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AMEY RICHMOND SHEUXIN

FUND

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GESCHICHTE

DES

MEDICINISCHEN UNTEUPJCHTS

VOX DEN ÄLTESTEN ZEITEN BIS ZUR GEGENWART.

Von

Dr. med. THEODOR PUSCHMANN,

O. 0, PROFESROH AN DER T'NIVERSITÄT ZU WIEN.

LEIPZIG,

VERLAG VON VEIT & COMP.

1880.

GESCHICHTE

DES

MEDICINISCHEN UNTERRICHTS.

VI Vorwort

haben, zu berichtigen, und einige Thatsachen hervorzuheben, die bisher unbeachtet geblieben sind, so wird der wissenschaftliche Werth meines Buches dadurch sicherlich nicht beeinträchtigt.

Eine angenehme Pflicht erfülle ich, indem ich den Herren Mini- sterial-Eath Dr. B. von David und Sektionsrath Dr. von Kleemann in Wien, Geh. Ober-Med.-Rath Dr. Kersandt und Geh. Ober-Regierungs- Kath Dr. Althoff in Berlin, Medicinal-Rath Dr. Geissleb in Dresden, Eegierungs-Rath Dr. Bümm in München, D^. von Riedel, Leibarzt I. M. der Königin von Spanien in Madrid, Prof. Dr. Serra de Mirabeau in Lissabon, Prof. Dr. A. Corradi in Pavia, Prof. Dr. Albini in Neapel, Prof. Dr. Anagnostakis in Athen, Prof. Dr. Felix in Bukarest, Prof. Dr. voK WiNiwARTER in Lüttich, Dr. Daniels in Amsterdam, Prof. Dr. Petersen in Kopenhagen, Prof. Dr. H. Heiberg in Christiania, Prot Dr. Hedeniüs in Upsala, Prof. Dr. Räuber in DorpatJ Prof. Dr. Kollmann in B^el, Geh. Rath Prof. Dr. Hegar in Freiburg i/Br., ^eh. Rath Prof. Dr. ScHULTZE in Jena, Prof. Dr. Eckhard in Giessen, Prof. Dr« Oesterlen in Tübingen, Prof. Dr. W. Krause in Göttingen, Prof. Dr. üfeelmann in Rostock, Prof. Dr. G. Ebers in Leipzig, Prot Dr. Bühler und Heinzel in Wien, sowie den Vorständen und Beamten der Bibliotheken zu Paris, London, München und Wien meinen er- gebensten Dank ausspreche für die wohlwollende Förderung meines Unternehmens.

Wien, im April 1889. Der Verfasser.

Inhalts-Übersicht.

Seite

Einleitung 1

I. Der medicinische Unterricht im Alterthum ....... 6

Indien 6

Ägypten 15

Bei den Israeliten 22

Bei den Parsen 27

Bei den Griechen vor Hippokrates 29

Zur Zeit des Hippokrates 40

In Alexandria 61

Die Mediein in Kom 70

Der medicinische Unterricht in Kom 82

Der ärztliche Stand in Kom 102

II. Der medicinische Unterricht im Mittelalter 113

Der Einfluss des Ohristenthums .. 113

Die arabische Cultur 130

Medicinische Wissenschaft und m ediciniBcher Unterricht bei den Arabern 137

Die Mediein der Germanen und der Unterricht in den Klosterschulen 156

Die Schule von Salemo . 166

Die medicinische Schule zu Montpellier 178

Die ältesten Hochschulen Italiens 185

Die ältesten Hochschulen in Frankreich 190

Die übrigen Universitäten Europas im Mittelalter 194

Die Bildung der Ärzte im Allgemeinen 199

Der Unterricht in der Anatomie ^ . 203

Der Unterricht in der Arzneibereitung und der ärztlichen Praxis . 211

Die ärztlichen Prüfungen 219

Die Chirurgie und Geburtshilfe 223

Der ärztliche Stand und die medicinische Literatur jener Zeit . . . 232

III. Der medicinische Unterricht in der Neuzeit 239

Der Charakter des 16. Jahrhunderts 239

Die Emancipation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Mediein

und die Fortschritte der Wissenschaft 247

Die Universitäten im 16. Jahrhundert 261

Der medicinische Unterricht 268

Der ärztliche Stand und seine Stellung zu den Bewegungen des

16. Jahrhunderts 280

VIII Inhalts - Ühersicht

r-

Seite Die experimentelle Richtung der Naturwissenschaften, der Physik und

Chemie während des 17. Jahrhunderts 285

Die mikroskopische Forschung in der Anatomie und das Experiment

in der Physiologie 294

Die Fortschritte in den übrigen Theilen der Heilkunde während des

17. und 18. Jahrhunderts 306

Der Charakter jener Zeit in der Kunst und Philosophie . . ^^ . . 317 Die gelehrten Gesellschaften und Universitäten im 17. und 18. Jahr- hundert 320

Der medicinische Unterricht in den theoretischen Fächern, sowie in

der Anatomie, Botanik, Chemie und Arzneimittellehre .... 329

Der klinische Unterricht im 17. und 18. Jahrhundert 341

Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe . 347 Der medicinische Unterricht am Schluss des 18. Jahrhunderts und der

ärztliche Stand 359

IV. Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit .... 365

Die naturwissenschaftliche Weltanschauung des 19. Jahrhunderts . . 365

Physik und Chemie in den letzten hundert Jahren 374

Die medicinischen Systeme und die Fortschritte in der Anatomie und

Physiologie 382

Diagnostik, pathologische Anatomie und experimentelle Pathologie,

Nosologie und Heilmittellehre 391

Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und Staatsarzneikunde . . 399

Der medicinische Unterricht in der Gegenwart 409

England. Nord-Amerika 412

Frankreich 433

Osterreich-Ungam . 448

Die deutschen Mittel- und Kleinstaaten vor der Gründung des

Deutschen Reiches 463

Preussen und das jetzige Deutsche Reich 471

Italien 482

Spanien und Portugal 484

Holland und Belgien 486

Schweiz , 488

Dänemark. Norwegen. Schweden 490

Russland 492

Griechenland und die christlichen Länder der Balkan-Halbinsel . 493

Schlussbetrachtungen 495

Einleitung.

QuU neadt, primam e««e historiae legem, ne quid falsi dieere aude<i(, deinde ne quid vtri non audecU, ne qua wspicio graticie «i7 in »eribendo, ne qua nmultati».

GiCBBO, de oratore II, 16.

Die historische Entwiokelung des medicinischen Unterrichts zeigt den gleichen Charakter wie die Geschichte der Heilkunde überhaupt.

Die Noth, die erfinderische Lehrerin der Menschen, gab, wie schon HiPPOKBATES ^ sagt, die Veranlassung, dass die ersten Heilversuche an- gestellt wurden. Die kampfeslustige Lebensweise der rohen Naturvölker, deren Lieblingsbeschäftigung die Jagd und der Krieg waren, führte Verletzungen herbei, gegen welche Hilfe gesucht wurde. Mitleidige Freunde und Kampfesgenossen brachten Linderung der Schmerzen, indem sie die Wunden auswuschen und mit kühlenden Kräutern bedeckten.

Bald begannen Einzelne, die Heilkräfte der Pflanzen zu erforschen und ihre Erfahrungen auf diesem Gebiet zum Besten der Angehörigen ihres Volkes zu verwerthen. Waren sie mit der Gabe ausgestattet, die Natur zu beobachten, und bot sich ihnen die Gelegenheit dazu, so werden sie vielleicht den Versuch gemacht haben, das Wesen der Ver- letzungen, die sie wi behandeln wagten, zu ergründen. Auf diese Weise bildete sich allmälig eine Art von Ärzten, .welche sich auf empirischem Wege eine bemerkenswerthe Gewandtheit in der Heilung äusserer Schäden aneigneten.

Bei inneren Leiden, namentlich aber bei Epidemien, deren Ursachen nicht so deutlich zu erkennen sind, wie die der äusseren Verletzungen, wandte man sich an Diejenigen um Eath, die in jener frühen Cultur- periode als die Vertreter alles Wissens* galten, an die Priester. Von

* HippoKEATEs, Ed. Littr^. Paris 1839. T. I, p. 574.

' ,,Das Sauekiitische vaif^'a von vid, wissen, und das Lateinische medicus von medh, weise sein, zeigen an, dass der Arzt seine Beneiuoiung von seiner Einsicht erhalten hat," Ch. Lassen: Indische Alterthumskonde, London und Leipzig 1874, Bd. H, S. 517. Vergl. Ad. Piotet: Etymologische Forschungen über die älteste Arzneikunst bei den Indogermanen in der Zeitschrift für ver- gleichende Sprachforschung, Bd. V, S. 24 u. ff., Berlin 1856.

PuscHMANN , Unterricht 1

Einleitung.

ihnen erwartete man um so eher Hilfe, als ,[die Entstehung dieser Krankheiten, weil sie dunkel und räthselhaft war, den überirdischen Gewalten zugeschrieben wurde.

Die Priester bemühten sich, durch Gebete und Opferungen den Zorn der Götter zu versöhnen und ihr Wohlgefallen zu erringen. Sie flössten dadurch den Kranken HoflEnung und Vertrauen ein und wen- deten im tTbrigen eine exspectative Behandlungsmethode an. Dabei konnte ihnen nicht entgehen, dass die Erfolge nicht immer den Er- wartungen entsprachen und häufig gerade dann ausblieben, wenn, wie bei verheerenden Seuchen, die öffentliche Aufmerksamkeit darauf ge- richtet war. Wollten sie die Schwächung ihres Ansehens, die dadurch herbeigeführt wurde, vermeiden, so mussten sie trachten, durch diäte- tische und medicamentöse Verordnungen einen grösseren Einfluss aut den Verlauf der Krankheiten zu gewinnen. Dazu bedurften sie medi- cinischer Kenntnisse, die sie sich durch die sorgföltige Beobachtung der Krankheitserscheinungen und durch die Erforschung ihrer Ursachen und Heilmittel zu erwerben suchten. Im Verlauf der Zeit sammelten sie eine Summe von Erfahrungen, die in mündlicher oder schriftlicher Über- lieferung auf die späteren Geschlechter gelangten und von ihnen mehr und mehr vervollständigt wurden.

Die Ausübung .der Heilkunst geschah nun nach bestimmten Regeln, und ihre Erlernung erfolgte in systematischer Weise. Die Medicin wurde eingereiht in die Zahl der ünterrichtsgegenstände, welche in den Tempelschulen gelehrt wurden, und die Priester sorgten dafür, dass das errungene ärztliche Wissen mit den religiösen Vorstellungen, welche den Volksglauben beherrschten, derartig verbunden wurde, dass die letz- teren als massgebend für die Behandlung der Krankheiten erschienen. Dieselben wurden aber zurückgedrängt, als die fortschreitende Erkenntniss dazu aufforderte, sie ohne jede Voreingenommenheit kritisch zu prüfen. Mit ihrer Beseitigung vollzog sich die Emancipation vom religiösen Einfluss und die Entstehung eines selbstständigen ärztlichen Standes.

Die Vertreter desselben vereinigten die aus den Tempelschulen übernommenen medicinischen Kenntnisse mit den ärztlichen Erfahrungen der Empiriker. Sie beschränkten sich nicht, wie die Priester, vorzugs- weise auf die Behandlung der inneren Leiden, sondern befassten sich auch mit der Chirurgie und Geburtshilfe.

Diese Verschmelzung der inneren und äusseren Medicin, wie sie von den Hippokratikern und überhaupt von den Ärzten der griechisch- römischen Culturperiode zum Ausdruck gebracht wurde, wirkte auf beide Richtungen der Heilkunde anregend und fördernd und führte zu hervor- ragenden Leistungen. Die bewunderungswürdigen Portschritte, welche

MnleUtmg,

die Heilkunde, namentlicli die Chirurgie, in Alexandria und Rom machte, gewähren einen Ausblick auf Das, was noch erreicht worden wäre, wenn die politischen Umwälzungen, die mit dem Zerfall des römischen Reiches zusammenhingen, die weitere Entwickelung der Medicin wie aller übrigen Wissenschaften und Künste nicht gehemmt hätten.

Die auf einer niedrigen Culturstufe stehenden Völker, welche da- mals die Weltbühne betraten, mussten das in den vorangegangenen Zeiten errungene Wissen erst in sich aufnehmen, bevor sie daran denken durften, dasselbe durch eigene Entdeckungen und Erfindungen zu ver- mehren. Während des nächsten Jahrtausends erfolgte die geistige Ent- wickelung nicht in der Höhendimension, sondern in der Breitendimen- sion; die Summe des Wissens wurde nicht wesentlich vermehrt, aber es verbreitete sich über eine grössere Fläche der bewohnten Erde.

Selbst im Orient, wo sich die Traditionen verschiedener Cultur- perioden mit dem Thatendrang eines die höchsten Ziele anstrebenden jugendfrischen Volkes verbanden, hat man wenigstens in der Heilkunde keine Schöpfungen hinterlassen, welche dauernd waren und auf die weitere Gestaltung dieser Wissenschaft einen tiefgreifenden Einfluss aus- übt-en. Die arabische Medicin ist daher nichts weiter als eine fireUich grossartige Episode in der Greschichte der Heilkunde.

Im Abendlande übernahmen die Priester wiederum das Lehramt der Medicin. Die romanischen und germanischen Völker wurden zu dem Glauben bekehrt, dass die christliche Kirche nicht blos die Wahr- heiten des himmlischen Lebens, sondern auch das Wissen dieser Welt besitze und bewahre. Der Klerus vereinigte in sich alle Gelehrsamkeit der damaligen Zeit, und die Klöster wurden die Schulen der Mensch- heit. Die Ausübung der Heilkunst hatte für die Geistlichen jedoch manche ünzuträglichkeiten im Gefolge; die Rücksichten auf ihren Stand verboten ihnen die Ausführung chirurgischer Operationen, weil durch deren Misslingen der Tod der Patienten herbeigeführt werden konnte, und hielten sie zurück von der Behandlung der Frauen- krankheiten.

Es war daher begreiflich, dass sich neben ihnen eine Kategorie von Ärzten erhielt und weiter entwickelte, welche nicht dem geistlichen Stande angehörten. Hierzu zählte man auch die zahlreichen jüdischen Ärzte, welche sich in den christlichen Ländern niederliessen und wegen ihrer mit gründlichem Wissen verbundenen praktischen Tüchtigkeit sehr geschätzt waren, ebenso wie jene Elemente, welche im europäischen Süden mit der arabischen Heilkunde bekannt geworden waren. Die letzteren spielten bei der ersten Gründung selbstständiger ärztlicher Schulen, zu Salemo und Montpellier, eine hervorragende Rolle, während

4 EifüeUimg.

der christliche Klerus auf die Entstehung der ältesten Universitäten und ihre Einrichtungen einen massgebenden Einfluss ausübte.

Die Universitäten; welche fortan als Sammelpunkte der gelehrten Bildung dienten, rechneten auch die ärztliche Erziehung zu ihren Auf- gaben; aber sie berücksichtigten dabei nur die theoretisch-wissenschaft- liche Seite derselben und vernachlässigten ihre praktischen Ziele. Diese Lücke der ärztlichen Bildung musste durch den Besuch der Spitäler oder durch die persönliche Unterweisung eines er&hrenen Praktikers ergänzt werden, wenn die jungen Doktoren das Vertrauen ihrer Kranken erlangen wollten.

Ausser diesem Umstände hatte der geistliche Ursprung der Uni- versitäten die Folge, dass der dort ertheilte medicinische Unterrieht vorzugsweise die inneren Krankheiten in den Kreis der Betrachtung zog. Daraus ergab sich die Nothwendigkeit, dass neben den gelehrten Ärzten ein Heilpersonal bestand, welches sich der Qürurgie und der Behandlung der äusseren Schäden widmete. Die Ausbildung dieser Wundärzte war eine handwerksmässige und nahm in der Barbierstube ihren Anfang; aber sie schuf Ärzte, welche mit den Bedürfoissen der Praxis vertraut waren und den Kranken zu helfen verstanden.

Die Chirurgen und Ärzte trennte Anfangs eine tiefe sociale Kluft, weldie jedoch ihre Berechtigung verlor, je mehr die ersteren bestrebt waren, ihre Allgemeinbildung zu erhöhen, und durch originelle Leistungen zur wissenschaftlichen Entwickelung der Heilkunde beitrugen. Einige derselben haben bahnbrechende Arbeiten geliefert, welche ihren Namen in der Geschichte der Chirurgie verewigt haben. Vorurtheilsfreie, klar denkende Ärzte erkannten die Vorzüge, welche die chirurgische Bildung bot, und suchten dieselbe mit ihrer eigenen zu vereinigen. Aber sie waren in früheren Jahrhunderten nur vereinzelte Ausnahmen; denn die Scheidung der Ärzte in Chirurgen und Mediciner erhielt sich bis in die neueste Zeit, wenn auch die sodalen Unterschiede früher ausgeglichen wurden.

Dagegen entwickelte sich allmälig eine höhere und eine niedere Kategorie des Heilpersonals, von denen die erstere die graduirten Ärzte und Chirurgen, die letztere die sogenannten Landärzte und niederen Wundärzte umfasste. Dieselben bestehen in manchen Ländern noch jetzt, während in anderen, z. B. in Deutschland und Österreich, nur noch eine einzige, die verschiedenen Zweige gleichmässig berücksich- tigende, die höchste medicinische Bildung besitzende Klasse von Ärzten existirt.

Die Schicksale des ärztliche Standes hab^i eine grosse Bedeutung für den Inhalt und die Formen des medicinischen Unterrichts. Die

Einleitung,

sociale Stellung der Ärzte bestimmt das Maass von Allgemeinbildung, welche von ihnen verlangt wird.

Die Ansprüche, welche an ihr fachmännisches Wissen und Können gestellt werden, sind abhängig von der Summe der Thatsachen und Lehren, die den Inhalt der Heilkunde darstellen. Sie legen ein un- zweideutiges Zeugniss ab für die letzteren und berichtigen, bestätigen und ergänzen dadurch die Geschichte dieser Wissenschaft.

Die Form und Methode des medicinischen Unterrichts richtet sich eben so sehr nach den allgemeinen Culturverhältnissen, als nach dem Zustande der Heilkunde. Das Zeitalter der Scholastik verlangte, dass die medicinischen Theorien, welche in den Hörsälen vorgetragen wurden, durch die Aussprüche der herrschenden Autoritäten gerechtfertigt wür- den; auch die darauf folgende Periode begnügte sich mit historischen und theoretischen Auseinandersetzungen, und erst im 17. Jahrhundert trat die Beobachtung der Natur und die eigene Untersuchung in den Vordergrund. Mit dem Aufschwünge der Naturwissenschaften, besonders der Chemie und Physik, mit der Gründung anatomischer Lehranstalten, in denen die Schüler Gelegenheit zur Zergliederung menschlicher Leich- name erhielten, mit der Einführung des klinischen Unterrichts in den dazu bestimmten Krankenhäusern und der Anleitung der Studierenden zu eigenem selbstständigen Arbeiten erfuhr die ärztliche Erziehung eine vollständige Umgestaltung. Die praktischen Demonstrationen und Ver- suche, welche früher gänzlich gefehlt oder doch nur ausnahmsweise stattgefunden hatten, bildeten nun einen wesentlichen Theil des medi- cinischen Unterrichts. Dadurch erhielt er jene breite Grundlage, welche zu einer harmonischen Ausbildung der Ärzte nothwendig ist, damit dieselben sowohl zur Ausübung der Heilkunst, als zur wissenschaftlichen Erforschung derselben befähigt werden.

I. Der medicinische Unterricht im Alterthum.

Indien.

Die Wurzeln unserer Cultur liegen im Osten. An den Ufern des Ganges, in der Nil-Ebene und im meerumflossenen Griechenland blühten schon vor Jahrtausenden Künste und Wissenschaften und erreichten eine bemerkenswerthe Entwickelung. Auch die Heilkunst feierte dort ihre frühesten Triumphe.

Sie wurde in Indien Anfangs von den Priestern ausgeübt, welche hier wie überall als die Schatzhüter alles menschlichen und göttlichen Wissens galten.

In den ältesten Schriften der Indier, den Veden, deren Entstehung in die Zeit vor 600 v. Chr. fallt, erscheinen die Krankheiten als Strafen erzürnter Gottheiten und Geister oder als Folgen der Zauberkünste böser Menschen. Zu ihrer Beseitigung wurden Gebete, Opfer und Be- schwörungen angewendet. Aber schon im Rigveda ^ wird auf die Heil- kraft einiger diätetischer und medicamentöser Mittel hingewiesen.

Je mehr die Summe der medicinischen Kenntnisse und Erfahrungen wuchs, desto mehr stellte sich das Bedür&iss heraus, die ärztliche Thätigkeit nicht blos den Priestern, sondern auch den Mitgliedern an- derer Kasten zu gestatten, wenn sie durch ihr Wissen und Können dazu befähigt erschienen. So entwickelte sich allmälig ein besonderer ärztlicher Stand, welcher sich aus den drei höheren Klassen der Ge- sellschaft ergänzte; nur die verachteten Sudra, die sich durch ihre Rasse-Eigenthümlichkeiten von den eingewanderten Ariern unterschieden, blieben davon ausgeschlossen. Später bewirkte der nivellirende Einfluss des Buddhismus, dass auch diese Schranke einigermassen gelockert wurde.

Ausführliche Angaben über die Erziehung der Ärzte finden sich in den beiden Erklärungsschriften zum Ayur-Veda, welche von Chabaka

^ Roth in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft, Bd. 24, S. 301 u. ff. und Bd. 25, S. 645 u. ff.

Indien,

und Suseuta verfasst sind und die ältesten medicinischen Werke der Sanskrit-Literatur bilden.

Chabatca ^ giebt den Jünglingen, welche die Heilkunde erlernen wollen, den Rath, sich einen Lehrer zu suchen, „dessen Lehre lauter und dessen praktisches Geschick erprobt ist, der ge^cheidt, gewandt, rechtlich und unbescholten ist, seine Hand zu regieren weiss, die nö- thigen Hil&mittel und alle Sinne hat, vertraut mit den normalen Zu- ständen und dem Verfehren bei abnormen Verhältnissen, von achtem Wissen, ungeziert, nicht unfreundlich und aufbrausend, geduldig und liebreich gegen die Schüler ist."

Für sehr tauglich zum Studium der Heilkunde werden diejenigen Schüler erklärt, „welche aus einer Familie von Ärzten stammen oder mit Ärzten verkehren und kein Glied und keinen Sinn zu' wenig haben."

Bei der Aufnahme ermahnte der Lehrer den Schüler, „keusch und enthaltsam zu sein, die Wahrheit zu reden, ihm in allen Dingen zu gehorchen und einen Bart zu tragen."

Als die drei wichtigsten Mittel, um medicinische Kenntnisse zu erwerben, werden genannt: die Lektüre ärztlicher Schriften, die persön- liche Unterweisung des Schülers durch den Lehrer und der Verkehr mit anderen Ärzten.

„Wenn der Arzt", sagt Charaka, „von einem bekannten und zum Eintritt berechtigten Mann begleitet, die Wohnung des Kranken betritt, soll er wohl gekleidet, gesenkten Hauptes, nachdenklich, in fester Hal- tung und mit Beobachtung aller möglichen Rücksichten auftreten. Ist er- drinnen, so darf Wort, Gedanke und Sinn auf nichts anderes ge- richtet sein, als auf die Behandlung des Patienten und was mit dessen Lage zusammenhängt." „Niemals darf selbst der Kenntnissreichste", fährt er fort, „mit seinem Wissen gross thun. Viele ziehen sich auch von einem Fähigen zurück, wenn er zu prahlen liebt. Und die Me- dicin ist wahrlich nicht so leicht zu erlernen. Darum übe sich Jeder darin sorgfältig und unaufhörlich! Über das Verfahren und die Voll- kommenheiten des Praktikers kann man auch bei Andern zu lernen suchen; denn die ganze Welt kann eine Lehrerin des Verständigen heissen, und nur dem Thoren ist sie feind. Mit Rücksicht darauf darf er sogar vom Rath des Feindes Wohlstand, Ehre und Leben erwarten und darnach handeln."

Dringend empfiehlt er den Umgang mit anderen Ärzten. „Denn die Unterredung mit einem Fachgenossen vermehrt die Kenntnisse,

1 Samhita HI, 8, nach ß. Roth's Übers, in der Zeitschr. der deutschen morgen- länd. Ges. 1872, Bd. 26, S. 445 u. ff.

8 Der medioinische Unterricht im ÄUerthwm,

macht Vergnügen, fördert die Erfahrung, giebt Redegewandtheit und verschafft Ansehen. Wer über Erlerntes unsicher ist, dessen Zweifel werden durch die wiederholte Belehrung gehoben, wer jene Unsicher- heit und Zweifel nicht hat, dessen TJrtheil wird befestigt. Auch be- kommt man oft etwas zu hören, was man bisher nicht wusste. Mancher Lehrer kann sich hinreissen lassen, ein zurückgehaltenes Wissen, das er sonst dem Zögling nur allmalig mittheilt, bei Gelegenheit eines solchen Redeaustausches mit einem Male preiszugeben.^'

Bei Suseuta ^ (Cap. 2) heisst es, dass der Arzt als Schüler den Sohn eines Brahmanen, sowie eines Ksatrya oder Vaisya (Adeligen oder Bürgers) von guter Familie annehmen dürfe, wenn derselbe 16 Jahr alt sei, ein anstandiges Betragen zeige, Reinlichkeitsliebe, körperliche Kraft und Starke, Verstand, ein tüchtiges öedächtniss und den Wunsch, zu lernen und sein Ziel zu erreichen, besitze. „Er muss eine feine Zunge, schmale Lippen, regelmässige Zähne, ein edles Antlitz, wohlge- formte Nase und Augen, ein heiteres Gemüth und feinen Anstand haben und fähig sein. Mühen und Schmerzen zu ertragen. Wer andere Eigen- schaften besitzt, soll nicht zum ärztlichen Beruf zugelassen werden.^'

Die Aufnahme des Schülers erfolgte an einem Glückstage, and die damit verbundene Feierlichkeit wurde am Abend, wenn der Mond und die Sterne am Himmel standen, vollzogen. Sie begann damit, dass die Götter auf einem Altar, der aus einem 4 Ellen nach jeder Seite messenden, nach Osten oder Norden gelegenen Erdwall be- stand und mit Kuhdünger ^ und Kusa-Gras (Poa cynosuroides) bedeckt wurde, durch Opfer von Reis, Blumen und Edelsteinen verehrt wurden, während die Brahmanen und Ärzte Geschenke empfingen. Hierauf zeichnete der die Ceremonie leitende Brahmane eine Linie auf der Erde, besprengte die Stelle mit Wasser und liess den Adepten der Heilkunde an seiner rechten Seite sitzen. Vor ihnen wurde ein Feuer angemacht, in welchem nach den religiösen Vorschriften das Holz von Khadira (Acacia catechu), Palasa (Butea frondosa), Devadaru (Oedrus deodara) und Vilva (Aegle marmelos), oder von Vata (Ficus Benga* lensis), Jaina dumbara (Ficus glomerata), Asvattha (Ficus religiosa) und Madhuka (Bassia latifolia) verbrannt wurde, nachdem es in geronnene Milch, Honig und abgeklärte Butter getaucht worden war.

Nach der Beendigung des Opfers führte der Lehrer seinen Schüler dreimal um das Feuer herum und sprach zu ihm, indem er die Gott-

* The Susruta Samhita ed. by Udoy Chand Dutt, Calcutta 1883 (Biblio- theca Indica, fasc. 490. 500). ' Die Kuh galt als heilig.

Indien. 9

heit des Feuers zum Zeugen anrief: ^^Lege nun ab alle Begierden, den Zorn, die Habsucht, Thorheit, Eitelkeit, den Stok und Neid, die Boh- heit, Betrügerei, Falschheit, Trägheit und alles tadelnswerthe Verhalten. Deine Haare und Deine Nägel wirst Du jederzeit kurz geschnitten tragen, ein rothes Kleid anlegen, ein reines Leben führen, wollüstigen Verkehr vermeiden und Deinem Vorgesetzten gehorchen. Du sollst .dablriben, umhergehen. Dich niederl^en oder niedersetzen, essen und studieren, wenn ich es befehle, und immer bereit sein, mein Wohl- ergehen zu fördern. Wenn Du dies versäumst, wirst Du eine Sünde begehen, und alles Wissen ist Dir unnütz und werthlos. Wenn aber ich schlecht gegen Dich handele, während Du Deine Pflicht erfüllst, so begehe ich eine Sünde, und meine Kenntnisse werden keine Früchte tragen." Femer ermahnte er ihn, als Arzt später die Brahmanen, die Lehrer, die Armen, seine Freunde und Nachbarn, die Frommen, die Waisen und die fremden Leute, welche fern von ihrer Heimath sind, unentgeltlich zu behandeln und ihnen Arzneien zu reichen. Da- gegen soll er Denen, welche auf der Jagd Thiere tödten und Vögel fangen, sowie den Verbannten und Verbrechern seinen ärztlichen Bath verweigern. „Wer so handelt^ macht sich bekannt als gelehrt und erwirbt Freunde, Buf, Tugend, Beichthum und andere wünschenswerthe Dinge."

An bestimmten Tagen durfte der Schüler nicht studieren, z. B. am 8., 14. und 15. Tage des Neu- und Vollmondes; desgleichen war es ihm verboten, den Studien obzuliegen „in der Dämmerung des Morgens oder im Zwielicht des Abends, bei Donner und Blitz, wenn dies zu einer ungewöhnlichen Jahreszeit geschah, zu der Zeit, während der König des Landes krank darnieder lag, nach dem Besuch einer Brand- stätte, nach der Theilnahme an einem Begräbniss, während des Krieges, bei grossen Festen, bei unglücklichen Natorerdgnissen, z. B. bei Erd- beben, beim Fall von Meteoren, some an solchen Tagen, an denen die Brahmanen sich des Studiums enthielten, oder er aus irgend welchem Grunde für befleckt gelten konnte."

Diesen bisweilen seltsamen Verordnungen lag offenbar der ver- nünftige Gedanke zu Grunde, den Studierenden die bei ihrer Beschäf- tigung nothwendige Erholung and Müsse zu verschaffen und sie davor zu bewahren, dass sie die ünterrichtsgegiHistände, wenn ihre Aufmerk- samkeit durch andere Dinge in Anspruch genommen wurde, in ober- flächlicher oder unvollständiger Weise in sich aufnahmen.

Sus^MJTA verlangt ferner (Cap. 3), dass die Studierenden der Heil- 'kunde sowohl eine theoretische als praktische Bildung erbalten; zuerst sollen sie die medicinischen Schriften lesen und dann die Ausübung der Heilkunst erlernen.

10 Der medieinisohe Unterricht im AÜerthum.

„Wer nur theoretisch gebildet ist," sagt er, „aber unerfahren in den Einzelheiten der praktischen Behandlung, weiss nicht, was er thun soll, wenn er einen Patienten bekommt, und benimmt sich so thöricht, wie ein Feigling auf dem Schlachtfelde. Andererseits wird ein Arzt, der nur praktisch, nicht aber theoretisch ausgebildet ist, nicht die Achtung der besseren Männer erringen." „Diese beiden Klassen unge- nügend vorbereiteter Ärzte sind nicht geeignet zur Praxis, ebensowenig wie ein Brahmane, der die Veden nur zur Hälfte gelesen hat, die kirchlichen Ceremonien verrichten , oder ein Vogel , der nur einen Flügel hat, in der Luft fliegen kann. Denn wenn die Arzneien von unwissenden Ärzten gereicht werden, so wirken sie mögen sie auch dem Nektar gleichen wie Gifte oder andere Mittel der Zer- störung."

Derartige Ärzte erlangen, wie Suseuta bemerkt, nur dann die Erlaubniss zur Praxis, wenn die Regierung sorglos und nachlässig ist.

Der Unterricht bestand darin, dass der Lehrer dem Schüler die einzelnen Abschnitte aus den medicinischen Schriften so oft vorlas und von ihm wiederholen liess, bis derselbe sie auswendig wusste. Der Vortrag sollte „mit lauter und klarer Stimme und deutlicher Betonung der gesprochenen Worte, die nicht verschluckt oder durch einen nasalen Ton entstellt werden durften, geschehen."

Der Schüler musste trachten. Das, was ihm gelehrt wurde, nicht blos mit dem Gehör, sondern auch mit dem Verstände zu erfassen; denn sonst „gleicht er dem Esel, der eine Ladung Sandelholz trägt und nur deren Gewicht, nicht aber deren Werth kennt" (Cap. 4).

Dem Lehrer wurde aufgetragen (Cap. 9), den Schüler auch in der Ausführung chirurgischer Operationen, in der Anwendung von Salben, sowie überhaupt in praktischen Dingen zu unterrichten, da „ohne prak- tische Ausbildung durch das Anhören der Vorlesungen und die Wieder- holung der Vorträge allein Niemand zur ärztlichen Praxis befähigt werde."

Einzelne chirurgische Operationen wurden an Früchten, z. B. an Melonen, die Punktion an Blasen oder ledernen Beuteln, die mit Wasser, Schlamm oder Lehm gefüllt waren, die Skarifikation an behaarten Ledertheilen, welche aufgespannt wurden, der Aderlass an den Blut- gefässen todter Thiere oder am Stengel der Wasserlilie, die Untei*- suchung mit der Sonde an wurmstichigem Holz, Bambus, Rohr und getrockneten Kürbissen, das Ausziehen der Zähne an todten Thieren, das öflhen von Abscessen an einem Wachsklumpen, welcher auf ein Stück Salmali (Holz von Bombax malabaricum) aufgestrichen wurde, das Nähen der Wunden an dicken Kleidern oder an dem Rande zweier

Indien, 1 1

weicher Lederstückchen, das Anlegen von Verbänden an menschlichen Mguren, die aus Holz oder Thon angefertigt wurden, die Anwendung der Ätzmittel und des Glüheisens an weichen Pleischtheilen, und die Herausbeförderung des Urins aus der Harnblase oder die Entfernung von Eiter aus dem Becken mittelst Röhren an einem irdenen Topf, der mit einer Rinne versehen und mit Wasser gefüllt war, oder an einem Kürbiss gelehrt und geübt.

Der Chirurgie wurde in Indien eine hervorragende Beachtung ge- schenkt. Als Dhakvantari (Cap. 1) seine Schüler fragte, welche Theile der Heilkunde er ihnen vortragen solle, antworteten sie: Lehre ans alle,' aber nimm die Chirurgie zur Grundlage Deiner Erörterungen!

Die indische Medicin hat auf diesem Gebiet bewundcmswerthe Erfolge errungen. Die indischen Ärzte kannten die Amputation, die Earacentese des Unterleibs, die Laparatomie und Darmnaht, entfernten den Blasenstein auf operativem Wege, beseitigten den Staar des Auges durch Niederdrücken der Linse, unternahmen plastische Operationen und führten die Wendung und Extraktion bei anomaler Eindslage, sowie den Kaiserschnitt an schwangeren Todten aus.^

Die grosse Anzahl verschiedenartiger Instrumente ^ zeigt, wie er- fahren sie in der chirurgischen Technik waren; man findet darunter Messer von verschiedener Eorm, Lanzetten, Schröpfköpfe, Trocarts, Sonden, röhrenförmige Katheter, Scheeren, Knochensägen, Polypen- Zangen, Specula u. a. m.

Die Untersuchung des kranken Körpers geschah mit grosser Sorg- falt. SusRUTA (Cap. 10) ermahnte die jungen Ärzte, dabei alle fünf Sinne zu Rath zu ziehen. „Durch das Gehör kann man z. B. fest- stellen," schreibt er, „ob der Inhalt eines Abscesses schäumt und Luft enthält, da die Entleerung desselben in diesem Falle mit Geräusch verbunden ist, durch das Gefühl erkennen, ob die Haut heiss oder kalt, rauh oder glatt, dick oder dünn ist, mit dem Gesicht die Corpulenz oder Magerkeit, die Lebenskraft, Energie und den Wechsel der Farbe wahrnehmen, durch den Geschmack sich über die Eigenschaften des Urins beim Diabetes und anderen Leiden der Hamorgane vergewissern, und durch den Geruch die manchen Krankheiten eigenthümliche Aus- dünstung, welche eine verhängnissvolle Bedeutung hat, bestimmen." „Zu gleicher Zeit muss man den Kranken über den Charakter der Gegend, in welcher er lebte, über die Jahreszeit, seinen Stand, seine

^ VuLLERS im Janus, Bd. I, S. 242 u. E, Breslau 1846. * Sehr gut zusammengestellt in T. A. Wise: Review of the Histoiy of me- dicine among the Asiatics, London 1867, Vol. I, p. 354 u. flf.

12 Der medicinische Unterricht im Alterthtmi,

Befiirchtungen, die Art seiner Schmerzen, seine Kräfte, seinen Appetit und die Dauer seiner Krankheit befragen, hierauf zur Untersuchung des Urins, der Blähungen und Abgänge, sowie des Menstrualflusses übergehen und sich auch bei der Umgebung des Patienten nach der Art seines Leidens erkundigen."

Die indischen Ärzte waren feine Beobachter der Natur. So wussten sie, dass die Crepitation bei Knochen-Frakturen die Diagnose erleichtere, und der Urin in manchen Krankheitsfällen (Diabetes mellitus) süss schmecke,^ längst bevor diese Thatsachen in Europa bekannt wurden.

Die hohe Entwickelung der indischen Heilkunde, besonders der Chirurgie, erregt umsomehr Erstaunen, als das Studium der Anatomie und Physiologie gänzlich fehlte oder wenigstens auf falschen Wegen war. Aus den geringen anatomischen Kenntnissen der indischen Ärzte geht hervor, dass sie sicherlich niemals Sektionen menschlicher Leich- name vorgenommen haben; übrigens wurden ihnen derartige Unter- suchungen durch die Vorschriften der Religion verboten oder mindest^is erschwert. Gleichwohl würdigten sie die Bedeutung der Anatomie für die praktische Heilkunde und erklärten, dass sich der Arzt eine voll- ständige Kenntniss des menschlichen Körpers verschaffen müsse, ehe er die Behandlung der Krankheiten unternehme.

Zur Ausübung der ärztlichen Praxis bedurfte es der Erlaubniss der Obrigkeit. Bei Süseuta (Cap. 10) heisst es, dass der Schüler der Heilkunde nach der Beendigung seiner Studien den König bitten müsse, dass er ihm gestattet, als selbstständiger Arzt aufzutreten. Dabei er- theilt ihm Susrüta noch einige Lebensregeln, welche auf die sociale Stellung der indischen Ärzte ein merkwürdiges Licht werfen. „Lass Dir die Haare und Nägel kurz schneiden," schreibt er, „halte Deinen Körper rein, trage weisse Kleider, ziehe Schuhe an und nimm einen Stock oder Schirm in die Hand. Dein Äusseres sei demüthig und Dein Gemüth rein und ohne Arglist Zeige Dich höflich in der Rede und freundlich zu allen lebenden Wesen und achte darauf, dass Dein Diener einen guten Charakter besitzt."

Besondere Vorsicht empfiehlt er ihm, wenn seine Patienten „ge- lehrte Brahmanen, Fürsten, Weiber, Kinder, alte Männer, furchtsame Personen, Diener des Königs, schlaue und schwache Personen, Ver- läumder von Ärzten, arme, elende oder reizbare Menschen, Waisen- kinder oder Personen sind, welche ihre Krankheiten verheimlichen oder bei ihren Handlungen nicht beaufsichtigt werden." Sehr ernstlich

^ Vielleicht führte sie die Beobachtung, dass die Ameisen diesen Harn auf- suchten und genossen, zu dieser Entdeckung?

Indien. 13

wamt er ihn aber davor, „mit Weibern zu klatschen oder zu scherzen und von ihnen Geschenke anzunehmen ausser etwa Esswaaren."

Ferner giebt er ihm den klugen, wenn auch keineswegs menschen- freundlichen Bath, „nur solche Personen in Behandlung zu nehmen, deren Krankheit heilbar ist, alle unheilbaren Krankheitsfälle dagegen aufzugeben und überhaupt jeden Patienten, der nach Jahresfrist nicht gesund geworden sei, zu verlassen, weil auch heilbare Leiden nach einem Jahre gewöhnlich unheilbar würden."

Chabaka^ trieb die Vorsicht noch weiter, wenn er den Ärzten befiehlt, „Leuten, welche beim König oder beim Volk missliebig und ihrerseits gegen jene verbittert sind, keine Arznei zu verordnen, ebenso- wenig ausserordentlich missgestalteten, verdorbenen, schwierigen, wilden und intractabeln Personen, denen nicht zu rathen und zu helfen ist, und Sterbenden, desgleichen nicht Frauen, ohne dass ihr Herr oder Aufseher anwesend ist,"

Mit Verachtung erfüllt Chabaka^ seine Schüler vor jenen Leuten, „welche, im Aufzug eines gelehrten Arztes prunkend, begierig den Gre- legenheiten zur Praxis nachstreichen« Haben sie von einem Kranken gehört, so eilen sie herbei, empfehlen vor seinen Ohren ihre ärztlichen Fähigkeiten und sind unermüdlich in der Aufzählung der Fehler des behandelnden Arztes. Die Freunde des Patienten suchen sie durch kleine Aufmerksamkeiten, Schmeicheleien und Einflüsterungen zu ge- winnen und rühmen ihre eigene Anspruchslosigkeit. Haben sie sieh an eine Kur gemacht, so kommen sie ^lle Augenblicke zum Besuch, um ihre Unwissenheit zu verstecken und weil sie die Ejrankheit nicht zu heben vermögen, so schieben sie den Misserfolg darauf, dass der Kranke nicht die nöthigen Mittel und Pflege habe und sich nicht ge- hörig halte. Merken sie, dass es mit ihm zu Ende geht, so nuu^hen sie sich davon. Treffen sie mit Leuten vom Volk zusammen, so ver- leugnen sie sich imd wissen als Unbetheiligte ihre Geschicklichkeit herauszustreichen, als Laien die Wissenschaft der wirklich Unterrichteten herabzusetzen. Das Zusammenkommen mit Gebildeten aber meiden sie, wie der Wanderer die Gefahren des dichten Waldes." Ein lebens- frisches Bild, dessen drastische Züge viele Ähnlichkeit mit manchen Erscheinungen der Gegenwart zeigen!

Die Ärzte nahmen in Indien eine angesehene Stellung ein. Nie- mals ist der erhabene Beruf des Arztes schöner und treffender ge- schildert worden, als in dem indiscäien Spruch: „Ist man krank, so ist der Arzt ein Vater; ist man genesen, so ist er ein Freund; ist die

* a. a. 0. S. 448. * I, 29 bei Roth a. a. 0. S. 452.

14 Der medizinische Unterricht im Ältertkmn,

Krankheit vorüber und die Gesundheit wiederhergestellt, so ist er ein Hüter." ^

Die indischen Arzte waren gleich den übrigen Gelehrten von Steuern und anderen Lasten befreit und wurden für die Dienste, welche sie den Kranken leisteten, durch Geschenke belohnt Es scheint, dass ihre Ansprüche in solchen Fällen nicht gering waren, wie sich aus den Mittheilungen über die seltsamen Kuren des Arztes Givaka Komarab- hakka, der zu Buddha's Zeit lebte, ergiebt.^

Er war das Kind einer Hetäre, wurde auf Kosten eines Fürsten^ der sich seiner annahm, erzogen und bildete sich dann bei einem Lehrer^ dessen Unterricht er sieben Jahre genoss, zum berühmten Arzt aus. Hat diese Erzählung vielleicht eine allegorische Bedeutung, indem sie die niedere käufliche Thätigkeit des Arztes, welche durch die höheren idealen Zwecke geadelt wird, veranschaulichen wollte?

In den Schulen der Bikkhus, der buddhistischen Mönche, welche nach dem Muster der Brahmanenschulen entstanden, wurden die Wissen- schaften vernachlässigt und hauptsächlich die Bildung des Charakter« durch die Entsagung der Welt und ihrer Genüsse angestrebt Da die Bikkhus das Leben als werthlos betrachteten, so achteten sie auch nicht auf die Mittel, es zu erhalten. Ihre Vorschrift, nur zu essen, was An- dere übrig gelassen haben, und den Urin der Kühe als Heilmittel zu gebrauchen,^ zeigt, wie geringen Werth sie auf die Pflege und Gesund- heit des Körpers legten.

Und doch war es gerade ein buddhistischer König, Asoka oder Pryadarsin genannt, welcher zur Errichtung von Hospitälern anregte^ und zwar nicht blos für Menschen, sondern auch für die Thiere; in diesen Anstalten wurden ärztliche Consultationen ertheilt und Arzneien verabreicht, ähnlich wie in unseren poliklinischen Instituten.* Aller- dings war es nicht die Liebe zur Wissenschaft, sondern das Mitleid^ welches Asoka dabei beseelte; aber die medicinische Wissenschaft hat daraus jedenfalls Vortheile gezogen.

Auch auf Ceylon gab es Krankenhäuser. Der König Pandukabhayo soll schon im 5. Jahrhundert v. Chr. ein Hospital in seiner Kesidenz Anaradhapura gegründet haben, und einer seiner Nachfolger, Duttha-

^ Böhtlingk: Indische Sprüche, Petersburg 1870.

' The sacred books of the east transl. by Max Müller, Oxford 1881, T. XIH, p. 191, XVn, p. 173 u. ff., XX, p. 102 u. ff.

8 Koppen: Religion des Buddha, S. 338.

* G. Bühler: Beiträge zur Erklärung der Asoka-Inschriften in d. Zeitschr. d. deutschen morgenl. Ges. 1883, Bd. 37, S. 98 u. ff. (2. Edikt des Königs Asoka^ der von 263—226 v. Chr. regierte).

Ägypten, 15

gamini, der im 2. Jahrhundert v. Chr. regierte, durfte sich bei seinem Tode rühmen, dass er an achtzehn Orten Krankenhäuser errichtet, mit ausreichenden Mittehi versehen und dafür gesorgt habe, dass die Lei- denden ärztlich behandelt wurden und Arzneien erhielten.

Vom König Budhadaso, dessen Lebenszeit ins 4. Jahrhundert n. Chr. fallt, wird erzählt, dass er selbst die Heilkunst ausgeübt und ein viel- benutztes Werk über die Medicin verfasst habe. Er schuf eine das ganze Land umfassende Sanitätsorganisation, stellte für je 10 Dörfer einen Arzt an, errichtete überall Hospitäler und überwies für deren Unterhalt die Erträgnisse von 20 Dörfern. Eemer gründete er An- stalten zur Aufnahme von Krüppeln, Verwachsenen und armen Ver- lassenen und sorgte dafür, dass auch das Heer, und zwar sowohl die Soldaten, als auch die Elephanten und Pferde, Ärzte hatten.^

In Kaschmir existirten schon unter dem König Meghavana (im 1. Jahrhundert n. Chr.) Spitäler.*

Die Beziehungen, welche die Indier seit dem Feldzuge Alexanders von Macedonien zu den Griechen unterhielten, ihr reger Verkehr mit den benachbarten Persem, der sich später auch auf das wissenschaft- liche Gebiet erstreckte, und ihre Unterwerfung durch die Araber übten auf die Entwickelung der indischen Heilkunde einen grossen Einfluss aus, während in neuester Zeit die europäische Medicin, namentlich die ärztlichen Theorien und Einrichtungen der Engländer, dort massgebend geworden sind.

Ägypten.

Bei weitem älter als die medicinischen Urkunden der Indier sind diejenigen, welche über die Heilkunde der Ägypter Aufschluss geben. Sie stammen aus jener frühen Culturperiode, von welcher uns die Pyra- miden wie gewaltige Zeugen einer sagenhaften Vorzeit erzählen und bestehen in bildlichen Darstellungen auf den Wänden der Tempel und Gräber, in Gebrauchsgegenständen, z. B. chirurgischen Instrumenten,, die sich zufällig erhalten haben, und in den Papyros-KoUen, von denen die wichtigeren erst in den letzten Jahrzehnten aufgefunden und ent- räthselt wurden.

* The Mahawanso edit. by G. Turnoub, Ceylon 1837, p. 67. 196. 243. 245. ^ Heüsinqeb hat darüber im Janas (II, 393) nach den Annales de Caschmir von Kalhana einige Mittheilongen gemacht.

16 D&r medi&inische Unterricht im Alterthum.

I jn i"^^

In Ägypten herrschte, wie in Babylon, die Sitte, die Kranken vor den Häusern auf die Strassen und Wegfe zu legen, damit ihnen die Vorübergehenden ihre Kathschläge zur Beseitigung ihrer Leiden er- theilen konnten. Das Interesse für medicinische Dinge erfüllte das ganze Volk, und „Jeder war in diesem Lande, dessen fruchtbarer Boden eine Menge von Heilmitteln hervorbrachte, gleichsam ein Arzt, ein Ab- kömmling Paeons, und wusste mit dem Menschen Bescheid."^

Doch gab es auch Personen, welche die ärztliche Thatigkeit berufs- mässig ausübten und dazu durch systematischen Unterricht vorgebildet wurden. Die ägyptischen Ärzte gelangten wegen ihrer glüdtliohen Heilerfolge zu grossem Ansehen und wurden sogar an die Höfe fremder Fürsten berufen. Der Perser-König Cyrus liess zur Behandlung seiner kranken Mutter einen Augenarzt aus Ägypten kommen, und auch Darius hatte Leibärzte, welche von dort stammten.^

Der ärztliche Stand gehörte in Ägypten gleich den Vertretern der übrigen gelehrten Beschäftigungen zu der mit manchen Vorrechten ausgestatteten Klasse der Priester. In den mit den Tempeln verbun- denen Schulen wurden nicht blos Priester, sondern auch Eichter, Ärzte, Astronomen, Mathematiker und andere Gelehrte erzogen. Diese Lehr- anstalten vereinigten, vrie unsere Universitäten, alle höhere Bildung in sich und dienten nicht blos dem Unterricht, sondern auch der Forschung. Die berühmtesten dieser Schulen befanden sich zu Heliopolis, Memphis, Theben, Sals und Chennu.

Die Schüler erwarben hier neben einer entsprechenden Allgemein- bildung die für ihren künftigen Beruf erforderlichen fachmännischen Kenntnisse. Sie wohnten in den zur Schule gehörigen Häusern und standen unter der Aufsicht und Zucht ihrer Lehrer. „Überlass Dich nicht der Trägheit," ermahnt der Lehrer in einer von Chabas über- setzten Stelle seinen Schüler, „denn sonst wirst Du. streng bestraft. Hänge Dein Herz nicht an Vergnügungen und sorge dafür, dass die Bücher nicht Deiner Hand entsinken. Übe Dich in der Eede und sprich mit Denen, die Dir an Wissen überlegen sind. Wenn Du älter sein wirst, wirst Du erkennen, wie nützlich dies ist; denn wer in seinem Fach tüchtig ist, erlangt Macht und Ansehen."^

Das ägyptische Studentenleben scheint in manchen Beziehungen demjenigen der heutigen Zeit geglichen zu haben. So rügt der Lehrer das Verhalten seines leichtsinnigen Schülers Ennana mit den Worten: „Es ist mir berichtet worden, dass Du die Studien vernachlässigst, Dich

1 Homeb: Odyssee IV, 229—232. « Heeodot III, 1. 129.

^ Chabas: M^langes 6gyptologiques, Paris 1862, p. 117.

Ägypten. 1 7

nach Lustbarkeiten sehnst und von Kneipe zu Kneipe wanderst. Wohin führt aber der Biergeruch? Meide ihn; denn er treibt die Leute von Dir weg, bringt Deinen Geist zurück und macht Dich zu einem Ruder, das zerbrochen auf dem Schilf liegt" ^

Die Studien waren nicht den Söhnen der bevorzugten Klassen vorbehalten, sondern allen Standen zuganglich. Fleiss und Begabung galten als die einzigen Bedingungen, welche an die Zulassung zum Studium geknüpft wurden.

Der Unterricht stützte sich auf die „heiligen Bücher", in welchen alles Wissen der Ägypter enthalten war. Als ihr Verfasser wurde Toth betrachtet, der Gott der Weisheit, „der auch den Ärzten giebt die Erleuchtung".

Die heiligen oder hermetischen^ Bücher bildeten eine Art von Encyklopädie und bestanden aus 42 Abtheilungen. Sie behandelten die Vorschriften der Religion, die kirchlichen Ceremonien, Rechtspflege, Philosophie, Schreibekunst, Geographie und Kosmogenie, Astronomie, die Lehre von den Massen und Gewichten, die Medicin u. a. m. Mit der letzteren beschäftigten sich die sechs letzten Bücher, die „Ambres", und zwar enthielt das erste die Beschreibung der einzelnen Theile des Körpers, das zweite die Lehre von den Krankheiten, das dritte Erörte- rungen über die chirurgischen Werkzeuge, wahrscheinlich auch über die Operationen, das vierte die Arzneimittellehre, das fünfte die Schil- derung der Augenleiden, die in Ägypten bekanntlich sehr verbreitet sind, und das sechste die Lehre von den Frauenkrankheiten.^ Der Verfasser beginnt mit der Anatomie, als der Grundlage der Heilkunde, geht dann zur Pathologie über und bespricht am Schluss die Speciali- taten, welche die Kenntniss der übrigen Disciplinen der Medicin zur Voraussetzung haben; er ordnet den Stoff also in derselben Weise, wie es der rationellen Systematik unserer heutigen Wissenschaft entspricht.

Leider ist dieses Lehrbuch der gesammten Heilkunde verloren ge- gangen; nur einzelne Bruchstücke desselben sollen sich erhalten haben, welche vielleicht in dem von Lepsiüs herausgegebenen Todtenbuche und im Papyros Ebers zu finden sind. G. Ebbbs glaubt, dass der nach ihm genannte Papyros das vierte der medicinischen hermetischen Bücher, also die Arzneimittellehre enthalt.* Da derselbe im 17. Jahr-

^ Lauth: Die alt-ägyptische Hochschule zu Chennu in d. Sitzungsber. d. k. bayr. Akad. d. Wiss., Histor. Kl. 1872, S. 67.

' Toth ist der Hermes der Griechen. S. Guiqniaut: de 'Sqftov seu Mer- curii mythologia, Paris 1835.

' Vergl. CiiEMBNS Alexandrinus : Stromata, üb. VI, cap. 4, Edit. Dindorf.

* G. Ebebs: Papyros Ebers, Leipzig 1875, T. I, S. 9. PuscHMANN, UDterricht. 2

18 Der medtGiniache Unterrieht im ÄUerthwm,

hundert v. Chr. geschrieben wurde, so dürfte er eine spätere Bearbei- tung des ursprünglichen Textes darstellen. Auch Galen fuhrt mehrere Stellen daraus an, obwohl er bekanntlich von dem wissenschaftlichen Werth dieser Schriflien keine hohe Meinung hatte. ^

Ob die 6 medicinischen Bücher gleich den übrigen 36 hermetischen Büchern allen Studierenden der ägyptischen Tempelschulen vorgetragen wurden oder nur denen, welche die Heilkunst auszuüben beabsichtigten, ist nicht bekannt. Die letzteren mussten jedenfalls den Inhalt der medicinischen Schriften in sich aufnehmen und auswendig lernen; denn sie waren verpflichtet, sich in ihrer späteren ärztlichen Berufethätigkeit genau nach den dort niedergelegten Vorschriften zu richten, und setzten sich einer Strafe aus, wenn sie anders handelten.^

Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich der ärztliche Unterricht auf das theoretische Studium der zu den hermetischen Schriften gehörigen medicinischen Bücher und der dieselben erklärenden Werke, an denen die mit den Tempelschulen verbundenen Bibliotheken ohne Zweifel sehr reich waren, beschränkt hat. Man darf annehmen, dass die Schüler ausserdem eine praktische Anleitung zur Untersuchung und Behandlung der Kranken erhalten haben.

Es bestand in Ägypten die Einrichtung, dass die Patienten in die Tempel gebracht wurden, wo sie von den Priestern Hilfe und Bettung von ihren Leiden erwarteten. Auch wurden die letzteren in die Woh- nungen der Kranken gerufen, wenn dieselben nicht in den Tempel gebracht werden konnten. Wie nahe liegt da der Gedanke, dass die Lehrer der Heilkunde diese Gelegenheiten dazu benutzten, um ihren Schülern die praktische Ausführung der Theorien, die sie ihnen gelehrt hatten, zu zeigen? Auch ist es sehr wahrscheinlich, dass die letzteren als Zöglinge der Priester der Krankenbehandlung in den Tempeln, welche als eine Art von Gottesdienst, als ein religiöser Akt, betrachtet werden kann, beigewohnt haben.

Übrigens berechtigt auch der Zustand der ägyptischen Heilkunst zu der Vermuthung, dass ihre Erlernung durch praktischen Unterricht erleichtert wurde. Aus bildlichen Darstellungen, welche sich auf Tempel- wänden erhalten haben, geht hervor, dass man mit der Beschneidung und Oastration Bescheid wusste.^ Im Papyros Ebers ist von der

1 Galen: Ed. Kühn, T. XI, p. 798. * Diodob. I, cap. 82.

* In KosENBAUM*s Ausgabc von K. Sprengel's Gesch. d. Arzneikunde (Leipzig 1846) Bd. I, S. 73 Anm., wie in H. EUeseb's Lehrbuch der Geschichte der Me- dicin (Jena 1875) Bd. I, S. 57, findet sich die Notiz, dass die alten Ägypter auch die Amputation gekannt haben. Diese Angabe stützt sich auf Labbey, welcher in seiner Relation historique et chirurgicale de Texpedition de Tarmde

Ägypten, 19

„Öfl&iung des Gesichts in den Pupillen hinter den Augen" die Rede: eine Stelle, welche sein Herausgeber auf die Staaroperation bezogen hat. Der Kaiserschnitt wurde an Verstorbenen in Ägypten vielleicht zuerst ausgeführt^ Lassen sich diese Dinge aus dem Buch erlernen? Die zur Ausfahrung solcher Operationen erforderliche Geschicklichkeit kann nur erworben werden, wenn man die dazu gehörigen Handgriffe öfter sieht und selbst übt.

Auch wurden an Mumien geheilte Knochenbrüche und in ihren Kiefern künstliche Zähne beobachtet und in Gräbern verschiedene chi- rurgische Instrumente, wie Messer, Scheeren, Lanzettea, Knzetten, Sonden, Schröpf köpfe aus Bindshom u. a. m. gefunden.

Der anatomische Unterricht war keinesfalls mit praktischen De- monstrationen menschlicher Leichentheile verbunden. Da nach den religiösen Vorstellungen der Ägypter die Wohl&hrt der Seele von der möglichst guten Erhaltung des Körpers abhängig erschien, so war an die Zergliederung menschlicher Leichname nicht zu denken. Die Ver- letzung derselben wurde so sehr verabscheut, dass selbst die Operationen, welche vor der Einbalsamirung an der Leiche vorgenommen würden, dem Paraschisten, der sie vollzog, Hass und Verachtung eintrugen. Derselbe musste sich sofort, nachdem er den Einschnitt in die linke Seite des Unterleibs, durch welchen die Eingeweide entfernt wurden,

dorient (Paris 1805) p. 45 Anmerk. schreibt: y^Le general Deaaix paursuivit Vennemi jusqu'au-delä des eataractea et donna amai ä la eommiasion des arts la faeilite de visiter les monuments de la fameuse Th^bes aux eent portes, les temples renommes de Tmtyra, de Gamak et de Luxor, dont les restes attestent eneore Va/ntique magmficence. (fest dans les plafonds et les parois de ces temples, qu'on vaii des has-reliefs representant des memhres coupes avec des instruments tres-analogt^es ä ceux dont la ehirurgie se sert aujourd'hm pcmr les amputations, On retrouve ces memes instruments dans les hieroglyphes et Von reeonnait les traees d'autres Operations chirurgicales, qui prouvent que la ehirurgie dans ces iemps recules marchait de front avec les autres arts, dont la perfection paratt aroir ete portee ä un tr^-haut degrS'*. Aber weder Lepsius (Denkmäler aus Ägypten und Äthiopien, BerUn, 24 Bände), noch J. Bobellini (I monumenti delF Egitto e della Nubia, Pisa 1832, 4 Voll.) bringen ein Bild, das sich mit Sicher- heit auf die Amputation beziehen lässt. Vielleicht deutet der fehlende linke Arm des Gottes Chem oder Min (S. Chahfollion: Pantheon ^gyptien, Paris 1824^ pl. 4) darauf hin; doch lassen sich aus den seltsamen Formen der ägyptischen Götterfiguren keine derartigen Schlüsse ziehen. Der Beweis, dass die Ägypter die Amputation gekannt haben, ist somit noch nicht geliefert worden. Die fltichtige, vielleicht auf einem Missverständniss beruhende Angabe Labrey's muss erst Yon den Agyptologen geprüft und anerkannt iwerden, bevor sie als histo- rische Thatsache gelten darf,

^ S. Bosenbaum: Analecta quaedam ad sectionis caesareae antiquitates^ Halle 1836.

2*

20 Der mediciniselie ürUerriGht im ÄUerthv/m,

gemacht hatte, flüchten, weil er von den Verwandten und Freunden des Todten mit Steinen beworfen wurde: eine Sitte, welche offenbar die Vertheidigung des letzteren veranschaulichen sollte.

Die Paraschisten, denen jene Verrichtungen oblagen, nahmen in der socialen Rangordnung eine Stellung ein ähnlich derjenigen unserer Leichendiener. Sie besassen weder anatomische Kenntnisse, noch irgend- welche wissenschaftliche Interessen und wurden durch die herrschenden Vorurtheile von Untersuchungen abgehalten, zu denen sie nicht ihre Berufsthätigkeit nöthigte.

Auf die Entwickelung der anatomischen Wissenschaft hat daher das Einbalsamiren der Leichen keinen fordernden Einfluss ausgeübt. Dies geht auch aus den seltsamen und rohen Vorstellungen über den Bau und die Zusammensetzung des menschlichen Körpers hervor, welche sich in den Papyros-RoUen finden.^ Damach war das anatomische Wissen der ägyptischen Ärzte allerdings sehr gering; doch wussten sie schon, dass das Herz der Ausgangspunkt der Blutgefässe sei, welche sich von dort aus in allen Gliedern des Körpers verbreiten: eine That- sache, welche selbst einige tausend Jahre später noch nicht allgemein verstanden und anerkannt wurde.

Bei der Untersuchung des kranken Körpers waren die ägyptischen Ärzte bemüht, „den Schlag des Herzens zu erforschen" * und die Eigen- schaften des Harns zu prüfen. So bemerkten sie bereits, dass der Urin der Schwangeren trüb und reich an Niederschlägen sei,» und führten diese Erscheinung unter den diagnostischen Mitteln an, um die Schwan- gerschaft zu erkennen.

Grossen Werth legten sie auf die Diätetik und eine vernünftige Lebensweise;^ sie empfahlen Reinlichkeit und Massigkeit, Bäder, Ab- reibungen und Körperübungen, um die Gesundheit zu erhalten. Auch die Heilkraft der Seebäder soll ihnen bereits bekannt gewesen und von ihnen bei der Behandlung des Dichters Euripides benutzt worden sein.^

Von Brechmitteln, Abführmitteln und Klystieren wurde sehr häufig Gebrauch gemacht. Im Pap. Berol. med. I finden sich 28 Recepte zur

* S. z. B. Pap. Berol. med. I, welcher von Chabas: M^langes 6gypt. p. 55—79 und von Brugsch: Recueil des monuments ^gyptiens, Leipzig 1863, Partie II, p. 101 u. ff. beschrieben wurde.

« Pap. Ebers a. a. 0. I, p. 27, T. 45.

* Pap. Berol. med. I bei Chabas a. a. 0. p. 69.

* Hbbodot II, 37. 38.

^ Diogenes Laebt. III, 6. Man glaubte deshalb, dass der Vers des Eueipides (Iphig. auf Tauris v. 1193): &dXXaaaa kAiJCc* ndvra t* dv&^fttntav «axct {Das Meer spült alle Menschenleiden fort) dadurch hervorgerufen worden sei.

Ägypten, 21

Bereitung von Klystieren, die von den Alten überhaupt für eine ägyp- tische Erfindung gehalten wurden.^

Mit der ärztlichen Behandlung der Kranken wurden die Gebete verbunden, welche für den betreffenden Fall vorgeschrieben waren. Dem geistlichen Charakter der Arzte entsprach es, dass sie diese Gebete selbst verrichteten und ihnen mindestens die gleiche Bedeutung bei- legten, wie ihren medicamentösen Verordnungen. Nur selten dürften zu jener Zeit solche aufgeklärte Anschauungen gewesen sein, wie sie der Arzt Nebsecht in dem von G. Ebers, dem gründlichen Kenner des altägyptischen Lebens, verfassten Roman Uarda bekundet, wenn er das Absingen der Gebete dem alten blinden Pastophoren Teta überlässt.

