrieben, daß es mir unmöglich ist, zu erraten, was er denn eigent- lich vor sich hatte. Noch eine solche Analogie fand er: ein kleines Fischlein mit Schalen, so groß wie ein Sandkorn (wahrscheinlich Daphnia oder Cypris), das einem mikroskopischen Infusor analog sein soll. Nach seiner Meinung können uns solche Analogien das Studium der mikroskopischen Tiere erleichtern, indem wir die an großen Tieren gemachten Beobachtungen auf kleine übertragen. Eine andere Reihe von Untersuchungen NEEDHAMSs betrifft ins Wasser gelegte Pollenkörner: sobald diese barsten, entströmte ihnen ein feiner Staub. Die Staubkörnchen sind nach ihm Pflanzenkeime. Ferner beschreibt er den Getreidebrand (nielle,. Dies ist ein mit schwarzer Masse oder weißen Fäserchen gefülltes Korn; ins Wasser gelegt fangen die Fäserchen an, sich zu krümmen und zu winden. Die Fäserchen sind nach NEEDHAMs Auffassung Älchen (anguilles); es ist möglich, ihnen diesen Namen zu geben, da sie dem Aal des Süßwassers ähnlich sind. Auch die folgende Beobachtungstatsache zieht er zum Beweise der spontanen Generation heran: in ver- schiedenen Aufgüssen ist nach einiger Zeit eine Menge kleiner Orga- nismen entstanden, die nach ihm durch eine vegetative Kraft der Natur gebildet sein sollen. In seiner Theorie der Entwicklung geht NEEDHAM von LEIBNIZ aus... Während die Evolutionisten LEIBNIZ nur den oberflächlichen Gedanken entnahmen, daß der Organismus sich aus einer vor- handenen Form durch bloßes Wachstum entwickelt, haben NEEDHAM und später WOLFF den Begriff der Monade, die sich durch eine ihr inhärente Kraft entwickelt, tiefer erfaßt. Sind die Evolutionisten durch die Behauptung von der Unmöglichkeit der mechanischen Ent- stehung der Form auf ihre Theorie gekommen — sie folgerten daraus, daß die Form überhaupt nicht entsteht, sondern nur wächst —, so 152 VI. Kapitel. richteten NEEDHAM und WOLFF ihr Augenmerk auf dasjenige, was zur Entwicklung treibt. Diese Kraft zogen die Evolutionisten nicht in Betracht, sie halfen sich mit der oberflächlichen und physikalisch unmöglichen Annahme, daß die beschleunigte Tätigkeit des Herzens die Blutgefäße erweitere, wodurch das Wachstum des Keimes ge- fördert werde. NEEDHAM stellt sich vor, daß die Materie das Streben hat, sich im Raume ins Unendliche zu verbreiten. In den organischen Wesen wird dieses Streben durch eine besondere vegetative Kraft überwunden und die Materie zusammengehalten. Die richtig im Körper verteilte, je nach der Tierart verschiedene vegetative Kraft bildet den Körper, sobald sie darin zu wirken beginnt, zu einer spezifischen Form aus; etwa so, wie die Kraft eines Wurfgeschosses in Verbindung mit der Attraktionskraft das Geschoß nötigt, eine parabolische Bahn zu be- schreiben und an einem mathematisch definierbaren Orte zu Boden zu fallen, — oder wie ein Feuerwerk, dessen Kräfte durch das Anzünden sich nach außen entwickeln und eine bestimmte Figur bilden, die vom Feuerwerker zuvor bestimmt war. Denselben Gedanken wie NEEDHAM hat WOLFF, aber viel konse- quenter und wissenschaftlicher, entwickelt. CASPAR FRIEDRICH WOLFF (1733— 1794), ein Deutscher, Professor in Petersburg, wurde besonders durch den Philosophen CHRISTIAN WOLFF beeinflußt. Seine wichtigste Schrift »Theoria generationis«, die Arbeit eines 26jährigen Jünglings, ist eine aus formalen wie sachlichen Gründen nicht leicht zu lesende Abhandlung. WOLFF hat sich nämlich bemüht, seinem philosophischen Lehrer in der logisch korrekten Formulierung der Probleme zu folgen; darum ist seine Abhandlung den ins Unendliche ausgedehnten fran- zösischen Publikationen jener Zeit so unähnlich: eine neue Termino- logie wird eingeführt, alles wird definiert, Prämissen werden formuliert und aus ihnen bündige Schlüsse gezogen, und das alles in ungewöhn- lich gedrängtem Stil. Der Lehrer unseres Embryologen, CHRISTIAN WOLFF (1679— 1754), war Leibnizianer, der die zerstreuten philosophischen Ansichten LEIB- NIZens systematisiert und, wie ihm die heutigen Historiker vorwerfen, sehr verflacht hat. Er hat selbst auch botanische Untersuchungen angestellt, doch blieb er in der Biologie nur Dilettant. Die historischen Quellen der epigenetischen Theorie C. F. WOLFFS sind: an erster Stelle LEIBNIZ mit seiner Theorie der Monade als Kraft, die sich zu einem Organismus entwickelt, zweitens NEEDHAM, der diesen Gedanken auf die embryonale Entwicklung anzuwenden Begründung der epigenetischen Theorien. 153 versuchte, und G. E. STAHL, dem der Vitalismus entlehnt ist, sodann CHR. WOLFF, der die Ausbildung der Theorie nach ihrer formalen Seite beeinflußt hat. Im folgenden versuche ich WOLFFs Ansichten zu erklären; ich wiederhole, daß es schwierig ist, in dieselben einzudringen'). Der Begriff der wesentlichen Kraft. Wesentliche Kraft (vis essentialis) ist die Kraft, »durch welche Flüssigkeiten, aus der um- gebenden Erde gesammelt, in die Wurzeln einzutreten gezwungen, durch die ganze Pflanze verteilt, z. T. an verschiedenen Stellen auf- gespeichert, z. T. auch wieder ausgeschieden werden«?). Auch bei den Tieren ist die wesentliche Kraft vorhanden; denn am Anfange der Entwicklung nährt sich das Hühnchen aus der Substanz des Eies; es folgt daraus, »daß eine Kraft vorhanden ist, durch die dies erfolgt, und daß diese Kraft nicht die Kontraktion des Herzens und der Arterien, ebensowenig der dadurch erzeugte Druck in den benach- barten Venen, ncch auch die Kompression derselben durch Muskel- bewegung sein kann; ferner daß sie nicht durch bestimmte Kanäle, die den Weg vorzeichnen, wirkt, daß sie also analog der im $ ı [im obigen Zitat] definierten Kraft ist. Ich werde sie daher ebenso als wesentliche Kraft bezeichnen«®). Nach WOLFF wird die Entwicklung nicht durch die Wärme bewirkt; diese löst den Dotter auf, kann aber die bei der Entwicklung eintretende Differenzierung keineswegs hervor- rufen, das ist nur der wesentlichen Kraft möglich. So verteilen sich z. B. zwei Metalle von verschiedenem spezifischen Gewicht beim Schmelzen in einer bestimmten Art, die nicht durch die Wärme, sondern durch das spezifische Gewicht gegeben ist; dasselbe, was hier spezifisches Gewicht, ist in unserem Falle die wesentliche Kraft‘). Die wesentliche Kraft ist je nach der Pflanzenart quantitativ und qualitativ verschieden. WOLFF meint, es sei möglich, diese Kraft für jede Pflanze zu ermitteln; die Kenntnis derselben und der spezifischen Erstarrungsfähigkeit (s. weiter unten) werde einen Mathematiker in den Stand setzen, die Gestalt der Pflanze und ihre charakteristische Zu- sammensetzung zu berechnen’). ı) Ich zitiere nach der deutschen Ausgabe in OstwALps Klassikern der exakten Wissenschaften, Nr. 84 u. 85. ZN SHIT. 3)I.S.4. 4) Das Beispiel von dem spezifischen Gewicht (I. S. 13) ist selbstverständlich von WOLFF nicht glücklich gewählt worden, doch veranschaulicht es seine Vorstellung deutlich. 7), 1003508 154 VD. Kapitel. Das materialistische Denken unserer Zeit erschwert es uns, die wesentliche Kraft klar vorzustellen. Ich kann den Leser nur auf Analogien verweisen: die Gravitation, die elektrische Spannung und der Magnetismus sind ähnliche Kräfte wie die WOLFFsche Kraft. Über die Erstarrung als das zweite Prinzip der Entwicklung. Im Beginn der Entwicklung besteht die pflanzliche und die tierische Substanz aus einer gallertigen Masse; auch der Anfang der Blätter und neuer Sprosse ist ähnlich beschaffen. Diese Masse enthält Poren und Löchelchen, die auf verschiedene Art miteinander in Verbindung stehen. Die Wände dieser Poren sowie auch alle andern Flächen, die aus der gallertigen Masse bestehen, haben die Neigung, zu erstarren; doch ist die Erstarrungsfähigkeit bei verschiedenen Pflanzen verschieden"); der Unterschied des tierischen Körpers von dem Pflanzenkörper be- steht darin, daß jener eine viel geringere Erstarrungsfähigkeit hat als dieser. Durch das Zusammenwirken der wesentlichen Kraft und der Er- starrungsfähigkeit entsteht nun der organische Körper: die aufgesaugten Substanzen bewegen sich durch die Wirkung der wesentlichen Kraft zwischen den Poren, drängen die Wände derselben auseinander, und in den so entstandenen Lücken bilden sich neue Wände und Poren, also neue Bläschen. Wo der die Pflanze durchströmende Saft die Wände berührt, dort erstarrt er; dadurch werden die Wände dicker. Auf diese Art läßt sich die Entstehung verschiedener Gebilde bei Pflanzen und Tieren begreifen; so zuerst die Bildung der Blätter. Die wesentliche Kraft treibt den Saft in der Pflanze nach oben, in junge, weiche Pflanzenteile; ‘in der Nähe des Vegetationspunktes der Pflanze also durchbricht der Saft leicht deren Haut, fließt heraus und bildet dort, an der Luft erstarrend, Bläschen, die durch fortgesetzte Wirkung der Kraft länger und breiter werden. An ihrem Rande bleiben diese weich, deshalb wachsen sie dort fort. So entstehen die Blätter. Ganz analog wird auch die Blüte hervorgebracht: der Kelch wächst den Blättern ähnlich heraus, die Krone wird aus Säften gebildet, die, nach oben strebend, weder im Kelch noch im Vegetationspunkt Platz haben und daher zwischen beiden im Kreise hervordringen; analog entstehen auch die übrigen Teile der Blüte. Die Richtung und die Geschwindigkeit der Säfteströmung ver- ursacht auch die Form der Gewebeteile: bei langsamer Strömung ent- stehen Bläschen, bei schneller Strömung in einer Richtung Gefäße. D)EL.ES. 10, Begründung der epigenetischen Theorien. 155 Auf dieselbe Art bilden sich durch den Druck der vis essentialis bei den Tieren Gefäße, und die vorhandenen dehnen sich aus; so werden auch die Urin führenden Gänge und die Ureteren durch den Druck der Urinflüssigkeit, die durch sie hindurchging, gebildet. »Es ist daher die wesentliche Kraft mit der Erstarrungsfähigkeit des Nährsaftes ein hinreichendes Prinzip jeder Entwicklung sowohl bei Pflanzen als auch bei Tieren« '). Außerdem gibt es noch akzessorische Prinzipien, welche die Wir- kung der ersteren ermöglichen oder, wenn sie direkt in die Entwick- lung eingreifen, diese modifizieren, ohne jedoch ihr Wesen zu bilden. Als solche führt WOLFF z. B. die Wärme und den Bau der Gefäße an. Die Erstarrungsfähigkeit der organischen Säfte ist gewiß keine glückliche Erfindung WOLFFs; sie zeigt jedenfalls, wie sehr ihm ein Prinzip gefehlt hat, auf Grund dessen er die sichtbare Form des Organismus hätte erklären können. Ebenso wie NEEDHAM, der aus dem Zusammenwirken der Repulsivkraft und der Vegetationskraft die Entstehung der Form abzuleiten suchte, ist er bemüht, aus dem Gegen- einanderwirken der Essentialkraft und der Erstarrungsfähigkeit (von der er selbst sagt, daß sie sich nicht von der allgemeinen Kraft der Kohäsion unterscheide) dasselbe Resultat zu entwickeln. Eigentüm- licherweise ist bei NEEDHAM die vitale Kraft zusammenziehend, bei WOLFF auseinandertreibend. Die Beziehungen des organischen Körpers im allgemeinen oder der Maschine zu dem in Entwicklung begriffenen Körper. Unter diesem Titel stellt WOLFF seine Theorie in unmittelbaren Zu- sammenhang mit dem Vitalismus STAHLs und in Gegensatz zu der Lehre DESCARTES,, nach welcher der Körper nur eine Maschine sein soll. WOLFF behauptet in diesem Kapitel, daß die sich entwickelnden Körper anfangs keine Struktur haben, daß ihre Struktur (Maschine) erst die Folge der Entwicklung ist: die wesentliche Kraft macht die anfangs strukturlose Substanz zu der schließlich dastehenden Form. Diese Auffassung kommt in dem allerdings etwas dunkeln Satze zum Ausdruck, »daß in Entwicklung begriffene Körper nicht Maschinen sind, sondern bloß aus unorganischer (=nicht organisierter) Substanz bestehen. Und diese sich entwickelnde Substanz ist von der Maschine, in die sie eingehüllt ist, wohl zu unterscheiden. Die Maschine ist als das Erzeugnis derselben anzusehen. « LINIELS.60, 156 VI. Kapitel. WOLFF folgert daraus, daß diejenigen Vorgänge im Organismus, welche von seiner Struktur abhängig sind, eine nur akzessorische Be- deutung für die Entwicklung haben, und wendet dies zugleich, dem Beispiel STAHLs folgend, auf die praktische Medizin an. So bezeichnet er die Systeme, welche die Lebensvorgänge aus der Struktur (Anatomie) erklären und durch die Beeinflussung der Struktur den kranken Körper heilen wollen, als unrichtig, da die Krankheit nicht in der Struktur, sondern in der Kraft ihre primäre Ursache hat. s Allgemeines. Die epigenetische Theorie WOLFFs steht und fällt mit dem Begriffe der wesentlichen Kraft. Dies wird heutigentags von den meisten Naturforschern übersehen; wenn sein Vitalismus über- haupt erwähnt wird, so wird ihm dieser als Fehler angerechnet, durch den er der damaligen Zeitrichtung eine Konzession gemacht habe. Ob sein Vitalismus ein Fehler ist, ist eine Frage für sich; ich kann mir jedoch nicht vorstellen, was von der ganzen Theorie‘) WOLFFS übrigbleibt, wenn man ihr den Vitalismus, die Essentialkraft, nimmt. Was wird dann bei der Pflanze die Nahrung schöpfen, die Säfte in ihr bewegen, die Blätter hervortreiben usw.? Die Entwicklung der Pflanze wird ohne die wesentliche Kraft nicht einmal beginnen können, ganz davon abgesehen, daß auch keine Differenzierung entstehen würde. Damit will ich nicht im mindesten behaupten, daß WOLFF in seiner wesentlichen Kraft das Richtige getroffen hätte. Zwar hat er den Fehler der Evolutionstheorien richtig erkannt, daß diese nämlich die treibende Kraft der Entwicklung anzugeben unterlassen und die Form als das einzig Beachtenswerte ansehen, und demgegenüber die Notwendigkeit einer die Entwicklung treibenden Kraft betont; aber dadurch ist er in das andere Extrem gefallen, die Form als etwas Sekundäres zu betrachten. So hat er sich in die unmögliche An- schauung verwickelt, die Form sei die bloße Folge davon, daß die Säfte durch ihre Erstarrung an weiterer Ausdehnung gehindert werden. In diesem Punkt ist WOLFF in die Scylla aller Vitalisten geraten: die Kraft hat er wohl in sein System eingeführt, die Form fiel ihm aber aus dem System heraus. Das ist der Kardinalfehler seiner Theorie. Der andere Mangel liegt darin, daß WOLFF die wesentliche Kraft zu abstrakt genommen und keinen Versuch gemacht hat, sie für irgendeinen Spezialfall konkret darzustellen; es würde sich dann ge- zeigt haben, daß der Begriff der Kraft, den er eingeführt hat, kaum I) Es handelt sich wohlgemerkt um seine epigenetische Theorie, nicht um die später von WOLFF entdeckten und epigenetisch gedeuteten Tatsachen. 3egründung der epigenetischen Theorien. 157 genügt, um die Erscheinungen der Entwicklung zu erklären; auch hätte sich herausgestellt, daß die periodische Ruhe und Bewegung des Lebens nicht oder nicht nur aus sekundären Einflüssen zu be- greifen ist, daß jene Kraft etwas in sich haben muß, was sie dazu bringt, hier energischer als dort, in der Jugend frischer als im Alter zu wirken, usw. Es sei in dieser Hinsicht nur darauf hingewiesen, daß bei WOLFF die Begriffe der potentiellen und der aktuellen Kraft (Energie und Kraft ist bei ihm dasselbe) ganz fehlen. Zellentheorie. Daß das Pflanzengewebe aus kleinen, von festen Wänden begrenzten Hohlräumen besteht, erkannten schon MALPIGHI, HOORE und GREW. Seitdem hatte man dem Ergebnis ihrer Forschungen wohl zugestimmt, ihm aber Neues nicht hinzugefügt; erst C. F. WOLFF machte einen Versuch dazu. Er hat selbst die Zellen wahrgenommen, wie aus seiner Theorie folgt, aber sie eher für Schaumgebilde ge- halten: sie erschienen ihm als mit Saft gefüllte Bläschen, die durch ein- fache Wände voneinander abgesondert sind. In diesem Punkt hat sich jedoch die Geringschätzung der Morphologie an ihm gerächt: es fiel ihm nicht auf, daß die Bläschen des pflanzlichen und des tierischen Gewebes qualitative morphologische Elemente sind, die nicht aus dem Begriff seiner Kraft a priori entwickelt, sondern nur beobachtet werden können. WOLFF suchte sich auch eine Vorstellung von dem Wesen der Befruchtung zu bilden; die Theorie und dieVersuche des CAMERARIUS (1694) sind ihm indes unbekannt geblieben. Die wesentliche Kraft verursacht, wie wir wissen, in Verbindung mit der Erstarrungsfähigkeit das Wachstum; wenn das Pflanzengewebe älter wird, dann ist es zu dick und zu fest, und die Säfte können nicht mehr so schnell wie vordem strömen. In dieser Zeit werden Samen gebildet. Die Pollen- körner sind für den im Pistill enthaltenen Keim nichts anderes als ein überaus vollkommenes Nahrungsmittel, welches dem Keim ermöglicht, mit dem Wachstum von neuem zu beginnen. Dieselbe Bedeutung hat die Befruchtung bei den Tieren. Die Metamorphosenlehre und die Lehre von den Keimblättern. WOLFF wird bereits von GOETHE die Lehre von der Metamorphose der Pflanzen zugeschrieben; daneben hat er seine epigenetische Theorie für die Säugetiere konkreter entwickelt. Was die Metamorphosenlehre betrifft, so ist zu beachten, daß diese Lehre aus den später entstandenen morphologischen Theorien ent- sprang, also schon aus diesem Grunde nicht von WOLFF hätte begründet werden können. Daß die grünen Blätter, die Kelch- und Blumen- 158 VII. Kapitel. blätter morphologisch alle gleich sind, hat man eigentlich niemals entdeckt; denn das wird als direkte Tatsache von jedem Beobachter wahrgenommen, und tatsächlich finden sich bereits bei CAESALPIN Stellen, welche darauf hinweisen, daß er die genannten Gebilde für gleichartig angesehen hat. Auch WOLFF entdeckte nicht, daß die verschiedenen Formen der Blätter, morphologisch betrachtet, alle Blätter sind, sondern nahm dies als gegeben, als selbstverständlich hin. Ihm handelte es sich nur darum, aus seiner wesentlichen Kraft zu erklären, wie diese Gebilde entstehen; und weil sie morphologisch gleich sind, deshalb behauptete er für sie eine der oben von uns er- örterten ähnliche Entstehungsart'). Aber gerade die Art, wie er dieBlätter entstehen läßt, zeigt deutlich, wie fremd ihm der Begriff der Morpho- logie und deshalb auch der der Metamorphose der Pflanzen geblieben ist. GOETHE hat sich später auf WOLFF als seinen Vorgänger in der Lehre von der Metamorphose der Pflanzen berufen, aber wohl nur deshalb, weil auch von ihm — wie von den Naturphilosophen über- haupt — die Unterscheidung zwischen Morphologie als reiner Struktur- lehre und Embryologie als Lehre von den Veränderungen der Struktur oder den Kräften, die die Veränderungen hervorbringen, nicht durch- geführt ist. Praktisch war GOETHE Morphologe, in der Ausdrucks- weise aber Embryologe; wie die Naturphilosophen pflegt er z. B. statt des Satzes: »das Kronenblatt ist dem Kelchblatt morphologisch gleich« zu sagen: »das Kronenblatt strebt dem Kelchblatt gleich zu sein« und glaubt nun, damit jene Gleichwertigkeit tiefer erfaßt und klarer ausgedrückt zu haben als durch ihre bloße Konstatierung. WOoLFrF würde das Wort »streben« nur im Sinn eines wirkenden, meß- baren Dranges gebrauchen. Die Tatsache, daß GOETHE sich auf WOLFF beruft, spricht also nicht dafür, daß ihre Auffassungen der Pflanzen im wesentlichen ähnlich sind; die Metamorphosenlehre hat WOLFF nur indirekt begründet. Wolffs Bedeutung. WOLFFs Entwicklungslehre ist keine induktive Theorie, sondern es sind, wie SACHS zutreffend bemerkt, unvollkommen beobachtete Tatsachen von ihm in die Theorie hineingedrängt worden. Durchdrungen von der Unzulänglichkeit der Evolution, entwickelte WOLFF eine epigenetische Theorie; dabei hat er sich aber nicht die Mühe gegeben, alles zu seiner Zeit Bekannte kritisch zu sichten und auf Tatsachen hinzuweisen, welche die Evolution unmöglich machen. ı) Vgl. besonders die Schrift über die Bildung des Darmkanals. Analoge Gründe führten ihn da, außer dem Tatsachenmaterial, zu seiner Keimblätterlehre. Begründung der epigenetischen Theorien. 159 Der Grund, den er dagegen anführt, ist der, daß sie keine Er- klärung der Entwicklung biete, sonst weist er sie immer nur als nutz- loses Ding, als Fabel u. dgl. zurück. Daß sich gegen seine eigene Theorie der gleiche Einwand geltend machen läßt, hat er natürlich nicht erkannt. Im großen und ganzen ist er mit seiner Theorie nicht über LEIBNIZ hinausgelangt; er hat durch seine Behandlung der Ent- wicklungsfrage nur eine andere Seite des Problems — vielleicht die wichtigere — in den Vordergrund gerückt als die Evolutionisten. Die Zeitgenossen haben WOLFF wenig beachtet. HALLER nahm seine Abhandlung günstig auf, blieb aber gleichwohl seinem Evolutio- nismus auch weiterhin treu. BONNET erwähnt WOLFF nur einmal in einer Anmerkung. Sonst wüßte ich nicht, daß WOLFFs Theorie irgend nachhaltiger eingewirkt hätte. Die Dunkelheit des Stils war — nament- lich zu seiner Zeit — nicht der letzte Grund seines Mißerfolgs; dessen wichtigste Ursache liegt aber in der Unfähigkeit der damaligen Forscher, die tieferen und selbständigeren Ansichten WOLFFS zu begreifen. Trotz dieser ungünstigen Verhältnisse ist seine » Theorie von der Generation« in drei Auflagen (1759, 1764, 1774) erschienen. Erst nachdem das Interesse an der Embryologie in Deutschland unter dem Einfluß der Naturphilosophie geweckt war, und nachdem S. F. MECKEL eine embryologische Abhandlung WOLFFs, aus dem Lateinischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen, neu heraus- gegeben hatte (1812), fand die WOLFFsche Theorie mehr Beachtung und Verständnis, das dann durch die tüchtigen Arbeiten PANDERs und namentlich BAERs wesentlich gefördert worden ist. Wenn wir die Frage zu beantworten suchen, ob WOLFF dazu bei- getragen hat, die (phylo-)genetische Auffassung der Organismen zu verbreiten, so glaube ich, daß man höchstens von einer indirekten Wirkung sprechen kann. Er selbst stand der genetischen Auffassung fremd gegenüber und hat auf andere Forscher erst dann einzuwirken begonnen, als die genetische Philosophie bereits allgemein verbreitet war. Die WOLFFsche Entwicklungslehre hat zwar auch die Anfänge der Entwicklung, die Befruchtung, berücksichtigt, aber ohne sie noch weiter, bis zu den Eltern, zurückzuverfolgen. Das Problem, warum die Kinder den Eltern, besonders warum sie beiden Eltern ähnlich sind, hat er durch seine Theorie nicht gelöst, wie diese denn überhaupt außerstande war, das Formproblem in der Entwicklung zu erklären. Doch auch die Evolutionisten mußten vor dem Problem der Ähn- lichkeit zwischen Kindern und Eltern und besonders vor dem der Bastardierungen ratlos stehen bleiben. Namentlich BONNET kommt 160 VII. Kapitel. Begründung der epigenetischen Theorien, in seinen Schriften wieder und wieder auf die Erscheinungen der Kreuzung zu sprechen, ohne aber mehr als die flachste Erklärung derselben bieten zu können. Erwähnenswert ist dabei, daß sich die Erkenntnis von der begrenzten Möglichkeit der Kreuzungen erst all- mählich entwickelt hat. ARISTOTELES läßt ganz verschiedene Gat- tungen durch Kreuzung Nachkommen hervorbringen, und selbst LINNE war sich über die Sache noch nicht klar, als er die Möglichkeit zugab, daß die Arten durch Kreuzung der Gattungen untereinander "entstanden seien. Exakte Versuche über die Kreuzungen hat erst JOSEPH GOTTLIEB KÖLREUTER, Professor in Karlsruhe (17 33—ı 806), durchgeführt. Er zählte die Menge von Pollenkörnern, die zu einer vollständigen Befruchtung nötig ist, wies hin auf den Wind, die Erschütterung, die Insekten und die reizbaren Staubgefäße, welche bei der Befruchtung eine Rolle spielen; auch kreuzte er verschiedene Pflanzenarten untereinander und erzielte auf diese Art eine Reihe von Bastarden. Seine Versuche wurden von CHRISTIAN KONRAD SPRENGEL (1750— 1816) fortgesetzt, welcher die natürlichen Kreuzungen, wie sie unter den Pflanzen vorzukommen pflegen, verfolgt hat. Er erkannte bereits (1793), daß die Organe der Pflanzen, trotzdem diese über- wiegend Zwitter sind, doch sehr oft auf die gekreuzte Befruchtung berechnet sind. Er drückt dies durch folgenden Satz aus: »Da sehr viele Blumen getrennten Geschlechts und wahrscheinlich ebensoviele Zwitterblumen Dichogamisten sind, so scheint die Natur es nicht haben zu wollen, daß irgendeine Blume durch ihren eigenen Staub befruchtet werden solle«'). Die Dichogamie, d. h. die Erscheinung, daß bei manchen Pflanzen das Pistill einer zwitterigen Blüte später reif wird als die Antheren, hat SPRENGEL selbst entdeckt; auch studierte er die Rolle der Insekten bei der Befruchtung der Pflanzen eingehender als KÖLREUTER. Diteratur. NEEDHAM, TURB., New microscopical discoveries. London 1745. —— Observations upon the generation, composition and decompostion of animal and vegetable substances. London 1749. WOLFF, C. F., Theoria generationis. Halae 1759. Über die Bildung des Darmkanals im befruchteten Hühnchen. Übersetzt von J. F. Mecker. Halle 1812. KÖLREUTER, J. G., Vorläufige Nachricht von einigen das Geschlecht der Pflanzen be- treffenden Versuchen und Beobachtungen. Karlsruhe 1761—1766. SPRENGEL, CHR. KoNr., Das neu entdeckte Geheimnis der Natur in Bau und Befruch- tung der Blumen. Berlin 1793. ı) Das neu entdeckte Geheimnis usw., S. 43. VIIE- KAPITEL. Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. Wenn man bisher Nachforschungen anstellte über den Ursprung der genetischen Naturphilosophie, worunter man heute außer LAMARCKS Lehren wesentlich nur den Darwinismus und die diesem entsprungenen Theorien begreift, so hob man gewöhnlich sporadische Äußerungen der verschiedensten vordarwinischen Autoren hervor und stempelte dann diese Autoren zu Darwins Vorläufern. So wurden ARISTOTELES, EMPEDOKLES, DESCARTES, BONNET, BUFFON, GEOFFROY, GOETHE, TRE- VIRANUS und noch viele andere als Vorläufer DARWINS gepriesen. Ein solches Verfahren ist offenbar unhistorisch und unberechtigt: man muß die philosophischen Strömungen beachten, unter denen dieser oder jener Autor gearbeitet hat, und erst durch deren Kritik kann man zu einer Vorstellung darüber gelangen, ob und inwiefern dieser oder jener Autor »Vorläufer« unserer Ideen war. Es läßt sich zwar nicht bestreiten, daß bereits vor Beginn des 18. Jahrhunderts Gedanken laut geworden sind, die für die genetische Auffassung der Natur sprechen; doch kann von einer historischen Philo- sophie vor der zweiten Hälfte des ı8. Jahrhunderts nicht die Rede sein. Vereinzelte genetische Gedanken sind es z. B., wenn die Art so de- finiert wird, daß zu ihr Individuen gehören, die von einem gemeinsamen Elternpaar abstammen (und nicht etwa Individuen, welche einander morphologisch ähnlich sind), oder wenn die Ursache der Erscheinungen: nicht mehr in dem logischen Grund, sondern in einer andern ihnen vorangehenden Erscheinung gesehen wird, oder wenn man behauptet, der Mensch sei nicht von Gott erschaffen, sondern spontan, oder aus irgendeinem Tier entstanden. Gegenüber solchen vereinzelten Anschauungen behauptet die gene- tische Philosophie, daß man alle Erscheinungen in ihrer histo- rischen Entwicklung, und nur so, betrachten müsse; daß die Geschichte, Rädl, Geschichte der biologischen Theorien, I. Teil. 11 ce VII. Kapitel. die Erforschung der Ursachen, die Zurückführung des Bestehenden auf das zeitlich Vorangehende die wesentliche Aufgabe der Wissenschaft ausmache. Diese Philosophie, der eine zweimalige Blütezeit beschieden war — einmal gegen Ende des ı8. Jahrhunderts, dann wieder in den siebziger Jahren des ı9. Jahrhunderts — ist aus mehreren Quellen ent- sprungen. Erstens hat die empiristische englische Philosophie gewirkt, welche durch BACON begründet wurde und in LOCKE und HUME ihren Höhepunkt erreichte. Diese Philosophen haben die Franzosen be- einflußt, und der Übergang von der englischen Empirie zum franzö- sischen Historismus der CONDILLAC, BUFFON und ROUSSEAU läßt sich leicht verfolgen. Sodann haben sich, besonders in der Biologie, die geologischen Spekulationen, welche immer historisierend waren, Geltung verschafft. Endlich kommt LEIBNIZ in Betracht, und zwar deshalb, weil er den Begriff der Entwicklung in die Philosophie eingeführt hat. Dieser Begriff war zwar der historischen Auffassung zunächst noch fremd, aber durch den Empirismus wurde er bald historisch umge- deutet. Es ist beachtenswert, daß die Biologie ziemlich spät und erst unter der Einwirkung der Philosophie historisch geworden ist. Aus der Biologie selbst haben nur Embryologie und Paläontologie, beide jedoch in auffallend schwachem Grade, den Historismus beeinflußt; mehr hat das an LEIBNIZ anknüpfende Bestreiten der Natürlichkeit der Art gewirkt. Im großen und ganzen sind drei Perioden in dem Fortschritte des genetischen Gedankens innerhalb der Biologie zu unterscheiden: zuerst die Periode der französischen Aufklärung, in der ROUSSEAU und LAMARCK in der Ausbildung der genetischen Philosophie am weitesten gelangten; zweitens die Periode der deutschen Naturphilosophie, welche ein ver- zweifeltes Ringen zwischen dem Glauben an die Konstruierbarkeit der Welt aus dem bloßen Verstande und dem Glauben an die empirisch erkannte Entstehung und Veränderung von allem darstellt; und drittens die Periode DARWINs, der den Empirismus in seine Konsequenzen treibt. In diesem Abschnitte sollen die Faktoren, welche die genetischen Spekulationen im ı8. Jahrhundert gefördert haben, eingehender be- handelt werden. Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 163 1. Die Theorien der Erde bis auf Cuvier., a) Geologische Theorien. Obwohl die Theorien der Erde wesentlich ein nichtbiologisches Problem betreffen, wollen wir sie doch in einer kurzen Übersicht kenn- zeichnen, da sie ein für die genetische Auffassung der lebenden Natur geschichtlich wichtiges Element ausmachen. Wenn wir die Entwicklung der geologischen Theorien mit der- jenigen der biologischen vergleichen, so überrascht uns die Wahr- nehmung, daß man die Erde stets geschichtlich zu erklären versucht hat, während diese Erklärungsweise auf die organische Welt erst ziemlich spät angewendet wurde. Man könnte dabei sogar auf die Heilige Schrift hinweisen: nach ihr erhält die Erde ihre jetzige Be- schaffenheit allmählich, während die Organismen plötzlich in die Erscheinung treten. Weder DESCARTES noch LEIBNIZ ist es ein- gefallen, über den Ursprung der Organismen nachzuforschen, über die Entstehung der Erde haben sie aber ausführlichere Theorien ent- wickelt. Wichtig ist ferner, daß geologische Spekulationen den Bio- logen einen mächtigen Antrieb boten, die genetische Methode auf ihr Gebiet anzuwenden: ich erinnere nur an den bekannten Einfluß LYELLs auf DARwIin. Das Problem wird nicht durch Hinweis auf den Druck religiöser Vorstellungen beseitigt. Denn einmal haben auch die religiösen Vor- stellungen eine empirische Grundlage, sonst würden sie sich nicht so hartnäckig halten; und zweitens würde ein origineller Kopf schon den Weg gefunden haben, um diesem Druck zu entgehen, man hat ihn jedoch eben lange nicht gesucht. Ich kann mir den Unterschied zwischen geologischer und biologischer Spekulation nur durch die besondere Auffassung des Organismus erklären, wie sie sich dem Gemüte fort- während aufdrängt. Der Organismus wird als ein Ganzes, als eine Einheit begriffen, und infolgedessen wurde als das Hauptproblem das Verhältnis der Teile zum Ganzen betrachtet, nicht seine Entstehung. Wie man nicht nach der historischen Entstehung der Ellipse fragt, ebensowenig fragte man nach der historischen Entstehung eines Tieres. Die unregelmäßigen Berge und Täler der Erde dagegen, ihre vielfach sich krümmenden Flüsse, ihre so verschiedenartig gestalteten Küsten, alles das drängt nicht mit solcher Kraft zu der Auffassung der geologischen Verhältnisse der Erde als einer Einheit. 11* 164 VII. Kapitel. Trotzdem haben schon G. BRUNO und PARACELSUS die Erde als Einheit, als Organismus begriffen, und erst später ist diese Auf- fassung zurückgedrängt, wenngleich niemals vollständig unterdrückt worden. Unter den neuen Forschern hat N. STENO (1669), der uns bereits bekannte Histologe, einen sehr selbständigen und der Wahrheit nahe- kommenden Versuch gemacht, die geologischen Verhältnisse der Erde in eine Theorie zusammenzufassen. Aus der Wahrnehmung der schichtenartigen Lagerung der Gesteine zog er den Schluß, daß, da jede neue Gesteinsschicht sich nur auf fester Unterlage habe bilden können, immer die untere Schicht schon fest gewesen sein müsse, ehe die nächstobere sich darauf niederschlug. Alle Schichten sind von zwei parallelen, ursprünglich horizontal gerichteten Ebenen ein- geschlossen. Findet man geneigte oder senkrechte Schichten, so müssen diese entweder durch unterirdische Stöße oder durch Aus- waschung und Zusammenbruch nachträglich aus ihrer Lage gebracht worden sein. Bei solchen Einbrüchen blieben einzelne Schichten horizontal, andere stellten sich schief oder aufrecht, und wieder andere krümmten sich im Bogen. Daraus kann man die Ungleichheiten der Erdoberfläche, die Entstehung von Bergen und Tälern, von Hoch- ebenen und Niederungen erklären. Die Gebirge sind allmählich ge- worden, haben also nicht schon am Anfang der Dinge existiert. Die geologische Geschichte von Toskana teilt STENO in sechs Perioden, die er in Übereinstimmung mit der Überlieferung der Heiligen Schrift zu bringen sucht. In der ersten Periode war Toskana wie die ganze übrige Erde mit Wasser bedeckt und setzte die primitiven, aus gleich- artigem Material bestehenden versteinerungslosen Gesteinsschichten ab. In der zweiten liefen die Gewässer ab; die Erde wurde trocken und eben. Die dritte Periode war durch die Entstehung von Unebenheiten ausgezeichnet. Die in der vierten Periode eintretende Sintflut ließ auf den Bergen Sedimente und Versteinerungen zurück. Während der fünften Periode blieb die Erde mit ihren weit ausgedehnten Ebenen trocken; die Flüsse trugen große Mengen von Sedimenten ins Meer und erzeugten dadurch neues Land (z. B. das Nildelta). In der sechsten Periode endlich hat sich durch Wassererosion und Feuereinwirkung die Umwandlung der Ebenen in Täler und Berge vollzogen. Man bemerkt leicht, daß STENO in diesen Spekulationen eine ganz andere logische Methode befolgt, als sie der damaligen Biologie eigen war. Hier sind lauter genetische Beziehungen hervorgehoben: der Wasserstrom war Ursache der Täler; eine Schicht konnte sich nur Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 165 bilden, nachdem die untere bereits fest geworden war; die Schief- lagerung der Schichten ist sekundär entstanden, usw. Demgegenüber fragte man in der Biologie nicht, wie das oder jenes entstanden sei, sondern lediglich danach, welche Eigenschaften ein Organismus habe. Der Organismus wurde als Ganzes betrachtet, und nun das Verhältnis der Teile zum Ganzen erforscht. Es wäre aber verfehlt, den Grund für diese biologische Betrachtungsweise in dem Einfluß der christlichen Lehre von der plötzlichen Erschaffung der Dinge zu suchen; denn dann hätte diese Lehre — wohlgemerkt, zu einer Zeit, da die Religion alle Gebiete des Geisteslebens beherrschte — doch auch STENO, der be- kanntlich später Bischof wurde, abhalten müssen, für die allmähliche Entstehung der Erde einzutreten. Nach DESCARTES (Principia philosophiae, 1685) sind alle Sterne, Planeten und Trabanten ursprünglich glühende Sonnen, entstanden aus einer in wirbelnder Bewegung begriffenen Materie. Bei der Ab- kühlung umgab sich die Erde mit einer starren Rinde, unter der das Zentralfeuer fortbrannte; dieses ist die Ursache der vulkanischen Er- scheinungen. Ähnliche Vorstellungen von der Entstehung der Erde hat auch LEIBNIZ (Protogaea, 1693) entwickelt. Die englischen Geologen jener Zeiten, TH. BURNETT (1681), JOHN WOODWARD (1695), WILLIAM WHISTON (1696), bemühten sich, die Lehre von der geologischen Entstehung der Erde mit dem Glauben an die Sintflut und an das Paradies zu versöhnen; andere, wie der Biologe JoHN RAY (1693), ROB. HOORE (1705) und ANT. VALLISNIERI (1721), sprachen mehr oder weniger nüchterne Ansichten über die Geschichte der Erde aus. Auf solchen Grundlagen haben sich dann die geologischen Theorien des 18. Jahrhunderts, namentlich die Lehren BUFFONs und CUVIERs, entwickelt. An dieser Stelle sei noch erwähnt, daß LAPLACE sich in seiner »Exposition du systeme du monde« (1796), die bekanntlich die Theorie von der allmählichen Entstehung des Sonnensystems enthält, ausdrücklich auf BuUFFONs geologische Theorien beruft. Übrigens ist es nicht nötig, für die LArLAcEsche Theorie solche historische Momente im einzelnen aufzuzeigen; die KANTsche wie die LarLAcEsche Theorie gehören einer Zeit an, in der die histo- rischen Spekulationen in voller Blüte standen. b) Paläontologische Theorien. Auch durch Vorstellungen, wie sie allmählich über die ausgestor- benen Organismen auftauchten, ist die genetische Naturauffassung vorbereitet worden. Es ist leicht begreiflich, daß die Entdeckung 166 VII. Kapitel. vorweltlicher Tiere auf den Gedanken einer Geschichte der Organismen- welt führen mußte; desto interessanter ist es, daß die genetische Methode sich auf diesem Gebiete keineswegs wie in der Geologie gleich anfangs geltend machte, — sie wurde eben durch den Begriff des Organismus als eines in sich geschlossenen Ganzen lange und stark gehemmt. Darum ist auch erst ziemlich spät, zur Zeit CUVIERs, die Ansicht hervorgetreten, daß die vorweltlichen Tiere andern Arten als die jetzt lebenden angehören. ; In der Biologie haben sich jene beiden Theorien allmählich heraus- gebildet, die unter den Namen Evolutionstheorie und generatio spontanea das Ende des ı7. und das ganze ı8. Jahrhundert beherrschten. Diese Theorien hatten nun ihr Analogon in den paläontologischen Vorstel- lungen. Die Nachfolger des ARISTOTELES, welche die unvollkommenen Tiere durch eine besondere Kraft aus der unorganischen Materie hervor- gehen ließen, haben gleicherweise auch die fossilen Überreste als die Wirkung einer vis plastica auf das Gestein erklärt. Wie nun die Evolu- tionisten die vis plastica in der Biologie bestritten und die Entstehung der Organismen ausschließlich aus andern Organismen behaupteten, so haben auch die Paläontologen dieser Richtung die Entstehung der Fossilien aus dem Gestein bekämpft und nachzuweisen gesucht, daß diese früher ebenfalls lebendige Wesen waren und als solche ver- steinert sind. Beide Anschauungen haben sich bis weit ins 18. Jahr- hundert hinein erhalten und einander den Rang streitig gemacht. Der erste, der in der Neuzeit einen organischen Ursprung der Ver- steinerungen lehrte, war LEONARDO DA VINCI (1452—1513); ihm folgten ALESSANDRO DEGLI ALESSANDRI (1461— 1523) undFRACASTORO (1483—1553). Weder ihre Ansicht, noch die dieser ähnliche Auf- fassung BERNH. PALIssYs (1510— 1590), welcher die Entstehung von versteinertem Holz, die Mineralisation von Fischen und Konchylien behauptete, haben irgendwelchen Einfluß auszuüben vermocht. Doch traten solche Anschauungen im Verlaufe des 17. Jahrhunderts immer häufiger hervor. Durch LEIBNIZ (1693), RAY (1693), WOODWARD (1695) und eine Reihe anderer Forscher erlangte die Erkenntnis vom organischen Ursprung der Versteinerungen allgemeinere Verbreitung. Als Kuriosum sei nebenbei die Vorstellungsweise JOH. JAC. SCHEUCHZERS (1672— 1733) angeführt, welcher die Versteinerungen zuerst (1702) für Naturspiele (naturae ludibria) ausgab, später aber sie unter dem Ein- fluß WOODWARDSs als organische Überreste betrachtete. In der Schrift »Piscium querelae et vindiciae« (1708) läßt er die fossilen Fische darüber klagen, daß sie in der Sintflut untergegangen sind, und daß Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 167 sie der Mensch nun nur für Naturspiele halten will. Gegen sein Lebens- ende meinte er das Glück der Entdeckung »des Beingerüsts eines verruchten Menschenkindes, um dessen Sünde willen das Unglück über die Welt hereingebrochen sei«, gehabt zu haben; doch hat später CUVIER nachgewiesen, daß dieser »homo diluvii testis« das Skelett eines Riesensalamanders war. Neben den Theorien vom organischen Ursprung der Fossilien hat sich die Richtung, welche in ihnen bloße Naturspiele sah, lange erhalten. Solchen Anschauungen huldigten fast alle älteren Autoren, und von den neueren der Engländer MARTIN LISTER (1638—1711), der die fossilen Muscheln noch für Mineralien hielt; sie sind ihm »lapides sui generis«, den Tierformen durch irgendeine uns unbekannte Ur- sache aufs Ungefähr hin nachgebildet, ohne jedoch deren Gestalt voll- kommen zu erreichen. Ein anderer Engländer, ED. LHWYD, äußerte (1699) in einem Briefe an RAY die Hypothese, daß die Versteine- rungen durch Befruchtung der Gesteine mit dem Samen der Tiere entstehen: es sollen sich von lebenden oder vielleicht auch von bereits faulenden Tierüberresten kleine Samenteilchen absondern, die dann von aufsteigenden Wasserdämpfen in die Luft geführt, mit dem Regen- wasser in die Poren der Felsen und Berge eindringen, wo sie unter Benutzung der vorhandenen Substanz ausgebrütet werden. Daß diejenigen Autoren, welche die ehemalige organische Natur der Fossilien bestritten, ihrer genetischen Auffassung ganz fremd gegenüberstanden, ist a priori begreifich. Doch auch die andern, denen es nicht mehr zweifelhaft war, daß die Fossilien einmal die Meere und das trockene Land belebt haben, blieben trotzdem genetischen Gedanken unzugänglich. Sie nahmen vielmehr durchgängig an, daß die Tiere durch die Sintflut, also auf einmal, untergegangen sind. Sehr beachtenswert ist auch, daß die Unkenntnis der Art als der natürlichen Einheit sie zum Verständnis dessen, daß uns in den Fos- silien andere als die jetzt lebenden Tiere entgegentreten, nicht kommen ließ. Diese Erkenntnis konnte erst Platz greifen, nachdem man be- gonnen hatte, die Arten der Tiere konkret zu studieren. So sehen wir, daß auch BUFFON, der doch für die Geologie dem genetischen Prinzip volle Geltung zugesteht, sich die Vorstellung, die vorwelt- lichen Tiere seien andere als die jetzt lebenden, nicht angeeignet hat. Wo etwa die Spur solcher Auffassung bei ihm vorkommt, da handelt sich’s ihm doch nur um den Korrelationsgedanken: er behauptet nicht direkt, daß früher andere Tiere gelebt hätten als jetzt, seiner Ansicht nach haben die Hitze der Erde und andere Verhältnisse die Entstehung 168 VII. Kapitel. des Menschen erst zu einer gewissen Zeit ermöglicht. Bei ihm ent- scheidet die Geologie, nicht die Paläontologie. Erst PETER CAMPER sprach (1787) in einem Briefe an PaLLAs klar den Gedanken aus, dal gewisse Spezies durch die Erdkatastrophen vernichtet worden sind, und führte einige Säugetiere zum Beweis dafür an. CUVIER hat dann den von ihm aufgestellten Satz, daß alle (oder fast alle) ausgestorbenen Tiere andern als den jetzt lebenden Arten angehören, konsequent durchzuführen gesucht. Überraschend ist, wie wenig Interesse an den ausgestorbenen Tieren die Biologen des ı8. Jahrhunderts gezeigt haben. Noch BONNET tut ihrer in seinen dickleibigen Büchern kaum mit einem Wort Erwähnung, und LinNE versteht unter Fossilien noch Gesteine, nicht Organismen. Ja CUVIER sogar, der für die Erweiterung der paläontologischen Kenntnisse doch so viel geleistet hat, berichtet über die Paläontologie im Zusammenhange mit Geologie und Mineralogie, nicht mit der Biologie. Überhaupt muß zugegeben werden, daß die Paläontologie bis auf CUVIER die genetische Auffassung der Organismenwelt, wenn überhaupt, nur sehr wenig gefördert hat. Man sollte eherdas Gegenteil erwarten, da gerade die Paläontologie diejenige Wissenschaft ist, welche die Geschichte der Organismen ex professo zu behandeln hat. Als lehrreiches Beispiel von dem Einfluß der Geologie auf die genetische Auffassung der Tiere seien am Schlusse dieses Kapitels die Spekulationen de MAILLETS angeführt. BENOIT DE MAILLET (1662— 1738), ein Zeitgenosse LEIBNIZens und NEWTONs, war lange Zeit französischer Generalkonsul in Ägypten. Seine Beobachtung der Wirkungen des Nilstromes auf die Boden- beschaffenheit scheint ihm die Veranlassung zu seinen Theorien ge- boten zu haben. Die uns hier interessierende Schrift ist 1715 und 1716 verfaßt, 1735 gedruckt, jedoch erst 1748 unter dem Pseudonym »Telliamed« (Anagramm von DE MAILLET) veröffentlicht. In der Einleitung führt DE MAILLET dem Leser einen indischen Philosophen Telliamed und einen französischen Missionar vor, die sich über die vorliegenden Fragen unterhalten. Telliamed will zu seinen _ Ansichten durch die Untersuchung der Natur gekommen sein. Er habe die Substanz der Erde anatomisch zerlegt und so ihre Bestand- teile sowie ihre Verbindungen erkannt; dadurch sei er auf den wahren Ursprung der von uns bewohnten Weltkugel, wie und wodurch sie gebildet wurde, geführt worden. Die eigentliche Abhandlung zerfällt in sechs Gespräche, von denen die drei ersten die geologische Ent- Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 169 wicklung der Erde, die drei letzten die Entstehung der Organismen behandeln. Ursprünglich soll die Erde vollständig mit Wasser bedeckt gewesen sein, und erst allmählich habe sich die Wasserhülle vermin- dert, so daß Festländer und Inseln daraus emportauchen konnten. Eine allgemeine Sintflut wird bekämpft und die von Moses geschilderte Überschwemmung als lokales Ereignis angesehen. Das vierte Ge- spräch beschäftigt sich vorzugsweise mit der Natur der Versteine- rungen, für deren organischen Ursprung Telliamed mit Entschiedenheit eintritt. Nach ihm entsteht alles Leben im Meere. Als das Meer von seinen Ufern zurücktrat, gerieten einige Meerestiere auf das noch feuchte Land; ihre Lebensweise paßte sich der trocknen Luft an, und so sind Landtiere aus ihnen geworden. Ein Flugfisch gerät an das Ufer. Infolge der Trockenheit zerfallen seine Schuppen in Fäserchen und werden zu Federn, so verwandelt sich der Fisch in einen Vogel. Auch die Menschen lebten ursprünglich im Meere und gewöhnten sich erst allmählich (in den Polargegenden) an die Lebensweise auf trocknem Lande. Die Eskimos bilden die Übergangsstufe von den Meeres- zu den zivilisierten Menschen. DE MAILLET war nicht Biologe, und der Begriff der Organisation war ihm völlig fremd; sonst hätte er doch solche Beispiele wie das von der Umwandlung der Fische in Vögel nicht anführen können. Natürlich hatte er auch keine Vorstellung vom Begriffe der Art; sonst hätte er die Verwandlungen der Tiere nicht mit solcher Leichtfertig- keit für möglich gehalten. Lehrreich ist sein Phantasiegebilde trotz- dem, da es uns handgreiflich vor Augen führt, wie die geologischen Theorien das biologische Denken beeinflußt haben. 