Die Pastophoren bildeten eine Klasse der Priester, die übrigens, wie mir G. Ebebs zu erklären die Güte hatte, keineswegs einen so niedrigen Rang einnahm, wie es in den historischen Werken angegeben wird. Die Ärzte waren verpflichtet, einen geistlichen Charakter zu be- sitzen und liessen sich deshalb zu den Pastophoren rechnen, wenn ihnen auch die höheren Priesterwürden wahrscheinlich nicht verschlossen blieben.^ Dagegen waren die Pastophoren keineswegs auch zugleich Ärzte, wie Manche glauben, sondern hatten in ihrer Mehrzahl ganz andere Funktionen, wie schon ihr Name besagt. Das Verhältniss der Pastophoren zu den Ärzten war ungefähr das nämliche, wie dasjenige des Klerus zu den Gelehrten im christlichen Mittelalter; auch damals gehörten alle Gelehrten zum Klerus, ohne dass alle Geistliche zu den Gelehrten gezählt werden konnten.

Viele Ärzte waren Mitglieder der grossen Priester-CoUegien und wohnten in den zu den Tempeln gehörigen Lehranstalten. Sie ertheilten dort medicinischen Unterricht und übten die ärztliche Thätigkeit aus. Dass man für diese Stellungen die tüchtigsten und hervorragendsten Vertreter ihrer Kunst wählte, lag im Interesse der Priester-Collegien, deren Macht durch die Anzahl der Schüler, deren Ruhm durch die glücklichen Heilerfolge, die sie in ihren Tempeln erzielten, vermehrt wurde.

Die Ärzte nahmen Theil an den Vorrechten und Vortheilen, welche der Priesterstand in Ägypten genoss. Sie waren von Abgaben befreit und wurden auf öffentliche Kosten erhalten.

Von den Kranken erhielten sie für ihre ärztlichen Bemühungen zwar keine Bezahlung, wohl aber Geschenke; jedenfalls erwarteten sie,

^ S. Pliniüs: hißt. nat. VIII, c. 41, wo sie dem ägyptischen Ibis zuge- schrieben wird.

* Der Oberpriester von Sais führte den Titel „Oberster der Ärzte".

22 Der medioinische Unterricht im- AUerthum.

dass dem Tempel, an welchem sie angestellt waren, nach der Beendigung der Kur Opfer dargebracht wurden. Auch wurden nach der Heilung zuweilen Modelle der geheilten Körpertheile im Tempel aufgehängt, wie deren das British Museum in London mehrere besitzt. Während des Krieges oder wenn Jemand unterwegs auf einer Reise erkrankte, waren die Ärzte jedoch verpflichtet, unentgeltlich Hilfe zu leisten.^

Ob es neben den Ärzten, welche den priesterlichen Character be- sassen, noch andere Heilkünstler gab, die ihre Thätigkeit auf empirischem Wege erlernten und ausübten, ist nicht bekannt, wohl aber wahrschein- lich. Man gebrauchte für „Arzt" auch die Bezeichnung „Sunnu", „Wissender". Übrigens dürfte die Zahl der priesterlichen Ärzte kaum allen Bedürfnissen genügt haben.

Wenn erzählt wird,^ dass die ägyptischen Ärzte sich auf die Aus- übung einzelner Theile der Heilkunde, auf die Behandlung bestimmter Krankheiten beschränkt haben, so dass „der eine nur die Leiden des Auges, der andere diejenigen des Kopfes, der Zähne, des Unterleibs oder der inneren Organe behandelt habe", so war ein so ausgeprägtes Specialistenwesen doch nur an grösseren Orten möglich, wo der Kranke unter einer Menge von Ärzten die Wahl treffen konnte. An den grossen Tempeln, deren Priester-Collegien mehrere Ärzte zu ihren Mit- gliedern zählten, wird allerdings der eine sich vorzugsweise dieser, der andere jener Specialität gewidmet haben; aber im Allgemeinen war eine derartige strenge Trennung der einzelnen Theile der Heilkunst undurchführbar.

Die ägyptische Medicin hat einen grossen Einfluss auf die griechische Heilkunde ausgeübt. Ihr Ruhm überdauerte die politischen Umwälzungen der späteren Zeit und bildete einen historischen Hintergrund für die medicinischen Schulen, welche Alexandria zu einer hervorragenden Pflege- stätte des wissenschaftlichen Lebens im Alterthum machten.

Bei den Israeliten.

Die israelitische Cultur ist eine Tochter der ägyptischen. Moses^ der grosse Gesetzgeber und Lehrer des jüdischen Volkes, war ein Zög- ling der ägyptischen Priesterschulen und hatte dort ausser anderen Künsten und Wissenschaften auch die Heilkunde studiert.^

^ DiODOR I, 73. 82. Herodot H, 37. ^ Herodot II, 84.

® Clemens Alexandrinus: Stromat. lib. I, cap. 153.

Bei den Israeliten, 2B

Nach ägyptischem Vorbild begründete er bei den Israeliten einei\ Priesterstand, welcher die Vertreter der Intelligenz und Gelehrsamkeit in sich vereinigte. Seine Mitglieder erhielten vom Volk ihren Unter- halt und dienten demselben als Geistliche, Lehrer, Bichter und Arzt«.

Die mosaische Gesetzgebung regelte das bürgerliche Leben durch Vorschriften, welche die Sittlichkeit, die Gesundheit und das Wohl- befinden zu fordern geeignet waren. Als die wesentlichen Vorbedingungen dafür wurden die Vermeidung von Krankheiten und eine vemunft- gemässe Diätetik betrachtet. Dazu dienten die Gesetze, welche die Pflege des Neugeborenen, die Ernährung des Kindes, das Verhalten der Mutter oder der Amme, die Beziehungen der beiden Geschlechter, z. B. den Beischlaf mit menstruirenden Frauen, und die Ehe zwischen Bluts- verwandten, die Reinlichkeit, Kleidung, Nahrung, Wohnung imd den Begräbnissplatz betreffen, ebenso wie die Anleitung, um Krankheiten, wie den Aussatz oder gewisse Geschlechtsleiden, zu erkennen und deren Weiterverbreitung zu verhüten.^

Die Heilung von Krankheiten erhoffte man von Gebeten und Opfern, wie es dem theurgischen Charakter der jüdischen Medicin ent- sprach, nach welchem alle Leiden als Strafen Gottes angesehen wurden. Ausserdem wurden auch diätetische und medicamentöse Mittel an- gewendet. 2

Gegen Hautausschläge^ empfahlen die Priester-Ärzte vor Allem die Absonderung der Kranken von den Gesunden, sorgfältigste Rein- lichkeit und öftere Bäder. Auch von Heilquellen wusste man Gebrauch zu machen. Ebenso erkannte man die günstige Wirkung, welche die Musik, auf manche Geisteskranke ausübt.^

Bei Knochen-Frakturen legte man einen Verband an,^ und den Eunuchismus erzeugte man auf zwei Arten, nämlich durch Zerquetschen oder durch Ausschneiden der Hoden. Auch die Ausführung der Be- schneidung zeugt davon, dass die israelitischen Priester-Ärzte eine ge- wisse Geschicklichkeit in chirurgischen Operationen besassen.

Von Hebammen ist schon die Rede, als sich die Juden noch in

^ Moses II, 15, 26. 19, 6. 22, 31. HI, 7, 23. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 18. 19. 20, 18. IV, 12, 15. 16, 41. V, 14, 21. 28, 27, 58—61. Ezech. 16, 4 u. a. m.

' Vgl. Tbusen: Darstellang der biblischen Krankheiten, Posen 1843, S. 1. J. B. Fbiedbeich: Zur Bibel, Nürnberg 1848, I, S. 41 u. ff., 193 u. ff. B. J. Wundebbar: Biblisch -talmudische Medicin, Riga und Leipzig 1850, H. 1, S. 8 u. ff., S. 73 u. ff.

^ Durch diesen allgemeinen Ausdruck wird Za/raat richtiger übersetzt, als durch Aussatz, wie es gewöhnlich geschieht.

* Samuel .Buch I, c. 16, 23. ^ Ezech. c. 30, 21.

24 Der medicinisehe ünterrioht im Älterthum,

der ägyptischen Gefangenschaft befanden. Ihre Thätigkeit wird an einigen Stellen mit naturalistischer Ausführlichkeit beschrieben.^

Grosses Interesse für die Naturwissenschaften, besonders für die Heilkunde, bekundete König Salomon, welcher selbst darüber ein Buch verfasst haben soU.^ Unter seiner Regierung machte sich bereits der Einfluss der Fremden, namentlich der benachbarten Phönizier, geltend.

Noch mehr trat' dies hervor, als das israelitische Volk seine staat- liche Selbstständigkeit verlor. Seine politischen Schicksale brachten es in eine enge Verbindung mit den Assyriern, Babyloniem, Chaldäem und Persem und boten seinen Gelehrten die Gelegenheit, die Culturerrungen- schatten dieser Völker kennen zu lernen und in sich aufeunehmen. Dadurch gewannen dieselben eine weite Anschauung über die geistige Entwickelung des Menschen und wurden von den engherzigen Vor- urtheilen befreit, welche eine Folge der kleinlichen Verhältnisse ihrer politischen Zustände waren.

Die Heilkunde zog daraus den Vortheil, dass die ärztliche Praxis aufhörte, ein Privilegium der Priester zu sein.^ Neben ihnen übten fortan nicht nur Laien die Heilkunst aus, sondern man wandte sich sogar an Ärzte, welche nicht dem jüdischen Glauben angehörten. In späteren Zeiten ging man in dieser Beziehung so weit, dass man sogar die Beschneidung von einem nichtjüdischen Arzt vollziehen liess, wenn kein israelitischer Operateur anwesend war.*

Ebenso war es auch den israelitischen Ärzten gestattet, den Anders- gläubigen Hilfe zu leisten. Sie durften für ihre Dienste Bezahlung^ fordern und wurden von ihren Mitbürgern geachtet und verehrt.®

Von den Behörden wurden sie in Fragen der Sanitätspolizei und gerichtlichen Medicin zu Rathe gezogen. Später musste jede Stadt ihren Arzt haben und ausserdem bisweilen noch einen Chirurgen. Sie hatten ausser anderen Obliegenheiten die Pflicht, die Beschneidung auszuführen.

Für die Priester, welche bei ihren Ceremonien im Tempel durch die kalten Bäder, die leichte Kleidung, das Barfassgehen auf den kühlen Steinen und das Fasten häufigen Unterleibserkrankungen ausgesetzt waren, wurden besondere Ärzte angestellt.^

» Moses I, 25, 24—26. 38, 27—30. II, 1, 15—21. ' SuiDAs: Ezechias.*

* Sybrand: Diss. bist. med. de necessitate quae fuit apud veteres inter re- ligionem et medicinam, Amstel. 1841, p. 28 u. ff.

* Talmud Tr. Menachoth 42». » Moses II, 21, 19.

* Jesus Sirach 38, 3. ' Talmud Tr. Schekalim V, 1, 2.

Bei den Israeliten, 25

Wenn der ärztliche Beruf Jedem offen stand, so scheinen sich ihm doch vorzugsweise die Angehörigen des Priesterstandes gewidmet zu haben, wie aus den Mittheilungen hervorgeht. In den Priester-Schulen ebenso wie in den Propheten-Schulen, welche von erwachsenen Jüng- lingen besucht wurden, wurde die Heilkunde wegen ihrer innigen Be- ziehungen zur religiösen und bürgerlichen Gesetzgebung der Juden sicherlich in den Bereich des Unterrichts gezogen. Einige Propheten, wie z. B. Elisa, waren wegen ihrer glücklichen Heilerfolge berühmt.

Wer als gelehrter Mann gelten wollte, musste einige medicinische Kenntnisse besitzen. Sie gehörten zur Allgemeinbildung und wurden von Denen verlangt, welche im öffentlichen Leben eine hervorragende Stellung einnehmen wollten.

Die eigentliche fachmännische Ausbildung der Ärzte geschah wohl durch die persönliche Unterweisung des Schülers durch einen Lehrer, der in der Heilkunst geübt und erfahren war. Über die Art des Unterrichts und die dabei gebrauchten Hilfsmittel besitzen wir leider keine Nachrichten aus der älteren Zeit, sondern nur aus der spätei:en, der talmudischen Periode.

Der Talmud, dessen Entstehung in die ersten Jahrhunderte n. Chr. fällt, enthält eine Menge von Ausdrücken, welche dem Wortschatz der griechischen Sprache, besonders ihrer medicinischen Terminologie, ent- lehnt sind, und sogar direkte Hinweise auf die Beziehungen zur Heil- kunde der Griechen. Die talmudische Medicin entbehrt der Originalität und stützt sich hauptsächlich auf die Lehren der griechischen Ärzte. ^

Die anatomischen Kenntnisse der Talmudisten, von denen Einige sich als Ärzte auszeichneten, erheben sich nicht über Das, was Galen vorgetragen hatte. Beachtung verdienen ihre Beobachtungen über die Entwickelung des Fötus, besonders die Bildung der Knochen. Sie nahmen zu diesem Zweck bereits Zergliederungen menschlicher Leichen vor. So wird im Talmud erzählt, dass die Schüler des Kabbi Ismael ben Elisa an dem Leichnam eines liederlichen Weibes, welches die Todesstrafe erlitten hatte, die einzelnen Knochen studierten, und dass Babbi Ismael die Früchte schwangerer Sklavinnen, die zu diesem Zweck während ihrer Schwangerschaft getödtet wurden, untersuchte, um die Entwickelung des menschlichen Körpers kennen zu lernen.^ Zu gleicher Zeit suchten die talmudischen Gelehrten durch Sektionen

^ J. Berqel (Die Medicin der Talmudisten, Berlin u. Leipzig 1885) bestreitet diese Abhängigkeit, vermag aber für seine Ansicht keine Thatsachen anzuführen.

* J. M. Rabbinowicz: La m^decine du Thalmud, Paris 1880, p. 75. Eabbinowicz: Einleitung in die Gesetzgebung und Medicin des Talmuds, deutsche Ubers. 1883, S. 250. Talmud Tr. Bechoroth 45».

26 Der medicinisöhe Unterricht im AUerthum,

von Thieren ihr anatomisches Wissen zu erweitern und zu vervoll- ständigen.

Sie erkannten, welche Bedeutung die Beobachtungen und Versuche an Thieren für die medicinische Wissenschaft haben, und bauten darauf Schlüsse und Folgerungen. Auf diese Weise fanden sie, dass Ver- letzungen der Niere nicht immer tödtlich sind, und die Milz entfernt, sogar der Uterus herausgeschnitten werden kann, ohne dass dadurch der Tod des Thieres herbeigeführt wird.^

Die Ärzte führten Amputationen aus und kannten den Gebrauch künstlicher Füsse und Beine,* wussten mit Frakturen und Luxationen Bescheid, sollen den Nabelbruch der Neugeborenen durch einen Druck- verband geheilt und bei Verschluss des Afters eine künstliche öfl&iung gemacht haben, operirten Harnfisteln, beobachteten den Hermaphro- ditismus, wiesen auf die Thatsache hin, dass der Descensus testiculorum zuweilen unterbleibt, und veröffentlichten einige werthvolle Erfahrungen über die Verletzungen innerer Organe.^ So machten sie z. B. darauf aufmerksam, dass nach der Verletzung des Rückenmarks bei Thieren die hinteren Extremitäten gelähmt werden.

Sie besassen eine grosse Anzahl chirurgischer Instrumente und Apparate* und zeigten sich auch in der operativen Geburtshilfe ge- wandt und erfahren; denn sie kannten mehrere Ursachen des Abortus, unternahmen die Embryotomie^ und führten den Kaiserschnitt an Todten, wie auch an Lebenden aus.®

Die talmudischen Gelehrten widmeten den medicinischen Schriften der Griechen ein eifriges Studium und machten deren wissenschaftliche Errungenschaften den Ärzten des jüdischen Volkes zugänglich. Die griechische Heilkunde war damals bereits Gemeingut der ganzen ge- bildeten Welt geworden.

Die Juden besassen in jener Zeit berühmte Hochschulen in Ti- berias^ Sura und Pumbeditha, an denen, wie einst in den Propheten- Schulen, wahrscheinlich auch die Medicin wenigstens in ihren allge-

* Kabbinowicz a. a. 0. Talmud Tr. Sanhedrin 21, 33* u. 93% Bechoroth 28**. 2 WxTNDERBAR a. a. 0. IV, S. 66—68.

^ Babbinowicz a. a. 0. S. 258 u. ff.

* Wunderbar (a. a. 0. 1, S. 50 56) zählt ]56 verschiedene Arten auf, darunter Messer, Scheeren, Sonden, Lanzetten, Schröpf hömer, Bohrer, Tripperbeutel, Löffel, Siebe u. a. m.

« Talmud Tr. Bechoroth 46% Nidah 19.

® Über die Bedeutung von Joxe dophan s. auch Viechow s Archiv Bd. 80, H. 3, S. 494. Bd. 84, H. 1, S. 164. Bd. 86, H. 2, S. 240. Bd. 89, H. 3, S. 377. Bd. 95, H. 3, S. 485. A. H. Israels in d. Ned. Tijdschr. v. Geneesk 1882, p. 121 u. ff.

Bei den Parsen. 27

meinen Grundzügen gelehrt wurde. Der Unterricht währte nur einen Theil des Jahres; in der übrigen Zeit gingen die Studierenden ihren Geschäften nach, um sich den nothwendigen Lebensunterhalt zu er- werben. ^ Es befanden sich darunter Handwerker, Kaufleute, vielleicht auch Ärzte, welche von den Lehrern der Hochschule die wissenschaft- liche Begründung ihrer Beobachtungen zu erfahren bemüht waren. Umgekehrt erbaten sich auch die Gelehrten, welche nur in der Theorie heimisch waren, in zweifelhaften schwierigen Fällen der Praxis von erfahrenen Ärzten Auskunft.^

Manche Ärzte scheinen sowohl die Behandlung der inneren als der äusseren Leiden unternommen zu haben, während sie sich in anderen Fällen nur der einen oder der anderen Sichtung der Heilkunde zuwandten.

Wer die ärztliche Praxis ausüben wollte, bedurfte dazu der Er- laubniss der Obrigkeit des Ortes, an welchem er sich niederzulassen wünschte. „Niemand darf die Heilkunst ausüben, er sei denn dieser Kunst auch völlig kundig, und wer sich ohne Erlaubniss des Beth-Din (des Käthes der Stadt) mit der Ausübung derselben beschäftigt, ist strafbar, selbst wenn er deren auch völlig kundig ist."* Ob diese Approbation auf Grund von Prüfungen ertheilt wurde, und welcher Art dieselben waren, ist mir nicht bekannt

In den folgenden Jahrhunderten verschmolz die jüdische Medicin vollständig mit derjenigen der übrigen Völker. Die jüdischen Ärzte imd Gelehrten übten einen fördernden Einfluss auf die wissenschaft- liche Entwickelung der Heilkunde aus, namentlich im Mittelalter, und haben zu jeder Zeit eine hervorragende Stelle auf diesem Gebiet behauptet.

Bei den Parsen.

tTber die Medicin der alten Perser sind uns nui* spärliche Nach- richten überliefert worden. Auch hier stand die Heilkunst Anfangs in innigen Beziehungen zum Cultus, und die Priester, die Magier, übten dieselbe aus. Sie bestand im Allgemeinen darin, dass die Krankheiten, welche von bösen Geistern hervorgerufen wurden, durch Beschwörungen

^ P. Beer: Skizze einer Greschichte der Erziehung und des Unterrichts bei den Israeliten, Prag 1832, S. 55.

» Talmud Tr. Nidah 21»'. ' Wunderbar a. a. 0. I, S. 86.

28 Der medidmsche ühterricJii im Alterthum.

weggebetet wurden. Damit verbanden sich manche abergläubische Cere- monien; die Magie feierte hier ihre Vermählung mit der Medicin.^

Thrita, ein von der Sage gefeierter Held, welcher später unter die Geister des Himmels versetzt wurde, galt als der erste Arzt, dem es gelang, die Krankheiten zu beseitigen und die Dämonen, welche sie sandten, zu besiegen. Er wurde daher als der Schutzpatron der Ärzte und gleichsam als Gott der Heilkunst verehrt.

Die religiösen Gesetzbücher der alten Perser empfahlen die Rein- heit der Seele und des Körpers als das beste Mittel, um Krankheiten zu verhüten. Mit strengen Strafen wurden geschlechtliche Aus- schweifungen bedroht. Ebenso war auch das Abtreiben der mensch- lichen Frucht verboten.

Über die Behandlung der Krankheiten erfahren wir, dass ausser dem Gebet auch Medicamente, deren sie eine grosse Anzahl aus dem Pflanzenreiche kannten, sowie das Messer zur Anwendung kamen. Als die vorzüglichsten Ärzte wurden diejenigen betrachtet, welche die Leiden durch das Gebet allein heilten; sie waren gleichsam „die Ärzte der Ärzte". Ihnen folgten Diejenigen, welche Arzneikräuter verordneten, und die letzte Stelle nahmen Jene ein, welche zum Messer griffen.*

Wer als Arzt auftreten wollte, musste sich zuerst an den niederen verachteten Kasten üben. Erst wenn er an Mitgliedern dieser Stände drei erfolgreiche Kuren ausgeführt hatte, durfte er auch in den höheren Klassen der Gesellschaft prakticiren. Starben jedoch die drei Probe- Patienten, so konnte er niemals Arzt werden.

Wie im alten Ägypten, so übten auch hier die Ärzte zugleich die Thierheilkunde aus.

Man hatte eine Art Medicinal-Taxe, deren Höhe sich nach dem Stande und dem Keichthum des Kranken richtete. Von einem Priester durfte der Arzt für seine Dienste nichts weiter fordern, als seinen Segen; dagegen erhielt er von dem Oberhaupt einer Landschaft vier Ochsen, von dessen Frau ein weibliches Kameel, vom Oberhaupt einer Stadt ein grosses Zugthier, von dessen Frau eine Stute, vom Oberhaupt eines Dorfes ein mittleres Zugthier, von dessen Frau eine Kuh, vom Besitzer eines Hauses ein kleines Zugthier und von dessen Frau eine Eselin. Desgleichen war auch vorgeschrieben, wie viel er für die Heilung der verschiedenen Hausthiere verlangen durfte.^

Diese wenigen Bruchstücke geben keine Aufschlüsse über die medi- cinischen Kenntnisse und den ärztlichen Unterricht bei den alten

^ Plinius: bist. nat. XXX, 1.

2 Vendidad VII, 118—121. »Ebenda VII, 105. 117.

Bei den Oriechen vor HippokrcUes, 29

Persem und gestatten kein Urtheü über den Zustand ihrer Heilkunde. Jedenfalls wurden ihre Ärzte später von den ägyptischen und griechischen Fachgenossen an Wissen übertroflFen, da sich die persischen Könige Arzte aus diesen Ländern an ihren Hof kommen liessen.

i den Oriechen vor Hippokrates.

Die ältesten Nachrichten über die griechische Heilkunde hüllen sich in das Gewand der Mythe. In ihnen erscheint ApoUon als der Gott, welcher Krankheiten und Seuchen sendet, aber auch die Mittel gewährt, um sie zu heilen und die Übel abzuwehren.

Als später die einzelnen Thätigkeitsäusserungen dieses Lichtgottes, der in dem Cultus des Naturvolkes offenbar an die Stelle des Helios getreten war, personificirt wurden und besondere Vertreter erhielten, übernahm Asklepios die Rolle des Gottes der Heilkunst Die Sage nannte^ ihn den Sohn Apollons, um dem innigen Verhältniss der Beiden Ausdruck zu geben. Aufgeklärte Griechen der späteren Zeit erklärten dasselbe in allegorischer Weise, wenn sie sagten: „Asklepios sei die dem Menschengeschlecht und allen Thieren zur Gesundheit unentbehr- liche Luft;, Apollon aber die Sonne, und mit Recht nenne man ihn den Vater des Asklepios, weil die Sonne durch ihren Jahreslauf die Luft gesund mache." ^

HoMEE und PiNDAR rühmen die Heilerfolge des Asklepios; aber weder sie noch Hesiod nennen ihn einen Gott. Wie der Buhm seiner Kuren, von der Legende aufbewahrt und von der Nachwelt vergrössert, allmälig zu seiner Apotheose führte, darüber ist uns leider keine Kunde überliefert worden. Später wurden ihm Tempel errichtet und von enthusiastischen Verehrern eine Machtfalle zugeschrieben, gleich der- jenigen des Zeus, des Schöpfers und Erhalters aller Dinge.

Die Dichter, welche, wie schon Heeodot^ schreibt, in der Mytho- logie einen dankbaren StoflF fanden, schmückten die Erzählungen von der Geburt und dem Leben des Asklepios mit ihrer reichen Phantasie. PiNDAR berichtet, dass er von dem Centaureu Cheiron in der Heilkunde unterrichtet worden sei,

„um zu lehren des krankheitsvollen Weh^s Heillinderung Jedem, wem einwohnend die Wund* an dem Leib

^ Pausanias VII, 23. * Hebodot II, 53.

30 Der medidnisehe Unterricht im Alterthu/m.

selbst erwuchs, auch welche, die Grlieder verletzt durch dunkles Erz annähten und

durch femgeschleuderten Stein;

Denen von Gluthen des Sommers, von Kälte der Leib hinschwand,

erlöst allesamt er aus vielfältiger Qual

führend, hier einschläfernd das Weh mit der Kraft anmuthiger

Spruch' und erquicklichem Trank oder sanft Heilsalben auf ihre Leiden hin

fugend und Andere durch Ausschnitt stellt er aufwärts."*

Dem Asklepiös standen seine Gemahlin Epione, „die Schmerzlinderin", und seine Töchter Hygieia, Jaso und Panakeia, deren allegorische Be- deutung man schon aus ihren Namen erkennt, helfend zur Seite. Mehr historische Wahrheit besitzt vielleicht die Angabe, dass er zwei Söhne, MachaoQ und Podalirios, hatte, auf welche er seine Kenntnisse in der Heilkunst vererbte.

Dieselben werden unter den Freiem der Helena aufgeführt und zogen als Führer der thessalischen Krieger von Trikka, Ithome und Oichalia mit dem griechischen Heere nach Troja. Sie galten als ebenso erfahren in der Kriegskunst als in der Heilkunde und wurden von ihren Kampfesgenossen bei verschiedenen Gelegenheiten um ärzt- lichen Kath und Hilfe gebeten.*

Machaon that sich vorzugsweise als Chirurg hervor, während Po- dalirios sich durch die Behandlung der inneren Krankheiten auszeichnete. Wie in der Ilias, so wurde auch in der Aethiopis des Dichters Arktinos,. welche bald nach jener verfasst wurde, aber nur noch zum Theil vor- handen ist, auf diese Trennung der beiden Hauptrichtungen der Heil- kunde hingewiesen, wenn es heisst:

„Denn (Asklepiös) selber verlieh Heilmittel den Söhnen Beiden, jedoch ruhmwürdiger macht' er den einen von Beiden; Jenem gewährt' er die leichtere Hand, aus dem Fleisch die Geschosse Auszuziehen und zu schneiden und jegliche Wunde zu heilen, Diesem dafür legt alle Genauigkeit er in die Seele, Unsichtbares zu kennen und Unheilbares zu heilen."^

Es ist bemerkenswerth, dass hier der inneren Medicin der Vorzug vor der Chirurgie eingeräumt wurde. Diese Meinung erhielt sich bis in unsere Tage und dürfte darin ihren Grund haben, dass das Erkennen und Heilen der inneren Krankheiten dem Laien schwieriger und wun- derbarer erscheint, als die Behandlung der äusseren Leiden, deren Ur- sachen und Beseitigung in den meisten Fällen Jedem wahrnehmbar sind.

Die Heilkunst jener frühen Periode der griechischen Geschichte

^ Pindar's Werke übers, von Friedb. TmEBSCH, Leipzig 1820, I. S. 199.

» DiODOR IV, c. 71.

« F. G. Welckbb: Kleine Schriften, Bonn 1850, Bd. IH, S. 47.

Bei den Griechen vor Hippokrates. 31

beschrankte sich im Wesentlichen darauf, Pfeile und Lanzenspitzen auszuziehen, das Blut zu stillen, die Schmerzen zu lindem und Ver- bände anzulegen. In der Ilias werden eine grosse Anzahl von Ver- letzungen verschiedener Art beschrieben und das Heilverfahren geschil- dert, welches dabei angewendet wurde. ^

Machaon und Fodalirios sind nicht die einzigen Ärzte, welche in den Homerischen Heldengedichten genannt werden. ^ Auch Achilleus, Patroklos und andere Heerführer und Bürieger werden als heilkundig gerühmt. Viele derselben verdankten ihre Kenntnisse auf diesem Ge- biet dem Cheiron,' „dem Manne der Hand." Sie verwertheten die- selben zum Wohl und Nutzen der Menschen, gleich wie andere Helden durch ihren Gesang die Gemüther erfreuten; aber sie übten die Heil- kunst nicht berufsmässig gegen Entlohnung aus.

Der Unterricht in der Heükunde geschah durch die persönliche Unterweisung eines Lehrers, welcher darin Kenntnisse und Erfahrungen gesammelt hatte. Der Vater theilte sein medioinisches Wissen den Söhnen mit, und diese vererbten ihre Kunst wiederum auf ihre Nach- kommenschaft.^ Diese Thatsaohe scheint den Legenden zu Grunde zu liegen, welche erzählen, dass sich die medicinischen Kenntnisse in den Geschlechtern des Cheiron und des Asklepios erhalten haben und von ihnen als theures Familien- Vermächtniss bewahrt wurden.

Als der ärztliche Ruhm der Nachkommen des Asklepios immer heller erglänzte, und die dankbare Menschheit anfing, ihrem Ahn göttliche Ehren zu erweisen, da mögen wohl auch andere Heilkünstler begonnen haben, sich für Mitglieder dieser Familie auszugeben, deren Geheimnisse ihnen überliefert worden seien. So entwickelte sich all- mälig ein ärztlicher Stand, der seine Herkunft von Asklepios ableitete.

Die Asklepiaden, die vermeintlichen Nachkommen dieses mythischen Stammvaters der griechischen Ärzte, vereinigten sich später zu Ge- nossenschaften, welche bei gemeinsamen Opfern und religiösen Festen ihre Zusammengehörigkeit zeigten. Eine in den Ruinen des Asklepios- Tempels zu Athen gefundene und von Gibabd ^ veröffentlichte Inschrift,.

1 Ilias IV, 190. V, 73—75. 112. 694. XI, 349—60. 397. 846. XIH, 438—445. XIV, 409 439. XV, 394. Vergl. a. Darembebo: La m^decine dans Homere, Paris 1865. H. Dunbab: The medicine and surgery of Homer, Brit. med^ Journal, London 1880, 10. Jan.

« IHas Xm, 213. XVI, 28.

* Ilias IV, 219. XI, 831. Panopka in den Sitzungsber. d. Akad. d. Wiss- zu Berlin, Philos.-hist. Kl. 1843, S. 269 u. ff.

* Platon: de republ. X, c. 3.

* P. GmARD: L'Ascl6pieion d' Äthanes d'apr^s de recentes d^couvertes in der Biblioth^que des ecoles fran^aises d' Äthanes et de Borne j T. 23, p. 85, Paris 1881.

32 Der medidnische Unterricht im Alterthu/m.

welche Köhler der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts zuschreibt, er- klärt dies für eine alte Sitte.

Die Asklepiaden waren also die zu einer Zunft verbundenen Ärzte und keineswegs mit den Priestern, die an den Asklepios-Tempeln an- gestellt waren, identisch, wie K. Spbengel und andere medicinische Geschichtsforscher irriger Weise geglaubt haben.

Die ältesten Heiligthümer des Asklepios befanden sich zu Trikka in Thessalien, in Titane, Tithorea, Epidauros, auf der Insel Kos, zu Megalopolis, in Knidos, Pergamon, Athen ^ und anderen Orten. Hier wurde der Gott der Heilkunst verehrt und von Kranken aufgesucht, welche von ihm die Erlösung von ihren Leiden erflehten. Mit den Tempeln, in denen der religiöse Cultus stattfand, waren Wohnungen für die Priester und Diener des Tempels, sowie weite gedeckte Säulen- hallen verbunden, welche den frommen Pilgern und hilfebedürftigen Kranken als Aufenthaltsort dienten. ^ Die meisten Asklepieien zeichneten sich durch ihre gesunde Lage und anmuthige Umgebung aus. Sie wurden in einer fruchtbaren Gegend auf Bergen und Hügeln, in der Nähe von Wäldern und Hainen, welche vor schädlichen Winden und bösartigen epidemischen Einflüssen schützten, und an Flüssen und Quellen, die ein erfrischendes wohlschmeckendes Trinkwasser boten, errichtet;^ einige hatten heilbringende Thermen und Mineralquellen, welche gegen Krankheiten einen grossen Ruf genossen. Diese Gesund- heitstempel waren mit lieblichen, wohlgepflegten Gärten umgeben, in denen stets frisches Wasser floss, und enthielten in ihrem Innern Statuen, Wandgemälde und Weihgeschenke aller Art Neben den Bildsäulen des Asklepios und anderer Gottheiten gab es Gedenksteine, welche an berühmte Ärzte als Lieblinge der Götter erinnerten.*

Strenge Vorschriften wachten darüber, dass diese Heiligthümer rein gehalten und vor Schädlichkeiten, die ihre günstigen hygienischen Zustände gefährden konnten, bewahrt wurden. An der Pforte des Tempels zu Epidauros standen die Worte: „Wer hier eintreten will, muss ein keusches Gemüth besitzen!"^

Dort durfte ebensowenig wie in Delos eine Frau gebären oder ein Todter begraben oder verbrannt werden; selbst wenn ein Kranker starb.

^ JoH. Heinb. Schujdze zählt in seiner Historia medicinae (Lips. 1728) S. 118 125 eine grosse Anzahl von Asklepieien auf und nennt dabei die Au- toren, von denen sie erwähnt werden.

' Pausakias n, c. 11. 27 u. ff. X, 32 und Girabd a. a. 0. p. 5.

» Pausanias III, 24. Vin, 32. Vitruv de archit I, c. 2.

*• Anaqkostakis im Bull, de corr. hellen. I, p. 212, pl. IX.

° Clemens Alexand.: Stromat. V, c. 1, 13.

Bei den Oriechen vor Hippokrates. 33

so galt das Heiligthum als entweiht. Die Personen, welche hier Hilfe suchten, wurden sorgfältigen Reinigungen unterworfen, mussten Bäder im Flusse, im Meere oder in der Quelle nehmen und einige Tage fasten und sich des Weines enthalten, bevor sie den Tempel betreten und der Gottheit Gebete und Opfer darbringen durften.

Wohlriechende Düfte, die aus den Räucherungen aufstiegen, er- füllten die Luft, und der Gesang der Priester, weiche die Macht und Güte des Heilgottes priesen, ergriff die Seele. Die Gespräche mit den Leidensgenossen, welche die Kranken in den Hallen des Tempels trafen, und der Anblick der zahlreichen Weihetafeln und Inschriften, die von glücklichen Heilungen berichteten, welche hier stattgefunden hatten, gaben ihnen Vertrauen und Hoffnung. Willig überliessen sie sich daher den Anordnungen der Priester, und mit peinlicher Sorgfalt befolgten sie deren Vorschriften.

Wie in dem berühmten Amphiaraion und anderen alten Orakel- stätten, wurden auch in den Tempeln des Asklepios die Heilmittel aus den Traumen gelesen. Die Kranken schliefen während der Nacht in den Hallen des Tempels und erwarteten die Träume, in denen sich ihnen die Gottheit offenbaren sollte. Wenn darin die Behandlung des Leidens nicht klar und deutlich angegeben wurde, so erzählten sie den Inhalt des Traumes den Priestern und deren Gehilfen, welche ihn deuteten und die Heilmittel nannten, welche angewendet werden sollten. Hatte der Kranke in der ersten Nacht keinen Traum, so brachte er zu diesem Zweck eine zweite und dritte Nacht im Asklepieion zu. Blieben die Träume überhaupt aus, so bat er einen der Priester des Tempels oder einen anderen frommgläubigen Mann, für ihn dort zu schlafen und zu träumen.

Diese Stellvertretung war schon bei den Orakeln üblich^ und führte später zu Betrügereien, indem schlaue Spekulanten, ähnlich manchen spiritistischen Medien der heutigen Tage, den Verkehr mit den überirdischen Wesen zu einem einträglichen Geschäft machten. ^ Noch plumper war der Schwindel, wenn die Priester in der Maske des Gottes Nachts den Besuchern des Tempels erschienen, um dadurch bei ihnen die Vorstellung hervorzurufen, als ob sie träumen; Akisto- PHANES hat dies in seinem Lustspiel Plutos in einer derbkomischen Weise geschildert.^

Die Heilmittel, welche verkündet wurden, waren wenigstens in

1 Hbbodot Vni, c. 134.

* Vergl. die Biographie des ApoUonios von Tyana von Philostratos I, 8, 9. IV, 1.

* V. 620 u. ß,

PU8CHMANN, Unterricht. 3

34 Der medidmsclie Unterricht im Alterthum.

der älteren Zeit mehr diätetischer und psychischer Natur als medi- camentös. Manche der empfohlenen Kurmethoden waren durchaus rationell/ und ganz geeignet, einen Heilerfolg herbeizufuhren. Dies erklärt sich dadurch, dass die Traumbilder, den vorherrschenden, zu- weilen einzigen Interessen der Schlafenden entsprechend, halb oder ganz vergessene Erinnerungen an glückliche Kuren aus der Tiefe der Seele hervorholten. Wo dieselben fehlten, da halfen die Priester, welche durch die Tradition und die eigene Erfahrung einige ärztliche Kennt- nisse erworben hatten, mit ihren Erklärungen und Bathschlägen. Wenn sie damit keinen oder einen ungünstigen Erfolg hatten, so zogen sie sich durch sophistische Kunststücke aus der peinlichen Lage heraus.^

Die Priester der Asklepios-Tempel waren nicht Ärzte, wie Viele annehmen. Allerdings gab es unter ihnen sowohl wie unter ihren Gehilfen, den Zakoren, Manche, welche in der Heilkunde erfahren waren ^ und dieselbe vielleicht sogar systematisch erlernt hatten. Aber zwischen der Heilkunst, welche in den Asklepios-Tempeln geübt wurde, und derjenigen der Berufsärzte bestand der grosse Unterschied, dass die erstere nicht als eine Frucht der menschlichen Erkenntniss, sondern als göttliche Offenbarung erscheinen wollte. Das Eingreifen von Ärzten musste daher hier mindestens überflüssig erscheinen. Aus diesem Grunde ist es auch nicht wahrscheinlich, dass zwischen den Asklepios- Priestem und den Ärzten ein gegensätzliches oder feindschaftliches Verhältniss bestanden hat* Es liegt vielmehr näher, das Gegentheil anzunehmen, wenn man erfahrt, welche demuthvolle Verehrung die Ärzte, die Asklepiaden, den Heiligthümem des AsHepios zollten, welches hingebende Vertrauen sie seinen vermeintlichen Aussprüchen in ver- zweifelten Fällen ihrer Praxis entgegen brachten.

Die Asklepiaden Hessen sich mit Vorliebe in der Nähe der Asklepios- Tempel nieder und gründeten dort ärztliche Schulen. Unter diesen erlangten diejenigen, welche zu Rhodos, Kroton, Kyrene, Kos und Knidos entstanden, den bedeutendsten Buf. Zwischen ihnen entwickelte sich ein edler Wettstreit, welcher die Entwickelung der medicinischen Wissenschaft begünstigte. * Auch musste der Verkehr der Asklepiaden

^ Vergl. Vebcoutbe: La mMecine sacerdotale dans Tantiquit^ grecque in der B^vue arch^olog., Paris 1885, ser. IH, T. 6, p. 285 u. ff. v. Willamowitz- Moellendobff: Die Kur des M. J. Apellas in dessen Philol. Untersuchungen, Berlin 1886, H. 9, S. 116 u. ff.

* Abtemidob: Oneirocrit. V, 94. GmAai> a. a. 0. p. 34.

* Maloaione im Journal de Chirurgie, Paris 1846, IV, p. 340. -— Ch. Dabem- BEEG in der K^vue archöol., Paris 1869, T. 19, p. 261 u. ff.

6 Galen: Ed. Kühn, T. X, p. 5.

Bei den Griechen vor Hippokrates. 35

in den Tempeln, wo sie Leiden aller Art sahen, von erfolgreichen Kuren und den Mitteln, die dabei angewendet wurden, hörten und die Danksagungen der Geheilten lasen, auf sie anregend wirken und ihre ärztlichen Kenntnisse und Erfahrungen vermehren.

Die Asklepiaden-Schulen waren Vereinigungen von Ärzten, welche den gleichen wissenschaftlichen Theorien huldigten, und entsprachen eher unsem Akademien als unsem Facultaten. Die Erziehimg der Ärzte geschah nach derselben Methode, wie in der ältesten Zeit, indem der Lehrer einen oder mehrere Schüler in den Kenntnissen und Fertig- keiten unterrichtete, welche die Ausübung der Praxis verlangt.

Bei der Aufnahme der Schüler beschränkte man sich nicht mehr wie ehemals auf die Sprösslinge der Familien, welche ihre Abstanmiung von Asklepios ableiteten;^ und wenn die Asklepiaden durch die Führung ihrer Geschlechtsregister diesen Glauben zu erhalten suchten, so wollten sie damit wohl nur darthun, dass die Heilkunst ihres Stammvaters Asklepios von ihnen rein und unverfälscht übermittelt werde.* Aus dem gleichen Grunde befahlen sie auch ihren Schülern strenge Ge- heimhaltung ihrer Lehren und verboten ihnen, dieselben Andern, die nicht der Asklepiaden-Zunft angehörten, mitzutheilen. ^ Derartige Mass- regeln wurden auch von anderen gelehrten Genossenschaften, nament- lich wenn dieselben, wie hier die gemeinsame Verehrung des Asklepios, ein religiöses Band umschlang, angewendet, um die Frofanation ihrer Geheimnisse zu verhüten.

Der medicinische Unterricht begann schon in früher Jugend. War der Vater Arzt, so war er auch der erste Lehrer seines Sohnes, der sich der Heilkunde widmete und dann seine spätere fachmännische Ausbildung bei anderen tüchtigen Ärzten suchte und fand.

Der Lehrer theilte den Schülern seine Ansichten über den Bau und die Funktionen des Körpers mit, erklärte ihnen die Ursachen der Krankheiten und führte sie an das Krankenbett, um ihnen dort die Er- scheinungen der verschiedenen Leiden und ihre Behandlung zu zeigen.

Die Schüler mussten für den Unterricht ein Honorar zahlen* und waren verpflichtet, den Söhnen ihres Lehrers unentgeltlich die Heil- knnst zu lehren.

1 Galbn a. a. 0. T. II, p. 281.

^ Übrigens stammen die noch vorhandenen Bruchstücke der genealogischen Tafeln der Asklepiaden aus später Zeit und können daher nicht Anspruch auf Authencität erheben. Tzetzes (12. Jahrhundert n. Chr.): Histor. var. chil. ed. Th. Kiessimg, Lips. 1826, p. 276, v. 944—989.

» Hippokäatbs: Ed. littr^, T. IV, p. 642.

* Platon: Menon c. 27. pBOTAeoB4.s c, 3.

3*

36 Der medioinische Unterricht im Alterthum.

Wenn die Ausbildung des Schülers beendet war, so wurde er in die Genossenschaft der Asklepiaden aufgenommen, wobei er folgenden Eid ablegte :i

„Ich schwöre bei ApoUon, dem Arzte, bei Asklepios, bei der Hj- gieia und Panakeia und bei allen Göttern und Göttinnen, und nehme sie zu Zeugen, dass ich diesen meinen Eid nach meinen Kräften und Fähigkeiten halten will. Ich werde Denjenigen, welcher mir die Heil- kunst gelehrt hat, wie meine Eltern achten, mit ihm den Lebens- unterhalt theilen und für seine Bedürfnisse Sorge tragen. Seine Kinder sollen von mir wie Geschwister betrachtet werden, und seinen Söhnen werde ich, falls sie die Heilkunst zu erlernen wünschen, dieselbe ohne Bezahlung und ohne Verpflichtung lehren. Die ärztlichen Vorschriften und Alles, was ich von der Heilkunst gehört und gelernt habe, will ich meinen eigenen Söhnen sowohl wie denen meines Lehrers und meinen Schülern, die auf das ärztliche Gesetz verpflichtet und vereidet worden sind, mittheilen, sonst aber Niemandem. Die Lebensweise der Kranken werde ich, soweit ich es vermag und verstehe, zu ihrem Vor- theil regeln und sie vor Schädlichkeiten und Kränkungen schützen. Niemals will ich ein tödtliches Mittel verabreichen, auch nicht, wenn man mich darum bittet, noch einen darauf hinzielenden Kathschlag ertheilen. Ebensowenig werde ich jemals einem Weibe ein die Frucht abtreibendes Mutterzäpfchen geben. Keusch und heilig wiU ich mein Leben verbringen und meine Kunst halten. Die Castration werde ich nicht einmal bei Denen, welche an der Steinkrankheit leiden, ausführen, ^

1 HiPPOKRATEs a. a. 0. T, IV, p. 628—632.

2 Die Worte: ot) r^fiita dk ottSk fiijv U&i&vraq haben den Erklärem und Über- setzern von jeher grosse Schwierigkeiten bereitet. Die Meisten glaubten, dass sich der Schwörende darin verpflichtet, den Blasensteinschnitt nicht auszuführen. Bei dieser Deutung ist aber das odök fiijv des Textes überflüssig und sinnstörend, da die Operation des Blasensteinschnitts doch nur an Solchen, welche am Blasen- stein leiden, vorgenommen werden konnte. Littb6 conjicirte deshalb ahiovraq für Xi&iGivraq, so dass die Übersetzung lauten würde: „Ich werde den Blasenstein nicht operiren, selbst dann nicht, wenn mich die Kranken darum bitten." Aber vielleicht bezieht sich die Stelle überhaupt nicht auf den Blasensteinschnitt; denn die Ärzte jener Zeit scheuten sich keineswegs, andere Operationen auszuführen, und beschäftigten sich auch mit der Untersuchung und Behandlung der Blasen- leiden (HippoKBATEs a. a. 0. T. VI, p. 150). Grössere Berechtigung hat die Ansicht R. Moreau's, Chaepignon's u. A., dass es sich in der obigen Stelle um das Verbot der Gastration handelt, da dasselbe im Zusammenhang mit an- deren schimpflichen Dingen, z. B. der Verabreichung von Giften, der Kindes- abtreibung u. a. m. erscheint. Zudem kommt das Wort rifivuv in diesem Sinne in der griechischen Literatur vor; freilich werden dafür häufiger die Composita kvLTifiyuv und dnorifivHv gebraucht Das darauf folgende otSk fiijv Xi&t&vraq be-

Bei den Griechen vor Hippokrates. 37

sondern dies den Leuten überlassen, welche daraus ein Geschäft machen. Wenn ich ein Haus betrete, so soll dies zum Heil der Kranken ge- schehen. Ich will Niemandem absichtlich Unrecht thun und irgend welchen Schaden zufügen und weder Frauen noch Männer, weder Freie noch Sklaven zur Unzucht verführen. Was ich in meiner ärztlichen Praxis und ausserhalb derselben in Bezug auf das Leben der Menschen sehen oder hören werde, darüber will ich, wenn es niemals öffentlich bekannt werden soll, Schweigen beobachten und es als ein Geheimniss bewahren. Möge es mir, wenn ich diesen Eid erfülle und nicht breche, beschieden sein, das Leben und die Kunst zu geniessen und immer- währenden Ruhm zu ernten bei allen Menschen! Wenn ich aber den Eid übertrete und meineidig werde, so soll mich das Gegentheil treffen!"

Aus dem Wortlaut dieses Eides, welcher ohne Zweifel der Vor- Hippokratischen Zeit angehört, geht hervor, dass die Castration, die zum Zweck der Lieferung von Eunuchen vorgenommen wurde, Leuten über- lassen blieb, welche die Ausführung dieser Operation geschäftsmässig betrieben. Vielleicht wurden auch andere Theile der Chirurgie, z. B. der Blasenschnitt, und die Behandlung der Knochenbrüche und Ver- renkungen, von Empirikern ausgeübt, die sich darin eine grosse Ge- .wandtheit und Sicherheit erworben hatten?^

Jedenfalls lässt sich annehmen, dass es ausser den Asklepiaden noch andere Ärzte gab, welche nicht der Genossenschaft derselben an- gehörten. ^ Erst später wurden alle Ärzte „Asklepiaden" genannt.

Grossen Einfiuss auf die Entwickeluag der Heilkunde und besonders auf die Bildung der Ärzte übten die Philosophen aus. Die griechischen Weisen, welche die Ursachen und das Wesen der Dinge zu ergründen

deutet dann, dass die Castration nicht einmal bei Denen, welche am Blasenstein litten, gestattet war, obwohl bei ihnen die Bedenken dagegen geringer sein mussten, da der Steinschnitt bei der damals üblichen Operationsmethode wegen der damit verbundenen Zerstörung der Samenausfuhrungsgänge gewöhnlich Zeugungsunfähigkeit im Gefolge hatte. Übrigens hat U&$av auch die Bedeutung „an einer steinartigen verhärteten Anschwellung leiden'^ und wird nach Th. Gom- PEBz in diesem Sinne von Verhärtungen an den Augenlidern, den Gelenken, der Gebärmutter u. a. m. gebraucht. Vielleicht bezieht es sich hier auf die Hoden und die obige Stelle muss übersetzt werden: „Ich werde die Castration nicht' einmal bei denen, deren Hoden verhärtet sind, ausfuhren"? Vergl. Charpionon: Etüde sur le serment d'Hippocrate, Orleans und Paris 1881. Th. Puschicann in Bubsian's Jahresber. f. Alterthums Wissenschaft 1884, HI, p. 55 und in den Jahresber. über d. Fortschr. d. ges. Medicin, herausgeg. v. VmcHow u. Hibsch 1883, I, S. 326.

* Vergl. H. Haeseb: Geschichte der Medicin, 3. Aufl., Jena 1875, I, S. 88.

* Welcker a. a. 0. S. 103 u. flf.

38 Der medidnische Unterricht im Älterthu/m.

suchten, zogen vor Allem den Menschen und die ihn umgebende Natur in Betracht. Pythagoras, welcher das Grundprincip alles Seins in der Zahl, in den Massverhältnissen, in der Gesetzmässigkeit sah, war Arzt und beschäftigte sich mit dem Bau des Körpers, der Thätigkeit der Sinne und der Seele, sowie mit der Zeugung und Entwickelung des Menschen.

Nach längerem Aufenthalt in fremden Ländern, namentlich in Ägypten, wo er in das Wissen der gelehrten Priester eingeweiht wor- den sein soll,i üegg er sich in der griechischen Pflanzstadt Kroton in Unter-Italien nieder, wo sich die berühmte Asklepiaden-Schule befand. Dort gründete er einen Bund, welcher weniger philosophische, als ethische und politische Ziele anstrebte. Seine Mitglieder waren haupt- sächlich Ärzte und fanden hier bald einen Mittelpunkt für ihre gemein- samen wissenschaftlichen Interessen. Sie widmeten ihre Aufmerksam- keit vorzugsweise der Diätetik und suchten durch einfache Mittel, durch Umschläge, Einreibungen und Salben die Heilung herbeizuführen; die Chirurgie wurde von ihnen vernachlässigt.^

Unter den Anhängern des Pythagoras werden die Ärzte Philo- LAOS, Elolathes, wclcher die Gesundheit von dem Gleichmass der Flüssigkeiten im Körper ableitete und sie mit der musikalischen Har- monie verglich,^ Epimarch, Metrodoros u. A. genannt. Wahrschein-, lieh gehörten auch Alkmaeon und Demokedes, welche ihre ärztliche Ausbildung in Kroton erhalten hatten, zu seinen Schülern. Der letztere verbreitete durch seine glücklichen Kuren den Buhm der Heilkunst seiner Heimath in fernen Ländern und erlangte eine hervorragende Stellung am Hofe des Königs Darius,* dessen verrenkten Fuss er nach den vergeblichen Versuchen seiner ägyptischen Leibärzte wieder einzu- richten vermochte.

Alkmaeon soll der Erste gewesen sein, der anatomische Zerglie- derungen unternahm und dabei den Ursprung der Sehnerven aus dem Gehirn entdeckt haben. ^ Er erklärte, dass die menschliche Seele un- sterblich und gleich den Gestirnen in ewiger Bewegung begriffen sei. Er versuchte, die Entstehung der Sinnesempfindungen zu erklären, und stellte die erste Theorie des Schlafes auf. „Wenn das Blut,*' sagte er, „in die grossen Blutgefässe zurücktritt, so entsteht der Schlaf; wird es

^ DiODOR. I, 69. 98. 2 Jamblioh: de vita Pythag. cap. 29, § 163 u. ff.

« Kühn: Opusc. acad., Lips. 1827, I, p. 47—86.

* Hebodot III, c. 129—134.

* CHALOiDiirs in Piaton. Timaeum ed Meursius, Lugd-Bat, 1617, p. 340. M. A. Unna: De Alcmaeone Crotoniata ejuBque £raginentis quae supersunt in Ch. Petersen: Philologisch-historische Studien, 1. H., Hamburg 1832, S. 41—87.

Bei den Qrieohen vor Hippohrates. 89

aber wieder in die kleineren zerstreut, so erfolgt das Erwachen.^* ^ Weniger Beachtung verdienen seine Ansichten über die Ernährung des Kindes im Mutterleibe und über die Ursachen, welche der Unfrucht- barkeit der Bastarde zu Grunde liegen.

Einer der hervorragendsten Naturphilosophen jener Zeit war Em- PEDOKiiES, der, an die Ewigkeit der Welt glaubend, das Entstehen und Vergehen der Dinge bestritt,* und überall nur Veränderungen sah, welche sich in Vereinigung und Trennung äussern und durch die Liebe und den Hass hervorgerufen werden. Er stellte, wie Abistotelbs be- richtet, ^ die Lehre von den vier Elementen auf, welche auf die Physio- logie und Pathologie der Späteren den weittragendsten Einfluss aus- übte, und ahnte bereits den grossen Schöpfungsgedanken, dass die Ent- wickelung der Organismen von den niederen Formen zu den höheren fortschreitet, und dass nur das Zweckmässige erhalten bleibt. Er glaubte, dass nicht blos der Mensch und die Thiere, sondern auch die Pflanzen beseelt seien, beschäftigte sich mit den Sinnesempfindungen und der Athmungsthätigkeit, die er auf mechanische Weise zu erklären versuchte, und betrachtete das Labyrinth im Ohr als den Sitz des Gehörs.

Seine Zeitgenossen Anaxagobas aus Elazomene und Diog^enes aus ApoUonia widmeten vorzugsweise der Anatomie ihre Aufmerksamkeit. Der Erstere nahm Zergliederungen von Thieren vor* und bemerkte die Seitenventrikel des Gehirns; auch war er der Erste, der die von den späteren Ärzten zum Dogma ^ erhobene Meinung aussprach, dass die Galle die Ursache der akuten Krankheiten sei. Diogenes hinter- liess eine Beschreibung des Gefasssystems, die freilich sehr viele Irr- thümer enthält.®

Hebaklit sah in der beständigen Umwandlung der Form, in dem ewigen Wechsel der Dinge, das eigentliche Wesen derselben. Wie Empedokles, so schrieb auch er dem Feuer, der inneren Wärme, einen wichtigen Einfluss auf die Vorgänge im Organismus zu. Seine An- sichten erhielten im Lehrgebäude der Hippokratiker einen Platz und spielten in der Physiologie und Pathologie lange Zeit eine hervor- ragende Rolle.

In noch höherem Grade war dies der Fall mit den Theorien des

^ Plütarch: de placit. philos. V, c. 24. ^ HippoKBATES a. a. 0. T. VI, p. 474.

^ Aristoteles: Metaph. I, 3. 4. * Plutarch: Perikles, c. 6.

^ S. die Nach-Galen'sche Schrift über die kritischen Tage in Hippokrates a. a. 0. T. IX, p. 300 u. ff.

^ Aristoteles: Hist. anim. III, 2.

40 Der mediomische Unterricht vm Alterthu/m,

L:ßuKippos und Demokeit. Der Materialismus, welcher ihre Atomen- lehre beherrschte, fährte zur Erforschung der Natur, also auf den Weg, der allein Erfolge verspricht. Demokbit ^ widmete sich selbst mit grossem Eifer anatomischen Untersuchungen und scheint darin sehr geschickt gewesen zu sein, da er über den Bau des Chamäleons eine besondere Abhandlung zu verfassen vermochte.^ Auch soll er über verschiedene Krankheiten, über die Hundswuth, über die Heilwirkungen der Musik ^ u. a. m. geschrieben haben.

Eine aus dem Alterthum* stammende Sage erzählt, dass Heppo- KßATES von den Landsleuten des wunderlichen Forschers, die ihn für geistesgestört hielten, nach Abdera berufen wurde, um ihn zu unter- suchen. Als er die Fülle von Wissen und Geist, die in Demokeit wohnte, erkannte, mag er sich wohl zu dem Ausspruch gedrängt ge- fühlt haben, dass er der Weiseste aller Menschen sei. Er verdankte dem Verkehr mit ihm manche Anregung und wahrscheinlich auch manche Kenntnisse.^

Die Philosophen rechneten das Studium des Menschen und der Krankheiten zu ihren wichtigsten Aufgaben.® Viele unter ihnen ge- hörten dem ärztlichen Stande an und übten die Heilkunst aus.

Dieses fruchtbare Wechselverhältniss zwischen der Philosophie und der Medicin erhielt sich auch später und hatte für beide Wissenschaften Vortheile; jene zog es von der leeren Spekulation ab und stellte sie auf den Boden der Thatsachen, dieser gab es eine tiefere Auffassung der Dinge und eine allgemeine wissenschaftliche Grandlage für ihre Bestrebungen und Ziele.

Zur Zeit des Hippokrates.

Die medicinische Schule zu Rhodos scheint nur kurze Zeit be- standen zu haben; denn die späteren Autoren gedenken derselben nicht mehr.^

* Aeistoteles: de generat. I, 2. Cicero: Tusc. quaest. V, 39.

2 Pliniüs: Hist. nat. XXVIII, c. 29. » Gellius: Noct. Attic. IV, c. 13.

* Hippokeates a. a. 0. T. IX, p. 320—386. Soranus: Leben des Hippo- krates in Ideler: Physici et medici Graeci minores (Berlin 1841) T. I, p. 253. Aelianus: var. bist. IV, c. 20.

* Celsüs: Praef. Soranüs a. a. 0. p. 252. Boethius: de musica I, 1. ® Aristoteles: de respir. c. 8. Celsüs: Praef.

^ Galen a. a. 0. T. X, p. 6.

Zur Zeit das Hippokrates, 41

Im 5. Jahrhundert v. Chr. genoss die medicinische Schule zu Kroton den grössten Euf, was sie vielleicht zum Theil ihren Beziehungen zu den Pythagoreern verdankte. Die zweite Stelle behauptete die Schule von Kyrene, ^ wo auch andere Wissenschaften, besonders die Mathematik und die Philosophie, eifrig gepflegt wurden.^

Nicht viel später blühten die Asklepiaden-Schulen zu Knidos und Kos. Leider ist die diesen Gegenstand behandelnde Schrift^ des Theo- POMPOS verloren gegangen; doch besitzen wir in der Hippokratischen Sammlung eine Quelle, die uns über die Leistungen und einzelne Ein- richtungen derselben werthvoUe Aufschlüsse giebt.

Darnach bestanden zwischen diesen beiden Schulen wesentliche Verschiedenheiten in Bezug auf die medicinischen Theorien und die ärztlichen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Die Knidischen Ärzte waren gute Beobachter und geschickte Chirurgen, zeigten Interesse für wissenschaftliche Fragen und liebten eine möglichst einfache Be- handlung.

Da uns aber das Werk, in welchem ihre Grundsätze niedergelegt waren, nämlich die Knidischen Sentenzen, nicht überliefert worden ist, so sind wir, wenn wir uns eine Ansicht über ihre wissenschaftliche Bedeutung bilden wollen, auf die wenigen darauf bezüglichen Bemer- kungen angewiesen, die sich in anderen Schriften des Alterthums er- halten haben. Sie rühren zum Theil von Gegnern der Knidischen Schule her und sind in Folge dessen weder wohlwollend noch gerecht. So wird ihr der Vorwurf gemacht, dass sie sich damit begnüge, die subjectiven Klagen der Kranken zu erforschen, und darüber die genaue objective Untersuchung des Körpers vernachlässige.*

Ferner wurden die Knidischen Ärzte getadelt, weil sie die Krank- heiten nach den einzelnen Körpertheilen und Organen eintheilten und zu viele Formen derselben unterschieden. Sie stellten z.B. sieben Arten der Erkrankung der Galle, zwölf der Harnblase, vier der Nieren, eben- soviel der Strangurie, drei Formen des Tetanus, vier der Gelbsucht, drei der Schwindsucht und mehrere Formen der Bräune auf, indem sie hauptsächlich die Entstehungsursache als Unterscheidungsmerkmal annahmen.^ Ihre Schilderung der Krankheitserscheinungen war kurz

^ Hbeodot III, c. 131.

Vergl. Houdabt: Histoire de la medecine grecque depuis Esculape jusqu'ä Hippocrate, Paris 1856, p. 128 u. ff.

8 Photii Bibl. p. 120^ ed. Bekker.

* HippoKBATES a. a. 0. T. II, p. 224.

« HippoKBATES a. a. 0. T. VII, p. 188 u. ff. Galen a. a. 0. T. XV, p. 363—64.

42 Der medieiniscke Unterricht im Alterthtmi.

und treffend, wie man aus dem die Nephritis betreffenden Fragment bei ßuFus erkennt.^

In chronischen Krankheiten verordneten sie hauptsächlich Milch, Molken und Abführmittel, bei der Schwindsucht empfahlen sie ausge- dehnte Spaziergänge. Eubyphon, einer der bekanntesten Ärzte dieser Schule, der zur Zeit des Hippottrates lebte und sich als medicinischer Schriftsteller auszeichnete,^ rieth den Schwindsüchtigen, die Milch von Eselinnen zu trinken oder an den Brüsten der Frauen zu saugen;.^ auch soll er bei diesem Leiden Moxen angewendet haben, wie aus einer Scene des Komikers Platon hervorgeht.* Ein anderer Vertreter der Knidischen Schule, Ktesias, lebte lange Zeit als Leibarzt am persischen Hofe und verfasste historische Arbeiten über Persien und Indien und einige medicinische Schriften.^ Von den übrigen Knidischen Ärzten jener Zeit wissen wir wenig mehr als ihre Namen.®

Die Nachrichten über die Schule von Knidos sind fast noch spär- licher als die Überreste, welche von der blühenden Cultur dieses Ortes zurückgeblieben sind.

Mehr begünstigt vom Schicksal war die medicinische Schule zu Kos. 7 Ihre Verdienste um die Heilkunde wurden von Hippokeates, ihrem berühmtesten Vertreter, dem Andenken der Nachwelt überliefert. Ihm verdankten es die Ärzte von Kos, dass ihre Schriften von den Späteren zur Grundlage des medicinischen Lehrgebäudes gemacht wur- den, und dass ihre Schule noch heute mit Bewunderung und Ehrfurcht genannt wird.

„Ein Strahl des Buhmes fiel auf sie,

Ein Strahl, der ihr Unsterblichkeit verlieh.*-

HiPPOKRATES, dessen Lebenszeit ungefähr in d. J. 460 377 v. Chr. fällt, war ein Sprössling einer alten Asklepiaden-Familie, die auf der Insel Kos ihren Sitz hatte und ihren Ursprung bis auf Asklepios und Herakles zurück verfolgte. Sein Grossvater und Vater zeichneten sich durch ihre ärztliche Tüchtigkeit aus. Von dem letzteren erhielt Hippo- KRATES den ersten Unterricht in der Heilkunde. Zu seiner weiteren

* Oeuvres de Rufus d'Eph^se, ed. p. Dabemberq et Euelle, Paris 1879, p. 159.

« Galen a. a. 0. T. VI, p. 473. XI, 795. XV. 136. XVH, A. 886. XIX, 721.

» Galen a. a. 0. T. VII, 701. * Galen a. a. 0. T. XVIII, A. 149,

^ DiODOB II, c. 32. Oeuvres d'Oribase ed. p. Büssehakea et Daremberg, Paris 1851—76, T. II, p. 182. Galen a. a. 0. T. XVIII, A. 731.

® HoüDART a. a. 0. p. 255 u. fF.

^ Über die im Auftrage der französischen Regierung auf der Insel Kos unternommenen Ausgrabungen und ihre Ergebnisse berichtet M. Dübois: De Co insula, Paris 1884.

Zmr Zeit des HijppokrcUes, 43

ärztlichen Ausbildung begab er sich nach Athen, wo er mannigfache Anregung und Belehrung empfing.