2. Entwicklung der genetischen Philosophie im 18. Jahr- hundert. England ist das Vaterland der genetischen Ideen: sie haben hier mit LOCKE eingesetzt und sind dann auch hier durch CH. DARWIN in ihr Extrem getrieben worden. Wir wollen die Entwicklung der empiristischen Philosophie, sofern sie die Biologie beeinflußt hat, in diesem Abschnitt kurz darstellen. Vielleicht wird es gut sein, an dieser Stelle die SCHOPENHAUERsche Untersuchung über die Kausalität zu erwähnen; sie kann uns in die großen Gegensätze, wie sie hinsichtlich der Auffassung der Organismen- welt bestehen, am besten einführen. SCHOPENHAUER glaubt mit KANT und noch zuversichtlicher als KAnT, daß dasjenige, was wir ursächliche 170 VII. Kapitel. Verbindung der Erscheinungen nennen, ein dem Denken eigentümliches Prinzip ist, so daß wir völlig außerstande sind, uns etwas ohne Ur- sache Vorhandenes vorzustellen. Es müssen aber nach SCHOPEN- HAUER — und das ist sein Fortschritt über KANT hinaus — vier Arten ursächlicher Verbindung anerkannt werden. Als erste nennt SCHOPEN- HAUER ratio essendi, den Grund des Seins; wir können als Bei- spiele dafür anführen: das Dreiek ist der Grund, daß seine Winkel 180° betragen; die pflanzliche Nahrung ist der Grund, daß die Wieder- käuer einen zusammengesetzten Magen haben. Wo immer wir einige Erscheinungen zu einem Begriffe verbinden (wie die Eigenschaften des Dreiecks oder des Wiederkäuers) und nun eine dieser Eigenschaften (Summe der Winkel, Pflanzennahrung) auf jenen Begriff beziehen, sprechen wir vom Grunde. Die zweite Form der Ursache ist nach SCHOPENHAUER der Grund des Geschehens, ratio fiendi: die auf- gehende Sonne ist die Ursache des Tages; der Schnee der Polar- gegenden ist die Ursache der weißen Farbe der dort wohnenden Tiere, usw. Davon unterscheidet SCHOPENHAUER die ratio agendi (Motiv der Handlung) und die ratio cognoscendi (Grund der Er- kenntnis), für uns an dieser Stelle belanglos. Die ratio essendi ist die Grundlage der Verstandeserkenntnis, die ratio fiendi die der empiri- schen Erkenntnis. Auf die Geschichte der Biologie angewendet, erscheinen jene beiden Begriffe der Ursache — ratio essendi und ratio fiendi — als die Grundprinzipien einmal der rationalistischen und sodann der empiri- stischen Auffassung. Seit der Reformation der Wissenschaft bis auf die deutsche Naturphilosophie faßte man in der Biologie die Ursache vorwiegend als Grund des Seins, als logischen Grund auf. Daneben hat sich jedoch von BACoN an auf verschiedenen Wegen die andere Auffassung der Ursache in die Biologie eingeschlichen; diese ist dann durch DARWIN zur ausschließlich herrschenden geworden. Diejenige Naturauffassung, welche ihre Systeme auf der »ratio essendi« aufbaut, wird allgemein rationalistisch genannt; die andere, welche den Grund des Geschehens als Ursache denkt, heißt empi- ristisch. Man darf sich aber durch den Namen nicht irreführen lassen und einem Rationalisten etwa vorwerfen, daß er die Erfahrung nicht anerkennt. Beiderlei Arten von Systemen können erfahrungs- gemäß sein und zugleich über die Erfahrung hinausgreifen. Das Wort »empiristisch« findet hier deshalb Anwendung, weil die Ursache direkt aus der Erfahrung, nicht aus dem Begriffe hergenommen wird. Wenn CUVIER sagt, die Lebensweise eines Raubtiers sei der Grund dafür, | Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 171 daß es so scharfe Klauen und Zähne hat, so hat er selbstverständlich diesen Satz aus den Tatsachen, aus der Erfahrung abgeleitet. Diese ursächliche Verbindung der Lebensweise und der Struktur geschieht hier jedoch nur im Begriffe: nicht erst die Lebensweise des Raubtiers und dann seine Klauen, sondern Lebensweise und Klauen sind im Begriffe notwendig miteinander verbunden; und darum schließe ich, aus Ver- standesgründen, aus dem Vorhandensein der Lebensweise auf die Klauen; das ist rationalistisch. Wenn ich aber den Schnee der Polar- gegenden als Ursache der weißen Farbe der dortigen Füchse betrachte, so istesnur die Erfahrung, nicht aber die verständige Einsicht, welche mich nötigt, hier ursächliche Verknüpfung anzunehmen: es überrascht mich nicht, wenn ich auf dem Schnee auch anders als weiß gefärbte Tiere sehe. Im ersten Falle kann ich das Verhältnis von Ursache und Folge(rung) umkehren, im zweiten nicht: wohl kann der Bau eines Fleischfressers als Ursache seiner Lebensweise angesehen werden; man kann aber nicht behaupten, daß die weißen Polarfüchse Ursache der Farbe des Schnees sind. Die Reformation der Wissenschaft hat sich auf rationalistischem Boden vollzogen; die Wissenschaft ist dieser Philosophie bis auf DARWIN treu geblieben. Die empiristische oder genetische Richtung setzte gleich mit dem Anfang der Neuzeit ein und gewann je weiter desto größere Be- deutung, namentlich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts; zu allgemeiner Anerkennung ist sie jedoch erst durch DARWIN gelangt. Wenn man nach den Quellen sucht, aus denen die empiristische Philosophie geschöpft hat, so findet man deren mehrere: zunächst die englische empiristische Philosophie, namentlich BACON, LOCKE, HUME, SPENCER; sodann die Einführung der geschichtlichen Auffassung in die soziologischen Probleme (VıCo), an die sich in der zweiten Hälfte des ı8. Jahrhunderts die geschichtlichen Spekulationen ROUSSEAUsS und später HERDERs anschlossen; drittens der Evolutionsgedanke der LEIB- Nizschen Philosophie, der in seiner unter den Einwirkungen der eng- lischen Philosophie erfolgten historischen Umdeutung auch für die genetische Philosophie bedeutungsvoll wurde. Sehr wichtig war ferner der Einfluß der geologischen Spekulationen, welche, wie wir nach- gewiesen haben, gleich anfangs genetisch formuliert wurden und später, mit der Paläontologie verknüpft, die geschichtliche Auffassung der Biologie sehr gefördert haben. Endlich weise ich auf die Theorien der embryologischen Erscheinungen hin, die per analogiam auf den Ge- danken der Entwicklung der gesamten Organismenwelt führten. Bekanntlich hat FRAncıs BACoN (1561— 1626) als erster die empi- 172 VII. Kapitel. ristische Methode ausführlicher besprochen und als einzig wahre Grund- lage der Wissenschaft empfohlen, indem er die Unfähigkeit des Verstandes, durch sich selbst die Wahrheit zu entdecken, und die Wichtigkeit methodisch durchgeführter Experimente betonte. Am einflußreichsten unter den Empirikern war der Engländer J. LOCKE (1632— 1704), und zwar hat er auf die Biologen durch seinen Versuch, die Entstehung der Vorstellungen zu erklären, nachhaltig gewirkt. LOCKE bestreitet die Annahme DESCARTES’, daß wir ein- geborene Vorstellungen der Grundprinzipien haben, und behauptet, daß sie durch Empfindungen in den Verstand gelangen. Der Verstand ist wie ein Stück reines Papier, das durch die Erfahrung beschrieben wird. Die Erfahrung besteht in äußeren (sensation) oder inneren (reflexion) Empfindungen, von denen sich die ersteren auf äußere, die letzteren auf innere Vorgänge beziehen. Der Verstand nimmt also die Eindrücke der Umgebung passiv auf, und so kommen einfache Vorstellungen zustande; diese kombinieren sich im Gehirn und rufen so zusammengesetzte Vorstellungen hervor. LOCKE klassifiziert die zusammengesetzten Ideen, indem er sie in Modi, Substanzen und Re- lationen unterscheidet, doch hat dies für uns geringere Bedeutung; nur daran sei erinnert, daß er sich mit dieser Analyse noch völlig auf rationalistischem Boden (in dem oben von uns angedeuteten Sinne) befindet. Ganz empiristisch ist aber die Annahme, daß der Verstand ursprünglich leer ist und sich erst durch die Einwirkung der Um- gebung allmählich zu dem entwickelt, was er bei einem verständigen Menschen ist. Dieser Gedanke LOCKEs gewann sehr bedeutenden Einfluß auf die nachfolgenden Spekulationen. Seinen Inhalt hat der englische Philosoph HUME konsequent weiterverfolgt, während die formale Seite der LockEschen Philosophie auf die französischen Denker (CoN- DILLAC) einwirkte. Diese letztere Einwirkung war für die Biologie historisch wichtiger; HUME war zu tief, um im ı8. Jahrhundert (in Frankreich) begriffen zu werden. DaAvıD HUME (1711— 1776) teilt alle Wissenschaften ein in abstrakte und nichtabstrakte; der einzige Gegenstand der ersteren ist die Quan- tität und die Zahl, die letzteren haben es mit der Wirklichkeit zu tun. All unser Nachdenken über die Wirklichkeit beruht auf der Beziehung von Ursache und Wirkung; nur durch diese Relation kommen wir zur Sicherheit über Gegenstände. Das Verhältnis zwi- schen Ursache und Wirkung ist also für die Wissenschaft von höchstem Interesse. Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 173 HUME versucht nun, diese Relation psychologisch zu analysieren. Alle unsere Gedankentätigkeit — so behauptet er mit LOCKE — be- steht nur in der Kombinierung, Umstellung, Vergrößerung oder Ver- kleinerung des Erfahrungsmaterials; die Erfahrung gibt uns elementare Empfindungen, und der Verstand baut aus ihnen die Vorstellungen. Die Frage nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung formuliert er unter Hinweis auf die angeführte Unterscheidung so: wird dieses Verhältnis direkt erfahren oder erst in unserem Verstande kombiniert ? Erfahre ich z. B. durch die Betrachtung des Feuers direkt, daß ich mich daran verbrennen kann, ohne es früher versucht zu haben, oder nicht? HUME antwortet, daß wir in keinem einzigen Falle, weder in äußerer noch in subjektiver Beobachtung, diese Erfahrung direkt machen, sondern immer nur wahrnehmen, daß eine Erscheinung auf die andere folgt, nicht aber, warum eben diese und keine andere. »Wir erfahren nur die wiederholte Verknüpfung (conjunction) der Objekte, ohne jedoch jemals imstande zu sein, etwas wie den Zusammenhang (connection) zwischen ihnen zu begreifen.e Die Vorstellung des not- wendigen Zusammenhanges zweier Erscheinungen fehlt uns ebenso wie einem Blinden die Vorstellung der Farben. Wird der Begriff der Ursache nicht erfahren, so muß er, wenn das angeführte Dilemma als zutreffend anerkannt wird, aus der Kombination der erfahrenen Eindrücke gebildet werden. HUME glaubt, daß wir zu ihm infolge der Gewohnheit gelangen: wenn wir wiederholt sehen, daß eine Erscheinung auf die andere folgt, so schließen wir, durch die Macht der Gewohnheit bestimmt, daß es immer so sein muß. Von dem Satze: Ich habe gefunden, daß diese Erscheinung immer mit dieser Wirkung verbunden war — schreite ich zu der Folgerung weiter: Ich sehe voraus, daß diese Erscheinung und andere ihr ähnliche mit ähnlichen Wirkungen verbunden sein werden. Das ergibt sich aus der Tatsache der Assoziation der Vorstellungen. Danach ruft die Vorstellung von einem Dinge die lebhafte Vorstellung eines andern, das wir früher oft mit ihm verknüpft sahen, hervor und be- wirkt, daß wir das Erscheinen dieses zweiten Dinges auch jetzt er- warten. Durch mehrmals wiederholte Erfahrung wird unsere Er- wartung einer bestimmten Wirkung befestigt, unser Glauben daran verstärkt. An diesen HuMEschen Lehrsätzen will ich zweierlei hervorheben: erstens die Überzeugung, welche er gleich am Anfang der Unter- suchung ausspricht, daß alle nichtmathematischen Wissenschaften ausschließlich auf der Relation von Ursache und Wirkung beruhen. 174 VII. Kapitel. In diesen Worten ist zum erstenmal der genetische Standpunkt als der für die nichtmathematischen Wissenschaften, also auch für die Biologie, einzig mögliche betont worden. Für HUME existiert die ab- strakte Wissenschaft nicht, die nach möglichst tiefen und allgemeinen Begriffen sucht, nach Begriffen, welche die gesamte Erfahrung aufzu- nehmen imstande wären, sondern ihm liegt lediglich daran, Anschau- ungen zu bilden unter gänzlicher Beiseitesetzung der Verstandeskraft, seine Vorstellungen nur dem Naturgeschehen anzupassen und — er war ein praktischer Mann — dieses Geschehen vorauszusagen. Allerdings muß hinzugefügt werden, daß in der Fassung, die HUME dem Kausalitätsproblem gegeben hat, das historische Moment noch nicht mit der Deutlichkeit hervorbricht, wie später. Wenn HUME be- hauptet, daß jeder Kausalzusammenhang in der (zeitlichen) Folge der Erscheinungen besteht, so ist er sich noch nicht der Konse- quenz bewußt, daß dann in Hinsicht auf die konkreten Dinge keine andere Wissenschaft als Geschichte möglich ist, nämlich eine Geschichte der astronomischen, der chemischen, der physikalischen, der biologischen und anderer Erscheinungen. Innerhalb der Biologie hat man, indes ohne sich auf HUME zu berufen, diese Folgerung ge- zogen: die organische Naturwissenschaft ist durch den Darwinismus tatsächlich zu einer Naturgeschichte gemacht worden. HUMEs Philosophie beeinflußte namentlich die Engländer; auf dem Kontinent, in Frankreich, hat man HUME zwar sehr gepriesen, aber kaum begriffen. Erst KANT wies auf das Wesen seiner Problemstellung hin und brachte ihn in Deutschland mehr zur Geltung. Auf die Bio- logen hat HUME nicht direkt Einfluß ausgeübt; soviel mir bekannt, hat sich nur T. H. HUXLEY mit ihm kritisch beschäftigt, doch berück- sichtigt auch dieser Biologe dabei mehr allgemein philosophische als biologische Probleme. Überraschend ist die Art, wie sich die französischen Anhänger LOCKEs dessen empiristische Methode zurechtgelegt haben. LOCKE hat in Frankreich teils direkt — durch seine bald ins Französische übersetzten Schriften —, teils indirekt durch seinen Anhänger ABBE DE CONDILLAC (1715— 1780) gewirkt, der unter anderm ROUSSEAUS genetische Methode, ferner auch die Anschauungen BONNETsS und BUFFONS beeinflußte. CONDILLAC hat DESCARTES’ eingeborene Ideen eifrig bekämpft und die LOCkEsche Theorie, daß die Seele vor der Erfahrung nur eine Tabula rasa ist, verteidigt. Nun ist es beachtens- wert, wie er die Erfahrung »phylogenetisch« zu erklären versucht: er macht die Annahme einer lebendigen Statue, welche zuerst ohne jede Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 175 Erfahrung dasteht, und läßt sie dann durch ein Sinnesorgan nach dem andern Erfahrungen über die Außenwelt sammeln; so wird die Tabula rasa allmählich beschrieben. In ähnlicher Weise stellt er in seiner Untersuchung über den Ursprung der menschlichen Kenntnisse (1777) die Theorie auf, daß die Sprache des Menschen sich allmählich ent- wickelt hat: wohl glaubt er, daß Adam und Eva die Sprache von Gott gelernt haben, doch nimmt er weiter an, daß sich nach der Sintflut ein Kinderpaar verirrt haben möge, das dann von selbst sprechen lernte, indem es sich allmählich gewöhnte, mit gewissen Lauten einen bestimmten Sinn zu verbinden, — auf diesem Wege sei die Sprache entstanden. Die naive Methode CONDILLACs, die Entstehung einer Tatsache dadurch zu »erklären«, daß man sie in (ziemlich willkürliche) Elemente zerstückelt, die dann wieder »allmählich« miteinander verbunden werden, wirkte geradezu ansteckend. ROUSSEAU bekennt in der Einleitung zu seiner preisgekrönten Schrift, daß ihm CONDILLAC den Gedanken der (historischen) Einwirkung der Zivilisation auf die Natur des Menschen eingeflößt habe. BUFFON benützte ebendieselbe Methode, um die »Natürlichkeit« seines Systems nachzuweisen, wie bereits oben bemerkt worden ist. BONNET mußte sich gegen die Verdächtigung wehren, daß seine psychologischen Arbeiten nur Paraphrasen von CONDILLAC seien. So findet man, daß das Thema von der allmählichen Ent- stehung dieses oder jenes Dinges in der zweiten Hälfte des ı8. Jahr- hunderts eins der am meisten bearbeiteten war. Übrigens ist die von CONDILLAC eingeführte Methode bis auf den heutigen Tag die Methode der Darwinisten geblieben. Es darf nicht unbemerkt bleiben, daß die Konsequenzen der FHUME- schen Skepsis geradezu gegen die historische Spekulation gerichtet werden können. Denn HUME behauptet, daß wir durch keine noch so vollkommene und tiefgeschöpfte Analyse einer Tatsache deren Ursache entdecken können, daß es also absolut unzulässig ist, die Seele in ihre Elemente (Empfindungen, welche durch verschiedene Sinnesorgane vermittelt werden, Vorstellungen usf.) zu analysieren und nun in diesen Elementen die Ursache, d. h. das historisch Frühere, aus dem sich die Seele entwickelt habe, zu sehen; vielmehr könne die Geschichte, also auch die Geschichte der Seele, nur durch Erfahrung festgestellt werden; wir seien demnach außerstande, über die früheren Ent- wicklungsstadien der Seele Bestimmtes zu behaupten, wenn nicht irgendwo verzeichnet stehe, wie diese zu ihrer Zeit waren. Nach HuME führt kein vergleichendes Studium auf die Kenntnis der 176 VII. Kapitel. Geschichte, weder in der Psychologie noch — und das sei besonders hervorgehoben — in der Biologie. Das haben die französichen Denker nicht beachtet; darum wurde oben schon bemerkt, daß sie LOCKE und HUME nur nach der formalen Seite gefolgt sind. Ein anderes philosophisches Element für die historische Auffassung der Erscheinungen wurde durch den italienischen Juristen und Philo- sophen GIOVANNI BATTISTA VIco (1668—1744) in die Spekulation eingeführt. VICo, um 22 Jahre jünger als LEIBNIZ, ist durch den Juristen H. GROTIUS beeinflußt, der auch auf LEIBNIZ eingewirkt hat; er forschte nach dem Ursprung der Gesetze (1725). Wenn das Prinzip der Gerechtigkeit dem menschlichen Geist eingeboren und infolgedessen unwandelbar ist, wie kommt es dann, so fragt er, daß die Gesetze sich auch bei demselben Volke im Laufe der Zeiten ver- ändern? Er gibt die Antwort: die Menschen haben eine eingeborene Idee der Gerechtigkeit, diese hat sich jedoch in den Gesetzen der frühesten Völker nur unvollkommen realisiert; erst im Laufe der histo- rischen Entwicklung kommt sie zu einem angemessenen Ausdruck, indem die rohe Natur der Völker zuerst streng ist, dann sanft, ja weichlich wird; dies letztere hat dann den Verfall zur Folge, worauf die Entwicklung von neuem anhebt. Man erkennt den Gegensatz des rationalistischen VICO gegen die Empiristen: bei Vıco entwickelt sich der angeborene, also bereits früher dagewesene, jedoch eingewickelte Gerechtigkeitssinn, bei den späteren Empirikern wird die neu entstehende Tatsache aus andern, früheren zusammengeflickt. Wieder eine andere historisierende Methode brachte JEAN JACQUES ROUSSEAU (1712— 1788) zur Geltung. Bekanntlich begann ROUSSEAU seine schriftstellerische Laufbahn mit der originellen Lösung einer von der Akademie zu Dijon gestellten Preisaufgabe (1750); man beachte dabei, wie im Thema der Preisaufgabe, den (historischen) Einfluß der Wissenschaften und Künste auf die Zivilisation zu prüfen, das rege Interesse der damaligen Zeit an historischer Auffassung der (soziolo- gischen) Probleme zum Ausdruck kommt. Ganz auf genetischem Standpunkte steht auch die zweite Abhandlung ROUSSEAUS: »Über den Ursprung und die Ursachen der Ungleichheit unter den Menschen, und ob sie durch das natürliche Gesetz berechtigt ist« (1755). ROUSSEAU klagt darüber, daß die Gesellschaft den Menschen im Laufe der Jahr- hunderte verdorben habe; der ursprüngliche — natürliche — Mensch war frei, auf sich selbst angewiesen, in jeder Hinsicht gut und naiv; allmählich ist er aber zu einem gesellschaftlichen Wesen geworden, Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 177 und Hand in Hand damit entstanden die Eifersucht, der Kampf der Menschen gegeneinander, die Unterjochung der einen durch die andern und die gesellschaftlichen Unterschiede. Die Kultur hat also den Menschen verdorben; wenn wir uns von dem Elend der heutigen Zustände befreien wollen, müssen wir wieder ursprüngliche Menschen, Naturmenschen werden. ROUSSEAU hat auf die schöne Literatur Frankreichs, Deutschlands und Englands eingewirkt. Dasjenige, was seine Erörterungen charakte- risiert: die raffinierte Hochachtung der Naivität, die Sehnsucht nach dem Naturzustand des Menschen, die bewußte Empfindsamkeit, über- haupt eine sehr unnatürliche Natürlichkeit, gab in der Poesie bald den Ton an. In der Wissenschaft hat ROUSSEAU den Entwicklungsgedanken nicht wenig gefördert, freilich im Gegensatze zu CONDILLAC und zu Vıco. Bei letzterem ist die Entwicklung die Entfaltung von etwas Bestimmtem: der angeborene Keim für Gerechtigkeit entwickelt sich. CONDILLAC macht die Erfahrung abhängig von den Einwirkungen der Außenwelt. Bei ROUSSEAU aber wird die ursprünglich gute Anlage durch die geschichtliche Entwicklung verdorben; er hält für möglich, den Einfluß der Geschichte von dem Menschen abzustreifen und ihn wieder in den ursprünglichen, den Naturzustand zu versetzen. So ist durch die erwähnten Denker, insbesondere durch LOCKE, CONDILLAC, VIco und ROUSSEAU, die genetische Philosophie zur Geltung gebracht worden. Bald begann man damit, die abstrakten Theorien dieser Philosophen sich möglichst konkret vorzustellen. Bezeichnend ist die damals entstandene und vielbesprochene Fabel, daß ein wilder Mensch in den Wäldern Sachsens aufgetaucht sei, der auf allen vieren herumlief und von Honig lebte (Honig als Nahrung ist für das ı8. Jahrhundert charakteristisch). Die schwierigste Auf- gabe bei seiner Zähmung soll darin bestanden haben, ihn aufrecht gehen zu lehren. Zu diesem Zweck habe man Gewichte an seine Schultern gehängt, um seiner Neigung, vornüber zu fallen, entgegen- zuwirken'). Unter den Deutschen hat (vor HERDER) LESSING (1729—1781), der Ästhetiker und Philosoph, den Sinn für die genetische Natur- auffassung geweckt. Er erklärte, daß überall Entwicklung vorhanden ist: jetzt habe die Seele fünf Sinne, ihm sei sehr wahrscheinlich, daß ı) Vgl. darüber: Lorp MoNBODDo, »Origin and Progress of language«, 2. ed. I. S. 186, und seine »Ancient Metaphysics« 1779, III. S. 74; ferner Moscatı, »Delle corporee differenze essenziali che passano fra la struttura de’ bruti e la humana«. Milano 1770. Diese Schrift hat u.a. KAnT kritisiert. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. 1. Teil. I2 178 VII. Kapitel. sie früher’einmal weniger gehabt hat und später einmal noch neue be- kommen wird; ursprünglich seien die Menschen in ihren Handlungen einem dunkeln Instinkt gefolgt, allmählich habe aber der Verstand Einfluß auf den Willen gewonnen, endlich werde er ihn mit seinen klaren Vorstellungen ganz beherrschen. Außer LESSING haben HERDER und KANT die geschichtliche Methode zur Anerkennung gebracht, doch soll von ihnen erst später die Rede sein. Literatur. JOHN LoCKE, Essay on human understanding (1670). London 1689—1690. Davıp HUME, Treatise on human nature. London 1739—1740. Enquiry concerning human understanding. 1748. Über Hume siehe unter andern: < T. H. Huxtey, Hume. London 1879. T. G. MasaryK, Die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Skepsis von HuME. Prag 1883 (böhmisch). CONDILLAC, DE, Trait@ des sensations. Paris 1754. De l’origine et de Progres du language in: Essai sur l’origine des connaissances humaines. Paris 1717. G. B. Vıco, Prineipi di una scienza nuova. Napoli 1725. J. J. Rousseau, Discours sur les sciences et les arts. 1750. Lessing, G. E., Erziehung des Menschengeschlechts. 1778. 3. Der Übergang vom Leibnizschen Entwicklungsgedanken zur genetischen Auffassung der Natur. LEIBNIZ stand den genetischen Theorien fremd gegenüber, so fremd, daß er als Grundprinzip seiner Philosophie die These aufgestellt hat, daß es Entstehung von etwas Neuem nicht gibt, sondern nur Ent- wicklung des bereits Vorhandenen; das Wort Entwicklung — evo- lutio — bedeutet ihm und seinen Zeitgenossen eben den Gegensatz zur Entstehung, also das Gegenteil dessen, was man heute darunter versteht. Trotzdem hat LEIBNIZ die genetische Auffassung in hohem Maße gefördert, namentlich durch seine Lehre von dem Stufengange der Wesen und durch seine Betonung der embryonalen Entwicklung. Den Stufengang der Wesen hat er zwar nur begrifflich gefaßt; als aber später die embryologischen und paläontologischen Theorien in die naturphilosophischen Spekulationen hineinzuspielen begannen, war es ganz natürlich, daß man jenen Stufengang in die Zeit projizierte und als historische Entwicklung deutete. Wie von selbst kam der Gedanke, diesen Stufengang, diese natür- liche Verwandtschaft der Wesen graphisch darzustellen. Schon ROBERT Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 179 MORISON (1620— 1683) bietet in seiner Monographie über die Umbelli- feren (1672) eine graphische Darstellung der Verwandtschaftsbezie- hungen unter den Pflanzen‘). BONNET, der den Stufengang der Wesen ebenso einseitig wie LEIBNIZ aufgefaßt hat, zeigt (1779) auf dem Titel- blatt seiner naturphilosophischen Schriften?) eine Stiege, auf deren untersten Stufen Kristalle liegen, auf den höheren Pflanzen und niedere Tiere, auf der höchsten Stufe aber steht der Mensch. P. S. PALLAS be- kämpft®) in der Einleitung zu seiner Charakteristik der Zoophyten (1766) die als einreihige Stufenleiter aufgefaßte Anordnung der Tiere und führt zum erstenmal das Bild eines sich vielfach verzweigenden Baumes ein, dessen Äste nicht ineinandergreifen. Auch TREVIRANUS spricht*) von einer baumförmigen Verzweigung des Tierreichs (1835), doch läßt er die Äste ineinander übergehen und aus ihren Verbindungen neue Äste hervorsprossen, so daß seine bildlich nicht dargestellte Vor- stellung mehr an ein Netz erinnert. LinnE stellte sich die natürlichen Verwandtschaften der Pflanzen als Orte auf einer geographischen Karte vor, und GISEKE (1792) ver- suchte in seinen Vorlesungen diesen Gedanken graphisch darzustellen, er konstruierte eine Landkarte der natürlichen Pflanzenordnungen’). Der Leser sieht, wie das Streben nach graphischer Darstellung der Verwandtschaften ganz unhistorisch, nur begrifflich war. Ohne Zweifel haben diese Bemühungen aber der historischen Naturauffassung den Boden bereitet; schon bei LAMARCK hat die graphische Darstellung diese Bedeutung. Auch die LEipnizsche Lehre von der Entwicklung, namentlich der embryonalen, war einer genetischen Naturbetrachtung günstig. LEIBNIZ hat aus seiner Philosophie die Möglichkeit direkter Einwirkung eines Dinges auf ein anderes verbannt; eine äußere Ursache will er nicht anerkennen: jede Monade lebt ihr eigenes Leben und spiegelt nur das Leben der andern Monaden in sich, ohne von ihnen beeinflußt zu werden. Unmöglich konnte der Gedanke in dieser extremen Fassung bei den Schülern LEignizens lange Geltung behalten; denn es läßt sich keinem Denker auf die Dauer zumuten, die immer wieder vor Augen tretenden Ursachen und Wirkungen als etwas Unnatürliches, 1) Nach J. Sachs, S. 73. 2) CEuvres I, 1779. 3) Elenchus zoophytorum, Hagae 1766. 4) Erscheinungen und Gesetze I. S. 29. 5) Diese Angabe entnehme ich P. DecanporLLes und K. SPRENGELS Grundzügen der wissenschaftl. Pflanzenkunde. Leipzig 1820. S. 138. 12* 180 VIIH. Kapitel. als Schein zu betrachten, dem keine Realität zukomme. Dazu kam noch, daß neben LEIBNIZ auch LOCKE mit seinem Empirismus Ein- fluß gewann. Infolgedessen versuchte man, bewußt oder unbewußt, die Lehren beider miteinander zu versöhnen: man nahm die LEIBNIZsche Entwicklungstheorie an, faßte sie aber je länger je mehr als Folge der empirischen Dinge; so ist aus der Evolution allmählich Ge- schichte geworden. Bereits bei BONNET haben wir den schüchternen Versuch einer Materialisierung der Evolutiongedanken wahrnehmen können: wie jedes Individuum sich aus dem Keim entwickelt, so entwickelt sich nach ihm auch die ganze organische Welt; die Erde entstand früher, als Moses lehrt, sie hat mehrere Revolutionen durchgemacht, und die Organismen standen in jeder Epoche in einer Wechselbeziehung zu den Verhältnissen der Erde. Auch der Philosoph JEAN BAPTISTE RENE ROBINET (1735 — 1820) ist durch die Materialisierung der LEIBNIZschen Ideen auf den Gedanken der historischen Entstehung der Organismen geführt worden (1761). Er lehrt in Übereinstimmung mit LEIBNIZ, daß alle Naturdinge einen kontinuierlichen Stufengang bilden, und daß alles belebt ist. Nach ihm gibt es nur ein Naturreich, das Tierreich — auch die Sterne, die Sonne, die Erde und die Planeten sind Tiere; die Natur kennt keine Gruppen, wie die Klassen, Ordnungen, Gattungen und Arten, sondern nur In- dividuen in kontinuierlich aufsteigender Reihe. Es findet nicht nur eine embryonale Entwicklung — Evolution natürlich, nicht Epigenese — statt, sondern auch eine phylogenetische, und es hat Zeiten ge- geben, in denen ganz andere Organismen als unsere unvollkommeneren Ahnen die Erde bevölkerten. Die Entwicklung kommt durch einen inneren Drang der Natur zustande; die Organismen sind mehr oder weniger mißlungene Versuche der Natur, ihr Ideal — einen voll- kommenen Menschen — zu bilden; in dem jetzigen Menschen hat die Natur ihr Ideal noch nicht erreicht; es werden Zeiten kommen, wo die Schönheit der Venus mit derjenigen des Apollo in einem In- dividuum vereinigt ist. Es sei ferner auf die Schriften LEssınGs und HERDERs hingewiesen, die an andern Stellen dieses Werkes Erwähnung finden; in ihnen hat der LEIBNIzsche Evolutionsgedanke bereits eine klare geschicht- liche Form angenommen, wenn auch sein rationalistischer Ursprung noch deutlich zu erkennen ist. Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 181 Literatur. Morıson, RoB., Plantarum umbelliferarum distributio nova. Oxonii 1672. ParLas, O. S., Elenchus zoophytorum. Hagae 1776. ROBInET, JEAN BAPTIsTE REN£, De la nature. 2 Vols. Amsterdam 1761—1763. Consid@rations philosophiques de la gradation naturelle des formes de l’tre, ou les essais de la nature qui apprend ä faire l’'homme. Paris 1767. %. Der Bruch mit der Religion. Sehr oft, fast immer wird die genetische Auffassung der Natur in einen Gegensatz gegen die Kirche oder gegen die christliche Religion bzw. Tradition gebracht. Uns kann hier vorwiegend nur die historische Seite des Verhältnisses dieser beiden Erscheinungen interessieren, ob- wohl natürlich eine solche Beurteilung zu keinem Resultat führen würde, wenn wir nicht den tatsächlichen Inhalt der christlichen Lehre einerseits und den der biologischen Philosophie anderseits ins Auge fassen. Was das sachliche Verhältnis der kirchlichen Lehren zur Wissen- schaft, zur Biologie insbesondere, anbetrifft, so kann dieses Ver- hältnis offenbar nicht anders denn als Gegensatz aufgefaßt werden. Nicht nur die einzelne Lehre, sondern die Methode, das Wesen der Wissenschaft ist der in der Kirche herrschenden Anschauung entgegen- gesetzt. Die ganze Wissenschaft ist doch auf dem Gedanken der freien und individualisierten Forschung basiert; das Prinzip, das Wesen der Kirche ist aber gerade die Negation der individuellen Freiheit. Die kirchlichen Dogmen, die Lehre von den Mysterien, von der Autorität der Bibel oder irgendeines Papstes, die Lehre von der Kirche als der Vermittlerin zwischen Gott und dem einzelnen Menschen, dies alles muß die Wissenschaft ex professo bekämpfen: die Dogmen muß sie durch die Erkenntnis ersetzen, sie darf keine absoluten Ge- heimnisse anerkennen, sie darf nicht auf die Autorität irgend jemandes hin etwas als wahr hinnehmen, und sie nötigt jeden zu selbständiger Erfahrung und zu selbständigem Denken. Deshalb ist jeder Versuch, Wissenschaft und Kirche miteinander zu versöhnen, als unnatürlich und aussichtslos abzuweisen. Aber auch die Meinung derjenigen, welche, wie heutzutage so viele Darwinisten, fürchten, daß die Zer- störung irgendeiner speziellen wissenschaftlichen Theorie die Wissen- schaft der mißachteten Kirche überantworten werde, muß als engherzig betrachtet werden. Die Wissenschaft ist kein Kind der Kirche, sie hat sich ihre Daseinsberechtigung gleich anfangs im Kampfe gegen die Kirche erringen müssen, und sie kann auch in Zukunft niemals 182 VII. Kapitel. kirchlich werden. Wohl aber muß man, wie heutigestags, so auch in der Geschichte der Wissenschaft zwischen dem Glauben an die kirchlichen Lehren und dem Glauben an Gott unterscheiden. Die Naturforscher des ı5. und 16. Jahrhunderts waren allgemein für Gott begeistert, und ihre Arbeiten, z. B. die VAN HELMONTSs, MALPIGHIs, SWAMMERDAMs, lesen sich fast wie originelle Gebete eines Weisen, der mit seinen auf die Natur bezüglichen Worten die Allmacht und Weisheit Gottes preist und seine demütige Liebe ihm -offenbart. Gleichwohl sind manche Naturforscher in jenen Zeiten von der offiziellen Kirche verfolgt worden. VESALIUS konnte sich nur im freisinnigen Padua der Angriffe der Orthodoxen erwehren; VAN HELMONT wurde wegen seiner Zweifel an einigen Wundern von den Jesuiten verfolgt, und M. SERVETUS ist sogar auf CaLvıns Veranlassung verbrannt worden. Doch waren die Verfolgten nicht Männer, die, jedes religiösen Bedürfnisses bar, mit der Religion nichts zu schaffen haben wollten, sondern sie glaubten nur nicht an das von der Orthodoxie Gebotene; ihre religiöse Überzeugung war jedenfalls ebenso tief wie die ihrer Verfolger. Damit soll allerdings nicht bestritten werden, daß bereits am Ende des 17. Jahrhunderts sich unter den Naturforschern eine Art Gleich- gültigkeit gegen die Religion zu verbreiten begann; ein solcher Geistes- zustand zeigt sich z. B. bei N. STENO, dem späteren Bischof, in seinen jüngeren Jahren. Gewiß hat hierbei u. a. der Umstand mächtig mit- gewirkt, daß sich die Naturforscher (die Ärzte) als eine Kaste gegen- über den Priestern ansahen, eine Kaste, die ihre eigenen Interessen — die Wissenschaft — den dogmatisch kirchlichen Streitigkeiten gegenüber zu vertreten habe. In der ersten Hälfte des ı8. Jahrhunderts trat der religiöse Indiffe- rentismus bei den Naturforschern deutlicher zutage. REAUMUR, LINNE, BONNET und teilweise auch HALLER sprechen zwar noch von Gott, sie glauben gewiß an ihn und bewundern die Natur als sein Werk, doch liegt Gott ihnen nicht mehr im Herzen, sondern im Verstande; sie operieren mit ihm wie mit einer wichtigen, ja sogar der wichtigsten Naturmacht, aber sie lieben ihn nicht, wenn ich mich so ausdrücken darf. Nachdem das Herz sich von Gott losgesagt hatte, war es dem Verstande leichter, seine Nichtexistenz oder wenigstens seine praktische Unbrauchbarkeit nachzuweisen; dies hat die Aufklärung getan. Sie kam aus England herüber auf den Kontinent: VOLTAIRE und MONTES- QUIEU reisten nach England; NEWTON, LOCKE, HUME bildeten die Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 183 beliebteste Lektüre in Frankreich, und der Empirismus der beiden letzteren wurde von den allzu einseitig konsequenten Franzosen in den Materialismus umgedeutet. Es läßt sich dokumentarisch belegen, wie dieser Empirismus auf genetische Gedanken über die Organismenwelt geführt hat; am besten ist dies an D. DIDEROT zu sehen. DENIS DIDEROT (1713— 1784) hat zuerst (1746) die Organismen‘) für Geschöpfe Gottes erklärt, welche durch ihr Dasein und ihre Zweck- mäßigkeit Zeugnis geben von der Existenz des Schöpfers. Die er- habenen, gedankenreichen Auseinandersetzungen MALEBRANCHES und DESCARTES’ seien nicht so geeignet, den Materialismus zu erschüttern, als eine einzige Beobachtung MALPIGHIs, des großen Mikroskopikers. Bald nachher drückt sich DIDEROT jedoch viel skeptischer aus”). Das Eingreifen Gottes in den Gang der Natur anzunehmen, hieße den Knoten durch die Hand eines Wesens zerhauen lassen, nur um dadurch einen noch schwerer lösbaren Knoten zu erhalten. Dem Einwurf, daß die Vollkommenheit der heutigen Organismen einen intelligenten Schöpfer voraussetze, begegnet er mit der Frage, wer uns denn nachgewiesen habe, daß nicht einige der zuerst gebildeten Tiere ohne Kopf, andere ohne Beine, diese ohne Magen, jene ohne Herz gewesen seien. Man könne annehmen, daß diese Mißgeburten und fehlerhaften Verbindungen der Materie nach und nach verschwunden seien, und daß nur diejenigen sich behauptet hätten, die in Bau und Mechanismus keinen wesent- lichen Widerspruch in sich trugen und fähig waren, durch sich selbst zu bestehen und sich fortzupflanzen. Von den Tieren könne man sich ins Weltall erheben und dort ebenso eine Unzahl verfehlter Ge- stirne annehmen. In seinen »Pensees sur l’interpretation de la nature« (1754) geht DIDEROT kritisch und erweiternd auf die von MAUPERTUIS und BUFFON vertretene Hypothese ein, daß Pflanzen und Tiere aus belebten klein- sten Teilchen zusammengesetzt seien. Die Natur scheine sich darin zu gefallen, so wiederholt er die herrschende Anschauung, denselben Mechanismus in unendlich verschiedener Weise zu variieren und die Gattungen der Wesen nicht eher aufzugeben, als bis sie in den In- dividuen alle Möglichkeiten der Erscheinung erschöpft habe. Dann spinnt er den bereits von MAUPERTUIS ausgesprochenen Gedanken über die Entwicklung der Arten weiter: Wie im Pflanzen- und Tierrreich I) Pens&es philosophiques. Paris 1746. 2) Lettres sur les aveugles. 