Dort strömte damals Alles zusammen, was Griechenland Grosses, Schönes und Edles besass. Es war das Zeitalter des PEurKLEs, jene Periode äusseren Glanzes, bürgerlichen Wohlstandes und künstlerischen Schaffens, in welcher der Geist des Hellenismus unvergängliche Triumphe feierte. Neben den Philosophen Sokäates und Platon erschienen die grossen tragischen Dichter Euripides und Sophokles, der Geschichts- schreiber Thukydides, der Bildhauer Phidias und der Architekt Mne- siKLES und erfüllten die Welt mit ihrem Ruhm, während der Lustspiel- dichter Abistophanes und die Lyriker Jon von Chios und Diontsios die Gemüther zur Freude und Heiterkeit stimmten. Athen wurde durch grossartige Bauwerke verschönert; es entstanden die Propyläen, der Tempel der Athene mit seinem reichen Schmuck an Statuen und Skulpturen, die prachtvolle breite Treppe, die zur Akropolis führte, und das Odeon; damals schuf Phidias den olympischen Zeus und die beiden Statuen der Pallas Athene.

Derartige Eindrücke mussten auf die geistige Entwickelung des HipPOKBATEs Einfluss ausüben, seinen Ehrgeiz anregen und seine That- kraft stählen. Im Verkehr mit hervorragenden Ärzten und Philosophen suchte er die Gelegenheit, sich in seinem Fach zu vervollkommnen; und bald gelang es ihm, in diesen Kreisen eine angesehene Stellung zu erringen.

Seine glücklichen Heilerfolge machten ihn zu einem gesuchten Arzt, dessen Ruf die Grenzen seines Vaterlandes überschritt. Er wurde bald in diese," bald in jene Stadt berufen, um in schwierigen Krank- heitsfällen seinen ärztlichen Rath zu ertheilen.

Sein Ruhm führte ihm eine Menge von Schülern zu, welche sich unter seiner -Leitung zu tüchtigen Ärzten auszubilden hofften.^ Unter ihnen befanden sich seine Söhne Thessalos und Drakon, sowie sein Schwiegersohn Polybos. Thessalos nahm, wenn sich die in den pseud- hippokratischen Schriften enthaltene, aus dem Alterthum stammende Rede desselben an die Athener ^ auf Thatsachen stützt, in seiner Jugend als Militärarzt an der Expedition des Alkibiades nach Sicilien Theil, lebte später als Leibarzt am Hofe des Königs Archelaos von Macedo- nien ^ und galt als der Verfasser mehrerer Schriften der Hippokratischen Sammlung.* Dass einige Theile derselben von Polybos herrühren, ist

* HippoKRATES a. a. 0. T. IX, p. 420. Soranus a. a. 0. p. 254.

* HippoKBATES a. a. 0. T. IX, 404. 3 Galen a. a. 0. T. XV, p. 12.

* Galen a. a. 0. T. VII, 855. 890. IX, 859. XVH, A. 796. 888.

44 Der medicinisohe Unterricht im Alterthum.

historisch nachgewiesen; denn Abistotbles citirt ein Fragment über die Vertheüung der Blutgefässe aus einem Buch des Polybos, welches sich wörtlich in der Hippokratischen Schrift über die menschliche Natur findet.^ Polybos übte in Kos die ärztliche Praxis aus und er- theilte später an der Stelle seines Schwiegervaters den medicinischen Unterricht. 2

Über das Leben des Hippokbates haben sich eine Menge von Sagen und Legenden gebildet, von denen jedoch nur wenige wahr sein dürften. So ist die Erzählung, dass er die Bibliothek von Knidos* oder den Asklepios-Tempel seiner Vaterstadt^ verbrannt habe, damit er als Erfinder der in den Inschriften desselben niedergelegten medicini- schen Weisheit, die er sich angeeignet habe, angesehen werde, ganz sicherlich erdichtet; denn sie widerspricht Allem, was über den Cha- rakter des Hippokbates bekannt ist. Auch würde er, wenn er eine solche Herostratos-That begangen hätte, anstatt der allgemeinen Ver- ehrung, die ihm im Alterthum gezollt wurde, nur Verachtung gefunden haben, mochte er auch noch so bedeutend in seinem Fach sein.

Aus den Schriften, welche ihm zugeschrieben werden, spricht echte Menschenliebe , aufrichtige Eeligiosität und glühender Patriotismus. Den aufregenden kleinlichen Agitationen der politischen oder socialen Parteien hielt er sich fern und lebte nur seiner Wissenschaft und seinem Beruf. Von ihm konnten die Worte gelten, die Eubipides dem Naturforscher zuruft:

„0 selig der Mann,

Der prüfend des Wissens Grebiete durchmass, .

Den nicht zu der Bürger verderblichen Streit,

Zu des Unrechts That nicht ziehet der Sinn;

Er durchforschet der ewigen Mutter Natur

Nie alterndes Weltall, wie es entstand;

Nie haftet im Herzen des trefflichen Mannes

Ein Gedanke an schändliche Thaten.^^

Die letzten Lebensjahre verbrachte Hippokbates in Thessalien; er soll auch dort gestorben sein. Noch zur Zeit des Sobanüs^ wurde in der Gegend zwischen Gyrton und Larissa sein Grabmal gezeigt, in dem sich ein Bienenschwarm niedergelassen hatte, dessen Honig als heilsam gegen die Mundgeschwüre der Kinder galt.

^ Vergl. Aristoteles: Hist. animal. IH, c. 3. Hippokbates a. a. 0. T. VI, p. 58, sowie Galen a. a. 0. T. IV, 653. XV, 108. 175. XVIII, A. 8.

* Galen a. a. 0. T. XV, 11. ^ Soranus a. a. 0. p. 253.

* Plinius: Hist. nat. XXIX, c. 1. '^ a. a. 0. p. 254.

Zur Zeit des Hippokrates. 45

Die hohe Bedeutung des Heppokbates wurde schon von seinen Zeitgenossen erkannt; Platon^ verglich ihn mit Polykleitos und Phidias, und Abistoteles^ nannte ihn den „grossen" Hippokrates.

Seine Schriften wurden mit den Werken anderer Mitglieder seiner Familie von seinen Nachkommen aufbewahrt und dienten ihnen zum medicinischen Unterricht und zur Belehrung, wenn sie in ihrer ärzt- lichen Thätigkeit des Bathes bedurften. Als die Ptolemäer anfingen, Bibliotheken zu gründen, und zu diesem Zweck die Werke der be- rühmtesten Schriftsteller ankaufen liessen, gelangten auch Abschriften der Hippokratischen Sammlung nach Alexandria.

Durch die Gewissenlosigkeit gewinnsüchtiger Spekulanten, welche sich die Bücherliebe der ägyptischen Könige zu Nutze machten, ge- schah es, dass bei dieser Gelegenheit manche Schriften berühmten Autoren fö.lschlich zugeschrieben wurden, um ihren Kaufpreis zu erhöhen.^ Die Bibliothekare, welche mit der Durchsicht und Prüfung der erworbenen Bücher beauftragt waren, besessen nicht immer die Kenntnisse und Mittel, um das Echte von dem Falschen zu unterscheiden und die Authenticität der Schriftien festzustellen. Daher kam es, dass einige Werke für die Produkte von Autoren erklärt wurden, welche denselben gänzlich fem standen.

Auch die Hippokratischen Schriften hatten dieses Schicksal; schon zu jener Zeit gab es Bearbeitungen derselben, die im Text wesentliche Verschiedenheiten darboten.* Darf man sich da wundern, dass in die Sammlung, welche ursprünglich nur die Werke des Hippokrates und seiner nächsten Verwandten umfasste, auch Schriften aufgenommen wurden, die nicht von ihnen herrührten?*

Die Abschreiber, welche die in den Bibliotheken vorhandenen Exemplare zur Vorlage nahmen, trugen dazu bei, die irrige Annahme des Hippokratischen Ursprungs einzelner Schriften zu bestätigen und zu verallgemeinem, und kühne Redakteure vergrösserten den Irrthum durch eigenmächtige Zusätze, Ergänzungen und Veränderungen des Textes.® Als Galen seine Commentare zu den Werken des Hjppo- kbates schrieb, hatte er verschiedenartige Becensionen des Wortlauts derselben vor sich; er befolgte dabei, wie er sagt,^ die Methode, stets diejenige Lesart als die richtige anzuerkennen, welche die älteste war.

1 Pbotagoeas c. 3. « Polit. VH, 4.

8 Galen a. a. 0. T. XVI, 5. * Galen a. a. 0. T. XVII, A. 606.

^ Vergl. den Brief des hl. Augustin an Faostus, den Manichäer, L. 33, 6. (T. VI, p. 493. Edit. Proben 1556.)

» Galen a. a. 0. T. XV, 21. XVII, A. 795.

' Galen a. a. O. T. XVH, A. 1005.

46 Der medicinische Unterricht im Alterthum,

Unter diesen Umständen ist es begreiflich, dass schon im Alter- thum Meinungsverschiedenheiten darüber herrschten, welche Schriften von HippOKBATEs verfasst seien oder nicht. Diese Frage hat den Scharfsinn der Gelehrten und Kritiker bis in die neueste Zeit be- schäftigt, und noch in den letzten Jahren haben LrrTJBUß], Eemebins, Kühlewein u. A. den Versuch gemacht, dieselbe der Lösung näher zu bringen.

In ihrer heutigen Gestalt enthält die unter dem Namen des HrppoKEATES bekannte Sammlung medicinischer Schriften neben einer grossen Anzahl von Abhandlungen, die unzweifelhaft von ihm und seinen nächsten Verwandten verfasst sind, eine nicht geringe Menge von Arbeiten, die von anderen Autoren herrühren. Der Zeit des Hippo- KBATES gehören sie fast sämmtlich an; nur wenige Aufsätze stammen aus einer früheren oder späteren Periode.

Sie liefern eine vollständige Übersicht über die medicüiischen Kenntnisse, welche man im Zeitalter des Hippokbates besass, und bringen einige wichtige Mittheilungen über die Einrichtungen des medi- cinischen Unterrichts und die ärztlichen Standesverhältnisse, die wir mit Hilfe anderer literarischer Notizen zu einem abgerundeten Bilde verarbeiten wollen.

Man wusste sehr gut, dass die Heilkunst nicht auf mystischem Wege überliefert, sondern erlernt wird, wie jede andere Kunst, und dass man sich zu diesem Zweck an Lehrer wenden muss, welche die- selbe verstehen und auszuüben wissen.^

Der ärztliche Beruf stand Jedem offen. Das medicinische Studium begann schon in früher Jugend. ^ Der Unterricht war wahrscheinlich ähnlich organisirt wie in der Platonischen Akademie und anderen Schulen der Philosophen; ein Lehrer übernahm die gesammte ärztliche Erziehung des Schülers und machte ihn mit allem Wissenswerthen aus den verschiedenen Zweigen der Heilkunst bekannt.

Als Lehrer durfte Jeder auftreten, der die ärztliche Praxis aus- übte und Kenntnisse und Erfahrungen in der Heilkunde gesammelt zu haben glaubte. Er forderte von dem Schüler, dessen medicinische Aus- bildung er übernahm, für den Unterricht ein Honorar, welches durch einen Vertrag festgestellt wurde und manchmal ziemlich beträcht- lich war.

Bei der Aufnahme des Schülers wurde darauf geachtet, dass der- selbe gesund war; denn der Arzt muss gesund aussehen, weil die Leute

^ PLAtoN: Jon. c. 8. Gorgias c. 14. Über die bürgeifliche Tüchtigkeit (Anfang). * Platon: Der Staat, L. HI, c. 16. Hippokbates a. a. O. T. IV, p. 638.

Zur Zeit des Hippokrates. 47

dann glauben, „dass er auch für die Gesundheit Anderer zu sorgen vermag". ^ Der Verfasser der Hippokratischen Schrift über „den Arzt" macht bei dieser Gelegenheit die humoristische Bemerkung, dass es für den Arzt auch vortheilhaft ist, „wohlbeleibt" zu sein; leider unter- lässt er eine Erklärung, ob sich das Vertrauen der Kranken in diesem [Falle darauf stützte, dass man die Dicken für gutmüthiger hielt als die Mageren oder ihnen grössere Einnahmen, also eine ausgedehntere ärztliche Praxis zuschrieb.

Ferner wurde den Ärzten empfohlen, „sich reinlich zu halten, an- ständig gekleidet zu sein und Pomaden zu gebrauchen, die einen an- genehmen, keinen verdächtigen Geruch verbreiten".^ Manche scheinen diesem Eath eine zu grosse Wichtigkeit beigelegt zu haben, sodass man sich über die mit „Stimlocken geschmückten, pomadisirt^n, mit Bingen überladenen" Heilkünstler lustig machte.^

„Als kluger Mann wird der Arzt sich bemühen, schweigsam zu sein und im Verkehr den feinen Anstand zu bewahren. Am meisten wirken gute Sitten auf die öffentliche Meinung." „Wenn er unüber- legt und voreilig handelt, wird er getadelt." „In seinen Gesichtszügen liege Nachdenken ohne Verdriesslichkeit; er darf nicht anmassend und menschenfeindlich erscheinen. Wer ins Lachen ausbricht und sehr ausgelassen ist, wird für ungebildet gehalten. Davor muss man sich in Acht nehmen. Wenn sich der Arzt richtig zu benehmen weiss, so ist dies viel werth; denn seine Beziehungen zu den Kranken sind sehr intim. Nicht blos diese werden den Händen des Arztes übergeben, sondern er trifft bei ihnen auch ihre Frauen und Töchter und Werth- gegenstände an. Da gilt es, sich zu beherrschen!"*

In einer anderen Hippokratischen Schrift heisst es, dass sich „der Arzt eine gewisse Höflichkeit aneignen soll; denn ein rauhes Wesen missffiUt den Gesunden wie den Kranken". Ferner „soll er mit den Leuten nicht zu viel schwätzen, sondern nur das Nothwendige, was zur Behandlung gehört". Gleich dem echten Philosophen muss er trachten, „frei von Geldgier, zurückhaltend, schamhaft und würdevoll zu sein, sich Meinungen und Urtheile zu bilden, ruhig, umgänglich und sittenrein zu erscheinen, verständig zu reden, Lebensweisheit zu erwerben, sich vor Lastern und Aberglauben zu hüten und durch Frömmigkeit auszuzeichnen." ^

Dem Glauben an die Macht und Güte Gottes giebt der Verfasser

* HipPOKBATfis a. a. 0. T. IX, 204. * Hippokrates a. a. 0. T. IX, p. 266.

ARidTOPHANEs: Wolkeii, v. 380. * Hippokrates a. a. 0. T. IX, 206. ^ HippoKRATEs a. a. 0. T. IX, 232—234.

48 Der medieiniscke Unterricht im Alterthum.

des Buches „über die heilige Krankheit" an einer Stelle, wo er von der Meinung spricht, dass die Krankheiten von Gott gesendet würden, mit den schönen Worten Ausdruck: „Ich glaube nicht, dass der Körper des Menschen von Gott, das Niedrigste von dem Erhabensten besudelt werden kann. Sollte ihm von Jemandem ein Schmutz oder ein Leid zugefügt werden, so wird ihn die Gottheit gewiss lieber reinigen und erheben, als erniedrigen; denn Gott ist es, der uns von den schwersten Freveln reinigt und den Schmutz von uns fortnimmt." ^

Neben der ethischen Erziehung des Arztes wurde seine wissen- schaftliche Ausbildung nicht vernachlässigt. Man ging dabei von der richtigen Anschauung aus, dass er zunächst die normalen Verhältnisse des Körpers studieren muss,^ da die Kenntniss derselben die Grund- lage der ganzen medicinischen Wissenschaft bilde.'

Die Anatomie wurde hauptsächlich an thierischen Körpern erforscht. Die Zergliederung menschlicher Leichname wurde durch religiöse und sociale Vorurtheile verhindert; nur wenn es sich um Feinde und Ver- räther des Vaterlandes oder um schwere Verbrecher handelte, war die Untersuchung menschlicher Körper möglich.

Derartige Gelegenheiten wurden sicherlich von wissbegierigen Ärzten in einzelnen Fällen benutzt, um ihre anatomischen Kenntnisse zu festigen und zu erweitern. Auch die Leichen ausgesetzter Kinder dürften ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein. Desgleichen mag der Einblick in den Bau des Körpers, welcher bei äusseren Verletzungen gewährt wird, nicht ohne Ergebniss geblieben sein.

Verschiedene Erzählungen deuten darauf hin, dass man vor der Eröfiftiung und Untersuchung des menschlichen Körpers nicht zurück- schreckte.* Wenn dabei auch keine wissenschaftlichen Zwecke verfolgt wurden, so wird dadurch doch bewiesen, dass die Möglichkeit, anato- mische Untersuchungen vorzunehmen, gegeben war.

Dass dies wirklich geschehen ist, ist eine Annahme, die durch einige Bemerkungen des Aristoteles und der Hippokratiker, vor Allem durch den Umfang des anatomischen Wissens jener Zeit grosse Wahr- scheinlichkeit erhält. Der Verfasser der Hippokratischen Schrift „über die Gelenke" sagt bei Gelegenheit der Wirbel-Luxation, dass es nur am todten, nicht aber am lebenden Menschen gestattet sei, den Leib aufzuschneiden, um mit der Hand die Verrenkung zu beseitigen, und

* HippoKRATES a. a. 0. T. VI, 362.

* Vergl. Platon: Gesetze, L. XU, c. 10.

* HippoKBATEs a. a. 0. T. VI, 278. Aäistotelbs: Eth. Nicom. I, 13.

* Plinius: Hißt nat. XI, 70. Valbb. Maxim. I, 8, 15. Paubanias. IV, 9. Heeodot IX, 83.

Zur Zeü des Hippokrates, 49

in der Abhandlung ,,über das Herz'< ist davon die Bede, dass dieses Organ in der seit alter Zeit üblichen Weise ans dem Körper eines Verstorbenen herausgenommen wird, um es zu untersuchen.^ Eine Stelle im 5. Buche der Epidemien spricht sogar von einer Sektion, welche vorgenommen wurde, um die Ursache und Ausdehnung einer Krankheit festzustellen.^

Man scheint sich im Allgemeinen auf die Eröffiiung der Brust- und Bauchhöhle beschränkt zu haben, deren Organe in ihrer Lagerung und Form ziemlich richtig beschrieben werden. Aristoteles, welcher bei verschiedenen Gelegenheiten Vergleiche zieht zwischen dem Bau des Körpers des Menschen und der Thiere, erklärt, dass die inneren Organe des Menschen noch wenig bekannt seien.'

Allerdings waren die Kenntnisse, welche die Ärzte der Hippo- kratischen Zeit vom Gehirn, den Nerven, Gefassen und selbst von den Muskeln besassen, dürftig und mangelhaft. Dagegen wurden die Knochen sehr genau beschrieben und dabei sogar jene feinen Details hervor- gehoben, welche nur bei einer sorgfaltigen Betrachtung auffallen. Dass dabei vorzugsweise menschliche Knochen zur Vorlage dienten, geht aus der Schilderung mit Sicherheit hervor.

Wenn die Untersuchung menschlicher Leichen oder Leichentheile nur einzelnen hervorragenden Forschem überlassen blieb, so war die Zergliederung von Thieren, welche, wie Amstotbles mehrmals beton^ die hauptsachlichste Quelle der anatomischen Wissenschaft darstellte. Jedem zugänglich. Sie bildete wahrscheinlich ein wesentliches Hil&- mittel des anatomischen Unterrichts. Vielleicht wurden dazu auch künstliche Nachahmungen von Skeletten benutzt nach Art desjenigen, welches in Delphi als Weihegeschenk aufbewahrt wurde und angeblich von Hippokbates herrührte?*

Im Allgemeinen bestand der anatomische Unterricht darin, dass der Lehrer seinen Schülern Das mittheilte, was er selbst von dem Bau und der Zusammensetzung des menschlichen Körpers wusste oder glaubte. Ähnlich stand es mit der Unterweisung in der Physiologie, welche sich als ein lockeres Gewebe von unbegründeten Hypothesen und haltlosen Spekulationen darstellte.

Bei weitem grössere Erfolge versprach die Ausbildung in der Untersuchung und Behandlung der Kranken. In der Kunst, die Er- scheinungen der Ejrankheiten zu beobachten und auf naturgemässe

* Hippokbates a. a. 0. T. IV, 198. VI, 16. IX, 88. Galen H, 280.

' HippoKRATEs a. a. 0. T. V, 224. Abistoteles; de part. anim. IV, 2.

* Abistoteles: Hist. anim. I, 16. * Paüsanias X, 2, 4. PuscHMANN, Unterricht. 4

50 Der medidnische Unterrickt im Alterthum,

Weise zu bekämpfen, waren die Ärzte der alten Griechen Meister. Den Klagen der Kranken, ebenso wie den Träumen derselben, schenkten sie grosse Aufmerksamkeit; aber das Hauptgewicht legten sie auf die genaue Untersuchung des leidenden Körpers. Dabei wurde die Farbe und Beschaffenheit der äusseren Hautbedeckungen und Schleimhäute, der Zustand des Unterleibs und die Form des Brustkastens beachtet, die Temperatur mit der aufgelegten Hand geprüft und die Ausschei- dungen einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen.

Durch die Betastung vermochte man die Grösse der Leber und Milz, ja sogar die Formveränderungen der letzteren, welche im Verlauf gewisser Krankheiten vorkommen, zu erkennen. ^ Die Succussion diente gleichzeitig als diagnostisches und als therapeutisches Mittel, um den Durchbruch des Eiters in die Bronchien zu veranlassen.

Man kannte das pleuritische Reibungsgeräusch und die klein- blasigen Rasselgeräusche, die mit dem Knarren des Leders und dem Kochen des Essigs verglichen werden. 2 Bei dieser Gelegenheit wird ausdrücklich gesagt, dass das Ohr längere Zeit an die Brustwand ge- legt wurde, damit man diese Geräusche hören konnte {noXlov xQ^'^^ov 7tQ0(Tixa)v TO ovQ äxovü^f] TtQoq nkevQd).

Die Schilderungen der einzelnen Krankheiten und ihres Verlaufes, (iie sich meistens an Beobachtungen aus der eigenen Praxis anschliessen, sind vorzüglich. Einzelne Krankheitsbilder, wie diejenigen der Pneu- monie, der Pleuritis und der Phthisis, die man für ansteckend hielt, sind so vollständig, dass ihnen nur wenig hinzugefügt werden kann.

Unter den Krankheitsursachen wurde neben der Erblichkeit und den Diätfehlem dem Klima, der BodenbeschaflFenheit, dem Trinkwasser, den Jahreszeiten, den Winden und der Temperatur ein grosser Einfluss zugeschrieben.

Auf einer hohen Stufe der Entwickelung stand die Prognostik. In den Hippokratischen Schriften werden eine Menge von Anzeichen erwähnt, welche einen günstigen oder ungünstigen Ausgang der Krank- heiten verkünden. Die Ärzte schätzten die Kunst, „aus dem Vergangenen und Gegenwärtigen das Zukünftige zu erkennen", sehr hoch. „Freilich ist es besser," schreibt^der Verfasser des Prognostiken, „die Krankheiten zu heilen, als ihren Verlauf voraus zu sagen; aber dies ist leider nicht immer möglich."' An anderen Stellen werden die Ärzte zur Vorsicht bei der Prognose ermahnt und gewarnt, mehr zu behaupten, als sie verantworten können.^

* HiPPOKRATES a. a. 0. T. VII, 244. Platon: Timaeos, c. 33. » HiPPOKRATES a. a. 0. T. VI, 24. VII, 92. 94.

* HiPPOKRATES a. a. 0. T. II, 110. * Hippokrates a. a. O. T. IX, 6 u. ff.

^r 2kit des Hippohrates, 51

Unvergänglichen Euhm haben sich die Hippokratiker durch ihre therapeutischen Grundsätze erworben, welche alle Zeiten überdauert haben. Die hohe Bedeutung der Diätetik wurde von ihnen in einer Weise anerkannt, wie es von den Späteren nur selten geschehen ist. In einer naturgemässen Lebensweise, in Bädera, Leibesübungen und einer gesunden Nahrung sahen sie das beste Mittel, um Krankheiten zu verhüten.

Der Arzt wurde als der Handlanger der Natur betrachtet, dem die Aufgabe zufällt, deren Heilbestreben zu befördern oder nachzuahmen. Zunächst sollte er trachten, wenn möglich die Ursachen des Leidens zu beseitigen, bei der weiteren Behandlung die individuellen Verhält- nisse berücksichtigen und überhaupt mehr den Kranken, als die Krank- heit ins Auge fassen; er sollte sich bemühen, zu nützen oder wenigstens nicht zu schaden.^

Die Heilmittel waren vorzugsweise diätetische; aber auch von den medicamentösen werden die wichtigeren ArzneistoflFe erwähnt, welche heut verordnet werden. Sie wurden in der Form von Übergiessunger, Umschlägen, Einspritzungen, Klystieren oder Getränken gebraucht. Zu Blutentziehungen bediente man sich des Aderlasses, der Skarificationen und der Schröpfköpfe.

Alle diese Dinge wurden den Schülern der Heilkunde nicht blos im theoretischen Vortrage gelehrt, sondern auch am Krankenbett ge- zeigt und erläutert. Sie begleiteten zu diesem Zweck entweder den Lehrer bei seinen ärztlichen Besuchen^ oder erhielten in dem zur Wohnung desselben gehörigen latreion den noth wendigen Unterricht.^

Das letztere war eine unseren Privat-Ambulatorien ähnliche An- stalt, in welcher Kranke ärztlichen Rath suchten, Medicamente em- pfingen, operirt wurden und bisweilen auch längere Zeit wohnten und verpflegt wurden.* Sie sollte, wie es in der Hippokratischen Schrift „über den Arzt" heisst, so gelegen sein, dass sie g^g^n den Wind und das grelle Sonnenlicht geschützt war; denn, „wenn dasselbe für den behandelnden Arzt auch nicht unangenehm ist, so ist es doch für den Kranken lästig und seinen Augen schädlich." „Die Sessel müssen, so viel als möglich, von gleicher Höhe sein. Aus Erz sollen nur die In- strumente gearbeitet sein; denn andere Geräthe aus diesem Metall scheinen ein überflüssiger Luxus zu sein. Das Trinkwasser, welches den Kranken gereicht wird, muss geniessbar und rein sein."

» HippoKRATES a. a. 0. T. I, 624. II, 634. V, 314. VI, 92. 490.

* Platon: Gorgias, c. 11.

^ HippoKRATES a. a. 0. T. IX, 206 u. fF. Aeschines in Timarch. 124.

* Platon: Gesetze I, 14. Staat III, 13. 14. Hippokrates a. a. O. T. II, 604. III, 272 u. ff. IX, 206 u. ff. Aristophanes: Acharn, v. 1030.

4*

52 Der medidnische Unterricht im Alterthum,

jyDm Handtücher sollen sauber gehalten werden und sich weich anfühlen, desgleichen die Leinwand, welche für die Augen benutzt wird, und die Wundschwämme; denn diese Dinge sind für die Heilung von grosser Bedeutung, Die Instrumente müssen in Bezug auf Grösse, Schwere und Feinheit für den Zweck, zu welchem sie gebraucht werden, geeignet sein."

In den latreien waren ausser den chirurgischen Instrumenten stets Schwämme, reine weiche Leinwand, Binden, Verbandapparate, Schröpf- köpfe, Büchsen, Klystierspritzen, Becken, Badewannen u. a. m. vor- handen. Das Metall, aus welchem diese Gegenstände verfertigt waren, gab dem Ganzen ein sehr glänzendes Aussehen.^

Die Zahl der latreien, welche ein Ort besass, richtete sich nach dem Bedürfniss. „Wo viele Krankheiten herrschen," schreibt Platon, ^ „da giebt es auch viele latreien."

Die Ärzte bereiteten die Arzneien selbst und kauften die dazu erforderlichen Substanzen entweder von den Wurzelsuchern oder sam- melten sie wohl auch selbst Apotheken in unserem Sinne gab es nicht; denn die Pharmakopolen befassten sich nicht blos mit dem Handel von Droguen und Specialitäten, sondern verkauften auch andere Dinge, z. B. Amulette, Brenngläser und allerlei Curiositäten.'

Dem Arzt standen bei der Herstellung der Arzneien, bei der Aus- führung von Operationen, überhaupt bei der Kranken-Behandlung seine Schüler und Gehilfen zur Seite. Die Assistenten wurden, wie Platon sagt, ebenfalls Ärzte genannt. Es wurden zu diesen Diensten auch Schüler verwendet, besonders solche, welche bereits einige Kenntnisse in der Heilkunst besassen, „damit sie, wenn es nöthig war, selbst Ver- ordnungen treffen und ohne Bedenken Arzneien anwenden konnten". Auch fiel ihnen die Aufgabe zu, das Befinden des Kranken zu über- wachen, wenn der Arzt, ihr Lehrer, abwesend war, „damit ihm nichts verborgen blieb, was in der Zwischenzeit geschah". Der Hippokratische Autor warnt dringend davor, „derartige Aufträge Unerfahrenen zu er- theilen; denn wenn ein Fehler begangen wird, so trifft den Arzt der Vorwurf".

Die Schüler wurden auch in dem Gebrauch der chirurgischen Instrumente und Apparate unterwiesen.^ „Bei chirurgischen Operationen müssen die Gehilfen, wie in der ,Werkstätte des Arztes* vorgeschrieben wird, theils den Körpertheil, an welchem die Operation vorgenommen

^ Antiphakes bei Pollux: Gnom. X, 46. ' Platon: Staat HI, 13.

^ Vergl. W. A. Becker: Charikles HI, S. 52, Leipzig 1854, 2. Aufl. * HippoKRATEs a. a. 0. T. IX, 216.

Zur Zeit des Hippohrcctes, 53

wird, darreichen, theils den übrigen Körper des Kranken festhalten. Dabei sollen sie schweigen und nur hören, was ihr Meister sagt,"

„Die Instrumente müssen so gelegt werden, dass sie bei der Arbeit nicht hinderlich und doch gleich bei der Hand sind, wenn sie gebraucht werden. Wenn einer der Schüler sie dem Operateur reicht, so soll er dieselben schon im Voraus sich zurecht legen und bereit halten und dann thun, was Jener befiehlt"

Dem Operateur werden ausfuhrliche Vorschriften über seine Klei- dung, Stellung, und die Haltung seiner Arme und Füsse während der Operation gegeben. „Die Nägel dürfen die Fingerspitzen nicht über- ragen, aber auch nicht zu kurz sein, weil man die Fingerspitzen braucht Man muss sich darin üben, indem man den Zeigefinger gegen den Daumen bewegt, die ganze Hand flach neigt und beide Hände gegen- einander drückt. Sehr günstig für den Arzt ist es, wenn die Zwischen- räume zwischen den Fingern seiner Hände gross sind und der Daumen dem Zeigefinger entgegensteht" „Er muss sich im Gebrauch beider Hände üben und mit beiden Händen dieselben Arbeiten gleich gut, schön, rasch und ordentlich ausführen, ohne dass es ihm Mühen und Beschwerden macht" ^

Die Ärzte der Hippokratischen Zeit übten sowohl die Chirurgie als die innere Medicin aus. Specialisten gab es, wie es scheint, noch nicht, * wenn sich auch einzelne Arzte vielleicht vorzugsweise mit irgend einem Theile der Heilkunde, z. B. der Behandlung der Augen oder Zähne, beschäftigten.'^

Die Chirurgie befand sich in einem sehr unvollkommenen Zustande, was sich durch die Vernachlässigung der Anatomie erklärt Man kannte die Unterbindung der Geßlsse zum Zweck der Blutstillung noch nicht und durfte sich daher nicht an Operationen wagen, die, wie z. B. die Amputation oder die Entfernung grosser Geschwülste, mit starken Blut- verlusten verbunden sind.

Dagegen wurden die Trepanation, die Operation des Empyems, die Paracentese des Unterleibs und ähnliche Operationen, bei denen die Blutung unbedeutend ist, ausgeführt Anerkennung verdient die Beschreibung und Behandlung der Wunden und Fisteln, namentlich aber der Luxationen und Frakturen.

Hier mochten die Erfahrungen, welche man in den ßingschulen machte, wesentlich beitragen, um einer einfachen und naturgemässen Heilmethode die Wege zu ebnen. Knochenbrüche und Verrenkungen,

^ Platon; Gesetze IV, 10. Hippokrates a. a. O. HI, 278 u. ff. 288. IX, 242. * Cicero : de oratore III, 33. ' Vgl. Becker a. a. O. S. 59.

54 Der medidnische. Unterricht im ÄUerthum,

welche bei den gymnastischen Übungen vorkamen, erforderten sofortige Hilfe, und die Lehrer, welche an den Eingschulen angestellt waren, mussten sich daher einige Kenntnisse in diesen Dingen erwerben, wenn sie zweckmässige Anordnungen treffen wollten. Waren sie mit guter Beobachtungsgabe und praktischer Geschicklichkeit ausgestattet, so wurden sie auch auf andere Leiden aufmerksam, deren Anblick sich ihnen darbot. Durch das Studium medicinischer Schriften und den Verkehr mit Ärzten versuchten sie dann, eine Erklärung und Bestäti- gung ihrer eigenen Erfahrungen zu erhalten.

Einzelne Gymnasten, wie Ikkos und Hebodikos, welcher, wie Platon schreibt, die Heilkunde mit der Gymnastik verband, erwarben sich durch ihre ärztliche Tüchtigkeit grossen Buf. Sie empfahlen haupt- sächlich diätetische Mittel, Dampfbäder, Salbungen, Friktionen und Körperbewegungen, wie den Dauerlauf.^

Gleichwohl darf man die Gymnasten nicht für Ärzte halten, Philostratos bestimmt in seinem Buch „über die Gymnastik" die Stellung der Gymnasten und ihr Verhältniss zur Heilkunst kurz und treffend, wenn er sagt, „dass ihre Thätigkeit darin bestand, die Säfte auszuleeren, die überflüssigen Stoffe zu entfernen, harte Theile weich, andere fett za machen, umzugestalten oder zu erhitzen", während man bei schweren organischen Erkrankungen, bei Verletzungen, Augenleiden u. dgl. die Hilfe der Ärzte in Anspruch nahm.*

Ziemlich bedeutende Kenntnisse besassen die Hippokratischen Ärzte in der Gynaekologie. Sie kannten verschiedene Formen der Lage- veränderung der Gebärmutter, den Prolapsus derselben und eine grosse Anzahl von Krankheiten der weiblichen Geschlechtstheile.

Die Geburtshilfe lag in den Händen der Hebammen, und nur in schwierigen Fällen wurde der Arzt zu Bath gezogen. Man vertraute dem Wirken der Natur und griff nur dann ein, wenn dem Leben der Mutter oder des Kindes Gefahr drohte. Bei ungewöhnlicher Kindeslage nahm man die Wendung vor; vorgefallene Extremitäten wurden reponirt oder, wenn dies nicht möglich war, vom Körper abgetrennt^

Über das Hebammen -Wesen hat Sokbates, der Sohn der „rüstigen und würdevollen Hebamme Phaenarete", wie er sich mit Stolz nennt^ einige Mittheilungen hinterlassen. Frauen, welche sich diesem Beruf widmeten, mussten geboren haben, aber bereits in dem Alter stehen,

* Platon: Staat III, 14. Protaoobas c. 8. Phaedros, c. 1. Hippokratbb a. a. 0. T. V, 302. Plinius: Hist. nat. XXIX, 2.

* Philostratos: ne^ yvßAvaffr ifi;, Edit. Daremberg, Paris 1858. « Htppokbates a. a. 0. T. VHI, 146 u. ff. 480. 512.

Zur Zeit des Hippokrates, 55

dass sie nicht mehr schwanger wurden. Sie gaben Auskunft, ob die Geburt nahe bevorstand, suchten dieselbe durch Arzneien und psychische Mittel zu befördern und zu erleichtern und durchschnitten, nachdem sie erfolgt war, die Nabelschnur.

Wenn sie es für nöthig hielten, führten sie den Abortus herbei Nebenbei betrieben sie das ohne Zweifel recht einträgliche Geschäft von Heirathsvermittlerinnen, wozu sie sich allerdings aus mehrfachen Gründen eigneten.^

Manche Hebammen nahmen, wie es scheint, schwangere Frauen in ihrer Wohnung auf.^

Über die berufsmässige Ausbildung der Hebammen sind uns leider keine Nachrichten übermittelt worden. Wahrscheinlich wurden sie von einer älteren CoUegin, die auf diesem Felde der Thätigkeit bereits reich an Erfahrungen war, in den Pflichten der Wehmutter unterrichtet. Vielleicht deutet eine auch poetisch bearbeitete Sage, dass die Ausübung der Geburtshilfe Anfangs den Männern vorbehalten war und erst später den Frauen überlassen wurde, nachdem sie von jenen darin unterwiesen worden waren, darauf hin, dass die Hebammen ihre medicinischen Kenntnisse den Ärzten verdankten?^

Die ärztliche Praxis war Jedem gestattet, der das dazu erforder- liche Wissen zu besitzen glaubte.

Die Ärzte behandelten die Kranken entweder, wie gesagt, im Jatreion oder besuchten sie zu diesem Zweck in ihren Behausungen. In den Hippokratischen Schriften, besonders in den „Epidemien", wer- den eine Menge von Krankengeschichten erzählt und dabei stets die Wohnungen der Patienten angegeben.

Die Ärzte nahmen bei diesen Besuchen einzelne ihrer . Gehilfen und Schüler mit sich und übertrugen ihnen manche der zur Behand- lung gehörigen Verrichtungen. Deshalb sollten sie „die Arzneien und ihre Kräfte und Alles >va8 darüber geschrieben worden ist", sowie die Behandlungsmethoden fest im Gedächtniss haben, bevor sie sich zu den Kranken begaben. „Beim Eintritt in das Krankenzimmer setze man sich nieder, zeige ein zurückhaltendes würdiges Benehmen, spreche nicht viel und lasse sich nicht in Verwirrung bringen. Dann nähert man sich dem Kranken, schenkt ihm Aufmerksamkeit, erwidert seine Ent- gegnungen, bewahrt den Ärgernissen gegenüber seine Ruhe, tadelt Un- ordnungen und sei zu Diensten bereit"

* Platon: Theaetetos, c. 6.

* Aristophanes: Lysistxatos V, 746 u. flp,

* Hyginus: fabul. 274. Welcker a. a. O. S. 195 u. ff.

56 Der medidnische Unterricht im Älterthv/m,

Diese Besuche sollen öfter wiederholt werden, damit etwaige Lr- thümer verbessert werden können. Dabei soll der Arzt darauf achten, wie das Schlafgemach der Kranken gelegen ist, und ob sie durch Lärm oder starke Gerüche gestört werden, und dann in taktvoller, aber ent- schiedener Weise darauf dringen, dass derartige Zustande geändert werden. ^

In schwierigen Krankheitsfällen fanden Consultationen mehrerer Ärzte statt; „denn es ist keine Schande", steht in den Hippokratischen Vorschriften, „wenn ein Arzt, der bei einem Krankheitsfall in Verlegen- heit ist und aus Mangel an Erfahrung die denselben betreffenden Ver- hältnisse nicht durchschaut, andere Ärzte hinzuruft, damit er sich mit ihnen besprechen und Das, was zur Erleichterung des Kranken geschehen soll, feststellen kann."^

Manche Ärzte übten die Praxis nicht blos an ihrem Wohnort aus, sondern unternahmen zu diesem Zweck sogar Eeisen. Sie führten in solchen Fällen Instrumente mit sich, welche schlichter gearbeitet und leichter fortzuschaffen waren. ^

Die Ärzte waren berechtigt, für die Dienste, welche sie den Kranken leisteten, ein Honorar zu fordern.* Aber der Hippokratische Autor ermahnt sie, „sich dabei nur von dem Beweggrunde leiten zu lassen, dass sie dadurch die Mittel zu ihrer weiteren Ausbildung gewinnen. Auch sollten sie dabei nicht zu unmenschlich vorgehen, auf das Ver- mögen und die Verhältnisse des Kranken Rücksicht nehmen, zuweilen auch unentgeltlich Hilfe leisten und dabei denken, dass das Andenken an eine gute That mehr werth ist, als ein augenblicklicher Vortheil. Bietet sich die Gelegenheit, einem Fremdling oder einem Armen zu helfen, so möge man dies nicht versäumen; denn wo Liebe zu den Menschen, dort ist auch Liebe zur Wissenschaft."^

Schon in sehr früher Zeit begann man, Ärzte auf öffentliche Kosten zu besolden, denen die Verpflichtung auferlegt' wurde. Kranke unent- geltlich zu behandeln. Diese Einrichtung soll bereits vor Charondas (7. Jahrh. v. Chr.) bestanden haben. ^ Jedenfalls war sie alt, und der im vorigen Kapitel genannte Demoketdes, der, bevor er zum König Darius kam, als städtischer Arzt in Aegina mit der Jahresbesoldung von einem Talent, dann in Athen mit dem Gehalt von hundert Minen

^ HippoKRATES a. a. 0. T. IX, 238 u. ff. « HiPPOKRATEs a. a. 0. T. IX, 260. 262. 8 HiPPOKRATES a. a. 0. T. IX, 236.

* Platon: Staatsmann, c. 37. Aristoteles: Staat UI, 16. Xenophok: Memorab. I, 2, 54. Plinius: Hist. nat. XXIX, 2.

^ HiPPOKRATES a. a. O. T. IX, 258. » Diodor XII, 13.

Znir Zeit des Hippokrates. 57

angestellt gewesen und hierauf voq Polykbatbs nach Samos berufen worden war, der ihm einen Gehalt von zwei Talenten ausgesetzt hatte, bietet ein bekanntes Beispiel dafür aus dem 6. Jahrh. v. Chr.^

Die SfjfAomevovreg, „die Volksärzte", wurden von den Gemeinden gewählt. In Athen mussten sich die Candidaten, welche ein derartiges Amt zu erlangen wünschten, in der öffentlichen Versammlung der Bürger vorstellen, über ihren Bildungsgang Auskunft geben, und den Meister nennen, von welchem sie die Heilkunst erlernt hatten. Bei der Wahl, welche wahrscheinlich in derselben Weise geschah wie die- jenige der übrigen öffentlichen Beamten, sollte derjenige Bewerber als Sieger hervorgehen, welcher der Tüchtigste war.^ Ähnlich wie in Athen dürfte man auch in anderen griechischen Städten bei der An- stellung von Gemeindeärzten vorgegangen sein.

Ihre Besoldung wurde gleich den Ausgaben für Musik und andere öffentliche Angelegenheiten durch städtische Umlagen aufgebracht; in einer zu Delphi aufgefundenen Inschrift, welche freilich aus einer etwas späteren Zeit (214 163 v. Chr.) stammt, wird erwähnt, dass Jemand von dieser Steuer befreit wurde. ^

Neben dem Gehalt, dessen Höhe von den Leistungen des Arztes und der Grösse und dem Eeichthum der Stadt abhing, erhielten die Gemeindeärzte wahrscheinlich ein latreion, welches auf öffentliche Kosten eingerichtet und erhalten wurde.* Dort empfingen sie die Kranken^ welche bei ihnen ärztliche Hilfe suchten, und ertheilten medicinischen Unterricht.

Die Gemeindeärzte waren berufen, bei Epidemien die Anordnungen zu treffen, welche zur Beseitigung derselben erforderlich erschienen, imd dienten den Behörden überhaupt als Sachverständige. Ihre eigent- liche Aufgabe bestand jedoch in der unentgeltlichen Behandlung der Kranken; die Gemeinden wollten sich durch die Anstellung eines Arztes sichern, dass ihre Bürger im Falle der Noth jederzeit ärztliche Hilfe am Ort finden. Obwohl aus den überlieferten Nachrichten nicht her- vorgeht, dass die unentgeltliche Behandlung sich nur auf die Armen beschränkte, so lässt sich doch annehmen, dass dies thatsächlich der Fall war, und die Vermögenderen sich durch Geschenke für die Mühen des Arztes erkenntüch zeigten.

* Herodot III, 131.

Xenophon: Memorab. IV, 2, 5. Platon: Gorgias, c. 10. 70. Staatsmann, c. 2. 37. Vgl. auch Böckh: Staatshaushalt der Athener I, c. 21.

* C. Wesoheh u. P. Fouoart: Inscriptions k Delphes, Paris 1863, p. 20, No. 16.

* Vergl. Vercoütee: La m^decine publique dans Tantiquit^ grecque in der Revue arch^ologique, Paris 1880, ser. II, T. 39, p. 332.

58 Der medidni^ehe- Unterrieht im ÄUerthum.

Wie die Griechen das Institut der Genieindeärzte ins Leben riefen, so sorgten sie auch dafür, dass ihre Truppen mit Ärzten versehen wurden. Schon Lykueg hielt dies für nothwendig und stellte bei dem Heere der Spartaner Ärzte an.^ Bei den „Zehntausend Mann", welche Xenophon befehligte, befanden sich acht Feldärzte. ^ Des Heppokbates älterer Sohn Thessalos soll einige Zeit als Militärarzt thätig gewesen sein, und der Verfasser der Hippokratischen Schrift „über den Arzt" schreibt, „dass sich der Arzt in der Chirurgie am besten ausbildet, wenn er in die Dienste des Heeres tritt"; er bemerkt bei dieser Ge- legenheit auch, dass es bereits eine besondere militärärztliche Literatur gab, in welcher die im Kriege vorkommenden Verletzungen besprochen wurden.' Das Heer Alexanders von Macedonien wurde von den be- rühmtesten Ärzten jener Zeit, von Philipp vqu Akamanien, Kalli- STHENES aus Olynth, Glaukias und Alexippos begleitet.

Der ärztliche Stand genoss hohes Ansehen. Das Wort Hombb's,* „dass ein einziger Arzt so viel werth ist, als viele andere Männer zu- sammen", galt auch später. Ärzte, welche sich durch selbstlose Opfer- willigkeit und hervorragende Leistungen in ihrem Beruf auszeichneten und um den Staat verdient machten, wurden durch Lobreden und Ehren belohnt.

Auf der Bronze-Tafel von Idalion, welche aus dem 5. Jahrhundert V. Chr. stammt, wird der Verdienste des Arztes Onasilos gedacht, der mit seinen Schülern im Kriege unentgeltlich Dienste leistete und dafür eine Dotation und Steuerfreiheit erhielt.^ Die Athener sollen den HiPPOKBATES mit Ehren überhäuft, auf Staatskosten in die Eleusinischen Mysterien eingeweiht, mit einer goldenen Krone gekrönt und noch auf andere Weise ausgezeichnet haben.®

Der Arzt Euenob, welcher, wie in einer Inschrift vom Jahre 388 V. Chr. mitgetheilt wird,^ „vom Volk mit der Überwachung der Be- reitung der Arzneien für das öflfentliche latreion betraut, für diesen Zweck eine grosse Summe aus eigenen Mitteln geopfert und viele Kranke unentgeltlich behandelt hatte," wurde dafür öffentlich belobt und durch einen Kranz und die Verleihung des Bürgerrechts geehrt

^ Xenophon: Der Lakedämon. Staat, c. 13.

* Xenophon: Cyropaed. I, 6, 15. Anabasis III, 4, 30. « HippoKRATES a. a. O. T. IX, 220. * Ilias XI, 514.

* M. Schmidt; Die Inschrift von Idalion, Jena 1875, und Sammlung Kyp- rischer Inschriften, 1876, Taf. I.

* HiPPOKRATEs a. a. 0. T. IX, 402.

' Rhangab6: Antiquites hellen., 1855, T. II, No. 378. E. Cürtius in d. Gott, gelehrt. Anz. 1856, No. 196 u. ff.

Zfur Zeit des Hippokrates. 59

In der Inschrift von Karpathos, welche Weschbe^ dem Ende des 4. oder Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. zuschreibt, heisst es, dass „in Anbetracht, dass Menokbitos, der Sohn des Meteodobos aus Samos, in seiner Stellung als Gemeindearzt sich durch mehr als zwanzig Jahre mit Eifer und Hingebung der Behandlung der Kranken gewidmet und sowohl in seinem ärztlichen Beruf als in seinem sonstigen Leben makellos benommen habe, dass er ferner bei einer Seuche, welche in der Stadt ausbrach und nicht blos die Einheimischen, sondern auch die Fremden in grosse Gefahr brachte, durch seine Aufopferung und Sparsamkeit am meisten dazu beigetragen hat, die Gesundheit wieder herzustellen, dass er endlich, anstatt Bezahlung zu fordern, lieber in Dürftigkeit gelebt, viele Bürger aus gefährlichen Krankheiten errettet, ohne eine Belohnung dafür anzunehmen, wie es recht und billig ge- wesen wäre, und niemals gezögert hat, die Kranken, welche in der Umgebung der Stadt wohnten, zu besuchen, das Volk von Brykontion beschlossen habe, ihn zu beloben und mit einem goldenen Kranze zu schmücken und diesen Beschluss bei den Asklepios-Spielen öffentlich verkünden zu lassen, ihm ferner das Recht zu ertheilen, an allen Festen der Brykontier Theil zu nehmen und ihm im Neptun-Tempel eine Marmorsäule zu errichten, auf welcher dieser ihn ehrende Yolks- beschluss niedergeschrieben werden soll."

Einige Autoren ^ haben, gestützt auf einzelne Aussprüche doctri- närer Philosophen, geglaubt, dass die ärztliche Thätigkeit^ weil sie für Geld ausgeübt und zu den sogenannten „bürgerlichen Gewerben", wie man SrjfiiovQyia übersetzen kann, gerechnet wurde, von den Griechen nicht in gebührender Weise geschätzt wurde. Aber Platon sagt aus- drücklich, dass „der echte Arzt einen höheren Zweck verfolgt, als Geld zu erwerben", und dass die Heilkunst, wenn sie auch für Lohn aus- geübt wird, doch keine lohndienerische sei.^ Obgleich er in den „Ge- setzen" schreibt, dass die Gesundheit des Körpers nicht zu den Gütern gehöre, welche für den Staat in erster Linie von Werth sind, so er- klärt er es doch für eine Pflicht desselben, dafür zu sorgen, dass tüchtige Ärzte herangebüdet werden.*

Das Maass der Achtung, welche dem Arzt gezollt wurde, richtete sich, wie zu allen Zeiten, nach der Individualität desselben, seinen Kenntnissen, seiner Geistes- und Herzensbildung und seiner äusseren

* Revue archöolog., Paris 1863, T. VIII, p. 469.

* Vergl. K. F. Hebmann: Lehrbuch der griech. Privat- Alterthümer, Heidel- berg 1852, m, S. 192.

^ Platon: Staat I, c. 15. 18.

* Platon: Gresetze I, 6. Staat III, 16.

60 Der medidnische UnterruM im AUerthtmi.

Lebensstellung. Ein Sklave, welcher als Gehilfe eines Arztes bedeutende Kenntnisse erwarb und eine segensreiche Wirksamkeit entfaltete, blieb gleichwohl stets in einer untergeordneten abhängigen Stellung. Es scheint übrigens, dass die aus der Klasse der Sklaven hervorgegangenen Ärzte nicht die gleiche fachmännische Bildung besassen, wie die übrigen Ärzte, sondern ihre4Cunst rein empirisch erlernten. „Wollte man mit einem solchen Manne philosophische Eeden über den Bau und die Funktionen des Körpers wechseln," bemerkt Platon,^ so würde er gewiss herzlich lachen und ausrufen: Du Thor! Du bist kein Arzt, sondern ein Schulmeister Deiner Kranken."

Bei der Beurtheilung des Arztes diente seine wissenschaftliche Bildung sicherlich als ein wichtiger Gesichtspuirkt. Unwissende und ungeschickte Ärzte wurden belacht und verspottet und der öflFentlichen Verachtung preisgegeben. Im Hippokratischen ,.Gesetz" werden sie mit den Figuranten auf dem Theater verglichen, „welche aussehen, ge- kleidet sind und Macken tragen, wie die Schauspieler, es aber nur dem Namen nach, nicht in Wirklichkeit sind."^ An einer anderen Stelle heisst es, dass es den unfähigen Ärzten wie schlechten Steuer- männern geht. „Wenn dieselben bei ruhigem Meere das Steuer lenken und dabei Fehler begehen, so wird es von Niemandem bemerkt; wenn aber widriger Wind und heftige Stürme hausen, und dabei das SchiflF zu Grunde gerichtet wird, dann ist Jeder überzeugt, dass ihre Un- wissenheit und ihre Fehler daran Schuld sind. Ebenso verhält es sich auch mit den schlechten Ärzten, welche unter ihren Berufsgenossen die Mehrzahl bilden. Wenn sie leichtere Krankheitsfälle behandeln, bei denen man die grössten Fehler begehen kann, ohne dass nach- theilige Folgen eintreten, so wird ihre Unfähigkeit den Laien nicht auffallen; wenn sie dagegen zu einer schweren, heftigen und gefahr- lichen Krankheit gerufen werden, dann wird es Jedem klar werden, dass sie nichts verstehen und falsche Anordnungen treffen."' „Die Unwissenheit ist ein schlechter Schatz und ein trauriges Kleinod, ein steter Traum, ein Phantasiebild, bietet keine Freude und keine Heiter- keit und ist die Amme der Feigheit und Verwegenheit."*

Die Hippokratischen Ärzte ermahnten ihre Schüler zum Fleiss und angestrengten Studien. „Die Kunst ist lang, das Leben kurz", sagten sie ihnen, '^ und „die Heilkunst lässt sich nicht rasch erlernen".* Dringend empfahlen sie die Lektüre der medicinischen Schriften und

* Platon: Gesetze IV, 10. IX, 4. ^ Hippokrates a. a. O. T. IV, 638.

' Hippokrates a. a. 0. T. I, 590. * Hippokrates a. a. O. T. IV, 640.

^ Hippokrates a. a. O. T. IV, 458. « Hippokrates a. a. O. T. VI, 330.

In Alexandria. 61

gedachten dabei auch mit rührender Pietät der redlichen, wenn auch nicht immer glücklichen Versuche , welche die Ärzte früherer Zeiten unternommen hatten, um die Heilkunde zu erforschen und zu einer Wissenschaft zu gestalten.^

Die innigen Beziehungen der Medicin zur Philosophie, welche vor HippoKBATEs bestanden, wurden durch ihn und seine Schule noch mehr befestigt und dauerten auch später fort. „Philosophie und Me- dicin bedürfen sich gegenseitig und sind auf einander angewiesen. Der Arzt, welcher zugleich ein Philosoph ist, steht auf der höchsten Stufe", schreibt ein Hippokratischer Autor.* Sokbatbs und Platon hatten unter ihren Schülern viele Ärzte und Studierende der Medicin, wie sich aus den zahlreichen, auf die Heilkunde bezüglichen Hinweisen und Vergleichen folgern lässt, und Abistoteües, der Begründer der vergleichenden Anatomie und bahnbrechende Geist auf allen Gebieten der naturwissenschaftlichen Forschung, schrieb:* „Die meisten Natur- forscher suchen in der Medicin den Abschluss ihrer Studien, und von den Ärzten beginnen Diejenigen, welche ihre Eanst etwas wissen- schaftlicher treiben, das Studium der Heilkunde mit den Naturwissen- schaften."

In Alexandria.

Im raschen Siegeslauf hatte der jugendliche Alexander von Mace- donien einen grossen Theil Europas, Afrikas und Asiens durchmessen. Die thracischen und illyrischen Stämme bis zur Donau ^ Griechenland, Phönizien, Palästina, Ägypten, Persien, ganz Kleinasien waren seinem Scepter unterworfen; selbst mehrere indische Staaten erkannten seine Oberhoheit an, und aus Italien und von den Kelten kamen Gesandt- schaften, welche bei ihm Schutz und Freundschaft suchten. Schon durfte seine von Ruhmbegier geschwellte Brust sich mit dem kühnen Plane einer Weltmonarchie tragen, welche alle Länder der Erde, soweit sie damals bekannt war, umfassen sollte.

Da machte sein plötzlicher Tod allen diesen Hoffiiungen ein jähes Ende. Er starb im Alter von 33 Jahren, voll Jugendkraft^ im Besitz einer Macht, wie sie vor ihm noch kein Sterblicher ausgeübt hatte. Die Tragik dieses Todes ist fast noch grossartiger als seine beispiellosen

1 HippoKRATEs a. a. 0. T. I, 596. * Hippokeates a. a. 0. T. IX, 232.

^ Aristoteles: Über Sinnesempfindung, c. 1.

62 Der medicinische Unterricht im Alterthum.

Siege und Erfolge. Sein Beich zerfiel ebenso rasch als es aufgebaut worden war. Ehrgeizige Generäle theilten sich in seine Erbschaft und machten sich zu Herren der einzelnen Provinzen.

Aber nur seine politischen Schöpfungen wurden zerstört. Was durch ihn oder unter ihm für die Gultur, für die Wissenschaft ge- schehen war, blieb erhalten und trug reiche Früchte.

Die Berührung, in welche der griechische Geist mit den Völkern des Orients gekommen war, übte nach beiden Seiten eine nachhaltige Wirkung aus. Jene lernten Wissenschaften und Künste kennen, die bei ihnen noch wenig oder gar nicht entwickelt waren, und erhielten die Gelegenheit, sich griechische Bildung und Feinheit der Sitten an- zueignen, während die Griechen von den engherzigen Anschauungen befreit wurden, die, als Produkte ihrer kleinen politischen Gemeinwesen erklärlich, zur Selbstüberhebung und Verachtung des Fremden geführt hatten. Der Hellenismus nahm dadurch jene kosmopolitische Färbung an, welche die Bestrebungen der späteren Griechen kennzeichnet

Kunst und Wissenschaft erfahr durch die Bekanntschaft mit fremden Völkern manche Anregung und Förderung, namentlich die Naturwissen- schaften, die Zoologie, Botanik, vergleichende Anatomie und Arznei- mittellehre, denen aus den der Forschung erschlossenen Ländern ein reiches Material zufloss, welches von fachmännischer Hand geordnet und gesichtet, eine systematische Bearbeitung dieser Disciplinen ermög- lichte und begünstigte.

Alexanders politische Zukunftsträume wurden bald vergessen. Nur sein Plan, Ägypten zum Centrum, das nach ihm genannte Alexandria zur Hauptstadt des von ihm erstrebten Weltreiches zu machen, trat ins Leben, wenn auch in einer ganz anderen Form, als er es sich ge- dacht hatte. Ägypten wurde zwar nicht der politische, aber der geistige Mittelpunkt der Völker und übernahm die Rolle des Vermittlers der Cultur, zu welcher es durch seine Lage sowohl als durch seine Jahr- tausende alte Geschichte ganz besonders berufen war. Das Fürsten- geschlecht der Ptolemäer, welchem nach Alexanders Tode die Herrschaft über das Nilland zufiel, war griechischer Abstammung und blieb auch in seiner neuen Heimath dem griechischen Wesen treu. Während Ägyptens Handel und Industrie blühte, und seine Schiffe bis Madera gegen Westen und bis nach Persien und Indien im Osten fuhren, wurden zu Hause Künste und Wissenschaften gepflegt und griechische BilduQg verbreitet.

Die Ptolemäer zogen Künstler und Gelehrte aus Griechenland an ihren Hof, Hessen prachtvolle Bauwerke errichten, schmückten ihre Residenz mit den Sehenswürdigkeiten der ganzen Welt und unterstützten

In Alexandria. 63

die Wissenschaften mit königlicher Freigebigkeit Sie legten botanische und zoologische Gäxten an, gründeten Bibliotheken und sehnten das Museum und das Serapeum, ^ zwei Anstalten, in denen Gelehrte Woh- nung und Unterhalt erhielten, damit sie sich den wissenschaftlichen Studien widmen konnten, ohne far die täglichen Bedürfnisse des Lebens sorgen zu müssen. Sie enthielten ausser den Wohn- und Schlafgemächern grosse Speisesäle und gedeckte, mit Gemälden geschmückte Säulengänge, an welche sich offene Höfe und schattige Gartenanlagen anschlössen.* Die grossen Bibliotheken, bei deren Gründung und Vermehrung keine Geldmittel gescheut wurden, standen damit in einem räumlichen und wahrscheinlich auch organischen Zusammenhange. Die oberste Aufsicht über die Anstalten führten tohe Geistliche, die in Gemeinschaft mit den Vorstehern der einzelnen Abtheilungen, in welche sich die Gelehrten nach ihren Wissenschaften schieden, auch die Verwaltung leiteten.

Das Museum lag in unmittelbarer Nähe des königlichen Schlosses und wurde sogar als ein zugehöriger Theil desselben betrachtet Das Serapeum befand sich in einem entfernteren Theile der Stadt und stand an Bedeutung jenem nach. Auch die Bibliothek des letzteren war nicht so reich, als diejenige des Museums. Die hohen lichten Säle der Bibliotheken, in denen die Bildsäulen berühmter Gelehrten aufgestellt wurden, bargen viele Tausende von Papyros-Rollen, welche die hervor- ragendsten Werke, namentlich der hellenischen Literatur enthielten. Über die Zahl derselben gehen die Angaben weit auseinander; während z. B. Ammianus und Gellius die Menge der Papyros-Eollen der Mu- seumsbibliothek auf 700,000 schätzten, berichtet Epiphanius, dass sie nur 54,800 betrug.^

Die Gelehrten, welche im Museum und Serapeum wohnten, bildeten Vereinigungen nach der Art unserer Akademien. Im freundschaftlichen Verkehr und in freien Vorträgen erörterten sie die wissenschaftlichen Fragen, zu denen sie durch die Lektüre oder durch die Beobachtung angeregt wurden. Ihre fürstlichen Gönner nahmen an diesen Unter- suchungen regea Antheil und ermunterten sie dabei durch hohe Jahres- gehälter und reiche Geschenke. Sie beschäftigten sich mit der Gram- matik, der Textkritik der in den Bibliotheken aufgenommenen Schriften, der Dichtkunst, Musik, Geschichte, Philosophie, Mathematik, Mechanik, Astronomie, Geographie, den Naturwissenschaften und der Medicin.

* G. Parthey: Das Alexaudrinische Museum, Berlin 1838. Fr. Ritschl: Die Alcxandrinischen Bibliotheken, Breslau 1838.

'-» Strabon XVII, 1.

' Abimian XXII, 16. A. Geluüs: Noct. Attic. VI, 17. Vergl. ferner Pabthey a. a. 0. S. 77.

64 Der medioinische Unterricht im Alterthu/m.

Aber diese „Priester der Musen", wie sie Thbokbit nennt, ^ lebten nicht blos der Forschung; sie widmeten ihre Zeit auch dem Unterricht. Schüler aus allen Gegenden, wo Griechen lebten, kamen nach Alexan- dria, um dort die höchste Ausbildung für ihren künftigen Beruf zu erlangen. Das Museum und das Serapeum waren somit nicht blos Akademien, sondern auch Hochschulen.

tTber das Verhältniss derselben zu den Anstalten, welche dem medicinischen Unterricht dienten, fehlen leider die Nachrichten. Es entstanden dort zwei medioinische Schulen, welche nach ihren Stiftern unterschieden wurden, aber in ihren wissenschaftlichen Grundsätzen nur wenig von einander abwichen. Beide fussten auf den Lehren der Schulen von Kos und Knidos und machten deren wissenschaftliche Errungenschaften zur Grundlage ihrer eigenen Forschungen.

An der Spitze der einen stand Heeophtlos,* an derjenigen der anderen Erasistratos.

Der Erstere wurde um das Jahr 300 v. Chr. zu Chalcedon geboren. Seine Lehrer waren Chbysippos von Knidos, welcher sich dadurch be- kannt machte, dass er die zu häufige Anwendung des Aderlasses und der drastischen Arzneien verwarf und durch das Binden der Glieder zu ersetzen suchte, und bei der Wassersucht Bäder im Schwitzkasten empfahl,^ und Praxagoras von Kos, einer der fruchtbarsten medici- nischen Schriftsteller jener Zeit.* Herophilos erlangte eine solche Bedeutung, dass nicht weniger als vier Ärzte des Alterthums sich der Aufgabe unterzogen, sein Leben zu schildern.

Seine hervorragendsten Verdienste liegen auf dem Gebiet der Anatomie. Er war bemüht, eine wesentliche Lücke der Hippokratischen Lehren zu ergänzen, indem er das Nervensystem einer sorgfaltigen Untersuchung unterzog. Dabei gelang es ihm, einiges Licht auf diesen bis dahin nur wenig erforschten Theil der Anatomie zu werfen. Er beschrieb die Hirnhäute, die Plexus chorioidei, die venösen Sinus, das nach ihm genannte Torcular Herophili, die Hirnhöhlen und die Schreib- feder, welche ihm diese Bezeichnung verdankt, verfolgte den Ursprung der Nerven aus dem Gehirn und Bückenmark und erkannte, dass die Nerven die Empfindung und Bewegung vermitteln.* Ferner beschäftigte er sich mit dem Bau des Auges, beschrieb den Glaskörper, die Chorioidea

' Idyll. XVII, V. 112.

* K. F. H. Marx: Herophilus, Karlsruhe und Baden 1838. » Galen a. a. 0. T. IV, 495. XI, 148. 230. 252.

* C. G. Kühn: De Praxagora Coo. progr., Lips. 1823.

» Galen a. a. 0. T. n, 712. 731. III, 708. XIX, 330. Rupus a. a. O. p. 153. Plutabch: de placit. philos. IV, 22.

>!

In Alexandria. 65

und die netzartige Haut, machte auf die eigenthümliche Form des Duodenums aufmerksam und beobachtete, dass die Häute der Arterien dicker sind, als diejenigen der Venen, ^ Wie genau er bei seinen ana- tomischen Untersuchungen war, zeigt seine Beobachtung, dass die linke Vena spermatica in einzelnen Fällen aus der Vena renalis entspringt. ^

Er unterschied verschiedene Formen des Pulses nach der Grösse, Stärke, Baschheit und Regelmässigkeit desselben und legte damit den Grund zur wissenschaftlichen Behandlung der Pulslehre. ^ Auch als Chirurg hatte Hebophilos beachtenswerthe Erfahrungen, wie aus seiner Bemerkung hervorgeht, dass sich die Luxationen des Oberschenkels wegen der damit verbundenen Zerreissung des Ligamentum teres nach der Wiedereinrichtung, wiederholen.* Er kannte den Verschluss des Muttermundes bei vorhandener Schwangerschaft^ und verfasste ein Lehrbuch der Geburtshilfe, in welcher er auch Unterricht ertheilt haben soll. Im Allgemeinen huldigte er in der praktischen Heilkunde dem Grundsatz, dass man sich dabei nicht auf theoretische Erklärungen verlassen dürfe, sondern die Erfahrung allein als massgebend betrachten soll.® Stobaeüs erzählt, dass Hebophilos auf die Frage, wer der beste Arzt sei, geantwortet habe: „Derjenige, welcher das Mögliche von dem Unmöglichen zu unterscheiden weiss." ^

Sein Zeitgenosse Ebasistbatos, der sich mit ihm in den Euhm der Alexandrinischen Schule theilte, stammte von Julis auf der Insel Keos. Er war ebenfalls von Chbysippos von Knidos unterrichtet wor- den; ausserdem wird Metbodobos, der Schwiegersohn des Abistoteles, unter seinen Lehrern genannt, Ebasistbatos lebte eine Zeitlang am Hofe des Königs Seleukos Nikator, wo er durch eine merkwürdige Diagnose Aufsehen erregte. Antiochos, der Sohn des Königs, war nämlich erkrankt, und Ebasistbatos erkannte aus der Aufregung, die er beim Anblick seiner Stieiönutter an den Tag legte, dass sein Leiden durch die hoffnungslose Liebe zu derselben hervorgerufen worden war.® GaiiEN machte zu dieser Erzählung die humoristische Bemerkung, dass er sich nicht erklären könne, worauf sich diese Diagnose stützte; denn „einen Puls der Verliebten gebe es ja doch nicht4[^ ®

* Rupus a. a. 0. p. 154. 171. Galen a. a. 0. T. H, 572. 780. IH, 445.

* Galen a. a. 0. II, 895.

* Galen a. a. 0. T. VIH, 592. 956. 959. Plinius: Eist. nat. XI, 88. XXIX, 5.

* Ombasius a. a. 0. IV, 233. * Galen a. a. 0. T. 11, 150. « Plinius: Hist nat^ XXVI, 6.

^ Stobaeüs: Floiileg, Ed. A. Meinecke IV, 2, .

^ Plutabch: Vita Demetrii, c. 38. Plinius: Hist. nat. XXIX, 3. -

» Galen a.a.O. T. XIV, 631.

PüscHMANN, Unterricht. 5

66 Der medidnische Unierricht im Älterthum.

Wie Herophilos, so beschäftigte sich auch Erasistbatos eifrig mit anatomischen Untersuchungen. Er beschrieb die Hirnwindungen und leitete von der grösseren Mannigfaltigkeit derselben beim Menschen dessen geistige Präponderanz über die Thiere her.^ Die motorischen Nerven unterschied er von den sensibelen; aber er glaubte, dass die ersteren aus den Häuten, die letzteren aus der Substanz des Gehirns hervorgehen. 2 Er kannte die Bronchial- Arterien, nahm anostomotische Verbindungen zwischen Arterien und Venen an und beschrieb die Herzklappen so genau, dass GaiiEn dazu nichts weiter hinzuzufügen wusste.^ Am merkwürdigsten ist seine Beobachtung der Chylusgefasse,* deren Bedeutung er natürlich nicht zu erkennen oder auch nur zu ahnen vermochte; dazu gebrauchte die Wissenschaft noch nahezu zwei Jahrtausende.

Gebührende Anerkennung verdienen auch seine Versuche, die Ver- dauung und andere physiologische Vorgänge auf mechanische Weise zu erklären und die Ursachen der Krankheiten durch pathologische Sektionen zu erforschen.^

Herophilos und Eeasistratos wurden bei ihren anatomischen Untersuchungen ohne Zweifel durch manche werthvoUe Vorarbeiten unterstützt, wie das Werk des Diokles von Karystus, dessen Galen® rühmend gedenkt; aber hauptsächlich verdankten sie ihre ausserordent- lichen Erfolge dem Umstände, dass ihnen die ägyptischen Könige menschliche Leichen in beliebiger Menge zu anatomischen Sektionen zur Verfügung stellten. Sie erhielten sogar die Gelegenheit, lebende Menschen zu öffnen, indem ihnen zu diesem Zweck Verbrecher aus den Gefängnissen übergeben wurden, „damit sie die Lage, Farbe, Gestalt, Grösse, Anordnung, Härte, Weichheit, Glätte, äussere Fläche, sowie die Vorsprünge und Einbiegungen der einzelnen Organe während des Lebens studieren konnten." Sie entschuldigten diese Vivisektionen damit, „dass es erlaubt sein müsse, das Leben einiger weniger Verbrecher zu opfern, wenn daraus ein dauernder Nutzen für das Leben und die Gesundheit der vielen ehrbaren Menschen entspringt". Ihre Gegner erwiderten ihnen darauf, „dass dies nicht blos grausam sei und die Heilkunst, welche zum Segen der Menschen, nicht aber zu ihrer Qual dienen solle,

* Galen a. a. 0. T. III, 673. ^ Rupus a. a. 0. p. 185. 3 Galen a. a. 0. III, 465. 492. V, 166.

* Galen a. a. O. T. II, 649. IV, 718.

* Galen a. a. 0. \, XIX, 373. Celsus: Prooem. u. in, 21. Dioskobides, Ed. C. Sprengel, Lips. 1830, T. II, p. 72. Caelius Aubelianüs: de chron. Hl, 8. V, 10.

« Galen a. a. 0. T. II, 282. 716.

In Alexcmdria. 67

entwürdige, sondern auch überflüssig sei, da die Leute, nachdem ihnen die Bauchhöhle aufgeschnitten, das Zwerchfell durchtrennt und die Brusthöhle eröfl&iet worden, sterben, bevor noch wissenschaftliche Unter- suchungen am Lebenden möglich waren". ^

Die Schüler und Nachfolger dieser beiden Koryphäen der Alexan- drinischen Schule verliessen später leider die exakte Forschungsmethode, welche Jene zu beachtenswerthen Erfolgen geführt hatte, und betraten den bequemen mühelosen Weg der Spekulation. Nur Wenige, wie der Anatom Eudemos, die Ärzte Bacchios von Tanagra und Mantias, der sich um die Arzneimittellehre verdient machte, die Geburtshelfer Demetäios von Apamea und Anbbeas von Karystus, welche die die Geburt erschwerenden Zustände und Verhältnisse in übersichtlicher und ziemlich vollständiger Weise zusammenstellten, der Chirurg Philoxenos u. A. machten davon eine rühmliche Ausnahme. Einzelne verpflanzten ihre Lehren nach anderen Orten und gründeten zu ihrer Pflege medi- cinische Schulen, wie Zeuxis zu Laodicea und Hikesios zu Smyma.

Die geringen Unterschiede zwischen den Herophileern und Erasi- strateem verwischten sich mehr und mehr; die ersteren zeichneten sich nur dadurch von den letzteren aus, dass sie conservativer waren und den Schriften der Hippokratiker, die sie mit Commentaren versahen, eine grössere Autorität zugestanden. Aber beide Schulen waren dem Untergange geweiht, als sie aufhörten, durch eigene Forschungen den Fortschritt der Wissenschaft anzustreben, und sich darauf beschränkten, an den überlieferten Theorien festzuhalten, die allmälig zum todten Formalismus erstarrten. „Freilich war es bequemer," schreibt Plinius, „in den Schulen zu sitzen und ruhig zuzuhören, als draussen die Ein- öden zu durchwandern und jeden Tag andere Pflanzen zu suchen." ^

Es war unter solchen Umständen kein Wunder, dass die denkenden Ärzte sich von diesen Dogmatikem abwandten und einem Empirismus huldigten, der zwar nicht die Lösung der physiologischen und patho- logischen Probleme versprach, aber den Bedürfnissen der ärztlichen Praxis Genüge leistete. Unter dem Einfluss des Skepticismus, welcher von Ptbehon angeregt und von Karneades, dem Stifter der soge- nannten dritten Platonischen Akademie, weiter ausgebildet, zur herr- schenden Weltanschauung geworden war, kamen sie zu der Meinung, dass es in dieser Welt der Erscheinungen eine Gewissheit, ein Wissen überhaupt nicht gebe und die Wahrscheinlichkeit das höchste Ziel sei, welches der menschliche Verstand erreichen könne. Damit verzichteten

^ Celsüs: Prooein. TEBTüLUAiff: de anima, c. 10. 2 Plinius: Eist. nat. XXVI, 6.

68 Der medidnische Unterricht im Alterthum,

sie auf die schönsten Hoffnungen, welche das wissenschaftliche Streben belebt hatten, und erklärten dasselbe für aussichtslos.

Die Empiriker vernachlässigten die Anatomie und Physiologie, weil sie deren Studium für überflüssig und fruchtlos ansahen; sie küm- merten sich auch nicht um das Wesen der Krankheiten, sondern be- gnügten sich damit, ihre Erscheinungen zu beobachten, ihre nächsten Ursachen zu erforschen und die Heilmittel aufzufinden und zu prüfen, welche zur Beseitigung der Leiden geeignet erschienen. Dabei Hessen sie sich hauptsächlich von der Erfahrung leiten, und zwar zogen sie nicht blos die eigenen Beobachtungen zu Rath, sondern auch diejenigen, welche von Anderen gemacht worden waren und sich im Verlauf der Zeit zur Geschichte umgestaltet hatten. Bei neuen unbekannten Er- scheinungen, über welche noch keine Erfahrungen vorlagen, wurde ein Verfahren eingeschlagen, welches in ähnlichen Fällen erfolgreich ge- wesen war. Indem man somit den Schluss per analogiam als dritte Erkenntnissquelle der Erfahrung und der Geschichte anreihte, vervoll- ständigte man den sogenannten empirischen Dreifuss.

Die Empiriker schenkten ihre Aufmerksamkeit vorzugsweise der praktischen Heilkunde. Die Arzneimittellehre, die Geburtshilfe und Chirurgie wurden von ihnen wesentlich gefordert. Die Technik des Steinschnitts, wie sie Celsus schildert, ist ihr Verdienst. Auch die ersten Versuche zur Lithothrypsie, welche von Ammonios unternommen wurden, stammen aus dieser Zeit* Die Arzneimittellehre wurde mit den Werken eines Nikandee und Kratevas bereichert, der sein mit colorirten Abbildungen ausgestattetes Buch über die medicinischen Kräfte dem Könige Mithridates von Pontes widmete. Ausserdem gehörten Phtlinos, ein Schüler des Heeophilos, Serapion, Glaukias und Heeaklides aus Tarent zu den bekannten Vertretern der empirischen Sekte. 2

Während die Wissenschaften in Alexandria blühten und gediehen, wurden ihnen auch an anderen Orten Wohnstätten bereitet, in denen sie sich heimisch machen sollten. Die Fürstengeschlechter der Seleu- ciden in Syrien und der Attaler in Pergamon wetteiferten mit den Ptolemäem in der Pflege der geistigen Güter. Die Attaler gründeten sowohl Elementarschulen,^ als Anstalten für Gelehrte gleich jenen in Alexandria, und ihre Bibliothek war nächst denen des Museums und

» Celsus VII, 26.

« Ch. Dabembebg (Histoire des sciences m^dicales, Paris 1870, T. I, p. 159) hat die Anhänger dieser, sowie diejenigen der beiden dogmatischen Schulen zu Alexandria in chronologischer Reihenfolge neben einander gestellt.

« Th. Mommsen: Rom. Geschichte, Bd. V, S. 334.

In Aleocandria. 69

Serapeums die berühmteste des Alterthums. Die Concurrenz, welche sie den Ptolemäem beim Ankauf von Handschriften machten ^ führte zum Verbot der Ausfuhr der Papyros-Blätter aus Ägypten, welches die indirekte Veranlassung zur Erfindung eines dauerhaften Schreib- materials gab, nämlich des Pergaments, dessen Name von Pergamon stammt. Die dortigen Schulen gelangten ebenfalls zu hohem Ansehen und brachten Gelehrte hervor, die sich in der Textkritik, Mathematik, namentlich aber in der Medicin auszeichneten. Als Mittelpunkt ärzt- licher Büdung nahm Pergamon lange Zeit eine hervorragende Stellung ein; noch Galen, einer der grössten Ärzte und Forscher, die jemals gelebt haben, erhielt hier den ersten medicinischen Unterricht.

Einen traurigen Ruhm in der Geschichte der medicinischen Wissen- schaft erwarb sich der letzte König von Pergamon, der geisteskranke Attalus III. In beständiger Furcht, von seinen Feinden vergiftet zu werden, verlangte er, dass wirksame Gegenmittel gegen Vergiftungen aufgefunden würden, und liess zu diesem Zweck Versuche anstellen an Verbrechern und anderen Leuten, deren er sich entledigen wollte. „Mit eigener Hand baute er giftige Gewächse, Bilsenkraut, Niesswurz, Schierling, Sturmhut und Doryknion in den königlichen Gärten und sammelte ihre Säfte und Früchte, um ihre Kräfte zu studieren." ^ Der gleichen Liebhaberei huldigte ein anderer dieser königlichen Giftmischer, der mordlustige Mithridates von Pontes, welcher täglich Gift nahm, um sich auf diese Weise allmälig an den Genuss desselben zu ge- wöhnen. Diese Versuche, obgleich im Dienste des Wahnsinns und der Grausamkeit unternommen, hatten für die Heilkunde den Vortheil, dass sie zu einer sorgfaltigen Prüfung der Eigenschaften und Kräfte man- cher Arzneistoflfe führten, und die Mittheilungen der medicinischen Autoren späterer Zeiten bezeugen, dass sie nicht ohne Ergebniss blieben.

Die wohlwollende Protektion, welche den Wissenschaften von den ersten Ptolemäem zu Theil geworden war, verwandelte sich später in Gleichgültigkeit und Misstrauen und machte zuletzt dem Gefühl des Hasses und der Verachtung Platz. Der siebente Ptolemäer vertrieb die Gelehrten aus Alexandria und liess die gelehrten Anstalten schliessen.

Als sie später wieder eröfl&iet wurden, trugen sie das Zeichen des Verfalls an sich. Die Stellen der Gelehrten des Museums wurden jetzt nach der Laune des Fürsten besetzt und dienten als Belohnung für Schmeicheleien und niedrige Dienste. Für diese Zeit mochte das beissende Wort des Phliasiers Timon berechtigt sein, „dass das Museum ein grosser Futterkorb sei, in welchem sich ßücherschmierer mästen,

^ Plütarch: Vita Demetrii, c. 20.

70 Der medidnische Unterricht im Alterthtmi.

die sich um Dinge streiten, die sie nicht kennen".^ Unter der rö- mischen Herrschaft kam es sogar soweit, dass Athleten zu Mitgliedern des Museums ernannt wurden.

Die berühmten Bibliotheken wurden theils durch Feuer zerstört, theils von den fremden Machthabem, welche nach Ägypten kamen, geplündert. Ein Theil der literarischen Schätze wanderte nach Italien und Konstantinopel und diente zur Gründung oder Vermehrung der Bibliotheken, welche dort geschaffen wurden.

Die letzten Überreste sollen bei der Einnahme von Alexandria durch die Araber zu Grunde gegangen oder durch die Christen ver- nichtet worden sein.

Im Jahre 389 wurde der Serapis-Tempel in eine christliche Kirche umgewandelt, und in dem Serapeum nahmen „sogenannte Mönche ihre Wohnung, die", wie Eunapios schreibt, „in ihrer Gestalt zwar Menschen glichen, in ihrer Lebensweise aber Schweine waren". ^ Er hat dabei sicherlich nicht Leute, wie unsere hochgebildeten Benediktiner, sondern schmutzige orientalische Mönche vor Augen gehabt.

Die medicinischen Schulen in Alexandria behaupteten ihre hervor- ragende Stellung auch unter der Herrschaft der Eömer und darüber hinaus und trugen vielleicht wesentlich bei zu dem Aufschwünge, den die Heilkunst unter den Arabern erlebte.

Die Medicin in Rom.

Die italische Halbinsel bildete Jahrhunderte lang den Schauplatz erbitterter Kämpfe und Fehden, deren Endergebniss die Unterwerfung der einzelnen Völkerschaften unter die römische Herrschaft war. Die kleinen Bauernstaaten, welche allmälig zu dem politischen Gemeinwesen der Römer verschmolzen, hatten den Künsten und Wissenschaften geringe Pflege gewidmet, und nur die Etrusker konnten auf Cultur- Errungenschaften hinweisen, welche die Keime einer erfolgreichen Ent- wickelung in sich bargen.

Die Heilkunde zeigte den theurgisch-empirischen Charakter. Ge- bete, Opferungen, mystische Zaubersprüche und Anrufungen der Götter bildeten neben einigen heilkräftigen Kräutern, deren Wirkung der Zufall

^ Athenaeos deipnosophist. I, p. 11, Basil. 1535, Ed. Bedrotus. 2 Eunapios in aedes I, p. 43, nach Parthey a. a. 0. S. 102.

Die Medioin in Born, 71

gelehrt und die Erfahrung bestätigt hatte, die gebrauchlichsten Heil- mittel, deren man sich bei Krankheiten bediente. Auch besass man einige Kenntnisse in der Behandlung der Wunden, in der Stillung von Blutungen und in der Heilung von Knochenbrüchen und Verrenkungen. Seneca^ charakterisirt den Zustand der damaligen Heilkunst treffend mit den Worten: medieina quondam pauGcenmi fuit sdenHa kerbarmn quibus sisteretur fluens sanguis, vtUnera coirent.

Ein eigentlicher ärztlicher Stand fehlte, und gute Freunde, barm- herzige Frauen und treu ergebene Diener leisteten wie zur Zeit Hombb's im Fall der Noth die erforderliche Hilfe.

Die Eömer sahen in der Begründung und Erweiterung ihrer po- litischen Macht die einzige Aufgabe, welche die Kräfte der Nation in Anspruch nahm. Ihr gegenüber erschienen die Beschäftigungen mit Dingen, wie die Heilkunst, von untergeordneter Bedeutung. Der Inhalt der letzteren erfuhr daher bei ihnen keine wesentliche Beraicherung, und ihre Ausübung blieb in denselben Händen, wie bisher.

Allerdings hätte die Eingeweideschau, welche die Haruspices vor- nahmen, dazu dienen können, das anatomische Wissen zu vermehren; aber diesen Priestern mangelte die noth wendige Vorbildung, und bei ihren Untersuchungen standen ihnen nicht wissenschaftliche Ziele, son- dern mystisch -religiöse Aufgaben vor Augen, welche sie darauf hin- wiesen, Absonderlichkeiten zu finden, selbst dort, wo sie nicht vorhanden waren. Gleichwohl deuten die zahlreichen Ausdrücke der anatomischen Terminologie, 2 welche der lateinischen Sprache entlehnt sind, darauf hin, dass man die wichtigsten Organe des Körpers kannte und von einander zu unterscheiden wusste.

Übrigens bestanden nur lose Beziehungen zwischen der Anatomie und der praktischen Heilkunde. Der römische Hausvater, wie er uns in M. PoRCius Cato entgegentritt, hatte sein Eeceptenbuch, aus wel- chem er sich bei Erkrankungen seiner Familie, seiner Sklaven und Hausthiere Rath holte. ^ Darin waren ausser manchen abergläubischen Zauberformeln allerlei Mittel gegen innere Leiden angegeben und die Behandlung geschildert, welche bei Verletzungen, Frakturen, Luxationen, Wunden, Geschwüren, Fisteln, Nasenpolypen u. a. m. eingeschlagen werden sollte. Grossen Werth legte man auf die Diätetik, und einzelne

^ Epist. 95.

^ REy:^ Briau: Introduction de la m^decine dans le Latium et ä Borne in der R^vue arch^ol., Paris 1885, s6r. m, T. 6, p. 197. Jos. Hybtl: Onomato- logia anatomica, Wien 1880.

^ Plinius: Hist. nat. XXIX, c. 8. Plutaeoh: Cato major, c. 23.

72 Der medioinisehe Unterricht im Alterthu/m.

Hausmittel, wie der Kohl, standen in hohem Ansehen.^ Auch der Wein wurde zu derartigen Zwecken häufig verwendet, und Cato, „dessen Tugend", wie Hobaz * schreibt, „nicht selten in lauterem Wein erglühte", empfahl ihn als Zusatz zu verschiedenen Heilmitteln.

Die patriarchalische Sitte, nach welcher der Hausvater zugleich der Hausarzt war, verschwand natürlich mit der Entwickelung der Heil- kunst und bildete sicherlich schon zu Cato's Zeit nur noch eine Aus- nahme. Die vermehrten Anforderungen, welche an das Wissen und Können der Heilkundigen gestellt wurden, und der Aufschwung der politischen und socialen Verhältnisse rechtfertigten die Bildung eines besonderen ärztlichen Standes. Leider fehlen die historischen Nach- richten, in welcher Weise sich dieser Prozess vollzog. Vielleicht hatte das Bedürfhiss einer verlässlichen ärztlichen Hilfe, welches sich in den häufigen Kriegszügen der Römer kundgab, Einfluss darauf?

In den ältesten Zeiten pflegten die Soldaten einander gegenseitig zu verbinden und fahrten zu diesem Zweck Verbandstücke mit sich. Jeder betheiligte sich an der Pflege der Verwundeten;^ aber die ärzt- liche Hilfe, welche ihnen zu Theü wurde, scheint unzureichend gewesen zu sein, so dass z. B. nach der Schlacht bei Sutrium (309 v. Chr.) mehr Krieger ihren Verletzungen nachträglich erlagen, als von den ' Feinden getödtet worden waren.*

Doch steht es fest, dass zu jener Zeit in Eom die Heilkunst be^ reits berufsmässig ausgeübt wurde. Es wird dies nicht blos durch das Zeugniss der Autoren des Alterthums,^ welche bei verschiedenen Ge- legenheiten der Ärzte gedenken, sondern auch durch mehrere Thatsachen in überzeugender Weise bewiesen.

Die Lex Aquüia machte den Arzt, welcher einen Sklaven nach der Operation vernachlässigt hatte, so dass dadurch dessen Tod herbeigeführt worden war, dafor verantwortlich.^ Plutarch^ erzählt, dass sich bei einer Gesandtschaft, welche die Eömer nach Bithynien schickten, ein Mann befunden habe, an welchem die Trepanation mit glücklichem Erfolg ausgeführt worden war, und schon in den zwölf Gesetzestafeln des Numa ist von Zähnen die Eede, welche durch Goldfaden künstlich mit einander verbunden waren.®

Dagegen behauptet Punius® freilich, dass Eom viele Jahrhunderte

^ Plinius: Hist. nat. XX, c. 33. * Od. III, 21, Ad amphoram.

8 Tacitus: Annal. IV, 63. > Lmus Vin, 36. IX, 32. X, 35. XXX, 34. '^ DiON. Halicarn. I, 79. X, 53. Livius XXV, 26. * Institut. IV, tit. 3. § 6 u. 7. ^ Cato major, c. 9. ® Cicero: de leg. 11, 24. ® Pltnius: Hist. nat. XXIX, 5.

Die Medioin in Born, 73

hindurch der Arzte, wenn auch nicht der Heilkunst (sine mediois, nee tarnen sine medidna), entbehrt habe. Aber er wollte damit nur sagen, dass es in Eom bis zur Einwanderung der griechischen Arzte, von denen er bald nachher spricht, keine Leute gab, welche den Namen von Ärzten verdienten, und bemerkt dabei, dass man der griechischen Heilkunst mit freudiger Begierde entgegengesehen habe, aber nachdem man sie kennen gelernt, davon enttauscht sei {medidnae vero etiam avidtiSy donee expertcmi damnavitj; er verbessert sich indessen später, indem er sagt, dass damit nicht die Sache selbst, sondern die Art, wie sie betrieben wurde, gemeint sei.^

Dör griechische Einfluss hatte sich in Kom geltend gemacht, längst bevor man mit den wissenschaftlichen Errungenschaften der griechischen Arzte bekannt wurde; und es ist bezeichnend für die Denkweise jener Zeit, dass er sich zuerst auf dem Gebiet der religiösen Mystik kundgab. Schon in früher Zeit nahmen die Römer bei schweren Epidemien ihre Zuflucht zu den Orakeln und Heilgottheiten der Griechen, welche neben den heimischen Göttern verehrt wurden. Dem ApoUon als Arzt wurde bei einer Seuche, die im 5. Jahrhundert v. Chr. in Rom wüthete, ein Tempel gewidmet.^ I. J. 291 v. Chr. wurde der Asklepios-Dienst von Epidauros nach Rom verpflanzt: eine Thatsache, welche dichterisch aus- geschmückt, von verschiedenen Schriftstellern dargestellt und sogar von der bildenden Kunst verherrlicht worden ist.' I. J. 154 n. Chr. wurde in Rom ein Collegiimi Aesculapii et Hygieae errichtet, dessen Stiftungs- Urkunde sich in einer im Garten des Palais Palestrine gefundenen Inschrift erhalten hat.*

Als Rom nach den punischen Kriegen zur Weltmacht emporwuchs, welche die Herrschaft über das Miftehneer und die dasselbe begrenzenden Länder mit Erfolg anstreben durfte, nahm die Einwanderung von Fremden in bemerkenswerther Weise zu. Wer durch Geburt, Ver- mögen, Talent oder Wissen seine Mitbürger überragte, ging nach der Tiberstadt, weil er hier am ehesten hoffen konnte, seine Vorzüge zur Geltung zu bringen. Dazu gesellte sich eine Schaar von Abenteurern,

^ Pliniüs a. a. 0. XXIX, 8. » Lmus IV, 25. 29. VII, 20. XL, 51.

' Valer. Maxim. I, 6. 8. Livius X, 47. XXIX, 22. Ovid: Metam. XV, V. 626—744. Panopka: Asklepios und die Asklepiaden, Berlin 1840, S. 52 u. Tafel II, 3. Böttiger in K. Sprengel's Beiträgen z. Gesch. d. Med., Halle 1795, I, 2. S. 163 u. ff.

* Spon: Eecherches curieuses d'antiquite, Lyon 1683, p. 326—340, und wieder abgedruckt bei J. Eosenbaum: K. Sprengel's Versuch einer Greschichte d. Arznei- kunde, Leipzig 1846, S. 208 Anm., und G. Pinto: Storia della medicina in Koma, Koma 1879, p. 191.

74 Der medidnische Unterricht im Älterthum,

welche ihr Glück suchten und dabei weder Mittel noch Wege scheuten, wenn sie zum Ziele führten, sowie jene namenlose Menge von Sklaven, die von reichen Römern aus der Ferne bezogen wurden, um den er- höhten Luxus zu befriedigen. Der vermehrte Sinnengenuss hatte neue Laster und neue Krankheiten im Gefolge, gegen welche man bei fremden Ärzten Hilfe suchte.

Das grösste Contingent zu der Einwanderung der Fremden stellten, wie bisher, die Griechen, deren Sprache und Cultur in Rom massgebend wurde. Nichts kennzeichnet die Bedeutung, welche der Hellenismus dort erlangte, mehr, als dass selbst Cato, der Verächter des Griechen- thums, sich bewogen fühlte, dessen Sprache und Literatur zu [studieren, und dass derselbe Feldherr, Lucius Aemilius Paulus, welcher die Griechen auf dem Schlachtfelde besiegte, seine Kinder von griechischen Lehrern erziehen liess. Nur auf politischem Felde, nur im Kampfe der Waffen erlagen die Griechen den Römern; im Wettstreit der Geister blieben sie die Sieger.

Graecia capta ferum vietorem cepit et artes Intulit agresti Latio.^

Die mächtigsten Veränderungen erfuhren dadurch das Bildungs- wesen und die Heilkunde in Rom.

Die bewunderungswürdigen Erfolge, welche die letztere den Griechen verdankte, machen es begreiflich, dass man bestrebt war, sich ihr Wissen und ihre Geschicklichkeit auf diesem Gebiet nutzbar zu machen. Die griechischen Ärzte wurden in Rom gesucht, und ihre römischen Col- legen mussten aus der medicinischen Literatur der Griechen Fach- kenntnisse sammeln, wenn sie im Kampfe ums Dasein nicht zu Grunde gehen wollten. Die römische Heilkunst, soweit sie auf nationalem Boden entstanden war, ging in der griechischen Heilkunde auf und liess nur, wie alle niederen Cultur-Elemente, wenn sie den höheren unterliegen, in der Tradition des Volkes ihre Spuren zurück.

Die berufsmässige Heilkunst in Rom war fortan griechisch. Ihr Inhalt stützte sich auf griechische Schriften, und ihre hervorragendsten Vertreter gehörten der griechischen Nation an. Dieses Übergewicht erhielt sich bis in das späte Älterthum. Die Römer haben es auf diesem Gebiet eigentlich niemals zu einer geistigen Selbstständigkeit gebracht, und ihre besten medicinischen Werke besitzen nur den Werth compilatorischer Zusammenstellungen, zu denen die Schöpfungen des griechischen Geistes als Vorlage dienten.

^ HoRATius: Epist. I, 1, v. 156.

Die Medidn in Bo^n. 75

Die ersten griechischen Ärzte, welche in Born einwanderten, waren, wie es scheint, nicht gerade die ehrenwerthesten Mitglieder ihres Standes. Auffallend durch ihr fremdartiges Wesen und durch jenen Zug von Charlatanerie, welcher ihrer orientalischen Heimath eigenthümlich, aber den strengen Sitten der Eömer ungewohnt war, machten sie sich bald durch Habsucht und Prahlereien verächtlich und verhasst. Sicherlich waren nur Wenige von Begeisterung für die Heilkunst und Liebe zu den Menschen erfüllt; die Meisten trieb die Sucht nach ßeichthum und Genuss aus der Heimath in die Fremde. Die schweren Anklagen, welche Cato gegen sie richtete, waren, wenn auch übertrieben, doch nicht ohne alle Berechtigung.^

Der aus dem Peloponnes stammende Arzt Abchagathoö (ein guter Anfang!), welcher um d. J. 219 v. Chr. nach Rom kam, lenkte zuerst die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Seine chirurgischen Operationen erregten solches Aufsehen, dass der Senat ihm das römische Bürger- recht verlieh und auf Kosten der Gemeinde eine Officin in einem be- lebten Theile der Stadt kaufte. Aber seine Lust „am Schneiden und Brennen", ^vielleicht auch manche Misserfolge, die er bei seinen Opera- tionen hatte, raubten ihm bald das Vertrauen der Bevölkerung, und man sagte, dass er kein Wundarzt, sondern ein Henker (eamifex) sei.^

Eine hervorragende Stellung erlangte später der bithynische Arzt Ah>KLEPiADEs, welcher zur Zeit des Pompejus nach Bom übersiedelte. Im Besitz einer gründlichen Allgemeinbildung, ausgestattet mit unge- wöhnlichen Gaben des Geistes, einem scharfen, durchdringenden Ver- stände und einer reichen Lebenserfahrung, erhob er sich bald über den Tross der gewöhnlichen Ärzte. Seine feinen gesellschaftlichen Manieren, sein sicheres weltmännisches Auftreten in Verbindung mit seinem Bednertalent, welches seinem masslosen Selbstbewusstsein die geeignete Beleuchtung zu geben wusste, verschafften ihm den Zutritt in den vor- nehmsten Kreisen Roms und die auszeichnende Freundschaft von Män- nern wie Cicero, L. Crassus, Marcus Antonius u. A. König Mithridates suchte ihn durch Versprechungen an seinen Hof zu ziehen, musste sich aber, da Asklepiades diese Einladung ablehnte, mit der Übersendung seiner Schriften begnügen. Asklepiades zog es vor, in Rom zu bleiben, wo er grosse Reichthümer gewann und verehrt wurde „wie ein Ab- gesandter des Himmels".

Er verstand es vortrefflich, die hohe Meinung, welche man von ihm hatte, zu erhalten und wenn möglich noch zu erhöhen, und ver- schmähte zu diesem Zweck kein Mittel. So rief er einen Menschen,

1 Plinius a. a. 0. XXIX, 5. 7. 8. « Plinius a. a. 0. XXTX, 6.

76 Der medioinische UrUerrioht im AUerihimi.

dessen Leichenbegängnis^ man gerade feiern wollte, ins Leben zurück. Mit marktschreierischer Grossthuerei erklärte er, man möge ihn nicht für einen Arzt halten, wenn er selbst jemals krank werde; und der Tod war so gefällig, ihn nicht zu desavouiren, denn er starb durch den Sturz von einer Leiter.^

Wie alle Leute dieser Art, läugnete auch Asklepiades jede Autorität und glaubte nur an sich selbst. Er verwarf die dogmatischen Lehren seiner Vorgänger und schuf selbst ein medicinisches System, das sich auf die Atomenlehre der Epikuräer gründete, wie sie dieselbe von Demokbit und in etwas modificirter Form von Hebakledes, dem Pontiker, über- nommen hatten. Er lehrte, dass der menschliche Körper zusammen- gesetzt sei aus formlosen, beständigen Bewegungen und Veränderungen unterworfenen Atomen und zwischen ihnen gelagerten Hohlräumen, welche die Bewegung der Säffce, sowie die Empfindung vermitteln. Aus der Beschaffenheit und Lagerung der Atome und ihrem Verhältniss zu den Hohlräumen leitete er Gesundheit und Bjrankheit ab.^ Die menschliche Seele erschien ihm als das Ergebniss der Sinnesthätigkeit. Er sagte, dass sie wie ein Hauch sei, der alle Theile des Körpers durchdringe, und keineswegs in einem bestimmten Organ ihren Sitz habe : eine Äusserung, welche den Kirchenschriftsteller Tebtullian ^ zu abgeschmackten Witzeleien Anlass gegeben hat.

Die materialistischen Ideen, welche zur gleichen Zeit einen beredten Vertheidiger in dem Dichter Lucbez fanden, hatten unter den Männern des Fortschritts viele Freunde und Anhänger. Asklepiades suchte sie mit der Moralphilosophie der Stoa zu verbinden, damit sie bei den spiritualistisch angelegten Naturen keinen Anstoss erregten. Auf diese Weise sicherte er seinen Lehren den Beifall und die Bewunderung der gebildeten Laien, während die Ärzte durch die Vorzüge, welche sie vor der Humoralpathologie hatten, gewonnen wurden.

Die einseitige Berücksichtigung der Säfte-Theorie in der Physio- logie und Pathologie der Hippokratiker konnte die denkenden Ärzte nicht befriedigen. Es leuchtete ihnen daher ein, als Asklepiades auf die Eolle hinwies, welche dabei die festen Theile des Körpers spielen. Er hat sich dadurch ebenso wie durch die Einführung des Materialis- mus in die Medicin um die Entwickelung dieser Wissenschaft grosse Verdienste erworben.

^ PLiNros a. a. 0. VII, 37. XXVI, 7. 8. 9. Ciceeo: de orator. I, 14. Apulejus: florid., c. 19. Sext. Empir. ad logic. dogm. I, c. 91., ad mathem. IV, c. 113 u. a. m.

' Cael. Aüreliakus: de acut. I, 14. 15.

* Tertüllian: de anima, c. 15.

Die Medidn in Born. 77

Seine therapeutischen Grundsätze gipfelten in dem Satze, dass der Arzt darnach trachten müsse, den Kranken rasch, sicher und auf eine angenehme Art gesund zu machen. Er bekämpfte den Missbrauch, welchen die Ärzte seiner Zeit mit drastischen Purgan tien, mit Brech- mitteln und schweisstreibenden Verordnungen trieben, und empfahl statt dessen neben einer strengen Regelung der Diät vorzugsweise active und passive Bewegungen des Körpers, Abreibungen, Bäder, den Genuss des kalten Wassers, Kly stire u. dgL m. Um Schlaf zu erzeugen, liess er die Kranken in Hängematten legen, welche in sanfte schaukelnde Be- wegung versetzt wurden. Bei der Bräune rieth er, wie schon Andere vor ihm, die Tracheotomie vorzunehmen.^

Die Lehren des Asklepiade^ wurden von seinen Schülern und Anhängern weiter ausgearbeitet und bildeten die Grundlage für die ärztliche Sekte, welche die methodische genannt wurde. Der eigent- liche Begründer derselben, Themison aus Laodicea, ein Schüler des AsKLEPiADEs, uuterzog sich der Aufgabe, die Natur-Philosophie seines Meisters dem Verständniss und den Bedürfiiissen der praktischen Ärzte anzupassen. Er sagte, dass die Krankheiten entweder den Charakter der Spannung, d. h. der Reizung oder der Erschlaffung oder einen aus beiden Eigenschaften gemischten Zustand zeigen, indem die Sekretions- thätigkeit der Organe entweder herabgesetzt oder gesteigert oder zu verschiedenen Zeiten verändert erscheine.* Die den verschiedenen Krankheiten gemeinsamen Charaktere wurden Communitäten genannt, und ihre Bekämpfung durch Mittel, welche eine entgegengesetzte Wir- kung besitzen, als der Zweck der ärztlichen Behandlung hingestellt.

Die Methodiker beschränkten sich auf die Betrachtung der allge- meinen Erscheinungen der Krankheiten; den Sitz derselben und ihre Ursachen zu erforschen, hielten sie für überflüssig und wohl auch für aussichtslos. Sie beschäftigten sich hauptsächlich mit der Semiotik und Therapie und schenkten vorzugsweise den Fragen der praktischen Heil- kunst ihre Aufinerksamkeit

Ihre Lehren waren so einfach und leicht zu begreifen und so be- quem in der Ausführung, dass sie bei der grossen Menge der Ärzte bereitwillig Aufaahme fanden. Aber Denjenigen, welche wissenschaft- liche Interessen hegten, konnten ihre Mängel nicht entgehen. Die Oberflächlichkeit der Alles nach einer vorgeschriebenen Schablone generalisirenden Communitäten-Lehre, welche nicht blos die Fragen der wissenschaftlichen Theorie unbeantwortet liess, sondern selbst für die .

^ Celsus II, 14. in, 4. IV, 19. Cael. Aürel.: de acut. I, 15. III, 4. 8. Plinius: Hist nat. XXVI, 7. 8. 9. * Celsus: Praef.

78 Der medictnische Unterricht im Älterthmn,

Praxis unzureichend erschien, musste sich mit der Zeit ebenso unhalt- bar erweisen, als ihr unreifer Materialismus, der in der Synkrise der Atome die Lösung des Räthsels des organischen Lebens gefunden zu haben glaubte.

Die Einsichtigen wandten sich daher einem Eklekticismus zu, der die Elementenlehre und Qualitätentheorie der griechischen Naturphilo- sophen mit dem Humorismus der Hippokratiker und der Solidarpatho- logie der methodischen Schule zu vereinigen und durch die Annahme des Pneuma, eines den Körper erfüllenden und ihn beherrschenden geistigen Elementes, eine wesentliche Lücke der verschiedenen medi- cinischen Systeme zu ergänzen versuchte. Die Lehre vom Pneuma war keineswegs neu; sie wurde schon in den Hippokratischen Schriften angedeutet, von den Peripatetikem ausführlicher erörtert, von Ebasi- STRATOS zur Erklärung mancher Vorgänge im menschlichen Organismus verwendet und später durch die Stoa wieder in den Vordergrund ge- drängt. Einige Ärzte, wie z. B. Athenaeus aus Attalia, schrieben dem Pneuma eine so hervorragende Rolle zu, dass man sie als Pneumatiker bezeichnet hat.

In der ärztlichen Praxis stellten sich die Eklektiker auf den Boden der Thatsachen xmd sahen in der Erfahrung die einzige und sicherste Richtschnur ihres Handelns. Aber sie standen der wissenschaftlichen Forschung nicht, wie die Methodiker oder die Empiriker, gleichgültig oder gar feindselig gegenüber, sondern begünstigten dieselbe und för- derten sie selbst auf Gebieten, wie z. B. die Anatomie und Physiologie,, deren Nutzen für die ärztliche Praxis nicht sofort erkennbar war.

Der Eklekticismus wurde in wirksamer Weise vorbereitet und ein- geleitet durch die Schriften der Encyklopädisten, welche Alles, was in den vorangegangenen Culturperioden auf den einzelnen Gebieten des geistigen Strebens geleistet worden war, zusammen stellten. Neben der Philosophie und Geschichte, der Politik, Kriegs Wissenschaft, Geo- graphie, den Naturwissenschaften, der Landwirthschaft, Malerei und Bildhauerkunst u. a. m. zogen sie auch die Medicin in den Kreis der Betrachtung. Ihre Schriften über diesen Gegenstand bringen eine Übersicht des gesammten medicinischen Wissens jener Zeit und sind um so werthvoller, als sie . eine Menge von Auszügen aus ärztlichen Werken enthalten, welche verlor^i gegangen sind. Die bekanntesten Encyklopädisten waren M. Tebentius Vabro, A. Cobnelius Celsus und der ältere Plinius. Der Letztere benutzte zu seiner Naturgeschichte nicht weniger als 2000 Bücher, wie er selbst erzählt,^ und Celsus-

* Plinius a. a. 0. I, praef.

Die Medicin in Born, IQ

liefert in seinem medicinischen Werk, welches sich durch die Eleganz der Darstellung wie durch die Classicität der Sprache den besten Er- scheinungen der römischen Literatur anschliesst, einen wenn auch schwachen Ersatz für eine grosse Anzahl von medicinischen Werken der Alexandrinischen Periode, die uns ein neidisches Geschick ge- raubt hat

Der Eklekticismus entwickelte sich zum lebensfrischen Organismus, weichet die Vorzüge der übrigen medicinischen Systeme in sich ver- einigte, ohne deren Mängel und Fehler zu besitzen. Festhaltend an den Traditionen der Vergangenheit, aber frei von jener schulmeister- haften Pedanterie, welche das Heraustreten aus den gewohnten Geleisen als ein frevelhaftes Wagniss betrachtet, war er ganz geeignet, die Forscherthätigkeit des Einzelnen zu fördern und den Fortschritt der Wissenschaft zu ermöglichen. Der Eklekticismus war ein Bedürfnis» und eine Nothwendigkeit für die Heilkunde, wenn sie nicht in roher Empirie oder einseitigem Methodismus verflachen wollte. Es war daher begreiflich, dass er die Herrschaft in der Medicin erlangte. Die Ärzte schlössen sich ihm mit Begeisterung an, und die medicinische Literatur erhielt eine eklektische Färbxmg.

Auch die Lehre Galen's, welche durch ein und ein halbes Jahr- tausend der Welt als höchste und fast unfehlbare Autorität in medi- cinischen Dingen galt, war ursprünglich nichts Anderes als ein ge- läuterter Eklekticismus. Freilich errang sich dieselbe durch die schöpferische Kraft ihres Begründers, welcher der medicinischen Wissen- schaft eine Fülle von Thatsachen erschloss und ihr neue Bahnen er- öfiEuete, bald die Selbstständigkeit und gestaltete sich zum abgeschlossenen System.

Galen wurde i. J. 131 n. Chr. zu Pergamon, dem einstigen Herrschersitz der Attaler, geboren. Sein Vater, der Architekt Nikon^ war ein vielseitig gebildeter Mann, der sehr gründliche Kenntnisse in der Mathematik, Physik und den Naturwissenschaften besass; er über- wachte mit liebender Sorgfalt die Erziehung seines Sohnes und sorgte dafür, dass derselbe von ausgezeichneten Lehrern unterrichtet wurde* Mit einer vortrefflichen Vorbildung ausgestattet, begann Galen im 17. Lebensjahre die medicinischen Studien. Er besuchte zunächst die medicinische Schule seiner Vaterstadt, an welcher der Anatom Satybus, ein Schüler des Quintus, der Hippokratiker Stbatonicüs, der Empiriker Aescheion u. A. wirkten. Nach dem Tode seines Vaters, welcher vier Jahre später erfolgte, verliess er Pergamon und begab sich nach Smyma, um dort unter der Leitung des Pelops, eines berühmten Anatomen, und des Platonikers Albinus seine Studien fortzusetzen, und dann nach

80 Der medidniscke Unterricht im Alterthum,

Korinth, wo er einen anderen bedeutenden Anatomen, Nijmesianus, hörte. ^ Hierauf durchreiste er Kleinasien und Ägypten, hauptsächlich zu dem Zweck, um seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse zu ver- mehren und zu befestigen. In Alexandria, dessen medicinische Schulen unter allen Anstalten dieser Art den ersten Bang einnahmen, blieb er bis zum 28. Lebensjahre. Mit grossem Eifer widmete er sich den ana- tomischen Untersuchungen, zu denen ihm hier mehr Gelegenheit ge- boten wurde, als an irgend welchem anderen Ort.^ Gleichzeitig suchte er auch in den übrigen Zweigen der Heilkunde sein Wissen zu er- gänzen und zu läutern. Alexandria war mit Heilkünstlem überfüllt,^ und es gab wohl kein medicinisches System, keine Heilmethode, die nicht unter den dortigen Ärzten ihre Anhänger und Vertheidiger hatte. Nirgends konnte der Studierende der Medicin so viel sehen und lernen, als in Alexandria. Deshalb kamen die jungen Ärzte hierher, wenn sie sich in ihrem Fach vervollkommnen wollten. War es ja doch noch in späterer Zeit die beste Empfehlung eines Arztes, in Alexandria studiert zu haben.* «

Eeich an Kenntnissen kehrte Galen in seine Heimath zurück und übernahm die ärztliche Behandlung der Gladiatoren und Ringkämpfer. Aber die kleinlichen Verhältnisse seiner Vaterstadt und ein Aufruhr, der dort ausbrach, veranlassten ihn, nach einigen Jahren nach Rom zu übersiedeln. Um hier bekannt zu werden, hielt er öffentliche Vor- träge über den Bau und die Funktionen des menschlichen Körpers. Das Interesse an dem Gegenstande und die Sachkenntniss des Redners zogen bald ein zahlreiches Publikum an, das sich aus den vornehmsten Kreisen der Hauptstadt zusammensetzte. Unter seinen Zuhörern be- fanden sich Männer in einflussreichen Stellungen, wie die Philosophen Eudemus und Alexander von Damaskus, der Präfekt Sergius, die Consuln Boöthus und Severus, der später den Thron bestieg, und Barbarus, der Onkel des Kaisers Lucius. Auf diese Weise gelang es Galen, in kurzer Zeit eine einträgliche ärztliche Praxis zu erwerben.

Aber der Neid und die Eifersucht seiner Collegen und andere widrige Verhältnisse verleideten ihm den Aufenthalt in Rom. Er begab sich daher wieder auf Reisen und besuchte verschiedene Theile Italiens und Griechenlands, die Insel Cypem, Palästina und seine Heimath Pergamon. Schon ein Jahr später wurde er von den Kaisem Lucius Verus und A. Marcus Aurelius nach* Aquileja beiTifen, um sie in dem

* J. Ch. Ackerm4.nn: Vita Galeni in Galeni opera. Ed. Kühn, T. I (Ein- leitung), fuhrt die Belegstellen dazu an.

* Galen H, 220. Fulgentius: Mythol. I, p. 16.

* Ammian. Mareen. XXH, 16.

Die Medidn in Born. 81

Feldzuge gegen die Germanen zu begleiten. Der Tod des Ersteren gab Galen eine andere Bestimmung; er blieb in Rom und wurde zum Leibarzt des jungen Thronfolgers Commodus ernannt.^ Wie lange er dieses Amt bekleidete, ob und wann er später in seine Heimath zurück- kehrte, ist nicht bekannt. Ebensowenig weiss man, wann und wo er gestorben ist. Wie Sfidas berichtet, soU er das 70. Lebensjahr erreicht haben; sein Tod erfolgte also nicht vor dem Jahre 201 n. Chr.

Wenn das Leben Galen's an dieser Stelle ausführlich erzählt wurde, so rechtfertigt sich dies nicht blos durch die ausserordentliche Bedeutung, welche er für die Heilkunde erlangte, sondern hat zugleich den Zweck, an einem hervorragenden Beispiele zu zeigen, wie sich zu jener Zeit der Bildungsgang tüchtiger Ärzte gestaltete.

Galen war ein erfahrener geschickter Arzt, gelehrter Eorscher, gesuchter Lehrer der Medicin und ungemein fleissiger Schriftsteller. Seine literarische Fruchtbarkeit geht aus der Menge seiner Schriften hervor, welche in der KüHN'schen Ausgabe 21 Bände füllen, von denen jeder ungefähr 1000 Druckseiten enthält. Allerdings befinden sich darunter manche Werke, welche ihm fälschlich zugeschrieben worden sind; dafür fehlen aber in der Ausgabe eine grosse Menge von ihm verfasster Arbeiten, welche theils verloren gegangen, theils nur in Übersetzungen vorhanden und noch niemals dem Druck übergeben worden sind.

Galen's Schriften behandeln die Philosophie, Anatomie, Physio- logie, Arzneimittellehre, praktische Heilkunde, Chirurgie, Gynäkologie, Geschichte der Medicin u. a. m. Sie führen dem Leser Alles vor, was auf diesen Gebieten geleistet worden war, und zeichnen, wie die Hippo- kratische Sammlung, ein Bild des Zustandes der Heilkunde ihrer Zeit, dessen Einzelheiten auf die fachmännischen Kenntnisse der Ärzte ebenso wie auf ihre socialen Verhältnisse manches Licht werfen.

Auch der medicinische Unterricht wird darin an mehreren Stellen berührt. Derselbe entwickelte sich in strenger Abhängigkeit von den Geschicken der Heilkunde überhaupt. Sein Inhalt und seine Eichtung wurde durch den Fortschritt der Wissenschaft und die herrschenden Systeme, seine Form durch die äusseren Verhältnisse des ärztlichen Standes bestimmt.

1 Galen XIV, 648 u. flF.

PuscHiiANN, Unterricht.

82 Der tnedidnisehe Unterricht im ÄUerthum,

Der medicinische Unterricht in Rom.

In den ältesten Zeiten der römischen Geschichte gingen die me- dicinischen Kenntnisse vom Vater auf den Sohn oder einen Verwandten und Freund über. Die persönliche Unterweisung des Schülers durch den Heilkundigen blieb auch später die häufigste, wenn nicht einzige Form des medicinischen Unterrichts.

Als die griechische Heilkunst nach Rom verpflanzt wurde, erhielt der medicinische Unterricht mit dem aus der reichen medicinischen Literatur der Griechen entnommenen Inhalt auch die äussere Gestalt, welche er in Griechenland hatte. Die nach Eom eingewanderten griechischen Ärzte traten dort als Lehrer ihrer Kunst auf und führten die Einrichtungen ihrer Heimath ein.

Wie in Griechenland, so war auch in Rom die ärztliche Praxis ein freies Gewerbe, dessen Ausübung Jedem gestattet wurde, welcher die dazu erforderliche Befähigung zu besitzen glaubte. Es gab keine gesetzlichen Vorschriften, welche das Bildungswesen der Ärzte regelten. Sie erwarben die fachmännischen Kenntnisse, wie und wo sie wollten. Ihre Ausbildung war dal^er sehr ungleich.

Der ärztliche Stand vereinigte Elemente in sich, welche in Bezug auf ihr Wissen sehr verschieden waren; neben Männern, welche ihm zu jeder Zeit zur Zierde gereicht hätten, enthielt er auch Leute, welche weder von der Heilkunde noch von anderen Wissenschaften etwas ver- standen. Mit Recht klagte Ellnius^ darüber, „dass man in Rom Jedem, der sich für einen Arzt ausgiebt, Glauben schenkt, obwohl gerade hier die Lüge die grössten Gefahren im Gefolge hat." „Leider giebt es kein Gesetz", schreibt er ferner, „welches die Unwissenheit der Ärzte bestraft, und Niemand nimmt Rache an ihm, wenn durch seine Schuld Jemand zu Grunde geht. Es ist ihm erlaubt, auf unsere Gefahr hin zu lernen, mit unserem Tode Experimente zu machen und, ohne Strafe befürchten zu müssen, das Leben eines Menschen zu vernichten."

Jünger der Heilkunst, welche ihrem Beruf Ehre machen wollten, waren natürlich bestrebt, sich gründliche Kenntnisse in ihrem Fach zu erwerben. Sie bereiteten sich dafür durch philosophische Studien vor, welche zugleich ihre Allgemeinbildung vervollständigten. Galen ^ schrieb eine Abhandlung über die Nothwendigkeit, dass der Arzt Bil- dung des Geistes und Herzens besitzen und mit einem Wort ein Phi- losoph sein müsse.

^ Plinius: Eist. nat. XXIX, 8. * Galen a. a. 0. I, 53—63.

Der medidnisohe UnterriM in Born. 88

Zu Cato's Zeit umfasste die Allgemeinbilduiig ausser der Rechts- kunde, der Kriegswissenschaft und Landwirthschaft auch die Medicin, bestand also in einer encyklopädischen Übersicht der wichtigsten, für das praktische Leben brauchbaren Dinge.

Als mit der Verpflanzung der griechischen Cultur der Kreis dieser Wissenschaften derartig erweitert wurde, dass ihre Kenntniss den Fach- männern vorbehalten werden musste, erfuhr der Begriff der Allgemein- bildung eine nothwendige Einschränkung. Die ünterrichtsgegenstande, welche in den Schulen gelehrt wurden, bestimmte das Bedürfniss und die Gewohnheit. Der Elementarstufe entsprachen das Lesen, Sehreiben und Rechnen. Hierzu kam seit den punischen Kriegen für die vorgeschrittenen Schüler, welche eine höhere Bildung zu erlangen wünschten, das Studium der griechischen Sprache und Literatur nebst der Lektüre lateinischer Werke, womit der Unterricht in der Geschichte, Geographie, Astronomie, den Naturwissenschaften, der Philosophie, Musik und anderen Fächern verbunden wurde. Einen akademischen Charakter trugen die Rhetorenschulen, in welchen strebsame Jünglinge die Dia- lektik und die Redekunst erlernten.^

Medicinische Lehranstalten in unserem Sinne kannte das Alterthum nicht. Der ärztliche Unterricht wurde überall nur von einem einzigen Lehrer ertheilt, welcher seine Schüler mit allen Theilen seiner Wissen- schaft bekannt machte. Selbst wenn mehrere Lehrer der Heilkunde an einem Ort wirkten, fehlte doch, wie es scheint, ein organisatorisches Band, das sie zu gemeinsamer Thätigkeit vereinigte.

Wissbegierige Schüler begnügten sich nicht damit, einen einzigen Lehrer zu hören, sondern suchten noch andere Ärzte auf, um auch deren Ansichten und Erfahrungen kennen zu lernen.

Anfangs war der medicinische Unterricht lediglich Privatsache. Erst Alexander Severus (225 235 n. Chr.) setzte den Lehrern der Heilkunde Besoldungen aus und überwies ihnen öffentliche Hörsäle, wofür sie freilich die Verpflichtung übernehmen mussten, arme Studie- rende, die vom Staat unterstützt wurden, unentgeltlich zu unterrichten.* Constantin forderte die Ärzte auf, recht viele Schüler in ihre Wissen- schaft einzuweihen, und verlieh ihnen dafür manche Vorrechte. ^ Doch scheinen sieh später vorzugsweise die Archiatri oder solche Ärzte,

^ J. Mabquabdt: Das Privatleben der Römer im Handbuch der römischen Alterthümer, Leipzig 1879, Bd. VII, S. 90 u. ff.

' Lampbidius: Alexander Severos, c. 44.

' Cod. Theodos., lib. XI IT, tit. 3, quo fcteilius libercUibus studiis et memo- ratis arübus mulios inatitucmt

6*

84 Der .medidmsche Unterricht im Älterthum.

welche das Amt eines Archiaters bekleidet hatten, der Lehrthätigkeit gewidmet zu haben.

Der medicinische Unterricht wurde entweder gegen Honorar oder unentgeltlich ertheilt.^

Die Dauer der Studienzeit war verschieden und richtete sich nach den Fähigkeiten, wissenschaftlichen Bedürfhissen und Geldmitteln des Studierenden. Während Galen, wie erwähnt, den medicinischen Stu- dien 11 Jahre widmete, versprach Thessalus, ein Anhänger der me- thodischen Sekte, der sieh durch sein chajlatanähnliches Auftreten be- kannt machte, seine Schüler, welche noch kurz vorher als Köche, Färber, Wollspinner, Flickschuster, Weber oder Tuchwalker gearbeitet hatten, binnen 6 Monaten zu Ärzten auszubilden. ^ Er bekam in Folge dessen, wie Galen berichtet, eine grosse Auzahl von Schülern, welche in kurzer Zeit und ohne besondere Mühen die Heilkunst erlernen wollten, damit sie viel Geld erwerben konnten. Denn „nicht der Arzt, welcher in seinem Fach am tüchtigsten ist, sondern derjenige, welcher am besten zu schmeicheln versteht, geniesst die Achtung der grossen Menge; ihm wird Alles leicht gemacht, ihm stehen alle Thüren offen; er gewinnt Eeichthum und Macht und die Schüler drängen sich von allen Seiten an ihn heran.'^^

Derartige Jünger der Heilkunst konnten oft nicht lesen und kaum richtig sprechen.* Sie sahen mit Verachtung auf Diejenigen herab, welche sich mit den theoretischen Fächern der Heilkunde beschäftigten, und erklärten sie für Narren, welche die Zeit mit nutzlosen Dingen vergeuden.^ Natürlich hielten sie das Studium der Anatomie und Physiologie für überflüssig; denn ihnen lag nur daran, jene handwerks- mässige Routine in der Behandlung der Krankheiten zu erlangen, die ihnen für ihren Beruf nöthig erschien.

Die Anatomie hatte durch die Alexandriner, sowie durch Rupus von Ephesus, Marinus, Quintus und deren Schüler Lykus, Sattbus, Pelops, Aeschbion, welche die Lehrer Galen's waren, einen hohen Grad der Entwickelung erfahren. Man kannte die Lage und Gestalt der einzelnen Ejiochen, ihre gegenseitigen Verbindungen, die Nähte, das Periost, die Markhaut, die Gelenkknorpel, verschiedene Gelenke nebst den dazu gehörigen Bändern und Sehnen, die wichtigeren Muskel- gruppen, und machte sich ziemlich richtige Vorstellungen über die

^ Lucian: Der verstossene Sohn, c. 24.

« Galen I, 83. X, 5. 19. » Qaixs X, 4. * (Jalbn XIX, 9.

^ Galen I, 54. XIV, 600. Scribcm. Laigi ad CaUist, Edit G. Helm- RRiOH, Lips. 1887, p. 4.

Der medicinische ühierriokt m Born. 85;

Form und Lagerung der Organe in der Brust- und Bauchhöhle. Galen ^ wies bereits auf die analoge Bildung der Geschlechtstheile bei beiden Geschlechtem hin und erklärte, dass sie sich hauptsächlich nur dadurch von einander unterscheiden, dass sie beim Weibe nach innen, beim Manne nach aussen gelagert sind.

Das Geßisssystem war noch wenig erforscht; doch wusste man die Arterien von den Venen zu unterscheiden, und bemerkte die verschie- dene Qualität des Blutes dieser beiden Geßtösarten.* Staunen erregen die Kenntnisse, welche man vom Nervensystem besass. Galek lieferte eine genaue Beschreibung des Gehirns und Rückenmarks^ und schilderte den Verlauf vieler Nerven. So bezieht er sich auf den Opticus, den Oculomotorius und Trochlearis, die einzelnen Äste des Trigeminus, den Acusticus und Facialis, Vagus und Glossopharyngeus, die Nerven des Kehlkopfs und Schlundes, den Sympathicus, und deutet bereits die Ganglien desselben an; desgleichen weist er auf die Nn. radiales, ulnares, mediani, crurales und ischiadici hin. Das Chiasma der Sehnerven wurde schon von Kxjfus, dem Ephesier, erwähnt, der auch die Unterscheidung der Nerven in motorische und sensibele zuerst hervorgehoben hat*

Die Ergebnisse der anatomischen Forschungen stützten sich haupt- sächlich auf Sektionen von Thieren. Zur anatomischen Untersuchung menschlicher Körper bot sich nur ausnahmsweise Gelegenheit, und selbst in Alexandria, wo seit den Ptolemäem freiere Anschauungen darüber herrschten, war sie zu Galen's Zeit schon sehr selten. Nur die Leichen von feindlichen Kriegern, welche auf dem Schlachtfelde gefallen waren, von Verbrechern, die hingerichtet worden waren oder unbeerdigt aufgeftinden wurden, und von todtgeborenen und ausgesetzten Kindern durften zu -solchen Zwecken benutzt werden.^

Auch Verletzungen, welche mit der Blosslegung der Weichtheile verbunden waren, konnten über die Lage mancher Organe einige Auf- schlüsse geben. An Vivisektionen war in Rom natürlich nicht zu denken, und Celsus drückte sicherlich die öffentliche Meinung aus, als er schrieb: „Das Offnen lebender Körper halte ich für grausam und überflüssig, das der Leichen hingegen fiir nothwendig fiir die Lernen- den: denn sie müssen Lage und Anordnung der einzelnen Theile des

^ Galen IV, 635. » Galen III, 491.

* Ch. Darembebg: Exposition des connaissances de Gallen sur ranatomie et la Physiologie du Systeme nerveux, Pariis 1841. F. Falk: Galen's Lehre vom gesunden und kranken Nervensystem, Leipzig 1871.

* Oeuvres de Rufus, publikes par Ch. Daremberg et Ch. Em. Ruelle, Paris 1879, p. 158. 170.

^ Galen II, 385.

86 Der medidnisehe UnterricM im JUerthum.

Körpers kennen. Dazn sind Leichen geeigneter, als lebende und ver- wundete Menschen."^

Galen erzählt, dass die Ärzte, welche mit dem römischen Heere in den Krieg gegen Deutschland zogen, die Erlaubniss erhielten, die Leichen gefallener Feinde zu zergliedern. Leider konnten sie daraus, setzt er hinzu, keinen Gewinn für ihr Wissen ziehen, weil ihnen die nothwendigen anatomischen Vorkenntnisse fehlten. ^ Bei einer anderen Gelegenheit berichtet er, wie er durch Zufall in den Besitz zweier Skelette gelangt war, von denen das eine von einem aus seinem Grabe durch einen ausgetretenen Fluss hervorgeschwemmten Leichnam, das andere von einem Räuber herrührte, der im Gebirge erschlagen wor- den war.^

Galen's anatomische Angaben beruhen grösstentheils auf Zerglie- derungen thierischer Körper. Er erklärt dies selbst; doch geht es auch aus den Beschreibungen einzelner Organe hervor. So schildert er z. B. nicht die Hand und den Fuss des Menschen, sondern des AflFen. Er benutzte zu seinen anatomischen Untersuchungen vorzugsweise solche Affenarten, welche dem Menschen ähnlich sind.* Er glaubte, dass ihr Körper ebenso gebaut sei, wie der des Menschen, und hat sich dadurch zu einigen Irrthümem verleiten lassen, deren Berichtigung erst einer viel späteren Zeit gelungen ist. Ausserdem hat er Bären, Schweine, Einhufer, Wiederkäuer, einmal sogar einen Elephanten, femer verschie- dene kleinere vierfiissige Thiere, sowie Vögel, Fische und Schlangen secirt, um seine anatomischen Kenntnisse zu vermehren.

Der anatomische Unterricht begann damit, dass dem Studierenden an dem nackten Körper eines lebenden Menschen die einzelnen Theile desselben gezeigt und erklärt und die unter der Haut liegenden Organe genannt wurden. Daran schlössen sich später Zergliederungen von Thieren, deren Typus sich dem menschlichen näherte. Dabei wurden die einzelnen Knochen und Muskelpartien, sowie die inneren Theile des Körpers betrachtet und die Lage und Anordnung der Organe in den Körperhöhlen studiert. „Wenn sie auch nicht in jedem einzelnen Punkt den entsprechenden Gebilden des Menschen gleichen", schreibt Eufus, welcher diese Lehrmethode mittheilt, „so ist dies doch in der Haupt- sache der Fall. Ein richtigeres Bild erhielt man allerdings in früheren Zeiten, als man noch menschliche Körper zu derartigen Untersuchungen verwenden durfte."^

In ähnlicher Weise spricht sich Galen über den anatomischen

^ Celsüs: Praefat. * Galen XHI, 604. » Galen II, 221.