1749. 184 VII. Kapitel. ein Wesen sozusagen anfängt, wächst, besteht, in Verfall gerät und vergeht, könnte es sich nicht etwa ebenso mit den Arten überhaupt verhalten? Wenn der religiöse Glaube uns nicht lehrte, daß die Tiere, so wie wir sie sehen, aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen sind, und wenn der geringste Zweifel über ihren Anfang und ihr Ende erlaubt wäre, könnte nicht der seinen Vermutungen nach- hängende Denker auf den Verdacht kommen, daß die Tierheit seit aller Ewigkeit ihre eigentümlichen Elemente unter und in der allge- meinen Masse des Stoffes gehabt habe; daß diese Elemente, weil die Möglichkeit dazu vorlag, sich vereinigten; daß das embryonale aus diesen Elementen hervorgegangene Wesen eine unendliche Reihe von Organisationen und Entwicklungen durchgemacht habe; daß nach und nach in ihm Bewegung, Sinnesempfindung, Vorstellungen, Gedanken, Überlegung, Gewissen, höhere Gefühle, Leidenschaften, Verständigungs- zeichen, Mienen, Töne, artikulierte Laute, eine Sprache, Gesetze, Wissenschaften, Kunst hervortraten; daß Millionen von Jahren zwischen jeder dieser Entwicklungsstufen vergingen, und daß vielleicht noch andere Entwicklungen folgen werden? DIDEROT schließt seine Pensees mit einem impertinenten Gebet: »Ich bitte dich, o Gott, um nichts in dieser Welt; denn der Lauf der Dinge ist durch sich selbst notwendig, wenn du nicht bist, oder durch deinen Befehl, wenn du bist. Ich weiß nicht, ob du bist; aber ich werde denken, als ob du in meine Seele sähest, und werde handeln, als ob ich vor dir stände.« Auch der berüchtigte Verfasser des »Systeme de la nature« (1770), HOLBACH, ist von materialistischen Prämissen zu der Meinung eines natürlichen Ursprungs des Menschen gekommen. Er erklärt die Frage, ob die Arten unzerstörbar seien oder vergänglich gleich den Indivi- duen, für gleichgültig. Es mangle die Erfahrung, und da könne der Naturbeobachter nicht getadelt werden, wenn er annehme, das Men- schengeschlecht sei im Laufe der Zeit allmählich zu dem geworden, was es heute ist, oder es habe von Ewigkeit her bestanden. Der erste Fall sei unbedingt der wahrscheinlichere; und da die Erde einen Prozeß der Umwandlung durchlaufe, so dürfte der Urmensch von dem gegenwärtigen mehr verschieden sein als der Vierfüßer vom In- sekt. Man könne also annehmen, daß die Arten sich verändern, wie es im Weltall, wo Sonnen erlöschen, überhaupt keine dauernden Formen gebe. Auf diese Art hat man sich allmählich daran gewöhnt, in den wissenschaftlichen Problemen ohne Gott sich zu behelfen oder, um mich Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. 185 zutreffender auszudrücken, die wissenschaftlichen Fragen im Gegen- satze zum Glauben an Gott zuzuspitzen. Bald ist aus den schüchternen, feinen Anspielungen der grob-konsequente Kampf gegen alles Geistige geworden. Der Arzt DE LAMETTRIE (1709—ı751) führte in einer Reihe von Schriften die DESCARTESsche Behauptung von der maschinellen Struktur des menschlichen Körpers konsequent durch, indem er zu- gleich die Überflüssigkeit einer spiritualistischen Seele im Körper be- hauptete. Seine Schriften haben keine innere wissenschaftliche Bedeu- tung; sie zielen alle nur auf die Negation Gottes und der Seele und suchen Beweise dafür zu erbringen, so gut es eben geht. Bemerkens- wert wäre nur dies, daß DE LAMETTRIE wie später LAMARCK als treibendes Prinzip der Pflanzen die Wärme (oder eher den Äther) an- nimmt, worin die vegetative Seele der Pflanzen bestehen soll. Ähn- lich grob konsequent-materialistisch wie DE LAMETTRIE hat CABANIS (1757— 1808) geschrieben; von ihm stammt die Auffassung, daß die Tätigkeit des Gehirns der des Magens durchaus ähnlich ist, mit dem einzigen Unterschiede, daß die Nahrungsmittel des ersteren Sinnes- eindrücke, seine Exkremente Gedanken sind. Es ist aus historischen wie aus sachlichen Gründen wichtig, den Entwicklungsgang der Gedanken DIDEROTS zu verfolgen; man beachte, daß er zuerst nicht das Dilemma kennt: »entweder hat Gott die Tiere geschaffen, oder sie sind allmählich entstanden«, sondern er stellt der Erschaffung das Herauskristallisiertwerden der Formen entgegen (auch DE LAMETTRIE nimmt an, daß der Mensch direkt spontan entstanden ist)‘). Erst später und offenbar unter dem Einflusse der herrschen- den Philosophie hat er sich für die allmähliche Entstehung entschieden. Man beachte auch, wie sich das weiter gefaßte Dilemma bis auf den heutigen Tag erhalten hat: geschaffen oder natürlich entstanden. Dieses Dilemma ist nur historisch, d. h. nur als Gegensatz gegen eine bestimmte kirchliche Lehre, nicht sachlich begründet; tatsächlich be- steht kein Gegensatz zwischen »geschaffen« und »natürlich entstan- den«, wenn man das Wort »geschaffen« nur nicht zu eng faßt. Be- deutet das Geschaffenwerden so viel wie »Emanation«, so ergibt sich kein solches Dilemma. Wenn man nun im Auge behält, daß im modernen Darwinismus der Gegensatz zwischen jenen beiden Worten eine sehr bedeutende Rolle spielt, so wird seine nahe historische’ Ver- wandtschaft mit der Philosophie der Enzyklopädisten und — last not ı) Systeme d’Epicure, $. 223. 186 VII. Kapitel. Entstehung der genetischen Auffassung der Organismenwelt. least — seine Beziehung zum kirchlichen Glauben deutlich: zum großen Teile wurde er nur als Gegensatz gegen letzteren begründet und behauptet. Bereits im Zeitalter der Aufklärung zeigt sich der Fortschritt, den das Interesse an der lebendigen Welt gemacht hat. Zur Zeit DES- CARTES’ hat man zwar auch die Organismen studiert, das Hauptinter- esse nahmen aber Mathematik und Physik für sich in Anspruch. Bei LEIBNIZ war dann ein kleiner Fortschritt zu bemerken, doch ist auch er praktisch weit mehr Mathematiker und Physiker als Biologe. Erst im Zeitalter der Aufklärung gewinnt die Biologie mehr und mehr an Bedeutung: einmal wirkte dazu mit die Sucht, den Menschen nur als besseres Tier gelten zu lassen, sodann die zu historischer Natur- betrachtung genommenen Anläufe (ROUSSEAU), endlich das Ansehen der LINNE, HALLER, BUFFON u. a., später auch CuvIers Einfluß. So erklärt es sich, daß am Anfange des ı9. Jahrhunderts biologische Probleme den Mittelpunkt der philosophischen Spekulation bilden: Morphologie, Vitalismus, biologische Naturphilosophie waren philoso- phische Disziplinen par excellence. So fand später DARWIN einen günstigen Boden für seine Lehre; durch sie erreichte das philosophische und überhaupt das allgemeine Interesse an der Biologie vielleicht seinen Höhepunkt. Literatur. D. DIDEROT, (Euvres. Paris 1821. DE LAMETTRIE, (Euvres philosophiques I. Berlin 1774. Über die phylogenetischen Spekulationen der Enzyklopädisten hat O. SCHMIDT geschrieben: »Die Anschauungen der Enzyklopädisten über die organische Natur«. Deutsche Rundschau II, 1876, Heft 7. — Ich habe die auf DIDEROT bezüglichen Zitate nach dieser Schrift angeführt. IX KAPITEL. Begründung und Entwicklung der Morphologie. 1. Begriff der Morphologie. Es ist nicht überflüssig, den Begriff der vergleichenden Anatomie oder Morphologie klar festzustellen, denn ich wenigstens bin fest davon überzeugt, daß das, was heute allgemein mit diesem Namen bezeichnet wird, Morphologie im wahren Sinne des Wortes nicht ist. Die Morpho- logie ist die Wissenschaft von der Form des Tieres — und von nichts anderem als der Form, also nicht von den Ursachen der Form, den Zwecken und Funktionen derselben, sondern nur von der Struktur an sich. Sie läßt sich in die nächste Beziehung zur Geometrie setzen: diese untersucht durch den Verstand in der Anschauung konstruierte Formen, die Morphologie dagegen die durch die lebendige Natur geschaffenen lebendigen Strukturen. Wie der Geometer die Gesetze sucht, nach denen die Winkel und Seiten des Dreiecks, die Krüm- mung und die Radien der Ellipse usw. zusammenhängen, so untersucht der Morphologe die Gesetze, nach denen die Teile des Organismus eine Einheit bilden. Die Erforschung der Symmetrie und Asymmetrie des Körpers, das Aufsuchen des Bauplans (des Schemas) einer Tierart usw., das alles gehört in die Morphologie. Die ver- gleichende Anatomie ist unabhängig von der Embryologie und von der Physiologie in dem Sinne, wie etwa die Kristallographie (d. h. die Unterscheidung und Charakteristik der Kristallformen) von der Atomen- und Molekülenlehre sowie von der Frage nach der Entstehungsweise der Kristallformen unabhängig ist. Niemals ist bisher die tierische Morphologie ganz in diesem Sinne aufgebaut worden, doch haben sich CUVIER, GEOFFROY und nament- lich die späteren deutschen Morphologen (vor DARWIN) diesem ihrem Begriffe ziemlich weit genähert. Vor dem ı8. Jahrhundert gab es überhaupt keine Morphologie, und zwar aus folgenden Gründen: ARISTOTELES war zu sehr Embryologe, er sah in der Form nur die 188 IX. Kapitel. Realisierung einer Kraft, einer Energie. DESCARTES und die Mechanisten waren noch weniger imstande, die Form als ein Ansichseiendes zu begreifen, sie galt ihnen nur als Folge der Materie und der Bewegung (etwa so, wie man sie heute auffaßt). LEIBNIZ hat, ähnlich wie ARISTO- TELES, die Kraft zu sehr betont und die Struktur als etwas Sekundäres betrachtet, gleichwohl aber durch die Theorie von der Stufenleiter der Wesen, die er von PLATO übernahm, die Morphologie vorbereitet. Tatsächlich steht, wie ich wenigstens glaube, die Philosophie PLATOs, seine Lehre von den Ideen als den kraftlosen Vorbildern der Gegen- stände dem Begriffe der reinen Morphologie am nächsten. Daß die vergleichende Anatomie ihrem Wesen nach dem gene- tischen Gedanken völlig fremd ist, davon überzeugt am besten die Tatsache, daß man auf Grund der bloßen Vergleichung in keinem Fall etwas Exaktes über Ursache und Wirkung auszusagen vermag. Will man nicht zu Analogien greifen (die Analogien geben aber keine exakte Erkenntnis), so kann man eben durch (vergleichendes) Studium der Strukturen nur deren Beschaffenheit ergründen, keineswegs aber die Frage, wie und wann sie entstanden sind. Das ist eine ganz elementare Tatsache, wenn freilich auch die heutige sogenannte ver- gleichende Antomie gerade das Gegenteil behauptet. 2. Die tierische Morphologie vor Cuvier und Geoffroy St.-Hilaire. Die ersten Anfänge der Biologie im 15. und 16. Jahrhundert liegen ganz innerhalb des Gebietes der Physiologie. Die Funktion der Organe war das Ziel der Forschung, und ihr Bau wurde nur insofern berücksichtigt, als er für die Funktion von Bedeutung war. Wir haben bereits erwähnt, wie zuerst MALPIGHI eine mehr morphologische Be- trachtungsweise in die Biologie einführte; doch hat er mehr instinktiv als bewußt die Struktur als von der Funktion unabhängig oder als über ihr stehend aufgefaßt und keine morphologische Theorie auf- gestellt. Auch haben seine Untersuchungen in der Folgezeit nicht auf die Morphologie, sondern auf die Ethologie geführt. Die Zeit, in der die Morphologie sich zu entwickeln begann, war durch folgende biologische Richtungen charakterisiert: Die Physiologie stand unter dem Einfluß der kompilatorischen (eklektischen, wie man höflicher sagt) Richtung BOERHAAVEs und HALLERS, ihre Theorien stammten von STAHL und von HALLER; die Botanik wurde unter der Einwirkung LinnEs zur Systematik; die höheren Tiere anatomierte Begründung und Entwicklung der Morphologie. 189 man, ohne sich jedoch auf ein vergleichendes Studium einzulassen; bei niederen Tieren behandelte man die Anatomie als Nebensache und interessierte sich mehr für deren Lebensweise. In der Embryo- logie herrschte die Evolutionstheorie allgemein. Als Philosoph erfreute sich LEIBNIZ noch immer allseitiger Anerkennung. Die ersten Anfänge der morphologischen Wissenschaft entstanden im Anschluß an die Beschreibungen der Tiere des Pariser Tiergartens. Diejenigen Tiere, welche in dem von Ludwig XIV. gegründeten Tier- garten verendeten, waren ausdrücklich für wissenschaftliche Unter- suchungen bestimmt. Die Methode der ersten Zergliederer kann nur sehr bedingter Weise als vergleichend-anatomisch angesehen werden; sie sezierten nämlich einzelne Tiere und verzeichneten die Sektions- befunde, wobei sie dann wohl ohne bestimmte Absicht auch dazu kamen, die Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Tieren hervorzu- heben; eine bewußt vergleichend-anatomische Methode blieb unbekannt. Als solche Zergliederer taten sich namentlich hervor CLAUDE PERRAULT (1613— 1688), JOSEPH GUICHARD DUVERNEY (1648— 1730), JEAN GE- ORGES DUVERNEY (1691— 17509) u. a. Außerhalb Frankreichs haben insbesondere ALBRECHT VON HALLER (1708—1777) in Deutschland und JOÜHN HUNTER (1728—1793) in England die Anatomie auf ähn- liche Weise betrieben. Einen Fortschritt in der wissenschaftlichen Morphologie bedeutet LouIs JEAN MARIE DAUBENTON (1716— 17909), welcher sich bemühte, eine bestimmte Terminologie in die Anatomie einzuführen; uns bieten seine Beschreibungen freilich kaum mehr als. topographische Anatomie. Erwähnenswert ist, daß DAUBENTON infolge seiner anato- mischen Untersuchungen zu der Annahme gelangte, die Wirbeltiere seien durch ihre Organisation zu weit von den Wirbellosen entfernt, und demgemäß nur die Wirbeltiere als eigentliche Tiere, die Wirbel- losen aber für einen ganz andern Organisationstypus angesehen wissen wollte. An diese Theorie knüpften später CUVIER und LAMARCK an, als sie die Wirbeltiere in einen Typus zusammenzufassen bzw. ihn dem der Wirbellosen entgegenzustellen versuchten. Der erste, welcher darauf ausging, die Morphologie theoretisch zu erfassen, war FELIX VIcG D’AZyR (1748— 1794), seit 1774 Professor der Anatomie in Paris. In einer Reihe von anatomischen Arbeiten über Fische und Vögel, über die Analogie zwischen der Hand und dem Fuß, über das Gehirn usf. versuchte er seine Anschauungen praktisch zu verwerten. Theoretisch entwickelte er sie in seinem 190 IX. Kapitel. Vortrage über die Anatomie’). Darin lehrt er, daß die vergleichende Anatomie nicht nur die Organe verschiedener Tiere, sondern auch verschiedene Organe eines und desselben Tieres miteinander zu ver- gleichen hat. Die Organe des Körpers stehen in einem festen Zu- sammenhang: die äußeren, welche namentlich der Lokomotion dienen, und die inneren, die für die Ernährung, Empfindung, Fortpflanzung und für das Leben notwendig sind, entsprechen einander; die einen können keine wesentlichen Veränderungen erleiden, ohne daß die andern daran teilnehmen) — ein Grundsatz, der später verallgemeinert und klar ausgedrückt als Korrelation der Formen bezeichnet wurde, Der Gedanke eines Organisationsplanes, nach welchem die Tiere geformt sind, ist VICG D’AZYR nicht fremd. So findet sich in seiner Abhandlung zur Vergleichung der vorderen und hinteren Ex- tremität des Menschen die Ansicht ausgesprochen, daß Hand und Fuß nach demselben Grundplane gebaut sind, während sie sich in der konkreten Ausbildung allerdings voneinander unterscheiden. Auch erklärt er bereits die rudimentären Claviculae bei vielen Säugetieren aus dem für die Tiere geltenden einheitlichem Bauplan, von dem die Natur nur ungern abweiche°). In seiner vergleichenden Anatomie des Gehirns der Tiere kommt VICG D’AZYR zu dem Schlusse, daß das Nervensystem des Menschen im wesentlichen demjenigen anderer Wirbeltiere ähnlich ist. Auf Grund einer Vergleichung der Gehirne verschiedener Tiere behauptet er*): »Man bemerkt immer die Spuren desselben Systems, das im Ab- nehmen begriffen ist, sofern die Tiere keinen Teil aufweisen, welcher bei dem Menschen nicht auch vorhanden wäre, und diesem mehrere Teile eigentümlich sind, die jenen fehlen«. Dieser und ähnliche Sätze und noch mehr ihre konkrete Bearbeitung: bedeuten einen großen Fortschritt gegenüber der obenerwähnten be- schreibenden Anatomie und der physiologisch-ethologischen Auffassung der Tiere, wie sie BONNET etwa vertritt. Trotzdem war VICG D’AZYR noch keineswegs selbständiger Morphologe: er stellt die physiolo- gischen Prinzipien den morphologischen noch voran, und das rein Morphologische, das uns bei ihm begegnet, äußert sich noch wie un- bewußt. Er beginnt seinen Discours sur l’anatomie mit physiologischen Betrachtungen über die Lebenskraft®) und bespricht weiter die Funk= ı) Discours sur l’anatomie. (Euvres T. IV. p. ı. 2) Ebenda S. 22. 3) Ebenda S. 26. A) V]2=n..220. B)SEBVEED:T. Begründung und Entwicklung der Morphologie. IgI tionen des lebendigen Körpers, die er in Stoffwechsel, Lokomotion und Sensibilität einteilt; dann aber bezieht er in der speziellen Behandlung der Anatomie die morphologischen Tatsachen fortwährend auf die Funktion und behauptet sogar, daß wir die Anatomie deshalb kennen müssen, weil sie für das Verständnis der Funktion unentbehrlich ist'). An einer Stelle sagt er, die Anatomie mache nur das Gerüst (sque- lette) der Wissenschaft aus, erst die Physiologie gewähre ihr die Beweglichkeit). Einen noch deutlicheren Beweis dafür, daß er sich über die Bedeutung der Morphologie nicht klar war, bietet seine Ein- teilung des Tierreichs. Er behauptet zwar, daß diese Einteilung auf Grund der anatomischen Eigenschaften durchgeführt werden müsse, tat- sächlich basiert er sie jedoch auf physiologische Merkmale, auf das Vorhandensein des Darmkanals, der Atmungswerkzeuge, der Iympha- tischen Gefäße, der Genitalorgane, der Sinnesorgane, des Gehirns, der Knochen, wie überhaupt der physiologisch bestimmten Organe. VıcG D’AZyR hat mit seinen Anschauungen namentlich auf CUVIER und GEOFFROY ST.-HILAIRE Einfluß geübt; die Morphologie dieser Forscher ist die VıcG D’AZyRsche Lehre, nur vertieft und erweitert, sie blieb vergleichende Anatomie der Organe, ohne sich zur wahren Morphologie, zur Strukturlehre auszugestalten. Außer der anatomischen Richtung, welche durch DAUBENTON, VIcG D’AZYR und CUVIER charakterisiert ist, hat sich in der Zoologie allmählich eine andere entwickelt. Während die eben geschilderte den Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit erhob, weil sie, deren Forschungen sich stets auf konkretes Material bezogen, die wissen- schaftliche Methode eben durch dieses Material gesichert glaubte, schlug die andere Richtung mehr den Weg der Spekulation ein, wie sie in der deutschen Naturphilosophie zu klarstem Ausdrucke kommt. Beide Richtungen lassen sich auf LEIBNIZ zurückführen. Der mechanistischen Denkweise DESCARTES’, für welche der Körper nur eine zu bestimmten (bekannten) physiologischen Zwecken gebaute Maschine war, lag die Morphologie durchaus fern. LEIBNIZ dagegen hat den Aristotelischen Gedanken von der Form als Gegensatz zur Materie wieder zur Geltung gebracht. Indem er in der Form auch die Ordnung sah, welche das Manmnigfaltige zu einem einheitlichen Ganzen verbindet und somit bewirkt, daß seine Teile miteinander übereinstimmen, wobei die Funktion als das die Form Bestimmende DEV 9.27. 2) T. IV. p. 37. 192 DB, Kapitel. unberücksichtigt bleibt, und die PLATonische Hierarchie der Ideen in seine Lehre aufnahm, führte er der Biologie einen Gedanken zu, an den die vergleichende Anatomie direkt anknüpfen konnte. Alle Organismen bilden als sichtbare Erscheinungen ebensovieler Monaden eine Hierarchie, eine Stufenleiter, die lauter allmähliche Übergänge, aber keinen Sprung aufweist. Es gibt Monaden — Orga- nismen —, welche einander ähnlicher sind als andere. In der Natur nehmen wir zwar die größte Mannigfaltigkeit wahr, doch herrscht in dieser Mannigfaltigkeit Ordnung und Harmonie. 2 Alle diese Ideen lassen sich leicht und direkt in die morphologische Anschauungsweise übertragen, und so bilden die Theorien VıIcG D’AZYRs, CUVIERsS und GEOFFROYs ihre konkrete Fassung. Doch wirkte LEIBNIZ, wie schon erwähnt, noch in anderer Hinsicht. Bekanntlich hat er seine Philosophie meistens in Briefen und gelegent- lichen Skizzen entwickelt, welche an die verschiedensten bedeutenden Personen gerichtet sind. War er doch ein sehr vielseitig gebildeter Weltmann, der sich viel in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen bewegte und seine philosophischen Ansichten den Anschauungen dieser Kreise anzupassen suchte. LEIBNIZ war eine zu tief angelegte Natur, als daß seine Philosophie durch dieses Streben in ihrer Selb- ständigkeit wesentlich hätte beeinträchtigt werden können; aber die popularisierende Art, in der er schrieb, hat doch für die nachfolgenden Zeiten bedenkliche Folgen gehabt. Nicht jeder vermochte die Tiefe der Gedanken eines LEIBNIZ zu erfassen; viel leichter war es, ihm in der Vielseitigkeit der wissen- schaftlichen Interessen und in der Art, wie er wissenschaftlich auf die höheren gesellschaftlichen Kreise einzuwirken verstand, nahezukommen. Infolgedessen finden wir im 18. Jahrhundert so viele universal sein wollende Genies, so viele dicke Bücher von salonfähiger Eleganz des Stils und der Gedanken. Diese Richtung führte zu derjenigen Auffassung der vergleichenden Anatomie, die BUFFON in seiner Natur- geschichte vertrat, und die P. CAMPER verbreitete: sie hat dann in GOETHE und der deutschen Naturphilosophie ihre extremsten An- hänger gefunden. PETER CAMPER (1722— 1789) war nacheinander Professor der Philo- losophie, der Anatomie, Chirurgie und Medizin an mehreren hollän- dischen Universitäten. Seine Arbeiten behandeln die verschiedensten Themata: praktische Medizin, Philosophie, Ästhetik, Anatomie usf. Zur Charakteristik der Art, wie er das Wesen der Wissenschaft auf- faßte, sei angeführt, daß er als Beleg dafür, daß in geschickten Händen Begründung und Entwicklung der Morphologie. 193 auch ein anscheinend ganz unbedeutendes Thema interessant werden kann, sogar eine Abhandlung über die Form der Schuhe schrieb. Wenn bei CAMPER von vergleichender Anatomie die Rede ist, so darf man dabei nicht an eine Wissenschaft denken, die durch Ver- gleichung der organischen Strukturen auf allgemeine Sätze führt. Er hat die Tiere anatomisch untersucht, das Bemerkenswerte hervor- gehoben, doch nur gelegentlich und ohne bestimmte Absicht die Organe verglichen. Der Leser wird sich eine Vorstellung von seiner vergleichenden Anatomie bilden, wenn ich das Resultat der besten seiner anatomischen Arbeiten, der Untersuchung des Baues vom Orang- Utan zitiere, in der er nachweist, daß der Mensch und der Orang als verschiedene Arten zu gelten haben. Man beachte, daß diese Arbeit 1782 erschienen ist, also zu einer Zeit, wo man Arten, Gattungen usf. bereits gut zu unterscheiden wußte. CAMPER zieht aus seiner Untersuchung folgende Schlüsse: »Erstlich, daß der Orang sowohl in seiner Gestalt und Größe als auch im Gange sehr vom Menschen verschieden sei, — daß er weder sprechen und sitzen, noch auf dem Rücken liegen könne wie der Mensch —, viel weniger etwas an- fassen, da sein Daumen viel zu kurz ist; zweitens, daß der Orang wirklich ein vierfüßiges Tier sei, welches zwar mit einigen Affen, wie mit dem Gibbon und dem Pygmy des Tyson große Ähnlichkeit hat, doch von ihnen auch wieder in dem Stimmwerkzeug und im Knochen- bau der Hände und anderer Teile sehr verschieden ist, und vornehm- lich, daß er vom Pithecus nicht allein hinsichtlich des Stimmwerk- zeugs, der Gestalt und der Eingeweide, sondern auch bezüglich der Knochen, insbesondere der Hände, erheblich abweiche. Der Orang- Utan von Borneo ist also ein Tier, welches zwar zum allgemeinen Geschlecht der Affen oder vierhändigen Tiere gehört, aber doch zu- gleich eine ganz besondere Art desselben ausmacht. « Vergleichend anatomisch ist auch die Vorlesung CAMPERs über die Analogie zwischen den Tieren und Pflanzen. Er hebt in diesem sehr schöngeistigen Vortrage die Ähnlichkeit zwischen Gefäßen, Drü- sen und Sexualorganen der Pflanzen und der Tiere hervor, weist auf die Spuren der Reizbarkeit bei den Pflanzen hin und erörtert die Möglichkeit, daß auch die Pflanzen ein diffuses Nervensystem haben. Eine Vorlesung widmete CAMPER auch den Analogien zwischen Menschen, Säugetieren, Vögeln und Fischen, doch zeichnet er diese Analogien nur in den allgemeinsten Umrissen. Mehrere seiner Ab- handlungen beziehen sich auf die Physiognomie des Menschen; auch diese Wissenschaft (wenn der Name hier angewendet werden Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. I. Teil. 13 194 IX. Kapitel darf) kann man der Morphologie noch am ehesten an die Seite stellen. In Deutschland knüpfte die Anatomie anfangs an LINNE an; unter seinem Einflusse stand AUG. JOH. GEORG CARL BATSCH (1761— 1802), von dem man rühmend hervorhebt, daß er vor CUVIER die Wirbel- tiere in eine Klasse (»Knochentiere«) zusammenfaßte; auch führte er zuerst zwischen die LINnnEschen Gruppen der Ordnung und der Gattung die »Familie« ein. Die späteren deutschen Autoren waren von der Naturphilosophie abhängig; mehrere von ihnen haben viel positive Leistungen aufzu- weisen. Ihre Systeme waren durchweg vitalistisch, wenigstens der Ausdrucksweise nach; sofern sie etwas Beachtenswertes bieten, sollen sie an geeigneter Stelle besprochen werden. Die bedeutendsten unter ihnen waren IGNAZ DÖLLINGER (1770— 1841), KARL FRIEDR. BURDACH (1776— 1847), FRIEDRICH TIEDEMANN (1781— 1860), LUDWIG HEINRICH BOJANUS (1776—1827), KARL GUSTAV CARUS (1789— 1869), JOH. FRIEDR. MECKEL (1781— 1833), KARL ASMUND RUDOLPHI (1777 bis 1832) und andere. Insgesamt taten sie sich mehr durch positive Untersuchungen und durch Herausgabe großer Handbücher als durch Aufstellung eigentümlicher Theorien hervor. Von einigen wird noch später die Rede sein. Literatur. PERRAULT, CL., Description anatomique de divers animaux disseques dans l’acad. roy. des sciences accompagn&s de leur squelette et r&pr@sentes, en figures grav&es avec les observations faites en leur dissection. Paris 1682. DUVERNEY, ]J. G., Trait@ de l’organe de l’ouie. Paris 1683. (Euvres anatomiques. 2 Vols. Paris 1761. HALLER, A. VoN, Opera anatomici argumenti minora. 3 Vols. Lausanne 1663—68. HUNTER, JOHN, Observations on certain parts of the animal oeconomy. London 1786. DAUBENTON, L. J. M., in BuFFons Histoire naturelle, Ausgabe in 71 Bänden, sind die ersten IQ von DAUBENTON geschrieben. Paris 1752—1805. VıcG D’AZyR, F., Trait€ d’anatomie et de physiologie. Paris 1786—89. —— Discours sur l’anatomie. (CEuvres. 1805. T. 4.) —— M£moire les sur rapports qui se trouvent entre les usages et la structure de quatre extr&mites dans l’'homme et dans les quadrupedes. (Ebenda.) Die oben angeführten Zitate beziehen sich auf: VıcG D’AZyR, F., CEuvres, recueillies et publiees par J. L. MorEAU. 6 Vols. Paris 1805, CAMPER, P., Natuurkundige verhandelingen over den Orang-Outang; en eenige andere aap-sorten; over den Rhinoceros, met den dubbelen horen, en over het Ren- dier. Amsterdam 1782. —— Discours sur le moyen de repr&senter d’une maniere süre les diverses passions qui se manifestent sur le visage, sur l’&tonnante conformite qui existe entre les Quadrupedes, les Oiseaux, les Poissons et l’Homme; et sur le beau physique; publi€E par A. G. CAMPER (Sohn). Utrecht 1792. Begründung und Entwicklung der Morphologie. 195 Ich habe benutzt: CAMPER, PETR., (Euvres, qui ont pour objet l’histoire naturelle, la physiologie et l’anatomie comparee. 3 Vols. Paris 1803. BATSCH, A. G. K., Versuch einer Anleitung zur Kenntnis und Geschichte der Tiere und Mineralien. Jena 1788. —— Einleitung zum Studium der allgem. Naturgeschichte. 3. Abt.: Tierreich, mit Zusätzen von L. F. FRORIEP. Weimar 1806. DÖLLINGER, JoH. IGn. Jos., Über den Wert und die Bedeutung der vergleichenden Anatomie. Würzburg 1814. BURDACH, KARL FRIEDR., Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft. Leipzig 1832—40. Carus, K. G., Grundzüge der vergleichenden Anatomie und Physiologie. 3 Bände, Dresden 1828. Bojanus, Lupw. HEINR., Introductio in anatomiam comparatam. Vilnae 1815. Anatome testudinis europaeae. Vilnae 1819. TIEDEMANN, FRIEDR., Anatomie und Bildungsgeschichte des Gehirns im Fötus des Menschen, nebst einer vergleichenden Darstellung des Hirnbaues in den Tieren. Nürnberg 1816. MECKEL, JOH. FRIEDR., System der vergl. Anatomie. 5 Teile. Halle 1820—31. RUDOLPHI, KARL AsMm., Beobachtungen aus der vergl. Anatomie. Berlin 1322. 3. Georges Cuvier. GEORGES LEOPOLD CHRISTIAN FRIEDRICH DAGOBERT CUVIER (1769— 1832) studierte seit 1784 an der Karlsschule in Stuttgart Natur- geschichte und wurde dort mit dem Naturphilosophen KIELMEYER be- freundet. Auf GEOFFROYs Einladung kam er 1794 nach Paris, wo er 1795 zum Professor der Naturgeschichte an den Zentralschulen ernannt wurde; später bekleidete er noch viele andere Ämter. Alle morphologischen Untersuchungen CUVIERS — und die Morpho- logie bildet die Grundlage für seine Theorie — sind von der Über- zeugung getragen, daß Form und Funktion des Tieres eine in sich geschlossene Einheit darstellen, und daß alle Teile und Funktionen des Organismus notwendig miteinander verbunden sind. Alle Organe und alle Funktionen im Körper stehen im Gleichgewicht; darunter ist nicht nur dies zu verstehen, daß der Körper nicht funktionieren kann, wenn ihm ein Organ fehlt, sondern auch das andere, daß das Nichtvorhandensein eines Körperteils die Einheit der Form stört. Beiläufig bemerkt CUVIER, daß die vergleichende Anatomie den mathe- matischen Wissenschaften sehr nahe stehe; der Vergleich der ersteren mit der Geometrie wäre wirklich nicht unzutreffend. Die Vorstellung von dem einheitlichen Bauplan der Tiere führt CUVIER auf seine Lehre von der Korrelation der Formen zurück. Er begründet sie folgendermaßen‘): ı) Anatomie compar£e. T.I. p. 38. I 96 IX, Kapitel. Jedes Tier bildet ein Ganzes, ein einheitliches, in sich geschlossenes System, in dem alle Teile (erstens) einander entsprechen und (zweitens) dieselbe Funktion in gemeinschaftlicher Tätigkeit ausüben. Keiner dieser Teile kann sich verändern, ohne daß andere mit verändert würden, und so bestimmt jeder Teil alle übrigen. Diese Auffassung von der Korrelation kann folgendermaßen erklärt werden: a) Wenn der Verdauungskanal eines Tieres für die Verdauung von Fleisch eingerichtet ist, so müssen auch seine Kauapparate zum Zerschneiden desselben, seine Bewegungsorgane zum Erhaschen der Beute usw. eingerichtet sein. Auch dem Gehirn muß der Trieb innewohnen, auf die Beute zu lauern, u.ä m. Wenn wir die Be- ziehungen zwischen dem Bau und der Tätigkeit der Organe vollständig kennen würden, so wäre uns möglich, aus der Kenntnis nur eines Organs das ganze Tier zu rekonstruieren; denn wir würden dann die Funktion dieses Organs erraten, daraus die Lebensweise des Tieres und daraus auch die Funktionen sämtlicher anderer Organe, aus denen man dann leicht auf ihren Bau zu schließen vermöchte. b) In dem angeführten Beispiel eines fleischfressenden Tieres kann man von der Lebensweise leicht auf die Bauart schließen; es gibt aber andere Fälle, wo dies unmöglich ist. Es kann z. B. nicht auf die angeführte Art, durch die Beziehung auf die Lebensweise, erkannt werden, daß alle Wiederkäuer auch Zweihufer sind, oder daß nur diese Ordnung Hörner besitzen kann. Weil aber diese und ähnliche andere Beziehungen konstant sind, so müssen sie einen hinreichenden Grund haben, den aber erkennen wir aus der Erfahrung. »Durch die Erfahrung stellen wir Erfahrungsgesetze auf, welche fast die Gewiß- heit der rationellen Gesetze gewinnen, wenn sie auf einer oft genug wiederholten Beobachtung aufgebaut sind, so daß jeder, der die Spur eines gut gespaltenen Hufes sieht, daraus schließen kann, das Tier, dem ein so gebauter Fuß gehört, sei ein Wiederkäuer; und dieser Schluß ist so bestimmt, wie jeder andere in der Naturgeschichte oder in der Moral.« c) Durch die Tatsache, daß bestimmte Eigenschaften der Tiere stets mit andern Eigenschaften zugleich vorkommen (Wiederkäuer- Zweihufer), ist die Bedeutung dieser Beziehungen aber noch nicht er- schöpft. Das Gebiß der behuften nicht wiederkäuenden Tiere ist durchgängig vollkommener als das der Wiederkäuer; aber auch im Bau ihres Fußes zeigt sich eine größere Vollkommenheit, sei es, daß sie mehrere Finger besitzen, sei es, daß sie mehrere freie Knochen im Mittelfuß oder in der Fußwurzel haben, oder daß sie die Tibia und Fibula Begründung und Entwicklung der Morphologie. 197 frei haben oder alle diese Charaktere zusammen besitzen. Das ist die oben erklärte Art der Korrelation. Wir dürfen nun aber nicht nur schließen, daß immer, wenn der Fuß komplizierter ist, auch das Gebiß vollständiger ist, sondern auch, daß, wenn ein Wiederkäuer, also ein Zweihufer, im Gebiß etwas von andern Zweihufern abweicht, bei ihm der Bau des Fußes ebenfalls abweichend ist, wie z. B. bei dem Kamel, das nicht nur obere Schneidezähne und Eckzähne, sondern auch einen anders gebauten Fuß als andere Wiederkäuer besitzt. Die »Correlation des formes« besteht also nicht nur darin, daß gewisse Formen (Organe) immer zugleich vorkommen, sondern auch darin, daß, wenn eine derselben in etwas verändert wird, auch die andere, korrelative Form sich etwas ändert. Die Grenzen zwischen morphologischer und physiologischer Korrelation sind von CUVIER nicht so scharf gezogen, wie ich es hier getan habe. Besonders in der Praxis hat er die physiologische (funktionelle) Korrelation gegenüber der morphologischen gar zu oft in den Vordergrund gerückt. So bestimmt er zu klassifikatorischen Zwecken (die Klassifikation soll bei ihm morphologisch sein) rein funktionelle Korrelationen zwischen der Atmung und der Blutzirku- lation, daß nämlich Tiere mit einem Herzen durch lokalisierte Organe (Kiemen, Lunge) atmen, Tiere ohne Herz mit Tracheen, u. ä. Man darf die Cuviersche Lehre von den Korrelationen nicht als den Höhepunkt der Morphologie betrachten, sondern nur als einen Schritt näher zu ihm hin, dem leider bei seinen Nachfolgern weitere nicht entsprochen haben. Die Tatsache, daß CUVIER den Gedanken nicht durchgeführt hat, den morphologischen Korrelationen eine ganz selbständige Stellung gegenüber den funktionellen und den funktionell-anatomischen zu sichern, zeigt, wie sehr er noch von der physiologischen Betrachtungs- weise des Organismus beherrscht wurde. Wir werden sehen, daß dies auch in anderer Hinsicht bei ihm zutrifft. Die Lehre von den Korrelationen führt ebenso notwendig auf den Begriff der Zweckmäßigkeit, wie die Seelentheorie LEIBNIzens aus seiner Vorstellung des Organismus als der Realisierung eines Begriffs notwendig folgt. Das Gesetz der Korrelation der Formen sagt, daß die Teile des Organismus notwendig miteinander verbunden sind. Die Einheit, zu der sie verknüpft sind, ist der (etwa morphologische) Zweck des Orga- nismus (diesen Zweck betont CUVIER jedoch nicht). Die Organe stehen ferner zu den Funktionen des Organismus in Beziehung; infolge- I 98 IX. Kapitel. dessen sind diese Funktionen der Zweck der Organe (diesen Schluß zog CUVIER, er ließ aber dabei außer acht, daß auch die umgekehrte Auffassung zulässig erscheint). Endlich steht der Organismus in einem bestimmten Verhältnis zu seiner Umgebung (loi des conditions d’existence); und in dieser Hinsicht sind sein Bau und seine Funktion wiederum zweckmäßig, eben diesen Bedingungen angepaßt. Die Lehre von der Einheit im Bauplan und von den Korrelationen dient CUVIER zur Grundlage seines Systems. Jede Tierart ist nach ihm nach einem besonderen Plane gebaut, etwa so, wie jede ‚regel- mäßige Figur einem Plan, einem Gesetz entspricht, demzufolge sie eben regelmäßig ist. Dieser Plan ändert sich von einer Art zur andern. Ebenso wie die Individuen einer Art haben auch alle Arten einer Gattung einen gemeinsamen Plan, d.h. etwas Gemeinsames und Gesetzmäßiges in ihrer Struktur, und gleicherweise auch die Gattungen einer Ordnung und die Ordnungen einer Klasse. Nicht so verhält es sich aber mit den Plänen für die größten Gruppen der Tiere, die CUVIER »Embranchements« nennt; die für ihre Struktur maßgebenden Pläne oder Typen sollen gänzlich voneinander verschieden sein, etwa so, wie ein Dreieck von einer Linie. Ich habe den Gedanken von dem Bauplan wieder sehr abstrakt gefaßt; ich muß hinzufügen, daß CUVIER ihn nicht so abstrakt, so rein formal genommen hat. Sonst wäre es kaum verständlich, warum er nur zwischen seinen Embranchements und nicht auch zwischen kleineren Gruppen eine unüberbrückbare Kluft statuiert. Er berücksichtigt in concreto die Anzahl und die relative Lage der Organe; unter ähn- lichem Bauplan versteht er dies, daß die Zahl und die spezielle Ausbildung der Organe variieren, aber dieselbe Stellung zueinander beibehalten. CUVIER hat ohne eingehendere Untersuchung seine Lehre auf die These gegründet, daß die Organe elementare morpholo- gische Einheiten sind. Ein Organ ist nun aber — schon der Name weist darauf hin — etwas Physiologisches, etwas, das durch die Funktion, deren Organ es eben ist, bedingt wird. Die Hand z.B. ist ein Organ, die vordere Extremität jedoch nicht, sondern etwas Morpho- logisches. Als CUVIER nun seine Baupläne durch die relative Lage der Organe bestimmt sein ließ, hat er sie eben dadurch nach wesent- lich physiologischen Merkmalen bestimmt: offenbar ist der Begriff der relativen Lage rein morphologisch, der Begriff des Organs dagegen physiologisch. Daraus erklärt sich, daß die höchsten Gruppen CUVIERs in der Theorie physiologisch begründet werden: er führt als wesentlichsten Begründung und Entwicklung der Morphologie. 199 Grund der Typenlehre den Bau des Nervensystems bei einzelnen Typen an; das Nervensystem soll das Modell sein, nach dem sich die Struktur des ganzen Tieres richtet; das Nervensystem soll bei einzelnen Typen wesentlich verschieden gebaut sein, innerhalb jedes Typus aber doch nur Variationen eines und desselben Grundplanes zeigen. Nur die Wirbeltiere (als erster Typus) haben ein Rücken- mark, das nach oben in das Gehirn verdickt ist, und daneben ein sympathisches Nervensystem; ganz anders ist das Nervensystem des zweiten Typus, der Mollusken, gebaut, anders das der Artikulaten, und wieder nach einem andern Typus das der Radiaten. Nun ist klar, daß CUVIER das Nervensystem darum als höchstes Organ wählte, weil es der Träger des Seelenlebens ist; er hat keinen Beweis dafür erbracht, daß nicht das Muskelsystem, d.h. die Art, wie die Gesamtmuskulatur zu einer Einheit verbunden ist, das Höchste im Tiere sei, noch auch hat er diesen Nachweis hinsichtlich irgend- eines andern Organs oder Systems geführt. Er nahm das Nerven- system a priori als Einteilungsgrund, wie deutlich daraus hervorgeht, daß er ursprünglich — ebenso a priori — die Generationsorgane (man beachte den Einfluß Linnes!) als die wichtigsten bezeichnet hat. Ein Morphologe dürfte niemals oder höchstens nur provisorisch ein oder mehrere Organe als Merkmale der Klassifikation gelten lassen, sondern müßte das Verhältnis der Teile betonen; nicht die Teile charakterisieren morphologisch den Organismus, sondern die Art, wie sie zur Einheit verknüpft sind. So kommt es, daß CUVIER seine Typenlehre nur empirisch, nicht rationell begründet; er konnte keinen allgemeinen Grund dafür an- führen, warum eben die Verschiedenheit im Bau des Nervensystems die Veränderung des Grundplans verursacht, und warum etwa die Variationen im Bau der Atmungsorgane auf einen und denselben Grund- plan zurückgeführt werden dürfen. Er konnte nur empirisch nach- weisen, daß die als verschiedene Typen aufgefaßten Tierformen in Wirklichkeit sehr voneinander verschieden sind. So ist die Morpho- logie CUVIERs auch in diesem Punkt eine Organanatomie und keine reine Formenlehre. Vom Begriffe der Einheit des Bauplans ging CUVIER logisch ganz folgerichtig zu dem der Subordination der Charaktere, den er (dem Beispiele des jüngeren JUSSIEU folgend, der diesen Begriff in die botanische Morphologie vor CUVIER einführte) zur Grundlage der Systematik gemacht hat. Die Bedeutung der verschiedenen Teile eines Organismus ist nicht 200 IX. Kapitel. gleich, d. h. der eine Teil ist für die Einheit von Form und Funktion wesentlicher als ein anderer. Nach ihrer morphologischen und funk- tionellen Bedeutung zusammengestellt würden die Teile des Organis- mus eine Hierarchie bilden, welche sich offenbar für klassifikatorische Zwecke am besten verwerten läßt. Das Prinzip »de la subordination des caracteres« besagt, daß einige Eigenschaften der Organismen nur engeren, andere weiteren Kreisen derselben angehören. CUVIER bemerkt aber, daß auch die Korrelationen der Eigenschaften nicht von demselben Grade sind. Wenn wir z.B. die Korrelationen zwischen der Bezahnung und andern Körpereigen- schaften mit denjenigen zwischen dem Bau der Wirbel und andern Organen vergleichen, so erkennen wir leicht, daß die letzteren viel radikaler sind; denn die Variationen in der Ausbildung der Zähne sind mit solchen Veränderungen im Bau der Tiere verbunden, die zur Aufstellung nur der Arten, Gattungen oder kleinerer Gruppen führen, während an das Vorhandensein des Rückenmarks alle Eigen- schaften gebunden sind, welche das Wirbeltier den Wirbellosen gegen- über charakterisieren. Die Korrelation zwischen dem Rückenmark und den übrigen Körpereigenschaften ist so fest, daß das Gebiß innerhalb weitester Grenzen variieren kann, ohne daß die Wirbel da- durch stark beeinflußt werden; das Gebiß kann vollständig fehlen, aber das Rückenmark bleibt unverändert; wenn aber umgekehrt das Rückenmark in seiner Ausbildung variiert, so sind damit sehr starke Veränderungen im Gebiß verbunden; fehlt das Rückenmark, so ist der Körperbau so radikal verändert, daß an ein Gebiß gar nicht ge- dacht werden kann. Es gibt also Korrelationen engerer und all- gemeinerer Art: je allgemeiner eine Korrelation ist, desto größeren klassifikatorischen Wert hat sie; die Größe der Korrelation ist also ein Maß für die systematische Wichtigkeit einer Eigenschaft. Offenbar wird man nur durch vergleichendes Studium (und durch das Experiment) zur Erkenntnis der Wichtigkeit eines Körperteils ge- langen können, und natürlich wird man morphologische und physio- logische Bedeutung begrifflich scharf voneinander unterscheiden müssen. CUVIER hat aber weder das eine noch das andere getan, und darum ist er wieder in der physiologischen Auffassung der Organismen stecken geblieben. Wie oben bemerkt, gilt ihm als höchstes Organ das Nervensystem, weil es die Individualität des Tieres sozusagen in sich konzentriert; an die zweite Stelle setzt er die Zirkulations- und Atmungsorgane, in denen das materielle Leben sich zeigt; den dritten Rang in jener Subordination nehmen die Verdauungsorgane ein, die Begründung und Entwicklung der Morphologie. 