* Galen II, 223. ° Rufus d'Eph^se a. a. 0. p. 134.

Der medicmische Unterricht in Born, 87

Unterricht aus. „Aus Büchern allein kann man die Anatomie nicht lernen", sagt er, „und auch nicht durch eine oberflächliche Betrachtung der Theile des Körpers." ^ Er empfahl deshalb ein fleissiges eingehendes Studium, welches mit der Knochenlehre begann, und dann zu den Muskeln, Arterien, Venen, Nerven und den inneren Organen überging.

Dem Unterricht dienten nicht blos Sektionen thierischer Cadaver, sondern man benutzte dazu auch menschliche Skelette oder Knochen- präparate. Vielleicht wurden zu diesem Zweck in manchen Fällen plastische Nachbildungen aus Marmor verwendet? Die Vatikanischen Museen besitzen noch drei derartige Bildwerke. Zwei derselben stellen den skelettirten Thorax dar; der eine erscheint geöflBaet, und lässt das Herz, die Lungen, das Zwerchfell nebst Andeutungen der Leber und des Darmes erkennen. Die dritte Nachbildung zeigt ebenfalls das Herz und die beiden Lungen.^ Welckee bezweifelt, dass sie zum ana- tomischen Unterricht verwendet wurden, und glaubt, dass nur „die Seltenheit des Anblicks einer in ihrem Innern blossgelegten Brust, eines von allem Fleisch reingeschälten Eippenkastens, wozu die Schläch- tereien der Gladiatoren, die Hinausschleifung von Missethätem in die Verbrechergrube und andere Vorfallenheiten den Ärzten Grelegenheit bieten konnten, bei der eigenthümlichen Eichtung vieler römischen Bild- hauer, Alles, was im Leben vorkam, oft ohne allen künstlerischen Sinn und Geschmack genremässig abzubilden, zu obigen Bildwerken Anlass gegeben habe."^

Die Nachbildungen der mumienartig vertrockneten menschlichen Körper, welche bei Gastmählern aufgestellt wurden, um zum Genuss des Lebens aufzufordern,* können hier ebensowenig in Betracht kommen, als die zahlreichen Darstellungen von Bewohnern des Todtenreiches, die auf Grabmälem, auf Gemmen und in Bronce uns überliefert worden sind, weil sie zum anatomischen Unterricht in gar keinen Beziehungen standen.^ Auch die von Blumenbach als Titel- Vignette zu seiner „Geschichte und Beschreibung der Knochen (Göttingen 1786)" ver- wendete, einem alten Cameol entlehnte Figur eines bärtigen alten

1 Galen II, 220.

^ Em. Braun im Bullet, dell' instituto archeol. Roma 1844, p. 16—19. J. M. Chabcot u. A. Deghambbe: De quelques marbres antiques concern. des etudes anatomiques in der Gaz. hebd. de m6d. et de chir., Paris 1857, T. IV, No. 25. 27. 30 (wo auch der sogen. Aesop der Villa Albani in Rom besprochen wird).

* F. G. Welckeb: Kleine Schriften, Bd. IH, S. 223.

* Petronius: Satyr., c. 34.

^ G. E. Lessinö: Wie die Alten den Tod abgebildet haben. J. M. F. V. Olpebs: Über ein Grab bei Kumae in den Abhandlungen der Akad. d. Wiss., Berlin 1830.

88 Der medioinische ünterrickt im AUerthum,

Mannes, der ein vor ihm stehendes menschliches Skelett an der linken Hand anfiasst, deutet eher auf die Schöpfung des Menschen durch Prometheus hin, als auf anatomische Belehrung.

üngewiss ist es, ob man beim anatomischen Unterricht Zeichnungen gebrauchte; doch ist es nicht gerade unwahrscheinlich, da man auch in anderen Disciplinen von solchen Lehrmitteln Gebrauch machte.^ Ob die in einigen Handschriften des Muscio enthaltenen Darstellungen des Uterus und der Ovarien aus dem Alterthum stammen, lässt sich natürlich nicht bestimmen. Das Gleiche ist der Fall mit den angeblich einer Leydener Handschrift entnommenen anatomischen Zeichnungen in der Introductio anatomica anonymi, welche durch J. St. Bebnard (Lugd.-Bat. 1744) veröflFentücht worden sind.

Mit dem anatomischen Unterricht wurden die Erklärungen der Punktionen des menschlichen Körpers und seiner einzelnen Theile ver- bunden. Man ging dabei von der aprioristischen Voraussetzung einer planmässigen Bildung der Organe aus, nahm also an, dass die letzteren nur geschaffen worden seien, damit die von der Natur gewollten Funk- tionen ausgeführt werden können.

Die dieser Anschauung entgegengesetzte, von Epikur und später von AsKiiEPiADES Vertretene Meinung, dass die Natur gar manche ver- gebliche Versuche macht, bevor sie ein dauerndes Resultat erzielt, und dass der Gebrauch der Organe, d. h. ihre Funktion erst erlernt wird, nachdem dieselben schon gebildet sind, ^ fand in Galen einen erbitterten Gegner. Mit allem Scharfsinn und aller Gelehrsamkeit, die ihm zu Gebote standen, unternahm er es, den Teleologismus zu begründen, in welchem er das beste Mittel sah, den Realismus des Aristoteles mit dem Platonischen Idealismus zu versöhnen. Doch scheint in ihm bisweilen die Ahnung aufgetaucht zu sein, dass die Spekulation allein keine befriedigende Antwort zu geben vermag. Er wurde dadurch auf den Weg geführt, der hier allein zum Ziele führt, auf den Weg der Beobachtung und des Experiments.

Auf diese Weise trachtete er, den Vorgang der Athmung und die Herzthätigkeit kennen zu lernen. An Thieren durchschnitt er das Rückenmark, die Intercostal-Muskeln oder ihre Nerven und entfernte einzelne Rippen,^ um zu sehen, welche Veränderungen der Respiration dadurch hervorgerufen werden. Dabei fand er, dass bei der ruhigen Athmung hauptsächlich das Zwerchfell thätig ist und sich die Inter-

1 Marquakdt a. a. 0. Bd. VH, S. 107. 802.

2 Galen III, 74. 364.

3 Galen II, 475. 681. 696. IV, 685. V, 239. Oribamus a. a. 0. III, 236.

Der medieinisehe Unterricht in Rom, 89

costal-Muskeln nur bei angestrengter Respiration betheiligen. ^ Die Bewegungen des Herzens beobachtete er an Thieren, deren Brust- kasten eröffiiet worden war; auch hatte er einmal dazu Gelegenheit bei einem Knaben, dessen Herz in Folge einer penetrirenden Brust- wunde bloss lag.*

Durch zahlreiche totale oder partielle Durchschneidungen des Rückenmarks und einzelner Nerven und durch schichtenweise Ab- tragungen des Gehirns, die er an Schweinen vornahm, hoflFfce er die physiologische Bedeutung dieser Organe zu erforschen.' Mögen die von ihm gewonnenen Resultate, welche er genau beschreibt, auch nicht seinen Erwartungen entsprochen haben, so verdienen diese Versuche doch volle Anerkennung, weil sie die ersten in ihrer Art waren und die richtige Methode zeigten, nach welcher diese Fragen gelöst werden müssen.

Galen wurde dabei von einer überaus glücklichen Phantasie unter- stützt, die ihm die treffenden Worte in den Mund gab, selbst dort, wo er zu keinem Verständniss durchdringen, wo er den Sachverhalt kaum ahnen konnte. Wenn er z. B. erklärt, dass sich der Schall „einer Welle gleich" fortleiteit,* oder die Vermuthung ausspricht, dass derselbe Bestandtheil der Luft, welcher für die Athmung massgebend ist, auch bei der Verbrennung wirkt, ^ so sind dies Gedanken, die über- raschen, da deren volle Bedeutung zu verstehen erst zwei Jahrtausende später möglich war.

Zur Zeit GaiiBNs hatten die Ärzte übrigens nur geringes Interesse für die Probleme der Physiologie. Ihre Aufmerksamkeit wurde haupt- sächlich durch die praktische Heilkunde in Anspruch genommen. Die Kunst zu heilen, stand ihnen höher, als die Wissenschaft vom Menschen und war auch einträglicher.

Diese Richtung führte zu einer fleissigen Bearbeitung der Arznei- mittellehre. Zahlreiche Sammlungen von gereimten und ungereimten Recepten und Zusammenstellungen von Medicamenten gaben diesen Bestrebungen in der Literatur Ausdruck. Zu den hervorragenderen Erscheinungen derselben gehörten die pharmakologischen Schriften des Philon aus Tarsus, Soeibonius Labgus, Sextitts Nigee, Menekeatbs, Andeomachus, Damokbates, vor Allem aber das Werk des Pedaniüs

1 Galen IV, 465 u. ff. « Galen II, 631.

^ GrALEN II, 677. 682. 692. 697. V, 645. Ch. Darembebg: Histoire des Sciences m^dicales, T. I, p. 224.

* Galen m, 644.

* Galen III, 412. Vergl. a. Haeser: Geschichte der Medicin, Bd. I, S. 360, 3. Aufl.

90 Der medimdsche Unterricht im AUerthti/m.

DiosKORiDES aus Anazarba in Cilicien, der als Militärarzt einen grossen Theil des römischen Reiches kennen gelernt und von Jugend auf das Studium der Heilmittel als Lebensaufgabe betrachtet hatte. ^

Er lieferte eine durch Vollständigkeit ausgezeichnete systematische Übersicht aller damals bekannten Arzneistoflfe aus den drei Naturreichen. Es werden darin die verschiedenen Namen, mit welchen sie in den einzelnen Ländern bezeichnet wurden, aufgezählt, ihre Heimath genannt und ihre Gewinnung oder künstliche Bereitung, sowie ihre medicinischen Wirkungen geschildert. Dadurch ist dieses Buch nicht nur für die Heilkunde, sondern auch fiir die vergleichende Sprachwissenschaft, namentlich aber für die Botanik sehr wichtig.

DiosKOEiDEs hat darin ungefähr 500 Pflanzen beschrieben und zwar so genau, dass es möglich war, die meisten derselben zu bestimmen. E. Meyer hat seine Verdienste auf diesem Gebiet mit den Worten charakterisirt: „Was uns Theopheastos fiir die generelle, das ist uns DiosKORiDEs für die specielle Botanik der Alten, die Hauptquelle, die allein mehr gilt, als die übrigen mit einander."*

Das Werk des Dioskoeedes wurde schon von Galen, der sich bei verschiedenen Gelegenheiten darauf beruft, sehr hoch geschätzt und bildete das ganze Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit das werth- voUste Lehrbuch der Arzneimittellehre.

Sicherlich trug es nicht wenig dazu bei, den Sinn für botanische und pharmakologische Studien zu erwecken und zu erhalten. „Der Arzt soll womöglich alle Pflanzen, oder doch wenigstens die meisten und gebräuchlichsten kennen," schreibt Galen. „Die Gattungen oder, wenn man will, die Unterschiede derselben sind: Bäume, Sträucher, Kräuter, Domen, Stauden. Wer sie von ihrer Entstehung an, bis sie ausgewachsen sind, unterscheiden kann, wird sie an vielen Orten der Erde finden. So habe ich selbst in vielen Gegenden Italiens Pflanzen gefunden, welche Diejenigen, die sie nur in getrocknetem Zustande ge- sehen hatten, weder während des Wachsthums, noch nachher zu erkennen vermochten. Jeder Salbenhändler kennt die Pflanzen und Früchte, die von Kreta hierher gebracht werden; aber Niemand weiss, dass viele davon in der Umgegend Koms wachsen. Deshalb denkt man auch nicht daran, sie zu suchen, wenn die Zeit ihrer Eeife gekommen ist."^ Er erklärt dann, dass er darüber unterrichtet sei und es nicht versäume, die Pflanzen zur richtigen Zeit zu sammeln, bevor sie von

^ Pedanii Dioscoridis materia medica ed. Cubt. Sprengel, Lips. 1829, T. I, p. 4.

2 E. Meyer: Geschichte der Botanik, Königsberg 1855, Bd. 11, S. 117.

3 Galen XIV, 30. Meyer a. a. 0. S. 191.

Der mediemische Unterricht in Born, 91

der Hitze des Sommers ausgetrocknet und die Früchte überreif ge- worden sind. An einer anderen Stelle bemerkt er,^ dass man die Botanik nicht aus Büchern, von denen manche mit Abbildungen aus- gestattet sein mochten,^ lernen kann, sondern nur, indem man die Pflanzen selbst unter Anleitung eines Lehrers betrachtet und aufsucht. „Diese Unterrichtsmethode," setzt er hinzu, „gilt nicht blos für die Pflanzen, sondern überhaupt für die gesammte Arzneimittellehre."

Die Ärzte mussten sich mit diesem Gegenstande sehr eingehend beschäftigen, weil sie genöthigt waren, die Arzneien selbst zu bereiten. Allerdings zogen es Einzelne aus Bequemlichkeit vor, bei den Droguen- händlem, welche ausserdem noch Mittel zum Färben der Haare, zur Beförderung der Schönheit und allerlei Toiletten- Artikel auf dem Lager hielten, anstatt der Bohmaterialien die zusammengesetzten Medicamente zu kaufen.^ Aber im Allgemeinen pflegten die Ärzte nur die ein- fachen ArzneistoflFe zu kaufen, welche sie zur Bereitung ihrer Recepte bedurften.

Die Furcht, dabei durch verdorbene oder verfälschte Waaren be- trogen zu werden, veranlasste Manche, die medicamentösen Stoffe aus erster Hand zu erwerben oder selbst zu sammeln. Galen unternahm zu diesem Zweck sogar weite Beisen; auch liess er sich die Arzneistoffe aus den Ländern, wo sie gewonnen wurden, durch Vermittelung ver- lässlicher Freunde senden, um sicher zu sein, dass sie echt waren.* Diese Besorgniss war gerechtfertigt, da die Verfälschung der Arznei- mittel geschäftsmässig betrieben wurde und es nicht einmal möglich war, den Balsamsaft), der auf der kaiserlichen Domaine Engaddi in Palästina gewonnen wurde und Staatsmonopol bildete, in Eom unver- fälscht zu erhalten.

Für den kaiserlichen Hof wurden aus diesem Grunde die Arznei- stoffe unter der Aufsicht von Beamten gesammelt, in Papier verpackt und mit einer Aufschrift versehen, welche den Namen und bisweilen auch den Fundort der Pflanze angab, und dann nach Bom gesandt, wo sie in besonderen Magazinen aufbewahrt wurden. ^ Die letzteren enthielten einen solchen Vorrath an medicamentösen Stoffen, dass er nicht nur für den Gebrauch des Hofes ausreichte, sondern davon noch an Privat- personen verkauft werden konnte. Doch war dies keineswegs genügend, um den Handel mit Verfälschungen wesentlich zu beeinträchtigen. Dieselben gingen übrigens nicht so sehr von den Droguenhändlern, als

^ Galen XI, 797. « Plinius: Hist. nat. XXV, 8.

» Plinius a. a. 0. XXXIV, 25. * Galen XII, 216. XIV, 7 u. ff.

ö Galen XIV, 9. 25. 79.

92 Der medieinisok^ Unterricht im Alterthum.

von deren Lieferanten und den Wurzelsuchern aus, welche die Arzuei- krauter aus dem Gebirge in die Stadt brachten.^

Die Fälschungen wurden so geschickt gemacht, dass die geriebensten Kenner, wie Galen ^ bemerkt, dadurch getäuscht wurden und die Waaren für echt hielten. Er hatte in seiner Jugend selbst, wie er erzählt,^ bei einem Manne, der sich mit der Herstellung solcher Fäl- schungen beschäftigte, Unterricht darin genommen und ihm ein hohes Honorar dafür bezahlt, dass er ihn in diese Geheimnisse einweihte. Da er dies Alles kannte, so gab er den Studierenden der Heilkunde den wohlmeinenden Eath, grossen Fleiss auf das Studium der Arznei- mittel zu verwenden. „Die Jünglinge müssen dieselben nicht blos einmal oder zweimal, sondern oft sehen. Denn nur, wenn man diese Dinge mit den Sinnen in sich aufnimmt," schreibt er,* „und recht häufig betrachtet, erlangt man eine gründliche Kenntniss derselben."

Die Medicainente wurden mit einer Etikette versehen, auf welcher der Name derselben und ihres Erfinders, die Krankheit, gegen die sie verordnet wurde, die Art ihres Gebrauchs, und manchmal auch der Name des Kranken angegeben war.

Die Augensalben, welche einen gangbaren Handelsartikel bildeten, wurden in Gefasse verpackt, denen der Stempel des Arztes, der sie bereitet hatte, aufgedrückt wurde. Stempel dieser Art wurden in Frank- reich, England, Deutschland und Siebenbürgen aufgefunden, namentlich dort, wo Lagerplätze der römischen Legionen gewesen sind. Man hat bis jetzt mehr als 160 verschiedene Stempel von Augenärzten beschrieben.^

Die Recepte waren lang und complicirt; der Theriak bestand z. B. aus mehr als 70 verschiedenen pflanzlichen und thierischen Stoffen.® Manche derselben waren widerlich und ekelhaft, und Galen wunderte sich über die. Verordnungen des Arztes Xenokratbs, welcher sogar Menschenfleisch empfohlen hatte, „da es ja doch im römischen Reiche verboten sei, Menschen zu fressen".^ Bei einer anderen Gelegenheit, wo von einem Arzt die Rede ist, welcher den Landleuten Ziegenmist verordnete, machte Galen die witzige Bemerkung, dass dergleichen nicht für die feingebildeten Städter passe; denn der Mist sei nur den Bauern zuträglich.®

1 Galen XIII, 571. « Galen XIV, 7. » Galen XII, 216.

* Galen XIII, 570.

* C. L. Grotepend: Die Stempel der römischen Augenärzte, Hannover 1867. J. Klein: Stempel römischer Augenärzte, Bonn 1874 (Nachtrag zu Grotepend's Buch). Marquardt a. a. 0. S. 758. H^ron de Villefosse et H. Th^denat: Cachets d'oculistes romains, Tours et Paris 1882.

8 Galen XIV, 88 u. ff. ^ Galen XIT, 248. s Qj^^^^^ xII, 299.

Der medidniache ühtemoht in Born, 9S

Die urtheilslose Menge huldigte der irrigen Meinung , dass die theuersten Arzneistoffe auch zugleich die heilkraftigsten seien, ^ und ein reicher Geldprotz war empört darüber, dass Galen ihm dasselbe Medi- cament empfahl, welches er bei seinem Sklaven mit Erfolg angewendet hatte. Als er hörte, dass es aus lauter billigen Substanzen bestehe, rief er ihm zu: „Dies magst Du für Bettler aufbewahren; ich will ein Mittel, welches mehr Geld kostet." ^

Galen befolgte in seiner ärztlichen Praxis den rationellen Grund- satz, in erster Linie das Heilbestreben der Natur wirken zu lassen und nur dann, wenn dasselbe erfolglos blieb, einzugreifen.

Die Untersuchung und Behandlung der Kranken war im Wesent- lichen die gleiche, wie zu den Zeiten der Hippokratiker. Ebenso be- diente man sich derselben diagnostischen Hilfsmittel, um die Krank- heiten zu erkennen; doch hatte die Pulslehre unter dem Einfluss der Alexandrinischen Schule eine sorgfaltigere Bearbeitung erfahren. In der Abhandlung über den Puls, welche dem Eufüs zugeschrieben wird,^ werden die Veränderungen geschildert, welche er in den einzelnen Lebensaltern und in verschiedenen Krankheiten zeigt, und eine be- stimmte Anzahl verschiedener Formen desselben unterschieden. Da- gegen war von der Auskultation kaum mehr die Kode, wenn man nicht einige Bemerkungen des Aretaeüs und Caelius Aurelianus, in denen von Geräuschen des Herzens gesprochen wird, darauf be- ziehen will.*

Bemerkenswerthe Fortschritte hatte die specielle Pathologie ge- macht. Die römischen Ärzte kannten verschiedene Krankheiten, welche, wie der Aussatz^ und die Hunds wuth,® in früheren Zeiten der Beob- achtung entgangen waren. Aretaeüs lieferte die erste Beschreibung der diphtheritischen Halsgeschwüre im Munde, die er als syrische oder ägyptische Geschwüre bezeichnete. ^ Andere Krankheiten, wie die Ruhr,* der Icterus,® die Lithiasis, welcher Galen die gleiche Entstehungs- ursache zuschrieb wie den Gichtknoten,^® und die Schwindsucht^^ wurden

* PuNiüs: Hißt. nat. XXIX, 8. * Galen XIII, 636. ^ Küpus a. a. 0. p. 219—232.

* Aretaeüs: de acut. II, 3. Caelius Aurelianüs: de acut. 11, 14. Galen XVIII, B. 649.

* LucREz VI, V. 1112—14. Celsus, HI^ 25. Plinius: Hist. nat. XXVI, 5. Caelius Aurel.: de chron. IV, 1. Abetaius: de ehron. 11, 13.

^ Plinius a. a. O. VIII, 63. XXIX, 32. Cblsus V, 27. Caelius Aure- LiAN.: de acut. III^ 9 16. Abitaeus: de acut. I, T.

^ Abetabus: de acut. I, 9. . ^ Galen XVII A, 351. » Galen XVH B, 742. " öalen XTTT, 993. XVII A, 835.

^^ Celsus m, 22. Aretaeüs : de cbxoiL 1, 8. Cael. Aürel. : de ehron. II, 14.

94 Der medicinische Unterricht im Alterthum.

genauer erforscht Gegen die letztere empfahl man ausser Anderem Seereisen und den Aufenthalt an klimatischen Kurorten, besonders in Ägypten.

Auch die Nervenpathologie wurde eifrig und erfolgreich betrieben. Galen berichtet, dass er in einem Falle die Lähmung der Finger von einem Rückenmarksleiden herzuleiten vermochte, ^ und Aretaeus wusste bereits, dass sich die Nervenfasern bald nach ihrem Ursprung durch- kreuzen, und erklärte dadurch die Thatsache, dass nach Verletzungen einer Gehirnhälfte die entgegengesetzte Seite des Körpers gelähmt wird.*

Der Unterricht in der praktischen Heilkunde wurde theils in der Privatpraxis des Lehrers, der die Schüler zu seinen Patienten mitnahm, theils in den latreien ertheilt. Die letzteren wurden nach griechischem Muster eingerichtet und Tabernae medicae oder Medicinae genannt.' Es waren die Läden oder offenen Geschäfte der Ärzte, welche hier Kranke empfingen und behandelten, chirurgische Operationen ausführten, Arzneien bereiteten und verkauften und mit ihren Gehilfen und Schülern wohnten. In einzelnen dieser Anstalten fanden Patienten, z. B. Geistes- kranke, auch Aufnahme.^

Viele Städte richteten auf ihre Kosten latreien ein und . übergaben sie Ärzten, um sie dadurch zu bestimmen, ihren festen Wohnsitz dort zu nehmen. ^ Sie befanden sich, wie Galen, welcher darüber sehr aus- führliche Angaben hinterlassen hat,® schreibt, meistens in grossen Ge- bäuden, hatten hohe Thüren, welche viel Licht und Luft hereinliessen und waren mit chirurgischen Instrumenten und Medicamenten aus- gestattet.

Auch die Valetudinarien,^ die Krankenz^nmer, welche die Gross- grundbesitzer für ihr Hausgesinde und ihre zahlreichen Sklaven ein- richten Hessen, mögen oft Gelegenheit zur praktischen Unterweisung in der Untersuchung und Behandlung der Kranken geboten haben. Jedenfalls wurden hier die Sklaven, welche auf Wunsch ihrer Herren zu Ärzten ausgebildet wurden, in der Heilkunst unterrichtet. Ähn- lichen Zwecken dürften auch zuweilen die Militärlazarethe gedient haben, welche ebenso wie Krankenställe für Pferde überall, wo grössere Truppenmassen zusammen kamen, angelegt wurden.®

* Galen VIII, 213. * Abetaeus: de chron. I, 7. ' Plautüs: Amphytryo IV, 4. Epidic. H, 1.

* Plautüs: Menaechmi V, 947 956. Spabtl^nijs: Vita Hadriani, c. 12. « Galen XVIII B, 678. « Galen XVHI B, 629—925.

^ Columella: de re rust. XI, 1. XH, 3, Seneca: de ira I, 16. nat. quaest. I, praef. Tacitus: de orat. dial., c. 21. ® Hyginus: de munit. castrorum, c. 34.

Der msdidnisehe Unterricht in Bmn. 95

Die Gebäude, welche Antoninus Pius in der Nähe der Aeskulap- Tempel zu Epidauros und auf der Tiber-Insel errichten liess, können nicht als Krankenanstalten betrachtet werden. Sie sollten sterbenden Personen und schwangeren Weibern, welche von der Geburt überrascht wurden, Aufnahme gewähren, damit die Heiligthümer rein gehalten und nicht entweiht würden.^

Die Pflege und Behandlung der Kranken in den latreien und an- deren Anstalten dieser Art war im Alterthum verhältnissmässig selten. Die meisten Kranken wurden in ihren Wohnungen von den Ärzten be- sucht. Aus diesem Grunde geschah auch der Unterricht in der prak- tischen Heilkunst häufiger dort, als in den latreien und Kranken- häusern.

Die Ärzte Hessen sich von den Studierenden der Medicin zu den Kranken begleiten und erklärten ihnen an dem betreffenden Fall die Erscheinungen und die Behandlung der Krankheit. Dabei wurden die Schüler angeleitet, sich von den krankhaften Veränderungen durch die Besichtigung und Betastung des leidenden Körpers zu überzeugen. Als der kranke Philiskus von den Ärzten Seleucus und Stbatokles behandelt wurde, brachten sie, wie Philostbatus erzählt, ^ mehr als 30 Schüler mit sich. Bekannt ist auch das witzige Epigramm Mae- tial's an seinen Arzt Symmachus: „Ich war krank. Du kamst deshalb sofort zu mir; aber 100 Schüler begleiteten Dich. Hundert eiskalte Hände legten sich mir auf den Bauch. Bis dahin hatte ich kein Fieber gehabt; da erst bekam ich es."^

Galen ermahnte seine Schüler, darauf zu achten, dass sie beim Eintritt in das Krankenzimmer nicht durch Poltern mit den Füssen und durch lautes Geschrei den Kranken aufwecken und in Zorn ver- setzen. Er ertheilte ihnen dann wohlwollende Rathschläge in Bezug auf ihre Kleidung, ihr Benehmen, und die Gespräche, die sie mit den Patienten führen soUten, empfahl ihnen Reinlichkeit und eine passende Haarfrisur, und verbot ihnen, vor dem Besuch des Kranken Zwiebeln oder Knoblauch zu geniessen oder zu viel Wein zu trinken, damit sie nicht den Leidenden durch den übelen Geruch aus dem Munde be- lästigen und „wie die Böcke stinken".*

Die hohe Bedeutung und Nothwendigkeit der Ausbildung in der praktischen Heilkunde wurde von allen Seiten anerkannt. Galen spottete über die gelehrten Theoretiker und Sophisten, welche „vom

^ Pausanias n, 27. * Philostratus: Vita ApoUonii Tyan. Vin, 7.

* Mabtialis: Epigr. V, 9.

* Galen XVH B, 144—152. Celsus HI, 6.

96 Der medidnische Unterricht im Alterthum.

hohen Katheder herab ihre Schüler mit gelehrten Auseinandersetzungen überschütten, wenn sie aber zu einem Kranken gerufen werden, von seinem Leiden nicht das Geringste verstehen." ^ Das Publikum wandte sich natürlich lieber an Ärzte, welche praktische Erfahrung besassen, als an solche, die nur schöne Reden über die Heilkunst zu halten wussten. ^

Die Chirurgie hatte sich, wie Celsus berichtet,^ bald nach der Zeit des Hippokeates von der übrigen Heilkunde getrennt. Sie bildete fortan einen besonderen selbstständigen Wissens- und ünterrichtsgegen- stand. In Rom war es nicht üblich, dass die Ärzte, welche innere Krankheiten behandelten, auch die Chirurgie ausübten; aus diesem Grunde zog sich auch Galen von der letzteren zurück, als er sich dort niederliess.^

Celsus nennt die Chirurgen Philoxenus, Gobgias, Sostbatüs^ die beiden Hero, die ApoUonier und den Lithotomisten Ammonius in Alexandria, ferner den älteren Tbyphon, den Eublpistus und Megeb in Rom, welche sich sowohl als Lehrer wie als Schriftsteller auf dem Felde der Chirurgie hervorthaten. Leider sind ihre Werke verloren gegangen, und wir sind auf die Mittheilungen der späteren Autoren angewiesen, wenn wir uns ein Urtheil über ihre Leistungen bilden wollen. Celsus schreibt, „dass diese Männer in der Chirurgie viele Verbesserungen und Erfindungen gemacht haben."

Vergleicht man nun den Zustand dieses Zweiges der Heilkunst unter den römischen Kaisern mit den Kenntnissen der Hippokratischen Ärzte, so ist man allerdings überrascht von den mächtigen Fortschritten^ welche dieses Fach zeigt. Man besass nicht nur richtigere Vorstellungen von dem Wesen und der Behandlung mancher Krankheiten und Ver- letzungen, welche das chirurgische Eingreifen verlangen, sondern man wagte sich auch an die Ausführung grösserer Operationen, zu denen gründliche Kenntnisse in der Anatomie und in der Technik der chi- rurgischen Instrumente gehörten.

Der Instrumenten-Apparat war ziemlich reichhaltig. Die Aus- grabungen zu Herculanum und Pompeji, bei denen eine grosse Anzahl solcher Werkzeuge aufgefunden wurden, haben darüber werthvoUe Auf- schlüsse gegeben. Damach waren gerade und gekrümmte Nadeln,. Sonden verschiedener Art, Hohlsonden, gekrümmte und gezähnte Zangen^ Katheter mit leichter S-förmiger Krümmung, mehrere Formen von Pincetten, darunter auch solche mit Haken und Schiebern, konische

^ Galen XVIII B, 258. * Lucian: Hippas, c. 1.

8 Celsus VII, Praef. * Gaien X, 4ö5.

Der medicmische UnterricM in Born. 97

und kugelförmige Schröpf köpfe, scharfe und stumpfe Haken, gabelförmige und scheibenähnliche Glüheisen, Messer, Spatel, Meissel, Lanzetten, Bistouris, Mastdarm- und Scheidenspiegel u. a. m. im Gebrauch. ^ Die Specula waren theils einfach, theils zweitheilig oder dreitheilig. Im Jahre 1882 wurde in Pompeji ein yiertheiliges aufgefunden, welches aus zwei geraden und zwei S-förmigen Armen besteht. ^ Auch kannte man verschiedene Arten von Verbänden, von Extensions- und Lagerungs- apparaten, welche bei der Behandlung der Knochen-Frakturen und Luxationen in Anwendung kamen.

Die Ausführung der chirurgischen Operationen wurde dadurch er- leichtert, dass man bessere Blutstillungs-Methoden kennen lernte; man war nicht mehr blos auf die Kälte, die Compression, die Stjptica und die Glühhitze beschränkt, sondern griff zur Ligatur^ und der Torsion* der Gefässe, wenn jene Mittel nicht zum Ziel führten. Es konnten daher blutreiche Neubildungen entfernt und Amputationen und Resek- tionen unternommen werden. Antyllus wagte sich sogar an die Ope- ration der Aneurysmen.^

Bei der Amputation bediente man sich sowohl des Cirkelschnittes als des Lappenschnittes.® Den grössten Triumph feierte die Geschick- lichkeit der römischen Chirurgen in der Resektion. Antyllus und Heliodob^ entfernten erkrankte Knochentheile mit sorgfaltiger Erhal- tung der Continuität des Knochens; sie nahmen den Humerus in seinem ganzen Umfange, einen Theil des Acromial- Fortsatzes, ebenso Partien des Oberschenkelknochens, der Tibia und der Vorderarmknochen, ja sogar den Unterkiefer, wobei die Gelenke geschont wurden, und Theile des Oberkiefers hinweg.

Auch die plastische Chirurgie war ihnen nicht unbekannt. Durch Herüberziehen benachbarter Partien der Haut und der darunter liegen- den Gewebstheile versuchten sie, Substanz Verluste an den Ohren, den Wangen, der Nase und den Lippen zu ersetzen.®

* B. VüLPEs: lUustrazione di tutti gli sti'umenti cbirurgici scavati in Erco- lano e Pompei, Napoli 1847. Quaranta und Vulpes im Museo Borbonico, Vol. XIV, 36. XV, 23.

* A. Jacobelli; Speculi chirurgici scavati dalle rovine delle cittä, dissepolte Pompei ed Ercolano im Morgagni, Napoli 1883, T. XXV, p. 185 u. fF.

* Celsüs V, 26. Galen X, 314.

* Oeibasius IV, 485. Eufus bei Agtius XIV, c. 51.

^ Oeibasius IV, 52. Vergl. Ed. Albert in d. Wiener Med. Blättern 1882, No. 1. 3. 4. 5.

® Celsus VII, 33. Archigenes und Heliodor bei Oribasitts IV, 244. 247. ^ Oribasius III, 582. 615 u. fF.

® Celsus VII, 9. Antyllus bei Oribasius IV, 56 u. ff. PuscHMANN, Unterricht. 7

98 Der medidnisehe Unterricht im AUerthum,

Von verschiedenen Gelehrten ist die Frage erörtert worden, ob von den Alten beim Mangel einzelner Glieder künstliche Nachbildungen derselben verwendet wurden. Auf einer aus der DuRAND'schen Samm- lung stammenden Vase des Louvre ist eine männliche Figur mit einem angeblichen Stelzbein dargestellt^ Bei genauer Betrachtung erkennt man jedoch, dass der Unterschenkel nicht fehlt, sondern um einen langen Stab nach vorn und oben gelegt ist. Dagegen ergiebt sich aus ein^r Bemerkung Lücian's^ mit Bestimmtheit, dass künstliche Füsse aus Feigenholz verfertigt wurden, deren sich Amputirte bedienten.

Die Tracheotomie wurde zwar ausgeführt, erzielte aber nicht, wie es scheint, grosse Erfolge und vermochte sich daher kein Vertrauen zu erringen. ^

Die Operation des Blasensteins hat Celsus^ ausführlich beschrieben. Derselbe erwähnte bei dieser Gelegenheit auch, dass der Chirurg Am- MONiüs den Versuch machte, grössere Steine, die sich schwer entfernen Hessen, in der Blase zu zertrümmern. Leider ist die Schilderung des Verfahrens nicht deutlich genug, um dasselbe als Lithothrypsie bezeichnen zu können. Doch liefert eine Stelle in der von einem anonymen Autor verfassten Biographie des heiligen Theophanes den unzweifelhaften Beweis, dass dieselbe im Alterthum bekannt war und ausgeübt wurde; es wird darin nämlich berichtet, dass Theophanes ari Blasensteinen litt, welche durch Werkzeuge, die man eingeführt hatte, zerbrochen und dann nach aussen befordert wurden.^ Olympios glaubt, dass dazu pincettenähnliche Instrumente mit mäusezahnartiger Spitze, wie deren auf Milo gefunden wurden, benutzt worden sind.®

Als Entstehungsursache der Hernien betrachtete man die Verlänge- rung und die Zerreissung des Bauchfells; nur Galen zog ausserdem die Betheiligung der Muskeln in Betracht. ^ Zur Beseitigung der Her- nien wurden Bruchbänder oder die Radikal-Operation empfohlen. ® Von der letzteren hat Heliodoe eine Beschreibung hinterlassen, die durch ihre Genauigkeit und Klarheit gerechte Bewunderung erregt® Auch

^ E. ErviJuiE: Prothese chirurgicale chez les anciens in Gaz. des hdp., Paris 1883, No. 132. 136.

* Lucüan: Ad indoct, c. 6.

* Aebtaeus: de acut. I, 7. Caeliüs Aubelian.: de acut III, 4. Galen XIV, 734. * Celsus VII, 26.

8 Corp. Script, bist Byzant., Bonn 1839, Vol. XXVI, Th. I, p. XXXIV. Patrolog. ed. Migne. ser. graec, T. 108, p. 37, Paris 1863.

^ B. Brlau in der Gaz. hebd. de m^d. et de chir., Paris 1858, No. 9.

^ Galen VH, 730. » Celsus VII, 20.

® Oeibasius IV, 484. Ed. Albeet: Die Herniologie der Alten, Wien 1878, S. 144.

Der medioinische Unterriekt in Roni. 99

die Incarcerationserscheinungen wurden von einigen Beobachtern ge- schildert.^

Die Strikturen der Harnröhre trennte Heliodor inittelöt eines schneidenden Instruments und legte dann Bougies aus trockenem Papier und metallene Sonden in die Urethra.^ Ebenso verstand man auch die Phimosis und Paraphimosis, die Condylome und die Hämorrhoidal- knoten auf geschickte Weise zu operiren.^

Die Augenheilkunde konnte ebenfalls bedeutende Erfolge aufweisen. Es wurden nicht nur die Trichiäsis, das Hypopyon, die Läukome, die Thränenfist«ln und andere Leiden der äusseren Theile des Auges, son- dern sogar der graue Staar auf operativem Wege geheilt. Allerdings kannte man nicht das Wesen dieser Krankheit, aber man heilte sie. Die Kunst ging hier, wie so oft in der Medicin, der Wissenschaft voraus.

Die Staaroperation geschah durch Depression der erkrankten Linse. Wenn die letztere wieder nach oben stieg oder eine weiche Consistenz zeigte, so nahm man ausserdem noch die Zerstückelung derselben vor. * Vielleicht kannte man- auch die Extraktion. Allerdings ist die Be- merkung des Pliniüs, dass die Ärzte aus Habsucht die squama im Auge lieber hinwegschieben als herausziehen wollen, zu undeutlich, als dass sie sich darauf beziehen lässt. Eher berechtigt die Angabe Galen's, dass einige Chirurgen, anstatt den Staar zu dislociren, den Versuch gemacht haben, ihn nach aussen zu entleeren,^ zu der Vermuthung, dass man die Extraktionsmethode geübt hat.® Eine Beschreibung der- selben findet sich nirgends. Der arabische Schriftsteller Rhazes schreibt ihre Kenntniss dem Antyllus zu und berichtet zugleich, dass derselbe auch mit der Beseitigung des Staares durch Suction Bescheid gewusst habe.^

* Celsus VII, 18. 20. Arbtabus: de acut. II, 6. AKtius XIV, 24. Paulus Aegin. III, 43. * Oribasiüs IV, 47:?.

' Obibasiüs IV, 466. 470. Paulus Aeo. VI, 79.

* Celsus VII, 7. Galen X, 1019. Vegetius Renatus: Mulomedicina II, 17. Paulus Aegin. VI, 21. A. Anagnostakis : Contributions k Fhistoire de la Chirurgie oculaire chez les anciens, Äthanes 1872.

'^ Plinius: Hist. nat. XXIX, 8. Galen X, 987. Vergl. dazu v. Hasner: Phakolog. Studien, Prag 1868.

® H. Magnus (Geschichte des grauen Staares, Leipzig 1876, S. 226 u. ff.) vertritt mit Gründen, deren Berechtigung nicht zu leugnen ist, die Ansicht, dass es sich dabei nicht um die Staar-Extraktion, sondern um die Hypopyon-Punction handelt. Jedenfalls „ist", wie Alpr. v. Gbaefe (Klin. Monatsbl. f. Augenheil- kunde 1868, Januar) sagt, „die Wiegenperiode der Extraktion eines der schwie- rigsten Kapitel der medicinischen Geschichtsforschung" und eine sichere Beant- wortung der Frage, ob die Alten dieselbe gekannt haben, nicht möglich.

^ Rhazes: Gontinens II, c. 3, Abs. 7. Ed. Venet. 1506, fol. 41. Sichel im Archiv f. Ophthalm. 1868, XIV, 3, S. 1.

7*

100 Der medidnische Unterricht im Alterthum.

Es ist sehr bedauerlich, dass die ophthalmologische Literatur des Alterthums grösstentheils verloren gegangen ist. Das Werk des be- rühmten Augenarztes Demosthenes, welches noch zu Ende des 13. Jahr- hunderts von Simon von Genua benutzt wurde und in einer Abschrift vielleicht heut noch in irgend einer Bibliothek verborgen liegt, würde über manche Dinge Aufschluss geben, über welche gegenwärtig nur Vermuthungen möglich sind.

Die chirurgische Disciplin umfasste nach Celsus^ zunächst die gesammte Operationskunst und ferner die Behandlung der Wunden und Geschwüre und aller Knochenkrankheiten. Vom Wundarzt verlangt er, „dass er im kräftigen Mannesalter stehe, eine sichere und feste Hand besitze, die niemals zittert, und die linke Hand ebenso geschickt zu gebrauchen wisse, als die rechte. Scharf und hell soll die Kraft seiner Augen, furchtlos sein Gemüth und dem Mitleid nicht soweit zu- gänglich sein, dass er sich durch das Geschrei der Kranken, deren Behandlung er übernommen hat, bewegen lässt, rascher, als es die Sachlage fordert, zu operiren oder weniger, als noth wendig ist, fort- zunehmen. Er darf sich bei seihen chirurgischen Eingriflfen in keiner Weise durch die Klagen der Kranken beeinflussen lassen."

Die Chirurgen wurden bei den Operationen durch ihre Gehilfen und Schüler unterstützt. Die Dienste, welche dieselben dabei leisten mussten, werden in mehreren der oben angegebenen Stellen ausführlich erörtert.

Die Geburtshilfe wurde von den Hebammen ausgeübt; nur in schwierigen Fällen nahm man die Hilfe der Ärzte oder Chirurgen in Anspruch. ^ Frauen, welche sich zu Hebammen ausbilden wollen, sollen, wie SoBANüs in seinem gynäkologischen Werk sagt, „lesen können, Verstand und ein gutes Gedächtniss besitzen, rührig, anständig, in ihrer Sinnesthätigkeit nicht gehindert, gesund und kräftig sein und lange feine Finger mit kurzen Nägeln haben."

Es wurde nicht, wie in Griechenland, von ihnen gefordert, dass sie bereits selbst einmal geboren haben. Doch hält es Soeanus für gut, wenn sie nicht zu jung sind. Ferner empfiehlt er den Hebammen, stets nüchtern, ruhig und verschwiegen, und weder geldgierig noch abergläubisch zu sein, sich nicht aus Habsucht zur Verabreichung von Abortivmitteln verleiten oder durch Träume, Ahnungen, Mysterien und religiöse Gebräuche in der Erfüllung ihrer Pflichten stören zu lassen.

1 Celsüs VII, Praef.

^ SoRANus Ephesius, Ed. Dietz, p. 107. Vergl. J. Pinopf im Janus I, S. 705—752. IT, lG-52. 217—245. 730—744.

Der medicinische Unterricht in Rom. 101

Auch giebt er ihnen den ßath, besondere Sorgfalt auf die Pflege ihrer Hände zu verwenden, sie häufig mit feinen Salben einzureiben und mit Wollearbeiten zu verschonen, weil dadurch die Haut hart und spröde wird.^

Bei der Ausbildung der Hebammen wurde sowohl die Theorie als die Praxis berücksichtigt, vor Allem aber darauf gesehen,, dass sie in der Diätetik, der Arzneimittellehre und den nothwendigen chirurgischen Verrichtungen unterrichtet wurden. Ihre Kenntnisse vom Bau der weiblichen Genitalorgane waren sehr mangelhaft; Soranüs war der Meinung, dass sie davon nicht viel zu wissen brauchten.

Dafür hatten sie ziemlich richtige Vorstellungen vom Verlauf der normalen Geburt und von der Hilfe, die dabei geleistet werden musste; sie unterstützten den Damm der Gebärenden mit einem Tuch, unter- banden die Nabelschnur nach der Geburt, sorgten für die Lösung der Nachgeburt u, a. m. Auch wurden sie mit den verschiedenen Lagen des kindlichen Körpers bekannt gemacht und erhielten eine vortreffliche Anleitung zur Wahl der Amme und zur Pflege der Neugeborenen. ^ Sie unternahmen selbst wichtige Operationen wie die Wendung auf den Kopf oder die Füsse bei fehlerhafter Kindeslage. ^ Die Embryotomie wurde nur ausgeführt, wenn alle Versuche, die Frucht lebend nach aussen zu befördern, vergeblich waren.*

Ein angeblich von Numa Pompilius erlassenes Gesetz gebot, den Kaiserschnitt an schwangeren Verstorbenen vorzunehmen, um wenn möglich das Leben des Kindes zu retten.^ Pltnius^ erzählt, dass er auch an lebenden Schwangeren ausgeführt wurde, und Scipio Africanus dieser Operation sein Leben verdankte.

Manche Hebammen beschränkten ihre Thätigkeit nicht auf die Geburtshilfe und die Behandlung der Frauenkrankheiten, sondern zogen die gesammte Heilkunde in ihren Bereich und waren somit eigentlich Ärztinnen. ^

Der Hebammenstand genoss grosses Ansehen. Sie wurden von den Gerichten als Sachverständige vernommen® und erhielten später das Recht, wegen der Forderungen für ihre Dienste klagbar zu werden.^ Zahlreiche Inschriften geben der Verehrung, die man ihnen zollte.

* SORANUS p. 3—5. * SOBANUS p. 79 U. fF. ^ SORANUS p. 110 U. ff.

* SoRANus p. 113 u. ff. Tertullian: de anima, c. 25.

* Pandect., Hb. XI, tit. 8, de mortuo inferendo. ^ Plinius: Hist. nat. VII, 7.

^ Martial: Epigr. XI, 71. Apulejüs: Metamorph. V, 24, Plinius: Hist. nat XXVIII, 7. 18. 23. 80. Jüvenal II, 141.

8 Seneca: Epist. 66. » Pandect, lib. 50, tit. 13.

102 Der medidnische Unterricht im Altertkum.

Ausdruck. Auf einem Grabdenkmal, welches von Mommsen beschrieben wurde, befindet sich ein Nachruf an „die unvergleichliche Gattin, edelste Frau und vortreflFliche Hebamme". Einer der. bekanntesten medicini- schen Schriftsteller und Ärzte, Theodökus Pbiscianus, widmete sogar ein Buch einer Hebamme, „der lieblichen Gehilfin seiner Kunst", wie er sie nennt. ^

Der ärztliche Stand in Rom.

Die Ausübung der ärztlichen Praxis stand, wie erwähnt. Jedem frei, ohne dass derselbe in einer Prüfung seine Befähigung dazu nach- zuweisen genöthigt war; aber schon die Lex Cornelia (88 v. Chr.) machte ihn dafür haftbar, wenn durch seine Schuld der Tod eines Menschen herbeigeführt wurde. Auch die Bewerbung um eine Anstellung im öflFentlichen Sanitätsdienst und um die Aufnahme in die Zahl der mit bestimmten Vorrechten ausgestatteten Ärzte, sowie die Stellung der ärztlichen Honorarklagen, besonders die extraordinaria eognitio, dürften Veranlassung gegeben haben, dass die wissenschaftlich gebildeten Ärzte von den Pfuschern, wenn auch nicht durch das Gesetz, so doch im praktischen Leben geschieden wurden. ^

Da viele Ärzte nur eine lückenhafte fachmännische Bildung be- sassen und nicht in allen Zweigen der Heilkunde unterrichtet waren, so befassten sie sich nur mit einem Theile derselben. Auf einem eng- begrenzten Gebiet der Heilkunst konnten sie in kurzer Zeit die für die Praxis nothwendigen Kenntnisse erwerben. Das Specialistenwesen, dessen Anfänge in eine frühe Zeit zurückreichen, bekam dadurch eine sehr schlimme Form; denn es wurde nicht so sehr der Ausdruck her- vorragender Leistungen auf einem speciellen Gebiet, als der halb- gebildeten Charlatanerie. Seine Vertreter gaben sich im Verkehr mit unterrichteten Ärzten bedenkliche Blossen und dienten den Lustspiel- dichtern als willkommene Objekte des Spottes.

Die Theilung der ärztlichen Arbeit wurde in sinnloser Weise über- trieben. Man unterschied nicht nur Chirurgen, Geburtshelfer und Frauenärzte, Augenärzte, Ohrenärzte und Zahnärzte, sondern es gab fast für jeden Theil des Körpers besondere Specialisten. Einige beschränkten

* Th. Pbiscian. lib. HI, Praef.

' Tu. Löwenfeld: Inaeetimabilität und Honoiirung d^r a^tes lif>era}fi8 nach j-ömiflchen Recht, München 1887, S. 428|.

Der ärztliche Stand in Bo-m, 108

sich auf die Behandlung von Fisteln und Brüchen oder bestimmter Körpertheile, z. B. des Afters, Andere beschäftigten sich ausschliesslich mit dem Steinschnitt, der Hemien-Operation oder der Staaroperation. ^ In einem Epigramm des Mabtial^ heisst es: „Gasgelliüs zieht Zähne aus oder ergänzt sie, Hyginüs brennt die in die Augen wachsenden Wimperhaare weg, Fanniüs heilt das geschwollene Zäpfchen, ohne zu schneiden, Ebos beseitigt die Brandmale aus der Haut der Sklaven, und Hebmes ist der beste Arzt für Hernien/^ Man hatte besondere Ärzte für die Krankheiten der Kinder, wie für diejenigen des Greisen« alters. Manche Specialisten bedienten sich bestimmter Kurmethoden und wendeten vorzugsweise das Wasser, den Wein, die Milch, gewisse ArzneistoflFe und Pflanzen, z. B. die Niesswurz, an.'

Tüchtige Ärzte, wie Galen, verachteten dieses Treiben und wid- meten allen Theilen der Heilkunde ihre Aufmerksamkeit, wenn sie auch in der Praxis diesen oder jenen Zweig derselben bevorzugen mochten. „Ich glaube," schreibt Celsus, * „dass es wohl möglich ist, alle Gebiete der Heilkunst zu beherrschen. Werden sie aber von einander getheilt, so lobe ich mir den Arzt, welcher die meisten derselben kennt"

Zwischen den Ärzten und den Chirurgen bestanden freundschaft- liche Beziehungen. „Sie unterstützten und empfahlen sich gegenseitig," erzählt Plutaboh.^ Es scheint nicht, dass die Chirurgen eine niedrigere gesellschaftliche Stellung einnahmeu, als die Ärzte für innere Krank- heiten, wie dies in späteren Zeiten der Fall war. Auch lässt Nichts darauf schliessen, dass Jene im Allgemeinen eine geringere Allgemein- bildung besassen, als die^se.

In manchen Fällen wurden von den Kranken oder ihren Ange- hörigen mehrere Ärzte zu Bath gezogen, welche in gemeinsamen Be- rathungen die Diagnose und Behandlung besprachen. Dabei mag es wohl häufig zu heftigen Meinungskämpfen gekommen sein,^ in denen die Grenzen des Anstandes überschritten wurden. Ihre ungleiche wissen- schaftliche Bildung erklärt es, dass unterrichtete und erfahrene Ärzte, wie Galen, im ünmuth über die Unwissenheit und ünföhigkeit ihrer Collegen ein scharfes ürtheil über deren Ansichten und Verordnungen fäUten.7

Theodobus Pbiscianus hat eine drastische Schilderung solcher

* Pseudo-GALEM : De part. artis medic. Ed. Chartier II, 282. Galen V, 846.

* Mabtial: Epigr. X, 56. ' Plinius: Hist. nat. XXIX, 5.

* Celsus Vn, Praef.

* Plütaboh: de fratemo amore, c. 16. Galbn XVIII A, 346,

* Plinius a. a. 0. XXIX, 5.

^ Galen VUI, 357, X, 910. XIV, 623 u, ff.

104 Der medidnische Unterricht im Alterthum.

Consilien hinterlassen. ^ „Während der Kranke von Sehmerzen gepeinigt," schreibt er, „auf seinem Lager hin und her geworfen wird, stürmt die Schaar der Ärzte herein, von denen Jeder nur bedacht ist, die Auf- merksamkeit der Übrigen auf sich zu lenken und sich um den Zu- stand des Kranken wenig kümmert. Wie im Cirkus oder beim Wett- kampf trachtet der Eine durch seine Redekunst oder Dialektik, der Andere durch den künstlichen Aufbau von Thesen, welche sein Gegner wieder niederreisst, ausserordentlichen Ruhm zu ernten." Der Volks- witz machte sich über diese Verhältnisse lustig und erfand die von Plinius (a. a. 0.) erzählte Anekdote, dass auf einer Grabschrift zu lesen war, der Verstorbene sei an der Menge der ihn behandelnden Ärzte zu Grunde gegangen.

Der ärztliche Stand genoss Anfangs nicht dasjenige Ansehen, welches seiner anstrengenden opferwilligen Thätigkeit gebührt. Die vornehmen Römer hatten für die Medicin höchstens ein dilettanten- haftes Interesse und betrachteten die Ausübung der Praxis als eine Beschäftigung, die sich nur für Leute von niederem Herkommen, für Diener und Sklaven schicke. ^

Als später die Einwanderung der fremden Ärzte erfolgte, und Heilkünstler aus Griechenland, Ägypten, Kleinasien und Palästina sich in Rom niederliessen, trat der beschränkte Nativismus, das spiessbürger- liche Vorurtheil, welches man gegen alle Fremden hatte, einer Ver- besserung der socialen Stellung der Ärzte hindernd in den Weg.

Freilich trugen die letzteren auch selbst einen grossen Theil der Schuld. Die Prahlereien, die Habsucht und die Laster, durch welche sich Einzelne von ihnen verächtlich machten, boten ihren Gegnern wirksame Waffen, welche sich gegen den ganzen Stand richteten. Plinius berichtet, dass Ärzte ihre Vertrauensstellung dazu missbrauchten, um Erbschleicherei und Ehebruch zu treiben und durch Darreichung von Gift den Tod eines Menschen zu bewerkstelligen.-'* Galen ver- gleicht die Ärzte in Rom sogar mit Räubern und sagt, dass zwischen ihnen nur der einzige Unterschied bestehe, dass diese im Gebirge und jene in der Stadt ihre Schandthaten begehen.*

Dazu kam das aufdringliche und prahlerische Auftreten mancher fremden Heilkünstler, welches dem würdigen Ernst der Romer missfiel. So durchzog Thessalus, der sich den „Besieger der Ärzte" nannte.

* Theod. Priscianüs I, Praef. * Plinius a. a. 0. XXIX, 8.

' Plinius a. a. 0. XXIX, 8. Mabtialis: Epigr. VI, 31. Tacitus: Annal. IV, 3. XII, 67.

* Galen XIV, 622.

Der ärztliofie Stand in Rom, 105

mit einem Schwann von Anhängern die Strassen, „wie ihn kaum ein Schauspieler oder berühmter Cirkusreiter hatte." ^ Einzelne Ärzte be- trieben die Jagd auf Patienten ganz offenkundig und entblödeten sich nicht, Vorübergehende zum Eintritt in ihre Officinen aufzufordern, die dann häufig genug zum Aufenthaltsort von Müssiggängem und Gaunern entarteten.

Der Wunsch, bekannt zu werden und Praxis zu erwerben, ver- anlasste Viele, „sich um die Gunst der vermögenden und einflussreichen Personen zu bewerben, mit ihnen auf den Strassen einher zu stolziren. Schmausereien zu feiern und Possen zu reissen, während Andere durch die Pracht ihrer Kleidung, durch werthvoUe Ringe und andere Schmuck- gegenstände die urtheilslose Menge zu blenden suchten." ^ Wie zu allen Zeiten, so liebten auch damals die Ignoranten und Charlatane, durch den Glanz der äusseren Erscheinung die Hohlheit ihres inneren Wesens zu verbergen.^ Ärzte, welche mehr Wissen und Verstand be- sassen, wendeten sich an die Öffentlichkeit, um für sich Beklame zu machen. Sie hielten populäre Vorlesungen, veranstalteten Disputationen mit ihren Gollegen, welche sich zu erbitterten Redetoumieren gestalteten und im Allgemeinen mehr zur Unterhaltung als zur Belehrung des Publikums beitrugen, und führten vor den Augen desselben im Theater, im Cirkus oder an anderen öffentlichen Orten chirurgische Operationen aus.* Diese Sitte, welche sich bei herumziehenden Heilkünstlern, namentlich bei den Zahnärzten, bis heut in Italien erhalten hat, scheint griechisch-orientalischen Ursprungs und erst mit der Einwanderung der fremden Ärzte nach Rom gelangt zu sein.

Das Honorar, welches die Ärzte für ihre Dienste empfingen, war natürlich sehr verschieden und richtete sich nach den Vermögensver- hältnissen des Kranken und der Stellung und Tüchtigkeit des Arztes. Galen erhielt vom Consul Boöthus, dessen Frau er längere Zeit be- handelt hatte, 400 Goldstücke. ^ Der ehemalige Praetor und Legat von Aquitanien, Manlius Gomutus, zahlte dem Arzt, der ihn von einem Hautleiden befreite, 200,000 Sestertien. ® Die gleiche Summe verlangte Chabmis, der durch seine Kaltwasser-Behandlung Aufsehen erregte, für eine Kur, die er in der Provinz unternahm.^

* Plinius: Hist. nat. XXIX, 5. « Galen XIV, 600.

* Lucian: Ad. indoctum, c. 29.

* Plutabüh: de adulatore et amico, c. 82.

^ Galen XIV, 647. Die Summe hat nach Marquardt (a. a. O. Bd. V, 8. 70) einen Goldwerth von etwa 8000 Mark D. R.-W.

ö Plinius: Hist. nat. XXVI, 3. Über 40,000 Mark. Mabquardt a. a. 0. S. 72. ' PuNiüs a. a. 0. XXIX, 5. 8.

106 Der medicinisGhe Unterricht im ÄUerthimi,

Als Q. Stertinius zum Leibarzt des Kaisers Claudius ernannt werden sollte, erklärte er, dass ihm die Besoldung von 250,000 Sestertien zu niedrig sei, da ihm, wie er durch Aufzählung der Familien, wo er Hausarzt war, nachwies, die Praxis ein jährliches Einkommen von 600,000 Sestertien sicherte. ^ Der Arzt Krinas, welcher die Astrologie zur Grundlage seiner Verordnungen machte, hinterliess, wie Plinius (a; a. 0.) erzählt, ein Vermögen von 10 Millionen Sestertien, obwohl er grosse Sunmien für öffentliche Bauten ausgegeben hatte. Vom Chirurgen Alkon wird berichtet, ^ dass derselbe, nachdem er zu einer Strafe von 10 Millionen Sestertien und zur Verbannung verurtheilt worden war, sich nach seiner Rückkehr binnen wenigen Jahren die gleiche Summe wieder erworben habe.

Aber solche glänzenden Einnahmen wurden sicherlich nur wenigen Glücklichen zu Theil. Die grosse Mehrzahl der Ärzte verdiente kaum soviel, als der Lebensunterhalt erheischte. Die ungleiche Vertheilung des Besitzes, welcher sich in den Händen einzelner Familien anhäufte und die grosse Masse des Volkes dem Proletariat überliess, eröffnete nur wenigen Ärzten die Aussicht, durch Ausübung ihrer Kunst Reich- thümer zu erwerben. Auch trug die rücksichtslose Concurrenz, die sie sich machten, dazu bei, dass ihre Dienstleistungen möglichst gering honorirt wurden. Wer die Armen-Praxis ausübte, blieb natürlich selbst ein armer Mann.^

Es kam sogar vor, dass Ärzte ihren Beruf aufgaben, weil er sie nicht ernährte, und sich dem wie es scheint einträglicheren Metier eines Gladiators oder Leichenbestatters widmeten. Darauf be- zieht sich ein boshaftes Epigramm Martial's, in welchem er sagt: „Diauluö war Arzt, jetzt ist er Leichenträger. Er macht von der ärzt- lichen Kunst den Gebrauch, welchen er am besten kennt." „Übrigens war er auch früher, da er noch Arzt war, doch nur ein Leichen- bestatter."*

Nur langsam und allmälig verbesserte sich die gesellschaftliche Stellung der Ärzte, Sie verdankten dies theils den erfolgreichen Be- strebungen jener Mitglieder ihres Standes, welche durch die Tiefe ihres Wissens und die Reinheit ihres Charakters die Achtung und Bewun- derung ihrer Mitbürger errangen, theils der sich immer mehr Bahn brechenden Erkenntniss der Nothwendigkeit und Wichtigkeit der ärzt- lichen Kunst.

Die Gebildeten begannen, ein lebhaftes Interesse für anatomisch-

1 PuNius a. a. 0. XXIX, 5. « Plinius a. a. 0. XXIX, 8.

» Galen XII, 916, * Martialis: Epigr. I, 30. 47. VIII, 74,

Der ärxüiche Stand in Born. 1(M

physiologische Untersuchungen und für die Heilkunde überhaupt aui empfinden. „Ich glaube," schreibt Gellius, „dass es nicht blos für den Arzt, sondern für jeden selbststandigen Menschen, der eine gute^ Erziehung genossen hat, eine Schande ist, wenn er nicht über die Dinge, welche den menschlichen Körper betreflFen, Bescheid weiss und die Mittel kennt, welche uns die Natur zur Erhaltung der Gesundheit offen vor die Augen gelegt hat. Ich habe deshalb alle Zeit, die ich erübrigen konnte, auf das Studium medicinischer Werke verwendet, weil ich. darin die beste Belehrung zu finden hoffte."^ Ebenso war Plutabch der Meinung, dass Jeder seinen Puls kennen und wissen müsse , was ihm nützlich oder schädlich sei.^

Auch die ethische Seite des ärztlichen Berufs wurde von einigen Autoren hervorgehoben. „Der Arzt soll nicht gezwungen werden ^ die Kranken zu besuchen," schreibt Lücian;^ „er darf nicht eingeschücbtert,. nicht mit Gewalt dorthin geführt werden, sondern muss freiwillig und gern zu ihnen kommen."

Man kann die hohe Würde, den idealen Werth der Heilkunst nicht, besser kennzeichnen, als Seneca, wenn er sagt: „Man giebt dem Arzt nur den Lohn für seine Mühe; denjenigen für sein Herz bleibt man ihm schuldig." „Glaubst Du denn," heisst es an einer anderen Stelle, „dass Du dem Arzt und dem Lehrer nichts weiter schuldest, als sein Honorar? Bei uns widmet man Beiden grosse Verehrung und Liebe. . . . Wir empfangen von ihnen unschätzbare Güter, vom Arzt Ge- sundheit und Leben, vom Lehrer die edle Bildung des Geistes. . . . Beide sind uns Freunde und verdienen sich nicht durch ihre verkäuf- liche Kunst, wohl aber durch ihr aufrichtiges Wohlwollen unseren in- nigsten Dank."*

Das Bedürfniss nach ärztlicher Hilfe führte schon in früher Zeit dahin, dass man Hausärzte, Ärzte für Gemeinden, das Heer, und für Genossenschaften anstellte. Beiche Leute, welche einen grossen Haus- stand und viele Sklaven besassen, waren darauf bedacht, dass ihnen in Krankheitsßlllen zu jeder Zeit ein Arzt zu Gebot stand. Zu diesem Zweck schlössen sie mit einem in der Nähe wohnenden Arzt einen Vertrag, der denselben verpflichtete, ihnen gegen einen bestimmten Jahres- gehalt alle ärztlichen Dienste zu leisten.^

Noch bequemer aber war es für sie, wenn sich unter ihrer Diener-

* Gbluüs: Noct. Attic. XVIII, 10.

' Plutabch: de sanitate tuenda praec., c. 24. 25. ^ Lucian: Abdicatus (Der verstossene Sphjci), c. 23.

* Seneca: de benefic. VI, 15. 16. ;17. «* Varbo: de re rust. I, 16.

108 Der medidinsGhe Unterricht im Alterthii/m,

Schaft ein heilkundiger Sklave befand, dem sie die Sorge für ihre und der Ihrigen Gesundheit anvertrauen konnten.^ Sklaven dieser Art waren daher sehr gesucht und standen höher im Preise als die übrigen Sklaven; sie wurden sogar theurer verkauft, als die Eunuchen.^ Auch kam es vor, dass junge begabte Sklaven auf Kosten ihrer Herren in der Heilkunst unterrichtet und zu Ärzten ausgebildet wurden. ^Die abhängige Stellung dieser Ärzte entschuldigt sie, wenn sie ihr medici- nisches Wissen nicht blos dazu verwendeten, um Schmerzen zu lindem und Krankheiten zu heilen, sondern auch zu scheusslichen Handlungen und schweren Verbrechen,? welche sie auf Befehl ihres Herrn ausführten.

War der letztere selbst Arzt, so dienten sie ihm als Assistenten und GehiKen in der Praxis; wenn sie selbstständig Kranke behandelten, so mussten sie ihm das Honorar, welches sie dafür erhielten, abliefern und bildeten somit eine bisweilen recht ergiebige Erwerbsquelle für ihn. Aus diesen Umständen wird es begreiflich, dass er Sklaven dieser Art nur ungern die Freiheit gab; denn er verminderte dadurch nicht nur seine Einnahmen, sondern schuf sich auch zuweilen einen Concur- renten, der ihm, weil er seine Patienten kannte, doppelt gefährlich- werden konnte.

Ebensowenig waren Nichtärzte, welche Sklaven mit medicinischen Kenntnissen besassen, geneigt, sich dieses Besitzes zu entledigen, weil sie damit den immer bereiten, gänzlich ergebenen Hausarzt verloren.* Das Gesetz war daher genöthigt, die einander entgegengesetzten Interessen der Herren und ihrer Sklaven zu versöhnen, indem es einerseits die Bedingungen, unter denen die letzteren ihre Freiheit zu fordern be- rechtigt waren, und die Normen feststellte, nach welchen die Höhe des Lösegeldes berechnet werden sollte, und andererseits den Freigelassenen bestimmte Verpflichtungen gegen ihre ehemaligen Herren auferlegte, welche die letzteren vor übermässigen Nachtheilen schützen sollten.^

Die im Besitz des Staates befindlichen Sklaven des ärztlichen Standes, welche wahrscheinlich die Behandlung der erkrankten Servi publid besorgten, scheinen sich im Allgemeinen in einer günstigeren

*

Lage und freieren Stellung befunden zu haben, als ihre Berufsgenossen, welche Privatpersonen gehörten.

Den freien Ärzten wurden verschiedene materielle Vortheile und Vorrechte gewährt, weil man erkannte, wie nützlich und wichtig die

^ Sueton: Nero, c. 2. Calig. c. 8. Senega: de benef. III, 24.

* Cod. Just. VI, tit. 43, 3. VII, tit. 7, 1. 5.

* Cicero: ad Pison., c. 34. pro Cluentio, c. 14 u. ff. Taoitus Annal. XV, 63,

* Digest. XL, tit. 5, c. 41, 6.

^ Digest. XXXVm, tit. 1, c. 25—27.

Der ärztliche Stand in Born. 109

Heilkunst für das allgemeine Wohl ist Als Cäsar bei einer Hungers- noth, die im Jahre 46 v. Chr. in Rom ausbrach , die Ausweisung der Fremden anordnete, nahm er ausdrücklich die Ärzte und die Lehrer von dieser Massregel aus, „damit sie um so lieber in der Stadt wohnen bleiben und noch Andere dorthin nachziehen".^ Der Kaiser Augustus gewährte den Ärzten i. J. 10 n. Chr. die Immunität^ d. i. die Befreiung von Steuern und anderen Lasten, angeblich aus Dank für die erfolg- reiche Kur, durch welche ihn sein Leibarzt Musa, ein begeisterter Anhänger der Hydrotherapie, von hartnäckigen rheumatischen Be- schwerden erlöst hatte. 2 Vespasian erneuerte oder bestätigte dieses Privilegium, und Hadrian erliess erläuternde Bestimmungen über die den Ärztin verliehenen Vorrechte.^

Aus dieser Verordnung, welche unter Antoninus Pius erneuert wurde, ergiebt sich, dass sie von der Übernahme verschiedener zeit- raubenden und mit manchen Unbequemlichkeiten und Unkosten ver- bundenen Ämter, z. B. der Überwachung der öffentlichen Spiele, der Ädilität, und den priesterlichen Verrichtungen, ebenso wie von der Ein- quartierungslast befreit und der Pflicht enthoben waren, zu dem Ein- kauf von Getreide und öl, wenn er von Seiten des Staates geschah, beizutragen, auch nicht genöthigt wurden, als Bichter oder Legaten zu fungiren, und weder zum Militär noch zu anderen öffentlichen Dienst- leistungen herangezogen werden konnten.*

Antoninus Pius bestimmte aber gleichzeitig, dass diese weitgehen- den Privilegien nicht allen Ärzten ohne Unterschied, sondern nur einer bestimmten Anzahl derselben zu Theil würden. Es wurde angeordnet, dass in kleineren Städten nur fünf, in mittleren sieben und in grösseren zehn Ärzte die Immunität erhalten sollten, und die letztere ihnen, wenn sie sich in ihrem Beruf Nachlässigkeiten zu Schulden kommen Hessen, jeder Zeit von der Stadtbehörde wieder entzogen werden konnte. Eemer wurde bei der Verleihung dieser Vorrechte den einheimischen Ärzten, welche in ihrem Heimathsort prakticirten, der Vorzug einge- räumt vor den Fremden, die dort eingewandert waren. Die letzteren sollten nur, wenn sie sich durch hervorragende Leistungen auszeichneten, berücksichtigt werden. In solchen aussergewöhnlichen Fällen durfte sogar die vorgeschriebene Zahl der mit Immunität ausgestatteten Ärzte ausnahmsweise überschritten werden.

* Sueton: J. Cäsar, c. 42.

' Dio Cassius LIII, 30. Sueton: Augustus, c. 59. Horaz: Epist I, 15. ^ Digest. L, tit. 4. de muner. et honor. lex 18, 30.

* Digest. XX Vn, tit. 1. de excusat., c. 6, 8. E. Kuhn: Die städtische und bürgerl. Verfassung des röm. Reiches, Leipzig 1864, I, S. 69 u. ff.

110 Der medtciniseke Uniernekt im ÄUerthum,

Alexander Severas erliess das Gesetz, dass in den Provinfzen die Immunität nicht mehr von den staatlichen Behörden, sondern von den Bürgern und Grundbesitzern verliehen würde, weil diese den Charakter und die Tüchtigkeit der Ärzte,, denen sie sich in Krankheiten anver- trauen, am besten kennen. ^ Später wurden den Ärzten noch die extror ordinaria cognitio gewährt, nämlich das Recht, ihre Klagen wegen rück- ständiger Honorarforderungen unmittelbar bei der höchsten Instanz der Provinz vorzubringen. ^

Es scheint, dass man durch solche Begünstigungen zunächst nur beabsichtigte, tüchtige unterrichtete Ärzte an einen Ort zu fesseln, wie das Beispiel des Archagathus lehrt. Bald aber wird man ihnen dafür auch bestimmte Verpflichtungen auferlegt haben, welche im öflfentlichen Interesse lagen. Als sich das Institut der Gemeindeärzte, wie es in Griechenland bestand, im römischen Reiche einbürgerte, wurden ihnen 'die mit den Pflichten des öffentlichen Dienstes verbundenen Vorrechte vorbehalten. Die erwähnten Privilegien wurden somit später vorzugs- weise, wenn nicht ausschliesslich, den Gemeindeärzten zu Theil. Ihre Zahl richtete sich nach der Grösse der Stadt und war, wie es scheint, die gleiche, wie diejenige, welche das Gesetz für die Verleihung der Immunität bestimmte. ^

In Gallien hatte man schon vor Stbabo's Zeit Gemeindeärzte, ^ in Kleinasien vielleicht schon früher* und in Latium jedenfalls unter Trajan, wie aus einer Grabschrift hervorgeht, welche dem besoldeten Arzt der Stadt Perentinum gewidmet ist.^ In Rom wurde für jeden Bezirk der Stadt ein Arzt angestellt.

Die Gemeindeärzte waren vorzugsweise dazu verpflichtet. Arme unentgeltlich zu behandeln; doch war ihnen die übrige Praxis keines- wegs verwehrt. Femer wurden sie bei Epidemien und anderen Ereig- nissen, welche mit einer Zunahme der Krankheiten und Sterbefalle verbunden waren, zu Rath gezogen ; ausserdem gehörte der medicinische Unterricht zu ihren besonderen Obliegenheiten,

Von der Gemeinde erhielten sie eine Besoldung, welche haupt- sächlich in Naturallieferungen bestand. In grösseren Städten, wie in Rom, bildeten sie CoUegien, welche sich, wenn eine Stelle erledigt wurde, durch Cooptation ergänzten. Doch unterlag ihre Wahl der kaiserlichen Bestätigung. Manchmal scheint das Amt auch von dem Vater auf den Sohn übergegangen zu sein.®

^ Digest. L, tit. IX. de decretis ab ord. fac, c. 1.

« Digest. 1, tit. 13, c. 1. « Strabo IV, 1.

* Vebooutbe a. a. 0. p. 351. Obblli: Inscript. lat, No. 3507.

^ Marquardt a. a. 0. VII, 755. ® Vercoutre a. a. 0. S. 321.

Der ärztliehe Stand in Rom. 111

Unter der Regierung der Kaiser Valentinian I. und Valens (368 n. Chr.) wurden die amtlichen Competenzen und Beziehungen der Gemeindeärzte in ihren Einzelheiten festgestellt.^ Seit dieser Zeit führten sie auch officiell den Titel Archiatri populäres, dessen Entstehung jedenfalls in eine frühere Zeit fällt. Das Wort Archiater kommt schon bei Abe- TAEUS vor 2 und ist oflfenbar nach der Analogie anderer Ausdrücke mit der Wurzel dQz gebildet, um die Würde, die höhere Stellung zu bezeichnen. ^

Am frühesten scheint es zur Bezeichnung der Ärzte des kaiser- lichen Hofes gebraucht worden zu sein. Schon Stbbtiniüs Xenophon, über dessen Lebensschicksale durch die Auffindung seines mit Inschriften bedeckten Leichensteins vor Kurzem interessante Aufschlüsse gegeben wurden, * führte den Titel eines Archiaters, und vor ihm vielleicht schon M. Liviüs EüTYCHTJS.^ Ebenso wurde der Leibarzt Nero's, Andbo- MACHüs, zum Archiater ernannt, weil der Kaiser damit, wie Galen bemerkt, ® andeuten wollte, dass er die übrigen Ärzte durch Erfahrung und Wissen überrage. An einer anderen Stelle gedenkt Galen der Ärzte Magnus und Demetbius, welche zu seiner Zeit die Würde des Archiaters bekleideten. ^

Später führten die Hofarzte den Titel Archiatri palatini im Gegen- satz zu den Archiatri populäres, den Gemeindeärzten. Am Hofe des Kaisers Alexander Severus gab es sieben Ärzte, von denen aber nur der erste, der eigentliche Leibarzt, einen Gehalt in baarem G^lde bezog, während den übrigen Lebensmittel geliefert wurden. Ausserdem nahmen sie an allen Privilegien und Begünstigungen Theil, welche den Archiatem und Ärzten überhaupt verliehen worden waren. ^

Wie der Hof und die Gemeinden, so hatten auch manche Ge- nossenschaften ihre eigenen Ärzte. Ebenso wurden für einzelne Be- amten-Kategorien, das Theaterpersonal, den Cirkus und die Gladiatoren besondere Ärzte angestellt.®

Auch die verschiedenen Truppentheile erhielten ihre Ärzte, die sie ins Feld begleiteten und die erkrankten und verwundeten Soldaten

^ Cod. Theodos. XIH, T. 3. de med. et profess., c. 8 10. Cod. Justin« X, T. 52, c. 10.

^ Aretaeus: de acut. cur. II, 5.

^ G. CuBTius: Grundzüge der griechischen Etymologie, Leipzig 1879, S. 189.

* M. DuBOis: Un mMecin de l'empereur Claude. Bull. d. corresp. hellen. 1881, No. 7. 8.

^ K. Briau: Arcbiatrie romaine, Paris 1877, c. 2.

« Galen XIV, 211. ^ Galen XIV, 261.

^ Lampbidiüs: Alexander Severus, c. 42.

^ E. Bbiau: L^assistance mMicale chez les Eomains, Paris 1869.

112 Der medidnische Unterricht im AUerthuni.

entweder in ihren Zelten oder in den Lazarethen behandelten. Sie trugen Waffen, wie die übrigen Soldaten ^ und genossen die den übrigen Ärzten gewährte Immunität. Über die ßangverhältnisse der Militär- ärzte und ihre Beziehungen zu ihren Vorgesetzten bestanden genaue Bestimmungen. 2 An der Spitze des ganzen Militär-Sanitätswesens stand vielleicht ein General -Stabsarzt.^ Desgleichen war die Marine mit Ärzten versehen; es gab darunter sogar Specialisten, wie aus einer Be- merkung Galen's hervorgeht.*

Ärzte, welche sich durch ihre Thätigkeit hervorragende Verdienste erwarben, wurden mit Titeln und Würden, mit Kangerhöhungen und anderen Ehren ausgezeichnet. Wie überall, so waren es auch in Rom vorzugsweise die Hofärzte, denen diese Gunstbezeugungen zu Theil wurden.* Müsa wurde vom Kaiser Augustus in den Eitterstand er- hoben und seine Statue im Aeskulaptempel aufgestellt. Stebtinius Xenophon erhielt für seine Leistungen als Militärarzt von Claudius die Corona aurea und hasta pura; als kaiserlicher Leibarzt erlangte er einen derartigen Einfluss, dass er zum Staats-Sekretär für die griechi- schen Angelegenheiten ernannt wurde. Seine Heimath, die Insel Kos, verdankte es ihm hauptsächlich, dass sie von Steuern befreit wurde.® In späteren Zeiten geschah es nicht selten, dass Ärzte hohe Stellungen am Hofe oder in der Verwaltung des Staates annahmen und damit wahrscheinlich ihrer bisherigen Berufsthätigkeit entsagten.

Der Verfall des römischen Eeiches erstickte das wissenschaftliche Streben und vernichtete manche vortreffliche Einrichtung, welche auf dem Gebiet des Unterrichts und der Heilkunde geschaffen worden war; aber die wesentlichen Grundzüge dieser Organisation blieben erhalten, wenn sie auch durch Unverstand und Erbärmlichkeit missbraucht und bisweilen sogar in ihr Gegentheil verkehrt wurden. Die reiche medi- cinische Literatur, welche gerettet wurde, überlieferte der neuen Zeit die Errungenschaften der alten und wies der ärztlichen Forschung die Wege, welche sie wandeln muss, wenn sie Erfolge erringen will.

^ Auf der Trajans-Säule in Rom sind zwei Militärärzte dargestellt, welche Wunden verbinden und Pfeile ausziehen und dabei bewaffiiet sind.

* R. Briau: Du Service de sante militaire chez les Romains, Paris 1866. ^ Achilles Tatius: de Clitop. et Leucipp. amor. IV, 10.

* Galen XII, 786. ^ Cod. Just. XII, tit. 13. « Tacitus: Annal. XII, 61.

IL Der medicinische Unterricht im Mittelalter.

Der Einfluss des Christenthums.

Der römische Staatsorganismus wurde durch schleichende Krank- heiten, welche sein Lebensmark zerstörten, einem langen Siechthum zugeführt, dem die siegreichen Angriffe äusserer Feinde ein unrühm- liches Ende bereiteten.

Die Unfähigkeit und Verworfenheit auf dem Throne, die Theilung der Eegierung unter mehreren einander missgünstigen und befehdenden Machthabem, die Corruption der Beamten und die Käuflichkeit einer übermüthigen und übermächtigen Soldateska untergruben seine politische Existenz, während die Lockerung der Familienbande, die Genusssucht, der Hochmuth und die Verschwendung der Eeichen neben dem Elend der Massen, und die freche Schamlosigkeit, mit welcher das Laster sich vor Aller Augen zeigte, das sociale Leben in Eom vergifteten. Die frischen Naturvölker des Nordens, welche zuerst als gedungene Söldner- schaaren, dann als umworbene Beschützer und zuletzt als gebietende Herren dorthin kamen, beschleunigten den Zersetzungsprozess und gaben dem durch innere Leiden zerrütteten, aus unzähligen Wunden blutenden und verstümmelten römischen Keiche aus Mitleid endlich den Todesstoss.

Der Mannesmuth und Heldensinn, welcher den Namen der Römer mit Ruhm bedeckt und ihren Staat gross gemacht hatte, war erloschen. AVenn eine vereinzelte kühne That an die Zeiten der Vergangenheit erinnerte, so erhellte sie nur für einen Augenblick wie ein leuchtender Blitz die dunkele Nacht der Gegenwart.

Der nach idealen Zielen ringende Ehrgeiz suchte seine Aufgaben vorzugsweise auf dem Gebiet der Theologie und der entsagungsvollen Frömmigkeit. Diese Denkweise, welche von den sittenstrengen An- hängern der Stoa vorbereitet, aber erst durch das Christenthum allge- meiner verbreitet wui'de, sah in dem geduldigen Ertragen der Leiden;

PuscHHANN, Unterricht. 8

114 Der inedietnisehe Unterricht im Mittelalter,

in der Enthaltsamkeit von den Genüssen des Lebens die vornehmste und höchste Tugend, die der Mensch anstreben soll. . Einen wirksamen Ansporn dazu gab die christliche Glaubenslehre, indem sie die Aussicht eröffnete auf ein Leben nach dem Tode, in welchem alle Ungerechtig- keiten gesühnt werden, die Tugend ihren Lohn und das Laster seine Strafe erhalten sollten. Den Armen und Elenden dieser Welt wurde damit die HoflEnung auf eine bessere schönere Zukunft gewährt, welche sie über den Jammer der Gegenwart trösten konnte, den Kelchen das Mitleid in die Seele geträufelt und die Sünder mit Furcht und Schrecken erfüllt und dadurch zur Besserung geführt. Diese Lösung der socialen Frage entsprach den Bedürfnissen und dem Culturzustande jener Zeit und musste sich daher allgemeine Anerkennung erringen.

Die ersten Anhänger des Christenthums gehörten den Kreisen der Unterdrückten, der Enterbten an; später fand es auch in den mit Glücksgütern gesegneten, sogenannten höheren Klassen der mensch- lichen Gesellschaft Gläubige, welche, angewidert von der moralischen Verkommenheit ihrer Zeit, in den Lehren des neuen Evangeliums Trost und Erhebung suchten.

So lange die christliche Kirche aus solchen Elementen bestand, bewahrte sie ihre Reinheit und blieb die Religion des Friedens und der Liebe, welche ihr erhabener Stifter geträumt hatte. Als ihr aber mit der zunehmenden Verbreitung auch die Macht und der Reichthum zufloss und dadurch eine Masse ehrsüchtiger und charakterloser Streber angezogen wurde, wurde sie zum Tummelplatz menschlicher Leiden- schaften gemacht und stiftete manchmal mehr Unheil als Segen.

Das Christenthum beschäftigte sich nur mit der ethischen Erziehung des Menschengeschlechts; der wissenschaftlichen Ausbildung stand es gleichgültig, zuweilen sogar feindlich gegenüber. Es war dies auch natürlich; denn in einer Weltanschauung, welche, wie die christliche, ihre Ziele in einer übersinnlichen Welt der Ideale suchte und die sitt- liche Vervollkommnung der Menschen für deren wichtigste oder einzige Aufgabe erklärte, konnte der wissenschaftlichen Forschung keine grosse Bedeutung zugestanden werden.

In direkten Widerspruch zum christlichen Dogma aber trat die letztere, wenn sie die Erscheinungen der Natur, z. B. den Körper des Menschen, welchen der christliche Glaube für unrein und werthlos, wenn nicht verächtlich erklärte, zum Gegenstande ihrer Studien machte. Die Natui'wissenschaften und die theoretische Medicin haben daher unter der Herrschaft der christlichen Kirche keine wesentlichen Fort- schritte gemacht. Dagegen verdankt die- praktische Heilkunde ihrer Anregung die Gründung zahlreicher Krankenhäuser und anderer Wohl-

Der EmfliMS des Ghristenthu/ms. 115

thätigkeitsanstalten, welche die Humanität wie die ärztliche Heilknnst in gleichem Maässe förderten.

Die Entwickelung der Wissenschaften wurde in jener Zeit auch noch durch andere Verhältnisse und Thatsachen gehemmt. Die be- ständigen Kriege und Raubzüge feindlicher Volksstämme, die religiösen Verfolgungen und dogmatischen Streitigkeiten, die durch die Unsicher- heit des Besitzes und des Lebens hervorgerufenen socialen Verände- rungen und die schweren Seuchen, welche die Länder entvölkerten und in Wüsteneien verwandelten, lenkten die Aufinerksamkeit von den wissenschaftlichen Studien ab und nahmen den Gemüthern die dazu erforderliche Ruhe.

Aber die wichtigste Ursache des wissenschaftlichen Stillstandes lag darin, dass die Völker, welche das Reich der Römer unter sich theilten, ihnen an Bildung bei weitem nachstanden und daher zunächst die Aufgabe hatten, deren Cultur in sich aufzunehmen. Dieser Prozess dauerte Jahrhunderte und fand eigentlich erst am Ende des Mittelalters seinen Abschluss.

Die Theilung der römischen Monarchie in eine östliche und eine westliche Hälfte gab dem alten Gegensatz zwischen dem Orient und dem Occident, der niemals gänzlich verschwunden war, wieder einen deutlichen politischen Ausdruck. Damit begann aber zugleich die Auf- lösung des grossen Staatsorganismus, von dem nun ein Glied nach dem anderen getrennt wurde. Die losen Beziehungen der Provinzen zur Centralgewalt in Rom oder Konstantinopel erleichterten deren Loslösung. Die germanischen Stämme, welche die Völkerfluth aus dem Norden und Osten gegen Süden und Westen trieb, machten sich in ihren neuen Wohnsitzen bald heimisch und gründeten neue Staaten. Als das 5. Jahr- hundert zu Ende ging, geboten die Ostgothen, denen später die Longo- barden folgten, in Italien, die Westgothen in Spanien und dem süd- westlichen Frankreich, Burgunder und Franken im Osten und Norden dieses Landes, während angelsächsische Stämme nach Britannien über- setzten, und die römische Provinz Afrika eine Beute der Vandalen wurde. In Germanien blieben sächsische, bayerische, allemannische und fränkische Stämme zurück, und die Herrschaft der Byzantiner wurde in Asien von den Persern, in Europa von den Gothen, Hunnen und Slaven mehr und mehr zurückgedrängt.

Die Eroberer behielten einen grossen Theil der politischen und socialen Einrichtungen bei, welche sie in den von ihnen unterworfenen Ländern vorfanden. Es war dies ein Triumph, den die höhere Cultur der im physischen Kampfe Unterlegenen über die geringere Bildung ihrer Sieger feierte. Die letzteren erkannten die grossen Vortheile,

8*

116 Der mediciniscihe Unterricht im Mittelalter.

welche ihnen aus der Bereicherung ihrer Kenntnisse erwachsen würden, und sorgten daher dafür, dass die Schulen und TJnterrichtsanstalten soviel als möglich erhalten wurden.

Der civilisatorische Einfluss der Römer hatte sich in allen Theilen des Reiches, namentlich aber in der westlichen Hälfte desselben, geltend gemacht. Zahlreiche Bildungsstätten in Gallien, Spanien, Britannien und Nordafrika gaben davon Zeugniss. Die literarischen Leistungen der römischen Schriftsteller, die aus diesen Ländern stammten, zeigen, wie erfolgreich jene gewirkt haben. ^

Nach dem Muster der höheren Unterrichtsanstalten zu Athen, Alexandria und Rom entstanden Hochschulen sowohl in den Ländern des Orients als in verschiedenen grösseren Städten Italiens, Galliens und Spaniens, 2 an denen neben der griechischen und römischen Lite- ratur, Grammatik, Geschichte, Philosophie, Rhetorik, Jurisprudenz, Mathematik, Physik und Astronomie zuweilen auch Medicin gelehrt wurde. Ihre Organisation war in vielen Beziehungen ähnlich derjenigen der englischen Universitäten. Sie wollten nicht so sehr für einen be- stimmten Beruf vorbereiten, als eine alles Wissen ihrer Zeit umfassende Allgemeinbildung bieten.

Die Professoren dieser Hochschulen wurden auf öffentliche Kosten besoldet und genossen Immunität, Steuerfreiheit und andere Privilegien. Ihre Zahl war beschränkt und richtete sich, wie diejenige der Archiatri, nach der Grösse der Stadt. An der Hochschule zu Konstantinopel, welche im 5. Jahrhundert n. Chr. gegründet wurde, waren 31 Profes- soren angestellt.^ Ausser den von den Stadtbehörden oder der Regie- rung ernannten Professoren scheint es noch Lehrer gegeben zu haben, welche gleich unseren Privatdocenten, ohne bestimmten Gehalt zu em- pfangen, die Lehrthätigkeit ausübten. Söhne wohlhabender Eltern wurden häufig von Pädagogen zur Hochschule begleitet, die, halb Hof- meister und halb Bediente, in den meisten Fällen dem Stande der Sklaven oder Freigelassenen angehörten.

Die Lehrer bezogen von ihren Schülern ein auf Vereinbarung be- ruhendes Honorar. Da dasselbe eine wesentliche Quelle ihres Einkommens

^ MoMMSEN a. a. 0. Bd. V, S. 69 u. ff., 100 u. ff., 176 u. ff., 643, 655 u. ff. Gibbon: Geschichte des Unterganges des römischen Weltreiches, übers, von J. Spoeschil, Bd. I, S. 59.

* F. Crameb: Geschichte der Erziehung und des Unterrichts im Altcrthum, Elberfeld 1832, Bd. I, S. 477 u. ff.

' J. C. F. Bahb: De literarum universitate Constantinopoli, Heidelberg 1835. Savigny: Greschichte des römischen Bechts, Bd. I, S. 396.

Der Mnfluss des Christenthmns. 117

bildete, so musste ihnen viel daran gelegen sein, recht viele Schüler zu unterrichten.

Das Studentenleben, welches sich in Rom und Athen entwickelte, glich in manchen Beziehungen dem unserigen. Die Studierenden ver- einigten sich nach ihrer Heimath zu landsmannschaftlichen Verbindungen, suchten dafür die neuen Ankömmlinge, die „Füchse", mit allen Mitteln der Überredung, der List und manchmal sogar der Gewalt zu gewinnen, feierten Trinkgelage und Schmausereien und Hessen gelegentlich der überschäumenden Jugendlust die Zügel schiessen. Auch an tollen und übermüthigen Streichen und beklagenswerthen Ausschreitungen fehlte es nicht.

In Antiochia kam es vor, dass die Studenten einen Pädagogen, der sich ihr Missfallen zugezogen hatte, in eine Decke hüllten und dann so lange in die Luft schleuderten und wieder auffingen, bis er ohnmächtig wurde. Der Philosoph Libanius, der damals dort eine Lehrkanzel hatte, hielt deshalb seinen Schülern, welche sich wahrschein- lich an diesem rohen Spass betheiligt hatten, eine Strafrede, in welcher er sagte, „es sei schon schlimm genug, wenn sich Studierende an ge- wöhnlichen Bürgersleuten vergreifen, einen Goldschmied beschimpfen, einen Schuster necken, einen Zimmermann stossen, einem Weber einen Tritt versetzen, einen Krämer herumzerren, oder einen ölverkäufer be- drohen; wenn sie aber sogar einen Pädagogen misshandeln, so sei dies eine Beleidigung eines der ehrenwerthesten und nützlichsten Stände und verdiene, dass sie dafür mit dem Stock und der Peitsche gezüchtigt würden". ^

Übrigens waren die Studierenden strengen Gesetzen unterworfen. Nach einer Verordnung Valentinians (370 n. Chr.) mussten sie beim Beginn ihrer Studien Zeugnisse der Obrigkeit ihrer Heimath vorlegen, worauf dann ihr Name und ihre Wohnung und der Stand der Eltern in ein öffentliches Verzeichniss eingetragen wurde. Es war ihnen untersagt, ihre Zeit in Vergnügungen zu vergeuden. Wenn sie diese Gebote übertraten, so setzten sie sich körperlichen Strafen aus und konnten von der Schule entfernt werden. Der Präfekt der Stadt er- stattete alljährlich einen Bericht über die Fähigkeiten und das Betragen der Studierenden an die vorgesetzte kaiserliche Behörde.^

Mit dem 20. Lebensjahre sollten die Studien beendet sein. Es scheint also, dass man ziemlich früh damit anfing. In der fälschlich

^ Libanius: Orat. et dedamat ed. J. J. Reiske, Altenburg 1795, T. III, p. 254. 259 (ttc^» toP T(i;ri/Tos).

2 Cod. Theodos. L. XIV, T. 1, 1.

118 Der medicinische Unterricht im Mittelalter,

dem SoKANus zugeschriebenen, aber jedenfalls auf alten Quellen be- ruhenden Isagoge in artem medicam^ wird das 15. Jahr als die ge- eignetste Zeit für den Beginn der medicinischen Studien erklärt Der Verfasser sagt bei dieser Gelegenheit, „dass der Studierende fleissig, talentvoll und scharfsinnig sein müsse, damit er schnell begreife und lerne, und dass er einen kräftigen Körper brauche, damit er die ihm bevorstehenden Anstrengungen ertragen kann". Ferner wird von ihm verlangt, dass er eine wissenschaftliche Vorbildung besitze und in der Grammatik, Literaturgeschichte, Rhetorik, Mathematik und Astronomie unterrichtet worden sei. „Der Arzt", heisst es weiter, „muss Milde und Bescheidenheit mit der geziemenden Ehrenhaftigkeit verbinden, einen unantastbaren Charakter besitzen, darf nicht hochmüthig auftreten und soll die Armen wie die Reichen, die Sklaven wie die Freien in gleicher Weise behandeln."

Die medicinischen Vorträge, welche von gelehrten Theoretikern, den latrosophisten, wie sie genannt wurden, an den Hochschulen ge- halten wurden, bestanden in philosophischen Betrachtungen und tief- durchdachten Erörterungen verschiedener Fragen der Physiologie und Pathologie; aber sie genügten nicht, um den Zuhörer zur Ausübung der ärztlichen Berufsthätigkeit zu befähigen.

Diesem Theile der ärztlichen Erziehung wurde von den Archiatern und überhaupt von den praktischen Ärzten, welche Unterricht in der Heilkunst ertheilten, in einer zweckmässigeren und wirksameren Weise entsprochen.

Die Sophisten-Schulen und höheren Lehranstalten verlangten kein bestimmtes, religiöses Glaubensbekenntniss von den Lehrern und Schülern. An ihnen unterrichteten Heiden und Chiisten, und in ihren Hörsälen drängten sich Anhänger verschiedener Kirchen und Sekten. Nur unter der kurzen Regierung Julians wurden die Christen vom Lehramt an den heidnischen Schulen ausgeschlossen.

Schon damals wurden schwache Versuche unternommen, um das Christenthum von der Bildung der Heiden zu emancipiren; aber erst ein Jahrhundert später gelang es den Bestrebungen eines Salvianüs, Pbüdentius, Okosiüs u. A., eine Literatur mit christlichem Inhalt zu schaffen, welche sich auf die Schriften des alten und neuen Testaments stützte. Die Gleichgültigkeit und Verachtung, welche die Leuchten der christlichen Kirche gegen die geistigen Schöpfungen der Griechen und Römer kimdgaben,^ die Einseitigkeit, mit der man sich bei der Aus-

^ Val. Kose : Anecdota graeca et graecolatina, Berlin 1864, II, p. 169. 244 u. ff. ' Archiv f. Geschichte u. Literatur; herausg. v. F. C. Schlosseb u. Bercht, I, S. 253 u. fF.

Der Mnfluss des Christenthums, 119

wähl des Stoffes auf die jüdisch-christliche tFberlieferung beschränkte und die tendenziöse Entstellung der Culturerrungenschaften des Alter-« thums gaben diesen literarischen Produkten ein sehr unvortheilhaftes Licht und erklären es, wenn aufgeklärte Zeitgenossen, die nicht in religiösen Vorurtheilen befangen waren, darin keinen Fortschritt in der intellektuellen Entwickelung des menschlichen Geschlechts erblickten.

Wenn der Kampf zwischen der christlichen und der antiken Bildung mit den Waffen des Geistes entschieden worden wäre, so musste er die Überlegenheit der letzteren darthun; aber er wurde bald auf das Ge- biet der politischen Macht verlegt, wo der Sieg Demjenigen zufallt, welcher der Stärkere ist

Als die Christen, nachdem sie Jahrhunderte hindurch von den Heiden verfolgt worden waren, die Herrschaft im Staat erlangten, be- gannen sie ihrerseits, ihre einstigen Bedrücker zu verfolgen. Eifrig bemüht, die Wurzeln, mit welchen die Menschheit an der heidnischen Vergangenheit hing, auszugraben, bekämpften sie das auf dem Studium der Alten beruhende TJnterrichtssystem und suchten es in ihrena Sinne umzugestalten, damit es eine mit dem christlichen Dogma vereinbare Form erhielt. Wenn man damit nicht zum Ziel kam, so griff man zur Gewalt und hob die Lehranstalten auf. Durch ein Edikt Justinians vom Jahre 529 wurden die philosophischen Schulen zu Athen und Alexandria geschlossen. Die letzten griechischen Philosophen ver- liessen ihre Heimath und suchten in der Fremde Schutz und geistige Freiheit

In Konstantinopel und anderen Orten, namentlich in den Ländern des Westens, wurden die Musentempel in christliche ünterrichtsanstalten umgewandelt, in denen das Studium der* Religion die massgebende Stelle erhielt. Die Geistlichen übernahmen die Leitung der Erziehung und wurden die Vertreter der Wissenschaft Da ihnen aber der reli- giöse Glaube das höchste Gesetz war, so wurden der Forschung Grenzen gesteckt, welche sie nicht überschreiten durfte.

In den Schulen, welche an den Bischofssitzen und bei den Klöstern entstanden, wurden nicht blos Theologie und Kirchengeschichte, sondern alle Wissenschaften gelehrt, welche theils zur Allgemeinbildung gehörten, theils für das tägliche Leben brauchbar und nützlich erschienen. Auch die Heilkunde wurde häufig in den Kreis der Unterrichtsgegenstände gezogen; namentlich beschäftigte man sich in den Schulen des Orients damit.

Der hl. Benedikt führte diese Einrichtung dann auch im Abend- lande ein und regte die Mitglieder des Ordens, den er stiftete, zu medicinischen Studien an. Auch Cassiodor empfahl den Mönchen, in

120 Der medicinische Uhten'ickt im Mittelalter,

deren Kloster er sich zurückgezogen hatte, nachdem er als Minister des Ostgothenkönigs Theodorich viele Jahre hindurch eine hervorragende Rolle im politischen Leben gespielt hatte, die Beschäftigung mit der Heilkunde und gab ihnen ausführliche Rathschläge, welche medici- nischen Schriftsteller des Alterthums sie ihren Studien zu Grunde le]^en sollten. ^

Sehr eifrig wurde die Medicin, wie es scheint, in den Schulen der Nestorianer gepflegt. Hohe Geistliche dieser Sekte wurden wegen ihrer ärztlichen Tüchtigkeit gerühmt und von den Fürsten zu Rath gezogen. ^

Die Unterrichtsanstalten der Nestorianer waren eingerichtet wie die Schulen des hl. Origines zu Alexandria. ^ Als Lehrer an den- selben wirkten auch Andersgläubige, sogar Heiden, natürlich nur in den profanen Wissenschaften. Die Schüler mussten für den Unterricht ein Honorar zahlen, das manchmal nicht unbedeutend war. Das Lehr- geld für arme Schüler zahlte die Kirche, welche ihnen ausserdem noch Unterstützungen gewährte.

Die bekanntesten Lehranstalten bestanden zu Edessa, Nisibis, Se- leucia und Dorkena; später wurden auch in Bagdad, Mesena, Hirta, Matotha, Jemama und anderen Städten Syriens derartige Schulen ge- gründet.* Manche waren sehr besucht; Nisibis zählte einmal 800 Schüler, von denen einzelne bis aus Italien und Afrika kamen.

Als die Nestorianischeii Gelehrten durch den religiösen Fanatismus der byzantinischen Kaiser aus Edessa vertrieben wurden, flüchteten sie nach Persien, wo sie wesentlich zu dem Aufschwünge beitrugen, den die Wissenschaften, besonders die Heilkunde, an der Schule von Gon- disapur erfuhren. Die ersten Anfänge derselben reichen vielleicht bis ins 3. Jahrhundert zurück;^ ihre Blüthezeit erlebte sie unter Kesra Nuschirvan im sechsten Jahrhundert.

Dieser Monarch war ein gründlicher Kenner der griechischen Lite- ratur und wohlwollender Beschützer aller wissenschaftlichen Bestre- bungen. Bei ihm fanden die vertriebenen Nestorianer dieselbe herz- liche Aufnahme wie die Philosophen von Athen; in der gleichen Weise unterstützte und förderte er die jüdischen und syrischen Gelehrten, welche den Persern die Cultur der Griechen übermittelten. Er schickte

^ Cassiodor: Institut, divin. lect. I, c. Sl.

' AssEMANi: Bibliotheca orientalis, Rom 1728, III, pars 1, p. 166. ^ AssEMANi a. a. 0. III, pars 2, p. 919 u. ff. * AssEMANi a. a. 0. III, pars 2, p. 924.

^ J. H. Schulze; De Gondisapora Persarum quondam academia medica in Comment. acad. Petropolit. 1751, XIII, p. 437 u. ff.

Der Mnfluss des Gkristenthums. 121

seinen Leibarzt Bubzweih nach Indien, damit derselbe die dortige Heilknnst kennen lerne und Arzneien und medicinische Schriften mit- bringe, und stellte, als er mit dem byzantinischen Kaiser Frieden schloss, die Bedingung, dass ihm der Arzt Tbibunus aus Palästina, einer der berühmtesten Praktiker seiner Zeit, auf ein Jahr überlassen würde.

In Gondisapur berührten sich das abendländische Wissen und die Weisheit des Morgenlandes. Hier trat die griechische Medicin in Ver- bindung mit der Heilkunst der Perser und Indier und diese Vermäh- lung barg in sich die Keime zu dem Aufschwünge, den diese Wissen- schaft unter den Arabern erfuhr.

Der medicinische Unterricht an den Schulen zu Gondisapur wurde hauptsächlich, wenn auch nicht ausschliesslich von den Nestorianischen Gelehrten ertheilt. Er war nicht blos theoretisch, sondern vorzugsweise praktischer Natur und fand im Krankenhause statt. ^ Das letztere blieb auch unter der arabischen Herrschaft erhalten und wurde noch zu Ende des zehnten Jahrhunderts erwähnt.

Die medicinische Wissenschaft machte in der Periode des Verfalls des römischen Reiches und der darauf folgenden Zeit keine bemerkens- werthen Fortschritte. Die Erziehung der Ärzte war im Allgemeinen weniger zweckmässig als früher. Es fehlte an manchen vortreflFlichen Einrichtungen, welche den medicinischen Unterricht bei den Römern erleichtert hatten.

Die anatomischen Studien wurden hauptsächlich nach Büchern betrieben. An die Zergliederung menschlicher Leichen war bei den religiösen und socialen Vorurtheilen, welche darin eine Schändung der Menschenwürde sahen, nicht mehr zu denken. Sogar die Sektionen thierischer Cadaver waren nicht immer möglich; denn sie brachten den Forscher mindestens in die Gefahr, für einen Zauberer gehalten zu werden. 2

Das anatomische Wissen erfuhr daher nur wenige Bereicherungen, von denen die Entdeckung des Olfactorius als eines selbstständigen Nerven und die Lehre, dass die Entwickelung der Schädelknochen und der Wirbelsäule von der Bildung des Gehirns und Rückenmarks ab- hänge, vielleicht allein Erwähnung verdienen.^

Die anatomischen und physiologischen Schriften Galen's bildeten

^ AssEMANi a. a. 0. III, pars 2, p. 940 u. ff. ^ Apulejüs Madaurenbis: Apologia, c. 36.

^ Theophilüs Protospatharius : De corp. human, fabrica ed. A. Greenhill, Oxford 1842, p. 129. 151.

122 Der medidnische Unterricht im MiitelcUter,

I

die Grundlage des Unterrichts in diesen Gegenstanden. Das anatomiache Wissen, welches derselbe dort niedergelegt hatte, erfüllte nach der Meinung der Ärzte jener Zeit die höchsten Anforderungen, welche an ihre Kenntnisse auf diesem Gebiet gestellt werden durften. Die Re- sultate, zu welchen er bei seinen anatomischen Untersuchungen gelangt war, schienen ihnen weder einer Berichtigung noch einer Ergänzung bedürftig zu sein.

Den gleichen Charakter der Vollendung schrieben sie den physio- logischen Theorien Galen's zu. Der Teleologismus, welchem er huldigte, und die aufrichtige Bewunderung der göttlichen Allmacht und Weisheit, der er bei jeder Gelegenheit Ausdruck gab, bewegten sich auf dem Boden der christlichen Auffassung und fanden daher bei den christ- lichen Gelehrten willkommene Aufnahme. Diesem Umstände verdankte es Galen zum grossen Theüe, dass seine Werke von den mit fana- tischer Brutalität gegen die literarischen Denkmäler des Alterthums wüthenden Theosophen der christlichen und islamitischen Ära nicht vernichtet, sondern sorgfältig erhalten und eifrig studiert und weiter verbreitet wurden.

Während die theoretischen Disciplinen der Medicin zum Stillstand verurtheilt wurden, eröffnete sich der praktischen Heilkunde durch die Gründung von Krankenhäusern die Aussicht auf eine erfolgreiche wissen- schaftliche Bearbeitung. Die Wohlthätigkeitsanstalten, welche die christ- liche Nächstenliebe ins Leben rief, boten Gelegenheit zur Beobachtung von Krankheiten und Leiden aller Art und erleichterten es den Ärzten, sich in ihrer Kunst auszubilden und Erfahrungen zu sammeln.

Wenn man behauptet hat, dass die Gründung öflFentlicher Ho- spitäler einzig und allein vom Christenthum ausgegangen sei, so ist dies freilich nicht richtig. Schon die Buddhisten kannten derartige Anstalten, ^ und die latreien der griechischen Ärzte, besonders diejenigen, welche auf öffentliche Kosten unterhalten wurden, waren gewiss im Wesentlichen nichts Anderes als öffentliche Krankenhäuser. Die Vale- tudinarien der Römer, welche für die Sklaven und die Soldaten einge- richtet wurden, unterschieden sich davon vielleicht nur dadurch, dass sie für bestimmte Klassen der Bevölkerung bestimmt waren. Die Spanier fanden, als sie nach der Entdeckung Amerikas nach Mexiko kamen, auch dort Spitäler, denen sie sogar grosses Lob spendeten. ^ ViECHOw hat daher Recht, wenn er sagt, „dass jede Cultur, welche die Sitten bis zu einem gewissen Maasse mildert und eine mehr ge-

* S. oben S. 14.

^ Prescott: The conquest of Mexico, London 1863, 2. Aufl., I, p. 26. 169.

Der Einfluss des Christenthums. 123

schlossene Form der Gesellschaft herstellt, endlich auch zur Gründung von Krankenanstalten führen wird."^

Das unbestreitbare Verdienst des Christenthums aber ist es, die in der Verborgenheit glühenden Funken echter Menschenliebe zur hellen Flamme der Begeisterung angefacht zu haben. Keine andere Religion, keine politische oder sociale Macht hat soviel für die Humanität ge- leistet und geschaffen, wie das Christenthum. Wo sich dasselbe ver- breitete und Anhänger gewann, wurden Werke der Barmherzigkeit geübt und der Wohlthätigkeit Tempel errichtet.

Die ausserordentlichen Erfolge, welche die christliche Religion in den ersten Jahrhunderten nach ihrer Entstehung errang, beruhten sicherlich zum grossen Theile auf den humanitären Ideen, die es ver- kündete. Allerdings hat auch das Alterthum Thaten der Menschenliebe hervorgebracht, welche die Bewunderung herausfordern; aber sie waren nur vereinzelt und erzielten keine nachhaltige Wirkung. Das Christen- thum vereinigte die humanitären Bestrebungen der Einzelnen und gab der Wohlthätigkeit einen coUectiven Ausdruck.

Das Alterthum sah in dem Sklaven ein mit der menschlichen Sprache begabtes Thier, ein zur Ausbeutung bestimmtes Besitzthum; das Christenthum konnte die Sklaverei zwar nicht abschaffen, aber es wies doch auf die auch im Sklaven vorhandene Menschenwürde hin.

Cato gab den Landwirthen den Rath, sie möchten die alten und kranken Sklaven verkaufen, wie das Rindvieh, das nicht mehr zur Arbeit tauglich ist, und das alte Eisen, ^ Viele Herren jagten ihre Sklaven, wenn sie durch Krankheit oder Alter erwerbsunfähig geworden waren, aus dem Hause, sodass der Kaiser Claudius, um diesem Unfug zu steuern, die letzteren in diesem Fall für frei erklären liess.^

Das Christenthum predigte Mitleid mit den Unterdrückten, Unter- stützung der Armen und Hilflosen und Pflege der Kranken. Viele seiner Gläubigen gaben ihre Besitzthümer den Bedürftigen oder der Kirche, damit sie davon Almosen spende. Die Kirche zu Rom ge- währte im 3. Jahrhundert 1500 Armen den täglichen Unterhalt,* und diejenige zu Antiochia ernährte deren zur Zeit des hl. Chrysostomus über 3000.5

Die Errichtung der christlichen Armen- und Krankenhäuser und anderer Wohlthätigkeitsanstalten scheint im Orient begonnen zu haben.

* ViECHOw: Über Hospitäler und Lazarethe in seinen gesammelten Abhand- lungen, Berlin 1879, II, S. 8.

* Cato: de re rust., c. 2. ^ Sueton: Claudius, c. 25.

* EusEBius: Hist. eccles. VI, 43. ^ Chrysost.: hom. 66 in Matth.

124 Der medieinische Unterricht im Mittelalter.

In Griechenland wurden die Sklaven besser und menschlicher behandelt, als in jedem anderen Lande der antiken Welt;^ hier fanden Arme und Fremde schon zu den Zeiten des Heidenthums in den Xenodochien freundliche Aufnahme und ärztliche Pflege, wenn sie erkrankten. Das Christenthum organisirte dann die Ausübung der Wohlthätigkeit und rief Anstalten ins Leben, welche in solcher Grösse und Ausdehnung vorher niemals existirt hatten.

Die vom hl. Basilius (370 79) gegründete Anstalt zu Caesarea glich einer Stadt; sie enthielt zahlreiche Wohnungen für Arme und Kranke, wurde vortrefflich geleitet und hatte besondere Ärzte und Krankenwärter in ihrem Dienst.^ Gbegob von Nazianz nennt diese Anstalt „den Schatz der Frömmigkeit, wo die Krankheit eine Schule der Weisheit wird, wo das Elend sich in Glück umgestaltet."^ Edessa erhielt i. J. 375 ein Hospital, welches mit 300 Lagerstätten versehen wurde.*

Nach diesen Vorbildern entstanden auch an anderen Orten Klein- asiens, sowie in Alexandria und Konstantinopel, ähnliche Anstalten für Leidende und Gebrechliche. In Eom wurde, wie der hl. Hieronymus erzählt, das erste christliche Krankenhaus von der Wittwe Fabiola, welche von dem alten Geschlecht der Fabier abstammte, zu Ende des 4. Jahrhunderts gegründet.® Ihrem frommen Beispiel folgten andere reiche Privatleute, und die Errichtung von Wohlthätigkeitsanstalten wurde bei den vornehmen römischen Damen Mode. Jedenfalls brachte es der Menschheit mehr Segen, wenn die hl. Paula ein Hospital er- baute, als wenn sie ihre Tochter zur beständigen Jungfrauschaft ver- urtheilte, obgleich sie dafür vom hl. Hieronymus mit dem Titel einer Schwiegermutter Gottes belohnt wurde, wie Gibbon erzählt.®

Auch an anderen Orten Italiens, sowie in Gallien und Spanien wurden Kranken- und Armenhäuser errichtet. Der Bischof Masona von Merida (573 606), ein Gothe, gründete ein Hospital, in welchem Christen wie Juden, Sklaven und Freie Aufnahme fanden, und bestimmte, dass die Hälfte aller Geschenke, welche die Kirche erhielt, dieser An-

* MoMMSEN a. a. 0. V, 250.

* Gregor von Nazianz: Orat. funebr. in Basil. u. Orat. de pauperum cura. Basilius: Epist. 94.

^ C. Schmidt: Die bürgerliche Gesellschaft in der altrömischen Welt und ihre Umgestaltung durch das Christenthum, Leipzig 1857, S. 246.

* E. Chastbl: Die christliche Barmherzigkeit in den ersten Jahrhunderten der Kirche, übers, v. Wichern, Hamburg 1854, S. 135.

^ Hieronymus: Ep. 77, Ed. Vallarsi.

* Gibbon a. a. 0. VII, cap. 37.

Der Mnfluss des ChristerUhums, 125

stalt gegeben wurde. Den Ärzten, welche dort angestellt wurden, be- fahl er, in der Stadt umher zu gehen und die Kranken einzuladen, sich, nach diesem Hause bringen zu lassen. Das Hötel-Dieu zu Lyon wurde i. J. 542 von Childebert I. gestiftet und stand unter der Auf- sicht von Laien. ^

Die Kirche erklärte die Krankenpflege für ein gottgefälliges Werk. Die Gläubigen wetteiferten daher miteinander, den Leidenden zu helfen, und scheuten dabei selbst vor den niedrigsten und unangenehmsten Verrichtungen nicht zurück. Fabiola trug die Kranken auf ihren Armen zum Lager und wusch ihnen die Wunden aus, welche Andere kaum anzuschauen vermochten. ^ Die Kaiserin Placilla Augusta ver- richtete in den Spitälern die Dienste einer Magd.^

Eine aufopferungsvolle Thätigkeit entfalteten die Christen bei den grossen Epidemien, welche in jener Zeit die Menschheit heimsuchten. Als im 3. und 4. Jahrhundert ansteckende Seuchen in Alexandria und Carthago wütheten, nahmen sie sich der Kranken ohne Unter- schied des religiösen Glaubens an, pflegten sie und bestatteten die Todten.* Viele wurden dabei selbst von der Seuche ergriffen und er- lagen ihr.

Der Heldenmuth der Liebe, welchen die Christen bei derartigen Gelegenheiten zeigten, erfüllte auch die Andersgläubigen mit streunen- der Bewunderung. Selbst Julian, der eifrigste Gegner des Christen- thums, liess ihrem wohlthätigen Wirken diese Anerkennung zu Theil werden. „Wir sehen," schrieb er, „was die Feinde der Götter stark macht, ihre Menschenliebe gegen die Fremdlinge und Armen, ihre Sorgfalt für die Todten und ihre wenn auch gemachte Heiligkeit des Lebens."^ Er fühlte sich dadurch bewogen, das Beispiel der Christen nachzuahmen, und bescbloss in allen Städten Hospitäler zu errichten.

Von den Krankheiten erregte namentlich der Aussatz, unter dessen Namen eiiae Menge von Hautleiden verschiedener Art zusammengefasst wurden, damals die öffentliche Aufmerksamkeit. Die Aussätzigen wurden wegen ihres abschreckenden Aussehens von den Leuten, sogar von ihren eigenen Verwandten und Freunden gemieden und wegen der Gefahr der Ansteckung, der man sich aussetzte, gefürchtet.

Die Christen erbarmten sich auch dieser Unglücklichen und gaben ihnen in den Hospitälern Unterkunft und Pflege. Der hl. Basiliüs

^ C. F. Heusingeb im Janus I, S. 772 u. ff.

^ HiEBONYMUS: Ep. 84.

' Theodoret: Hist. eccles. V, 19.

* Eüsebius: Hist. eccles. VII, 22. IX, 8. Sozomenos: Hist. eccles. V, 16.

* Julian: Epist 49.

126 Der medioinisehe Unterricht im Mittelalter.

„umarmte sie wie Brüder, nicht weil er mit seinem Muthe prahlen wollte, sondern um Denjenigen ein Beispiel zu geben, welchen er ihre Pflege anvertraute."^ Er räumte ihnen eine besondere Abtheilung in seiner Anstalt zu Caesarea ein.

In Konstantinopel wurde ein Spital nur für Aussätzige bestimmt, ^ und in Italien entstanden an vielen Orten die Leprosen-Häuser früher, als die Anstalten für die übrigen Kranken.^ In Frankreich gab es schon zur Zeit des hl. Geegob von Toubs (560) Aussatz-Häuser, und in einer Testaments-TJrkunde v. J. 636 werden Anstalten dieser Art in Verdun, Metz und Mastricht erwähnt* Hundert Jahre später sam- melte der hl. Othmab die Aussätzigen von den Feldern bei St. Gallen und richtete ihnen ein Spital ein.

Ausser den Armen- Imd Krankenhäusern schuf die christliche Liebe auch Anstalten, in welchen altersschwache Greise, Krüppel, Blinde, arme Wöchnerinnen, Waisen und verlassene und ausgesetzte Kinder aufge- nommen und verpflegt wurden. Das Aussetzen der Neugeborenen wurde allerdings schon unter Valentinian verboten; aber die socialen Missstände hielten diesen verbrecherischen Gebrauch aufrecht.^ Im 5. Jahrhundert kam in einigen Städten Galliens, z. B. in Arles, Trier, Macon und Bouen, die Sitte auf, die Kinder, deren man sich entledigen wollte, vor den Thüren der Kirchen niederzulegen. Die Geistlichkeit nahm sich der armen Verlassenen an und liess sie erziehen. Die ersten Findelhäuser sollen zu Trier, Angers und Mailand entstanden sein.®

Leider äusserte sich die Fürsorge, welche die Christen den Kranken und Hilfsbedürftigen widmeten, nicht immer in dieser edlen und ver- nünftigen Weise. Unverstand und Aberglaube deuteten die Worte des hl. Jacobus:^ „Ist Jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde und lasse sie über sich beten und salben mit öl im Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten", dahin, dass die Hilfe des Arztes überflüssig sei, und die Kraft des Gebetes allein genüge, um den Kranken gesund zu machen. Damit kehrte man wieder zurück auf jenen theur-

* Gbegor V. Naz.: orat. VIII a. a. O.

' Dücange: Constantinop. Christ., Paris 1680, IV, 165. ' MüRATORi: Antiq. ital. med. aevi, T. I, Dissert. 16.

* R. ViRCHOw: Zur Geschichte des Aussatzes in Vibchow's Archiv, Bd. 20, Berlin 1861, S. 169.

^ Leckt: Sittengeschichte Europas von Augustus bis zu Karl dem Grossen, Leipzig 1870, II, 20 u. ff.

9 Chastkl a. a. 0. S. 53. 138.

^ Neues Testament, Epist. Jacobi, c. 5, v. 14. 15.

Der Mnfltiss des Christenthums. 127

gischen Standpunkt, von dem aus die Krankheiten als Strafen Gottes erscheinen, die nur durch Bussübungen und Grebete beseitigt werden können.

Wie einst zu den Aeskulap-Tempeln, so kamen jetzt die Leidenden in die christlichen Kirchen, um von den Priestern Rath und Hilfe zu erbitten. Glückliche Erfolge, deren Ursache man der Fürbitte eines Heiligen zuschrieb, hatten einen vermehrten Zulauf von Kranken zur Folge. So entwickelte sich namentlich in Kirchen, in denen die Ge- beine, der Heiligen ruhten, ein Cultus, welcher sich von dem Aeskulap- Dienst fast gar nicht unterschied.^

Die Kranken brachten dort die Nächte mit Fasten und Beten zu in der Hofihung, dass ihnen der Heilige im Traume oder während des Wachens erscheinen und die Heilmittel angeben werde, welche ihre Genesung herbeizufuhren geeignet waren, und die Priester erklärten die Hallucinationen und Traumbilder der Patienten, schrieben die Erzäh- lungen der glücklichen Kuren, welche stattfanden, nieder und sorgten dafür, dass die Erinnerung daran durch bildliche Darstellungen der ge- heilten Körpertheile, welche in den Kirchen niedergelegt wurden, bei den Gläubigen fortdauerte.

Die Verehrung, welche den Märtyrern, die für ihren Glauben den Tod erlitten hatten, gezollt wurde, fahrte schon sehr früh dazu, dass ihren Reliquien eine grosse Heilkraft zugeschrieben wurde. Die Kranken hofften Erlösung von ihren Leiden zu finden, wenn sie den Leichnam de^Fselben oder Gegenstände, welche von ihnen herrührten, anschauen oder berühren, ihr Grab besuchen, oder den Staub, der dasselbe be- deckte, geniessen durften. Amulette und Wunder spielten in der Heil- kunde der Christen fortan eine hervorragende Rolle.

Die mystischen Schwärmereien der Neuplatoniker und Neupythago- räer, welche einst als Waffen im Kampfe gegen die christliche Kirche verwendet worden waren, fanden nun Eingang in deren Hallen. Unter ihrem Schutz konnten sich Betrug und Aberglaube auf einem Gebiet geltend machen, wo von der Wahrheit nicht blos der Fortschritt der Wissenschaft, sondern auch die Gesundheit, oft sogar das Leben der Menschen abhängt.

Die medicinische Literatur jener Periode trug den Charakter der UnSelbstständigkeit. Arm an originellen Ideen, unfähig zu eigenen Forschungen, begnügte man sich damit. Das, was die vorangegangenen Zeiten geschaffen hatten, zu sammeln und zu gedrängten Auszügen zu verarbeiten.

^ Alb. Mabionan: La m^decine dans l'eglise aa sixi^me si^cle, Paris 1887.

128 Der medicinisehe ünterrioht im Mittelalter,

Die praktischen Ärzte verlangten Eeceptbücher, welche dem täg- lichen Bedürfniss entsprachen. Dieser Art waren die Schriften des Qttintüs Seeenus Samonicüs, Sextüs Placitüs Papybensis, Vindi- ciANUs, Mabcellus Empibicüs, Lucius Apulejus, Cassius Felix, Theodoeus PmsciANus u. A., die lateinischen Übersetzungen einzelner Werke der Hippokratiker, des Dioskoeides, Galen und Sobanus, und die Compilationen aus Plinius, Caelius Aubelianus u. A. Sie zeigen in ihrer Sprache, wie in ihrem Inhalt den raschen Verfall des wissen- schaftlichen Geistes, welcher diese Periode kennzeichnet.

WerthvoUer und gehaltreicher waren die literarischen Leistungen der Griechen auf diesem Gebiet; doch konnte man auch hier erkennen, dass die schöpferische Kraft des Alterthums geschwunden war. Auch für die Griechen galt das Urtheil, welches der Philosoph Longinus im 3. Jahrhundert über seine Zeitgenossen fällte: „Gleich wie Kinder, deren zarte Glieder zu sehr eingeengt worden sind, Zwerge bleiben, so ist unser zärtlicher, durch Vorurtheile und die Gewohnheiten einer verdienten Sklaverei gefesselter Geist unfähig, sich auszudehnen und jene Grösse zu erreichen, die wir an den Alten bewundern."^

Im 4. Jahrhundert legte Oeibasiüs auf Wunsch und Befehl des Kaisers Julian, dessen Leibarzt und Freund er war, eine Sammlung von Excerpten aus den wichtigsten Schriften der bedeutendsten medi- cinischen Autoren des Alterthums an, ^ welche er mit manchen interes- santen Zusätzen bereicherte. Nach dem gleichen Plane stellte Aetius im 6. Jahrhundert eine Menge von Abhandlungen über die einzelnen Theile der Heilkunde zusammen. Da viele derselben von Ärzten her- rühren, deren Werke verloren gegangen sind, und darin manche That- sache berichtet wird,, welche man sonst nirgends erwähnt findet, so bildet diese Sammlung eine unschätzbare Quelle nicht blos für die Geschichte der Medicin, sondern auch für diejenige der Philosophie und anderer Wissenschaften. Leider wird die Benutzung derselben sehr erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht durch den Umstand, dass der griechische Text des Werkes bisher noch niemals vollständig gedruckt worden ist.

Um dieselbe Zeit wie Aetius, lebte auch Alexandee Teallianüs, welchen Fbkind dem Hippokbates und Aeetaeus an die Seite stellte. Seit langer Zeit der erste Arzt, der originell im Denken und Handeln war, rief er die Erinnerung an die grosse Vergangenheit der griechischen

^ Longinus: De sublim., c. 44 nach Gibbon.

' Sie wurde von Ch. Dabembebg mit Unterstützung der französ. Regierung herausgegeben. (Paris 1851—76.)

Der Mnfluss des Ghristentkums. 129

Medicin wieder wach. Sein Lehrbuch der speciellen Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten, welches von mir herausgegeben worden ist,^ enthält eine Fülle von ärztlichen Beobachtungen und Er- fohrungen, die er in seiner langjährigen Praxis gemacht hat, und lässt in dem Autor einen Mann erkennen, der ein richtiges Urtheil mit reichem Wissen verband.

Dem 7. Jahrhundert gehört das von Paulus aus Aegina mit grosser Selbstständigkeit verfasste Compendium der gesanunten Heil- kunde an, welches namentlich in seinen chirurgischen Abschnitten von hohem Werth ist, weil darin die operativen Leistungen der Chirurgen jener Zeit ausführlich geschildert werden.^

Die medicinischen Schriften der Byzantiner trugen fast ohne Aus- nahme den Stempel der Oberflächlichkeit und bestanden, wie die Werke des Meletius, Theophanes Nonnus, Simon Seth, Niketas, Deme- TBius Pepagomenüs, Nioolaus Mybepsüs u. A. zum grossen Theile in kritiklosen Compilationen und Receptsammlungen. Daneben ent- wickelte sich eine encyklopädische Richtung, welche in Photius, Michael PsELLus u. A. ihre Vertreter fand und auch in den Origines des Bi- schofs IsiDOR von Sevilla und den Elementa philosophiae des Mönchs Beba zum Ausdruck kam.

Die Encyklopädisten durcheilten im Fluge alle Wissenschaften, sprachen von Gott und der Welt, von Himmel und Erde, begannen mit der Theologie und schlössen mit der Kochkunst. Auch die Medicin zogen sie in den Kreis ihrer Betrachtung; doch lieferten sie selten mehr als ein Verzeichniss von Namen für Dinge, die sie selbst nur sehr wenig kannten.

Einen würdigen Abschluss erhielt die Medicin der Byzantiner durch Johannes Aotüabius, dessen Schriften über den Harn und über die Physiologie und Pathologie der Seele sich nach Inhalt und Form den besten literarischen Leistungen der Griechen anschlössen. * „Dem letzten Aufßackem einer ersterbenden Lichtflamme gleich", wie Haeseb sagt, erschien er, kurz bevor die Türken den ruhmreichen Namen der Griechen für Jahrhunderte auslöschten aus der Geschichte der Völker.

Wenn man die geistige Thätigkeit jener Periode überblickt, so darf

* Th. Püschmann: Alexander von TraUes, Originaltext und Übersetzung, Wien 1878/79, 2 Bde. Auf S. 108—286 der Einleitung dazu findet man eine Darstellung der wissenschaftlichen Leistungen und Verdienste des Alexander Trallianus.

* F. Adams: The seven books of Paulus Aegineta, London 1844 47.

^ J. L. Ideler: Physici et medici Graeci minores, Berlin 1841/42, I, p. 312—386. II, 1—193. 353—463.

PuscHMAVN, Uoterricht. 9

130 Der medusvrmeke Unterricht m Mütdalter.

man sich nicht über die Armüth an origineller Produktion verwanden). Dagegen mass man mit Eecht erstaunen^ dass trotz des schweren Druckes, der auf den Gemüthem der Menschen lastete, trotz der ent- setzlichen Zerrüttung aller Verhältnisse überhaupt noch Muth und Kraft zum selbststandigen geistigen Schaffen vorhanden war.

Wie Wüstenpflanzen, welche der Dürre des Lebens trotzen, mussten sich die wissensöhaftlichen Leistungen dieser Zeit ihr Dasein mit schweren Mühen erkämpfen. Man darf von ihnen nicht verlangen, dass sie die starre Ode in üppige Fruchtbarkeit verwandeln, sondern muss ihnen dankbar sein, wenn sie das Auge des ermüdeten Wanderers durch ein grünes Blatt der Hoffnung erfreuen.

ie arabische Cultur.

Als die an ein unstates Wanderleben, an beständige Kriegs- und Beutezüge gewöhnten semitischen Horden der arabischen Halbinsel aus- zogen, um die Welt zu erobern, lagen ihnen die Interessen für Kunst und Wissenschaft fern. Sie wussten davon nur, was sie eine flüchtige Berührung mit den benachbarten Völkern gelehrt hatte.

Die arabische Literatur bestand aus wenig mehr als aus einigen Heldengedichten, in denen „die Liebe zur Heimath, die Begierde nach Ruhm, die Tapferkeit, und unversöhnliche Eachelust, gemildert durch Liebestrauer, Wohlthätigkeit und Aufopferung", wie Goethe^ schreibt, besungen wurden. Der Koran, „dessen zerstreute, auf Palmblätter, Lederstücke, flache Knochen und anderes rohes Schreibmaterial gekritzelte oder gar nur dem Gedächtniss der Gläubigen anvertraute Suren erst Abu Bekr sammeln und Othman in die noch bestehende Ordnung bringen liess",^ legte eigentlich erst den Grund zu einer arabischen Schriftsprache. Da der Koran das religiöse und bürgerliche Gesetzbuch der Anhänger des Islams war, so wurde er überall, wo die Lehre Mo- hammeds Gläubige fand, gelesen und verbreitet Mit ihm zog auch die arabische Sprache von Land zu Land; ihm verdankte sie es, dass sie zur Sprache des religiösen Cultus des Islams und dadurch zum einigenden Bande für alle Völker, welche dem gleichen Glauben hul- digten, gemacht wurde.