201 zur Erhaltung; des materiellen Lebens bestimmt sind. Alles dies ist offenbar lauter Physiologie, aber keine Morphologie. Gegenüber der Linn&Eschen künstlichen Klassifikation machte CUVIER den Versuch einer natürlichen. Im natürlichen System müssen die ähnlichsten Tiere einander am nächsten stehen; die Ähnlichkeit muß zwar nach allen Organen beurteilt werden, aber nicht nach allen Or- ganen gleichmäßig, sondern jedes einzelne Organ entsprechend seiner Bedeutung. Diesen letzteren Punkt darf man nicht außer acht lassen: es genügt nicht, zu betonen, daß das natürliche System alle Organe berücksichtigt, sondern darauf kommt’s an, daß sie ihrer Be- deutung nach gewürdigt werden. Das hat CUVIER erkannt und in der Aufstellung der Subordination der Charaktere diese Erkenntnis zutreffend zum Ausdruck gebracht. Im speziellen hat CUVIER die Säugetiere, Vögel, Reptilien und Fische LINNEs zusammengefaßt und aus ihnen den Wirbeltiertypus gebildet, von dem er die Typen der Weichtiere, der Gliedertiere und der Strahlentiere oder Zoophyten unterscheidet. Die Typen teilt er in Klassen, diese in Ordnungen, Gattungen, Arten. Ich fasse nun das über die vergleichende Anatomie und die Syste- matik CUVIERs Gesagte kurz zusammen. CUVIER erkannte theoretisch richtig, daß allen Tierarten, Gattungen usw. ein Bauplan zugrunde liegt, und entwickelte (deduktiv) daraus zutreffend den Begriff der Kor- relation der Formen. Unrichtig oder, wenn man will, unvollkommen ist aber an seiner Theorie, daß er praktisch diesen Bauplan nicht nur morphologisch auffaßt, daß er die morphologische nicht von den andern Korrelationen unterscheidet, und daß er die Organe kritiklos als morphologische Einheiten einführt. Logisch und morphologisch ganz richtig stellt er den Begriff der Subordination der Charaktere auf, und richtig macht er diesen Begriff zur Grundlage der Systematik; unrichtig aber erscheint die Art seiner Durchführung dieses Postulates, indem er praktisch nicht die Charaktere, sondern die Organe subordiniert und ihren Wert nicht nach morphologischen, sondern nach physio- logischen und apriorischen Gesichtspunkten bemißt. So hat CUVIER die Morphologie der Theorie nach im allgemeinen recht verstanden und gewürdigt, in der Praxis blieb er aber Physiologe. Paläontologie und Geologie. CUVIER war bekanntlich einer der eifrigsten und erfolgreichsten Förderer der Paläontologie. Wir haben bereits gesehen, wie im Anschluß an die Beschreibung vorweltlicher Tiere allmählich die Ansicht Platz griff, daß diese Tiere Arten angehören, die heute nicht mehr leben, wie zuerst BUFFON eine solche Möglichkeit, wenn 202 IX. Kapitel. auch noch unbestimmt, ins Auge faßte, wie dann PALLAS und CAMPER bestimmt die Überzeugung aussprachen, daß einige Spezies durch die allgemeine Katastrophe zugrunde gegangen seien. Aber erst CUVIER brachte auf Grund reichhaltigen Materials den Satz zur allgemeinen Geltung, daß die Versteinerungen aus Zeiten herrühren, in denen eine von der heutigen verschiedene Tierwelt unsere Erde bevölkerte, und daß die lebendige Natur auf der Erde mehrmals ihren Charakter änderte, — einen Satz, der zu ganz neuen Vermutungen und Hypothesen über die Geschichte der lebendigen Wesen geführt hat. CUVIER wies zu- erst nach, daß die erhaltenen Überreste des vorweltlichen Elefanten einer andern als der bekannten Spezies angehören, und erbrachte später den gleichen Nachweis für das Rhinozeros, den Bären, den Hirsch und andere fossile Tiere. Endlich legte er in seinen »Umwälzungen« auf Grund sehr genauer geographischer und historischer Untersuchungen die allgemeinen Gründe für seine Überzeugung dar, nach der über- haupt unwahrscheinlich ist, daß die ausgestorbenen und versteinerten Tiere noch heute irgendwo lebend anzutreffen sind. Doch sei die Umkehrung dieser Behauptung nicht in gleicher Weise zutreffend: CuvIER läßt die Möglichkeit (S. 116) offen, daß die jetzt lebenden Arten auch schon in früheren Epochen vorhanden waren, daß sie sich aber in der neuen Epoche an andern Wohnorten angesiedelt haben. In mehreren Kapiteln der »Umwälzungen« analysiert CUVIER alter- tümliche Zeichnungen und Sagen, verbessert unrichtige Hypothesen durch eigenes Studium der alten handschriftlichen Denkmäler und ent- wickelt dabei in ganz außergewöhnlichem Grade philologischen und historischen Scharfsinn. Auch die Meinung LAMARCKs will er nicht gelten lassen, daß die jetzt vorhandenen Rassen nur Veränderungen jener früheren seien, die man in fossilem Zustande vorfindet: Ab- änderungen, welche, durch örtliche Umstände und verändertes Klima veranlaßt, durch die lange Folge der Jahre bis zur äußersten Ab- weichung gediehen sein könnten. Er betont vielmehr dieser Auffassung gegenüber die scharfe Umgrenzung der im wilden Zustande lebenden Arten. Die auf die geologische Entwicklung unserer Erde bezüglichen Theorien waren bereits vor CUVIER ausgebildet: man hatte nicht nur große Veränderungen der Erdoberfläche angenommen, son- dern, wie erwähnt, sogar die Ansicht ausgesprochen, daß sich auch die Tierwelt verändert habe. CUVIER hat nun den originellen Schritt getan, die fossilen Tiere zur Bestimmung der geologischen Epochen zu verwerten; er war davon durchdrungen, »daß man nur den Fossilien Begründung und Entwicklung der Morphologie. 203 die Entstehung der Theorien der Erde verdankt: ohne sie hätte man vielleicht nicht daran gedacht, daß es während der Bildung der Erde aufeinander folgende Epochen und eine Reihe verschiedener Vorgänge gegeben hat. Nur die Fossilien geben die Gewißheit, daß die Erde nicht immer dieselbe Hülle trug, indem sie uns den Schluß nahelegen, daß sie erst auf der Oberfläche gelebt haben müssen, bevor sie in den Tiefen begraben wurden«'), Über die Geschichte des organischen Lebens hat CuvIErR folgende Theorie entwickelt: Nicht immer hat Leben auf der Erde existiert. In den ersten Zeiten, die durch das Vorhandensein von Granit, Gneis, Marmor und der primitiven Schiefer (dieser altertümlichen Fundamente der jetzigen Erdoberfläche) charakterisiert sind, war kein lebendiges Wesen darauf vorhanden. In der nachfolgenden Periode (Übergangs- gebirge) finden wir bereits die Zoophyten, Mollusken, Krustazeen und Fische. Daran schloß sich eine Epoche, in welcher die ersten Reich- tümer der Pflanzen das Antlitz der Erde schmückten. Die nächste Zeitperiode ist durch das Auftreten unzähliger Fische gekennzeichnet; unter diesen erscheinen zum erstenmal auch Reptilien, die in der folgenden Zeit einen großen Reichtum von Formen entwickeln. Danach erst kommen die Säugetiere zum Vorschein; zuerst finden sie sich im Meere, später jedoch auch auf dem trockenen Lande, namentlich eine Menge von Huftieren, unter ihnen auch Raubtiere, Nagetiere, Vögel. Die ganze oder fast die ganze damalige Tierwelt ist vernichtet und wieder vom Meere bedeckt worden; nun lebten auf den Steppen, auf denen die ältesten Huftiere sich ihre Nahrung gesucht hatten, Walfische, Delphine und andere Meertiere. Aber das Meer trat wieder zurück, und es kam die Periode der Mammuts, Nashorne, Mastodons, Nilpferde, der Huf- und Renntiere. Auch diese Tierwelt ging zugrunde, um der jetzt vorhandenen Platz zu machen. In der Geschichte der Organismen gab es hiernach eine Reihe von Veränderungen der Tierwelt, die mit einem stetigen Fortschritt der Organisation verbunden waren. CUVIER veröffentlichte über das von ihm gesammelte positive Material zunächst kürzere Berichte; diese Berichte gab er dann, mit einer theoretischen Einleitung versehen, unter dem Titel »Recherches sur les ossements fossiles de Quadrupedes etc. (1812)« heraus. Die zahlreichen Auflagen dieses fachwissenschaftlichen Werkes geben von der ihm gezollten großen Anerkennung beredtes Zeugnis. Die ı) Daß diese Annahme historisch unrichtig ist, wurde oben bereits gezeigt. 204 IX. Kapitel. Einleitung ist später auch als selbständiges Werk unter dem Titel >» Dis- cours sur les Revolutions de la surface du globe« (in sechs Auflagen) erschienen. In diesem »Discours« will CUVIER auf Grund der vergleichend- anatomischen Untersuchung der Fossilien die Grenze der Zeit über- schreiten, welche dem Menschengeschlecht gesetzt ist, und die Ge- schichte der Erde entwickeln. Er könne noch keine aus einem Prinzip abgeleitete Theorie bieten, sagt er, doch werde das gewiß einmal möglich sein‘): »warum sollte die Naturgeschichte nicht auch einmal ihren NEWTON erhalten ?« Die Oberfläche der Erde wurde im Laufe der Zeit durch heftige Revolutionen und Katastrophen verheert, wie man am besten an den mächtigen Gesteinsschichten marinen Ursprungs sieht, welche die ursprünglichen Ebenen und Gebirge bedeckten. Die höheren Gebirge bestehen aus geneigten oder senkrechten mächtigen Gesteinslagen, über denen oft wieder anders gerichtete Schichten lagern. Die meisten dieser Gesteinsschichten sind mit fossilen Überresten der verschiedensten Meeresbewohner durchsetzt. Dies alles zeugt dafür, daß die Kräfte, welche die Veränderungen verursacht haben, ungeheuer gewesen sein müssen; die jetzt wahrnehmbaren Wirkungen von Eis und Schnee, von fließenden Gewässern, vom Ozean, von den Vulkanen und von astronomischen Einflüssen reichen nicht aus, um die früheren Gestal- tungen, noch auch den gegenwärtigen Zustand zu erklären. Der Mensch ist nach CUVIERs Annahme erst nach der letzten Katastrophe entstanden. Nach den Anschwemmungen großer Flüsse (Nil, Rhein, Po, Arno), dem Fortschreiten der Dünen, dem Anwachsen der Torfmoore und nach den historischen Überlieferungen der Völker, die mit philologischer Gründlichkeit erörtert sind, berechnet er die Zeit seit der letzten Katastrophe auf etwa 5000 bis 6000 Jahre. Die Katastrophenlehre CUVIERs wird heutzutage allgemein als ab- getan betrachtet, doch glaube ich, daß man das nur um der Konse- quenz willen tut; will man doch nirgends, also auch nicht in der Geologie, natürliche Einheiten finden. Ich für meinen Teil bin über- zeugt, daß der Grundgedanke der Katastrophenlehre, die Auffassung nämlich, daß es mehrere natürliche (nicht künstlich oder zufällig abgegrenzte) Perioden in der Geschichte der Erde gab, in der einen oder andern Form wiederaufleben wird. Rechnet man aber einmal ı) Einleitung S.3. (Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung von NÖGGERATH. Bonn 1330. 5. Aufl.) Begründung und Entwicklung der Morphologie. 205 mit dieser Möglichkeit — und es gibt sehr vernünftige Geologen, welche sie gelten lassen —, so folgt daraus, daß die Ursachen dieser Perioden nicht nach heutigen Vorgängen konstruiert werden dürfen, daß sie überhaupt nicht erraten, sondern nur erfahren werden können. Die Logik Cuviers. In der vorangehenden Erörterung der An- sichten CUVIERS über die Morphologie und Systematik wurde auch bereits seine Logik berücksichtigt. Hier sollen nur noch einige all- gemeine Vorstellungen, wie er sie in der Einleitung zu seiner »Ge- schichte der Fortschritte der organischen Naturwissenschaften« ent- wickelt, Erwähnung finden. CUVIER unterscheidet mathematische, Natur- und moralische Wissen- schaften; zu den ersteren rechnet er die der exakten Messung und des exakten Kalkuls fähigen Wissenschaften (Mathematik und Physik), zu den Naturwissenschaften alle andern mit Ausnahme der Geistes- wissenschaften, welche die dritte Klasse bilden. Für die mathematischen Wissenschaften genügt ein einziges gut konstatiertes Faktum, um ein ganz exaktes Kalkul daran zu knüpfen, und sie bleiben innerhalb dieses Kalkuls exakt. Die Gewißheit der Naturwissenschaften dagegen gründet sich lediglich auf die Tatsachen; darum ist sie immer nur approximativ, wenn sie freilich auch jede beliebige Grenze der Richtigkeit erreichen kann. Demnach sind die Naturwissenschaften in ihren Behauptungen nicht absolut, sondern nur relativ. Nur im Falle des Stoßes haben wir reine Beziehungen zwischen der Ursache und der Wirkung; in jedem andern Falle bleibt nichts anderes übrig, »als einzelne Tatsachen zu sammeln und allgemeine Begriffe zu suchen, die eine möglichst große Gruppe davon zusammen- fassen«'). Zwar gibt es Theorien, wie die der Gravitation, welche ein weites Tatsachengebiet beherrschen, doch bleibt immer bestehen, daß unsere Naturwissenschaften nur angenäherte Fakta darstellen; unsere Theorien sind nur Formeln, die eine große Anzahl von ihnen um- fassen; »und es folgt ganz notwendig, daß das kleinste gut beobachtete Faktum beachtet werden muß, wenn es neu ist, da es unsere best- akkreditierten Theorien modifizieren könnte; denn auch die einfachste Beobachtung ist geeignet, die genialsten Systeme umzustürzen und die Augen zu öffnen für eine große Reihe von Entdeckungen, von denen uns der Schleier der überkommenen Formeln trennte«°). 206 IX. Kapitel. Mit dieser Auffassung der Logik hat sich CUVIER für diejenige Forschungsrichtung erklärt, die auf KEPLER und NEWTON zurückgeht und in der Neuzeit wieder von den Physikern (E. MAcH) eingeschlagen wurde, die Richtung nämlich, welche auf das Gesetz von der Erhaltung der Energie geführt hat und unter der Ursache nur den Begriff (das Gesetz), nicht das Vorangehende versteht. Diese Forschungsrichtung charakterisiert die ganze morphologische Periode der Naturwissenschaft; sie muß, wie bereits in der Darstellung des Vitalismus hervorgehoben ist, als eine selbständige Richtung neben diesem und der mechanistischen Richtung anerkannt wurden. Allgemeines. CUVIER ist einer der größten Biologen; er war unter den Modernen der erste, der neben der exakten Wissenschaft auch deren Prinzipien untersuchte. Sodann kommt er als einer der besten und konsequentesten Empiriker in Betracht. Ohne Zweifel wird er heute sehr unterschätzt, wie denn überhaupt die Bedeutung des Rationalismus, dessen Spuren er folgte, in der Gegenwart zu gering bewertet wird. Tatsächlich gehört CUVIER seiner ganzen wissenschaftlichen Richtung nach in die Periode der rationalistischen Auffassung der Natur. Man vergegenwärtige sich nur seine Hochachtung vor der vergleichenden Methode, die, unbeeinflußt von dem Gedanken, daß in der Natur Neues entstehe, nur das Vorhandene vergleicht, um es einheit- lich mit dem Verstande begreifen zu können. Dieser Standpunkt verhinderte ihn auch, die embryonale Entwicklung der Tiere als Ent- stehung von etwas Neuem zu würdigen; er hielt noch an der Evo- lutionstheorie fest. So wird man seine Abneigung gegen die in seiner Zeit hervor- tretenden genetischen Versuche verstehen. Die Hypothese DE MAILLETS über die historische Entwicklung der Tierwelt erklärt er als »die vielleicht oberflächlichste und unfruchtbarste Idee von allen, die er schon abzuweisen hatte«'). Er könne sich, so behauptet er, nicht mit den Vorstellungen derer befreunden, welche den Organismus wie ein Stück Teig oder Ton ansehen, das sich in der Hand formen läßt. Darum zeigte er auch so wenig Verständnis für die LAMARCKsche Theorie. Der damals schon stark hervortretenden Neigung zu ursächlicher Auffassung der Natur stand CUVIER also fremd gegenüber. Trotzdem 1) Anat. comp. I. p. Io1. Begründung und Entwicklung der Morphologie. 207 lassen sich in, seinen Lehren Elemente einer solchen Auffassung auf- zeigen. Mit seiner Kataklysmentheorie hat er bereits einen Schritt in der angedeuteten Richtung getan: er behandelt darin die Geschichte der Tierwelt, die Entstehung der einen und das Vergehen der andern, und muß doch auch nach den Ursachen dieser Veränderungen fragen, obwohl er sie für unbekannt, ja für fast unerkennbar erklärt. Auch in seiner Definition der Art macht sich die genetische Auffassung geltend. Die Art ist nach ihm die Gesamtheit der Individuen, welche eins vom andern oder von gemeinschaftlichen Eltern abstammen, und solcher, die eine Änlichkeit wie jene untereinander aufweisen. Den morphologischen Vergleichungspunkt, die Ähnlichkeit, bringt er erst an zweiter Stelle und beschränkt ihn noch durch den Hinweis auf den morphologischen Unterschied der Hundevarietäten; der gene- tische Gesichtspunkt, die Herkunft von gemeinsamen Eltern, ist für ihn entscheidend. Mehrere Autoren haben CUVIER vorgeworfen, daß er die LAMARCK- sche genetische Theorie in seiner Geschichte der Fortschritte der Naturwissenschaften nicht anführe. Man hat ihm auch ganz ungerecht- fertigterweise nachgesagt, daß er die genetischen Spekulationen tot- geschwiegen habe. Aber CUVIER spricht doch über die Arbeit LAMARCKs: er sagt‘) im Text ganz allgemein, daß die, welche die Theorien über die Entwicklung der Erde entworfen haben, mehr spekulative Geister, kühne Betrachter als philosophische Forscher waren, und führt dann in der dazugehörigen Anmerkung auch LA- MARCK als einen solchen Autor an. Man darf nur nicht vergessen, daß zu CUVIERs Zeit die Paläontologie mehr zur Geologie als zur Zoologie gerechnet wurde. Die anatomischen (morphologischen) Theorien sind von CUVIER in seinen eben erwähnten Abhandlungen eingehend berücksichtigt; ausführlich geht er auf die morphologischen Spekulationen der SERRES, GEOFFROY, AUDOUIN, ja sogar OKENS, ferner auf die Phantasien über die Irritabilität ein. Es trifft auch nicht zu, daß er die genetische Theorie GEOFFROYs totgeschwiegen habe: in seinem Streite mit GEOFFROY handelt sich’s ja nicht um den Gegen- satz zwischen genetischer und rationalistischer Auffassung der Tierwelt, sondern beide waren Rationalisten und nur verschiedener Ansicht über die spezielle Aufgabe der Morphologie. In dieser Hinsicht verweise ich auf das, was weiterhin über GEOFFROY gesagt wird, insbesondere auch auf dessen Schule, die ihre Theorien zwar im Gegensatz zu ı) Histoire du progres etc. I. p. 89. 208 IX. Kapitel. CUVIER aufstellte, trotzdem aber ganz innerhalb der Morphologie ge- blieben ist. CUVIER war durch seine streng empiristische Denkweise gegen die Extreme gesichert, in welche die begeisterten Anhänger LEIBNIZens verfallen sind. Er faßte den Satz »natura non facit saltus« richtiger als andere auf, indem er ihn wohl für die Reihen der einzelnen Organe, nicht aber für den Organismus als Ganzes gelten ließ. Er folgte LEIBNIZ in der Anerkennung eines Organisationsplanes, doch beschränkte er sie durch seine Annahme von vier verschiedenen Plänen und blieb dadurch vor manchen Irrtümern bewahrt, von denen sich der weniger behutsame GEOFFROY ST.-HILAIRE nicht frei gehalten hat. Als ein Hauptverdienst CUVIERs wird angeführt, daß er die künst- liche Systematik LINNEs durch eine natürliche ersetzt habe. Dieses Verdienst kann selbstverständlich nur für die Zoologie in Anspruch genommen werden; denn innerhalb der Botanik hatte vor CUVIER bereits JUSSIEU den neuen Weg eingeschlagen (JUSSIEU 1789, CUVIER 1798). Gewiß ist CUVIER weit über LINNE hinausgelangt; gleichwohl ist aber die allgemeine Annahme, daß der durch ihn in der rationellen Morphologie bewirkte Fortschritt das letzte sei, was erreicht werden kann, nicht zutreffend. Denn einmal hat er, wie oben nachgewiesen, die Merk- male für seine Einteilung nicht im strengsten Sinn empirisch gewonnen, sondern er abstrahierte sie aus der Physiologie. Sodann ist sein System, wie seine vergleichende Anatomie, insofern nicht rein morphologisch, als es sich hauptsächlich auf die Kenntnis der Organe stützt, anstatt auf das Verhältnis der Teile zueinander; in dieser Hinsicht sind die Botaniker durch P. DE CANDOLLE viel weiter gefördert worden. Da GEOFFROY, der die Morphologie im großen und ganzen abstrakter und deshalb reiner als CUVIER auffaßte, wegen der Unklarheit seiner Begriffe außerstande war, diese Wissenschaft exakt auszugestalten, über die beiden hervorragenden Forscher aber keiner ihrer Nachfolger hinausgelangt ist, so bleibt der Zukunft die Aufgabe vorbehalten, eine natürliche und zugleich rein morphologische Systematik der Tiere zu schaffen. Die Geologen werfen CUVIER vor‘), daß er bei Aufstellung einer Theorie der Erdrevolution mit den Leistungen seiner Zeitgenossen auf geologischem Gebiete nicht genügend vertraut gewesen sei. Seine Anschauungen über den Bau der Gebirge erheben sich nach I) A. v. ZITTEL, Geschichte der Geologie und Paläontologie. München u. Leipzig 1899. S. 199. Begründung und Entwicklung der Morphologie. 209 VON ZITTELs, Behauptung kaum über diejenigen BUFFONs, PALLAS’ und SAUSSUREs. Neu soll nur die Annahme mehrerer Revolutionen und ihres plötzlichen Eintretens sein. Die vergleichende Anatomie hat CUVIER auf einen Höhepunkt gebracht, den sie weder zuvor noch nachher wieder in der Zoologie eingenommen hat; seine anerkannte Führerschaft auf diesem Gebiete ist erst durch DARWIN, der ja einer neuen Philosophie Geltung ver- schaffte, ganz in den Hintergrund gedrängt worden (das, was seit DARWwIN »vergleichende Anatomie« genannt wird, ist keine Morpho- logie im Sinne CUVIERs). Es sollte aber auch nicht unbeachtet bleiben, daß GEOFFROY einen ebenso großen, wenn nicht größeren Einfluß geübt hat als CUVIER. Letzterer ist zwar berühmter als der erstere, sein äußerer Ruhm ist jedoch zum guten Teil von der gleichen Art wie die Anerkennung und Wertschätzung, deren BUFFON und HALLER sich zu erfreuen hatten. Sein wesentlichstes Verdienst, daß er durch seine exakte und logisch wie empirisch gleich gründliche Methode sowohl die schöngeistige französische als auch die seichte LINNEsche Naturauffassung verdrängt hat, wird ihm aber kaum jemand ernstlich bestreiten wollen. Einzelne Autoren haben CuVIErs Stellung in der Geschichte der Wissenschaften und seine Bedeutung sehr ungünstig beurteilt. Der Grund für ihre unzutreffende und unberechtigte Auffassung scheint wesentlich darin zu liegen, daß sie andere Forscher, insbesondere LA- MARCK, in den Vordergrund zu rücken beabsichtigten, im wesent- lichen also agitatorische Zwecke verfolgten. Es ist aber freilich naiv, wenn man CUVIER Mangel an philoso- phischen Ideen vorwirft und ihm gegenüber die philosophische Tiefe LAMARCKs betont: kein Mann von selbständigem Urteil, der die »Um- wälzungen«, die einleitenden Kapitel zur »Geschichte der Fortschritte der Wissenschaften« oder die Einleitung des Werkes »Regne animal« — lauter Darlegungen, aus denen sich CUVIERs Auffassung von der Stellung der Biologie zu den übrigen Wissenschaften und von ihrer Methode klar ergibt — in Betracht zieht, wird wagen dürfen, diesen klassischen Ausführungen LAMARCKs Phantastereien an die Seite zu stellen, mag er sonst der genetischen Naturbetrachtung noch so freundlich gegenüberstehen. CUVIER hat doch nicht nur Tatsachen entdeckt und bedeutende Theorien entworfen, sondern vor allem die Logik der Wissenschaft gepflegt. Seine Schuld ist es nicht, daß seine Anschauungen heute nicht mehr anerkannt werden: jedenfalls hat die ihm eigene logische Kraft, Raädl, Geschichte der biologischen Theorien. 1. Teil. 14 210 IX. Kapitel. solange er lebte, der Wahrheit seiner Gedankengänge auch den Gegnern gegenüber Geltung zu verschaffen vermocht. Die heutigentags beliebte Unterschätzung CUVIERS ist, wie ich be- reits hervorhob, einmal aus agitatorischen Zwecken und dann aus der heutigen Geringschätzung des Rationalismus zu erklären. Literatur: Die wichtigsten Schriften CUVIERS sind: M&moires pour servir & l’'histoire et a l’anatomie des Mollusques. Paris 1817. Tableau &l&mentaire de l’histoire naturelle des animaux. Paris 1798. ; Le Regne animal distribu& d’apres son organisation. 4 Vols. Paris 1817. Lecons d’anatomie comparee recueillies et publi&es sous les yeux de G. CUVIER par C. DUMERIL, chef des trayvaux anatomiques de l’&cole de medicine de Paris. 5 Vols. Paris 1800—1805. Recherches sur les ossements fossiles de Quadrupedes etc. 4 Vols. Paris 1812. Discours sur les revolutions de la surface du globe. Paris 1815. Rapport historique sur les progres des sciences physiques depuis 1789. Paris 1810. %. Geoffroy St.-Hilaire. ETIENNE GEOFFROY ST.-HILAIRE (1772—1844) war ursprünglich Mineraloge; erst nachdem er in seinem z2ı. Jahre Professor der Zoologie am Pariser Museum mit der Pflicht, über Säugetiere und Vögel zu lesen, geworden war, begann er Zoologie zu studieren. Mit CUVIER war er anfangs befreundet; später hat die Verschiedenheit ihrer theo- retischen Überzeugungen die Freundschaft gelöst. Seiner biologischen Richtung nach war GEOFFROY vergleichender Anatom; die vergleichende Anatomie faßte er als selbständige Wissenschaft und stellte sie nicht in den Dienst der Systematik wie CUVIER. Von letzterem unterschied er sich weniger durch prinzipiell verschiedene Auffassung der Orga- nismen, als vielmehr durch eine gewisse Unbestimmtheit der Ansichten, die in mehrfacher Hinsicht an die deutsche Naturphilosophie erinnern. Auffassung der Morphologie. GEOFFROY war ein sehr produk- tiver Biologe, doch hat er sich in seinen Schriften oft wiederholt. Von seinen positiren Beobachtungen seien insbesondere hervorge- hoben: die Zusammensetzung des jungen Vogelschädels aus nicht verwachsenen Knochen, welche denen der Säugetiere homolog sind (1807), die rudimentären Zähne beim Walfisch und bei den Embryonen des Papageis, ausführliche Morphologie des Skeletts der Ganoiden und eine ganze Reihe anderer osteologischer Untersuchungen. Als Grundprinzip der Morphologie betrachtet GEOFFROY, ähnlich wie CUVIER, den Gedanken des Bauplans der Tiere, d. h. er nimmt Begründung und Entwicklung der Morphologie. 211 an, daß jede Tierart eine in sich geschlossene Einheit bilde, deren einzelne Teile gesetzmäßig miteinander verknüpft sind, so daß sie sich gegenseitig bestimmen. Man wird in seine Auffassung sehr leicht eindringen, wenn man sie mit den embryologischen Evolutionstheorien vergleicht, mit deren Grundgedanken sie übereinstimmt. Wie BONNET u. a. lehren, daß alle Formen, welche das Tier während seiner embryo- nalen Entwicklung durchläuft, im Grunde eine und dieselbe Form sind, und daß sich die einzelnen Embryonalzustände nur durch ungleich- mäßiges Wachstum der gleichen Elemente voneinander unterscheiden, so behauptet GEOFFROY, daß alle entwickelten Formen ihrem Wesen nach eine und dieselbe Form sind, die ebenfalls nur durch un- gleiches Wachstum der Elemente die Mannigfaltigkeit der Tierspezies hervorbringt. Dieser Gedanke wiederholt sich bei ihm in den ver- schiedensten Nuancen, und er vor allem hindert ihn daran, sich von der Unbestimmtheit seiner allgemeinen Theorien loszumachen. Alle seine »Gesetze« sind nichts als konkretere Fassungen dieses allge- meinen Gedankens. Sie sollen im folgenden angeführt werden. »Die Materialien der Organisation ordnen sich, um ein Organ zu bilden, untereinander, wie die Häuser sich aneinanderreihen, um eine Stadt zu bilden. Solch eine Stadt wird nun, wie man es in Paris getan hat, in mehrere Munizipaldistrikte eingeteilt: so werden auch die Wohnungen oder unsere organischen Materialien nicht willkürlich, sondern immer durch irgendeine Notwendigkeit der Lage verteilt. Diese Notwendigkeit, welche die sich berührenden Elemente zwingt, die Folgen einer reziproken Anpassung (convenance) anzunehmen, ist, was ich unter elektiver Verwandtschaft der organischen Ele- mente verstehe (affınite &lective des El&Ements organiques«)'). Als einen speziellen Fall dieser Einheit im Bau jedes Individuums betrachtet GEOFFROY ferner das Gesetz, welches wir Gesetz der Erhaltung der Masse nennen könnten, und das von ihm als Gesetz des Gleich- gewichts der Organe (balancement des organes) bezeichnet ist. Nach diesem Gesetz »erlangt kein normales oder pathologisches Organ jemals eine übermäßige Entwicklung (prosp£rit&), ohne daß ein anderes in seinem System oder in seinen Beziehungen zu jenem in demselben Verhältnis an der Entwicklung einbüßt«. Diese zwei »Gesetze« GEOFFROYs sind ein anderer Ausdruck für das, was CUVIER als Korrelation der Formen faßt; man sieht jedoch leicht, was CUVIER gegen GEOFFROY voraus hat: das erste Gesetz ı) Monstros. humaines. Introduct. p. 23. 14* 212 IX. Kapitel. GEOFFROYS ist zwar richtig, aber zu allgemein; es drückt eben nichts anderes aus als die a priori gemachte Annahme, daß die Organe jedes einzelnen Tieres eine gesetzmäßige Einheit bilden. Das Gesetz über das Gleichgewicht der Masse der Organe behauptet aber zu viel, ge- wiß mehr, als GEOFFROY zu beweisen vermocht hätte. Zwar steht unzweifelhaft fest, daß es gewisse Beziehungen zwischen der Masse einzelner Organe gibt; doch sind diese Beziehungen sehr verschieden- artig und gewiß nicht so einfach, daß sie auf die Gesamtmasse des Individuums keinerlei Einfluß ausübten. Demnach ist die Formulierung dieser »Gesetze« logisch unrichtig; CUVIER hätte sich einen solchen Fehler jedenfalls nicht zuschulden kommen lassen. Man beachte aber, daß in einer Hinsicht GEOFFROY über CUVIER steht: er vermengt die Physiologie nicht mit der Morphologie, seine Gesetze sind rein morphologisch. Dagegen ist das CUVIERsche Gesetz der Korre- lation der Formen wieder morphologisch richtiger als das Gesetz der Korrelation der Massen. Die beiden erwähnten Gesetze betreffen jedes Individuum für sich. Über die Beziehungen der Arten, Gattungen usw. hat GEOFFROY folgende Sätze formuliert: ı) Theorie der analogen Teile (theorie des analogues). Dieses, nach GEOFFROYs Ansicht schon von ARISTO- TELES erkannte »Gesetz« blieb lange Zeit vergessen und wurde erst später wieder auf die Tierformen einer Klasse und einer Ordnung angewendet. GEOFFROY nimmt es in seiner weitesten Fassung und behauptet nicht nur, daß sich die Form der Organe im ganzen ge- nommen bei (allen) Tieren analog finden lasse, sondern auch dies, daß die konstitutiven Teile jedes Organs bei den vergleichbaren Formen identisch sind. So sagt er: »Die Keime aller Organe, die man beispielsweise in verschiedenen Familien der durch die Lunge atmenden Tiere findet, sind zugleich in allen Arten vorhanden, und die Ursache der unendlichen Mannigfaltigkeit der Formen, die jeder Art eigen sind, und der Tatsache so vieler halb oder gänzlich unterdrückter Organe muß auf die verhältnismäßig bedeutende Entwicklung von einigen derselben, eine Entwicklung, welche immer auf Kosten der benachbarten geschieht, zurückgeführt werden«'). Er will also die Analogie (Homologie) der Organe als Identität der konstitutiven Teile betrachtet wissen und wendet das Prinzip tatsächlich auch in dieser Form an. Aneiner andern Stelle heißt es: »Die Vermutung, zu der ı) Zitiert nach PERRIER, S. 96. Welcher Abhandlung der Satz entnommen ist, habe ich nicht ermittelt. Begründung und Entwicklung der Morphologie. 213 uns diese Wahrheit führt, d.h. die Ahnung, daß wir immer in jeder Familie alle organischen Materialien finden werden, welche wir in einer andern beobachten, ist das, was ich im Laufe meiner Arbeit mit dem Namen Theorie der Analoga bezeichnet habe«'). GEOFFROY behauptet zwar, dieses »Gesetz« a posteriori ermittelt zu haben, liefert aber doch selbst Beweise genug dafür, daß er es als a priori gültig ansieht. So analogisiert er z. B. den Bauchschild der Schildkröten mit dem Brustbein der Säuger. Nun besteht jener Bauch- schild regelmäßig aus neun Knochen. »Der Schluß, den man daraus ziehen kann, ist der, daß jedes Sternum, wenn seine Entwicklung kein Hindernis hemmt, aus neun elementaren Teilen zusammengesetzt ist.« In ähnlicher Weise beschreibt GEOFFROY zuerst alle Knochen am Schädel der Knochenfische und sucht dann nachzuweisen, daß alle diese Knochen bei allen andern Wirbeltieren vorhanden sind. Wenn man derartige Versuche auch nicht von vornherein als falsch ab- weisen wird, so darf man sie doch für phantastisch halten; sicherlich haben sie mit erfahrungsmäßig ermittelten Tatsachen nichts zu schaffen. Das Gesetz der Analoga hat GEOFFROY durch ein anderes, ebenso kühnes Gesetz vervollständigt, nämlich durch das Prinzip des Zu- sammenhangs (principe des connexions). Dieses Prinzip verleiht dem Begriffe der Analogie angeblich erst einen konkreten Sinn. Man habe — sagt GEOFFROY — bis zur seiner Zeit um die Analogie der Formen gestritten, ohne zu bedenken, daß die Unterschiede der Form von einem Tiere zum andern sehr schwankend, nicht greifbar sind. Er faßt also die Analogie ganz mechanisch so auf, daß bei analogen Teilen die konstitutiven Elemente die gleiche räumliche Anordnung haben. »Ein Organ wird eher verändert, atrophisch, vernichtet als versetzt«?). Folglich bestehe die Ähnlichkeit zweier Formen einmal darin, daß alle ihre konstitutiven Teile in beiden vorhanden sind, und dann darin, daß sie in beiden auch dieselbe gegenseitige Lage haben. GEOFFROY nimmt an, daß seine »Gesetze« nicht nur auf die Wirbel- tiere, sondern auf alle Tiere überhaupt anwendbar sind, und hat uns ein konkretes Beispiel solcher Anwendung gegeben (1820). In einer Reihe von Untersuchungen bemüht er sich, Analogien zwischen den Insekten und den Wirbeltieren zu entdecken. Die verschiedenen Ordnungen der Insekten meint er auf verschiedene Ordnungen der Wirbeltiere zurückführen zu können; in einer Anmerkung erklärt er, wie er sich diese Zurückführung vorstellt: wie bei der Bienenlarve die ı) Phil. anat. p. XXXII. 2) Ebenda p. XXX. 214 15% Kapitel. Nahrung dafür bestimmend ist, ob sich aus ihr eine Arbeiterin oder eine Königin entwickelt, so bestimmt auch etwas den Plan einer Tierart in der Weise, daß er eher so als anders ausfällt; »und diese Idee habe ich vor Augen«, sagt er, »wenn ich gestehe, daß ich die fundamentale Organisation der Krustazeen beispielsweise eher in den Organen der Vögel erkennen kann als in denen der Fische, welche ihnen näher stehen. Es war mehr Identität in den bewirkenden Ur- sachen bei Vögeln und Krustazeen, so daß, wenn man bei letzteren das oben zitierte Beispiel der Bienen nachahmen und sie durch kräf- tigere (plus effective) Nahrung auf eine höhere Entwicklungsstufe bringen könnte, nicht Fische, sondern Vögel daraus entstehen würden. Man lasse umgekehrte Bedingungen zu und nehme an, daß das Krusten- tier eine Verminderung seiner ernährenden Tätigkeit erleide, so wird es auf ein niedrigeres Stadium der organischen Entwicklung herab- sinken; es wird aus ihm kein durch Tracheen atmendes Insekt werden, sondern eines jener sechsfüßigen Insekten, welche sich durch die Ein- fachheit ihrer Atmungsorgane auszeichnen. Ich bitte übrigens, alles dies nicht buchstäblich zu nehmen, ich wollte nur meinem Gedanken durch eine Fiktion eine erklärende Form geben«'). Nachdem GEOFFROY den Leser auf diese Art in seine Auffassungs- weise eingeführt hat, behauptet er, daß die Insekten den Embryonen (foetus) der Wirbeltiere ähnlich sind. Ihre Wirbel sind bis auf die Körperoberfläche erweitert (bei der Schildkröte ist die Erweiterung bereits angebahnt); »daraus ist zu folgern, daß die Insekten Wirbel- tiere sind«”).. Wenn man Insekten und Wirbeltiere in dieser Weise miteinander vergleicht, kommt man notwendig zu dem Schlusse: »Jedes Tier wohnt innerhalb oder außerhalb seiner Wirbelsäule« ?) — die Insekten innerhalb, die Wirbeltiere außerhalb derselben. GEOFFROY geht dann auf das Spezielle ein und sucht für jedes Körperelement der Wirbeltiere ein Analogon bei den Insekten: den Kopf der In- sekten homologisiert er mit den Gesichtsknochen, die Insektenflügel haben ihr Analogon (Homologon) in der Schwimmblase der Fische; und so kommt er endlich dazu, die CuVIERsche Klassifikation der Tiere durch die folgende zu ersetzen: Wirbeltiere Wirbellose m m Höhere Wirbeltiere Hautwirbeltiere Weichtiere Strahltiere. (hauts vertebres) (dermovertebres). 1) OKENSs »lIsis«, 1820 I. S. 456, wo die Abhandlung abgedruckt ist. 2) Ebenda S. 457. 3) Ebenda S. 437. Begründung und Entwicklung der Morphologie. 215 Diese Einteilung ist offenbar nicht konsequent genug: den Prinzipien GEOFFROYs zufolge sollten auch seine Wirbellosen eigentlich Wirbel- tiere sein. Tatsächlich hat er später diese Korrektur vorgenommen und auch die Zephalopoden als Wirbeltiere erklärt. Er ist dann noch einmal (1822) auf die Analogie der Arthropoden mit den Wirbeltieren zurückgekommen und hat mancherlei an seinen Ansichten geändert; in der Hauptsache ist er ihnen aber treu geblieben. Diese Auseinandersetzungen sind nicht nur deshalb bemerkenswert, weil sie sehr an die Spekulationen der deutschen Naturphilosophen erinnern — ÖKEN hat sie in seine Isis aufgenommen —, sondern auch darum, weil sie die rein morphologische Betrachtungsweise GEOFFROYS deutlich wiedergeben. Seine Ansichten sind unrichtig, phantastisch, oberflächlich und haben vielleicht noch andere Fehler, aber sie sind rein morphologisch gedacht: keine Spur von Physiologie, keine Spur eines genetischen Gedankens ist in ihnen enthalten; man be- achte wohl, wie sich GEOFFROY bemüht, von seinem Beispiel der Ernährungswirkung jeden Gedanken an eine »Wirkung« und an eine »Ernährung« abzustreifen, um es nur rein formal zu erhalten. GEOFFROY schreckt vor der Annahme, daß die Gehörknöchelchen keine physiologische Rolle haben, nicht zurück und behauptet morpho- logisch folgerichtig, sie stellten eine rudimentäre Überflüssigkeit (une sorte de superflu reste rudimentaire) dar, die bei den Fischen voll- ständig entwickelt (er homologisierte den Kiemendeckel damit), bei den höheren Wirbeltieren aber nur infolge der Einheit der Struktur vorhanden und rudimentär ist. Charakteristisch ist, daß CUVIER über diese Art der Schlußfolgerung den Kopf geschüttelt hat’); er faßte die Morphologie nicht so abstrakt, und deshalb mußte ihm ein funktionsloses Organ bedenklich erscheinen. Die Polemik mit Cuvier. Bekanntlich ist GEOFFROY mit CUVIER in einen Streit geraten, der von den Agitatoren für den Darwinismus als Kampf um die Frage nach der historischen Entwicklung der Tiere bezeichnet wurde. Tatsächlich hat sich’s dabei um die Hauptthese der morphologischen Spekulationen GEOFFROYs gehandelt: ob die Strukturen der verschiedensten Organismen nur quantitative Modi- fikationen einer und derselben Grundform sind, oder ob qualitative Unterschiede angenommen werden müssen. War auch das Problem so nicht formuliert, so hat sich doch gerade hierum der Streit gedreht. Wie bereits bemerkt wurde, waren CUVIER und GEOFFROY anfangs ı) Hist. du progr. des scienc. nat. II. p. 64. 216 IX. Kapitel. (seit 1821) innig befreundet, so daß sie sogar ihre Arbeiten gemein- schaftlich verfaßten. Allmählich lockerte sich jedoch ihre Freund- schaft immer mehr: CUVIER war viel zu sehr Empiriker, als daß er vor den vagen Unbestimmtheiten des GEOFFROYschen Gedankengangs nicht hätte zurückschrecken sollen. Wenn ich die Referate CUVIERs über die Fortschritte der Natur- wissenschaft durchblättere, so finde ich, daß er gleich von Anfang an GEOFFROY mit auffallend kalter, unaufrichtiger Objektivität behandelt, und der Gegensatz erweitert sich je länger je mehr, bis er 1830 zum offenen Bruche wird. Es wurde der Akademie damals eine Abhand- lung von MEYRAUX und LAURENCET vorgelegt, in welcher diese eine Analogie zwischen dem Bau der Wirbeltiere und der Zephalopoden gefunden zu haben behaupteten; danach sollten sich beide Typen auf- einander zurückführen lassen, wenn man den Zephalopodenkörper als ein in der Mitte seiner Länge nach dem Rücken zurückgebogenes Wirbeltier betrachte, bei dem Becken und Füße an den Kopf zu liegen kämen. Die Zephalopoden würden sich nach dieser Auffassung, auf ihren Armen schreitend, ganz ebenso bewegen wie Gaukler, welche ihre Schultern und ihren Kopf nach hinten krümmen, um gleichzeitig auf Kopf, Händen und Füßen gehen zu können. Die Autoren meinten die zwischen den Wirbeltieren und den Mollusken vorhandene Lücke durch ihre Annahme ausgefüllt zu haben. GEOFFROY beurteilte sie trotz ihres Widersinns nicht ungünstig, während CUVIER sie selbst- verständlich zurückwies, was eine Polemik zur Folge hatte. Der Streit drehte sich um die Frage, was man unter der Ähnlichkeit des Planes und der Struktur, die innerhalb der einzelnen Typen CuVIERs allgemein anerkannt wurde, zu verstehen habe, und ob die Analogie des Planes auch über die Typen hinausreiche und alle Tiere umfasse, ob die Einheit des Planes als Einheit der Struktur, wie CUVIER behauptete, oder als Identität der konstitutiven Teile, wie GEOFFROY lehrte, zu deuten sei. CUVIER hatte mit der Überwindung seines Gegners ziemlich leichte Mühe; denn GEOFFROYs Ansicht, daß die Formen aller Tiere materiell dieselben und nur der Größe der einzelnen Elemente nach verschieden seien, war zu absurd. So mußte er denn im Verlaufe des Streites immer weiter von dieser Auffassung zurückweichen und konnte seinen Rückzug nur durch allgemeine Redensarten zu verschleiern suchen. Aber die Tatsache, daß die Richtigkeit seiner ganzen Theorie und seiner all- gemeinen Sätze sich nur so lange behaupten ließ, als jene unmögliche Annahme unwidersprochen blieb, vermochte er nicht aus der Welt zu schaffen. Begründung und Entwicklung der Morphologie. 217 CUVIER behielt im Streite mit GEOFFROY recht; er hat nicht nur äußerlich, sondern auch tatsächlich gesiegt. Wie ihm überhaupt ein feiner Sinn für die richtige Beurteilung des Tatsächlichen eigen war, so hat er sich auch in Sachen der Morphologie nicht in Einseitigkeiten verloren wie sein Gegner. Deshalb wurde ihm leicht, auf Grund des Tatsachenmaterials zu beweisen, daß es qualitative Unterschiede zwischen den einzelnen Typen gibt, und daß die Annahme bloß einer Grundform zu Unmöglichkeiten führen muß. Es ist leicht zu verstehen, daß auch GEOFFROY trotz der Unhalt- barkeit seines Standpunktes zahlreiche Anhänger fand. Denn seine Stellungnahme berührt noch heute sympathisch: er hat ja gewagt, die vergleichende Anatomie, die es mit materiellen Teilen, mit Organen als Einheiten des Körpers, zu tun hat, in ihre Konsequenzen zu verfolgen, und diese Konsequenzen tapfer verteidigt. CUVIER und GEOFFROY gingen beide von der unrichtigen Voraussetzung aus, daß es Aufgabe der Morphologie sei, den Körper in Organe zu analy- sieren und diese dann miteinander zu vergleichen. Bei einer der- artigen Annahme kann der Begriff der Einheit der Organisation aller- dings keinen andern Sinn haben als den der Gleichheit der Anzahl dieser Organe, der materiellen Elemente. CUVIER nahm solche Gleichheit für den Bereich der einzelnen Typen in Anspruch, und das war ebenso unzutreffend wie GEOFFROYs Theorie, die allen Typen dieselben Organe zuschreibt. Ersterer hat aber seine Behauptung nicht auf die Spitze getrieben, sich vielmehr von der richtigen Er- kenntnis leiten lassen, daß auch die gegenseitigen Beziehungen (die formalen Korrelationen) der Teile des Organismus beachtet werden müssen, während der letztere, mehr konsequent als praktisch, nur Massenkorrelation, keine Formkorrelation gelten lassen wollte. Teratologie. Morphologische Betrachtungen haben GEOFFROY auch zum Studium der Teratologie geführt. Vor der uns hier inter- essierenden morphologischen Periode hat man auch hier und da Mon- strositäten beachtet, jedoch ohne zu einer irgendwie bestimmten An- sicht darüber zu gelangen. Theoretisch haben sich mit der Frage der Mißbildungen erst die Evolutionisten befaßt, weil deren Vorkom- men ein wesentliches Hemmnis für ihre Spekulationen bildete. Ihre teratologischen Anschauungen wurden bereits erwähnt. BUFFON war der erste, welcher die Monstrositäten klassifizierte. Er unterschied drei Klassen, nämlich durch Exzeß, durch Mangel, durch Umkehrung oder fehlerhafte Stellung der Teile verursachte Mißbildungen. Eine viel gründlichere Untersuchung hat GEOFFROY 28 IX. Kapitel. ihnen gewidmet’) und ihr Studium wissenschaftlich betrieben. Zwar hat er ihnen den Charakter als Abnormitäten nicht völlig abgesprochen, er betrachtete sie aber insofern als normale Naturerscheinungen, als er nachweisen konnte, daß ihre Formen nicht ganz regellos vorkom- men, daß gewisse Arten von ihnen oft wiederkehren, und daß überhaupt in allen ein gesetzmäßiger morphologischer Zusammenhang besteht. Konsequenterweise versuchte er nun, die Mißbildungen ganz wie nor- male Formen zu klassifizieren. Er unterscheidet auch bei ihnen Ord- nungen, Familien, Gattungen und Arten. Ihre spezielle Einteilung muß ich übergehen und will nur noch darauf hinweisen, daß auch das Studium der Monstrositäten für GEOFFROYs rein morphologischen Standpunkt spricht, sowie darauf, daß er mit seinem Versuche, durch die Teratologie (der Name stammt von ihm) die vergleichende Ana- tomie zu erweitern und zu vertiefen, an W. ROUX erinnert, der wieder durch künstliche Eingriffe in die Entwicklung die Embryologie ge- fördert hat. Faßt man hierbei ins Auge, wie trotz der Analogie die Problemstellung (Morphologie — Entwicklungsgeschichte) und ihre Lösung (dort Klassifikation, hier Experiment) ausgefallen ist, so wird man den Unterschied zwischen der damaligen morphologischen und der heutigen genetischen Forschungsrichtung leicht innewerden. Außerdem ist zu bemerken, daß GEOFFROY auch für die Mißbildungen seine (normale) Grundform annimmt, die in ihnen nur durch quantitative Disproportionen zur Monstrosität wird; so findet er, daß die sog. kopf- losen Embryonen doch Rudimente einer knöchernen Gehirnkapsel besitzen, daß die Hasenscharte in der Auflösung der Artikulation der Intermaxillarknochen untereinander oder der Artikulation zwischen diesen und den Maxillen besteht usf., überhaupt, daß die Monstrosi- täten nur quantitative, nicht qualitative Abnormitäten darstellen. Phylogenie. GEOFFROY ST.-HILAIRE hat sich auch über die Phylo- genie konkrete Vorstellungen zu bilden gesucht. So veröffentlichte er 1795 eine vergleichend-anatomische Untersuchung über die Kro- kodile, in der er zunächst deren systematische Beziehungen behandelt, dann aber auch fossile Formen — aus diesen bildet er zwei Gat- tungen: Teleosaurus und Steneosaurus — in den Kreis seiner Be- trachtungen zieht. Daran schließt er die Theorie, daß die jetzigen Krokodile durch eine ununterbrochene Reihe von Veränderungen aus jenen vorweltlichen entstanden seien; als Ursache der Veränderungen bezeichnet er die Wirkungen der veränderten Atmosphäre, welche die ı! Philos. anatom. T.II. Begründung und Entwicklung der Morphologie. 219 Atmungsorgane und dadurch auch alle übrigen Organe beeinflußt haben‘). In einer späteren Arbeit (1829) über denselben Gegenstand spinnt er seine Theorie weiter. Er führt an, daß die ausgestorbenen und die jetzt vorhandenen Krokodile ohne Schwierigkeit in dasselbe System passen und nur eine spezielle Modifikation des gleichen Wirbeltiertypus darstellen. Auf Grund dieser Auffassung werde man, wie er hofft, später einmal, wenn die zoologischen und geologischen Kenntnisse hinreichend erweitert sein würden, eine Chronologie der Tiere aufstellen können. Um nun etwas Positives zu erreichen, hat GEOFFROY — man beachte seine Problemstellung wohl — den Ver- such gemacht (1819), durch künstliche Eingriffe in die Entwicklung der Vogeleier bestimmte Monstrositäten zu erzielen, was ihm bis zu gewissen Grenzen auch gelang. In einer andern Abhandlung (1831) beschäftigt sich GEOFFROY nochmals mit der Frage, wie die Umgebung auf die Tiere wirke. Folgendes sei daraus hier angeführt”): » Jedes Jahr bemerken wir die Erscheinung, daß die Organisation sich verändert, um aus den orga- nischen Bedingungen einer Tierklasse in die einer andern überzugehen; so die Organisation der Frösche. Ein Batrachier ist anfangs ein Fisch, der Kaulquappe heißt, dann ein Reptil, welches Frosch genannt wird« (man achte auf das naturphilosophische Spiel mit Worten!). »So können wir erkennen, wie diese merkwürdige Metamorphose vor sich geht; und in dieser beachtenswerten Tatsache verwirklicht sich das, was wir oben als Hypothese aufgestellt haben: die Umänderung (transformation) aus einer organischen Stufe in eine Stufe, die un- mittelbar höher steht.« Aus dieser und andern Stellen in GEOFFROYs Schriften ergibt sich, daß er an eine sprungweise Veränderung gedacht hat; und diese Annahme stimmt auch mit seinem morphologischen Standpunkt überein. Übrigens können wir noch oft die Wahrnehmung machen, daß die Morphologen, wenn ihre Spekulationen überhaupt dahin 1) Recherches sur l’organisation des Gavials; sur leurs affinit€s naturelles; desquelles r&sulte la n&cessit€ d’une autre distribution gen£rique, Gavialis, Teleosaurus et Steneo- saurus; et sur cette question, si les Glavialis ete.«e 1825. — CuVIEr begleitet sein Re- ferat über diese Arbeit mit folgender impertinenten Bemerkung, die auch für die Jetzt- zeit noch aktuell sein dürfte: »Gewiß müssen die Geologen wie die Physiologen die Resultate, die er aus jenen Untersuchungen ableitet, gleich zu erfahren wünschen; die embryologischen wie die geologischen Theorien haben gleiches Interesse daran: namentlich die Geologie wird in einer ihrer wichtigsten Grundlagen wesentlich alteriert werden, wenn es gelingt, auch nur eine Spezies zu verändern. 2) M&m. sur l'influence du monde ambiant pour modifier les formes animales. 1831. 220 IX. Kapitel. neigten, sich für die sprungweise Entstehung der Formen erklärten, während die Ethologen und die Systematiker die Annahme einer all- mählichen Entwicklung bevorzugten. Historische Bedeutung. GEOFFROY ST.-HILAIRE hat durch seine Theorien namentlich in Frankreich und Deutschland Einfluß gewonnen. Im Studium der Teratologie folgten ihm in Frankreich sein Sohn ISIDOR GEOFFROY und MARCEL DE SERRES, in Deutschland BLUMEN- BACH, TREVIRANUS und MECKEL. Überhaupt ist durch seine Be- mühungen das Studium der Monstrositäten zu einer Blüte gelangt, wie sie sich weder vor noch nach ihm gezeigt hat; man braucht nur die Berichte der Pariser Akademie aus den zwanziger und dreißiger Jahren des ı9. Jahrhunderts durchzublättern, um sich von der Fülle solcher Einzelforschungen zu überzeugen. Bemerkenswert ist, daß seit dem durch DARWIN herbeigeführten Verfall der Morphologie auch das Studium der Teratologie vernachlässigt worden ist; wenig- stens wurde ihm bei weitem nicht mehr der wissenschaftliche Wert beigelegt wie zu GEOFFROYS Zeit. Dieser stellte auch das Studium der Embryologie in den Dienst der Morphologie, und infolge seiner Anregung haben dann mehrere Forscher, teils mit ihm gleichzeitig, teils nach ihm, in seinem Sinne gearbeitet. Den morphologischen Forschungen GEOFFROYs darf eine bedeutende Nachwirkung gewiß nicht abgesprochen werden. Der Erfolg des Empi- rikers CUVIER seinen Spekulationen gegenüber blieb in seiner Wirkung doch mehr äußerlich und fruchtete kaum etwas anderes, als daß diese Spekulationen fortan nicht mehr als solche, sondern als Tatsachen ausgegeben wurden. Die besten und bekanntesten Morphologen waren Anhänger GEOFFROYs, obwohl selbstverständlich nicht zu bestreiten ist, daß auch CUVIER sie beeinflußt hat. Die Bestrebungen LATREILLES und AUDOUINs, die Segmentation der Insekten auf einen Grundplan zurückzuführen und diesen mit dem Grundplan der Wirbeltiere zu homologisieren, knüpfen direkt an GEOFFROYs Phantasien an. Auch die rein morphologischen Arbeiten Savıcnys über die Homologien der Mundteile der Insekten und ähnliche Themata müssen auf die spekulativen Bestrebungen GEOFFROYs, der SAVIGNYs Freund war, zurückgeführt werden. CUVIER hat zwar über diese Arbeiten referiert, aber die Theorien von LATREILLE und AUDOUIN zurückgewiesen. GEOFFROY ist der Repräsentant der französischen Naturpilo- sophie, wenn wir der üblichen Auffassung entsprechend darunter die Spekulationen über die Natur begreifen, die in Deutschland seit KANT Begründung und Entwicklung der Morphologie. 221 in den Vordergrund traten. Naturphilosophisch ist an GEOFFROY die unbestimmte Allgemeinheit seiner »Gesetze«, die der wissenschaft- lich scharfen Fassung entbehren, und sodann die morphologische (vergleichende) Richtung, die ja auch für die deutschen Naturphilo- sophen charakteristisch ist. Daß GEOFFROY den deutschen Natur- philosophen sehr nahe stehe, erkannte auch CUVIER und wies — aller- dings sehr höflich und nur indirekt — in den Referaten über seine Forschungen darauf hin. GEOFFROY fand gegen seine Zusammen- stellung mit den Naturphilosophen sonst nichts einzuwenden und wollte sich nur darin von ihnen unterscheiden, daß er seine »Gesetze« aus der Erfahrung ableite, während sie die ihrigen a priori aufstellten‘). Erwähnenswert ist noch, daß OKEN die wissenschaftlichen Arbeiten GEOFFROYs, die der französischen Akademie vorgelegt wurden, den Lesern seiner »Isis« nochmals darbot; dieser selbst betont ihren natur- philosophischen Geist. So bemerkt er zu der Abhandlung über die Organisation der Insekten”), daß GEOFFROY der erste in Frankreich sei, der in die vergleichende Anatomie die Naturphilosophie eingeführt habe, die geeignet sei, die Bedeutung der Organe durch Vergleichung mit andern Teilen derselben oder eines andern Körpers klarzustellen. Von den deutschen Naturphilosophen unterscheidet sich GEOFFROY dadurch, daß er nicht von rein philosophischen Gesichtspunkten aus- ging, daß KANT, SCHELLING usw. für ihn nicht vorhanden waren, und daß er seine vergleichende Methode nur auf die Morphologie, nicht auf andere Gebiete der Biologie oder auf andere Wissenschaften angewendet hat. Der wichtigste Unterschied zwischen ihm und den deutschen Naturphilosophen ist jedoch der, daß ihm der Begriff des Strebens fehlte, den letztere fortwährend betonen. Bei den Natur- philosophen strebt die Natur, bestimmte Formen anzunehmen, von einer Form zu einer andern überzugehen usf.; dadurch wurde in die Morphologie ein dynamisches Element eingeführt, das anfangs lediglich mit ihr verknüpft, später aber immer schärfer hervorgehoben wurde, bis es endlich der Bedeutung der Morphologie wesentlichen Abbruch tat. Dieser Standpunkt blieb GEOFFROY fremd: er betrachtete die Formen wie geometrische Figuren; daran wird auch durch den Umstand, daß er sich zu phylogenetischen Spekulationen verleiten ließ, nichts geändert. Man kommt ganz von selbst darauf, CUVIER und GEOFFROY mit- einander zu vergleichen: CUVIER war — auch in der Theorie — I) Fragments sur la nature. CouRTIns Encyclop. moderne 1829. 2) Isis, 1820. I. S. 552 ff. 222 IX. Kapitel. praktischer gerichtet als GEOFFROY; ersterer ließ sich mehr durch die Tatsachen leiten, letzterer mehr durch die Ideen. Man wird von CUVIER mehr lernen können, GEOFFROY ist aber wärmer und darum der anregendere von beiden Forschern. Literatur. Aus der großen Anzahl der theoretischen Schriften GEOFFROYs ST.-HILAIRE seien angeführt: Philosophie anatomique. 2 Vols. Paris 1818. (Der zweite Band handelt ausschließlich von den menschlichen Monstrositäten.) » Des Insectes, sur leur organisation, sur un squelette chez eux. Paris 1820. Sur une colonne vert@brale dans les Insectes. Paris 1820. M&moire sur la generation des animaux ä bourse et le developpement de leur foetus. Paris 1824. Recherches sur l’organisation des Gavials .... et sur cette question, si les gavials aujourd’hui repandus dans les parties orientales de l’Asie, descendent par la voie non interrompue de generation, des Gavials antediluviens .... Paris 1825. Sur le prineipe de l’unit€ de composition organique. Paris 1828. 5. Die Schule Geoffroys. Schon bei der Erörterung der Theorien GEOFFROYS ST.-HILAIRE wurde darauf hingewiesen, daß er einen bedeutenden Einfluß auf die - französischen Forscher geübt hat. Seine Auffassung, daß es für alle Organismen nur eine Grundform gebe, seine Lehre von dem einheit- lichen Plan der Tiere fand den Beifall vieler zur Spekulation geneigter Köpfe und durch sie eine bis ins einzelne gehende wissenschaftliche Behandlung. Der bereits erwähnte J. V. AupoUIN nahm das GEOFFROYsche Gesetz von der Analogie der Teile an und bemühte sich nun, daraus allerlei Folgerungen auf den Bau der Arthropoden abzuleiten. Er glaubte nachweisen zu können, daß sich dieselben Körperteile der Lage und Anzahl nach bei allen Arthropoden wiederfinden; so erklärt er beispielsweise die äußerlichen Unterschiede zwischen den Insekten und den Krustazeen aus Verwachsung, Teilung und ungleichem Wachstum der ursprünglichen Elemente. Ferner versuchte er zwischen den Teilen des Insektenkörpers nach Lage, Form und Anzahl ähnliche Beziehungen aufzuzeigen, wie sie zwischen einzelnen Knochen des Wirbeltierkörpers angenommen werden. Den Kopf der Insekten hat AUDOUIN in drei Segmente geteilt und diese dann auch bei andern Arthropoden vermutet; von ihm stammt die Einteilung in Pro- thorax, Meso- und Metathorax und die dementsprechende Benennung, Begründung und Entwicklung der Morphologie. 223 sowie die Bezeichnungen Sternum, Episternum, Epimerit usw. Eine ähnliche Richtung wie er verfolgte P. A. LATREILLE in seinen ver- gleichend-anatomischen Studien. Einen interessanten Versuch zur Deutung der Lehre von der Ein- heit des Organisationsplanes hat der Physiologe und Morphologe ANT. DUGES (1797— 1838) gemacht. Bei der Analyse der Ansichten CUVIERS wurde bemerkt, daß seine Richtung sich von der Physiologie insofern nicht zu emanzipieren vermocht hat, als er die Morphologie auf die Kenntnis der Organe gründete, welche, wenigstens in der angenommenen Auffassung, we- sentlich physiologische Einheiten darstellen, und nur nebenbei auf die richtige Grundlage der Morphologie, nämlich das Verhältnis der Teile, hinwies. GEOFFROY hat sich das Verständnis für die ver- gleichende Formenlehre durch die Annahme, daß bei allen Tieren sämtliche Teile, und zwar gleichartig, vorhanden seien, völlig unmög- lich gemacht. DUGES hat beide Standpunkte zu einem einzigen, logisch unanfechtbaren vereinigt. Er behauptet nämlich, daß alle Tiere irgend- ein morphologisches Element gemeinsam haben müssen, und dieses Element sucht er nun zutreffenderweise durch Analyse des Tierkörpers nachzuweisen. Da die Problemstellung von großer Wichtigkeit ist, will ich mich etwas eingehender damit befassen. In der Neuzeit wird allgemein die Zelle als das morphologische Element des Tierkörpers angeschen, und zwar deshalb, weil alle Organismen aus Zellen zusammengesetzt sind. Diese Auffassung ist ganz unbegründet und nur aus der heut- zutage noch geltenden unrichtigen Bestimmung des Begriffs der Mor- phologie erklärlich. Die Zelle ist kein morphologisches Element, ebensowenig wie ein Atom oder ein Molekül oder ein Kubikmilli- meter organischer Substanz ein morphologisches Element ist. Unter einem morphologischen Element ist lediglich irgendeine Struktur — das liegt doch im Begriffe des morphologischen Elementes — zu verstehen, und eine solche Struktur ist die Zelle nicht: die Extre- mität, der Kopf, das Segment sind morphologische Begriffe; die Zelle ist aber nichts so Einfaches, nichts nur Morphologisches, — werden darunter doch auch chemische Eigenschaften usw. verstanden. Um ein anderes Beispiel anzuführen: auch die Iden, Idanten oder Determinanten WEISMANNS sind — zugegeben, daß derartiges in der Natur existieren kann — keine morphologischen Elemente, da sie nicht durch Analyse der Form gewonnen worden sind; es ist nichts Morphologisches darin enthalten. Die Zellen oder die Determinanten 224 IX. Kapitel. oder sonst etwas dem Ähnliches als morphologische Elemente anzu- sprechen, das wäre genau so, wie wenn der Geometer nicht Winkel und Gerade, sondern Tafel und Kreide als die Elemente eines Viel- ecks ansehen wollte. Ich kehre nun zu DUGES zurück. Ganz richtig stellte sich dieser das Problem, durch Analyse des Tierkörpers die Elemente seiner Form aufzufinden. Dabei ging er von der morphologischen Unter- suchung ALFR. MOQUIN-TANDONS (1827) aus, welcher nachgewiesen hatte, daß die einzelnen Segmente der Hirudineen einander homolog “sind, und daß jedes von ihnen auch eine physiologische Einheit bildet und deshalb als ein Organismus betrachtet werden kann; diesen Or- ganismus nannte MOQUIN-TANDON »Zoonit«. Nach seiner Auffassung bildet bei den Artikulaten jedes Segment oder vielmehr jede (laterale) Hälfte eines solchen ein elementares lebendiges Wesen, ein Zoonit, d.h. eine Einheit von Organen, die ein mehr oder weniger in sich abgeschlossenes Leben zu führen imstande sind; jedes Zoonit freilich ist mit seinem Leben von dem der angrenzenden Organismen (Zoonite) mehr oder weniger abhängig und mit diesen zu einer höheren Einheit verbunden. Analog sind die Kolonien der Polypen oder die Knospen und Äste der Bäume. Diesen Gedanken erweitert nun DUGES über die Grenzen der Artikulaten und Ringelwürmer, er will ihn auf das ganze Tierreich anwenden. Der Körper der einfachsten Wesen (die Monadaires nach DuG&s) besteht entweder nur aus einem Zoonit, oder deren mehrere vereinigen sich zu einem Aggregat. Bei den Radiaten CUVIERs stehen vier oder fünf Zoonite in einem Kreise; die Artikulaten weisen eine Reihe von Zooniten auf, die dann bei ihren höchsten Individuen be- reits zu verschmelzen anfangen, wie es der Thorax der Insekten zeigt. Die Segmentierung der Wirbeltiere ist durch ihre Wirbelsäule an- gedeutet. Nach DuGes’ Meinung kann auf diese Weise der gute Kern ge- rettet werden, der in dem GEOFFROYschen Gesetz der Einheit des Tierplanes liegt, ohne daß man zu den Unbestimmtheiten gelangt, in die sich GEOFFROY verlor. Anstatt der Einheit des Bauplanes müsse die Zusammensetzung der Organismen aus denselben Elementen, eben den Zooniten, angenommen werden. Indem diese Zoonite sich ver- schiedenartig gruppieren und ein harmonisches Ganze bilden, bauen sie die höheren und höchsten Typen auf. Die Form und die Leistungen jedes Elementarorganismus oder Zoonites ist bis zu gewissem Grade variabel; das Zoonit kann auch ganz unterdrückt werden. Wenn wir Begründung und Entwicklung der Morphologie. 225 dies beachten, können wir an die Aufstellung der Homologien. gehen. DuGeEs hombologisiert z. B. den Öberkiefer der Wirbeltiere mit den Mandibeln der Arthropoden, ihren Unterkiefer mit den Maxillen, die fünf Finger des Menschen mit den fünf Thorakalfüßen der Krustazeen. Alle von DUGES aufgestellten Homologien anzuführen, hätte wenig Zweck; die erwähnten Beispiele werden genügen. Ich übergehe auch seine Klassifikation der Tiere, in der er, dem Beispiele DE BLAINVILLES folgend, zwischen die Typen und Klassen CUVIERs noch Unterklassen als besondere Gruppen einführte, wie er denn auch sonst in der Klassifikation Neuerungen einzubürgern versuchte; sie haben aber keinen Anklang gefunden. DuGzs’ rein morphologischer Standpunkt tritt in seiner Definition der Art zutage‘). »Die Art ist«e, sagt er, »nicht eine Gruppe von Individuen (wie BUFFON und CUVIER gelehrt haben), sondern eine Gruppe von bestimmten Charakteren; es ist dies ein idealer Form-, Organisations- und Lebenstypus, auf den man alle Individuen zurück- führen kann, welche einander sehr ähnlich sind und sich durch die- selben Formen fortpflanzen.«< Auf ähnliche Weise bestimmt man »den idealen Typus« der Gattung und der Familie. Die Unabhängigkeit der morphologischen Spekulationen DuGks’ von der Physiologie ist um so interessanter, als er zugleich Physiolog war und die erste »vergleichende Physiologie« herausgab. In dieser ist er den vitalistischen Theorien der Montpellierschen Schule gefolgt. Enthält das Buch auch nur wenig Neues, so ist es doch noch heute für die vergleichenden Physiologen lesenswert. Sie können daraus ersehen, daß ihre Wissenschaft nicht erst seit gestern daist, sondern bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts auf allgemeinen und soliden Grundlagen aufgebaut war. Ziemlich große Beachtung fand zu seiner Zeit auch ETIENNE RE- NAULD AUGUSTE SERRES mit seinen morphologischen Theorien. Nach dem Beispiele GEOFFROYs suchte er die Morphologie durch das Stu- dium der Embryologie zu vertiefen; zu diesem Zweck verfolgte er die ersten Anfänge der Össifikation in menschlichen und tierischen Em- bryonen und leitete dann allgemeine Regeln über die Ossifikation daraus ab. Es sind dies die folgenden: ı. Gesetz der Symmetrie, nach welchem die Össifikation des Skeletts von den lateralen Teilen gegen die Symmetrieebene hin fort- schreitet; so verknöchern die Rippen früher als die Wirbel, und auch ı) Physiol. comp. I. p. 13 ff. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien, 1. Teil. 3 226 IX. Kapitel. die in der Symmetrieebene liegenden Teile, z. B. die Wirbel und das Sternum, werden zuerst doppelt angelegt. 2. Gesetz der Verbindung; nach diesem entstehen alle Löcher in den Knochen dadurch, daß zuerst freie Knochenanlagen um sie herum verwachsen sind; so z. B. erkannte SERRES, daß die trans- versalen Apophysen der Halswirbel aus Verwachsung mit den rudi- mentären Rippen hervorgegangen sind. 3. Gesetz der Perforation; danach bestehen auch die längeren Knochenkanäle, z. B. die halbzirkelförmigen Kanäle, usprünglich aus mehreren selbständigen Knochenstücken. 4. und 5. Alle Gelenkhöcker sind aus selbständigen Ossifikations- zentren entstanden. Das erste Gesetz hat SERRES später auch auf andere anatomische Körperelemente angewendet und bezeichnenderweise auf diesem Wege die evolutionistische Theorie in der Embryologie durch die epigene- tische zu ersetzen versucht. Er bemerkt, daß die ersten Anfänge des Blutgefäßsystems sich peripherisch anlegen, daß der Darmkanal eben- falls doppelseitig angelegt wird (er beruft sich auf C. F. WOLFF), und daß überhaupt alle Organe von der Peripherie aus gegen die Sym- metrieebene hin entstehen, nicht von dieser nach der Peripherie zu, wie die Evolutionisten anzunehmen genötigt sind. Weiter behauptet er, daß jedes Organ während der embryonalen Entwicklung eine Reihe von verschiedenen Formen durchläuft, und zwar eine desto längere, je komplizierter es gebaut ist. Sehr interessant ist, einen Irrtum zu verfolgen, der den SERRES- schen Spekulationen anhaftet. Die rationalistische Ansicht, daß nichts Neues entstehen könne, und der Einfluß sowohl der evolutionistischen Theorien wie der Lehre von der Einheit des Planes in der GEOFFROY- schen Fassung machten es SERRES ganz unmöglich, die Epigenesis konsequent durchzuführen: so verfällt er auf den unglücklichen Aus- weg, anzunehmen, daß die verschiedenen Tierformen nur verschiedene Embryonalzustände einer und derselben Form sind, welche durch irgendeine Ursache in ihrer Weiterentwicklung gehemmt worden sind. Nun glaubt er, daß die Weichtiere mit den ersten Entwicklungsstadien des Menschen zu vergleichen seien, daß der Regenwurm während seiner Entwicklung zuerst einen Polypen, dann einen Bandwurm dar- stelle. Nach SERRES stellt also die Organentwicklung des vollkom- mensten Wesens ein Bild der ganzen vergleichenden Anatomie vor; das Tierreich ist eine Kette immer vollkommener werdender Embryonen, Begründung und Entwicklung der Morphologie. 227 bzw. alle Tiere sind nur ein und dasselbe Tier, lediglich verschieden entwickelt. Wie nahe diese Ideen mit denen GEOFFROYs verwandt sind, ist leicht einzusehen. Später gaben sich H. MILNE-EDWARDS und E. v. BAER viel Mühe, ihre Unrichtigkeit nachzuweisen; dies war erst dann möglich, als für die Morphologie wieder physiologische Gesichts- punkte in Betracht kamen. Während der ersten Hälfte des ı9. Jahrhunderts schlug die ver- gleichende Anatomie zwei Wege ein: die eine Richtung blieb der reinen Morphologie GEOFFROYs und DE CANDOLLES treu und fand in R. OwEn, A. BRAUN, SCHIMPER u. a. sehr bedeutende Vertreter; die andere Richtung wurde unter der Einwirkung des wiederaufblühenden Vitalismus und der physiologisierenden deutschen Naturphilosophie zur physiologischen Anatomie, die dann vom Darwinismus übernom- men ist und bis auf den heutigen Tag unter dem Namen »verglei- chende Anatomie« getrieben wird. Die reine Morphologie hat zurzeit, soviel mir bekannt, keinen Vertreter. Dies zu erörtern, wird jedoch Aufgabe der späteren Abschnitte sein. Literatur. AUDOUIN, J. N., Recherches anatomiques sur le thorax des animaux articules et celui des Insectes hexapodes en particulier. Paris 1821. LATREILLE, PIERRE ANDRE, De la formation des ailes des Insectes et de l’organisation ext@rieure de ces animaux, comparee, en divers points, avec celle des Arach- nides et des Crustac&es. Paris 1820. DuGss, Ant., M&moires sur la conformit€ organique dans l’Echelle animale. Mont- pellier 1832. —— Trait€ de physiologie compar€e de l’homme et des animaux. 3 Vols. Paris 1838— 39. SERRES, ET. RENAUD A., Recherches d’anatomie transcendante sur les lois de l’organo- genesie appliqu@e A l’anatomie pathologique. Paris 1827. 6. Die Entwicklung der botanischen Morphologie. Die Morphologie hat sich zuerst als botanische Wissenschaft ent- faltet, danach erst wurde sie auch zu einer zoologischen; dabei ist zu beachten, daß letztere, obwohl mehr von zoologischer als von bota- nischer Morphologie gesprochen wird, eine exaktere und höhere Durchbildung erlangte und von der Naturphilosophie weniger nach- teilig beeinflußt wurde als die zoologische. Im großen und ganzen kann man die Anfänge der Morphologie in die zweite Hälfte des ı8. Jahrhunderts, die Zeit ihrer größten Blüte in den Anfang und In * 228 IX. Kapitel. ihren durch den Darwinismus verursachten gänzlichen Verfall in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts verlegen. Die botanische Morphologie entwickelte sich im Zusammenhange mit den Bemühungen um ein natürliches Pflanzensystem. LINNE war es, der zuerst (1738 und 1751) ausdrücklich auf die natürlichen Ver- wandtschaften der Pflanzen hingewiesen hat; an seine Bestrebungen knüpfte man dann in Frankreich an. Zunächst ist der Versuch MICHEL ADANSONs (1727— 1806) anzuführen, eines extravaganten Geistes, wel- cher ein einzelnes Pflanzenorgan für sich betrachtete und dessen Modifikationen bei verschiedenen Pflanzen verfolgte; auf Grund der Modifikationen des einen Organs klassifiziertte er dann die Pflanzen, deren Verwandtschaftsbeziehungen hinsichtlich dieses Organs er fest- gestellt hatte. Dann klassifizierte er die Pflanzen nach ihren übrigen Organen auf dieselbe Weise und erhielt so eine Reihe von Systemen, die er miteinander verglich. Die Pflanzenarten, welche in allen so gewonnenen Systemen nebeneinanderstehen, sind unter sich am näch- sten verwandt; überhaupt gilt dabei der Grundsatz: in je mehr Syste- men die Arten einander nahestehen, ein desto höherer Grad gegen- seitiger Verwandtschaft ist ihnen zuzusprechen. So glaubte ADANSON zu einem System gelangen zu können, das rein natürliche Verwandt- schaften zum Ausdruck bringt. Abstrakt genommen hat die ADansonsche Methode etwas Rich- tiges an sich; doch ist sie offenbar sehr unpraktisch und setzt überdies die Kenntnis aller Organe sowie aller Pflanzenspezies voraus — eine schon darum unmögliche Voraussetzung, weil man nicht a priori über den Begriff des Organs und der Pflanzenspezies ins reine kommen kann. Außerdem wird von dieser Methode die Einheit im Bau jeder Pflanze nicht berücksichtigt. Seine Theorien hat ADANSON in so dickleibigen Büchern veröffent- licht wie kaum je ein anderer, und noch dickere Bücher waren sein Ideal, das die französische Akademie allerdings nicht verwirklicht hat. Im Anschluß an das Fragment des LinnEschen natürlichen Pflan- zensystems hat auch BERNARD DE JUSSIEU (1699— 1776) ein natürliches System aufgestellt. Ohne etwas darüber zu veröffentlichen, brachte er es im botanischen Garten von Trianon, dessen Kataloge danach angeordnet wurden, zur Anwendung. Sein System ist erst später (1789) von seinem Neffen A. L. DE JUSSIEU, der der weiteren Ausbildung der natürlichen Methode selbst wesentliche Dienste geleistet hat, be- kannt gemacht worden. ANTOINE LAURENT DE JUSSIEU (1748—1836) unternahm den Versuch, Begründung und Entwicklung der Morphologie. 229 die natürlichen Pflanzenfamilien durch bestimmte Merkmale zu cha- rakterisieren und scharf voneinander zu unterscheiden. Er ging von der theoretischen Annahme einer Hierarchie der Merkmale aus, d. h. von der Voraussetzung, daß gewissen Merkmalen eine allgemeinere, umfassendere Geltung zukommt als andern, die später bei CUVIER eine wesentliche Rolle gespielt hat. PYRAME DE CANDOLLE (1778— 1841) ist für die Botanik von ähn- licher Bedeutung wie CUVIER für die Zoologie, doch steht er über CUVIER und GEOFFROY hinsichtlich der Erfassung der theoretischen Aufgabe der Morphologie. Man beachte zunächst die rein morphologischen Prinzipien seiner Systematik"): »Unter Art (species) versteht man eine Menge Pflanzen, die in unveränderlichen Merkmalen übereinstimmen. ... Gewiß gab es in der Vorwelt andere, jetzt untergegangene Pflanzenarten, ... ob die jenen oft ähnlichen gegenwärtigen Arten aus ihnen entstanden sind, ob die großen Umwälzungen auf der Oberfläche der Erde, die wir im Buche der Natur lesen, zu diesen Übergängen beigetragen haben, das wissen wir nicht. Aber was wir wissen, ist, daß, solange das Menschengeschlecht Denkmäler seines Daseins auf der Erde hinterlassen hat, die einzelnen Pflanzenarten immer dieselben Eigen- schaften unveränderlich beibehalten haben«?). Einer längeren Ausein- andersetzung über die durch das Keimen usf. hervorgebrachten Varia- tionen folgt der charakteristische Satz: »Man erkennt, daß, um den Begriff einer Art festzustellen, oft eine vieljährige und genaue Be- obachtung erfordert wird, und daß der Anbau von Pflanzen aus den verschiedensten Klimaten in botanischen Gärten ganz vorzugsweise notwendig ist, um hierüber zu entscheiden«?). Wie man sieht, ist die DE CANDOLLEsche Definition der Art nicht genetisch, sondern rein morphologisch und rein empirisch, denn die Hypothese der Veränderlichkeit hat keinen Raum darin. Weder CUVIER noch LInnE haben den Begriff der Art in dieser rein for- malen Weise bestimmt. Für die Gattung, Gruppe (tribus) und Familie gibt DE CANDOLLE nicht rationelle, sondern empirische Definitionen. So definiert er bei- spielsweise die Gattung, wie sie gewöhnlich definiert wird, daß sie die Summe der Arten ausmacht, welche in gewissen standhaften 1) Die Zitate beziehen sich auf: A. P. DE CAnDOLLEs und K. SPRENGELs Grund- züge der wissenschaftl. Pfanzenkunde, worin die morphologischen Teile der »The£orie €l&mentaire«e DE CANDOLLEs wiedergegeben sind. 203: 12T. 3) 9. 124. 230 IX. Kapitel. Eigenschaften wesentlicher Teile übereinstimmen. Aber welche Teile als wesentliche zu gelten haben, das zu entscheiden stellt er fast aus- schließlich dem Scharfblick des Botanikers anheim. DE CANDOLLE eignet sich den Satz an, daß die Natur keine Sprünge macht, doch deutet er ihn sehr richtig in der Weise: »die Natur scheint doch nicht ununterbrochen von geringerer zu größerer Vollkommenheit fortzuschreiten, sondern ihre Bildungen wiederholen sich in mehreren Familien; und fassen wir alle zusammen, so wird man von zwei nebeneinander gestellten gewöhnlich die eine Familie in mancher Hinsicht vollkommener, in anderer Beziehung viel unvoll- kommener als die andere finden«'). Wie CUVIER, so will auch DE CANDOLLE das natürliche System auf der Kenntnis der Organe und ihrer Beziehungen zueinander auf- bauen. »Bei der ganzen Pflanzenforschung«, sagt er?), »ist es ein Gegenstand von höchster Wichtigkeit, daß man über die wahre Be- deutung und Natur eines Organs im reinen sei, denn nur dann kann man sich einer richtigen Einsicht in den Haushalt der Gewächse rühmen.« Nach ihm wird die Bedeutung eines Organs erstens an seiner Funktion erkannt; zweitens aber muß man die Beziehungen des Organs zu andern Organen ins Auge fassen: »es treten nämlich in unzähligen Fällen ähnliche Formen auf wie diejenigen, welche einer bestimmten Verrichtung dienen, doch werden sie nicht geübt, und die Natur scheint in solchen Fällen ebenso wie im Tierreich um der übereinstimmenden, symmetrischen Bildung willen oft völlig un- nütze Formen hervorzubringen. ... Das alles sind Bildungen, die man sich nur aus dem Naturgesetz erklären kann« °). Unter der Symmetrie der Teile versteht DE CANDOLLE ihre rela- tiven Stellungsverhältnisse. Jedesmal, wenn diese relativen Stellungs- verhältnisse nach demselben Plane geregelt sind, bieten die Orga- nismen unter sich eine Art von Gesamtähnlichkeit dar, unabhängig von der Form der Organe im einzelnen. Für jede Pflanzenklasse muß man zunächst den Symmetrieplan kennen, und dessen Studium hat als Grundlage für jede Theorie der natürlichen Verwandtschaften zu gelten. Um ein Organ morphologisch beurteilen zu können, muß man sowohl seine Symmetrie als auch sein Verhältnis zu andern Organen oder zur ganzen Pflanze untersuchen. »Die Lage und Stellung der Teile ist der höchste Gesichtspunkt«*). Die absolute Lage und die 2),3.135. 2)#S.TTA72 3) S. 148. 4) S. 165. Begründung und Entwicklung der Morphologie. 231 Stellung verschiedener Organe zueinander sind zu unterscheiden: man muß nicht allein wissen, daß die Staubfäden auf dem Fruchtboden stehen (absolute Lage), sondern sich auch darüber klar werden, ob sie mit den Korollenteilen abwechseln oder, ihnen entgegengesetzt, vor ihnen stehen (relative Lage). Es gibt mehrere Schwierigkeiten, welche die wahre Natur eines Organs verdecken. Dazu gehören: ı. Das Fehlschlagen der Organe. Die Natur solcher abortierter Organe erkennt man durch vergleichendes Studium, durch Verfolgung ihrer Entwicklung, durch Analogie, d.h. wenn eine Bildung mehreren Familien gemeinsam ist, so werden wir, auch wo sie zu fehlen scheint, ihre Andeutung doch nicht verkennen. 2. Die Verwandlung und Ausartung der Teile. Es ist ein für die ganze Pflanzenwelt wichtiges Gesetz, daß aus jedem einzelnen Teil eines Gewächses sich jeder andere entwickeln kann, also daß die Wurzeln zu Stämmen und Zweigen, die letzteren wieder.zu Wurzeln, die Blätter zu Blattstielen werden können, und umgekehrt, usw. 3. Die Verwachsungen der Organe. Gleichartige Organe sind darauf angelegt, nicht allein zusammenzuhängen, sondern auch zu- sammenzuschmelzen; so z. B., wenn bei den Umbelliferen jedesmal zwei Früchte verwachsen. Mehrere Gesetze der Verwachsung werden unterschieden: a) Die Wichtigkeit der Verwachsungen in den Befruch- tungsteilen nimmt zu, je mehr dieser Vorgang mit Schwierigkeiten verbunden ist; denn je mehr Hindernisse zu überwinden sind, um so mächtiger muß die Ursache sein, welche sie beseitigt. b) Die Analogie der Teile erleichtert ihre Verschmelzung. c) Das Verwachsen ist um so wichtiger, je notwendiger es mit gewissen Änderungen in der all- gemeinen Symmetrie verbunden ist. Die Regeln über die Anwendbarkeit der Morphologie auf die Be- stimmung der Verwandtschaftsverhältnisse schließt DE CANDOLLE mit dem Ausspruch, die ganze Kunst der natürlichen Klassifikation be- stehe darin, den Symmetrieplan zu erkennen und von all den be- sprochenen Veränderungen desselben zu abstrahieren, ungefähr so, wie der Mineralog die Grundformen der Kristalle aus den zahlreichen Ausbildungsformen herauszufinden sucht. Wie J. SACHS nachweist'), ist DE CANDOLLE den rein morpho- logischen Prinzipien in der Ausführung seines Systems jedoch nur bei der Bestimmung der kleineren Verwandtschaftskreise treu geblieben; 2) Gesch. d. Bot. S.137R. 232 IX. Kapitel. bei der Aufstellung der größeren und größten Abteilungen des Pflan- zenreichs hat er sich nach physiologischen Merkmalen gerichtet. SACHS hat richtig erkannt, daß die DE CAnDOLLEsche Morpho- logie etwas sehr Undarwinistisches vorstellt; seine Behauptung aber, das »Dogma von der Konstanz der Arten«, wie er es nennt, sei das am meisten Charakteristische an dieser Lehre, ist als unzutreffend jedenfalls abzuweisen. Hätte DE CANDOLLE die Konstanz der Arten verworfen, so wäre er dadurch noch kein Darwinist geworden; inner- halb seines Systems würde die Nichtkonstanz der Arten doch nur den Sinn haben können, daß es zwischen den einzelnen Arten "keine festen Grenzen gibt, daß der Satz »natura non facit saltus« nicht nur auf einzelne Charaktere (wie DE CANDOLLE annahm), sondern auch auf die Individuen und Arten anwendbar ist. Das ist etwas ganz anderes als dies, daß die Arten allmählich entstanden sind: die all- mählich ineinander übergehenden Arten könnten doch auch als solche auf einmal »geschaffen« worden sein. SACHS ist ferner der Ansicht, daß die DE CANDOLLEsche Auf- fassung der abortierten Organe »wörtlich zum Beweis für die Deszen- denztheorie angeführt werden könnte«'), und daß DE CANDOLLE »mit der Einführung des Begriffes des Abortus bereits die Konstanz der Arten überschreitet, freilich ohne sich selbst über diesen wichtigen Schritt klar zu werden«”). Auch dies ist unrichtig. Zwar werden die Rudimentalorgane von den Darwinisten als exakter Beweis für ihre Theorie ausgegeben, aber eben die Tatsache, daß DE CANDOLLE, der einer historischen Betrachtungsweise der Organismen so fern stand, die Lehre von den Rudimenten konsequent und klar durchführt, muß es jedem Denkenden einleuchtend machen, daß die Rudimente einen exakten Beweis für die genetische Theorie nicht abgeben, da sie ja auch aus andern Systemen als dem genetischen folgerichtig ent- wickelt werden können. In keiner einzigen morphologischen Erschei- nung, also auch nicht in der Tatsache der Rudimente, ist eine Spur der Entstehungsursache zu finden, und DE CANDOLLE hat demnach mit seiner Lehre vom Abortus ebensowenig das Gebiet der Deszen- denzlehre betreten, wies dies ein Kristallograph mit dem Nachweise tut, daß auf irgendeinem Kristall diese oder jene Fläche rudimentär entwickelt ist. DE CANDOLLE selbst weist auf die Analogie seiner Aufstellung mit der Kristallographie hin. I) Gesch. d. Bot. S. 142. 2) Ebenda S. 143. Begründung und Entwicklung der Morphologie. 233 Zwischen den Theoremen DE CANDOLLEs und GEOFFROYSs ST.