^ Goethe: Noten und Abhandlungen zum west-östlichen Diyan. « E. Meyer a. a. 0. III, S. 90.

Die arabische OuUur. 131

Dieser Umstand sowohl als die Pflege und Ausbildung, welche sie in Folge dessen erfuhr, erklären es, dass sie die Sprache der Gebildeten, der Gelehrten wurde. Sie gewann für die mohammedanische Welt dieselbe Bedeutung, welche die lateinische Sprache für das christliche Mittelalter hatte.

Allmälig wuchs aus ihr eine reiche Literatur, eine blühende Cultur hervor, deren Gebiet wie ein breiter Gürtel fast die Hälfbe der damals bekannten Erde umfasste. Indier im Osten, Gothen in Spanien, Ar- menier und Tartaren am kaspischen und Äthiopier am Ausgange des rothen Meeres, nahmen mit der Religion auch die Sprache der Araber an. Allerdings behielten diese yerschiedenen Nationen für den volks- thümlichen Verkehr ihre eigene Sprache bei, und ausnahmsweise lie- ferte auch diese einmal ein literarisches Produkt, d&s sich indessen nur durch die Form der Buchstaben von der arabischen Literatur unter- schied, in seinem Inhalt aber den gleichen Geist, die gleiche Denkweise athmete.

Das arabische Volk hat zu Dem? was wir die arabische Cultur nennen, vielleicht nur wenig beigetragen. Die Wurzeln derselben sind bei den Persem, den Griechen Kleinasiens und Alexandrias und in Indien zu suchen; an ihrer Entwickelung betheiligten sich fast alle den Arabern unterworfenen Völker von den Säulen des Herkules im Westen, bis zu dem Meere der Finstemiss im fernen Osten, wie die Araber den indischen Ocean nannten.

Während der ersten Decennien ihres weltgeschichtlichen Auftretens waren sie mit Thronstreitigkeiten und Eroberungskriegen so sehr be- schäftigt, dass sie für die Künste des Friedens nur wenig Müsse fanden. Es waren „die Tage der Unwissenheit". Bekannt ist die von Abulfarag^ berichtete Anekdote, dass Omar, als er nach der Einnahme Alexandrias gefragt wurde, was mit den vielen Büchern geschehen solle, die sich dort befanden, geantwortet habe: „Entweder enthalten diese Schriften Das, was im Koran steht, und dann sind sie überflüssig; oder sie ent- halten andere Dinge, dann sind sie schädlich. In beiden Fällen müssen sie vertilgt werden." Mögen dieser Erzählung auch keine Thatsachen zu Grunde liegen, mögen die berühmten Bibliotheken der Ptolemäer schon früher, wie es historisch feststeht, grösstentheils dem Feuer und der Zerstörungswuth eines fanatisirten Christenpöbels zum Opfer ge- fallen sein, immerhin kennzeichnet sich darin der Geist, welcher die ersten arabischen Eroberer beseelte.

^ Abülfaragiüs: Hist. dynast. ed. Pococke, Oxon. 1672, p. 114. y. Hajimeb- Pxjrgstall: Literatargeschichte der Araber, Wien 1850, Bd. I, Einl. S, XXXVIII.

9*

132 Der medidniseke Unterricht im Mittelalter.

Erst als die politische Herrschaft der Araber gesichert war, erst unter der Dynastie der Ommajaden, zeigten sich höhere geistige Be- strebungen. Der Khalif Muawija, welcher seine Residenz in Damaskus aufschlug, gründete dort Schulen, Bibliotheken und Sternwarten. Er liess ausländische Gelehrte, namentlich Griechen, an seinen Hof kommen und übertrug ihnen die Ausführung wichtiger Arbeiten; sogar die Moscheen wurden unter der Leitung griechischer Architekten unti Künstler erbaut.

Die griechische Geistesbildung gelangte theils von Alexandria aus, theils durch die Vermittelung der Syrer und über Persien zu den Arabern. Auch die Medicin wählte diese Wege.

In Alexandria bestanden im 7. Jahrhundert mehrere ärztliche Schulen, in welchen der Unterricht nach Galen's Werken ertheilt wurde. ^ Unter den dortigen Lehrern der Heilkunde befand sich Al- KiNANi, ein christlicher Arzt arabischer Abstanmiung, welcher sich^ später zum Islam bekehrte. Er scheint wesentlich dazu beigetragen zu haben, dass die medicinischen Studien und der ärztliche Unterricht von Alexandria nach Antiochien und Harran verpflanzt wurden.^ Um dieselbe Zeit lebte der Grieche Theodocus, der als Leibarzt des Hed- schadsch, des blutgierigen Statthalters von Irak, eine einflussreiche Stel- lung einnahm, als medicinischer Schriftsteller durch seine vortrefflichen diätetischen Vorschriften Beifall erntete und als Lehrer der Heilkunde mehrere Schüler, wie z. B. den Pobat Ben Schannatha, einen Israe- liten, zu berühmten Ärzten heranbildete.^ Der Prinz Chalid Ben Jazid, welcher von Maeianus, einem christlichen Mönch, der vorher wahr- scheinlich als Lehrer an der medicinischen Schule zu Alexandria ge- wirkt hatte, in der Heilkunde unterrichtet wurde, liess sich vom älteren Stephanus, einem Griechen aus Alexandria, medicinische, alchymistische und astronomische Werke aus dem Griechischen ins Arabische über- setzen. Dies waren, wie der Verfasser des Pihrist sagt, die ersten Übersetzungen aus einer fremden Sprache, welche unter der Herrschaft des Islams angefertigt wurden.

In Kleinasien, wo der Hellenismus schon seit der Zeit des grossen Alexander von Macedonien einen massgebenden Einfluss besass, den er auch unter den politischen WechselföUen der römischen Periode zu behaupten wusste, hatte die griechische Literatur viele Freunde und Verehrer gefunden. Gelehrte Nestorianer, welche an der Schule zu

* L. Leclebc: Histoire de la m^decine Arabe, Paris 1876, I, p. 38 u. ff.

* V. Hammkr-Purgstall a. a. O. Bd. II, S. 194. Fbeind: Hist. medicinae, Venet. 1735, p. 89.

' Leclebc a. a. 0. I, p. 82.

Die arabische Oukur. 183

Bdessa die Lehrthätigkeit ausübten, übersetzten die Schriften des Akt- 8T0TBLB8 aas dem Griechisehen ins Syrische. 1 Schon früher hatte man syrische Übersetzungen des neuen Testaments und anderer theologischer Werke angefertigt Die Nestorianer setzten diese verdienstvolle Thätig- keit auch iort, als sie in Fersien XJnterriohtsanstalten gründeten und an der Schule zu Gondisapur eine erfolgreiche Wirksamkeit entfalteten. Übrigens waren sie nicht die Einzigen, welche derartige Arbeiten unter- nahmen.

Auch die Mitglieder anderer Beligionsgenossenschaften und Sekten erwarben sich auf diesem Gebiet Verdienste. Mehrere Jakobiten machten sich ebenfalls als Übersetzer bekannt,' unter ihnen namentlich Sebg-iüs, welcher am Hofe Kesra Nuschirwans lebte. Er war der Freund des griechischen Geschichtsschreibers Aoathias, mit der griechischen Sprache ebenso vertraut als mit der syrischen, durch Gelehrsamkeit ausgezeichnet und der beste Übersetzer seiner Zeit' Von ihm wurden mehrere me- dicinische Werke, denen er, da er Arzt war, sein besonderes Interesse widmete, aus dem Griechischen ins Syrische übertragen, z. B. einzelne Schriften des Hippokbates; femer schrieb er Erklärungen zu Abi- sTOTEiiEs und ergänzte das medicinische Gompendium des Alexaiidrini- schen Arztes Ahbon.*

Die zahlreichen jüdischen Gelehrten, welche sich in Syrien und Persien niedergelassen hatten, vermittelten nicht blos die Bekanntschaft mit der hebräischen Gultur, sondern dürften auch zur Verbreitung der griechischen Literatur, besonders auf dem Gebiet der Medicin, beige- tragen haben. Das Unterrichtswesen der Juden war vortrefflich orga- nisirt, und ihre Hochschulen zu Tiberias in Palästina, zu Sepphoris und Nisibis in Syrien und zu Sura und Pumbeditha in Persien erlangten grossen Buf.*

Durch die Übertragung griechischer Werke in die syrische, he- bräische oder persische Sprache wurde den Arabern das Studium der- selben näher gerückt Die verwandtschaftlichen Beziehungen dieser Sprachen zur eigenen erleichterten ihnen die Übersetzung der Schriften ins Arabische.

Unter den Abbasiden wurde diese Thätigkeit in systematischer Weise betrieben und geleitet Schon AI Mansur, der zweite Ehalif aus

^ J. G. Wenkioh: De auctorom Graecorum versionibus et commentariis Syriacis Arabicis Armeniacis Persicisque commentatio, Lips. 1842, p. 8. ' Wenrich a. a. 0. p. 11.

AoATHUs: Histor. IV, c. 30. Asavtujui a. a. 0. T. II, p. 315. 323. Abulfabag a. a. 0. p. 94. 172.

* Wenrich a. a. 0. Index XXXV. * Crameb a. a. 0. I, S. 109 u. ff.

134 Der medidnische Unterricht im MittdaUer.

diesem Herrschergeschlecht, der Gründer der neuen Hauptstadt Bagdad, beauftragte, wie Ibn Abu Oseibia berichtet, seinen Leibarzt Gboeg Bachtisohua damit, medicinische Werke der Griechen ins Arabische zu übersetzen. ^ Nach Hadji Khalfa's Angabe soll er Gesandte nach Konstantinopel geschickt haben, um von dort die Schriften Euklids und naturwissenschaftliche Werke zu holen.

Einer seiner Nachfolger, der von der Sage gefeierte Harun al Raschid, der Zeitgenosse des fränkischen Kaisers Karl des Grossen, mit dem er auch im Verkehr stand, stellte nach der Niederlage des byzan- tinischen Kaisers Nicephorus die Priedensbedingung, dass ihm Hand- schriften griechischer Meisterwerke ausgeliefert würden. Auch die Schätze dieser Art, welche ihm in Ankyra und anderen griechischen Städten, sowie auf der Insel Cypem in die Hände fielen, waren ihm eine willkommene Kriegsbeute. Er befahl, dass dieselben in die arabische Sprache übertragen würden. Dabei stand ihm einer seiner Ärzte, Johannes Mbsue (Maseweih), ein syrischer Christ, welcher unter AI Mamun eine hervorragende Stellung erlangte, mit Rath und That zur Seite.

Dieser Fürst errichtete ein Übersetzungs-Institut, in welchem Werke aus fremden Sprachen ins Arabische übertragen wurden. „Zu diesem Zweck versammelte er", wie Leo Afbicanus schreibt,* „eine grosse Menge Gelehrter, welche verschiedene Sprachen kannten, und erkundigte sich nach den Schriftstellern und Schriften in griechischer, persischer, chaldäischer und ägyptischer Sprache, deren ihm viele genannt wurden. Darauf sandte er viele seiner Diener, nach Syrien, Armenien und Ägypten, um die bezeichneten Bücher zu kaufen, und sie brachten un- endliche Lasten derselben zusammen. Nun liess AI Mamun die nütz- lichen Bücher, welche die Medicin, Physik, Astronomie, Musik, Kosmo- graphie und Chronologie betrafen, aussondern, und machte zum Vorsteher der Übersetzer aus dem Griechischen Johannes, Sohn des Mesub, weil damals die griechischen Studien unter den Christen blühten. Viele Andere wurden demselben untergeordnet. Für die persische Literatur bestellte er den Mahan und den so eben genannten Mesue. Diese und viele andere Gelehrte übersetzten die Medicin des Galen und darauf sämmtiiche Werke des Abistoteles."

Von den byzantinischen Kaisem erbat sich AI Mamun eine Anzahl griechischer Handschriften, wobei ihm der gelehrte Photius, welcher

* Wenrich a. a. 0. p. 13. Leolerg a. a. 0. I, p. 124 u. fF.

* Leo Africanus in Fabricius Bibl. Graeca, Hamburg 1726, XIII, p. 261. Meyer a. a. 0. III, 115.

Die arabische OuUur. 1S5

eine Zeitlang am Hofe zu Bagdad lebte, als Vermittler diente. Auoh indische Werke, wie die Schrift Chanaks über die Gifte und der Ayur- veda des SusBüTA und des Ghakaka, wurden übersetzt und zwar, wie es scheint, zunächst ins Persische und dann ins Arabische. Die in- dischen Ärzte Mankah, Saleh Ben Baleh u. A., welche sich in Bagdad niedergelassen hatten, leisteten dabei wesentliche Dienste.^ Ebenso fanden auch einzelne Produkte der chaldäischen Literatur den Weg zu den Arabern.

Diese Übersetzungs-Anstalt blieb auch unter den Nachfolgern AI Mamuns bestehen; unter den G-elehrten, welche an derselben ange- stellt waren, hat sich namentlich Honeüt (Johannttius), welcher die wichtigsten medicinischen Autoren der Griechen übersetzte, bekannt gemacht.

Auf diesen Grundlagen entwickelte sich allmäUg eine selbststandige medicinische Literatur. Die Anfange derselben reichen bis in das 9. Jahrhundert zurück; ihre Blüthe erlebte sie aber erst im 11. Jahr- hundert.

Der Aufechwung der arabischen Oultur wurde ausserordentlich begünstigt durch den Zer&U des Reiches in mehrere unabhängige Staaten. Die Fürstensitze der Samaniden in Bochara, und der Ghas- nawiden in Ghasna, der Buiden in Persien, der Hamadaniden in Meso- potamien und Syrien, der Edrisiden in Magreb, der Aglabiten in Quai- ruan und der Fathimiden in Ägypten bildeten oft Erystaliisationspunkte für künstlerische und wissenschaftliche Bestrebungen. Den wirksamsten Schutz aber fanden dieselben bei den Ommajaden in Spanien, welche dort nach ihrer Vertreibung aus der Heimath um die Mitte des 8. Jahr- hunderts zur Herrschaft gelangten.

Abderrahman, der erste Fürst dieses Hauses, vergrösserte seine Residenz Cordova und verschonte sie durch Bauwerke, deren Reste noch jetzt die Bewunderung hervorrufen. Er pflanzte dort die erste Palme: ein Ereigniss, welches er durch eine Elegie verherrlicht hat, in der er der Sehnsucht nach dem fernen Bagdad ergreifenden Ausdruck gab. ^

Die glänzende Periode der arabischen Herrschaft in Spanien be- gann mit Abderrahman III. Er liess grossartige Bauten aufführen, Wasserleitungen und Landstrassen anlegen und Gelehrte aus dem Morgen- lande nach Spanien konunen. Die Gelehrten standen an seinem Hofe

^ Zu Mohammeds Zeit bestand in Sanaa im südlichen Arabien eine be- rühmte medicinische Schule, deren Vorstand, HArtt Bek Kaldar, in Indien seine Kenntnisse gesammelt hatte, wie Lasskh (Indische Alterth. 11, 519) erz&hlt.

* y. Hammeb-Puhgstall a. a. 0. UI, 31. Meter a. a. 0. III, 126.

136 Der medvnnisehe Unterricht im MütdaUer.

in grosser Achtung und Melten, nach Fachwissenschaften gesondert^ Berathungen.

Noch grössere Aufmerksamkeit widmete sein Nachfolger Hakim IL denT wissenschaftlichen Bestrebungen. Er war selbst ein Gelehrter und nahm persönlich Antheil an den schwebenden Streitfragen. Überall liess er seltene Bücher aufkaufen, die er durchstudierte und mit An- merkungen versah. Seine Bibliothek soll 600,000 Bände enthalten, der Katalog derselben allein 44 Bände gefüllt haben. Er gründete in Gordova eine Art yon Akademie, deren Mitglieder mit Specialforschungen über die Geschichte des Landes, über Literaturgeschichte und Natur- wissenschaften beauftragt wurden. ^

Wenn die Wissenschaften unter solchen Verhältnissen gediehen, so verdankten sie dies zum grossen Theile allerdings der wohlwollenden Förderung, die ihnen von den regierenden Herren zu Theil wurde; aber die Erinnerungen, welche die römische Gultur in Spanien zurück- gelassen hatte, die Pflege der letzteren durch die westgothischen Er- oberer, die Niederlassung strebsamer und unternehmungslustiger Juden, welche überall Schulen errichteten und Bildung verbreiteten, und die glückUche Verschmelzung des semitischen Charakters mit den romar nischen und germanischen Elementen übten ebenfalls beachtenswerthen Einfluss darauf aus.

So kam es, dass sich zu einer Zeit, in welcher das übrige Europa in Unwissenheit, Aberglauben und Sittenrohheit versunken war, auf der spanischen Halbinsel ein reiches, auf allen Gebieten intellektueller Thätigkeit fruchtbares Geistesleben entfaltete. Im 12. Jahrhundert besass Spanien 70 öffentliche Bibliotheken und 17 höhere Lehranstalten. 150 Schriftsteller nannten Cordova, 52 Almeria, 61 Murcia und 53 Ma- laga ihre Heimath. ^

Die Leistungen der Araber in der Mathematik, ^ Physik, * besonders in der Mechanik und Optik, ferner in der Chemie,^ Astronomie^ und Geographie^ sind bekannt. Sie waren es, welche die Messungen und das Experiment in die Naturforschung einführten. Alhazbns vortreff-

^ Vergl. R. Dozy: Geschichte der Mauren in Spanien, deutsche Übers., Leipzig 1874, H, S. 68 u. flF.

* Mich. Casibi: Bibl. Arab. Hisp. Escur., Madrid 1760, T. U, p. 71.

' M. Cantob: Geschichte der Mathematik, Leipzig 1880, I, S. 593 u. ff.

* J. C. Poggendorff: Geschichte der Physik, Leipzig 1879, S. 56 u. ff.

* H. Kopp: Geschichte der Chemie, Braunschweig 1843, I, ö. 51 u. ff.

6 j^ Whewell: Geschichte der inductiven Wissenschaften, übersetzt von LiTTROw, Stuttgart 1840, Bd. I, S. 184 u. ff:

' 0. Peschel: Geschichte der Erdkunde, München 1877, S. 104 u. ff.

Mediein, Wissenschaß u, medidn. Unterridä hei den Arabern, 137

liclie Arbeiten über die Strablenbreohong bereiteten das Yerstandniss der Physiologie des Sehens vor, und Gebee wurde der Begründer der wissenschaftlichen Chemie.^

Medicinische Wissenschaft und medicinischer Unterricht bei den Arabern.

Die Medicin erfreute sich schon in- der frühesten Periode des Is- lams, wie Abulfabag sagt,* einer eifrigen Pflege. Gleichwohl haben die Araber auf diesem Gebiet nur geringe Fortschritte und keine Ent- deckungen von bahnbrechender Bedeutung gemacht. Es lag dies haupt- sächlich an der unselbststandigen Entwickelung, welche die Heilkunde gleich anderen Wissenschaften bei ihnen nahm.

Daraus entsprang auch jener unbegrenzte Autoritätsglaube, der sie abhielt, die Bichtigkeit der übernommenen Wissensresultate zu prüfen, und ihnen den Mujbh raubte zu selbstständigen Forschungen. Dazu kamen sociale und religiöse Yorurtheile, die jeden Versuch, der in dieser Richtung unternommen wurde, im Keime erstickten.

Die Anatomie und Physiologie blieb daher im Wesentlichen auf dem GALEN'schen Standpunkt Da die Sektionen menschlicher Leichen durch den religiösen Grlauben der Mohammedaner verboten wurden, so war an eine Yermehrung der anatomischen Kenntnisse nicht zu denken. Zufallige Beobachtungen, wie sie Abdel-Lbtif bei Gelegenheit einer Epidemie in Ägypten machte, wo es ihm gelang, durch die Unter- suchung der Schädel der Gestorbenen mehrere Irrthümer Galbn's in der Osteologie zu berichtigen,^ bildeten eine Ausnahme. Im ADge- meinen beschränkte sich die anatomische Literatur auf Auszüge und kurze Compendien, die sich auf die Schriften Galen's stützten.

Ebenso sklavisch folgte man den physiologischen Theorien desselben. Selbst die vielversprechenden Ergebnisse, welche die Physik und Chemie auf dem Wege des Experiments erzielten, änderten daran nur wenig. Man war nicht im Stande, dieselben vollständig für die Physiologie des Menschen zu verwerthen, und gelangte nicht dahin, auch hier diese Methode der Forschung anzuwenden.

^ H. Kopp: Beiträge zur Geschichte der Chemie, Braunsehweig 1S75, 111, S. 13 u. ff.

' Abulfarao a. a. 0. p. 160. YeigL auch A. Sprenger: De origio. med. arab., Lugd.-Batav. 1S40, p. 6.

^ Abdollatiphu Hist. Aegypt. ed. White, Oxon. 1800, p. 277.

138 Der medidnische UrUerrioht im Mittekdter.

Grössere Selbstständigkeit bekundeten die Araber in der praktischen Heilkunde. Ihre zahlreichen Schriften über diesen Gegenstand sind allerdings ebenfalls abhängig von den Werken der Alten und bestehen grösstentheils aus Auszügen, Umarbeitungen oder Übersetzungen der- selben; aber hier und dort findet sich doch auch eine eigene Beob- achtung, eine selbstständige Erfahrung, welche zeigt, dass der Verfasser das wissenschaftliche Material beherrschte und zu vermehren im Stande war. Die wissenschaftlichen Leistungen eines Bhazes, Ali Abbas, Abülkasem, Avicenna, Avenzoab, Avbbboes, Maimonides, Ibn El- Beithar, Oseibia u. A.^ nehmen einen ehrenvollen Platz ein in der Geschichte der medicinischen Wissenschaft und verdienen umsomehr Anerkennung, als sie in eine Zeit fielen, in welcher die Entwickelung derselben nirgends Portschritte machte.

Die arabischen Ärzte widmeten der Untersuchung des kranken Körpers grosse Sorgfalt. Sie zogen dabei zwar sämmtliche Krankheits- erscheinungen in Betracht; aber den meisten Werth legten sie auf die Porm des Pulses und die Eigenschaften des Harns. In der Prognostik erlangten sie eine bemerkenswerthe Geschicklichkeit. Der Diätetik zollten sie gebührende Anerkennung* und den Arzneischatz vermehrten sie durch eine grosse Anzahl von Heilmitteln.

Sie waren eifrig bemüht, die Ursachen der Erkrankung^ zu er- forschen, und erzielten auch darin einige Erfolge. Avenzoab deutete bereits auf die Krätzmilbe hin und hob deren Beziehungen zur Ent- stehung der Scabies hervor.® Abülkasem hinterliess eine vortreffliche Beschreibung des Medina-Wurms und der dadurch hervorgerufenen Krankheitszustände. *

Die specielle Pathologie verdankte den arabischen Ärzten manche Förderung; sie gaben über die Ursachen und den Charakter einzelner Krankheiten, z. B. der schweren Pestepidemien, der Pocken, Morbillen und anderer exanthematischer Leiden,*^ der Schwindsucht,® des Gesichts- schmerzes ^ u. a. m. werthvoUe Aufschlüsse.

* P. WOstbnpeld: G^sch. der Arab. Arzte u. Naturforscher, GöttiDgen 1840.

* Vergl. El-Antem's treffliche Verse bei v. Hammee-Pubgstall a. a. O. Bd. Vn, S. 499.

^ Easpail: Memoire sur Fhistoire naturelle de Tinsecte de la gale im Bull, gen. de therap., Paris 1834, T. VII, p. 169. F. Hebra (Acute Exantheme u. Hautkrankheiten in VraoHow's Handbuch, Bd. III, S. 413, Erlangen 1860) glaubte nicht, dass Avenzoab die Krätzmilbe kannte.

* Abülkasem: Chirurgie II, 93, Edit. Leclerc, Paris 1861, p. 230. ^ Rhazes: De variolis et morbillis, Edit. Channing, London 1766. ^ Waldenbürg: Die Tuberkulose, Berlin 1869, S. 25.

' Avicenna: Canon IIT, fen. 1, tract. 1, c. 12.

Medidn, Wissenschaft u, medidn, Unterricht bei den Arabern, 1S9

Dagegen machte die operative Chirui^e bei den Arabern oflFenbare- Rückschritte. Die Vernachlässigung der Anatomie und die den Orien- talen eigenthümliche Scheu vor blutigen Eingriffen in den menschlichen Organismus trugen die Schuld daran. An die Stelle des Messers traten die Ätzmittel und das Glüheisen. Wo die Chirurgen früher schnitten, waren sie jetzt genöthigt zu ätzen und zu brennen. Schon Abulkasem beklagte den Verfall der Chirurgie. „Die Operationskunst," schreibt er, „ist bei uns verschwunden, fast ohne irgend welche Spuren zu hinter- lassen. Nur in den Schriften der Alten findet man noch einige Hin- weise darauf; aber auch sie sind durch schlechte Übersetzungen, durch Irrthümer und Verwechselungen nahezu unverständlich und unbrauch- bar geworden."^

Bei dieser Gelegenheit berichtet er mehrere Erlebnisse aus der Praxis, welche ein grelles Licht auf die Unwissenheit seiner chirurgischen CoUegen werfen. Die Cauterien bildeten das gebräuchlichste und wich- tigste Handwerkszeug des Wundarztes. Das Glüheisen wurde neben der Compression, der Kälte und der Ligatur zur Stillung der Blutungen empfohlen;* es wurde bei einer Menge von Leiden angewendet, z. B. bei Lähmungen,* bei Wunden und Fisteln,* bei Gangraen,* beim Krebs und anderen Neubildungen, * bei der Lepra, ^ zur Eröffnung der Leber- Abcesse,® bei der cariösen Hüftgelenkentzündung und der Spondylar- throcace der Kinder* u. a. m.

Die chirurgische Pyrotechnik wurde von den arabischen Ärzten zu einer hohen Stufe der Entwickelung geführt. Ein grosser Theil der 151 chirurgischen Instrumente, deren Abbildungen den Handschriften des Abulkasem beigegeben sind, diente diesem Zweck.

Die chirurgische Operationskunst trat der Pyrotechnik gegenüber in den Hintergrund und vermochte nicht jenen Grad der Vollendung, den sie unter den Wundärzten der römischen Kaiserzeit erreicht hatte, zu behaupten. Die Amputation wagte man nur am Vorderarm oder am Unterschenkel und höchstens in dem zunächst gelegenen Ellen- bogen- oder Knie-Gelenk, niemals aber am Oberarm und am Ober- schenkel auszuführen. ^^ Die Haut wurde dabei oberhalb und unterhalb der Stelle, an welcher eingeschnitten werden sollte, durch Binden fixirt

^ Abulkasem: Introd. a. a. 0. p. 1. * Abulkasem I, 56 a. a. 0. p. 56.

* Abulkasem a. a. 0. I, 6, 9, p. 17. 19.

* Abulkasem a. a. 0. I, 17, 19, 36, p. 25. 27. 38.

* Abulkasem a. a. 0. I, 52, p. 54.

* Abulkasem a. a. 0. I, 50, 53, p. 53. 54.

^ Abulkasem a. a. 0. I, 47, p. 50. ® Abulkasem a. a. 0. I, 28, p. 33.

» Abulkasem a. a. 0. I, 43, p. 46. ^^ Abulkasem a. a. 0. II, 89, p. 219.

140 Der medicinische Unterrieht im MiüelaUer.

und vor dem Beginn der Operation nach oben gezogen, um einen mög- lichst grossen Hautlappen zur Bedeckung des Stumpfes zu gewinnen. Die bei der Amputation auftretenden Blutungen stillte Abülkasem durch styptische Mittel und durch Gauterien; von der Unterbindung der Gefasse sagt er in seiner Beschreibung dieser Operation kein Wort.

An einer anderen Stelle erzählt derselbe, dass er bei einem Kranken einen Theil der nekrotischen Tibia resecirt habe.^

Die Tracheotomie wurde zu seiner, Zeit nicht mehr ausgeführt. Er kannte dieselbe nur aus den Berichten der Alten, hielt sie aber für angezeigt in Fällen, in denen durch Neubildungen die Gefahr einer Erstickung drohte.^ Ayenzoab unternahm die Operation, wie er an- giebt, an einer Ziege, um die Folgen derselben kennen zu lernen.*

Der Steinschnitt wurde von Abülkasem beschrieben, welcher dabei auch der Lithothrypsie gedachte.* Moses Maimonides verbesserte die Methode der Beschneidung, welche auch von den Arabern ausgeübt wurde, und führte verschiedene Vorsichtsmassregeln ein, welche bei dieser Operation zu beachten sind.^

In der Behandlung der Knochen-Frakturen und Verrenkungen, welche Abülkasem in seinem dritten Buche besprach, folgte man den bewährten Grundsätzen der Ärzte des Alterthums.^ Erwähnung ver- dient nur, dass Avicenna die Einrichtung des luxirten Humerus durch direkten Druck, d. i. die direkte Reposition, empfohlen hat.^

Der graue Staar wurde durch Depression der Linse beseitigt.® Die Extraktion hielt man, wenn nicht für unmöglich, so doch für sehr gefährlich.^ Abülkasem gedenkt, wie schon Bhazes vor ihm, auch der Heilung des Staares durch Suction und bemerkt dabei, dass dieses Verfahren in Persien geübt wurde. ^^ Ebenso erwähnt auch der Augen- arzt IsA Ben Ali diese Operations-Methode; ein Manuscript seines Werkes giebt am Bande eine Zeichnung der Hohlnadel, welche dabei

^ Abülkasem a. a. 0. U, 88, p. 216.

^ Abulkabeh a. a. 0. II, 43, p. 120.

« Avenzoae: Altheißir., Lib. I, Tr. X, c. 14, Venet. 1542.

^ Abülkasem H, 60 a. a. 0. p. 151 u. ff.

» J. B. Priedreich: Zur Bibel, Nürnberg 1848, II, S. 46 u. ff. H. Ploss: Geschichtliches und Ethnologisches über Knabenbeschneidong im Deutschen Arch. f. Gesch. d. Med., Leipzig 1885, VIII, S. 324 u. ff.

* Abülkasem III a. a. 0. p. 270 342.

^ Avicekna: Canon IV, fen. 5, tract. 1, c. 11. 14.

® Abülkasem II, 23 a. a. 0. p. 91 u. ff.

® Avenzoar: Altheisir., Lib. I, tract. 8, c. 19. Avicenna a. a. 0. III, 3, tract. 4, c. 20.

" Abülkasem II, 23 a. a. 0. p. 93.

Medioin. Wissenschaft u. medidn. Unterricht bei dien Arabern. 141

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gebraucht wurde, ^ Canamusali, welcher diese Operation mehnnals ausführte, schickte derselben eine Incision in die Cornea voraus, damit die Hohlnadel leichter eingeführt werden konnte.'

Die Geburtshilfe war Sache der Hebammen, welche nicht blos die bei normalen Entbindungen erforderliche Hilfe leisteten, sondern sogar die geburtshilflichen Operationen unternahmen. Die durch die socialen Zustände bedingte strenge Absperrung der Frauen hinderte die Arzt.e, sich mit diesem Gegenstande praktisch zu beschäftigen. Sie hatten dazu wohl nur ausnahmsweise Gelegenheit;^ in ihren Schriften befassten sie sich hauptsächlich damit, den Hebammen Medicamente zu em- pfehlen, welche sie bei den hilfesuchenden Frauen anwenden sollten, und Rathschläge für die Ausführung einzelner Operationen zu ertheilen. ^

Unter den von Abulkasem angegebenen Instrumenten, welche zur Herausbeforderung abgestorbener Früchte dienten, findet sich ein Dila- tatorium, welches einige Ähnlichkeit mit der Geburtszange hat;^ doch ist es klar, dass es niemals, wie schon Muldeb bemerkte, zur Ex- traktion lebender Bänder verwendet worden ist.® Eine andere Zeich- nung zeigt die Form des Eranioklasten und wurde auch zum gleichen Zweck gebraucht.^

Eine erfreuliche Erscheinung ist das rege Interesse, welches die arabischen Arzte der Geschichte ihrer Wissenschaft widmeten. Die Werke des Ibn Dscholdsghol und Ibn Abu Oseibia® bilden eine un- schätzbare, leider noch wenig benutzte Quelle für die medicinische Ge- schichtsforschung wie für die Culturgeschichte überhaupt. Der histo- rische Sinn, welcher den Arabern anerzogen wurde, veranlasste sie, ihre Schriften mit einer Menge von Citaten zu schmücken, durch welche manche wichtige Thatsache vor der Vergessenheit geschützt wurde. Welche überraschenden Aufschlüsse über die Gulturzustände, besonders die Medicin, des Alterthums dürfen wir erwarten, wenn einst die lite- rarischen Schätze der mohammedanischen Musensitze des Orients und Nordafrikas, wie in Quairuan, der Wissenschaft erschlossen werden!

Schon in den ersten Zeiten des Islams wurden überall bei den

* Sichel im Arck f. Ophthalmol. 1868, Bd. XIV, 3, p. 9.

* Leclebo a. a. 0. I, p. 535.

' 0. J. V. Siebold: Geschichte der Geburtshilfe, Berlin 1839, 1, S. 272, Anm.

^ SiEBOED a. a. 0. I, S. 298 u. ff.

^ Abülkaseh II, 76, 77 a. a. 0. p. 180 u. ff. u. Anhang Fii^. 103.

* J. Muldeb: Geschichte der Zangen u. Hebel in der Geburtshilfe, Leipzig 1798, S. 9. Siebold a. a. 0. I, S. 295, Anm. 1.

^ Abülkaseh a. a. 0. Fig. 106.

* WüsTENPELD a. a. 0. S. 132 u. ff. Leclebo a. a. 0. II, 187 u. ff.

142 Der medicmisehe Untern^ im Mittelalter.

Moscheen Elementarscilulen errichtet, in denen die Kinder den Koran lesen leniten. Daran schloss sich später die Lektüre anderer Schriften^ sowie die Grammatik und der Unterricht im Schreiben. Der Besuch der Schule begann mit dem 6. Lebensjahre.^

Die Religion lag nicht blos dem niederen, sondern aach dem höheren Untenicht zu Grunde. Auch die höheren Lehranstalten standen Anfiängs mit den Moscheen in Verbindung. In den Nischen und Gängen derselben oder in anstossenden Sälen versammelten Gelehrte einen Kreis wissbegieriger Schüler um sich und hielten Vorträge über theo- logische, philologische, philosophische, juristische und medicinische Fragen.

Während der ersten Jahrhunderte durfte Jeder als Lehrer auf- treten, ohne dass er seine Befähigung dazu nachzuweisen brauchte; nur von den Lehrern der Theologie und der Jurisprudenz verlangte man, dass sie über ihre Ausbildung durch einen von der öffentlichen Meinung anerkannten Lehrer dieser Wissenschaften Rechenschaft gaben.

Manche Lehrer übten neben ihrer Lehrthätigkeit noch einen an- deren Beruf aus ; sie wirkten als Vorleser und Prediger an den Moscheen^ als Beamte, Richter, Sekretäre, Marktaufseher, ja selbst als Kaufleute und Handwerker. ^ Die Lehrer der Heilkunde waren sicherlich in den meisten Fällen als praktische Ärzte thätig.

Da die Vorträge unentgeltlich stattfanden, so war es ganz natür- lich, dass die Lehrer, wenn sie nicht eigenes Vermögen besassen, durch eine andere Beschäftigung für ihren Lebensunterhalt sorgten. Viele gaben den Studierenden Kost und Wohnung, um durch die Geschenke und Gelder, welche sie dafür von ihnen erhielten, einen Beitrag zur Bestreitung ihrer Ausgaben zu gewinnen. Zuweilen wählten sie sich aus ihnen auch einen Schwiegersohn aus.^

Die Vorlesungen bestanden entweder in freien Vorträgen oder wurden aus Heften vorgelesen. Recht witzig bemerkt Samachschabi: „Der Ruhm des Gelehrten liegt in seinen Heften, wie der Ruhm des Kaufmanns in seiner Kasse." Die Worte des Lehrers wurden von den Studierenden nachgeschrieben, und die letzteren setzten sich sogar einer Rüge aus, wenn sie dies unterliessen. Der Lehrer überzeugte sich durch Fragen, ob die Schüler den Inhalt seines Vortrages verstanden hatten. Manchmal folgten darauf Disputatorien, bei denen es gelegent-

^ D. Hanebebg: Über das Schul- oiid Lehrweeen der Muhamedaner im Mittelalter, München 1850, S. 4 u. ff.

* F. Wüstenpeld: Die Akademien der Araber und ihre Lehrer, Göttingen 1837, S. 6.

^ JIanebero a. a. O. S. 31.

Medidn, Wissenschaft u. medicin. Unterricht hei den Arabern, 143

lieh auch einmal vorkam, dass ein tüchtiger Gelehrter, der sich zu- fällig unter den Zuhörern befand, dem Lehrer selbst eine Niederlage bereitete. ^

Der Zutritt zu den Vorlesungen war Jedem ohne Unterschied der Nationalität gestattet Man sah in den Hörsälen neben Jünglingen, die kaum dem Knabenalter entwachsen waren, gereifte Männer und weissbärtige Greise. Manche kamen aus weiter Ferne, um die Ansichten eines berühmten Lehrers kennen zu lernen. Da in allen dem Mam unterworfenen Ländern die arabische Sprache beim Unterricht gebraucht wurde, so war es den Gelehrten der verschiedenen Nationen leicht, sich mit einander zu verständigen und ihr Wissen zu vermehren oder An- deren mitzutheilen.

Die durch die rehgiösen Wallfahrten erweckte Reiselust der Araber wurde dadurch auch bei den Gelehrten und Studenten gefördert. Auf ihren Wanderungen von einer Hochschule zur anderen vermittelten sie den Austausch der geistigen Errungenschaften und trugen auf diese Weise dazu bei, dass sich die Cultur in allen arabischen Ländern gleich- massig entwickelte.

Die Studenten Hessen sich oft von ihren Lehrern Zeugnisse über den Besuch ihrer Vorlesungen ausstellen und schriftlich die Erlaubniss ertheilen, die Kenntnisse, welche sie dort gewonnen hatten, durch Wort und Schrift weiter zu verbreiten. Einzelne Lehrer waren in dieser Hinsicht sehr entgegenkommend. Von einem derselben heisst es in einer etwas überschwänglichen Weise: „Er bedeckte die Erde mit Zeug- nissen über Gehörtes und mit Licenzen zum Lehren." ^

Manche Schulen und Moscheen besassen grosse Bibliotheken, QuATEEMiiBE hat dorcu 40 beschrieben, und v. Hammeb-Puböstali» lieferte dazu werth volle Zusätze.^ Die Bücherliebhaberei war übrigens auch bei Privatleuten sehr verbreitet. Der Arzt Algizab (Ibn Dschezzab) hinterliess, als er i. J. 1009 zu Quairuan starb, eine Bibliothek, welche 25 Centner wog.^

Seit dem 11. Jahrhundert entstanden die Madaris, die man weder unseren Akademien, wie es Wüstenpeld thut, noch unseren GyuMiasien, wie Meyeb vorschlägt, gleichstellen darf Die meiste Ähnlichkeit haben sie mit den englischen Colleges. Es waren dem höheren Unterricht

* Hanebebg a. a. 0. S. 12. * Hanebehq a. a. 0. S. 22.

^ QuATBEsdxiE: Sur le goüt des livres chez les Orientaux im Joum. asiat.^ ser. m, t. VI, p. 35, Paris 1838, u. ser. IV, t. XI, p. 187 u. fF., Paris 1848. Leclebc a. a. 0. I, 583 u. ff. A. v. Kbemeb: Culturgeschichte des Orients unter den KhaUfen, Wien 1877, H, S. 434.

* Leclerc a. a. O. I, 584,

144 Der medidnisehe Unterricht im Mittelalter,

gewidmete Pensionate, in welchen Lehrer und Schüler zusammen wohnten. Einzelnen standen prachtvolle Gebäude zur Verfügung; alle waren mit Bibliotheken ausgestattet.

Die berühmtesten Madaris befanden sich zu Bagdad, Basra, Bochara, Nisabur, Damaskus, Samarkand und Cahira;^ Spanien hesass in seiner Blüthe 17 derartige Anstalten. Wüstenfeld hat deren 37 beschrieben und dabei über die Lebensumstande der Lehrer, welche an denselben thätig waren, und ihre literarischen Leistungen ausführliche Mitthei- lungen gemacht.

Wenn man das reichhaltige Verzeichniss ihrer Schriften durchsieht, so findet man, dass sie hauptsächlich die Theologie, Rechtskunde, Phi- losophie und Philologie betreflfen ; nur wenige handeln über Mathematik, Astronomie, Chemie, Naturwissenschaften und andere Gegenstände, kein einziges aber über Medicin. Es scheint darnach, dass diese Anstalten vorzugsweise der Erlangung einer humanistischen, theologischen und juridischen Ausbildung dienten, während für den Unterricht in den Naturwissenschaften und in der Heilkunde andere Institute vorhanden waren.

Die Gesellschaft der „Brüder der Reinheit", welche im 10. Jahr- hundert zu Basra entstand, rechnete den Unterricht nicht zu ihren eigentlichen Aufgaben. Allerdings suchte sie durch Herausgabe theo- logischer, philosophischer, mathematischer und naturwissenschaftlicher Abhandlungen Bildung zu verbreiten; aber das Ziel, welches sie dabei verfolgte, war die Verbindung der Vernunft mit dem Glauben und die Begründung oder Läuterung des letzteren durch die Wissenschaft. P. DiBTEBici hat ihre Bestrebungen und Leistungen durch eine Reihe werthvoUer Schriften erläutert.

Den Charakter einer Universität zeigte in manchen Beziehungen das vom Ehalifen Hakim Biimrillah i. J. 1105 zu Cahira gegründete „Haus der Weisheit". Dort wurde neben anderen Wissenschaften auch die Medicin gelehrt, und unter den reich besoldeten Lehrern, welche an demselben angestellt waren, befanden sich nicht blos Theologen, Grammatiker, Philosophen und Rechtskundige, sondern auch Mathema- tiker, Astronomen und Ärzte. Es war auch Nicht-Mohammedanern, z. B. Juden und Christen, erlaubt, den Vorträgen, welche hier gehalten wurden, beizuwohnen und die der Anstalt gehörige Bibliothek, welche 18 Säle füllte, zu benutzen.*

Das Studium der Heilkunde geschah auf verschiedene Arten. Wer

* WüsTENPELD a. a. 0. S. 6.

V. Hammer-P(trqstall a. a. 0. Bd. I, Einleit., 8. LXIV.

Medidn. Wissenschaft u. medicin. Unterricht hei den Arabern, 145

sich dem ärztlichen Beruf widmen wollte, konnte die dazu erforderlichen fachmännischen Kenntnisse entweder unter der persönlichen Anleitung eines älteren erfahrenen Arztes, zu welchem er sich in die Lehre begab, oder in medicinischen Lehranstalten oder in den mit manchen Hospi- tälern verbundenen ärztlichen Schulen erwerben. Viele mögen alle drei Methoden verbunden haben, um eine gründliche Ausbildung in der Heilkunst zu erlangen.

Die medicinischen Vorlesungen, welche in den mit den Moscheen zusammenhängenden höheren Unterrichts-Instituten und ähnlichen An- stalten, z. B. in dem Hause der Weisheit, stattfanden, betrafen, wie es scheint, vorzugsweise theoretische Gegenstände und machten die Schüler mit der Literatur bekannt, während das praktische ärztliche Wissen hauptsächlich in den Krankenhäusern erworben wurde.

Nach Macbizi^ gab es in Ägypten schon in der Vor-Islamitischen Zeit Hospitäler, welche mit Ärzten und Medicamenten versehen waren. Bei den Mohammedanern dienten die Moschee und die dazu gehörigen Gebäude häufig als Herberge für arme Fremde oder als Lazareth für Kranke.

Unter der Herrschaft des Islams wurde das erste Hospital für Kranke i. J. 707 vom Khalifen El Welid Ben Abd-el-Malik errichtet, welcher auch dafür sorgte, dass unbemittelte Reisende, wenn sie er- krankten, ärztliche Hilfe erhielten. „Er stellte in dem Hospital Ärzte an und bestritt ihre Ausgaben; er befahl, die Aussätzigen einzusperren, damit sie nicht auf die Strassen gingen, und sorgte für ihre und der Blinden Bedürfnisse."

Später wurden in allen grösseren Städten Hospitäler und Kranken- häuser errichtet, welche ihre Entstehung frommen Stiftungen verdankten. Die meisten derselben dienten zugleich dem medicinischen Unterricht. Man nahm dabei die Einrichtungen, welche an der medicinischen Schule zu Gondisapur und den mit Spitälern verbundenen ärztlichen Lehr- anstalten der Nestorianer bestanden, zum Muster. Die Spitalärzte wirkten hier zugleich als Lehrer der Medicin und unterrichteten ihre Schüler in den verschiedenen Theilen der Heilkunde.

Die Nachrichten, welche uns über die arabischen Krankenhäuser überliefert worden sind, gewähren einen Einblick in deren Verhältnisse und Zustände. Das Hospital zu Gondisapur, welches durch mehrere Generationen unter der ärztlichen Leitung von Mitgliedern der Familie Bachtischua (Bochtjesü) stand, bewahrte auch unter der arabischen

^ Macbizi's Beschreibung der Hospitäler in el-Cahira nach Wüstenfeld's Übersetzung im Janus, Breslau 1846, I, S. 28 u. ff.

PuscHMANN, Uoterricht. 10

1

146 Der medidnisGhe Untetricht hn Mittelalter,

Herrschaft seinen guten Ruf. Es war mit einer wohleingerichteten Apotheke verbunden, welcher der Stammvater einer anderen berühmten ärztlichen Familie, der ältere Mesuij, durch 40 Jahre vorstand. I. J. 869 war der um die Arzneimittellehre verdiente Sabük Ben Sahl Direktor dieser Anstalt. Sie bestand wahrscheinlich noch in späteren Zeiten; doch trat sie in den Schatten, als die glänzend ausgestatteten Hospitäler der Araber in Bagdad und anderen Orten zu Ansehen gelangten.

In Bagdad existirte schon im 9. Jahrhundert ein Krankenhaus und eine medicinische Schule.^ Ein zweites gründete i. J. 914 der Vezir Ali Ben Issa. Derselbe lernte bei einer Epidemie den Mangel an Ärzten und Medicamenten kennen, welcher bei den Truppen und auf dem Lande herrschte, und beschloss deshalb, etwas zur Besserung dieser Zustände zu thun. Er ordnete an, dass die Kranken täglich von den Ärzten besucht würden und Arzneien und Nahrungsmittel empfingen, und liess ein neues Hospital eröffnen. Als man ihm mittheilte, dass einige Dörfer, welche grösstentheils von Juden bewohnt waren, der ärzt- lichen Hilfe gänzlich entbehrten, antwortete er, dass man auch für die Ungläubigen sorgen müsse.

Auf Sinan Ben Tsabet Ben Corra's Veranlassung ^ wurden in Bagdad noch andere Krankenhäuser errichtet. Die Mittel dazu boten die zu Wohlthätigkeitszwecken bestimmten reichen Vermächtnisse der Sedjah, der Mutter des Khalifen Mottawakl. Das grösste und berühmteste dieser Spitäler wurde i. J. 977 vom Buiden-Emir Adhad Ed Daula ge- stiftet, oder vielleicht nur, nachdem es schon früher existirte und in Verfall gerathen war, mit grösseren Mitteln wieder hergestellt.' Bei der ursprünglichen Gründung, die wahrscheinlich um ein Jahrhundert zurückreicht, soll nach Ibn Abu Oseibia's Angabe Bhazes mitgewirkt haben, indem er einen in hygienischer Hinsicht geeigneten Platz dafür aussuchte.

An diesem Hospital waren 24 Ärzte angestellt, welche nach ihrer Tüchtigkeit im Bange auf einander folgten. Es gab unter ihnen Spe- cialisten, indem sich Einzelne nur mit der Behandlung fieberhafter Krankheiten, Andere mit der Heilung von Wunden, mit dem Einrichten von Luxationen oder mit Augenleiden befassten. Die Kranken waren nach der Art ihrer Erkrankung in verschiedene Abtheilungen gesondert. Merkwürdige Beobachtungen, welche die Ärzte an einzelnen Krankheits-

* M. Steinschneider in Virchow's Archiv, Bd. 52, S. 372.

^ Aus dessen Lebensbeschreibung, nach Leclebc a. a. 0. I, 865. 559 u. ff.

* v. Hammeb-Pubgstall a. a. 0. IV, 358. Wüstenpeld: Gesch. d. arab. Arzte, S. 42, Anm. Leolero a. a. 0. I, 561.

Medidn. Wissenschaft u. medwin, Unterricht hei den Arabern, 147

föUen machten, wurden niedergeschrieben und aufbewahrt. Die Ver- waltung des Hospitals leitete ein hoher Beamter, z. B. ein Kadi; unter ihm stand ein Ökonom. Ibn El Maeistania, der eine Zeitlang als Arzt an dieser Anstalt wirkte, hat eine Geschichte derselben verfasst, die leider verloren gegangen ist. Dieses Krankenhaus existirte noch im 13. Jahrhundert, vielleicht auch in späterer Zeit

Ferner bestanden zu Merw, zu Kay, dem Geburtsort des Bjhazes, zu Ispahan, Schiras, Jerusalem, Antiochia, Mekka und Medina Kranken- häuser.

In Damaskus gab es mehrere; das grösste verdankte angeblich dem Nureddin seine Entstehung. Es diente zugleich als medicinische Lehranstalt. In dem mit Teppichen bedeckten Hofe wurden nach der Beendigung der Krankenvisiten medicinische Vorträge gehalten, welche oft mehrere Stunden dauerten. Eine medicinische Bibliothek, welche sich in der Anstalt befand, sorgte für die literarischen Bedürfnisse der Lehrenden und Lernenden. Die Zahl der Schüler war sehr gross. In dem Verzeichniss der Lehrer finden sich Namen, welche zu den be- rühmtesten der arabischen Heilkunde gehören.^ Die Kranken wurden nach ihren Leiden eingetheilt; es gab z. B. eine besondere Abtheilung für Augenkranke. * Die Verpflegung war so vortreflflich, dass Mancher, wie Abd-el Letip erzählt,^ sich krank stellte, um in der Anstalt bleiben zu dürfen; denn er wurde dort „mit zarten Hühnern, Backwerk, Sorbet und Früchten aller Art" bewirthet.

In Damaskus bestanden neben dieser Anstalt noch andere medici- nische Schulen; zuweilen docirte derselbe Lehrer an zwei solchen In- stituten. Die medicinischen Schulen von Damaskus nahmen im 13. Jahr- hundert den ersten Eang ein unter allen ihren Schwester-Anstalten und überstrahlten durch ihren Ruhm sogar diejenigen zu Bagdad und Cairo.

Über die Spitäler Ägyptens und ihre Organisation hat Maobizi ausführliche Nachrichten hinterlassen. Er berichtet, dass das erste Krankenhaus von Ibn Tülun um d. J. 875 gestiftet und mit reichen Mitteln zu seiner Erhaltung ausgestattet wurde. „Er traf für das Ho- spital die Bestimmung, dass darin weder ein Soldat noch ein Sklave aufgenonmien werde; auch richtete er für das Hospital zwei Bäder ein, das eine für die Männer und das andere für die Frauen, und vermachte beide dem Hospital und anderen Anstalten. Er befahl ferner, dass,

* Wenn dieses Hospital erst von Nuxeddin, welcher 1173 starb, gestiftet wurde, so bezogen sich einzelne der hier erwähnten Thatsachen wahrscheinlich auf andere Ejrankenhäuser Bagdads.

^ Leclbbc a. a. 0. I, 565 u. ff. Abulfakag a. a. 0. p. 843.

ä Abd-Allatip: Relation de TEgypte ed. Silv. de Sacy, Paris 1810, p. 441.

10*

148 Der medimnische Uni^nrickt im Mittelalter.

wenn ein Kranker gebracht würde, ihm seine Kleider und sein Geld abgenommen und bei dem Hospital-Verwalter in Verwahrung gegeben, dann ihm andere Kleider angezogen, er ins Bett gelegt, ihm Essen gegeben, und er durch Arznei und Nahrungsmittel und durch Ärzte bedient werden sollte, bis er hergestellt sei; dann nachdem er ein junges Huhn und Kuchen zu essen bekommen, soll er entlassen werden und sein Geld und seine Kleider zurückerhalten."^

In dem Hospital befand sich auch eine Abtheilung für Geistes- kranke. Diese Anstalt scheint nicht lange existirt zu haben; zu Maceizi's Zeit war sie nahezu vollständig vergessen. Derselbe erwähnt dann das Hospital Kafur's, welches i. J. 957 in der Stadt Misr errichtet wurde, und dasjenige, welches nach der Strasse El Magafir genannt wurde und, wie es scheint, nur kurze Zeit bestanden hat. In Fostath existirte schon im 10. Jahrhundert ein Hospital; ein anderes, an wel- chem Ibn Abu Oseibia kurze Zeit ärztliche Dienste verrichtete, ver- dankte dem Nasr Saladin seine Entstehung.

Die bedeutendste aller dieser Stiftungen war das grosse Mansuri- sche Hospital zu Cairo. Der Sultan El Mansur Gilavun liess dasselbe i, J. 1283 aus einem fürstlichen Schloss, welches bis dahin einer Prin- zessin zum Wohnsitz gedient hatte, mit grossem Aufwand herrichten. Die Grundmauern, die Steine und Marmorsäulen jenes Theiles des Schlosses, welches niedergerissen wurde, verwendete man zum Bau des Hospitals. Alle Handwerker von Misr und Cairo mussten dabei thätig sein und durften während dieser Zeit keine Arbeit für andere Leute übernehmen. Der Sultan ritt täglich zum Bauplatz, beaufsichtigte die Arbeiter, half sogar selbst mit und nöthigte die Vorübergehenden, Steine zu tragen oder andere Dienste zu verrichten. Er hatte übrigens bei dem Bau ein merkwürdiges Glück; beim Ausgraben der Erde fand ein Arbeiter ein mit Gold und Edelsteinen gefülltes Kästchen, dessen Werth die sämmtlichen Baukosten deckte.

Vier grosse Krankensäle umschlossen den Hof; in jedem derselben war ein Springbrunnen, welcher aus einem in der Mitte des Hofes be- findlichen Wasserbehälter gespeist wurde. Als der Bau der Anstalt vollendet war, sprach der Sultan: „Dies habe ich gestiftet für meines Gleichen und für Geringere; ich habe es bestimmt zu einer Stiftung für den König und den Diener, den Soldaten und den Emir, den Grossen und den Kleinen, den Freien und den Sklaven, füi Männer und Frauen. Er bestimmte dafür die Medicamente, die Ärzte, und alles Übrige, was Jemand darin in irgend einer Krankheit nöthig haben

^ Macrizi nach Wüstenpeld's Übersetzung a. a. O. S. 30.

Medidn. Wissenschaft u. medidn, Unterricht hei den Arabern, 149

konnte. Der Sultan stellte männliche und weibliche Bettmacher an zur Bedienung der Kranken und bestimmte ihnen die Gehalte; er richtete die Betten für die Kranken ein und versah sie mit allen Arten von Decken, die in irgend einer Krankheit nöthig waren. Jede Klasse von Kranken bekam einen besonderen Baum. Die vier Säle des Ho- spitals bestimmte er für die an Fiebern und dergleichen Leidenden, einen Hof sonderte er für die Augenkranken, einen für die Verwundeten, einen für Diejenigen, welche an Durchfallen litten, und einen für die Frauen; ein Zimmer für die Reconvalescenten theilte er in zwei Theile, den einen für die Männer, den anderen für die Frauen. An alle diese Orte wurde das Wasser geleitet. Ein besonderes Zimmer war für das Kochen der Speisen, Medicamente und Syrupe, ein anderes für das Mischen der Confekte, Balsame, Augensalben u. dgl. bestimmt. An verschiedenen Orten wurden die Vorräthe aufbewahrt; in einem Zimmer waren die Syrupe und Medicamente allein. In einem Zimmer hatte der Oberarzt seinen Sitz, um medicinische Vorlesungen zu halten. Die Zahl der Kranken war nicht begrenzt, sondern jeder Bedürftige und Arme, welcher dahin kam, &nd dort Auftiahme; ebensowenig war die Zeit des Aufenthalts eines Kranken darin bestimmt, und es wurde daraus sogar Denjenigen, welche zu Hause krank lagen. Alles, was sie nöthig hatten, verabreicht."^

Dieses Hospital erfuhr im Verlauf der Zeit manche bauliche Ver- besserungen und Erweiterungen. Im Garten wurde ein grosses Zelt errichtet, damit die Kranken dort im Schatten spazieren gehen konnten. Eine am Thore des Hospitals gelegene Cisteme, aus welcher die Thiere zu trinken pflegten, wurde verlegt, „weil die Leute durch den stinken- den Geruch des Schmutzes belästigt wurden", und eine Wasserleitung angelegt.

Der Stifter der Anstalt vermachte derselben so vielen Grundbesitz, dass der jährliche Ertrag desselben nahezu eine Million Dirhem aus- machte. Zwei Beamte waren damit beauftragt, die aus den Grund- stücken der Anstalt zufliessenden Gelder einzutreiben; andere hatten die Controlle der Ausgaben oder die Aufsicht über die Gebäude und die Küche.

Wie Leclebc angiebt,^ wurden in diesem Hospital Anfangs nur Geisteskranke und erst später Leidende aller Art aufgenommen. Sie wurden dort gut verpflegt und genossen ein behagliches Leben. Wenn sie an Schlaflosigkeit litten, so wurde ihnen durch Musik, durch

^ Maorizi nach Wüstenfeld a. a. 0. S. 34. * Leclerc a. a. 0. I, 570.

150 Der medidniscke Unterricht im MittekUtet'.

Märchen-Erzähler und andere Zerstreuungen die Zeit vertrieben. Beim Verlassen der Anstalt erhielt jeder Pflegling 5 Goldstücke, damit er nicht genöthigt war, sofort schwere Arbeiten zu übernehmen.

Mit dem Hospital war eine Moschee verbunden, in welcher zu jeder Zeit der Koran vorgelesen und erklärt wurde. Femer befand sich dort eine Bibliothek, in welcher 6 Eunuchen als Diener angestellt waren, ein Waisenhaus nebst der dazu gehörigen Schule und eine höhere Lehranstalt. Es dürfte zu jener Zeit keine Wohlthätigkeits- Stiftung in der Welt gegeben haben, welche sich an Grossartigkeit, Pracht und Ausdehnung mit dieser Schöpfung messen konnte.

Maorizi beschreibt dann noch das Muajjidische Hospital in Cairo, welches um d. J. 1420 eröflhet wurde, aber nur kurze Zeit als Heil- anstalt diente. Auch in Fez gab es, wie Leo Africanus berichtet, Krankenhäuser; einzelne hatten besondere Abtheilungen für Geisteskranke.

Spanien soll reich an Hospitälern gewesen sein; doch sind die darüber vorhandenen Nachrichten sehr spärlich. Zu Algesiras bestand im 12. Jahrhundert ein Krankenhaus und Cordova soll nach einer wahrscheinlich an orientalischer Übertreibung leidenden Mittheilung sogar 50 derartige Anstalten besessen haben.

Die liebende Fürsorge, welche die Mohammedaner den Irren wid- meten, hatte ihren Grund in der Religion. Sie sahen in den Hal- lucinationen und wirren Reden dieser Kranken häufig Äusserungen einer überirdischen Welt und zollten Denen, welche damit begnadet wurden, gebührende Verehrung. Die Christen huldigten der gleichen Anschauung; aber sie erblickten darin Strafen Gottes und Wirkungen des Teufels und der bösen Geister. Die Geisteskranken fanden daher in den Ländern des Islams freundliche Worte und sorgsame Pflege in den Hospitälern, während sie von den Christen wie Verbrecher behan- delt, in die Gefängnisse geworfen und geschlagen oder als Zauberer und Hexen mit Feuer und Schwert vertilgt wurden.^

In Bagdad und Cairo bestanden Irrenanstalten längst, bevor man in den Ländern der Christenheit an die Errichtung derselben daxjhte, und hier entstanden die ersten in Spanien, auf dessen geistige Ent- wickelung die arabische Cultur den grössten Einfluss ausgeübt hat.

Auf dem Gebiet der Irrenpflege neigt sich die Waage der Huma- nität entschieden zu Gunsten der Mohammedaner; das Christenthum zeigt hier einen hässlichen Flecken, welcher dem Religionseifer seiner Anhänger zur Last fällt.

^ Lecky a. a. 0. II, 68 u. iF. Desmaisons: Des asiles d'alienes en Espagne, Paris 1859.

Medidn, Wissenschaft u. medicin. Unterricht bei den Arabern, 151

Die Araber hatten in ihren Spitälern besondere Abtheilungen für die verschiedenen Arten der menschlichen Leiden; auch gab es be- sondere Anstalten für einzelne Krankheiten, z. B. diejenigen der Augen.

Die Studierende Q, welche diese Krankenhauser besuchten, wurden hier unter der Anleitung erfahrener Ärzte in die Kunst eingeweiht, die Krankheiten zu erkennen und zu behandeln. Sie wohnten der Aus- führung chirurgischer Operationen bei und konnten auch manchmal einige praktische Kenntnisse in der Geburtshilfe erwerben, wie es ihnen Au Ben Abbas empfahl.

In den Apotheken hatten sie Gelegenheit, die Bereitung der Arz- neien kennen zu lernen. Die Araber haben die Apotheken in die Heil- kunde eingeführt; es scheint, dass sie durch die Nestorianer damit be- kannt gemacht wurden.^ Die arabischen Apotheker handelten nicht blos mit Arzneistoflfen, namentlich Sandelholz, weshalb sie auch Szan- dalani genannt wurden, sowie mit Parfümerien, kosmetischen und an- deren Mitteln, sondern beschäftigten sich auch mit der Zusammensetzung derselben zu Medicamenten und führten die Dispensatorien ein. Die systematische Anwendung der Destillir-Apparate und die Erfindung einzelner Formen der Arzneien war ihr Verdienst.

Ihre chemischen und botanischen Studien kamen ihnen dabei sehr zu Statten. Die Botanik bildete, wie Hadji Khalfa sagt, * eine Hilfs- wissenschaft der Medicin. Viele Ärzte waren eifrige Botaniker; von Rachid Eddin Ibn Aszuei wird erzählt, dass er sich auf seinen bo- tanischen Excursionen von einem Maler begleiten liess, welcher die Pflanzen in ihren verschiedenen Entwickelungsstadien zeichnete.^ Mo- hammed Ben Ali Ben Faeak, der Leibarzt des Fürsten von Gadix, soll sogar schon einen botanischen Garten angelegt haben. ^

Die arabischen Ärzte trachteten nicht blos darnach, sich gründ- liche Kenntnisse in der Medicin und in den Naturwissenschaften zu erwerben, sondern widmeten auch den Lehren der Philosophen ein reges Interesse und standen an der Spitze aller liberalen Bestrebungen. Die Namen eines Avicenna, Avempace, Avebboes und Moses Mai- MONiDES glänzen fast noch mehr in der Geschichte der Philosophie als in derjenigen der Heilkunde.

Die Grundlage ihrer philosophischen Ideen bildete das Aristotelische System, welches sie nach verschiedenen Richtungen weiter entwickelten.

* K. Sprengel: Geschichte der Botanik, Leipzig 1817, I, S. 205.

' Hadji Khalpa: Lexicon bibliographicum et encyclopaedicum ed. G. Flügel, London 1845, T. IV, p. 114.

* Hadji Khalpa a. a. 0. T. I, p. 227, No. 361. Leoleec a. a. 0. I, 564.

* Casiri a. a. 0. T. II, p. 89.

152 Det' mediciniscke Unterricht im Mittelalter,

Während Avicenna dadurch zu einem teleologischen Theismus geführt wurde, der ihn den christlichen Schulen des Mittelalters empfahl, ge- langte AvERROES zu einem pantheistischen Naturalismus, welcher wegen seines rationalistischen Charakters nicht nur von der christlichen Kirche verdammt wurde, sondern ihm auch unter seinen eigenen Landsleuten und Glaubensgenossen viele Gegner schuf. Wenn Averroes erklärte, dass die Eeligion nur der schwachen Geister wegen da sei, dass der Mensch auch ohne die Offenbarung, nur allein durch die Vernunft zur Erkenntniss des Wesens der Dinge gelangen könne, wenn er an die Stelle einer durch den allmächtigen Willen der Gottheit entstandenen Schöpfung eine nach Art der Aristotelischen Entelechien durch die Zeit aus dem Zustande der Möglichkeit in denjenigen der Wirklichkeit über- geführte Natur setzte und die Ewigkeit der Welt und der Materie, die Verschmelzung der Gottheit mit der Natur und die Wesenseinheit der Vernunft predigte, so rüttelte er an den Fundamenten der mono- theistischen Religionssysteme und musste einen erbitterten Kampf der- selben erwarten.^

Auch sein Schüler und Anhänger, der jüdische Arzt Moses Mai- MONiDES erfuhr dies, als er den Versuch machte, die Vorschriften des Talmuds mit den Forderungen der Vernunft zu versöhnen. Er eröffnete der freieren Richtung im Judenthum die Bahn. „Von Spinoza bis zu Mendelssohn hat," wie Munk sagt, „das Judenthum keinen frei- sinnigen Denker hervorgebracht, der nicht von Maimonides die erste Weihe erhalten hat."