-HI- LAIRE lassen sich mehrere Parallelen ziehen: so finden wir bei jenem das Gesetz der Verwachsung der analogen Teile, bei diesem das Gesetz der »attraction de soi pour soi«; jener betont die relative Lage der Organe als morphologisch sehr wichtig, dieser behauptet, daß kein Organ seine Beziehungen zu den es umgebenden ändert; jener spricht vom Symmetrieplan, dieser von der Einheit des Planes bei allen Tieren, usf. Doch erkennt man schon aus diesen drei Beispielen die Klarheit der Auffassung DE CANDOLLEs, die Unklarheit GEOFFROYs. Letzterer hat — und das ist historisch bemerkenswert — stärker auf die deutsche Naturphilosophie eingewirkt als DE CANDOLLE, wie sich an GOETHE zeigt, der das Verbindungsglied zwischen den fran- zösischen Morphologen und den deutschen Naturphilosophen bildet. Mit großem Interesse verfolgte GOETHE die Forschungen GEOFFROYS und seinen Streit mit CUVIER. DE CANDOLLE hat auf ihn bei weitem nicht den Einfluß geübt. Und doch vertrat GOETHE auch in der Botanik die morphologische Richtung, wie aus seiner Metamorphosen- lehre deutlich hervorgeht. In ähnlicher, doch weniger theoretisierender Richtung als DE CAn- DOLLE bearbeitete ROBERT BROWN (1773— 1858) die Morphologie der Pflanzen. BRowNns Tätigkeit erschöpfte sich‘) in kritisch-monogra- phischer Bearbeitung der einzelnen Pflanzenfamilien auf Grund der vergleichenden Anatomie; eine Theorie der Klassifikation und eine theoretische Darstellung der Morphologie hat er nicht dargeboten. In Deutschland haben K. F. SCHIMPER und A. BRAUN die Pflanzen- morphologie bearbeitet; ihre Leistungen sollen erst später besprochen werden. Literatur. ADANSoN, M., Ordre universell de la nature, ou M&thode naturelle comprenant tous les &tres connus, leur qualitös mat£rielles et leurs facultes spirituelles, suivant leur serie naturelle, indiqu&e par l’ensemble de leurs rapports. 27 Vols. Paris 1749. Jussıeu, A. L., Genera plantarım. Paris 1789. DE CANDOLLE, P., Theorie @l&mentaire de la botanique ou exposition des principes de la classification naturelle et de l’art d’&crire et d’&tudier les vegetaux. Paris 1813. 1) Ich übernehme dieses Urteil aus SacHs. XRABITEL. Der Vitalismus gegen Ende des ı8. Jahrhunderts. Wir haben oben erwähnt, wie der Vitalismus STAHLs namentlich in Frankreich, in Montpellier, während des ı8. Jahrhunderts viele An- hänger fand. Doch blieb er bis in die letzten Jahrzehnte des Jahr- hunderts auf die medizinischen Lehren beschränkt; in der übrigen Biologie herrschte eine ziemlich unklare Mischung der mechanistischen Ideen DESCARTES’ mit LEIBNIZscher Philosophie. Erst am Ausgange des ı8. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts gewann der Vitalismus allmählich wieder allgemeinere Anerkennung. Man sah keinen Grund mehr, dem Vitalismus zu mißtrauen bzw. entgegenzutreten; denn die allgemein verbreitete Philosophie LEIBNIzZens hatte den Gegensatz zwischen dynamischer und mechanischer Naturauffassung verwischt, und manche Materialisten, wie DE LAMETTRIE, benutzten sogar die dem Vitalismus nahe verwandte HALLERsche Lehre von der Irrita- bilität als einer dem Organismus immanenten Kraft als Beweis und Stütze für ihre die Seele negierenden Theorien. So finden wir, daß gegen das Ende des ı8. Jahrhunderts die meisten Biologen gelegentlich von einer Lebenskraft sprechen, ohne sich indes über die Tragweite einer derartigen Hypothese klar zu werden; CUVIER, GEOFFROY, SERRES und andere nehmen eine solche Kraft dem Wortlaute nach an, machen in ihren Theorien aber von ihr weiter keinen Gebrauch. Erst die Physiologie und die Embryologie suchten die Lebenskraft auch innerhalb der speziellen Theorien zu wesentlicherer Geltung zu bringen. In der Physiologie (und Pathologie) leisteten dem Vitalismus besonders die Anschauungen, zu denen sich die physiologische Schule von Montpellier und englische Pathologen bekannten, sowie die den Galvanismus betreffenden Lehren Vorschub. Von den französischen Vitalisten gewann F. X. BICHAT, den wir in einem besondern Kapitel zu behandeln gedenken, die größte Bedeutung. In England wirkte der Der Vitalismus gegen Ende des 18. Jahrhunderts. 235 Arzt JOHN BROWN (1735— 1788), der als wesentliche Eigenschaft der Organismen die »Erregbarkeit« ansah, für die Ausbreitung vitalistischer Gedanken. Da er seine Lehre nur auf die Pathologie angewendet hat, können wir ihn hier übergehen; statt dessen wollen wir (später) die Ideen ERASMUS DARWINs anführen, die zwar weniger durchgearbeitet sind, aber der allgemeinen Biologie näher stehen. Die Entdeckung ALoısıo (LuIGI) GALVANIS (1737—1798), daß der lebende tierische Körper Elektrizität entwickeln kann, hat viel dazu beigetragen, den lebendigen Körper als von der Außenwelt unab- hängig zu betrachten. In Deutschland wurde der Vitalismus nament- lich von seiten der Embryologie gefördert; doch war er hier so sehr mit der Naturphilosophie verquickt, daß es kaum möglich ist, beide auseinanderzuhalten. Deshalb sollen beide Richtungen in dem Ab- schnitt über die Naturphilosophie zusammen behandelt werden. E-#% Biıchäl, MARIE FRANGOIS XAVIER BICHAT (1771— 1802) war ein origineller Geist und dabei ein überaus fleißiger, umsichtiger Forscher, dem ein- dringender Verstand ebenso eignete wie philosophischer Tiefsinn. Seine physiologischen »Untersuchungen über Leben und Tod« (1800) gelten der Unterscheidung der animalischen und der vegetativen Teile des Körpers. Diese Abhandlung ist wie alle seine Arbeiten schnell konzipiert; gleichwohl bietet sie zahlreiche Beobachtungen und Experimente im Zusammenhange mit einer Fülle anregender Gedanken. Der größte Teil der Schrift ist der speziellen Physiologie des (menschlichen) Todes gewidmet; wir wollen nur auf die allgemeinen Gesichtspunkte, unter denen der Gegensatz zwischen organischem und animalischem Leben obenan steht, kurz eingehen. BICHAT behauptet, daß die animalischen Organe (Muskeln, Sinnes- organe, Haut) immer symmetrisch angeordnet sind, während die vege- tativen Körperteile (er nennt sie die organischen), zu denen Herz, Magen, Sympathikus usw. gezählt werden, unsymmetrisch zu sein pflegen. Diese Symmetrie und Asymmetrie greift nach BICHAT tief in das Leben des Individuums ein: das rechte und das linke Auge arbeiten als symmetrische Teile gleichmäßig; wenn auch nur das eine Auge schwächer wird, hat dies doch eine starke Herabsetzung der Sehkraft zur Folge. Bei den organischen Teilen verhält sich's nicht ebenso: es hat keine übeln Folgen, wenn die rechtsliegenden Speichel- drüsen stärker sezernieren als die linksliegenden. 236 X. Kapitel. Ein anderer Unterschied zwischen organischem und animalischem Leben soll darin bestehen, daß ersteres ohne Unterbrechung andauert, während letzteres periodisch auf und nieder geht. So muß der Mensch fortwährend atmen, auch der Kreislauf darf nicht unterbrochen werden; die Sinnesorgane dagegen und die Muskeln müssen aus- ruhen. Der dritte Unterschied besteht darin, daß die Gewöhnung nur auf das animalische, nicht aber auf das vegetative Leben wirkt: so wird durch längere Einwirkung auf ein Sinnesorgan der Eindruck ge- schwächt, durch Wiederholung das Urteil geschärft; der Kreislauf des Blutes aber, das Ein- und Ausatmen, die Aufsaugung usw. werden durch Gewohnheit nicht alteriert, das Leben würde bedroht werden, wenn das geschähe. Auch die Lebenskräfte sind nach diesen Prinzipien zu unterschei- den. BICHAT gibt folgende Übersicht: Klassen Gattungen Arten Varietäten ı. Animalisch I. Empfindlichkei ) en De Organisch I. Lebenskräfte 1. Animalisch II. Kontraktilität \ Se a) In die Sinne fallend [08° )b) Unmerklich. II. Eigenschaften| Extensibilität des Gewebes ( Kontraktilität. Er hat seine Lehre von der Lebenskraft aus der vitalistischen Schule von Montpellier übernommen. Die Lebensvorgänge sind nach ihm von den Vorgängen der organischen Natur grundsätzlich ver- schieden; denn die Kräfte des lebendigen Körpers, eben die Lebens- kräfte, können in einem Teile des Körpers zunehmen, in andern Teilen abnehmen, während die physikalischen Kräfte konstant sind. Unter der Lebenskraft stellt sich BICHAT die Fähigkeit der Körper- teile vor, die ihnen gebührenden Funktionen auszuüben; wenn z.B. die Speicheldrüsen einseitig exstirpiert werden, und die der andern Seite ihre Funktion übernehmen und stärker als früher sezernieren, so ist dies ein Zeichen der Zunahme ihrer Lebenskraft. Diese ist nichts vom Körper Isolierbares, sie ist Eigenschaft der lebenden Körperelemente, ebenso wie die chemischen Reaktionen Eigenschaften der chemischen Substanzen sind. Demgemäß sagt BICHAT: »Das Verhältnis der Eigenschaften als Ursachen zu den Erscheinungen als Folgen ist heute ein fast triviales Axiom der Physik, in der Chemie, Der Vitalismus gegen Ende des 18. Jahrhunderts. 237 in der Astronomie usw. Wenn dieses Werk ein analoges Axiom in den physiologischen Wissenschaften aufstellt, so wird es sein Ziel er- reichen«'). Seine Betrachtungsweise läßt sich leicht durch eine Ana- logie veranschaulichen. Es ist die Eigenschaft des Wasserstoffes, sich mit dem Sauerstoff zu verbinden, man nennt sie Affinität. Die Affı- nität kann man selbstverständlich nicht am Wasserstoff als solchem sehen, man muß sie vielmehr experimentell ermitteln; durch Experi- mente erlangt man eine Reihe von Affinitäten, welche dann dem Wasserstoff als dessen Eigenschaften zuerkannt werden. Das Ana- logon der Affinität ist für BICHAT die Lebenskraft. Sie ist demnach die Art, wie die lebendige Substanz auf den Einfluß der Umgebung reagiert. BICHAT hat sich die Denkweise LAVOISIERS angeeignet. Wie dieser die chemischen Substanzen zu zerlegen versuchte und jeder ihre Affınitäten zuwies, so ging er darauf aus, die lebendigen Substanzen zu zerlegen. In seiner »Allgemeinen Anatomie« bemüht er sich, den lebendigen Körper (des Menschen) in seinen Elementen zu analysieren und auf diesem Wege Physiologie, Pathologie und Therapie auf die Kenntnis der Eigenschaften jener Elemente oder »einfachen Systeme« zurückzuführen. Als organische Elemente be- zeichnet er folgende Gewebeformen: ı) Zellgewebesystem. ıı) Fasersystem. 2) Animales Nervensystem ı2) Faserknorpel. (Zerebrospinal). EN Animales Muskelsystem. 3) Organisches Nervensystem 14) Organisches Muskelsystem. (Sympathikus). 15) Schleimhäute. 4) Arterien. 16) Seröse Häute. 5) Venen. 17) Synovialhäute. 6) Exhalierende Gefäße. 18) Drüsen. 7) Absorbierende Gefäße. 19) Lederhaut. 8) Knochensystem. 20) Epidermis. 9) Knochenmark. 2ı) Haar- und Horngewebe. 10) Knorpel. Die Elemente behalten, wie die chemischen Elemente, überall, wo sie vorhanden sind, ihre Natur bei. »Seien die Partien, in denen sie vorkommen, wie immer beschaffen, ihre Natur ist konstant die- selbe, wie in der Chemie die einfachen Körper nicht variieren, mögen ı) Vorwort zu »Trait€ des membranes«. 238 X. Kapitel. auch die Verbindungen, die durch sie gebildet werden, wie immer beschaffen sein.« Jedes dieser organischen Elemente hat seine be- stimmte Reaktionsart, seine bestimmte Lebenskraft. Auf diese Weise hat BICHAT die Grundlagen zur Histologie ge- lest. Zwar unterschied man schon im Altertum mehrere Gewebe- formen, wie wir bei GLISSOoN erwähnten, und die Histologie der Pflanzen war infolge der Forschungen MALPIGHIs zu einer empiri- schen Wissenschaft geworden; doch war des letzteren Arbeit in Ver- gessenheit geraten, und GLISSONs viel zu abstrakte histologische Theorie war veraltet. Da machte BICHAT den kühnen Versuch, die Gewebeformen einmal als Elemente im histologischen und physio- logischen Sinne zu betrachten; durch seine Bemühungen wurde die Lehre von der Lebenskraft in eine gesunde empiristische Richtung gelenkt. Die Lebenskraft war nun nicht mehr die den ganzen Körper belebende Seele, sondern sie konnte in den Reaktionen bestimmter, greifbarer Gewebeformen studiert werden, und das Leben war nur die Einheit dieser empirischen Reaktionen. Den Nachfolgern BICHATs verblieb die Aufgabe, zu prüfen, ob und inwiefern die histologischen Elemente wirklich als Einheiten aufzufassen seien, und inwiefern die ihnen zugeschriebene Reaktionsweise wirklich konstant sei; kurz, man hätte die empirische Analyse der Struktur- und der Funktionsweise .des Körpers in der Richtung BICHATs fortsetzen sollen. Aber dazu verstand man sich nicht. Unter dem Einfluß der deutschen Natur- philosophie änderte man die Anzahl der von BICHAT angenommenen Lebenskräfte ganz willkürlich, ohne sich an bestimmte Begriffsbestim- mungen und an deren empiristische Prüfung zu halten. Eigentümlich ist die bekannte Definition des Lebens, welche BICHAT gibt. Er faßt das Leben als die Summe der Erscheinungen, die dem Tode widerstehen. Die ganze Anschauungsweise der Vitalisten des ı8. Jahrhunderts ist in diesem Satz enthalten: die Aktivität des lebendigen Körpers, eine Kraft, welche von innen nach außen wirkt und die toten Kräfte überwindet; man kann daraus sogar eine Art Kampf ums Dasein herauslesen; doch inter- essiert BICHAT eben dieser Kampf selbst, die Kräfte, welche in ihm entwickelt werden, während DARWIN auf seine Folgen das Haupt- augenmerk richtet. BiCHATs Lehren machten ihren Einfluß vorwiegend auf medizi- nische Spekulationen geltend. Bemerkenswert ist, daß er in ge- wissem Sinne als Vorläufer der Zellentheorie betrachtet werden kann: wie diese den Körper in Elementarteile sondert, die mehr oder Der Vitalismus gegen Ende des 18. Jahrhunderts. 239 weniger selbständig leben, so sollen auch BICHATs elementare Ge- webeformen solche selbständige Einheiten darstellen. Literatur. BICHAT, X., Trait€ des membranes. Paris 1800, —— Recherches physiologiques sur la vie et la mort. Paris 1800. —— Anatomie gen@rale. Paris 1801. XI. ,KABETEL. Die deutsche Naturphilosophie. Unter Naturphilosophie verstehen wir in dem hier gegebenen Zu- sammenhange diejenigen Spekulationen über die Natur, die am Ende des ı8. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland nament- lich unter dem Einfluß des Philosophen SCHELLING getrieben wurden. Es wird Aufgabe der folgenden Erörterungen sein, die historischen Quellen der Naturphilosophie aufzusuchen, ihr Wesen zu analysieren und ihr Verhältnis zur Biologie zu bestimmen. 1. Begriff der Naturphilosophie. Das Wesen der Naturphilosophie besteht darin, die ganze Natur, den Geist inbegriffen, in allen ihren Elementen als identisch aufzu- fassen: alles ist wesentlich gleich, Tier, Elektrizität, Sonne, Gott, Begattung usf. Etwas Richtiges liegt in dieser Vorstellung; es ist nicht zu bestreiten, daß sich von zwei beliebigen oder von mehreren Dingen eine oder mehrere gemeinsame Eigenschaften abstrahieren lassen; z. B. die Sonne leuchtet, die Pflanze bildet mit Hilfe des Lichts ihre Stärke — also haben Sonne und Pflanze das Licht in gewisser Hinsicht gemeinsam. Es ist ferner ein ganz korrekter Standpunkt jeder rationalistischen Methode, solche gemeinsame Merkmale zu Be- griffen zusammenzufassen, und ein Zeichen der Originalität, recht heterogene Dinge unter einen Begriff bringen zu können. Das alles haben die Naturphilosophen getan. Sie hatten aber keinen Sinn dafür, was jenen Abstraktionen erst den Wert der Erkenntnis verleiht; sie machten nämlich niemals den Versuch, anzugeben, inwiefern bzw. innerhalb welcher Grenzen ihre Abstraktionen Geltung zu beanspruchen hätten. Ihre Behauptungen sind gewöhnlich nicht a priori unmöglich, aber durchaus unbestimmt. Die deutsche Naturphilosophie. 241 Einige Beispiele aus OKENs Schriften werden dies veranschaulichen. »Das gesamte Tierreiche, behauptet OKEN'), ist nichts anderes .. als der auseinandergelegte Mensch.« Dieser Satz drückt nur in para- doxer Fassung das Prinzip der Analogie im Bau der Tiere aus; da ÖKEN aber in diesem Falle die Individualität jedes Tieres (bewußt) übersieht, ist seine Behauptung tatsächlich widersinnig. Oder”): »Die Spiralgefäße [der Pflanzen] bestehen aus einem oder mehreren ge- wundenen Fäden, durch eine zarte Haut röhrenförmig zusammen- gehalten. ... Der Grund dieser Spiralform scheint im Umlauf der Sonne zu liegen. Darauf beruht wahrscheinlich auch das Winden der Pflanzenstengel, der spiralförmige Stand der Blätter und Zweige, viel- leicht selbst die Windungen der Schneckenschalen und der Haare auf dem Wirbel des Kopfes. Die Bildung der Spiralform entsteht aus dem Gegensatze des Lichtes und der Materie. ...«e Die Kühnheit der Phantasie läßt hier gewiß nichts zu wünschen übrig; und doch hat OKEN dabei an etwas Konkretes gedacht: er glaubt nämlich, wie aus einer andern Stelle?) hervorgeht, daß die Sonne die Pflanzen- körnchen anziehe; wie sie sich am Himmel bewegt, nehmen auch die Körnchen eine andere Lage in den Spiralgefäßen an, und indem sie fest werden, zeigen sie den Gang der Sonne an; ist ihre Be- wegung erst einmal eingetreten, so soll sie sich auch ohne die Wir- kung der Sonne fortsetzen. Wie man sieht, liegt der phantastischen Darlegung etwas Tatsächliches zugrunde, aber selbstverständlich müßte zunächst präzis angegeben werden, ob überhaupt und in welchen Grenzen diese Auffassung wirklich Geltung hat, und ob sie auf alle die angeführten Fälle angewendet werden darf. Der Ursprung der deutschen Naturphilosophie muß vor allem in der Veranlagung des deutschen Geistes, mit der Spekulation möglichst in die Tiefe zu dringen, selbst wenn das Verständnis noch so sehr darunter leiden sollte — wobei dann oft statt der Tiefe des Gedankens die des Ausdrucks geboten wird —, gesucht werden. Historisch ist sie auf die französische Schöngeisterei zurückzuführen (ROUSSEAU — GOETHE — HERDER — KANT — SCHELLING), sodann auf die ver- gleichende Morphologie, von der sie die Methode der Vergleichung und zum großen Teil auch das Material übernahm, ferner auf den Vitalismus, welcher durch BICHAT zu neuer Blüte gelangt war. ı) Lehrb. d. Naturphil. S. 2. 2) Ebenda S. 168. 3) Allgem. Naturgesch. I. S. 18. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. I. Teil. 16 242 XI. Kapitel. Außerdem kommt in Betracht, daß die Phantasie der Philosophen durch die Entdeckung der galvanischen Elektrizität durch L. GAL- VANI (1737—1798) lebhaft erregt war; hierdurch finden z. B. die Phantastereien des tierischen Magnetismus, Mesmerismus usf. ihre Erklärung. Wir wollen nun die wichtigeren Begründer und Vertreter der Naturphilosophie anführen; die weniger bedeutenden werden wir diesen anschließen. Selbstverständlich können wir nicht die Gesamtentwick- lung der deutschen Philosophie in jener Zeit schildern; wir werden nur immer das für die Biologie Wichtige im Auge zu behalten haben und das übrige beiseite lassen; aber auch da wird es noch nötig sein, mehr als sonst auf Abstraktionen einzugehen. A. Die Philosophen. 243: GHerder. JOHANN GOTTFRIED VON HERDER (1744— 1803) ist für die Geschichte der Biologie in zwiefacher Weise wichtig; einmal hat er durch seine weiche Gefühlsphilosophie die Geister für die Unbestimmtheit der Naturphilosophie vorbereitet, dann aber hat er auch die genetische Naturauffassung gefördert. Er schöpfte seine Ideen, soweit sie unsern Gegenstand betreffen, aus LEIBNIZ und aus ROUSSEAU: ersterem ver- dankt er die Betonung der Einheit in der Natur, des Stufengangs der Wesen und der Entwicklung; letzterem die Spekulationen über die Geschichte der Natur und die des Menschen insbesondere. In seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784)*), die für uns besonders wichtig sind, spekuliert HERDER über die Urgeschichte der Menschheit und über die Stellung des Menschen in der lebendigen und leblosen Natur. Überall in der Natur findet er einen Drang nach Verwirklichung von möglichst Vollkommenem, der sich in der historischen Entwicklung der Welt realisiert. Die ganze Natur bildet eine Einheit, einen großen Organismus, und auch in der historischen Entwicklung ist ein einheitlicher Plan wahrzu- nehmen; die Geschöpfe erscheinen als eine Stufenleiter von aufstei- genden Formen und Kräften”); bei aller Mannigfaltigkeit der Formen herrscht in der Organisation doch eine Ähnlichkeit derselben; die ı) Ich zitiere nach der Ausgabe von H. LuDEn (Leipzig 1828). 2)PI4S: 150. Die deutsche Naturphilosophie. 243 Natur ist erfüllt von unendlichen und unzerstörbaren Kräften, die, sich entwickelnd, die äußere (sichtbare) Hülle sich bilden; diese kann wieder verschwinden, ohne daß deshalb die Kraft vergeht‘), — lauter Anschauungen, wie sie auch sonst die Schüler LEIBNIZens immer wieder zutage gefördert haben. Das Neue, was ihnen HERDER hinzufügt, ist die Betonung der Geschichte und eine poetisch-religiöse Unbestimmtheit der Begriffe. Bald scheint es, als spräche er wirklich von einer historischen Ent- wicklung der Organismen, bald ist man genötigt, darunter nur eine Entwicklung im Begriff zu verstehen. Absichtlich wird die Aus- drucksweise so gewählt, daß man die allmählichen Übergänge, den Zusammenhang von allem, das Eintreten der Natur aus einem Zustand in einen andern darin finden könnte. Folgende Anführungen werden die HERDERsche Naturbetrachtung hinreichend charakterisieren. Ursprünglich war das Chaos; daraus sind die Welten entstanden, nach dem Naturgesetz, »daß vermittelst eingepflanzter göttlicher Kräfte aus dem Zustande der Verwirrung Ordnung werde. Solange dies einfache, große Gesetz aller gegeneinander gewogenen und abge- zählten Kräfte dauert, steht der Weltbau fest, denn er ist auf eine Eigenschaft und Regel der Gottheit gegründet«?). Ähnlich entstand die Erde: es »stritten und kämpften auf ihr ihre Elemente, bis jedes seine Stellung fand, so daß nach mancher wilden Verwirrung der har- monisch geordneten Kugel jetzt alles dient«?). »Die Masse wirkender Kräfte und Elemente, aus der die Erde ward, enthielt wahrscheinlich als Chaos alles, was auf ihr werden sollte und konnte. In periodischen Zeiträumen entwickelten sich aus geistigen und körperlichen Staminibus die Luft, das Feuer, das Wasser, die Erde. Mancherlei Verbindungen des Wassers, der Luft, des Lichtes mußten vorangegangen sein, ehe der Same der ersten Pflanzen- organisation, etwa das Moos, hervorgehen konnte. Viele Pflanzen mußten hervorgegangen und gestorben sein, ehe eine Tierorganisation ward; auch bei dieser gingen Insekten, Vögel, Wasser- und Nachttiere den gebildeten Tieren vorauf, bis endlich nach allen die Krone der Organisation unserer Erde, der Mensch, auftrat, Mikrokosmus«*). Man beachte, wie in diese Auseinandersetzung der alte Gedanke, daß nichts Neues entstehen kann (»im Chaos war bereits alles enthalten«), mit i) I, S. 167. 2) IE%S. 226. 3) D. S. 227. 4) IaS. IT. 244 XI Kapitel. dem neuen, daß die jetzt vorhandenen Gebilde entstanden sind, im Kampfe liegt. »Der Menschen ältere Brüder sind die Tiere«’),. »Die Klassen der Geschöpfe erweitern sich [der Anzahl der Arten nach], je mehr sie sich vom Menschen entfernen; je näher ihm, desto weniger werden die Gattungen der sog. vollkommeneren Tiere«?). ... »daß, je näher dem Menschen, auch alle Geschöpfe in der Hauptform mehr oder minder Änlichkeit mit ihm haben, und daß die Natur bei der unend- lichen Varietät, die sie bietet, alle Lebendigen unserer Erde nach einem Hauptplasma der Organisation gebildet zu haben scheine« öl: Wieder mache ich auf die Unbestimmtheit der Ausdrucksweise auch in diesen Sätzen aufmerksam: man sehe nur, wie unbestimmt die Art, die Form, die Ähnlichkeit usw. gefaßt sind. »Nichts in ihr [der Natur] steht still; alles strebt und rückt weiter.... Als die Tore der Schöpfung geschlossen wurden, standen die einmal erwählten Organisationen als bestimmte Wege und Pforten da, auf denen sich künftig in den Grenzen der Natur die niederen Kräfte aufschwingen und weiterbilden sollten. Neue Gestalten erzeugten sich nicht mehr; es wandeln und verwandeln sich aber durch dieselbe unsere Kräfte, und was Organisation heißt, ist eigentlich nur eine Leiterin derselben zu einer höheren Bildung« *). Der vorerwähnte Satz von der Bruderschaft zwischen Menschen und Tieren darf nicht in dem Sinne genommen werden, daß der Mensch ein Nachkomme der Tiere sei. HERDER weist die Annahme von der Blutsverwandtschaft des Menschen mit dem Affen ausdrücklich zurück. Wenn ich ihn richtig verstehe, so nimmt er eine Verwandt- schaft (— Ähnlichkeit) der die Organismen hervorbringenden Kräfte an, etwa in dem Sinne, daß jede Art durch spontane Generation ent- standen sei. Man vergegenwärtige sich, daß er den Menschen als Bruder, nicht als Sohn der Tiere erklärt; heutzutage wird man leicht dazu verleitet, unter Verwandtschaft nur das letztere Verhältnis zu verstehen. HERDER hat auf das deutsche Denken bedeutenden Einfluß geübt; unter den Naturphilosophen verdankt ihm namentlich SCHELLING außerordentlich viel. Zum Beweise dafür, wie sehr die Gedanken, die HERDER zum Ausdruck bringt, die deutschen Denker seiner Zeit in I ) 2) 3) Die deutsche Naturphilosophie. 245 Anspruch nahtaen, sei hervorgehoben, daß GOETHE mit HERDER die Entwicklung der Menschheit oftmals besprach, und auch darauf hin- gewiesen, daß KANTs (natur-)geschichtliche Spekulationen in dieselbe Zeit fallen wie HERDERs Schrift (1784). Der Kampf zwischen Rationalismus und Empirismus, den man an HERDER so deutlich beobachten kann, setzte sich von ihm aus in zwei Richtungen fort: die rationalistische Geschichtsauffassung hat in HEGEL, die empiristische in HAECKEL ihren Hauptvertreter ge- funden. Innerhalb der Naturphilosophie blieben beide Betrachtungs- weisen noch ungeschieden nebeneinander, wenn schon die rationa- listische mehr in den Vordergrund trat. Literatur. Die Zitate beziehen sich auf: HERDER, JOH. G. von, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Mit einer Einleitung von HEINR. LuUDEN. Leipzig 1828. 3. 1. Kant. Wenn die deutsche Naturphilosophie von HERDER die Unbestimmt- heit des Ausdrucks und den dynamischen Entwicklungsgedanken sich angeeignet hat, so verdankt sie KANT ihren angeblich genialen Mut, aus dem Verstande die ganze Welt aufzubauen. IMMANUEL KANT (1724— 1804) wird von den Deutschen als ihr bedeutendster Philosoph betrachtet, und noch heute bemühen sich manche Biologen, ihre Theorien auf seine Lehren zurückzuführen. Bisher konnten wir in der Entwicklung der biologischen Systeme zwei Hauptrichtungen verfolgen: die ältere war rationalistisch (von DESCARTES bis LEIBNIZ), die jüngere empiristisch (genetisch); sie geht auf die Philosophen LoCKE — HUME — CONDILLAC zurück. Die rationalistische Richtung legte das Hauptgewicht auf das Ver- ständnis der Natur und auf das dafür wesentlichste Mittel, den Be- griff: nur das, was man aus allgemeinen Begriffen abzuleiten ver- mochte, wurde als wissenschaftlich erwiesen betrachtet. Unter den Biologen sind LinnE und CUVIER die wichtigsten Repräsentanten dieser Philosophie. Die empiristische Richtung dagegen betont we- niger das Verstehen als vielmehr das Erkennen. Dem Rationalismus sind Erfahrung und Experiment nur Mittel zur Gewinnung von Be- griffen, die das Wesen der Erscheinungen ausdrücken sollen; der Empirist kümmert sich nicht um das Wesen der Dinge, sondern nur 246 XI. Kapitel. um die Erscheinungen: Begriff und Verstand sind ihm unzulängliche und oft trügliche Mittel zur Erkenntnis dieser Erscheinungen. HUME hat, wie oben erwähnt, auf das Hauptproblem dieser Philo- sophie hingewiesen. Die ursächliche Verknüpfung von zwei Erschei- nungen, etwa des Brotes (als Ursache) und seiner Wirkung auf den Verdauungskanal, kann nur empirisch ermittelt werden; keines- falls kann ich aus der Betrachtung des Brotes und seiner Eigenschaften seine Wirkung auf den Verdauungskanal erraten. Wie kommt es nun, daß ich trotzdem fest davon überzeugt bin, daß das Brot eine ganz bestimmte Wirkung haben muß? Für einen konsequenten Leibnizianer hat das Problem keinen Sinn; denn er darf ruhig antworten, daß das Brot überhaupt nicht auf den Körper wirke, daß vielmehr der Körper seine Zustände aus und durch sich selbst entwickle; und das Brot, wenn es als Monade angesehen werden sollte, ebenfalls. Für einen Empiristen dagegen ist jenes Pro- blem tatsächlich von aktuellem Interesse. KAnT schwankte anfangs zwischen Rationalismus und Empirismus, wie dies am Ende des ı8. Jahrhunderts mehr oder weniger unbewußt bei den meisten der Fall war. Wie es sonst seiner Art entsprach, aus zwei Gegensätzen die über ihnen stehende Wahrheit zu ermitteln, so suchte er auch in diesem Falle die Versöhnung zwischen HUME und dem Rationalismus herbeizuführen. Aus dieser Absicht ist seine »Kritik der reinen Vernunft« (1781) hervorgegangen. Mit den Empiristen lehrt er, daß alle unsere Erfahrung von den Sinnen ausgeht; mit den Ratio- nalisten nimmt er an, daß diese Erfahrung erst durch den Verstand zur Erkenntnis erhoben wird, und dazu fügt er dann die ihm eigen- tümliche metaphysische Lehre von der reinen Vernunft. Die äußeren Objekte affızieren uns nach KAnT und rufen Empfin- dungen in uns hervor; wollen wir nun diese Empfindungen als Ein- heit anschauen, so müssen wir etwas aus unserem Innern zu ihnen hinzutun: die Art der Verknüpfung ist Raum und Zeit. Diese werden nicht erfahren (wie die Empfindungen), sondern sie bezeichnen die Art, wie die Empfindungen erfahren werden; sie sind auch nicht Folgen der Organisation, sondern diese Organisation ist, wenn über- haupt von einer Folge die Rede sein könnte, die Folge von Raum und Zeit, d.h. sie kann daraus gefolgert werden. Raum und Zeit sind also nicht etwas nur Subjektives, etwa wie die Farben, sondern alle Menschen müssen, eben weil sie Menschen sind, in den Formen von Raum und Zeit anschauen. Etwas Ähnliches wie von Raum und Zeit gilt von den allgemeinen Die deutsche Naturphilosophie. 247 Begriffen der abstrakten Logik, von denen KANT vier Gruppen unter- scheidet. In die dritte Gruppe gehören z.B. die allgemeinen Begriffe (Kategorien) der Relation, die Kategorien ı) der Inhärenz und Akzi- denz, 2) der Kausalität und Dependenz, 3) der Gemeinschaft. Diese Begriffe werden nach KANT ebenfalls nicht erfahren, sondern sie gehören zum Wesen des Verstandes, der durch sie als durch seine Kräfte das Empfindungsmaterial zusammenfaßt. Während HumE kon- sequent empiristisch behauptet, daß die Annahme, weil das eine da ist, muß auch etwas anderes dasein, aus der wiederholten Erfahrung (Gewohnheit) stamme, nimmt KANT also seine Zuflucht zum Rationa- lismus und lehrt, die Verknüpfung von Ursache und Wirkung gehöre zum Wesen des Verstandes. In der Terminologie KANTs sind Zeit und Raum Anschauungen a priori, die Kategorien Verstandesbegriffe a priori. Die KANT- sche Auffassung des »a priori... die Natur ... wirkend und lebendig aus dem Ganzen in die Teile strebend darzutun«'). Das Wort »wirkend« scheint ganz modern zu sein, und man könnte es bei oberflächlichem Lesen so verstehen, daß GOETHE dabei an Kausalverknüpfung der Erscheinungen gedacht habe. Wie aber aus dem ganzen Satze herauszulesen ist, be- deutet hier das Wort gar nicht Wirkung im modernen Sinne, sondern ein Streben, eine fortwährende Veränderlichkeit der Organismen, hat also metaphysischen Sinn. Der Sinn jenes Satzes ist, nüchtern aus- gedrückt, also der: Bei aller Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in der Organismenwelt ist eine Gesetzmäßigkeit zu konstatieren. Mit dem Gedanken der Einheit der Natur beschäftigte sich GOETHE viel; er behauptet, daß jedes Tier ein in sich geschlossenes Ganzes bilde, und daß jedes Organ von sämtlichen andern abhängig sei; das Tier habe Hörner, Eckzähne usf., weil seine morphologische und physiologische Einheit es so verlangt. Er polemisiert z. B. gegen die, welche alle Teile des Körpers nur aus ihrer Nützlichkeit er- klären wollen, in folgendem Satze: »Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: Der Ochse habe Hörner, um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: Warum hat das Schaf keine? und wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen? Etwas anderes aber ist es, wenn ich sage: der Ochse wehrt sich mit seinen Hörnern, weil er sie hat«°). 1) 8a; ©: 2) S-191, Bd. II. 266 XI. Kapitel. Man liest in GOETHE oft von einer Urpflanze oder von einem Urtier, welche die Einheit aller Merkmale der Pflanzen bzw. der Tiere enthalten sollen, also etwa ein Schema der Pflanzen und der Tiere. So sagt er an einer Stelle: »Im Angesicht so vielerlei neuer und erneuter Gebilde fiel mir die alte Grille wieder ein: ob ich nicht unter dieser Schau (der italienischen Gewächse) die Urpflanze entdecken könnte. Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst er- kennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?')«. GOETHEs Naturphilosophie ist eine Philosophie der Morplielögie zu nennen; denn er spekuliert fast ausschließlich über die Gestalt bzw. Gestaltung, und nur sehr gelegentlich betrachtet er auch die Funktion der Organe. Zwar ist ihm das Verhältnis zwischen Morphologie und Physiologie nicht klar — selbstverständlich finden wir bei ihm keine Definitionen der einen oder der andern Disziplin —, und einige Stellen lassen sich auch so deuten, daß er der Physiologie den Vorrang vor der Morphologie zugesteht; aber seine Behauptung, daß die Pflanzen Stellen suchen, die für sie passend sind, daß die Teile des Tieres, ihre verschiedenartige Gestalt, ihr Verhältnis, ihre besonderen Eigen- schaften die Lebensweise der Geschöpfe bestimmen’), u. a. m. lassen seinen morphologischen Standpunkt erkennen. Doch wäre es nicht zutreffend, anzunehmen, er wolle die Physiologie nur als Anhang der Morphologie betrachtet wissen. Obwohl seine Ansichten darüber sich kaum definitiv werden feststellen lassen, glaube ich doch, daß sie am deutlichsten durch folgende Verse ausgedrückt werden°): »Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres, und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten mächtig zurück.« Den morphologischen Auseinandersetzungen GOETHEs liegt der Gedanke zugrunde, daß die Organismen nach einheitlichem Plane ge- baut sind, wobei aber ebensowenig wie bei GEOFFROY ST.-HILAIRE erklärt wird, was unter der Einheit des Planes zu verstehen ist. Für diese Grundauffassung GOETHEs spricht zunächst sein Suchen nach der Urpflanze und nach einem einheitlichen Typus der Tiere. Er spricht von einem »allgemeinen Bilde, worin die Gestalten sämt- licher Tiere der Möglichkeit nach enthalten wären ...«*), und sucht . 264, Bd. . 194, Bd. 3273, Bd. -719L, Bd. nn mn nn ii ww EN SL) [057 o [#57 Die deutsche Naturphilosophie. 267 einen Typus, ‘san welchem alle Säugetiere nach Übereinstimmung und Verschiedenheit zu prüfen wären, und wie ich früher die Urpflanze aufgesucht, so trachtete ich nunmehr, das Urtier zu finden, das heißt denn doch zuletzt: den Begriff, die Idee des Tieres«'). Auch der Be- griff der Metamorphose der Pflanze, d.h. der begrifflichen (ideellen) Ähnlichkeit von verschiedenen Blattgebilden, ist von GOETHE unter dem Einfluß der Überzeugung von der Einheitlichkeit der Pflanzen- organe aufgestellt. Das ergibt sich klar aus dem Satze GOETHESs, daß man ebensogut sagen könne, »ein Staubwerkzeug sei ein zu- sammengezogenes Blumenblatt, als wir von dem Blumenblatt sagen können, es sei ein Staubgefäß im Zustande der Ausdehnung; ein Kelchblatt sei ein zusammengezogenes, einem gewissen Grade der Verfeinerung sich näherndes Stengelblatt, als wir von einem Stengel- blatt sagen können, es sei ein durch Zudringen roherer Säfte ausge- dehntes Kelchblatt«®). Auch die Theorie von der Wirbelnatur des Schädels und die Entdeckung des Zwischenkiefers bei dem Menschen (wodurch ein Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tier aufgehoben wird) ist ein Ausfluß jenes Einheitlichkeitsglaubens. Von diesem Grundgedanken eines einheitlichen Bauplanes oder, weniger mystisch, einer Ähnlichkeit im Bau der Organismen aus ist GOETHE ganz naturgemäß auf den Gedanken von der Korrelation der Organe gekommen. Denn wenn dem Bau der Tiere ein Plan zu- grunde liegt, so ist es nur ein anderer Ausdruck für denselben Ge- danken, zu sagen, daß zu jedem einzelnen Organ ein bestimmtes anderes gehört, oder daß sich die Organe wechselweise bedingen, was eben der Sinn des Prinzips der Korrelation ist. Es folgt dies aus folgenden Worten GOETHES: »Wir denken uns also das abge- schlossene Tier als eine kleine Welt, die um ihrer selbst willen und durch sich selbst da ist. So ist auch jedes Geschöpf Zweck seiner selbst, und weil alle seine Teile in der unmittelbarsten Wechsel- wirkung stehen, ein Verhältnis gegeneinander haben und dadurch den Kreis des Lebens immer erneuern, so ist auch jedes Tier als physiologisch vollkommen anzusehen« °). Bei den geringen Fachkenntnissen GOETHEs wird es nicht auf- fällig sein, daß er den Gedanken von der Korrelation der Formen nicht entfernt so weit empirisch anwendet (was bei ihm gleich ist mit: 2). 2 237 Bd.:33; 2) S. 53, Bd. 33. 3) S. 195, Bd. 33. 268 XI. Kapitel. durch Beispiele erläutert) wie CUVIER. Ungeachtet der allgemeinen Sätze, wie der angeführte, hat sich GOETHE die Korrelation nur als Massenkorrelation vorgestellt, als Korrelation zwischen der Größe verschiedener Organe, nicht zwischen ihrer Form. Er nennt diese Massenkorrelation oder, wie DARWIN sie bezeichnet, Kompensation des Wachstums das Gesetz, ... »daß keinem Teil etwas zugelegt werden könne, ohne daß einem andern etwas abgezogen werde, und umge- kehrt<«. Als Beispiel dieser Korrelation führt er die Schlange an: »Ihr Körper ist gleichsam unendlich, und er kann es deswegen sein, weil er weder Materie noch Kraft auf Hilfsorgane zu verwenden hat. Sobald nun diese in einer andern Bildung hervortreten, wie z. B. bei der Eidechse nur kurze Arme oder Füße hervorgebracht werden, so muß die unbedingte Länge sogleich sich zusammenziehen und ein kürzerer Körper entstehen. Die langen Beine des Frosches nötigen den Körper dieser Kreatur in eine sehr kurze Form, und die un- gestalte Kröte ist nach ebendiesem Gesetz in die Breite gezogen«'). Ich möchte auch seine Ansicht über das Verhältnis der Morphologie zur Physiologie, wie sie in den oben angeführten Versen enthalten ist, als Korrelation ansprechen. Wie durch ein Organ ein anderes bestimmt wird und umgekehrt, so bestimmen sich in diesem Falle die Form und ihre Funktion gegenseitig. GOETHEs Auffassung der Korrelation der Organe war selbstver- ständlich keine induktiv von ihm gewonnene Erkenntnis; er hat sie auch nicht für etwas prinzipiell Neues und Wichtiges ausgegeben, da sie ihm aus seiner Theorie ganz naturgemäß zu folgen schien. Deshalb erörtert er dieses Prinzip auch nur bei der Besprechung anderer Fragen. Es ist aus diesem Grunde kaum anzunehmen, daß er bei Aufstellung seines Prinzips der Korrelation direkt von CUVIER oder GEOFFROY ST.-HILAIRE beeinflußt worden ist; auch die begrenzte Fassung, welche er dem Prinzip gibt, legt diesen Schluß nahe. Über das Gleichgewicht der Organe hat sich GOETHE in folgenden Versen klar ausgesprochen’): »Siehst du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug Irgend gegönnt, so frage nur gleich: wo leidet es etwa Mangel anderswo? und suche mit forschendem Geiste! Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf; denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.« 1032273, Bd. 33% 2/18. 190. Die deutsche Naturphilosophie. 269 Auch Spuren des Gedankens an Korrelationen verschiedenen Grades, wie sie uns bei CUVIER begegneten, sind bei GOETHE zu finden. Nachdem er nämlich das Gleichgewicht der Organe erklärt hat, weist er darauf hin, daß sich die Form der Organismen auch den äußeren Einflüssen verschiedener elementarer Naturkräfte bis zu einem gewissen Grade fügen muß. Das Wasser schwellt die Körper, dadurch wird das Fleisch der Fische aufgeschwellt, womit wieder das Zusammenziehen der Extremitäten verbunden ist; die Luft trocknet aus, darum sind die Vögel mehr oder weniger mager. Aber derlei Beziehungen zwischen den Eigenschaften des Wassers und der Luft einerseits und den organischen Körpern andererseits gehen nicht so weit, daß sie den Typus vernichteten; sie bewegen sich nur inner- halb seiner Grenzen; dieser Gedanke ist namentlich in der schon oben zitierten Stelle deutlich erkennbar, wo die Beständigkeit der Charaktere eines Typus gegenüber der Veränderlichkeit der untergeordneten Eigenschaften »eine Sklaverei, das innere Unvermögen, sich den äußeren Verhältnissen gleichzustellen«, genannt wird. Man muß selbst- verständlich bei GOETHE die naiven Beispiele und die Unklarheit der Ausdrucksweise mit in Kauf nehmen; den in den angeführten Worten enthaltenen Gedanken möchte ich folgendermaßen formulieren: Zwi- schen den Organen der Tiere und ihrer Umgebung bestehen gewisse Beziehungen; bei veränderter Umgebung sind auch die Organe anders gebaut. Doch gehen diese Beziehungen nicht so weit, daß dadurch der morphologische Grundplan des Organismus gänzlich verdeckt würde. In der Terminologie der Darwinisten hieße es: die caenogenetischen Eigenschaften verdecken die ursprünglichen niemals vollständig. Was die rein formalistische oder die (gleichbedeutende) morpho- logische Anwendung des Korrelationsprinzips betrifft, so ist GOETHE den französischen Naturforschern CUVIER und GEOFFROY ST.-HILAIRE an die Seite zu stellen. Alle drei gehen von dem Grundgedanken aus, daß jedes Tier eine gesetzmäßig gebaute Einheit ist, woraus dann folgt, daß kein Teil dieser Einheit unabhängig von andern variieren kann. CUVIER hat diese Anschauung am ansprechendsten praktisch durchgeführt, während GEOFFROY zwar noch im Gebiete der Empirie zu verbleiben sich bemühte, aber mit der unklaren Formulierung seiner Ideen doch schon an die metaphysische Auffassung dieser Ein- heit heranreichte. GOETHE endlich versuchte den Einheitsgedanken in allen seinen biologischen Abhandlungen von den verschiedensten Seiten klarzustellen, wobei die Empirie ihm nur das Material zur Ver- anschaulichung seiner Gedanken darbot. 2 79 XT; Kapitel. GOETHESs dichterische Bedeutung gab auch seinen morphologischen Spekulationen in den Augen seiner Zeitgenossen einen höheren Wert, als sie in Wahrheit besaßen. Deshalb darf sein Einfluß nicht unter- schätzt werden; ihn direkt zu verfolgen, ist aber nicht so leicht. Auf die Zoologie blieben GOETHEs Aufstellungen ohne Wirkung, da sie zu allgemein gehalten sind; in der Botanik dagegen hat er die natur- philosophischen Spekulationen über die Metamorphose angeregt. Der Name »Morphologie« soll von ihm eingeführt worden sein. Literatur. GOETHE, JOH. W. von, Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. Stuttgart 1317— 1823. Zur vergleichenden Osteologie. Jena (1819) 1824. —— Über den Zwischenkiefer des Menschen und der Tiere. (Jena 1786) Bonn 1331. Ich zitiere nach der Hempelschen Ausgabe der Werke GOETHES. Über seine naturwissenschaftlichen Arbeiten ist eine ganze Literatur entstanden; man vergl. insbesondere J. SACHS’ Abhandlung, in dessen Geschichte der Botanik, und WIGAND, Geschichte und Kritik der Meta- morphose. Leipzig 1876. 1. 1. Oken. LORENZ OKEN (1779— 1851), Professor in Jena, gründete 1817 die enzyklopädische Zeitschrift »Isis«, um derentwillen er sich 1819 zur Amtsniederlegung genötigt sah; seit 1832 war er Professor in Zürich. Er ist eine interessante literarische Erscheinung, ein tatkräftiger und ungemein gerader, offenherziger Mann, dem seine oft an Derbheit streifende Offenheit vielfache Konflikte zugezogen hat. Die systematische Bearbeitung der Naturphilosophie beginnt OKEN mit der Mathematik, deren Gewißheit darauf beruhen soll, daß keiner ihrer Sätze vom andern wesentlich verschieden ist. »Es gibt in der Mathematik nichts Neues. ... Die Naturphilosophie muß auch zeigen, daß alle ihre Sätze oder daß alle Dinge einander und zuletzt einem ersten Satze oder Dinge gleich seien«'). Die gesamte Mathematik wird aus einem leicht begreiflichen Grunde auf die Null als ihre Grund- lage zurückgeführt: jede bestimmte Zahl ist durch ihre Bestimmung nicht Null; nimmt man ihr jedoch ihre Bestimmung, so bleibt die 0) Null als das allen Zahlen Gemeinsame. Wie nur das mathematische ı) Lehrb. d. Naturphilos. S. 2. an nn Die deutsche Naturphilosophie. 271 Nichts Null ist,; so ist das »Nichts der Natur« das Ewige: jedes Ding verhält sich zum Ewigen wie eine bestimmte Zahl zur Null. Das Wesen des Organismus besteht im Galvanismus; die galvani- sche Säule läßt den Galvanismus nur an bestimmter Stelle zu: ... »nur ein Körper, der an jedem denkbaren Punkte Silberpol, Zinkpol und feuchte Pappe ist, ist ein Organismus. Eine galvanische Säule in Atome zerrieben müßte lebendig werden. Auf diese Weise bringt die Natur organische Leiber hervor«'). »Alles Organische ist aus Schleim hervorgegangen, ist nichts als verschieden gestalteter Schleim. ... Der Urschleim, aus dem alles Organische erschaffen worden ist, ist der Meerschleim. ... Der Meerschleim wurde ursprünglich erzeugt durch die Influenz des Lichtes und die dadurch bewirkte Abstreifung der rohen Massen, besonders der Erde und der Salze. ... Der Meer- schleim wird noch immer erzeugt. ...<”). »Auch der Mensch ist ein Kind der warmen und seichten Meeresstellen in der Nähe des Landes« °). Es darf uns nicht überraschen, daß OKEN in diesen Lehren zwei nicht übereinstimmende Theorien über die Entstehung des Lebens ohne jede nähere Erklärung nebeneinanderstell. Wenn er das eine Mal sagt, daß der organische Körper durch den Galvanismus entsteht, und einige Zeilen später, daß.alles Organische durch das Licht her- vorgerufen wurde, so ist dabei weniger an die wirkliche Enstehung zu denken als an ein Entstehen im Begriff: ich komme auf den Be- griff des Organischen, wenn ich galvanische Atome zusammensetze, oder wenn ich mir das Licht in die tote Masse wirkend vorstelle, etwa so, wie das gleichseitige Dreieck »entsteht«, wenn man im Drei- eck alle drei Seiten gleich macht, oder wenn seine Winkel je 60 Grad betragen. Aus dem Urschleim entsteht zunächst ein Urbläschen, und »das schleimichte Urbläschen heißt Infusorium ...; besteht die organische Masse aus Infusorien, so muß die ganze organische Welt aus Infu- sorien bestehen, Pflanzen und Tiere können nur Metamorphosen von Infusorien sein« *). Die Urbläschen sind offenbar dasselbe wie die orga- nischen Moleküle BUFFONs; denn das Verwesen des organischen Körpers besteht nach OKEN im Zerfallen in die Infusorien, und »die Erzeugung ist nichts anderes als eine Zusammenhäufung unendlich vieler Schleim- ı) Lehrb. d. Naturphilos. S. 144. 2) Ebenda S. 147. 3) Ebenda S. 148. 4) Ebenda S. 154. XI. Kapitel. 2712 punkte, Infusorien«’).. An einer andern Stelle?) behauptet er, daß kein Organismus aus anorganischer Substanz entstehen könne; richtig sei nur, daß die Urbläschen überall vorhanden sind: die Pflanze nimmt sie aus der Luft und dem Wasser auf, und das Tier nährt sich von ihnen. Die Menge der organischen Substanz ist konstant. OKENSs Worte sind jedenfalls nicht als Vorhersage der Zellentheorie zu deuten, und eine derartige Auffassung hätte kaum größere Berechtigung als die Zuerkennung der Priorität an BUFFON oder NEEDHAM oder MAU- PERTUIS. 2 Den Inhalt von OKeEns Naturphilosophie kurz anzugeben, ist nicht wohl möglich. Neben Stellen in seinen Schriften, die so ziemlich das Richtige treffen, finden sich andere über alle Maßen phantastische Aus- führungen. OKEN scheut sich vor keiner noch so gewagten Schluß- folgerung; mit ruhiger Miene spricht er den Satz aus: »Das Hirn ist Rückenmark, die Hirnschale Wirbelsäule, der Mund ist Bauch, die Nase Lunge, die Kiefer sind Glieder, die Nase Brust«°). Ebenso un- bedenklich spekuliert er über die Begattung der Weltkörper*), oder sogar über die »Selbstbegattung der Gottheit«°) u.ä. Auch in seinen ausschweifendsten Phantasien blieb OKEN ver- gleichender Anatom und Physiologe; alle seine Sätze sind wesentlich nur Vergleichungen. Doch fiel seine. vergleichende Anatomie be- greiflicherweise sehr naturphilosophisch aus. Nach ihm hat das Auge das Nervensystem an sich; es ist das Gehirn, und alle Hirnteile sind im Auge enthalten; zum Gehirn gehört ein Körper, folglich ist das Auge ein ganzes Tier. »Zunächst sind aber die animalen Systeme in ihm am deutlichsten dargestellt: Glieder, Brust, Bauch. Das Licht wird vom Auge ergriffen, geatmet, verdaut und dadurch empfunden.« Die Augenmuskeln sind die Hand, Sklera —= Lederhaut, Cornea = Nagel, Chorioidea — Lunge, Iris — Schlund, Pupille = Stimmritze, ihr Sicherweitern und -verengern ist eine Atembewegung, die Linse ein Kiemenknochen usw. ÖOKEN hat als erster nachdrücklich die Zusammensetzung des Schädels aus Wirbeln gelehrt (1806). Diese Theorie, nach der also der Schädel aus einer Reihe von Wirbeln besteht, paßt so sehr zu seinem System und zu dem GOETHEschen, daß es leicht begreiflich ist, wie 1) Lehrb. d. Naturphilos. S. 134. 2) >Die Zeugunge. Bamberg u. Würzburg 1805. 3) Lehrb. d. Naturphilos. S. 283. 4) Ebenda S. 311. 5) Über das Universum usw. Die deutsche Naturphilosophie. 273 sie durch die leiseste Anregung in der Seele des einen wie des andern hervorgerufen werden konnte. GOETHE wie OKEN heben hervor, daß sie durch die Betrachtung des unteren Teiles des Schädels wie intuitiv darauf geführt wurden; auch diese Angabe stimmt sehr gut mit der Art, wie beide auf neue Gedanken kamen, und so ist an ihren Behauptungen, daß sie die Schädeltheorie unabhängig vonein- ander entdeckt, füglich nicht zu zweifeln. Die OKENnsche Schädel- theorie — später Beinphilosophie genannt — behauptet, der ganze Schädel bestehe aus drei Wirbeln; die Nase soll der Thorax, die beiden unteren Kinnladen sollen Analoga der Füße und Arme sein. Die Idee, daß der Schädel, namentlich dessen hinterer Teil, aus mehreren Wirbeln zusammengesetzt ist, sprach GOETHE bereits im Jahre 1790 (in einem Briefe an HERDERs Gattin) aus, doch wurde seine darauf bezügliche Arbeit erst 1824 veröffentlicht. Auch GEOFFROY nahm diese Theorie an (1824). Naturphilosophisch behandeln dasselbe Thema außer OKEN auch SPIx (1825), A. L. ULRICH (1816), MECKEL und BOJANnUSs (1819); sie wollten den Schädel aus vier bis sieben Wirbeln zusammengesetzt wissen. CARUS hat dann die Wirbeltheorie des Schädels in ihr naturphilosophisches Extrem verfolgt. Nach seiner Auffassung haben die Insekten nur einfache Wirbel, die Wirbeltiere dagegen sich umschließende Systeme von Wirbeln; auch Hände und Füße sollen Wirbel, ja überhaupt der ganze Körper nur aus Wirbeln, die sich dann wieder in neue Wirbel analysieren lassen, zusammen- gesetzt sein. Auch andere Autoren, wie BOURDIN (1803) und DU- MERIL (1808), haben eigentümliche Theorien über die Wirbel und ihre Beziehungen zum Schädel aufgestellt. Was speziell OKENs Schädeltheorie angeht, so ist sie viel zu natur- philosophisch. Nach ihr ist der Kopf der wesentlich tierische Teil des Tieres, der durch das Licht bereits in den tierischen Rücken und den pflanzlichen Leib polarisierte Rumpf aber vorzugsweise pflanzlicher Natur. Der Kopf wiederholt den Rumpf, deshalb hat er eine Wirbel- säule — den Schädel, der aus Wirbeln besteht; er besitzt aber auch Arme (Kiefer), Finger (Zähne) usw. Überhaupt ist der ganze Mensch nur ein Wirbelbein. In Gemeinschaft mit D. G. KIESER hat OKEN die embryonale Ent- wicklung mehrerer Säugetiere untersucht. Die Embryonen werden ziemlich nüchtern beschrieben, wobei namentlich der Verlauf der Appendices allantoidis und der Vesicula umbilicalis verfolgt ist, sonst aber findet sich doch auch hier eine geradezu überschwengliche Natur- philosophie. Nüchtern und ziemlich neu ist der Gedanke, der die Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. I. Teil. 18 274 XI. Kapitel. morphologische Gleichheit des Dottersacks der Vögel und des Nabel- bläschens der Säuger und die Kommunikation des Darms mit der Höhle der außerhalb des Embryoleibes liegenden Nabelblase betont. Diese Tatsache wurde von OKENS Zeitgenossen bestritten und belacht; doch hat er schließlich recht behalten, obwohl die — spekulativ von ihm reichlich ausgenützte — Angabe, daß jene Verbindung am Coecum stattfinde, später von MECKEL widerlegt worden ist‘). OKEN war der Meinung, daß seine Arbeit u. a. zu folgendem Schlusse berechtige: jedes (Wirbel-) Tier ist aus zwei Tieren -zusam- mengesetzt. »Ihr wähnt, die Nieren seien Organe eines Exkretions- systems, aber wie schrecklich geirrt! Sie sind das Respirationswasser- bildungsorgan des Geschlechtssystems, denn auch dieses ist das totale Tier, und hat folglich alle Organe wie der übrige Leib, aber mit ob- verser Richtung. Das Tier ist nicht eine, sondern zwei Totalitäten, zwei Tiere, in deren jedem die gleichen Organe wirken, dort vom Hirn, hier von den Genitalien regiert. In der Nabelschnur laufen beide Tiere zusammen. ... Die Nabelschnur ist daher der Zwitter beider Tiere.« Es verdient bemerkt zu werden, daß zu derselben Zeit in Frankreich AUTENRIETH auf analoge Weise, im Anschluß an die Wirbeltheorie, den Körper als aus zwei wesentlichen Teilen zusammengesetzt be- trachtete, nämlich Kopf einerseits und Thorax mit dem Abdomen andererseits; der Kopf sollte dabei nur eine Wiederholung des Thorax sein. In OKENs und KIESERs Beiträgen findet man auch Prinzipien der Klassifikation der Tiere entwickelt. Alle Unterschiede zwischen den Tieren beruhen auf übermäßiger Ausbildung eines Systems von Organen unter Vernachlässigung der andern (ist nicht die Schnauze auf Kosten des Schädels, das Horn auf der Stirn auf Kosten der Zähne verlängert, usw.?). Folglich muß sich jede Klassifikation auf dieses »Ungleichgewicht« der Organe gründen. »Vor allem ist klar, daß so viele einseitige Ausbil- dungen von Organen wirklich vorhanden sind, als überhaupt Organe in die Idee der Tierheit gehören ... [folglich] ... muß auch die Natur so viele Klassen produziert haben, als sie Tierorgane in sich trägt?)«. Da das Atmungsorgan am tiefsten steht (warum, weiß ich nicht), so sind I) vox BAER hat die Arbeit OKENs und KIESERs in seinem Werk »Über die Ent- wicklungsgeschichte der Tiere 1828 (Vorwort S. XVII) lobend anerkannt; sie gehört nach ihm zu den genauesten, die wir über Säugetiere besitzen; sie soll den Wende- punkt für eine richtigere Erkenntnis des Säugetiereies bedeuten. 2) OKEN und KiEsER, S. X. Die deutsche Naturphilosophie. 275 die niedrigsten Tiere Respirationstiere = Ungeziefer, überhaupt Wirbel- lose; Verdauungsorgane haben schon höhere Bedeutung, deshalb Digestionstiere = Vögel, Fische, Amphibien; dem Gehirn kommt der höchste Wert zu, folglich Hirntiere —= Säugetiere, und so geht die Einteilung weiter. C. GÜTTLER*') hat in OKENs Schriften Phylogenie nachzuweisen sich bemüht und mehrere darin enthaltene derartige Gedanken zu- sammengestellt. OKEN unterscheidet gleich andern Naturphilosophen nicht die begriffliche Entwicklung und das tatsächliche historische Entstehen; wenn er behauptet, daß sich das Tier aus dem Bläs- chen entwickelt habe, so hat er dabei in Wahrheit dies im Sinne, daß man sich den Vorgang philosophisch so vorstellen solle, als ob sich das Tier entwickelt hätte; die Zeit wann und die Art wie dies tatsächlich geschieht, ist für ihn ganz irrelevant. Zur Ver- anschaulichung einer solchen naturphilosophischen Phylogenie will ich beispielsweise den Inhalt eines anonymen Artikels aus der »Isis« °) über die »Entstehung des ersten Menschen« anführen. Milch ist, sagt der Autor, im Naturzustande das einzige Nährmittel des Kindes; das Kind setzt eine es nährende Mutter voraus, kann also ebensowenig wie die höheren Tiere natürlich entstehen. Wenn jedoch das Tier im Uterus zwei Jahre verbliebe, so wäre es bereits hinreichend entwickelt, um sich selbst nähren zu können; dann würde aber ein viel größerer Uterus nötig sein. »Dieser Uterus ist das Meer. ... Das Meer hat Nahrung für den Fötus; es hat Schleim, den dessen Hüllen einsaugen können; es hat Sauerstoff, den dessen Hüllen atmen können; es ist nicht gehemmt, so daß dessen Hüllen sich beliebig ausdehnen können, und wenn er sich auch länger als zwei Jahre darin aufhielte und herumschwömme. Solche Embryonen entstehen ohne Zweifel zu Tausenden im Meer, wenn sie einmal entstehen. Die einen werden unreif auf den Strand geworfen und verkommen; andere werden an Felsen zerquetscht, andere von Raubfischen verschlungen. Was tut das? Sind ja noch Tausende übrig, welche sanft und reif an den Strand getrieben werden, welche daselbst ihre Hüllen zerreißen, die Würmer ausscharren, die Muscheln und Schnecken aus den Schalen ziehen; wenn wir Austern roh essen können, warum nicht Meer- menschen?« Und dann wird das Leben der Meermenschen ausführlich 1) C. GÜTTLER, Lorenz Oken und sein Verhältnis zur modernen Entwicklungslehre. Leipzig 1884. 2) Isis 1818 II. S. 1117 fl. ı8* 6 XI. Kapitel. I 7 geschildert. Wie diese aber ins Meer gekommen sind? »Von außen offenbar nicht; denn im Wasser muß alles Organische entstehen. Sie sind also im Meer entstanden ... ohne Zweifel so, wie andere Tiere in ihm entstanden sind und noch täglich in ihm entstehen, Infusorien, Medusen wenigstens.« Dann wird ausgeführt, daß die Menschen durch Anhäufung von Schleim entstanden sind, und zwar zu der Zeit, als das Meer 37°C warm war. Der Artikel ist sogar mit einer Zeichnung versehen, die ein zweijähriges Kind mit embryo- nalen Hüllen umgeben abbildet, wie es sich gerade zum Schwimmen anschickt. Man beachte, daß diese Phantasie das historische Element völlig beiseite läßt; die ganze Darlegung könnte sich ebensogut auf den heutigen Tag wie auf die Zukunft beziehen. Die Frage, vor wieviel Jahren dies geschen sei, hat hier keinen Sinn. Allgemeines. OKEN hat sich um die deutsche Wissenschaft durch die Gründung der Zeitschrift »Isis«e (1817 —ı848), der deutschen Naturforscherversammlungen und durch seine Bemühungen um die deutsche biologische Terminologie verdient gemacht. Die enzyklo- pädische Zeitschrift Isis ist eine originelle literarische Erscheinung, namentlich in ihren ersten Jahrgängen, die mit großer, oft zu großer Offenheit nicht nur naturphilosophische und exakte Probleme, sondern auch Philologie, Politik usw. behandeln. OKEN hatte viele Anhänger und Verehrer. Seine Wirkung auf diese kann aber nur als ungesund bezeichnet werden. Zwar wird neuerdings anerkennend hervorgehoben, daß er die Phylogenie in die Biologie einführte, und auch sein philosophisches Ansehen sucht man zu retten. Es würde aber schwierig sein, nachzuweisen, wie OKEN tatsächlich die Entwicklung der Phylogenie beeinflußt hat, Zwar ist nicht in Abrede zu stellen, daß seine Spekulationen eine gewisse Verwandtschaft mit dem genetischen Standpunkte verraten; doch hat er darin nichts besonders Originelles, nichts derartiges geleistet, was über die allgemein verbreiteten Vorstellungen seiner Zeit hinausginge. Die Beurteilung seiner Bedeutung für die reine Philosophie wollen wir den Philosophen von Fach überlassen. Wir Biologen fragen nach neuen biologischen Begriffen, die er etwa eingeführt hat, und diese suche ich wenigstens bei OKEN vergeblich. Vielleicht noch naturphilosophischer als OKENs Schriften sind die »Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft« von STEFFENS (1806) Es genügt, einen Satz aus dem Buche anzuführen!: »Die che- mische Urzeit ist diejenige, in welcher die Indifferenz des Werdens Die deutsche Naturphilosophie. 247 als Wasser und die Differenz des Seins als Magnet ineinandergreifen, indem sich die Indifferenz differenzieren, die Differenz indifferenzieren will. ...« Vieles in dem Buche habe ich gar nicht verstehen können; was mir daraus klar geworden, zeigt, daß STEFFENS’ leitender Ge- danke der ist: die unendliche Indifferenz, worunter man etwa den all- gemeinsten Begriff ohne jede nähere Bestimmung zu verstehen hat, weist bestimmte Merkmale auf, die sich in bestimmten Dingen realisieren. Andere Naturphilosophen sind J. B. Spix (1781—ı826), der na- mentlich durch seine Schädeltheorie bekannt wurde (1825); G. H. SCHUBERT (1780— 1860), welcher die Natur mehr poetisch auffaßte (1806— 1807, 1808); F. J. SCHELVER (1778— 1832), der eine Zeitschrift für organische Physik (1802) in sehr naturphilosophischem Sinne herausgab; J. J. WAGNER (1775— 1841), der die Natur in mathema- tische Gesetze zusammenfassen wollte; K. G. CARUS (1789— 1869), dessen zahlreiche naturhistorische Schriften zum Teil ziemlich empi- rischen, teilweise aber auch sehr naturphilosophischen Charakters sind. Unter die ersteren gehört namentlich sein Lehrbuch der vergleichen- den Anatomie, zu den letzteren die vergleichende Psychologie (1866). Literatur. OXEN, L., Übersicht des Grundrisses des Systems der Naturphilosophie und der damit entstehenden Theorie der Sinne. Frankfurt a. M. 1802. —— Über die Bedeutung der Schädelknochen. Ein Programm beim Antritt der Pro- fessur an der Gesamtuniversität Jena. Jena 1807. —— Über das Universum als Fortsetzung des Sinnensystems. Ein pythagoreisches Fragment. Jena 1808. Lehrbuch der Naturphilosophie. ı. Aufl. 3 Bde. Jena 1809—ı811. (Ich zitiere nach der 3. Aufl. Zürich 1843.) —— Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände, 13 Bde. Stuttgart 1833— 1841. Isis oder enzyklopädische Zeitung. Jena u. Leipzig 1817—1848. Über OKEN siehe insbesondere A. ECKER, L. Oken, eine biographische Skizze, Stuttgart 1880, und C. GÜTTLER, L. Oken und sein Verhältnis zur mo- dernen Entwicklungslehre, Leipzig 1888. ÖOKEN und KIESER, Beiträge zur vergleichenden Zoologie, Anatomie und Physiologie. Bamberg und Würzburg, I. Heft 1806, II. Heft 1807. STEFFENS, H., Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft. Berlin 1806. SPIx, J. B., Cephalogenesis sive capitis ossei structura, formatio ac significatio, per omnes animalium classes, genera ac aetates digesta atque tabulis illustrata, leges- que simul psychologiae, cranioscopiae et physiognomiae inde derivatae. Monachii 1825. SCHUBERT, G. H., Ahndungen einer allgemeinen Geschichte des Lebens. 2 Bde. Leipzig 1806— 1820. —— Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften. Dresden 1808. Handbuch der Naturgeschichte. 5 Bde. 1813— 1823. 2 78 1, Kapitel. SCHELVER, F. J., Zeitschrift für organische Physik. Halle 1802. WAGNER, JOH. JAK., Von der Natur der Dinge. 3 Bde. Leipzig 1803. S. Die nüchterneren Naturphilosophen. Neben SCHELLING, OKEN, STEFFENS und einer Reihe anderer ent- schiedener Naturphilosophen, die ihre Methode bis ins Extrem durch- zuführen strebten, läßt sich eine große Anzahl anderer, namentlich deutscher Naturforscher anführen, die, ohne der von den Genannten vertretenen extremen Richtung zu folgen, doch durch ihr m&hr als gewöhnliches, Suchen nach Analogien, durch mehr oder weniger große Unklarheit der Begriffe und besonders durch die vergleichend- physiologisch-morphologische Betrachtungsweise der herrschenden Naturphilosophie ihren Tribut gezollt haben. Zu ihnen gehören Forscher teils von mittelmäßigem, teils von hohem Werte, z.B. G. R. TREVIRANUDS, J. FR. BLUMENBACH, J. CH. REIL und A. v. Hum- BOLDT. Die Anschauungen von BLUMENBACH und TREVIRANUS werde ich etwas ausführlicher behandeln, über HUMBOLDT und REIL seien hier-nur einige Worte angefügt. FRIEDRICH HEINRICH ALEXANDER VON HUMBOLDT (1769—1859) hat sich um die Geologie und um die Pflanzengeographie namhafte Verdienste erworben. Seine theoretischen Ansichten über biologische Fragen sind aber sehr unbestimmt; ich habe zur Orientierung seine zweibändige Schrift über die gereizte Muskel- und Nervenfaser ge- lesen, doch bin ich zu meinem Bedauern außerstande, den Inhalt des Werkes anzugeben. Das Ganze ist ja wohl in einem flüssigen Stil geschrieben, leidet aber wegen des hervortretenden völligen Mangels der Fähigkeit, eine konkrete Frage am richtigen Ende anzufassen, an auffälliger Unklarheit. Da wird experimentiert und spekuliert; Pro- bleme werden aufgestellt, nur um an der einen Stelle angenommen, an der andern zurückgewiesen zu werden; die Experimente sind nicht entscheidend, und die Spekulationen bewegen sich in undefinierbaren Allgemeinheiten. So folgt aus den Behauptungen nichts, mögen sie nun zutreffen oder nicht. Übrigens spricht die Tatsache, daß aus den dicken Büchern HUMBOLDTs kaum etwas in die biologische Wissen- schaft herübergenommen worden ist, deutlich genug. HuMBOLDTs Hauptverdienst um die Geologie liegt in seinen . Untersuchungen über die Vulkane und Erdbeben, denen Gesichts- punkte von allgemeinerer Bedeutung zu entnehmen sind’). ı) K. A. v. ZITTEL, Gesch. d. Geologie, 1899. S. 97. Die deutsche Naturphilosophie. 279 JOHANN CHRISTIAN REIL (1759—1813), Professor in Halle, unter- stützte die Spekulationen über die Lebenskraft in seinem Archiv für Physiologie (seit 1796) und stellte außerdem eine besondere, deren Ursprung betreffende Theorie auf. Über die Lebenskraft wurden damals im wesentlichen zwei Auffassungen geltend gemacht: den einen war sie eine über der Materie stehende absolute Kraft, während die andern sie als aus den allgemeinen physikalischen Kräften ab- leitbar ansahen. REIL') führt sie auf chemische Bedingungen zurück. | Er unterscheidet die durch die äußeren Sinne wahrnehmbare Materie von den durch innere Sinne vermittelten Vorstellungen. »Die Vor- stellungen sind übrigens mit einer bewegenden Kraft begabt, wirken auf die Materie und nehmen Wirkungen von der Materie auf«°). Folglich sind die biologischen Erscheinungen entweder in der Materie oder in den Vorstellungen begründet. Die Materie der lebendigen Körper ist eine andere als die der leblosen. »So unendlich die Bil- dung der organischen über die Bildung der toten Natur erhaben ist, so unendlich vollkommener und mannigfaltiger scheint mir auch die Mischung und das Gemenge der organischen Materie zu sein«°). Der Übergang aus dem toten in den lebendigen Zustand, wie er bei den Rotatorien u. ä. beobachtet wird, wird durch Hinzufügung einer sehr feinen Materie (Wärmestoff oder Feuchtigkeit) verursacht. Das Leben besteht in der Verbindung der feinen Materien mit der groben Materie. Außer den angeführten gehören zu den ersteren Licht, Luft, Elektri- zität, Sauerstoff und andere noch unbekannte Stoffe. { Was ist Kraft in der Natur? REIL antwortet: »Das Verhältnis der Erscheinungen zu den Eigenschaften der Materie, durch welche sie erzeugt werden, nenne ich Kraft«*). Demnach steht die Kraft nicht über der Materie, sondern sie ist mit ihr gegeben. Dies wird nun durch folgendes Beispiel veranschaulicht: Zwei chemische Sub- stanzen verbinden sich zu einer dritten, weil das ihre Eigenschaft ist, die von ihnen nicht getrennt werden kann; außer den zwei Substanzen ist eine dritte, die diese Verbindung bewirkt, nicht vorhanden. REIL unterscheidet: ı. Physische Kraft, welche in der lebenden wie in der leblosen Natur herrscht; 2. Lebenskraft »deutet das Verhältnis mehr individualisierter Er- scheinungen zu einer besonderen Art von Materie an, die wir nur in der lebenden Natur, bei Pflanzen und Tieren, antreffen«. ı) Von der Lebenskraft. Archiv f. Physiol, 1796. 2) S. 10. 3) S. 28. 4) S.45. 280 XI. Kapitel. 3. Vegetabilische Kraft und ihr Produkt: das Pflanzenleben; 4. Animalische Kraft, und zwar von zwiefacher Art, nämlich Emp- findungskraft und Bewegungskraft; 5. Vernunftvermögen. Die Lebenskraft ist den physikalischen Kräften nicht übergeordnet, sondern neben ihnen wirksam. REIL äußert sich auch über Reizbarkeit und Empfindlichkeit, über den Unterschied zwischen lebender und toter Natur, zwischen den Tieren und den Pflanzen, sowie über die Sympathien unter den Or- ganen. Endlich behauptet er, daß sich die Lebenskraft je nach der Tages- und Jahreszeit, dem Wetter, der Temperatur usf. ändere. REIL hat durch seine Spekulationen über die Lebenskraft sehr anregend gewirkt und mit KIELMEYER die physiologische Richtung der deutschen Naturphilosophie angebahnt. Literatur. HUMBOLDT, ALEX. VON, Über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermutungen über den chemischen Prozeß des Lebens in der Tier- und Pflanzenwelt. Berlin 179799. REIL, J. CH., Archiv für Physiologie, Halle (seit 1786), worin man eine Menge Ab- handlungen über die Lebenskraft findet. Zumeist sind sie unbedeutend, beachtens- wert sind aber: REırs Aufsätze »Von der Lebenskraft« (1796) und »Über Nerven- kraft und ihre Wirkungsart« (1796); Dav. v. MADAI, »Über die Wirkungsart der Reize und der tierischen Organe«. Eine ähnliche naturphilosophisch-vitalistische Richtung verfolgen die Schriften: BRANDIS, J. D., Versuch über die Lebenskraft. Hannover 1795. PFAFF, C. H., Über die tierische Elektrizität und Reizbarkeit. Leipzig 1795. HUFELAND, CHRIST. WILH., Ideen über Pathogenie der Lebenskraft auf Entstehung und Form der Krankheiten als Einleitung zu pathologischen Vorlesungen. Jena 1795- HEBENSTREIT, ERNST BENJ., Doctrinae physiologicae de turgore vitali brevis expositio. Lipsiae 1795. 9. J. F. Blumenbach. JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH (1752— 1840), Professor in Göt- tingen, ist durch seine anthropologischen und vitalistischen Arbeiten bekannt. Das Studium der Anthropologie wurde, wie bereits bemerkt, von ROUSSEAU lebhaft angeregt und mächtig gefördert, namentlich durch seine Auffassung der Naturvölker als natürlicher, von der Zivilisation Die deutsche Naturphilosophie. 281 noch unverdorkener Völker. Seit ROUSSEAU zeigt sich ein erhöhtes Interesse für das volkstümliche Leben, für volkstümliche Lieder und Trachten, und auch anthropologische Probleme werden mehr beachtet und eifriger verfolgt. Unter den Anthropologen ist zunächst PETER CAMPER (1722—178g) zu nennen, der als erster in der Größe des Gesichtswinkels ein für die verschiedenen Schädelformen charakteri- stisches Merkmal erkannte (1782). Den Anfang einer wissenschaft- lichen Behandlung ethnographischer Fragen hat ı77ı P. 5. PALLAS (1741—ı811) gemacht. Auch Kants Abhandlungen über Natur- geschichte (1757, 1798, 1775, 1785, 1802) sind wesentlich anthro- pologischen Inhalts. BLUMENBACH gewann durch seine 1775 erschienene Schrift über die angeborenen Verschiedenheiten der menschlichen Gattung auf den Fortgang der anthropologischen Forschungen bedeutenden Einfluß. Er betrachtet das Menschengeschlecht darin als eine Art und teilt diese in Varietäten ein, die dann naturhistorisch charakterisiert werden; die Unterscheidung der kaukasischen, mongolischen, äthiopischen, amerikanischen und malaiischen Rasse rührt von ihm her. Die Unter- schiede zwischen den einzelnen Rassen sollen durch die klimatischen Verschiedenheiten verursacht sein. Lebenskräfte. BLUMENBACH will im menschlichen Körper dreierlei unterscheiden: »Die Materie, die Struktur (contextus), endlich, was das Höchste ist, die Lebenskräfte, durch welche diese festen Elemente zur Aufnahme und Fortpflanzung der Stöße der flüssigen Teile und zur Ausübung anderer Bewegungen gereizt werden, und welche, wie sie überhaupt das Wesen (essentiam) des lebendigen organischen Körpers bilden, so selbst sehr verschiedener Art sind, die einen nämlich den Tieren sowie den Pflanzen gemeinsam, die andern wieder nur jenen eigentümlich, die nächste Beziehung zu den Fähigkeiten ihrer Seele pflegend«'). Die Lebenskraft oder »vitalitas« läßt sich leichter wahr- nehmen als definieren; sie läßt sich an ihren Folgen erkennen, die von den Wirkungen toter Kräfte (z. B. Brechbarkeit der Linse, che- mische Eigenschaften) sehr verschieden sind; ihre Energie überwindet die toten Kräfte: so bezwingt der Muskel die Gravitation, indem er eine Last emporhebt. Die allgemeinste Lebenskraft ist die, welche die ernährenden und reproduktiven Säfte bildet und der organischen Natur anpaßt; das ist der Bildungstrieb (nisus formativus), In der Bewegung des ı) »Institutiones physiologicae«, p. I. 282 XI. Kapitel. organischen Körpers kommen zweierlei Lebenskräfte zum Vorschein: einmal allgemeine (communes), wie Kontraktilität und Irritabilität, sodann besondere (propriae), die einzelnen Organen eigentümlich sind: z. B. die Kräfte, welche die Bewegung der Iris, die Erektion der Papillen an den weiblichen Mammae, die Tätigkeit der Placenta usw. beherrschen. Eine andere Kraft ist die Sensibilität oder Nerven- ı kraft. Alle diese Kräfte werden nicht durch sich selbst, sondern nur durch einen Reiz von außen zur Tätigkeit veranlaßt. Es werden chemische, mechanische und geistige (mentales) Reize unterschieden, die sich dann wieder in deprimierende und exzitative sondern. Dem Bildungstriebe hat BLUMENBACH eine besondere Abhandlung gewidmet (1781). Wie C. F. WOLFF in einer Polemik gegen den Evolutionismus die epigenetische Theorie auf die »vis essentialis« gründete, so bemüht sich BLUMENBACH, die Theorie der präformierten Keime als unrichtig nachzuweisen, und setzt die Lehre vom Bildungs- triebe an deren Stelle. Die Verteidiger der Präformation helfen sich durch die nach seiner Auffassung ganz abenteuerliche Annahme, daß »in allen Teilen jedes Polypen zerstreute Keime so lange einge- wickelt und in erstarrendem Todesschlaf auf Reserve liegen sollen, bis sie nach der Phantasie eines ihnen zu Hilfe kommenden Beobachters durch den Schnitt einer Schere ermuntert, aufgeweckt, von ihren Keimen befreit und zur Entwicklung angereizt worden«'). Es wäre »eine starke Zumutung, jemand überreden zu wollen, daß die Natur vorläufig auf solche Amputationsfälle gerechnet und daher längs der ganzen Finger und Fußzehen Keime zu Nägeln für solchen Notfall (d.h. für die Regeneration der Nägel] ausgesät hätte«. Bekanntlich hat hundert Jahre später WEISMANN diese Vermutung ausgesprochen und ihr zahlreiche Anhänger gewonnen. Der Bildungstrieb ist nach BLUMENBACH die Kraft, welche Zeu- gung, Ernährung und Regeneration beherrscht; ihm ist die Ausbildung der äußeren wie der inneren Form des Organismus zuzuschreiben. Folgende »Gesetze« sollen für sein Wirken maßgebend sein: ı) Die Stärke des Bildungstriebes steht zu dem zunehmenden Alter der organisierten Körper im umgekehrten Verhältnis. 2) Bei den Säuge- tieren ist dieser Trieb stärker als bei den Vögeln, d. h. die Embryonen der Säuger werden eher bzw. schneller als das Hühnchen geformt. 3) Nicht bei allen Organen ist der Bildungstrieb von gleich bestimmter Wirksamkeit; so hat das Gehirn eine festere Form (variiert also I) »Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäft«, S. 93. Die deutsche Naturphilosophie. 283 weniger) als die Niere usf. 4) Abweichungen vom Bildungstrieb ent- stehen, wenn er bei Bildung der einen Art organischer Körper die für eine andere Art bestimmte Richtung annimmt (z. B. uterus bi- cornis bei den Weibern). 5) Andere Abweichungen entstehen, wenn die Geschlechtsteile des einen Geschlechts die Form derjenigen des andern annehmen. 6) Mißgeburten entstehen, wenn der Bildungstrieb eine völlig widernatürliche Richtung nimmt. Wie man sieht, bemüht sich BLUMENBACH nicht sonderlich, den Begriff des Bildungstriebes zu analysieren; die angeführten »Gesetze« sind empirisch gewonnene Gruppen von zumeist richtigen Tatsachen, die allerdings erst speziell untersucht und viel bestimmter gefaßt wer- den müßten, ehe sie den Begriff des Bildungstriebes zu klarerer An- schauung bringen könnten. Übrigens ist es BLUMENBACH gänzlich entgangen, daß er die Form des Tieres erklären sollte, und daß sein Bildungstrieb nicht im mindesten auf etwas Spezifisches führt, wie es erforderlich gewesen wäre. Ungenügend ist auch seine Unterschei- dung des Bildungstriebes von andern Lebenskräften. Er macht zwar geltend, daß man seinen Bildungstrieb nicht mit der vis plastica der Alten verwechseln dürfe, und daß auch unter C. F. WOLFFs vis es- sentialis etwas anderes zu verstehen sei. Doch welcher Unterschied da ist und warum er nötig, das hat er nicht angegeben, und aus seinen Darlegungen ist ein solcher Unterschied nicht ersichtlich. BLUMENBACH wurde zwar von vielen wegen seiner Lehre vom »Bildungstrieb« gerühmt, eine tiefergehende Nachwirkung war ihm aber nicht beschieden. Literatur. BLUMENBACH, JOH. FRIEDR., Specimen physiologiae comparatae inter animantia calidi et frigidi sanguinis, praemissae sunt de nisu formativo et generationis negotio observationes nuperae. Gottingae 1787. —— Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäft. Göttingen 1781. (3. Aufl. 1791). —— Institutiones physiologicae. Gottingae 1787. (4. Aufl. 1821.) Handbuch der vergleichenden Anatomie. Göttingen 1805. —— De generis humani varietate nativa. Gottingae 1775. 10. G. R. Treviranus. GOTTFRIED REINHOLD TREVIRANUS (1776— 1837) war ein nüch- terner Biologe, der als erster den — gelungenen — Versuch machte, unser Wissen von den Organismen zusammenfassend und übersichtlich 284 XI. Kapitel. darzustellen. Seine »Biologie« (1802—1822) und seine »Erscheinungen und Gesetze des organischen Lebens« (1831—ı833) sind noch heute wegen des darin enthaltenen Tatsachenmaterials sowie wegen der in ihnen dargelegten allgemeinen Gedanken lesenswert. Diese Werke zeigen uns TREVIRANUS als einen Empiriker, der fortwährend darauf bedacht ist, außer den Tatsachen auch theoretische Gesichtspunkte zu würdigen. Infolgedessen empfängt man aus ihnen ein treues Bild der biologischen Richtungen seiner Zeit. Gleichwohl sind sie von Mängeln nicht frei: TREVIRANUS fehlte die Kraft, sich zu einer festen Theorie durchzuarbeiten; seine allgemeinen Vorstellungen sind schwankend, mit den Tatsachen nur lose verbunden und oft natur- philosophisch gefärbt. Als Ziel der Biologie betrachtet TREVIRANUS nach seinem zuerst erwähnten Werke, »die verschiedenen Formen und Erscheinungen des Lebens, die Bedingungen und Gesetze, unter welchen dieser Zustand stattfindet, und die Ursachen, wodurch derselbe bewirkt wird«, zu be- schreiben. Er führt die so bestimmte Aufgabe in der Weise durch, daß er zuerst eine Definition des Lebens sucht, die Lebenskraft annimmt und eingehender behandelt, das Gebiet der Organismen in großen Zügen kennzeichnet und eine Klassifikation der Organismen darbietet. Im zweiten Bande folgt eine allgemein gehaltene Erörterung über die geographische Verbreitung der Tiere in Verbindung mit dem Nach- weise, daß nicht alle Tiere unter demselben Klima leben, und einer Aufzählung der Ursachen für diese Tatsache; doch wird kein Versuch gemacht, die Tiere in geographische Distrikte einzuteilen. Dann wird die Frage nach der Entstehung des Lebens so behandelt, daß nach einer Kritik der herrschenden Theorien die Entscheidung zugunsten der spontanen Generation ausfällt. Letztere faßt TREVIRANUS als Entstehung des Lebens aus unzerstörbarer Materie durch die Wirkung einer überall vorhandenen plastischen Kraft auf. Weiterhin werden phylogenetische Probleme in ziemlicher Ausführlichkeit erörtert. Die Entstehung neuer Arten wird als Umwandlung früherer gedeutet. An die Analyse der Zeugungstatsachen schließt sich endlich eine Be- sprechung der Tatsachen und Theorien, die sich auf die Probleme des Wachstums und der Ernährung beziehen. Lebenskraft. TREVIRANUS behandelt in seiner »Biologie« die Lebenskraft ziemlich eingehend. Sie ist ihm der Grund des Lebens, ein »hyperphysisches Wesen«, nicht bloße Form und Mischung (= chemische Zusammensetzung) der Materie. So wird die leblose Natur wesentlich von der repulsiven Kraft beherrscht, die lebendige Die deutsche Naturphilosophie. 285 durch diese und die Lebenskraft charakterisiert‘). Auf Grund des Begriffes der Lebenskraft formuliert TREVIRANUS das Verhältnis der lebendigen und der leblosen Welt so, daß er zunächst die Frage auf- stellt, »wie die Lebenskraft einem System repulsiver Kräfte einen ge- wissen Grad der Unabhängigkeit von den Einwirkungen der Außen- welt erteilen könne«*). Die Frage wird, durch den Hinweis auf drei mögliche Ansichten beantwortet: entweder entsteht die lebensfähige Materie aus der leblosen, und das Leben kommt ihr nachträglich durch die Lebenskraft zu, oder sie wird nur durch die Lebenskraft gebildet, oder aber die lebensfähige und die leblose Materie sind nur mit- und durcheinander, so daß keine ohne die andere bestehen kann. Die von mehreren Autoren behauptete Entstehung kleinerer Organis- men aus toter organischer Materie führt TREVIRANUS zur Annahme der dritten Möglichkeit, die eo ipso die Unsterblichkeit des Lebens involviert°). Vom ersten Anfange des Lebens auf der Erde machte TREVI- RANUS sich eine Vorstellung, die als Vermittelung zwischen der plasti- schen Kraft der Aristoteliker und der Tatsache der Versteinerungen als Überresten von lebenden Organismen gelten kann. Er weist darauf hin, daß in den ältesten Schichten Versteinerungen nicht vor- kommen: woher kam also das Leben? Bereits im Urgebirge findet man C, Fe, SiO,, CaO, MgO, Verbindungen, welche nach TREVI- RANUS heute durch die Organismen selbst gebildet werden. Wahr- scheinlich habe also die Lebenskraft diese Verbindungen im Urgebirge bereits vor dem Vorhandensein des Lebens gebildet. »Lebenskraft war damals Attribut der ganzen Erde; der Charakter dieses Zustandes war damals vielleicht auch in der Struktur der Erde noch deutlich ausgedrückt ...« In einer Anmerkung zu diesem Satze wird auf die Metalladern in der Erde hingewiesen, welche oft Bäumen und Ästen ähnlich sind*). Die Lebenskraft soll bis zu gewissen Grenzen von den äußeren Einflüssen unabhängig und den geistigen Kräften des Menschen ver- wandt sein’). »Es folgt«, sagt TREVIRANUS, »erstens, daß in der ganzen Natur eine stets wirksame, absolut indekomponible und un- zerstörbare Materie vorhanden ist, wodurch alles Lebende, von dem Byssus bis zur Palme und von dem punktähnlichen Infusionstiere bis ı) S.56. Man vergl. damit die Theorien von NEEDHAM und WOoLFF über die Lebenskraft. 2) .I@S. 82. 3). 4) IS. 39. 5) IV, S. 627, 629. 286 XI. Kapitel. zu den Meerungeheuern, Leben besitzt, und welche, obgleich unver- \ änderlich ihrem Wesen, doch veränderlich ihrer Gestalt nach, unauf- hörlich ihre Formen wechselt ...; zweitens, daß die Materie an sich formlos und jeder Form des Lebens fähig ist, daß sie nur durch den Einfluß äußerer Ursachen eine bestimmte Gestalt erhält, nur bei fort- dauernder Einwirkung jener, Ursachen in dieser verharrt und eine andere Form annimmt, sobald andere Kräfte auf sie wirken. « Phylogenie. TREVIRANUS wurde auf phylogenetische Betrach- tungen durch die Paläontologie geführt. Zunächst wirft er .bei der Erörterung der Bedeutung der äußeren Einflüsse für die Organismen die Frage auf, ob diese Einflüsse durch ihre Verschiedenheit mehr als Varietäten verursachen können. Er kommt zu dem Schlusse, daß dies, wenn auch heute nicht mehr, doch früher, als die Natur noch unentwickelt war, der Fall gewesen sei. .... »Damals, als die Orga- nisation des Ganzen noch im Werden begriffen war, kann die des Einzelnen ganz abhängig von Einflüssen gewesen sein, welche jetzt nur noch bloße Varietäten, nicht mehr Gattungen hervorzubringen ver- mögen«'). Ausführlich bespricht er die Phylogenie im dritten Bande, wo er die Geschichte oder die Revolutionen der lebenden Natur erörtert. » Jedes materielle System«, behauptet er), »durchläuft eine Reihe von Veränderungen, die so beschaffen ist, daß jedes nach gewissen Re- volutionen irgendeinem Zustande, worin es sich schon vorher einmal befand, wieder nahekommt, ohne doch mit demselben ganz zusammen- zutreffen.Il sera de m&me tres-vrai de dire que les corps vivants sont la source premiere, oU toutes les matieres composdes connues ont pris naissance«'). Mag nun die Kraft, von der LAMARCK hier redet, einen wie immer gearteten Ursprung haben, Tatsache bleibt, daß er sie annimmt, daß er den Organismus durch sie entstehen und sich entwickeln läßt, daß er auf diese Kraft, die ja der Lebenskraft anderer Autoren gleicht, alle Bewegungen und formalen Veränderungen zurückführt. Bei dieser Gelegenheit darf ich nicht unerwähnt lassen, daß LA- MARCK die Begriffe der potentiellen und der aktuellen Kraft (Kraft und Energie sind ihm gleichbedeutend) nicht unterscheidet, und daß er sich infolgedessen in Unmöglichkeiten verwickelt. Diese sind nur 1011 S..93. 2)1.28:94: 3) 148.97. 4) I. S. 103. Lamarck. 303 so zu erklären, daß er, dem Materialismus folgend, sich scheut, seiner phylogenetischen Kraft die Eigenschaft einer spezifisch vitalen Kraft zuzuschreiben. Meines Erachtens ist in den zuletzt erwähnten Sätzen der Einfluß der vitalistischen Schule von Montpellier auf LAMARCK zu erkennen: seine phylogenetische Kraft ist offenbar die vis plastica anderer Forscher. Er sträubt sich aber gegen diese Konsequenz und will nur physikalische Kräfte anerkennen: der Druck der Fluida soll die Lücken im Körper erweitern. Wie kommt es dann aber, daß der Druck nur von innen nach außen wirkt und keinen Gegendruck findet, da die Fluida doch von außen kommen? Man übersehe dabei nicht, daß die Auffassung, nach der die Energie als potentielle Energie mit der Nahrung in den Körper kommt und erst im Körper frei wird, ihm auch ihrem Wesen nach noch gänzlich fremd war. B. Die treibende Kraft bei den höheren Organismen. Die Rolle der treibenden Kraft übernimmt bei den höheren Organismen das innere Gefühl (sentiment interieur). Den Übergang hierzu hat man sich etwa folgendermaßen zu denken. Als die Körperorganisa- tion bereits ziemlich fortgeschritten war, so daß das wesentliche Fluidum des Tieres sehr belebt (tres-animalise) erschien, wurde die Nervensubstanz aus dem Blute oder einem ihm verwandten Fluidum ausgeschieden und längs der Körperachse zuerst in isolierten Gruppen, dann als Nervenstrang gelagert, die Nervensubstanz aber vom Zell- gewebe als Scheide umgeben. Aus dem Blute dringt fortwährend ein feines Fluidum in die Nerven hinein. Im einfachsten Falle ruft das Nervensystem lediglich Bewegung hervor, dann auch Empfin- dung; das vollkommene Nervensystem dient der Muskelbewegung, der Empfindung, inneren Gefühlen und der Intelligenz‘). Das innere Gefühl entsteht aus der Gesamtheit der inneren Emp- findungen, die an sich schwach sind, aber ein resultierendes allge- meines Gefühl hervorbringen. Dieses Gefühl bildet das Ich der höheren Organismen. »Endlich ist es die Quelle der Kraft, welche die Bedürfnisse zu bewegen weiß und nun durch Emotion handelt, und aus der die Bewegungen und Handlungen die Kraft schöpfen, welche sie hervorbringt.« Dieses innere Gefühl kann bewußt oder unbewußt sein. Vom inneren Gefühl leitet LAMARCK sodann die ethischen Gefühle her, »die nichts anderes sind als sehr große Empfindlichkeit, wie sie dem inneren Gefühl einiger Individuen eigen ist und beim plötzlichen ı) D. S. 176 ff. 304 XII. Kapitel. Auftauchen von Ideen und Gedanken, welche die Empfindlichkeit hervorrufen, in Aufregung gerät. Von solchen Individuen sagt man, daß sie sehr empfindlich sind«'). Das innere Gefühl bzw. der Wille wirkt auf das Nervenfluidum, dessen Erschütterung sich längs der Nerven bis in den Muskel ver- breitet. Wird das Nervenfluidum oft in einer und derselben Richtung erregt, so bahnt es sich einen dieser Richtung entsprechenden Weg, der dann leichter durchlaufen wird. Hieraus folgt die Neigung zu einer bestimmten Handlung, die Gewohnheit; je geringer die Intelli- genz, desto zahlreicher die Gewohnheiten’). Auch der Instinkt steht zum inneren Gefühl in Beziehung: auf letzteres wirken nämlich zweierlei Ursachen, einmal die Handlungen der Intelligenz, die auf den Willen zu handeln hinauskommen, und sodann »die Empfindungen, welche Bedürfnisse hervorrufen, die jenes Gefühl unmittelbar erwecken und es nötigen, die produktive Kraft der Handlungen in der Richtung einer ererbten Neigung zu lenken, ohne daß der Wille dabei tätig wäre«; dies ist der Fall beim Instinkt?). Wenn ich nun den Inhalt der angeführten Stellen zusammenzu- fassen versuche — es herrscht viel Unbestimmtheit darin —, so glaube ich, LAMARCKS Ansicht kurz folgendermaßen wiedergeben zu können: Es gibt eine Ursache, welche die Organisation der Tiere fortwährend zu komplizieren strebt. Bei höheren Tieren wird dieses Streben aus einem unbewußten zu einem undeutlich bis klar be- wußten. Das undeutliche innere Streben ist die Quelle aller Hand- lungen, auch der instinktiven und der ethischen; der Wille ist ganz dasselbe Streben, nur klar bewußt. Gibt es besondere Bedingungen der Außenwelt, auf die das Streben gerichtet ist, so spezialisiert sich auch das darauf zielende Streben: das allgemeine Streben würde ein fortwährendes Wachstum der Organisation, also eine einzige auf- steigende Reihe der Organismen, zur Folge haben; die speziellen Bedürfnisse komplizieren diesen Fall. Die Rolle der Bedürfnisse. LAMARCK behauptet: wenn alle Organismen etwa nur im Wasser und unter demselben Klima lebten, würden sie eine regelmäßig aufsteigende Reihe bilden; die Störungen dieser Regelmäßigkeit werden durch die Mannigfaltigkeit in der Wir- kung der Wohnorte und durch die Gewohnheiten der Tiere verursacht. Zum Beweise dafür wird das Beispiel der Wassertiere angeführt, bei 1) I. S. 264. 2) 11.092 29T. 3) D..S. 206. 4 4 Ps > ° Lamarck. 305 denen im allgemeinen derselbe Plan, wie die Natur ihn in den Fischen zu verwirklichen begann, in fortschreitender Komplikation vorhanden sein soll. Im besonderen haben dann aber die Schlangen z. B. die bereits vorhandenen Füße verloren, weil sie, am Boden kriechend, diese nicht brauchten. An anderer Stelle ist die Ansicht ausgesprochen, daß die Umgebung nicht direkt auf die Organisation wirke, sondern, indem sie die Bedürfnisse ändere, auch die Handlungen variiere; so- bald solch eine Änderung konstant wird, eignen die Tiere sich neue Gewohnheiten an. Wird ein Organ durch die Bedürfnisse in beson- derem Grade beansprucht, so entwickelt es sich stärker; wird ein Organ nur wenig oder gar nicht benutzt, so wird es schwächer: all- mählich verliert es seine Fähigkeiten, um schließlich ganz zu ver- schwinden. Alle diese neuen Eigentümlichkeiten werden vererbt und so in den nachfolgenden Generationen erhalten, sobald sie sich auf beide Geschlechter erstrecken'). Nicht die Form und der Bau der Organe bestimmt deren Funktion, sondern das Umgekehrte ist der Fall: infolge des Funktionsmangels sind die Zähne des Walfisches und des Ameisenbären, die Augen des Maulwurfs und des Proteus rudimentär geworden. Dagegen ist ver- mehrter Gebrauch die Ursache davon, daß die Vögel eine Schwimm- haut, die Sumpfvögel lange Hälse, die Huftiere (weil sie lange stehen müssen) Hufe, die Zweihufer (sie kämpfen mit ihrem Kopfe, und das Blut strömt dabei in die Stirn) Hörner und Geweih haben, usf. Das sind übrigens bekannte Dinge, da nach durchgängiger Annahme ge- rade hierin das Wesen der Philosophie LAMARCKs beschlossen sein soll. Ich betone aber noch einmal: die Gewohnheiten haben — nach LAMARCK — für die Entstehung neuer Organe nur dann einen Sinn, wenn man einen inneren Drang im Tier, sich anzupassen, annimmt; sonst sind sie außerstande, das Tier vom Platze zu bringen. Mit seiner Lehre von der inneren Kraft und von den Gewohn- heiten als Bildnerinnen neuer Organe hat sich LAMARCK an den heikel- sten Punkt jeder Entwicklungstheorie herangewagt, nämlich an das Problem, wie aus der Kraft Form wird. Offenbar wird angenommen, daß die Bedürfnisse des Tieres über seine Organisation hinausreichen, daß das Tier mehr will, als es vermag. Um ein recht bezeichnendes Beispiel anzuführen: LAMARCK muß die Möglichkeit zugeben, daß ein Tier, welches vom Licht gar nichts weiß, den Willen, zu sehen, haben kann, und daß dieser Wille ihm das Sehorgan schafft. Man le Rädl, Geschichte der biologischen Theorien. I. Teil. 20 306 XIH. Kapitel. mag weniger drastische Beispiele wählen und dadurch den Kern der Frage verschleiern, aber alle Erklärungsversuche, die dem LAMARCK- schen ähneln — nämlich, daß die Kraft des Organismus, sein Streben, sein Wille, sein Bedürfnis etwas Neues verursacht, was er noch nicht besitzt, — führen zuletzt auf unser Problem: inwiefern es die Korrelation zwischen der Organisation und den Funktionen des Tieres zuläßt, daß die Funktion mehr leisten kann, als durch die Organisation gegeben ist, daß sie die Organisation überwinden, d. h. wandeln, vervollkomm- nen kann. LAMARCK rechnet mit dieser Möglichkeit; er glaubt an ein ununterbrochenes, allen Organismen eigentümliches Streben, das wenigstens in seinen höheren Stufen, als psychisches Prinzip, als Wille, sogar neue Strukturen hervorbringen kann. Auch hier zeigt es sich wieder, daß die Annahme eines Strebens, neuen Bedürfnissen gerecht zu werden, konsequent durchgeführt dem Vitalismus zutreibt, ja daß diese Annahme bereits vitalistisch ist, mag LAMARCK eine noch so materialistische Miene dazu machen. Wie überhaupt die Folgerichtigkeit nicht gerade ein Vorzug der LAMARCKschen Theorie ist, so kann man bei ihm auch leicht Stellen finden, die dem eben Erwähnten widersprechen. Oben zitierte ich seine Behauptung, daß nur die Funktion, also die Physiologie, das Organ bildet. Nun sagt aber LAMARCK an einer andern Stelle: ... »und es ist immer wahr, daß die Fähigkeiten, welche sie [die spe- ziellen Organe] dem Tiere geben, nicht früher hervorzutreten be- ginnen, als mit dem Vorhandensein der Organe, welche sie ver- schaffen (... et il est toujours vrai que les facultes, qu’ils donnent & animal ne commencent a avoir lieu qu’avec l’existence des organes qui les procurent ...)«*). Dies bedeutet im Zusammenhange mit dem Vorigen: das Organ wird durch die Funktion gebildet, gleichwohl ist es früher da als die Funktion. Oder man erwäge folgenden Satz: Weil der Schall überallhin durchdringt, ... »hat ein jedes Tier, das an dem Organisationsplane teilnimmt, wozu das Gehör we- sentlich gehört, immer Gelegenheit, dieses Organ an jedem Orte zu üben, welchen es auch immer bewohne«*). Erstens muß also der Organisationsplan (also doch etwas nur Morphologisches) im all- gemeinen dasein, zweitens das Gehörorgan, und dann erst ist dem Tiere die Möglichkeit zur Übung des Gehörs gegeben. HUME hatte angenommen, daß aus keinem Dinge, also auch nicht aus einem Tier, ohne vorgängige Erfahrung die Wirkung, in unserem r) TI. S. 288. 2) SN230: Lamarck. 307 Falle die Zukunft der Tierart, erraten werden könne; nach ihm gibt es in den Dingen keine a priori erkennbare Kraft als Ursache der Wirkung. LAMARCK behauptet dagegen das Vorhandensein einer sol- chen Kraft: es ist das Streben der Natur nach Fortschritt, ferner das innere Gefühl, endlich der Wille. Hier zeigt sich der Kernpunkt und das eigentlichste Wesen der LAMARCKschen Theorie, nämlich in dem Versuch eines Nachweises dafür, daß der Organismus aus sich selbst hervortreten, daß er bewußtes oder unbewußtes Streben nach Dingen haben kann, die außerhalb seiner Erfahrung liegen. Dieser Gedanke führt offenbar weit in die Metaphysik hinein und berührt sich mit der SCHOPENHAUERschen Lehre von der metaphysischen Bedeutung des Willens. Die Klassifikation. In betreff der Klassifikation steht LAMARCK ganz auf dem Standpunkt BUFFONs und BONNETs. Die systematische Einteilung ist nur für und durch Menschen getroffen. »Die Natur hat nichts dem Ähnliches gemacht, und anstatt uns durch die Verwechs- lung unserer Werke mit den ihrigen zu täuschen, sollen wir anerkennen, daß die Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und die Nomen- klatur nur Mittel unserer Erfindung sind, die wir nicht entbehren können«‘). Die Natur hat nur einander ähnliche Individuen hervor- gebracht. Die Regeln, nach denen die Klassen und Ordnungen usw. gebildet werden, müssen von den Menschen ein für allemal festgestellt werden, damit keine Verwirrung entsteht; immerhin darf man aber nicht ver- gessen, »daß alle Trennungslinien in der Reihe der Objekte, die das Reich der lebenden Körper bilden, tatsächlich künstlich sind, bis auf die, welche aus erst noch auszufüllenden Lücken bestehen « °). Das natürliche System hat also schon bei LAMARCK die histo- rische Deutung, welche es später durch DARWIN in erhöhtem Maß erhalten hat. Für LINNE wie für CUVIER ist das natürliche System dasjenige System von Begriffen, das die natürlichste Übersicht über das Organismenreich gewährt; bei LAMARCK ist es das System, welches die phylogenetische Entwicklung der Organismen wiederholt. Mit BUFFON bestreitet LAMARCK auch die Natürlichkeit des Art- begriffes; er soll schwankend sein, da ja die benachbarten Arten doch ineinander übergehen, und dieses Schwanken sich um so deutlicher zeigen, je tiefer man in die Kenntnis der Arten eindringt. Konsequenter- weise behauptet LAMARCK, daß fast gar keine Arten ausgestorben EN ESTAO. 2), 1..S255, 20* 308 XII. Kapitel. sind. Zwar sollen im Verlaufe der geologischen Perioden einige Arten durch den Menschen ausgerottet worden sein, doch die kleinen Tiere, namentlich die Weichtiere, sind nicht ausgestorben [d. h. ohne irgend- welche Nachkommenschaft zu hinterlassen], sie haben sich in die heutigen Arten verwandelt‘). LAMARCK behauptet, und selbst dies ist sehr beachtenswert, daß es auch unter den Mineralien keine Arten gebe. In seiner Hydro- geologie (1802) erklärt er, daß er nicht an die Unveränderlichkeit der Moleküle glaube, vielmehr annehme, daß die integrierenden Mole- küle jeder zusammengesetzten Substanz ihre Natur zu ändern ver- mögen, mithin Veränderungen erleiden können »in der Zahl und den Proportionen der sie zusammensetzenden Prinzipien« °). Ein Forscher CuvIErscher Richtung wird in dem Begriff Säugetier etwas Natürliches sehen, einen Begriff, den man an der Wirklichkeit prüfen, korrigieren, vertiefen kann. Die Phylogenetiker dagegen werden eine derartige Auffassung für sinnlos halten, da man den Begriff Säugetier willkürlich bestimmt habe und mit ihm nicht das Wesen des Säugetiers bezeichne, sondern nur eine Summe von Tieren zusammenfasse, die eine historische Gruppe bilden. Es wäre ver- fehlt, zu sagen, LAMARCK habe die CuVvIERsche Auffassung der Klassifikation vertieft; er hat vielmehr eine andere eingeführt, die auf ganz andern philosophischen Grundlagen erwachsen ist. LAMARCKS Klassifikation steht, wenn so man will, neben der CuvIERschen, weder über noch unter ihr. LAMARCK hat das Tierreich folgendermaßen eingeteilt: A. Vertebrata 3. Annelida 7. Vermes B. Evertebrata 4. Crustacea 8. Radiata ı. Mollusca 5. Arachnida 9. Polypi 2. Cirripedia 6. Insecta 10. Infusoria. Die Typen CuVIERs hat LAMARCK nicht angenommen, sondern die Tiere zunächst in Wirbeltiere und Wirbellose, und erst diese in mehrere untergeordnete Gruppen eingeteilt. Dieser Einteilung hat er folgende phylogenetische Deutung gegeben: LILT. IS: 93: 2) 1.9: 149. See ee ut he ee Lamarck. 309 Vermes (spontan) Infusoria Polypi spontan we Radiata Annelida Insecta Cirripedia Arachnida Mollusca Crustacea aa = Bisces —mRepitilia Aves Monotremata Mammalia amphibia er er re Cetacea Unguiculata Ungulata Die Bedeutung der Zeit. In der Philosophie LAMARCKSs beginnt die Zeit die Rolle zu spielen, die ihr DARWIN später zuerteilt. Bei GEOFFROY, TREVIRANUS und andern Forschern, welche ebenfalls über den Ursprung der Tiere nachgedacht haben, hat die Zeit noch fast keine Bedeutung, wie überhaupt in jeder Theorie, die eine sprung- weise Entstehung der Arten annimmt. Denn in diesem Falle ist die Frage, wann oder in welcher Dauer diese oder jene Form entstand, viel weniger wesentlich als die andere, wie sie entstanden ist. LAMARCK behauptet, die heutigen Organismen seien während eines langen Zeitraums sukzessive entstanden‘), die kompliziertere Organisation habe sich allmählich entwickelt, mit der Zeit hätten sich dann auch die Funktionen wie die Organe differenziert”). Im Sinne LA- MARCKS wäre die Annahme durchaus folgerichtig, daß die Länge der Zeit ein direktes Maß für den Fortschritt in der Organisation abgebe; denn nur so läßt sich die den Fortschritt hervorbringende Kraft auffassen, die er statuiert. Doch finde ich neben Sätzen, welche für diese Auffassung sprechen, auch solche, die eine so direkte Bedeutung der Zeitdauer nicht anerkennen wollen. Die Frage, warum sich in Ägypten die Arten innerhalb der historischen Zeit nicht veränderten, beantwortet LAMARCK dahin, daß sich während dieses Zeitraums das Klima dort nicht verändert habe; also wird hier dem Klima, nicht der Zeit die Veränderung zugeschrieben. Damit vergleiche man nun aber das 2), 125. ST. 2) L S. 83. 310 XIH. Kapitel. Beispiel der Tiere, die, unter denselben Bedingungen lebend, gleich- wohl verschiedene Organisation aufweisen, und man wird zugeben müssen, daß im Falle der Konstanz der ägyptischen Arten LAMARCK eben nur die Tatsachen zur Inkonsequenz genötigt haben. Die Entstehung des Menschen. LAMARCK will den Menschen wegen seiner hohen Intelligenz aus der Reihe der Tiere ausschließen '), aber am Ende entscheidet er sich doch dafür, den Entwicklungs- gedanken auch auf ihn anzuwenden. Wäre der Mensch, so folgert er”), nur eine besonders gut begabte Rasse der Organismen, so ‘wür- den seine Eigenschaften aus neuen Gewohnheiten, die er sich ange- eignet hat, leicht zu erklären sein. Wenn ein besonders vollkommener vierhändiger Affe, durch irgendwelche Umstände veranlaßt, von der Gewohnheit, die Bäume zu erklettern, ablassen und viele Generationen hindurch nur auf den hinteren Extremitäten schreiten würde, so würde aus ihm ein zweihändiger Affe werden, der in dem Bestreben, weit um sich zu sehen, aufrecht stehen und so menschliche Gestalt erlangen würde. Eine verminderte Inanspruchnahme der Kinnlade würde seinen Gesichtswinkel vergrößern; die so entstandene Rasse würde andere Rassen verdrängen bzw. ihre Entwicklung hemmen, wäh- rend sie selbst sich vermehren, sich neue Bedürfnisse schaffen würde; dadurch würde dann bei ihr der Tätigkeitstrieb geweckt, und ihre Fähigkeiten würden vervollkommnet werden. Die Verbreitung über größere Gebiete würde ihr neue Ideen und damit die Sehnsucht bringen, sie andern mitzuteilen; das müßte dann zunächst zu einer Zeichensprache führen, die sich weiter zur gesprochenen unartikulierten, endlich aber zur artikulierten Sprache entwickeln würde. »So würden die Reflexionen lauten, die man aufstellen könnte, wenn sich nicht der Mensch, hier als die eben erwähnte hervorragende Rasse be- trachtet, von den Tieren durch den Charakter seiner Organisation unterschiede, und wenn sein Ursprung nicht von dem ihrigen ver- schieden wäre.« Der physiologische Standpunkt. Eingangs habe ich als wichtige Tatsache hervorgehoben, daß LAMARCK kein Morphologe, sondern Systematiker und Physiologe war. Mit einer rein systematischen (Hloristischen) Arbeit über die Pflanzen Frankreichs beginnend, hat er später die Systematik der Evertebraten bearbeitet, und aus dem so gewonnenen positiven Material zog seine Philosophie ihre Nahrung. Mit morphologischen Problemen hat LAMARCK sich niemals befaßt. Lamarck. ST Zwar behauptet er in seiner »Philosophie zoologique«'), daß das ver- gleichende Studium der Organe das Prinzip der zoologischen Philo- sophie sei, aber das ist bei ihm lediglich als Nachwirkung der damals weitverbreiteten morphologischen Richtung anzusehen. LAMARCK hat die Behauptung offenbar nur deshalb aufgestellt, weil sie der geltenden Auffassung entsprach. Allerdings muß es geradezu über- raschen, wenn man in einem zweibändigen Werke — der Philosophie zoologique — und in einer Reihe anderer theoretischer Arbeiten, die fast ausschließlich der Entstehung der Organisationen gewidmet sind, nichts Vergleichend-Anatomisches, ja auch nichts Embryologi- sches findet, einige Gemeinplätze ausgenommen, die ohne jeden Zu- sammenhang darin vorkommen. Und auffallend erscheint auch dies, daß physiologische Erörterungen über die Hälfte der »Philosophie zoologique« ausmachen. Man braucht nur auf die Titel der einzelnen Kapitel zu achten. Der erste Teil — Naturgeschichte der Tiere, ihre Charaktere, Beziehungen, Organisation, Klassifikation, ihre Arten — enthält acht Kapitel, von denen das siebente halb physiologisch ist, nämlich »über die Wirkung der Umgebung auf Handlungen und Ge- wohnheiten der Tiere und über die Handlungen und Gewohnheiten dieser lebenden Körper als die Ursachen der Veränderung ihrer Or- ganisation und ihrer Form« sich verbreitet. Der zweite Teil trägt ausschließlich physiologischen Charakter. Er enthält Betrachtungen über die physischen Ursachen des Lebens, die Bedingungen, welche es für seine Existenz erfordert, über die Kraft, die seine Bewegungen anregt, die Fähigkeiten, welche sie den ihrer teilhaftig gewordenen Körpern verleiht, und die Folgen ihres Vorhandenseins im Körper. Alle übrigen Kapitel des ersten und alle Kapitel des zweiten Bandes sind durchweg physiologischer Natur, die letzten Kapitel physiologisch- psychologisch. Erwähnenswert ist, daß LAMARCK später (1812 und 1815) die be- reits erwähnte Klassifikation der Tiere verwarf und durch eine physio- logisch-psychologische ersetzte, indem er die Tiere in apathische, sensitive und intelligente einteilte.e Apathisch sind Infusoria, Polypi, Radiata, Vermes, Epizoa, sensibel alle übrigen Evertebraten, intelligent die Wirbeltiere?). Die physiologischen Betrachtungen LAMARCKSs sind aber nicht be- sonders originell und in keiner Hinsicht neu. Auch nicht eine konkrete EILAS. 07, 2) Extrait du cours de Zoologie 1812. Hist. nat. des animaux sans vertebres. 1815— 1822. 312 XIH. Kapitel. physiologische Untersuchung hat er durchgeführt und keine konkrete physiologische, irgend anwendbare Theorie aufgestellt. Er stützt sich einfach auf RICHERANDs Elemente der Physiologie (1801) be- züglich der Tatsachen und auf CABANIS (1799) in Fragen der Theorie. RICHERAND war Vitalist, CABANIS Materialist; LAMARCK ist es nicht gelungen, die Verschiedenheit ihrer Standpunkte auszugleichen. Mehr- mals spricht er sogar von einer »force particuliere«, welche die Or- ganismen bewege (WOLFF nannte diese Kraft bekanntlich »vis essen- tialise); auch betont er, daß der von den Vitalisten vielbesprochene Tonus oder Orgasmus für die Organismen charakteristisch sei, usf. Sonstige Leistungen. Neben Spekulationen über die Phylogenie der Tiere, die ihn erst ziemlich spät beschäftigte, hat LAMARCK noch mehrere systematische Arbeiten veröffentlicht. Außer seiner »Flore frangaise« (1778), die drei Auflagen erlebte, kommen einige kleinere botanische Schriften und eine Reihe von Abhandlungen über die Systematik der Mollusken, die sehr gerühmt werden, sodann ein größeres Werk über das System der wirbellosen Tiere (1801), end- lich noch mehrere paläontologische Arbeiten in Betracht. Wie über die Biologie, so hat LAMARCK auch über Fragen der Meteorologie, der Physik und der Chemie geschrieben, ohne aber in diesen Wissen- schaften etwas Bemerkenswertes zu leisten. Wirkungen der Arbeiten Lamarcks. Den positiven Arbeiten LAMARCKs wurde bald nach ihrem Erscheinen lebhaftes Interesse ent- gegengebracht. Als Systematiker ist er stets hochgeschätzt worden, aber für seine Theorien fand er doch nur schwer Verständnis und An- hängerschaft; zu seinen Lebzeiten sind sie in weiteren Kreisen kaum ernstlich beachtet worden. Sein Versuch, die morphologischen Pro- bleme auf physiologischem Wege zu lösen, noch dazu mit Hilfe einer Physiologie, die nicht auf der Höhe stand, konnte von vorn- herein keine Aussicht auf Erfolg bieten in einer Zeit, die, wenn auch wissenschaftlich sehr rege und betriebsam, doch ganz vorzugsweise auf die Morphologie Gewicht legte. Daß LAMARCK mit seinen Auf- stellungen nicht die gebührende Anerkennung fand, erklärt sich also aus ähnlichen Gründen, wie sie im Falle C. F. WOLFFs zutage ge- treten sind. LAMARCKS theoretische Werke wurden zwar viel gelesen — v. BAER sagt, daß die »Philosophie zoologique« in jedermanns Händen war —, und er hat zweifellos Verdienste um die Förderung der Speku- lation über die Entwicklung der Organisation der Tiere, aber gleich- wohl ist es ihm nicht gelungen, sich eine besondere wissenschaftliche Lamarck. 313 Bedeutung zu erringen. Erst als unter dem Einfluß der deutschen Naturphilosophie die morphologische Richtung in den Hintergrund trat, in den vierziger Jahren des ı9. Jahrhunderts, hat man LAMARCKSs Philosophie mehr beachtet und eingehender gewürdigt. Aber selbst dann begegnete man seinen Theorien, wie die Beispiele LyELLs, HUXLEys und selbst DARWINs zeigen, noch mit Mißtrauen. Erst der Darwinismus brachte ihn zu Ehren. Nun war die Zeit gekommen, in der man alle biologischen Probleme ethologisch-physiologisch zu lösen begann, wie es ja auch LAMARCK bereits versucht hatte. Um das Wesen seiner Lehre kümmerte man sich dabei wenig. Heute bringt man ihn in Gegensatz zu DARWIN, und zwar so, daß man hervorhebt, letzterer betone hauptsächlich die natürliche Zucht- wahl, der erstere aber die Wirkung des Gebrauchs bzw. Nicht- gebrauchs der Organe und die Vererbung erworbener Eigenschaften. Selbständiger, ihrem Wesen und ihrer Bedeutung entsprechender wurde die LAMARCKsche Lehre von dem Amerikaner CoPE erfaßt und dargestellt. Der sogenannte Neolamarckismus hängt nur äußerlich mit LA- MARCKsS Theorie zusammen. Allgemeine Charakteristik Lamarcks. Bei der besonderen Hoch- schätzung, deren sich die Philosophie LAMARCKS zurzeit erfreut, ist es mißlich, sie mit wenigen Worten zu charakterisieren: man setzt sich damit gar zu leicht dem Vorwurf der Ungerechtigkeit aus. Aber ich habe ja der Erörterung der LamArckschen Aufstellungen bereits so viel Raum gewidmet, daß es an dieser Stelle nicht mehr erforderlich scheint, die eigene Ansicht über die Bedeutung LAMARCKS ausführlich zu begründen. Wer sich über LAMARCK ein eigenes Urteil bilden will, lese nur seine »Philosophie zoologique« und lasse die Panegyriken ganz beiseite. Seine Ansichten über Meteorologie sind nach allge- meiner Auffassung ohne positiven Wert. Von seinen physikalischen und chemischen Spekulationen sagt C. BARUS'), sie böten kaum weiteres Interesse, als daß sie die weite Ausdehnung der. philosophi- schen Tendenzen LAMARCKS zeigten. Sie sind ohne Experiment und ohne Anwendung der Mathematik zustande gekommen. Auch haben sie (nach BARUS) zur Förderung der theoretischen Wissenschaft nicht das mindeste beigetragen. Zur Kennzeichnung der chemischen Theo- rien LAMARCKS führe ich, ebenfalls aus PACKARD, die Meinung von H. C. BOLTON an, nach der er keinen Einfluß auf die Chemie hatte 1) Nach PACKARD, S. 85. 314 XII. Kapitel. und in deren Geschichte nicht angeführt wird; er machte Opposition gegen LAVOISIER, und seine Ansichten sollen an die Alchimie er- innern. Nun ist allerdings der Mißerfolg LAMARCKS in Physik und Chemie noch kein wesentliches Argument gegen die Bedeutung seiner bio- logischen Theorien; aber man kommt doch nicht herum um die Frage, wie sich das reimt: die moderne Biologie in Physik und Chemie aufzulösen und gleichwohl unter den erwähnten Umständen LAMARCK als einen ihrer Begründer anzuführen. NEWTON hat die Astronomie mit Hilfe der Mathematik auf physikalische Prinzipien zurückgeführt, aber er hat doch in Physik und Mathematik etwas ge- leistet! KEPLER war zwar Phantast und Astrologe; man vergleiche aber den inneren philosophischen Zusammenhang seiner Astrologie, seines Glaubens an die Geister, durch welche die Planeten um die Sonne geführt werden sollen, mit seinen Gesetzen über die Planeten- bewegung, und dann suche man nach einem solchen Zusammenhange in LAMARcCKs Flora oder in seinem System der Evertebraten, bzw. in seiner Naturphilosophie! Weiter vergleiche man eine physikalische Theorie, etwa die Theorie von der Undulation des Äthers, von dem Potential, vom Erdmagnetismus, mit dem, was LAMARCK vorgebracht hat. Man versuche in FarADAYs Auffassung der Elektrizität einzu- dringen und betrachte die Folgen seiner Theorie im Vergleich mit denen der LAMARCKschen Lehre vom Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Hat diese letztere denn wirklich in den mehr als hundert Jahren, die seit ihrem Hervortreten vergangen sind, auch nur eine bisher dunkle Erscheinung aufzuhellen vermocht? LAMARCKs »Philosophie zoologique« enthält keine Theorie, auch nicht eine Reihe von Hypothesen, sie ist vielmehr ein Phantasie- gebilde: möglicherweise verhält sich’s so, wie er lehrt, möglicher- weise aber auch anders. Im ganzen Werke findet man keinen Beweis, weder einen logischen noch einen tatsächlichen, auch keine Spur vom Versuch eines Beweises. LAMARCK besaß nicht das, was für jeden Theoretiker unumgänglich nötig ist, nämlich die Kraft, seine Anschauungen zu klaren Allgemeinbegriffen zusammenzufassen; eben weil das Vermögen lebendiger Anschauung ihm mangelt, gibt er nur allgemeine Behauptungen, deren Zusammenhang mit den Tatsachen meist sehr lose ist. Ich mache LAMARCK durchaus nicht den Vorwurf, daß er seine Theorie ohne hinreichende Berücksichtigung der Tatsachen entworfen hat, auch nicht den, daß seine Auffassung. unrichtig ist, sondern ich betone lediglich seine Oberflächlichkeit, seine begriffliche — P N i u Lamarck. 315 Unbestimmtheit und sein leichtfertiges Spiel mit bloßen Möglichkeiten, die weder zu beweisen noch zu widerlegen sind, — oder hat man etwa in dem seit ihrer Aufstellung verflossenen Zeitraum ihre Richtigkeit bewiesen oder sie widerlegt? Im Hinblick auf diesen Sachverhalt vermag ich in die panegyri- schen Lobpreisungen, mit denen man LAMARCK in den letzten Jahr- zehnten reichlich bedacht hat, keinesfalls mit einzustimmen. All diese Lobreden sind doch nur der durchaus subjektiven, weder historisch noch objektiv begründeten Überzeugung entsprungen, daß die phylo- genetische Philosophie die letzte und beste Philosophie der Welt ist. Eben weil LAMARCK der erste Biologe war, der dieser Philosophie in einem Buche das Wort geredet, darum hat man aus ihm einen großen Theoretiker gemacht. LAMARCK ist in der biologischen Theorie kein anderer als in der physikalischen, chemischen und meteorologischen: es fehlt ihm gänz- lich die Kraft, die den Theoretiker kennzeichnet, nämlich die Fähig- keit, eine Reihe von Tatsachen originell zu schauen und aus ihnen etwas Neues herauszulesen. Er war und blieb in der Theorie Dilet- tant; denn nur ein Dilettant kann so heterogene Dinge, wie Vita- lismus, Physiologie, genetische Spekulation, Materialismus, zu einer Theorie verbinden wollen, wie LAMARCK dies in seiner »Philosophie zoologique« oberflächlich genug getan hat. Um aber auch den Schein zu vermeiden, als täte ich LAMARCK unrecht, will ich dem Leser andere Urteile über LAMARCK anführen; er mag sich an .sie halten, wenn er will. ERNST HAECKEL gibt in seiner natürlichen Schöpfungsgeschichte die »Philosophie zoologique« für ein bewunderungswürdiges Werk aus, das hoch über den dua- listischen Ansichten seiner Zeit stehe, und stellt diese Schrift neben DAarwiıns »Entstehung der Arten« — nach ihm bekanntlich das beste Werk der Welt. Der entschiedenste Gegner LAMARCKs war nach HAECKELs Auffassung CUVIER. Ein andermal') schreibt HAECKEL, die »Philosophie zoologique« sei eines der Hauptprodukte der Literatur am Anfange des ı9. Jahrhunderts. LAMARCKS tiefe Kenntnisse in der Morphologie setzen ihn in bewunderndes Erstaunen. HUXLEY bemerkt seinerseits: »Ich bin nicht geneigt, die Stellung DARWwINs in der Geschichte der Wissenschaft zu niedrig anzuschlagen, doch möchte ich glauben, daß BUFFON und LAMARCK ihn hinsichtlich der Genialität wie der Fruchtbarkeit in die Enge treiben würden. In ı) Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck. Jena 1882. 316 XII. Kapitel. Lamarck. der Breite der Übersicht und im Umfang der Kenntnisse waren diese beiden Männer Riesen, obwohl wir geneigt sind, ihre Dienste zu ver- gessen. VON BAER war ein anderer Mann desselben Gepräges, CUVIER ein anderer von etwas niedrigerem Range, und JOH. MÜLLER ein anderer«'). Ich bin nicht gewillt, durch diese und ähnliche Anschauungen mich in meinem oben dargelegten Urteil beirren zu lassen. Literatur. LAMARCK, ]J. B. DE, Flore frangaise ou description succincte de toutes les plantes qui eroissent naturellement en France, dispos&es selon une nouvelle methode d’ana- lyse etc. 3 Vols. Paris 1778. —— Recherches sur les causes des principaux faits physiques, et particulierement sur celles de la combustion, de l’&levation de l’eau dans l’&tat de vapeurs ... de l’origine des compos&s de tous les min@raux etc. 2 Vols. Paris 1794. —— M£moires de physique et d’histoire naturelle, &tablis sur des bases de raisonne- ment independantes de toute theorie; avec l’explication de nouvelles considera- tions sur la cause g@n@rale des dissolutions, sur la matiere du feu, sur la couleur des corps; sur la formation des compos&s; sur l’origine des mineraux; et sur l’organisation des corps vivants. Paris 1797. —— Memoire sur la matiere du feu, consider comme instrument chimique dans les analyses. Journ. de Phys. 1799. —— Annuaire möteorologique etc. Paris 1799. —— Systeme des animaux sans vertebres ou Tableau general des classes, des ordres et des genres de ces animaux. Paris 1801. —— Recherches sur l’organisation des corps vivants et particulierement sur son ori- gine, sur la cause de ses developpements et des progres de sa composition et sur celles qui, tendant continuellement a la detruire, dans chaque individu, amenent necessairement sa mort. Paris 1302. —— Philosophie zoologique, ou exposition de consid@rations r@latives ä l’histoire na- turelle des animaux. Paris 1809. —— Historire naturelle des animaux sans vertebres. 7 Vols. Paris 1815— 1822. Über LAMARCK siehe insbesondere: PACKARD, A. S., Lamarck, the Founder of Evolution. New York, London and Bombay 1901. Die meisten populären Schriften über LAMARCK sind nicht be- sonders zutreffend. Die im Text angeführten Zitate aus der »Philosophie zoologique« beziehen sich auf die von CH. MARTIUS besorgte Ausgabe, Paris 1873 (2 Vols). ı) Life and Lettres, II. p. 42. REGISFER. Adanson, M. 228. Alessandro dei Alessandri 166. Anatomie; Verhältnis der A. zur Biologie 86. Andry, N. 103. Animulkulisten, die I01— 105. Apriori; biologische Deutung des A. 248. Aristoteles 13—25, 81. Artbegriff 18, 27, 114, I3I, 137, 143, 207, 225,.220,. 307. Aselli, C. 31. Audouin, J. V. 222. d’Azyr, F. Vieq 189—191. Bacon, F. 171. Baglivi, G. 48. Barthez, P. ]J. 94. Batsch, G. C. 194. Bauhin, K. 28, 144. Befruchtung 144—149; Bedeutung der B. 20, 26, 34, 46, 90, 99, 102, 103, 108, 115, 147, 157, 293, 301. Berengarius, J. 55. Bichat, F. X. 94, 235—239. Bildungstrieb 281. Blumenbach, J. F. 280—282. Blutkreislauf 30, 56. Bock, H. 28. Boerhaave, H. 121. Bojanus, L. H. 194, 273. Bonnet, Ch. 105—1III, 168, 210. Bordeu, Th. 94. Borelli, G. A. 31, 42, 47f. Bourguet 103. Bourignon, A. 61. Brown, J. 235. Brown, Rob. 233. Bruno, Gi. 13, 81. Buffon, G. L. L. 107, 1I2—119, 121. Burdach, K. F. 194. Burnett, Th. 165. Caesalpinus, A. 14, 25—3o0. Camerarius, R. J. 147f. Campanella, Th. 13, 81. Camper, P. 168. Cardanus, H. 13. Carpi, J. 55. Carus, C. G. 194, 273. Chemie 52—54, 85, 124, 389. Coiter, Volcher 32. Condillac, de 174, 299. Cuvier, G. 24, IIQ, 195—210. Dalenpatius 104. Darwin, Er. 292—296. Daubenton, L. 115, 189. De Candolle, P. 229. Demokrit 21. Descartes, R. 42, 44—47, 165. Diderot, D. 183. Döllinger, J. 194. Duges, A. 223—225. Duverney, Jean G. 189. Duverney, Jos. G. 189. Ei 35, 38, 64, 101. Einschachtelungstheorie 124. Embryologie 20, 25, 3I, 46, 58, 63, 69, 90, 99, 107, II5, 124, 150— 160, 219, 225,'261, 2935. 30I. 102—104, 108, 318 Register. Epigenesis 2I, 32, 63, 107, 115, 150—160, 281, 293. Ernährung 19, 27, 89, 97, 100, 289. Ethologie 64. Evolutions- (Präformations-) Theorien 21, 33, 58, 63, 68, 90, 99, IOI, 107, 124, 180. Fabricius ab Aquapendente 31, 38. Fichte, J. G. 257. Form; Begriff der F. 16, 57, 72, II5, 187. Fossilien; Entstehung der F. 23, 165— 169, 20I—205. Foster, M. 50. Fracastoro 166. Fuchs, L. 28. Galilei, G. 13, 43. Galvani, A. 235. Gattung 18, 27, 138, 225, 229. Gautier, J. IO4. Geburt und Tod 70. Generation, spontane 22, 33, 4I, 62, 68, 100, I17, 183, 27I, 300. Geoffroy St.-Hilaire 94, 210—222, 233, 273. Geologische Theorien 163, 201. Geschichte der Biologie; ihre Bedeutung 2. Gessner, K. 28. Gleichgewicht der Organe 211. Glisson, F. 14, 38—41, 121. Goethe, J. W. von 233, 263—270, 273. Graaf, R. de 36, 37f., 82, 101. Grew, N. 59. Haller, A. von ııı, 1I9—ı25, 189. Hartmann, E. von 253. Hartsoeker, M. 93, 103. Harvey, W. 14, 30—38. Helmont, van 66, 81, 87. Herder, J. G. von 242—245. Histologie 19, 39, 124, 237. Hoffmann, F. 48f. Holbach, P. von 184. Hooke, R. 59, 165. Horn, van 38. Humboldt, A. von 278. Hume, D. 172, 246. Hunter, ]J. 189. Jacobi ı1ı. Iatromechanik und latrophysik 48. Irritabilitätslehre 40, I21I—I24, 260. Jungius, J. 129. Jussieu, A. L. 228. Jussieu, B. 228. Kant, I. 246—256. Kepler, J. 43. Kielmeyer, K. F. 260—262. Klem, 1.012.132: - Kölreuter, J. G. 160. Korrelation der Formen 190, 195—198, 211, 261, 268. Lamarck 94, 107, IIg, 207, 297—316. Lamettrie, de 122, 185, 234. Laplace 165. Tatreille AB-aA. 233. Laurencet 216. Leben 68, 88, 238. Lebenskraft 236, 279, 231, 291. Le Clerc 102. Leeuwenhoek, A. v. 57, 69, IO3. Leibniz, G. W. 42, 67—79, 166, 178. Leonardo da Vinci 166. Lessing, G. E. 177. Lewes, G. H. 24. Lhwyd 93, 167. Linne, K. von I2I, 133—144, 168. Lister, M. 167. Locke, J. 172, 294. Lower, R. 50. Lyonet, P. 57, 98. Maillet, B. 168. Malpighi, M. 31, 36f., 55—60, 69, 82, 96. Marion, H. 40. Mattioli, P. 28. Maupertuis II4. Mayow, ]J. 52. Mechanistische Theorien 42—54, 59, 75, 76, 80, 83, 155, 251. Meckel, ]J. F. 194, 273: Metamorphose 32, 157f., 263. Meyer, ]J. B. 24. Meyraux 216. Mikroskopie 56. Moquin-Tandon 224. Le | Register. Morison, R. 130, 179. Morphologie = vergl. Anatomie) 16, 51, 55, 57, 73, 77, 86, 92, 115, 121, 187 — 233, 24I, 266, 272, 297. Mundinus 55. Muskelbewegung 47, 76. Naturphilosophie (sensu str.) 128, 220t., 240—291. Natürlich; Bedeutung des Wortes 114, 129. Needham, T. 150—152. 113, Oken, L. 215, 24I, 270— 277. Organismus (im Verhältnis zum Mecha- nismus) 56, 75, 84, 300. Ovisten, die IOI— 105. Pacchioni, A. 48. Paläontologische Theorien 165—169, 201, 218, 285. Palissy, B. 166. Ballas, P.)S. LI. Paracelsus, Th. 13, 66. Parisanus 32. Pascal, B. 62. Perrault, Cl. 189. Perrier, E. 111. Peyer, J. C. 82. Phylogenie 46, 7I, 109, II16, 131, I61, 203, 218, 244, 255, 262, 293, 298. Physik und Chemie in ihrem Verhältnis zur Biologie 47, 49, 52, 84, 302. Physiologie 19, 27, 42—54, 79—95, 121, 234—239, 293, 294, 297—316. Binel, P. 94. Plastische Kraft der Natur 23, 93, 166. Plato 15. Präformation = Evolution. Ray, J. 130—132, 165, 166. Reaumur, R. 57, 096—98. Redi, F. 14, 41. Reflexe 94. Regeneration 26, 85, 98, 105, 108. Res]. Ch. 279f. Religion und Biologie 133, 181—186. Rivinus, A. Qu. 130, 141. Robinet, R. 180. Rommel, P. 131. 319 Rösel von Rosenhof 98. Rousseau, J. J. 176, 299. Roux, W. 218. Rudolphi, C. A. 194. Sachs, J. 105, 141, 231. Schädeltheorie 272. Schelling, F. W. von 257—.259. Scheuchzer, J. J. 166. Schmidt, O. 186. Schopenhauer 169f., 307. Seele 16, 26, 27, 45, 50, 73, 86, 93. Sekretion 48. Serres, E. 225f. Sexualität 22, 144, 146, 147. Sinnesenergien 294. Spallanzani, L. 99f., ııı. Sp, je B. 273. Sprengel, Ch. K. 149, 160. Stahl, G. E. 83—95. Stein, N. 38. Steno, N. 46, 47, 52, 82, 164. Struktur 57, 73, 86, 187, 230, 237, 306. Stufengang der Wesen 73, 106, 131, 137, 179, 230, 298. Subordination der Charaktere 199, 229. Swammerdam, J. 36, 37, 60—65, 69. Sylvius, F. 82. Sylvius, J. 55. Sympathie der Organe 289. Systematik 17, 26, 29, 64, II3, I2I, 129 —144, 198—20I, 214, 228—233, 308, 309. Teleologie 17, 84, 250. Teratologie 217 f. Thevenot, M. 60. Tiedemann, F. 194. Tissot 123. Tournefort, J. P. de 130. Trembley, A. 98. Treviranus, G. R. 283—291. Ulrich, Ar 'L. 273. Unzer, J. A. 94. Ursache; Begriff der U. 173, 246. 17983, 160f,, Vallisnieri 37, ıoıf., 165. Vesalius, A. 47, 55. 320 Register. Vico, G. B. 176. Vitalismus 76, 79—95, 234—239, 279, 302. Wedel, G. W. 82. Whiston, W. 165. Whytt, R. 94, 122. Willis, Th. 49—354. Wirbeltiere und Wirbellose 33, 62, 201, 214, 308, 309, ZI1. Wolff, C. F. 93, 152—160. Wolff, Chr. 152. Woodward, J. 165, 166. Wotton, E. 14. Zaluzansky, A. 147. Zellentheorie 157, 272. Zeugung s. Befruchtung. Zwecke der Natur s. Teleologie. Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig. 2. & Se 22: 2. 2 1. N ;“ RE ee © a en‘ er > nr > Ren & “ an a > 32 ee are % BE 2. BES: us ER Er Be «In > A 83 EIG: << 2 he e ee 4 NIATZNIZIL RR Be er EL RETTEN ER 8 DD, band Van®d SE DD br andant and I x RL ray REN 4 en SR LLR, I nt DD wanbant ” IINZSGRNG SIE EIIEN Pan ’an A» Um ENG DT NONG: — G a & x DS dr as“ AINGR © vi. An GR" I Sn xt & 8. nt ®, < & € RI E= X &: > % IIIZE = N Ye Ad» o— ap QH Rädl, Emanuel 305 Geb antehte der biologischen ER q ME. “ siebzehnten Jahrhunderts AN 4 & BioMed > Ss <> vr N Fe dir SZ ä 2 @S : & sQ RB. <> 3 DIE Nat ee) «> +3 PLEASE DO NOT REMOVE EIKE as | CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET AN RX | BE DE. 7 a S N N _ UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY EA | ER 3 3 e ass A ep > «dB & IR are: SB, 2% € SW LEDIG x 358 RR as RN > 0° Y 3 S uaehenipiii