In den Ländern des Islams herrschte während der ersten Jahr- hunderte seines Bestehens eine religiöse Toleranz gegen Andersgläubige^ wie sie bei den Christen zu jener Zeit nirgends gefunden wurde. Die höheren Lehranstalten und medicinischen Schulen der Araber hatten unter ihren Lehreni ebenso wie unter ihren Schülern viele Juden, Christen und Bekenner anderer Religionen. An ihren Hospitälern wurden nicht blos mohammedanische, sondern auch christliche und jüdische Ärzte angestellt, und Kranke, welche nicht dem herrschenden Glauben angehörten, fanden dort ebenfalls freundliche Aufnahme und wohlwollende Pflege.

Schon der Prophet Mohammed selbst hatte seinen Anhängern einen Ungläubigen als Arzt empfohlen. ^ An den Höfen der Khalifen und mohammedanischen Fürsten spielten Juden und Christen, namentlich Nestorianer, als Leibärzte eine hervorragende Rolle; auch zu anderen einflussreichen Stellungen im Sanitätswesen wurden sie befördert.

* E. Rem an: Averroös et rAverroisme, Paris 1860.

* v. Hammer- PüBQSTALL a. a. 0. II, S. 192. Abulfarao a. a. O. p. 99.

Medidn. Wissenschaft u, medidn. Unterricht hei den Arabern. 153

Die Ausübung der ärztlichen Praxis stand Anfangs Jedem frei; aber allmälig wurde es üblich, dass sich die Ärzte von den Lehrern, welche sie in der Heilkunst unterrichtet hatten, Zeugnisse geben Hessen, weil sie dadurch dem Publikum grösseres Vertrauen einflössten.^ Ein ärztlicher MissgriflF, welcher den Tod eines Patienten zur Folge hatte, war die Veranlassung, dass i. J. 931 alle Ärzte von Bagdad und der Umgegend aufgefordert wurden, sich prüfen zu lassen; nur den Ärzten des Hofes und solchen Ärzten, deren Tüchtigkeit allgemein anerkannt war, wurde das Examen erlassen. Alle übrigen Heilkünstler, deren Zahl 860 betrug, mussten ihre Befähigung zum ärztlichen Beruf durch 6ine Prüfung nachweisen, welche der Leibarzt des Khalifen, Sinan Ben Tsabet Ben Corra abnahm. ^ Meyer ^ glaubt, dass dies nur eine vorübergehende, gegen die Charlatane gerichtete Polizeimassregel war, weil kein Nachfolger dieses Examinators genannt wurcje; aber ähnliche Einrichtungen bestanden zu Bagdad auch im 12. Jahrhundert und in Cordova schon früher.* Es scheint mir darnach nicht zweifelhaft, dass die Anfänge des ärztlichen Prüfungswesens bei den Arabern zu suchen sind.

Wie bei allen orientalischen Völkern, so war es auch bei den Arabern eine häufige Erscheinung, dass der Sohn den Beruf des Vaters wählte. Einzelne Familien, wie die Bachtischua, deren Stammtafel Meyer zusammengestellt hat, ^ die Corra, ® die Honein und die Zohr,^ welcher Avenzoar angehörte, lieferten durch mehrere Generationen Ärzte, von denen Einzelne sehr berühmt wurden. Auch auf anderen Grebieten der Gelehrsamkeit war dies der Fall, wie das von Wüsten- eeld® angeführte Beispiel der Familie Sobki beweist.

Manche Ärzte beschränkten ihre Thätigkeit auf einen speciellen Theil der Medicin, z. B. die Augenheilkunde.

Schon in früher Zeit wurde die Einrichtung getroffen, dass Proto- medici ernannt wurden,® welche, wenn dies nicht blos ein Titel war, die Aufsicht über die übrigen Ärzte führten. Wahrscheinlich war dieses Amt stets mit demjenigen des Leibarztes verbunden. Vielleicht hing es mit der Einführung der ärztlichen Prüfungen zusammen?

^ Leglerc a. a. 0. I, 574.

* Casiri a. a. 0. T. I, p. 438. Leclero a. a. 0. I, 576.

* Meter a. a. 0. III, 122. * Leclerc a. a. 0. I, 577. ^ Meyer a. a. 0. III, 109.

® Wüstenpeld: Gesch. d. arab. Arzte, S. 34 u. fF. ' Wüstenfeld a. a. 0. S. 88 u. ff. ® Wüstenfeld: Akademien der Araber, S. 119. ® Leclerc a. a. 0. I, 576.

154 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.

Ibn Beithab, der Verfasser des besten arabischen Werkes über die Arzneimittel, welcher am ägyptischen Hofe als Leibarzt wirkte, wurde zum Vorgesetzten aller Ärzte und Herboristen (Apotheker?) dieses Landes ernannt.

Die Ärzte nahmen im socialen Leben eine bevorzugte Stellung ein; manche erlangten als Freunde und Rathgeber der Herrscher grossen Einfiuss. Die Leibärzte an dem Hofe der Khalifen erhielten reichere Besoldungen und Geschenke, als andere Gelehrte und Beamte,^ und wurden mit Ehren und Auszeichnungen überhäuft. Nicht Wenige er- langten die Würde des Vezirs, welche, wenn auch nicht immer dem Range eines Ministers, so doch jedenfalls demjenigen unserer geheimen Käthe und Hofräthe entsprach. ^

Andererseits scheint es dem ärztlichen Stande auch nicht an jenen Elemen<;en gefehlt zu haben, welche das Publikum mit den unlauteren Mitteln der Charlatanerie anlocken. Rhazes fühlte sich dadurch sogar veranlasst, eine Schrift zu verfassen „über die in der medicinischen Kunst vorkommenden Umstände, welche die Herzen der meisten Men- schen von den achtbarsten Ärzten ablenken und den niedrigsten zu- wenden." '

Die arabischen Ärzte Hessen der idealen Aufgabe ihres Berufes zwar volle Anerkennung zu Theil werden; aber sie huldigten einer nüchternen Auffassung des Lebens und nahmen die Dinge, wie sie wirklich sind, nicht, wie sie sein sollten. In dem „Führer der Ärzte", als dessen Autor der Jude Isak Israeli gilt, werden ihnen Lebens- regeln ertheilt, welche davon Zeugniss geben. Dort heisst es: „Die wichtigste Aufgabe des Arztes ist es, Erkrankungen zu verhüten." „Die meisten Krankheiten heilen ohne Beistand des Arztes durch die Hilfe der Natur." „Vermagst Du den Kranken durch diätetische Mittel zu heilen, so unterlass die Verordnung von Arzneien!" „Ver- lass Dich bei Deinen Kuren niemals auf Wundermittel, da sie meistens auf Thorheit und Aberglauben beruhen!" „Stelle den Kranken die Genesung in Aussicht, selbst wenn Du auch nicht davon überzeugt bist; denn Du wirst dadurch jedenfalls das Heilbestreben der Natur unterstützen." „Wenn der Arzt von weither gekommen ist und eine fremde Sprache redet, dann hält ihn die Menge für klug, drängt sich zu ihm und sucht seinen Rath." „Sprich niemals ungünstig über andere Ärzte; denn ein Jeder hat seine glücklichen und seine

^ V. Hammer-Pürostall a. a. 0. Bd. I, Einleit., p. L.

* Leclerc a. a. 0. I, 578.

" M. Steinschneider in Virchow's Archiv, Bd. 36, S. 574 u. ff.

Mediüin, Wissenschaft u. medioin, Unterricht hei den Arabern. 155

unglücklichen Stunden. Lass Deine Thaten Dich rühmen, nicht Deine Zunge!" ,,Besuche den Kranken, wenn es ihm am schlimmsten er- geht. In dieser Zeit verständige Dich mit ihm über Deinen Lohn; denn wenn der Kranke gesund ist, erinnert er sich an nichts." „Stelle Dein Honorar so hoch als möglich; denn was Du unentgeltlich thust, wird für gering geachtet !" „Lass Dir die Heilung von Fürsten und Reichen angelegen sein; denn sie werden nach ihrer Genesung gegen Dich freigebig sein, Dich stets preisen und lieben, während die gemeinen Leute Dich, wenn sie geheilt sind, noch hassen, wenn sie an das Honorar denken."^ Sollte man nicht glauben, dieses Buch wäre gestern geschrieben?

Die arabische C'ultur sank fast ebenso rasch von ihrer Höhe herab, als sie dieselbe erklommen hatte. Die berühmten Schulen der Nesto- rianer waren schon im 9. Jahrhundert im Verfall. * Die höheren Lehr- anstalten der Araber erhielten sich bis ins 14. Jahrhundert und gingen dann allmälig oder rasch zu Grunde, und mit ihnen schwand auch das wissenschaftliche Leben, welches der Menschheit so reiche Früchte getragen hatte.

Die Religionskriege, welche im Osten unter dem Namen der Kreuz- züge von einigen beutegiörigen Abenteurern unternommen wurden und im Westen zur Eroberung Spaniens und der süditalienischen Inseln durch christliche Fürsten führten, riefen den Glaubensfanatismus der Mohammedaner hervor^ und lähmten ihr geistiges Streben. Die mon- golischen und türkischen Stämme, die im 13. Jahrhundert sengend und mordend in die Länder der arisch-semitischen Welt einbrachen, zer- traten die alten Culturstätten Asiens und verwandelten blühende Städte in wüste Einöden. Der Orient hat sich von diesem Schlage niemals wieder erholt, und die türkische Herrschaft wurde gleichbedeutend mit dem geistigen Tode. Aber im christlichen Abendlande bildeten die Ausläufer der arabischen Cultur die Keime zu dem geistigen Auf- schwünge, welcher an den Schulen von Salerno und Montpellier seine ersten Triumphe feierte.

^ SoAVE im Giom. Veneto di scienze mediche 1861, ser. II, t 18, p. 893 u. ff. D. Kaufmann im Magazin f. d. Wissensch. d. Judenthums, Berlin 1884, S. 97 u. ff.

' AsBEMANi a. a. 0. III, pars II, p. 940.

' V. Kkemer: Ibn Chaldnn und seine Culturgeschichte , Wien 1879, S. 39.

156 Der medidnisohe Unterricht im Mittelalter,

Die Medicin der Germanen und der Unterricht

in den Klostersohulen.

Die germanischen Stamme, welche nach der sogenannten A'ölker- wanderung in der westlichen Hälfte des römischen Reiches zur Herr- schaft gelangten, standen im 5. Jahrhundert längst nicht mehr auf der niedrigen Culturstufe, wie sie Tacitüs geschildert hat. ^ Im Kriege wie im Frieden waren sie mit den Römern in Verkehr getreten und hatten deren Überlegenheit in den Wissenschaften und Künsten kennen gelernt. Als Soldaten im römischen Heere, als freudig begrüsste Bundes- genossen öder als Geissein für die beschworenen Verträge erhielten sie Gelegenheit, die Vortheile der römischen Cultur zu gemessen und Kennt- nisse zu erwerben, welche sie ihren Landsleuten, die in der Heimath zurückgeblieben waren, übermittelten. Die Keime edler Gesittung im germanischen Volke, welchen Tacitüs ein bewunderungsvolles Lob spendet, wurden durch die höhere Bildung veredelt und weiter ent- wickelt.

Als die Stämme der Gothen und andere deutsche Völker aus ihren bisherigen Wohnsitzen durch die von Osten andrängenden Horden der Hunnen vertrieben wurden, und von Thatendurst und Sucht nach Reich- thum und Macht erfüllt, ihre weltgeschichtlichen Wanderungen antraten, besassen sie be^/eits eine Schriftsprache, ein geordnetes Staatswesen, eine gesicherte Rechtspflege und mancherlei Kenntnissiß auf den verschie- denen Gebieten des geistigen Lebens. In der Heilkunde huldigten sie der Anschauung, dass die Krankheiten durch überirdische Gewalten erzeugt würden, welche durch Gebete und Zauberei versöhnt werden müssen; aber sie versäumten darüber nicht die Anwendung heilkräftiger Kräuter und anderer Mittel, deren günstige Wirkung die Erfahrung gelehrt hatte. Den Frauen, welche im germanischen Leben eine sehr hervorragende Rolle spielten, lag es hauptsächlich ob, die Wunden zu verbinden und die Kranken zu pflegen. ^

Erst allmälig, vorzugsweise unter dem Einfluss der römischen Cultur^ entwickelte sich bei ihnen ein eigentlicher ärztlicher Stand. Die grie- chischen und römischen Ärzte, welche durch den Beruf eines Militär- arztes zu ihnen geführt wurden oder, wie Oribasius und Anthimus, in der Verbannung oder als Gesandte bei ihnen weilten, dürften dazu nicht wenig beigetragen haben.

* Tacitüs: Germania, c. 5, 19 u. a. 0. Gibbon a. a. 0. c. 9. Rev. seien t, Paris, oct. 1873.

* Tacitüs a. a. 0. c. 7. 8. 18.

Die Medidn der Oermanen u. der Unterricht in den Klosterschulen, 157

Wenn Güizot^ sagt, dass es schwer sei, die geistigen Zustände der Gennanen vor der Völkerwanderung zu schildern, so gilt dies be- sonders von der Heilkunde. Aus der vergleichenden Linguistik ergiebt sich allerdings, dass sie bestimmte Bezeichnungen für einzelne Krank- heiten hatten,^ und die Analogie mit der Culturentwickelung anderer Völker, namentlich mit den Zuständen der Germanen des Nordens, lässt manche Folgerungen zu.

Auch dort übten weise Frauen die Heilkunst aus, und man ver- ehrte sogar eine weibliche Gottheit der Heilkunde, Eir mit Namen. ^ Brunhilde, „die Ärztin", und die Nornen verstanden die Kunst des Entbindens. Wenn Sigrdrifa (Brunhilde) zu Sigurdr sagt, dass er Kunen einer gewissen Art kennen müsse, damit das Kind von der Mutter gelöst werde, und wenn es vom Jarlssohn Konr heisst, dass er die Kunen kannte und den Frauen bei der Entbindung Beistand leistete^, so handelt es sich offenbar um mystische^ Zauberformeln, denen ein wunderbarer Einfluss auf den Geburtsakt zugeschrieben wurde. Auch Held Gönguhrolf half bei der Entbindung, indem er die Hände auf- legte. Fürsten und Helden galten, wie schon Odhin, der Arzt, als be- sonders erfahren in der Heilkunde;* es deutet dies vielleicht darauf hin, dass die letztere vorzugsweise von den angesehenen Männern, welche an der Spitze eines grossen Haushalts standen, ausgeübt wurde, ähnlich wie es noch zur Zeit Cato's in Kom geschah.

Unter den Krankheiten, welche genannt werden, treten Geistes- störungen, Impotenz, aber am häufigsten die chronischen Geschwüre des Unterschenkels auf, welche manchmal sogar tödtlich endeten. Mit der Behandlung der Wunden wusste man recht gut Bescheid. Selbst die Amputation wurde ausgeführt und der Verlust des Unterschenkels durch künstliche Nachbildungen aus Holz ersetzt. Die Stelzfüsse waren, wie es scheint, nicht selten. Auch von der Bauchnaht ist die Bede. Doch stammen diese Mittheilungen aus der Zeit der Wikinger-Fahrten, in welcher schon Berührungen zwischen den Germanen des Nordens und den entwickelteren Culturzuständen weiter vorgeschrittener Völker stattfanden.

* Güizot: Cours d'histoire moderne. Histoire de la civilisation en France, Bruxelles 1829, I, p. 204.

^ Ad. Pictet: Die alten Krankheits-Namen bei den Indogermanen in der ZeitBchr. f. vergl. Sprachforschung, Bd. V, S. 321 u. ff.

^ K. Weinhold: Altnordisches Leben, Berlin 1856, S. 385 u. ff.

^ Sigurdharkoida I, 17. Fafhismal 12. Sigrdrifiimal 9. Rigsmal 40. For- nalda sögur III, 276. Saxo Gramm. I, 1, 25. 33. 128. Prof. E. Heinzel in Wien hatte die Grüte, mich auf diese Stellen aufmerksam zu machen.

158 Der medidnisehe Unterricht im Mittelalter.

Snobei Stüeluson und Heatn Sweinbiöensson erlangten durch ihre glücklichen Kuren einen grossen Ruf. Der letztere soll sogar den Blasensteinschnitt mit glücklichem Erfolg ausgeführt haben. ^ Der mythische Vitolf galt als der Patron der nordischen Chirurgen. ^ Ingigerd, des Eussenkönigs Ingvar Tochter, gründete ein kleines Hospital und übergab dem lindhändigen Frauenvolk die Pflege der Kranken.^

Im 10. Jahrhundert gab es in Norwegen bereits eine Menge von Ärzten, welche ihre Kunst gewerbsmässig ausübten; man hatte sogar schon Hausärzte, welche reichlich belohnt wurden.* Es existirte auch bereits eine Medicinaltaxe; die Höhe des ärztlichen Honorars richtete sich nach der Schwere des Leidens, welches geheilt worden war.

In dem Südermannländischen Gesetzbuch, das allerdings erst 1327 veröffentlicht wurde, aber auf alten Einrichtungen beruht, wurde be- stimmt, dass nur Derjenige als Arzt anerkannt werde, der eine Hieb- wunde, einen Knochenbrucji, eine innere Verletzung, eine Verstümme- lung oder eine tiefe Stichwunde geheilt hat. Die Geburtshilfe blieb natürlich den Frauen überlassen. Übrigens wird bereits des Kaiser- schnitts gedacht.

Es wäre unrichtig, wenn man diese Nachrichten, von denen ein- zelne offenbar das Gepräge späterer Cultur-Einflüsse zeigen, auf die Germanen der ersten Jahrhunderte übertragen wollte, wie es von manchen medicinischen Historikern geschehen ist. Sie berechtigen höchstens zu einigen Vermuthungen über den Zustand der Heilkunde bei ihnen.

Die Kenntnisse und Einrichtungen, welche die Gothen, die Longo- barden, die Franken, die Burgunder und andere germanische Stämme aus ihrer Heimath in die von ihnen unterworfenen Länder mitbrachten, verschmolzen rasch mit Dem, was die vorangegangenen Culturperioden dort zurückgelassen hatten. Die Bereitwilligkeit, mit welcher sich die Sieger der höheren Bildung der besiegten Völker fugten, zeigt, dass sie fähig und reif genug waren, dieselbe in sich aufzunehmen. Ihre Heil- kunde ging auf in dem medicinischen Lehrgebäude, welches die Griechen und Eömer aufgerichtet hatten. Nur in der Volksmedicin erhielten sich einzelne Erinnerungen an die Arzneikunde der Kelten, Basken, Gaelen, Gothen und Angelsachsen.

In den Gesetzen der Westgothen, welche zum Theil schon im

^ Sagenbibliothek des skandinav. Alterthums, herausg. von P. £. Müller, übers, von K. Laghmann, Berlin 1816, S. 176. L. Faye-: Rafn Sweinbjörnsens liv og virksomhed, Kristiania 1878.

* Grimm: Mytholog. 994. 1101. » Weinhold a. a. 0. S. 390.

* Vapnfirdlinga saga, c. 13. 29.

Die Medicin der Germanen u. der UfUerricht in den Klostersckulen. 159

5. Jahrhundert niedergeschrieben wurden, aber ohne Zweifel viele rö- mische Elemente enthalten, wurde vorgeschrieben,^ wie viel der Arzt für verschiedene Kuren, z. B. die Staaroperation, verlangen durfte. Bevor er dieselbe unternahm, schloss er mit dem Kranken oder dessen Verwandten einen Vertrag, in welchem das ärztliche Honorar festgestellt wurde; doch durfte er darauf nur Anspruch machen, wenn die Behand- lung einen günstigen Erfolg hatte. Im anderen Falle musste er für den unglücklichen Ausgang derselben haften. Wurde dadurch der Tod eines Leibeigenen herbeigeführt, so wurde er genöthigt, den Schaden zu ersetzen; handelte es sich um Nachtheile, die der Gesundheit oder dem Leben eines Freigeborenen zugefügt worden waren, so wurde er zu einer entsprechenden Geldstrafe verurtheilt oder den Verwandten des Geschädigten oder Verstorbenen zur Bestrafung überliefert.

Bezeichnend für die sociale Stellung, welche der Arzt einnahm, ist es, dass er weibliche Personen aus dem Stande der Freien nur in Gegenwart ihrer Verwandten oder Dienstboten sehen und behandeln durfte, damit er derartige Gelegenheiten nicht zu unsittlichen Scherzen missbrauchte. Das westgothische Kecht enthielt auch Bestimmungen über die geistige Zurechnungsfahigkeit, über die Strafen der Verbrechen gegen die Person, z. B. deren Verletzung und Verstümmelung, über Kindesabtreibung und über geschlechtliche Vergehen.

Von besonderem Interesse ist die darin enthaltene Verordnung, dass der Arzt für den Unterricht in der Heilkunde, den er seinem Schüler ertheilte, ein Lehrgeld von 12 Solidi zu fordern berechtigt war; es geht daraus hervor, dass die Ärzte wie im Alterthum durch die persönliche Unterweisung eines Meisters in ihrer Kunst ausgebildet wurden.

Die Gesetzbücher der Alemannen, Salier, Ripuarier, Burgunder, Bajuvaren, Friesen, Sachsen und Longobarden enthalten ebenfalls Be- stimmungen über die Strafen von Verletzungen und anderer Verbrechen gegen die Person. ^

Die Erziehung der Ärzte geschah handwerksmässig. Der Lehrling der Heilkunde begab sich zu einem angesehenen Arzt, der ihn mit medicinischen Kenntnissen ausrüstete. Manche Ärzte suchten ihr Wissen in den grossen Städten des byzantinischen Reiches und Italiens zu ver- vollständigen. Auch befanden sich unter ihnen viele Griechen, Römer und Juden, welche namentlich als Ärzte an den fürstlichen Höfen ge- sucht waren.

* Leg. Wisigoth, lib. XI, tit. 1, de medicis et aegrotis. F. Dahn: West- gothische Studien, Würzburg 1874, 8. 3. 61. 145. 220. 229. 280 u. m.

* Corpus juris German. antiq. ed. F. Walter, Berol. 1824, T. I.

160 Der mediciniscke Unterricht im Mittelalter,

Der griechische Arzt Peteus ^ wirkte als Leibarzt des Westgothen- Königs Theodorich 11. Am Hofe der Merovinger bekleideten dieses Amt Mabilelf von Poitiers, welcher sich aus dem niedrigsten Stande zu dieser Stellung emporgeschwungen hatte, und Reoval, der seine ärztliche Bildung in Konstantinopel erworben hatte. ^ Der letztere führte eine Hoden-Exstirpation mit glücklichem Erfolge aus. Die Thätig- keit eines Leibarztes am fränkischen Hofe war zwar sehr einträglich, wie die Keichthümer Maeileip's beweisen, aber auch mit manchen Gefahren verbunden. Als Austrigildis, die Gemahlin des Königs Gun- tram, von einer Seuche, welche i. J. 580 wüthete, dahingerafft wurde, verlangte sie, dass ihre beiden Ärzte Nicolaus und Donatus sofort nach ihrem Tode hingerichtet würden, zur Strafe dafür, dass sie sie nicht gerettet hatten, und der fromme Guntram hielt sich für ver- pflichtet, den letzten Wunsch seiner sterbenden Gattin zu erfüllen.^

Karl der Grosse soll arabische Ärzte zu Rath gezogen haben, wie BuLAEüS und Feeind behaupten;* doch sind diese Angaben, wenn sie auch bei dem Ansehen, welches damals die arabische Medicin genoss, gerade nicht unwahrscheinlich klingen, doch nicht durch den Nachweis der Quellen verbürgt. Sicher ist, dass einer seiner Leibärzte den deut- schen Namen Wintaeus führte.^

Im Leben Ludwigs des Frommen wird erzählt, dass die Gemahlin Karls, Hildegard, ihm zwei Sohne gebar, von denen der eine sofort nach der Geburt gestorben sei, der andere, nämlich Ludwig, aus dem Schooss der Mutter gehoben und künstlich ernährt worden sei® Ob es sich dabei um den Kaiserschnitt oder um eine durch Manualhilfe vollzogene Geburt handelt, ist ungewiss. Der grosse Karl hatte übrigens über die Medicin eine geringe Meinung,^ welche sich vielleicht aus dem verwahrlosten Zustande der Heilkunde seiner Zeit erklärt

Es war daher begreiflich, dass er bemüht war, diese Wissenschaft zu heben und die Kenntniss derselben zu verbreiten. Aus diesem Grunde erliess er in dem Capitulare von Diedenhofen (ThionviUe) V. J. 806 die Vorschrift, dass die Knaben in der Heilkunst unterrichtet werden sollten.^ Meyee® glaubt, dass sie nur eine Anleitung zur

* Fbedegae: Chron., c. 27, übers, v. 0. Abel.

« Gkegob V. Tours V, 14. VII, 25. X, 15. » Gbegor v. Tours V, 35.

* Fbeind: Hißt, med., p. 148.

* Eigil's Leben des Abtes Sturm von Fulda, c. 25, Ed. Migne, T. 105, p. 443. ® J. L. W. Schmidt im Progr. des hess. Gymnas. zu Giessen 1872, S. 5.

' Einhard: Vita Caroli Magni, c. 22, ed. Pertz, Hanno v. 1863.

* Pebtz: Mon. Germ. III, p. 131, De medicinali arte ut infantes hanc discere mittantur. ® Meyeb a. a. 0. III, 413.

Die Medidn der Germanen u. der Unterricht in den Klostersohulen, 161

Krankenpflege erhalten hätten, da man „Kinder doch nicht Medicin studieren lasse". Aber das Studium dieser Wissenschaft wurde im Alterthum schon in früher Jugendzeit begonnen. Ausserdem befanden sich in den Schulen jener Zeit Knaben von 14 und 15 Jahren.^

Übrigens wird sich dieser Unterricht zunächst wohl nur auf die Lektüre medicinischer Schriften des Alterthums, welche erklärt wurden, beschränkt haben, wie dies auch in vielen Klosterschulen der Fall war. Später lernten die Schüler die Arzneipflanzen kennen, wozu ihnen in den kaiserlichen Gärten Gelegenheit jgeboten wurde. ^

Auch die Ausübung der praktischen Heilkunde scheint man in den Bereich des Unterrichts gezogen zu haben. Die Worte in Alcuin's Gedicht an Karl den Grossen^ lassen sich kaum anders deuten, als dass in der Nähe des Hofes ein Krankenhaus bestand, in welchem die Ärzte ihre verschiedenen Verrichtungen vornahmen. „Der Eine öfl&iete den Kranken die Ader, ein Anderer mischte Kräuter im Topf, Jener kochte einen Brei, während Dieser ein Getränk bereitete."

Als Vorbild für diese Einrichtungen dienten wahrscheinlich die Krankenanstalten, welche mit vielen Klöstern verbunden waren. Die Mönche beschäftigten sich eifrig mit der Krankenpflege. „Lernet die Eigenschaften der Kräuter und die Mischungen der Arzneien kennen," rief ihnen Cassiodob zu;* „aber setzt alle euere Hoffnung auf den Herrn, der Leben ohne Ende gewährt. Wenn euch die Sprache der Griechen nicht unbekannt ist, so habt ihr das Kräuterbuoh des Dio- SKORiDEs, welcher die Pflanzen des Feldes mit überraschender Richtig- keit beschrieben und abgebildet hat. Nachher lest den Hippokbates und Galen in lateinischer Übersetzung, d. h. die Therapeutik des letz- teren, welche er an den Philosophen Glaucon gerichtet hat, und das Werk eines ungenannten Verfassers, welches, wie die Untersuchung ergiebt, aus verschiedenen Autoren zusammengetragen ist. Femer

^ J. Ch. f. Baehr: De literarum studiis a Carolo Magno revocatis ac schola Palatina instaurata, Heidelberg 1856, S. 26, Anm. 33.

2 Capit. de villis. Vergl. Meyer a. a. 0. HI, S. 397 u. flF. ^ Alcuinii carmina, Ed. E. Dümmler in Mon. Germ. Poet, lat, 1. 1, p. 245, No. XXVI, V. 12-16.

Äceurrunt mediei mox Hippocratiea secta; Hie venas fundit herbas hie miscet in olla, lue coquif pvUeSy alter sed poetUa praefert; Et tarnen, o mediei, eunciis impendite gratis Ut manibus vestris adsit henedictio Christi. Wenn man anstatt seeta in der ersten Zeile teeta liest, so erscheint die Beziehung auf ein Hospital noch deutUcher.

^ Cassiodor: Inst, divin. lect. I, c. 31.

PüSCHMAKN, Unterricht. 11

162 Der medidnische Unterricht im Mittelalter.

studiert die Medicin des Aureliijs Caelius, das Buch des Hippokbates über die Kräuter und Heilmethoden' und verschiedene andere Schriften über die Heilkunst, welche ich in meiner Bibliothek aufgestellt und euch hinterlassen habe."

Unter den Benediktinern machten sich Einige, wie der Abt Ber- THABius zu Monte-Casino im 9. Jahrhundert, als Ärzte vortheilhaft be- kannt:^ Vielleicht schon in früher Zeit wurden dort fromme Pilger und Kranke aufgenommen und gepflegt, wie es der Gründer des Ordens, der hl. Benedikt, im Orient gesehen und dann vorgeschrieben hatte. Doch stammen die sicheren Nachrichten darüber, dass in Monte- Casino Anstalten dieser Art bestanden, erst aus dem 11. und 12. Jahr- hundert. 2

Die Sitte, die hilfsbedürftigen Kranken in die Kirchen und Klöster zu bringen, damit die Priester sie mit Weihwasser besprengen und für ihre Genesung Gebete verrichten, erlangte in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters allgemeine Verbreitung. Daraus entwickelte sich all- mälig die Einrichtung, dass dort Anstalten errichtet wurden, in denen Gebrechliche und Leidende. Unterkunft fanden. Die Priester und Mönche, welche darüber die Aufsicht führten und den Kranken als Rathgeber zur Seite standQn, wandten ausser den psychischen Mitteln auch heil- same Kräuter und andere Medicamente an, deren günstige Wirkung sie aus der medicinischen Literatur oder durch die eigene Erfahrung kennen gelernt hatten.

Auf diese Weise wurden die medicinischen Kenntnisse zu einem Bestandtheil der Bildung des Geistlichen, deren er bei der Ausübung seines Berufs bedurfte. Die Schulen des Mittelalters, welche die Er- ziehung des Klerus als ihre wichtigste Aufgabe betrachteten, suchten diesem Bedürfiiiss zu genügen, wenn sie die Heilkunde, allerdings nur in rein theoretischer Weise, in ihren Lehrplan aufnahmen. So geschah es in vielen Klosterschulen, namentlich Galliens, z. B. in Rheims, Chartres, Fleury, Dijon, Bec in der Normandie und St Denis. ^

Auch der Reichthum an medicinischen Handschriften, welchen manche dieser Klöster besassen,* sowie die literarische Thätigkeit ihrer

^ S. DE Eenzi: Storia docum. della scuola medica di Salerno, 2. ed., Napoli 1857, p. 64 u. ff.

» TosTi: Storia deUa badia di Monte Casino, Napoli 1842, I, 229. 341 u. ff. II, p. 193. 209. 289. Reg. S. Bened. 86 in Mukatori Script, rer. Ital.

* J. B. L. Chomel: Essai historique sur la mMecine en France, Paris 1762.

* Die Bibliothek zu Tegemsee enthielt z. B. i. J. 1500 281 medicinische Schriften, wie Lammert (Volksmedicin u. medicin. Aberglaube in Bayern, Würz- burg 1868, S. 4) erzählt.

Die Mßdiein der Germanen u, dei' Unterricht in den Klosterschulen. 163

Mönche beweisen, dass die Heilkunde dort fleissig getrieben und stu- diert wurde.

Wenn die Schüler durch den Unterricht und die Lektüre medi- cinischer Schriften einige allgemeine Kenntnisse der Heilkunst erworben hatten, so werden sie vielleicht darin auch praktisch ausgebildet worden sein, indem sie unter der Aufsicht ihres Lehrers Arzneipflanzen auf- suchten und sammelten, die Bereitung der Medicamente übten und bei der Behandlung der Kranken Dienste leisteten. Es' ist sehr wahrschein- lich, dass sich diese Verhältnisse ungefähr so gestalteten, wie es der Verfasser des Tagebuchs^ des Walafridus Strabo mit fruchtbarer Phan- tasie und anerkennenswerther Sachkenntniss schildert.

Manche Lehrer der Heilkunde erlangten grossen Ruf. So erzählt ßiCHEB, dass er i. J. 991 zu Heeibeand nach Chartres reiste, um von ihm die Erklärung der Aphorismen des Hippokbates zu hören. Der- selbe unterrichtete ihn auch in der Semiotik der Krankheiten und lehrte, worin Hippokeates, Galen und Soeanus übereinstimmen. Er besass bedeutende Kenntnisse in der Arzneimittellehre, Botanik und Chirurgie, wie Bichee rühmend hervorhebt ^ Aus der Schule von Chartres gingen viele berühmte Ärzte hervor, unter ihnen Johann, der Leibarzt Heinrich I. von Frankreich. An der bischöflichen Schule zu Kheims wirkte Geebeet d'Aüeillac, als Pabst unter dem Namen Sylvester II. bekannt, eine Zeitlang als Lehrer der Medicin.

Am Hofe Karls des Grossen bestand ausser der Palastschule, in welcher die Kinder des Kaisers und einiger vornehmen Würdenträger unterrichtet wurden, eine Art von Akademie, zu deren Mitgliedern die bedeutendsten Gelehrten jener Zeit gehörten. Sie führten als solche besondere Namen; Alcuin hiess Flaccus, Karl selbst wurde König David genannt. Sie beschäftigten sich mit Theologie, Philosophie, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Latein, Griechisch, Geschichte, Geographie und Poesie.^ Diese Akademie scheint aber nur kurze Zeit bestanden zu haben, während die Hofschule noch in der Mitte des 9. Jahrhunderts blühte.

Im J. 789 beschloss die Synode von Aachen, dass in jedem Kloster und Domstift eine Schule sei, in welcher die Knaben die Psalmen, die

^ Dasselbe wurde in dem Jahresbericht der Erziehungsanstalt des Benedik- tinerstifts zu Maria-Einsiedeln (1856/57) veröffentlicht, ist aber eine Dichtung des P. Martin Marty und keineswegs echt, wie einzelne Autoren seltsamer Weise geglaubt haben.

* Pertz: Monum. Germ., T. V (script III), p. 643.

^ W. F. C. Schmeidler: Die Hofschule und die Hof- Akademie Karls des Grossen, Breslau 1872.

11*

164 Der medidnische Unterricht im Mittelalter.

Schriftzeichen, den Gesang, das Berechnen der kirchlichen Feiertage und die lateinische Grammatik erlernen könnten.^ Das Muster dieser Unterrichtsanstalten war die Schule zu Tours, wo Alcuin seit 796 als Abt des St. Martin-Klosters lebte.

Berühmte Schulen dieser Art entstanden in Fulda, Hersfeld, Corvey, Eeichenau, St. Gallen, Mainz, Worms, Speyer, Köln, Münster, Bremen, Hildesheim, Magdeburg, Paderborn, Halberstadt, in Salzburg, Freising, Passau, Tegemsee, Benediktbeuem, Regensburg, in Mailand, Parma und anderen Orten Italiens, ebenso bei vielen Klöstern Frankreichs, in Eng- land, z. B. in Canterbury, und in Irland.

Dem Unterricht, der dort ertheilt wurde, lag die Lehrmethode der römischen Schulen zu Grunde. Die Unterrichtsgegenstände wurden in einer bestimmten Reihenfolge vorgetragen und umfassten in der einen Abtheilung die drei sprachlichen Fächer, nämlich die Grammatik, Rhe- torik und Dialektik, und in der anderen die Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Man nannte dies das Trivium und das Qaa- drivium.

Die Begriffe dieser Lehrgegenstände deckten sich aber keineswegs mit den heutigen; denn in der Rhetorik wurden z. B. nicht blos die Grundregeln der Beredsamkeit gelehrt, sondern auch der lateinische Geschäftsstyl geübt, da die Geistlichen zu jener Zeit die Urkunden aus- stellten und die Kanzleigeschäfte besorgten. Daran schloss sich häufig das Studium des Rechts und der Gesetze. Unter Geometrie verstand man hauptsächlich die Geographie und die Erdbeschreibung, deren Kenntniss Heabanus Maubus namentlich für die Ärzte als nothwendig erachtete, weil sie dadurch die eigenthümlichen klimatischen Verhält- nisse der verschiedenen Gegenden und die Lage der einzelnen Orte kennen lernen und sich darnach bei den Verhaltungsmassregeln, die sie bei den Krankheiten ertheilen, richten könnten. ^ Auch wurde damit der Unterricht in den Naturwissenschaften verbunden, indem die wich- tigsten der damals bekannten Thatsachen aus den drei Naturreichen, aus der Anthropologie und Meteorologie gelehrt wurden.

Später wurden überall, wo eine Pfarrei war. Schulen gegründet. Der Unterricht beschränkte sich hier auf die elementaren Gegenstände. Seit dem Aufblühen der Städte, seit dem Ende des 12. Jahrhunderts entstanden auch Stadtschulen, welche das gleiche Lehrziel anstrebten,

^ F. A. Specht: Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland von den ältesten Zeiten bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1885, S. 21.

* Specht a. a. 0. S. 145. St. Fellneb: Compendium der Naturwissen- schaften an der Schule zu Fulda im 10. Jahrhundert, Berlin 1879, S. 28.

Die Medidn der Germanen u, der Unterricht in den Klostersckulen. 165

wie die Kloster- und Stiftsschulen, und sie in ihren Leistungen manch- mal sogar übertrafen.

Dies war die Vorbildung, welche die unterrichteten Ärzte jener Zeit, besonders diejenigen, die dem geistlichen Stande angehörten, be- sassen. Dass es neben ihnen viele Heilkünstler gab, welchen dieselbe mangelte, unterliegt keinem Zweifel. Die grosse Menge der Empiriker blieb ohne Kenntniss der medicinischen Literatur und lernte die Heil- kunde wie ein Handwerk.

Die wissenschaftliche Bearbeitung der Medicin lag gänzlich dar- nieder. Der Schatz des Wissens, den man aus dem Alterthum über- nommen hatte, wurde nicht vermehrt, ja nicht einmal unversehrt er- halten. Es gab in jener Periode keine Naturforschung und kaum eine Naturbeobachtung.

Die medicinische und naturwissenschaftliche Literatur bestand hauptsächlich in Auszügen und Bearbeitungen der älteren Werke. Nur selten fanden darin selbstständige Ideen und Erfahrungen einen Platz. Hierher gehören das Keceptbuch des Mailänder fi'zbischofs Benedictus Crispüs, das encyklopädische Werk des Heabanüs Maxtrus, Erzbischofs von Mainz und primus praeceptor Germaniae, was K. Schmid als „erster Schulmann Deutschlands" übersetzt, ferner die Schilderung der Pflanzen des Walafbidüs Stbabo, Abtes von Reichenau, die medicinischen Schriften des Abtes Bertharius, des räthselhaften Macer Floridus Buch über die Heilkräfte der Pflanzen, der Lapidarius des Bischofs Marbod von Rennes, der Bestiarius des Engländers Philipp von Thaün, die Naturlehre seines Landsmanns Alexander Neckam, die Physica der hl. Hildegard, Äbtissin des Klosters auf dem Rupertsberge bei Bingen, „eine unverkennbar aus der Volksüberlieferung geschöpfte Heilmittellehre" wie Meyer ^ dieses Buch treffend kennzeichnet, und der vielbesprochene Physiologus.

Das geistige Leben des christlichen Europas jener Zeit glich einer durch ihre einförmige Flachheit und öde Unfruchtbarkeit ermüdenden Landschaft; nur selten begegnet dem Wanderer ein Punkt, welcher seinen Blick zu fesseln vermag.

Da tauchten im Süden unseres Welttheils Bilder voll berauschen- der Farbenpracht auf, welche den Muth neu belebten und die Brust mit Hofl&iung erfüllten. Das glänzende Gestirn der arabischen Cultur ergoss sein Licht über diese Länder und sandte einige Strahlen nach den übrigen Theilen des christlichen Abendlandes, welche hier erwär- mend und zugleich aufklärend wirkten.

^ Meyer a. a. 0. HI, 518.

166 Der medicinische Unterricht im Mittelalter,

ie Sohule von Salemo.

In Salerno in Unter -Italien, wo sich der Einfluss der Araber in Folge der Nachbarschaft Siciliens, welches lange Zeit ihrer Herrschaft unterworfen war, zunächst geltend machte, ^ entstand eine medicinische Schule, welche schon im 10. Jahrhundert einen weitverbreiteten Kuf erlangte.

Der Ursprung derselben ist unbekannt, obwohl schon viel darüber geschrieben worden ist Wenn man von den leeren Yermuthungen absieht, welche einzelne Autoren darüber ausgesprochen haben, so treten folgende Meinungen in den Vordergrund. Einige glaubten, dass sie schon im 7. Jahrhundert existirt und an die Traditionen des Griechen- thums angeknüpft habe, welches sich in Sprache und Sitte in jenen Gegenden länger erhielt, als im übrigen Italien; * Andere,, wie K. Sprengel, PucciNOTTi^ und eine Zeitlang auch S. de Renzi, leiteten die Grün- dung derselben von den Benediktinern ab, welche in Monte-Casino, in La Cava und Salemo selbst Klöster errichtet hatten, während Hatt.er u. A. dieselbe den Arabern zuschrieben. ^Ieyer* stellte die Hypothese auf, dass in Salemo Anfangs eine Gilde, eine Zunft der Ärzte bestanden habe, welche ihre Lehre geheim hielt, und dass die letztere erst durch CoNSTANTiN Africanus veröffentlicht und dadurch der Grund zur Ent- wickelung einer ärztlichen Unterrichtsanstalt in unserem Sinne gelegt worden sei. Überzeugende Beweise für diese Ansichten wurden von Niemandem geliefert.

Die historischen Thatsachen der Salernitanischen Medicin reichen bis in die Mitte des 9. Jahrhunderts zurück; in Documenten v. J. 848 und 855 werden die dortigen Ärzte Josef und Josua erwähnt. ^ Um d. J. 900 lebte Ragenifbid, ein Longobarde, wie der Name zeigt, als Leibarzt des Fürsten Waimar von Salemo, und ein halbes Jahrhundert später der Arzt Petrus, welcher beim Fürsten Gisulf in hoher Gunst stand und zum Bischof von Salemo erhoben wurde. In dieser Zeit treten noch andere Ärzte auf, welche dem geistlichen Stande ange- hörten; aber neben ihnen übten in Salemo auch jüdische Ärzte die Heilkunst aus, wie durch historische Zeugnisse festgestellt ist.*

* Vergl. A. F. v. Schack: Poesie und Kunst der Araber in Spanien und Sizilien, Berlin 1865, II, 1—252.

* G. MoROsi: Stndij sui dialetti greci della terra d'Otranto, Napoli 1870. ' Storia della medicina, Livomo 1855, II, p. 247 u. ff.

* a. a. O. III, 451.

' S. DE Renzi: Storia docum. della scuola med. di Salemo, Napoli 1857, p. 157 u. ff. « S. DE Renzi: Collectio Salemitana III, 325, Napoli 1352.

Die Schule von ScUemo. 167

Die Ärzte Salerno» hatten im 10. Jahrhundert bereits einen sol- chen Ruf, dass sie als Leibärzte an fremde Höfe gezogen wurden. Einer derselben spielte am Hofe Ludwigs des Einfältigen von Frankreich eine merkwürdige Rolle. Er war Arzt der Gemahlin desselben, als sich zwischen ihm und seinem GoUegen Deboldus, welcher als ärztlicher Beistand des Königs diente und später Bischof von Amiens wurde, ein wissenschaftlicher Wettkampf entspann, der wie Richeb^ erzählt, die Folge hatte, dass sie sich aus Neid gegenseitig zu vergiften trachteten

Vornehme Kranke suchten bereits zu dieser Zeit Salemo auf, um die Hilfe der dortigen Ärzte in Anspruch zu nehmen. Aus diesem Grunde begab sich Bischof Adalberon von Verdun i. J. 984 dorthin, fand aber keine Heilung von seinem Leiden. ^ Auch der Abt Desiderius, welcher nachher unter dem Namen Victor III. den päbstlichen Thron bestieg, hofifte hier seine durch Nachtwachen und Fasten zerstörte Ge- sundheit wieder zu erlangen.^ Herzog Guiscard schickte seinen Sohn Bohemund hierher, damit seine im Kriege erhaltene Wunde geheilt werde; wegen derselben Ursache verweilte auch Wilhelm der Eroberer, der spätere König von England, in Salerno. Der Ruhm seiner Ärzte wuchs mehr und mehr, und aus fernen Ländern kamen die Patienten, um sich von den dortigen Ärzten behandeln zu lassen. Der Minne- sänger Hartmann von der Aue verlegte den Schauplatz seines rüh- renden Gedichts „Der arme Heinrich" hierher, liess seinen Ritter aber nicht durch die Kunst der Ärzte, sondern durch ein Wunder vom Aussatz genesen.

Über das Alter und die Entstehung der Schule von Salerno wusste man schon im 11. Jahrhuadert nichts Bestimmtes anzugeben. Der als Dichter und Arzt bekannte Alphanus, welcher später zum Erzbischof von Salemo erhoben wurde, schreibt, dass die Heilkunst dort schon vor Guaimarus IL, d. i. im 9. Jahrhundert geblüht habe.*

Der normannische Historiker Ordericus Vitalis, welcher um d. J. 1140 lebte, erzählt, dass, als der berühmte Rodolfus, genannt Mala Corona, nach Salemo kam, dort schon seit alter Zeit bedeutende medicinische Schulen bestanden.^ Auch bei einer anderen Gelegenheit bezeugt dieser Autor ihren längst bestehenden Ruhm.

* Richer: Hist., lib. H, c. 59 in Pebtz: Monum. German., T. V (script. III), p. 600.

* Gest. episcop. Virdun. in Pebtz: Mon. Germ., T. VI (script. IV), p. 47 u. Hugo Flav. Chron., lib. I in Pebtz: Mon. Germ., T. X (script. VIII), p. 367.

' de Renzi: Storia doc. della scuola, p. 150.

* DE Renzi: Collect. Salern. I, p. 95, Anm.

^ Ord. Vit. Hist. eccles. III in Hist. Nonnann. scriptor. ed. Duchesne, Paris 1619, p. 477 „ubi maximae medicorum scholae ab antiquo tempore habentitr^'.

168 Der medioinische Unterricht im Mittelalter.

In der alten Chronik von Salemo, welche Ant. Mazza benutzte und dann Salv. de Eenzi wieder auffand,^ wird berichtet, dass die dortige medicinische Schule von vier Ärzten gestiftet wurde, nämlich vom jüdischen Rabbi Elinüs, dem Griechen Pontus, dem Sarazenen AdatjA und einem Salemitaner, welche in ihrer Muttersprache vortrugen. Unter den ersten Lehrern werden Guglielmus de Bononia, Michael

SCOTTUS, GüGLIELMÜS DE RaVEGNA, EnRICUS DE PaDUA, TeTULUS

Graecijs, Salomonus Ebbaeus und Abdana Saracenus genannt. Es ist selbstverständlich, dass diese Nachrichten nicht als historische That- sachen angesehen werden dürfen; aber es liegt darin wahrscheinlich ein Körnchen Wahrheit verborgen. Man wollte damit andeuten, dass zu der Gründung der Schule von Salemo Angehörige verschiedener Nationen, Juden, Araber, Griechen und Lateiner, beigetragen haben, dass der Unterricht dort Anfangs in verschiedenen Sprachen ertheilt wurde, und dass die medicinische Lehre der Salernitaner sich aus den wissenschaftlichen Errungenschaften der Griechen und Römer, der Hebräer und Araber entwickelte. Einzelne der angeführten Namen sind durch eine imrichtige Schreibweise verdorben; es ist leicht zu er- kennen, dass Elinus aus Elias entstanden ist, und Pontus in Gario- pontus, Adala in Abdallah verbessert werden muss.

Aus diesen Mittheilungen ergiebt sich, dass wir nicht wissen, wann und wie die Schule von Salerno entstanden ist. Die Anfange derselben waren entweder so bescheiden, dass sie unbemerkt blieben, oder sie reichen so weit in der Zeit zurück, dass sich Niemand daran erinnern konnte.

Die wechselvollen politischen Schicksale dieser Stadt, welche ihre Bewohner mit den Römern und Griechen, den Longobarden, Arabern und Normannen in Berührung brachten, mussten tiefe Spuren in ihrer Cultur-Entwickelung hinterlassen und einen mächtigen Einfluss ausüben auf alle Gebiete des geistigen Lebens.

In Italien erhielt sich die im Alterthum gebräuchliche Einrichtung, dass Privat -Gelehrte Schüler annahmen uad in ihren Wissenschaften unterrichteten, auch im Mittelalter. ^ Wenn die Arzte diesem Beispiel folgten, so wird es ihnen in Salemo, dessen mildes Klima und herrliche

^ Mazza: Urbis Salern. bist, et antiq., Nap. 1681, abgedruckt in Graevius et Pübmann: Thesaur. antiq. et hist. Italiae, Lugd. Bat. 1723, t. IX, pars 4. DE Renzi: Storia docum., p. XXYI u. ff. u. Collect Salem. I, p. 106 u. ff.

* W. Giesebrecht: De litterarum studiis apud Italos primis medii aevi saeculis, Berol. 1845, p. 15. S. de Renzi (Storia docum., p. 161) führt eine grosse Anzahl von Ärzten an, welche zur Zeit der Longobarden in Italien prak- tizirten; einer derselben wird zugleich als magister scolae bezeichnet.

Die Schule von Salemo. 169

Lage an der Meeresbucht, unweit von schattigen Wäldern und heil- kräftigen Mineralquellen, die Kranken aus weiter Feme anzogen, niemals an Schülern gefehlt haben.

Es ist nicht bekannt, wann die Ärzte, welche in Salemo die Heil- kunst lehrten, sich zu einer gemeinsamen Wirksamkeit verbanden und eine Organisation gaben. Anfangs durfte, wie es scheint, als Lehrer der Heilkunde jeder Arzt auftreten ohne Unterschied der Nationalität und des religiösen Glaubens. Später befanden sich unter den dortigen Lehrern der Medicin viele Geistliche, von denen einige sogar zu hohen kirchlichen Würden gelangten. Aber niemals gewannen dieselben das ausschliessliche Recht, zu lehren, wie dies an den meisten übrigen Hochschulen des Mittelalters üblich wurde. Zu allen Zeiten bewahrte die Anstalt ihren weltlichen Charakter, welcher in ihrer Entstehung begründet war.

In Salerno wurden sogar die Frauen zur Lehrthätigkeit zugelassen, und einige derselben traten auch als medicinische Schriftstellerinnen auf. Am meisten bekannt unter den weiblichen Ärzten wurde Trotüla, die Verfasserin eines oft citirten Werkes über die Krankheiten der Frauen und die Behandlung derselben vor, während und nach der Geburt. In ihren Schriften erörterte sie alle Theile der Pathologie, selbst die für das weibliche Gefühl recht peinlichen Erkrankungen der männlichen Geschlechtstheile. Ihre Berufsgenossin Abella schrieb de natvra seminis humani. Einer späteren Zeit gehören die durch Schön- heit und Klugheit gleich ausgezeichnete Costanza Calenda, die Tochter des Priors (Vorstandes) der medicinischen Schule, femer Meecubiade und Rebecca Guaena an.

In der ersten Zeit des Bestehens der Schule von Salerno waren die Lehrer derselben wahrscheinlich nur auf die Honorare angewiesen, welche ihre Schüler für den Unterricht zahlten. Später empfingen sie bestimmte Besoldungen, welche verschieden waren und bei Einzelnen 12 Unzen Goldes jährlich betrugen; im Verlauf der Zeiten wurden dieselben natürlich erhöht. Auch erhielten die Lehrer Steuerfreiheit und zuweilen auch die Nutzniessung von Häusern und Grundstücken. ^

Den medicinischen Unterricht ertheilten gleichzeitig mehrere Lehrer, wie aus dem von S. de Eenzi mitgetheilten Verzeichniss derselben hervorgeht. ^

Zu ihren Vorträgen hatten Angehörige aller Nationen Zutritt;

^ DE Renzi: Collect. Salem. I, 366 u. ff. Storia docum. a. a. 0. Anhang, Docum. No. 296 u. ff.

» DE Eenzi: Collect. Salernit. I, 517. HI, 326 u. ff. Es enthält 340 Namen auf einen Zeitraum von ungefähr 1000 Jahren.

170 Der medicinisehe Unterriehi im MittelcUter.

ebensowenig bildete dabei das Geschlecht oder die Beligion ein Hin- demiss. Sehr zahlreich waren unter ihnen im 11. Jahrhundert die israelitischen Studenten vertreten, wie Mazza berichtet Wenn dagegen der jüdische Reisende Benjamin von Tudela erzählt, dass er, als er i. J. 1160 Salemo besuchte, unter seinen vielen dort lebenden Glaubens- genossen keinen einzigen Arzt getroffen habe, so widerspricht diese Angabe allen übrigen Nachrichten, nach welchen es theils ausdrücklich bezeugt wird, dass einzelne Salemitanische Ärzte der mosaischen Reli- gion angehörten, theils aus deren Namen vermuthet werden darf.^

Aus weiter Ferne kamen die Studierenden, um sich in Salemo der Heilkunde zu widmen, sogar aus Deutschland und Frankreich. Ein Student aus Köln, welcher im 12. Jahrhundert in Salemo medicinisehe Vorlesungen besucht hatte, von dort aber wegen Krankheit in seine Heimath zurückkehren musste, klagt in einem Gedicht über die ihm verhassten betrügerischen Leute von Salemo.* Ein anderer Schüler, Aegidius (Gilles) von Corbeil, welcher später als Canonicus und Leibarzt des Königs Philipp August von Frankreich in Paris lebte, verkündete dort in Wort und Schrift den Ruhm der medicinischen Schule von Salemo.

Über die Art des Unterrichts in den einzelnen Disciplinen ist Folgendes bekannt:

Die Anatomie wurde an Schweinen gelehrt. In der von einem ungenannten Verfasser herrührenden Demonstratio anatoniica, welche offenbar einen CoUegien -Vortrag bildete, werden Vorschriften ertheilt, wie dabei verfahren werden sollte. Damach wurde das Thier durch die Durchschneidung der Halsgefasse getödtet, dann an den Hinter- beinen aufgehängt und, nachdem es ausgeblutet hatte, zum Unterricht benutzt.. Derselbe beschränkte sich, wie es scheint, hauptsächlich auf die Eröf&iung der grossen Körperhöhlen und die Demonstration der darin gelagerten Organe. Daran schlössen sich einige Bemerkungen über die Gestalt und den vermeintlichen Zweck derselben beim Menschen. Maa stützte sich dabei auf die Schriften des Galen, Rufus und Thbo- PHiLus Pbotospatharius, ohne dass man deren wissenschaftliche Höhe zu erreichen vermochte. Auch Copho's Anatomie des Schweines bestand im Wesentlichen nur in einer Aufzählung der wichtigsten Körpertheile.

* Vergl. M. Steinschneider in Vibchow's Archiv, Bd. 38 (1867), S. 74 u. ff. ' Laudibus eternum ntdlus negat esse Salemum;

I litte pro morhis totus cireumfluit orbfs.

Nee debet sperni, fateor, doctrina Salemi

Qttamvis exosa mihi sit gens illa dolosa. Jac. Grimh: Gedichte des Mittelalters in Kleine Schriften, Berlin 1366, S. 64.

Die Schule 'von ScUemv. 171

Doch finden sich darin einige Hinweise auf eingehendere Untersuchungen und pathologisch-anatomische Beobachtungen. So wird z. B. gesagt^ dass man die Lunge durch Einfuhren eines Röhrchens von der Trachea aus aufblasen kann. ^ Femer ist von StoflFablagerungen im Herzbeutel und im Pleura-Sack die Rede.

Mehr Pflege widmete man der praktischen Heilkunde. Schon i. J. 820 wurde in Salerno vom Erzpriester Adelmus ein öffentliches Hospital gegründet, welches mit dem Beaediktiner-Kloster in Verbindung gebracht wurde. Später entstanden noch mehrere andere Krankenhäuser uad Wohlthätigkeitsanstalten, die mit reichem Besitz ausgestattet und von Krankenpfleger-Orden geleitet wurden. ^ Ob dort auch klinischer Unterricht ertheilt wurde, ist ungewiss.

Aechimatthaeus giebt in einer Schrift^ ausführliche Rathschläge, wie sich der Arzt beim Besuch des Kranken verhalten soll. Er möge sich unter den Schutz Gottes stellen, heisst es dort, und den Beistand des Engels, der den Tobias begleitete, anflehen. Auf dem Wege zu dem Kranken soll er den Boten, der ihn geholt hat, über die Verhält- nisse und Leidenszustände des Patienten ausfragen; denn wenn er später nach der Untersuchung des Pulses und des Urins keine bestimmte Diagnose zu stellen vermag, so wird er den Patienten wenigstens durch die genaue Kenntniss der Krankheitssymptome in Erstaunen setzen und dadurch sein Vertrauen gewinnen. Auch hält es der Verfasser für zweckmässig, dass der Kranke dem Priester beichtet, bevor der Arzt zu ihm kommt; denn „wenn davon erst später die Rede ist, so glauben die Kranken, dass sie verloren sind". „Wenn der Arzt die Wohnung des Patienten betritt, soll er weder hochmüthig noch gierig aussehen, soQdem mit bescheidener Miene grüssen, sich hierauf in der Nähe des Kranken niederlassen, ein Getränk, das man ihm anbietet, zu sich nehmen, und mit einigen Worten die Schönheit der Gegend, die Lage des Hauses und die Freigebigkeit der Famile loben, falls dies passend erscheint.^^ Hierauf wird die Art besprochen, wie der Puls und der Urin untersucht wird. „Wenn der Arzt den Kranken verlässt, soll er ihm versprechen, dass er wieder gesund werden wird, der Um- gebung desselben aber erklären, dass er schwer krank sei; denn wenn der Patient dann geheilt wird, so wird der Ruhm des Arztes um so grösser sein, wenn jener aber stirbt, so werden die Leute sagen, dass der Arzt dies vorausgesehen hat." Der Verfasser erörtert dann die

* DE Renzi: Collect. Salern. II, 389.

® DE Renzi: Storia docum. della scuola med. di Salerno, p. 563, Doc. 329.

* Anonymi Salemitani de adventu medici ad aegrotum ed. A. G. E. Th. Henschel, Vratist. 1850. de Renzi: Collect. Salernit. II, 74—81. V, 333—349.

172 Der medicinisohe Unterricht im Mittelalter.

Behandlung des Kranken, namentlich seine Ernährung, die Anwendung von Bädern und der Blutentziehungen und setzt dabei auseinander, wie sich der Arzt benehmen soll, wenn er vom Kranken zu Tisch ge- laden wird, „wie dies üblich ist", und wenn er das Honorar für die geleisteten Dienste fordert.

Diese Schrift ist ein seltsames Gemisch von reicher ärztlicher Er- fahrung, tiefer Frömmigkeit und schlauer Berechnung. Sie ist, wie aus der Schreibweise hervorgeht, offenbar für Anfänger in der Heilkunst bestimmt und wirft; ein merkwürdiges Licht auf die socialen Verhält- nisse des ärztlichen Standes jener Zeit.

Die ärztlichen Grundsätze der Salemitanischen Schule beruhten auf den Theorien des Alterthums. Die Säftelehre der Hippokratiker, die Communitäten der Methodiker und der Galenismus bildeten ihre Stützen, während in der Arzneimittellehre die Fortschritte, welche man den Arabern verdankte, ihren Platz erhielten.

Die Schilderung der Krankheiten ist naturgetreu und wird durch manche selbstständige Beobachtung veranschaulicht. Namentlich ver- dient die Beschreibung der Intermittens-Fieber, der Geistesstörungen,. Pneumonie, Phthisis, der Lepra, des Lupus (mcdurn mortuum) und der an den Geschlechtstheilen vorkommenden Geschwüre, unter denen der Schanker leicht zu erkennen ist, hervorgehoben zu werden. Die Salemi- tanischen Ärzte erkannten die üble prognostische Bedeutung mancher Symptome recht gut; so erklärten sie, dass Schwindsüchtige, bei welchen Durchfälle auftreten, bald darauf sterben.

In der Behandlung legten sie grossen Werth auf eine vernünftig geregelte Lebensweise und eine passende Ernährung. Wenn z. B. der Verdacht einer beginnenden Lungen-Phthisis vorlag, so Hessen sie den Kranken gut und kräftig nähren. Pneumoniker mussten sich in einer gleichmässig erwärmten Luft, z. B. im Wint,er im geheizten Zimmer, aufhalten.^ Zur Abkühlung der Luft des Krankenzimmers empfahl Afflacius die Einrichtung, dass beständig Wassertropfen zur Erde fallen und dort verdunsten. ^ Bei Milzanschwellungen verordnete man Eisen.

Die Chirurgie nahm einen niedrigeren Standpunkt ein, als zu den Zeiten der Griechen und Römer. Es lag dies theils an der Vernach- lässigung der Anatomie, theils daran, dass die Chirurgie weniger von den gebildeten Ärzten als von den Empirikern ausgeübt wurde, be-

^ DE Kenzi: Collect. SalerD. II, 215 u. ff.

DE Renzi: Collect. Salemit. II, 741 (ßat etiam artificialiter pluvioMs aqua circa aegrum).

Die Schule von Salemo. 173

sonders seitdem sehr viele Mitglieder des ärztlichen Standes dem Klerus angehörten.

In der älteren Zeit beschränkten sich die chirurgischen Kenntnisse hauptsächlich auf die Behandlung der Wunden, die Heilung der Knochen- brüche und das Einrichten der Verrenkungen. Erst am Ende des 12. Jahrhunderts unternahm es ein Arzt, die Grundsätze der Chirurgie, welche sich durch Tradition erhalten hatten, schriftstellerisch zu ver- treten. Dieses Werk, welches den Ruggiero zum Verfasser hat, aber häufig nach seinem späteren Bearbeiter Rolando genannt wird, zeigt, dass die Chirurgen der Salemitanischen Schule nicht so sehr in den Schriften der Alten als in der eigenen Erfahrung Belehrung suchten. Sie wurden dadurch freilich vor jenem kritiklosen Nachbeten fremder Beobachtungen, wie es in der arabischen Literatur häufig zu Tage tritt, bewahrt, aber zugleich der wichtigen Anregung und Correktur, welche die Kenntniss der Geschichte einer Wissenschaft bietet, bis zu einem gewissen Grade beraubt. Immerhin ist es bemerkenswerth, dass unter den Mitteln der Blutstillung neben den Stypticis auch der blutigen Naht und der Unterbindung gedacht wird.^ Zur Beseitigung des Kropfes wurde der innere Gebrauch des Meerschwammes empfohlen oder die Operation mittelst des Haarseils ausgeführt; um Recidiven zu verhüten, wurde dabei die ganze Kapsel exstirpirt. Auch wurde von der Massage des Kropfes Gebrauch gemacht. ^

Von den übrigen Operationen werden die Trepanation, die Ent- fernung der Nasenpolypen, die Resektion des Unterkiefers,^ die Ope- ration der Hernien, welche nach der Anleitung des Paulus Aegineta vorgenommen wurde, und der Steinschnitt nach der Vorschrift des Celsus genannt. Die Staaroperation geschah durch Sklerotioonyxis. Ferner ist von geschwürigen Zerstörungen im Gaumen und am männ- lichen Gliede die Rede, welche sich auf carcinomatöse und syphilitische Erkrankungen beziehen, sowie von bösartigen Geschwülsten des Mast- darms und der Gebärmutter.

Der Verfall der chirurgischen Operationskunst und die häufige Anwendung des Glüheisens beweisen den Einfluss der arabischen Heil- kunde. Noch schlimmer als mit der Chirurgie stand es mit der Ge- burtshilfe, obwohl dieses Fach von wissenschaftlich gebildeten Frauen

^ Chirurg. Rooebi in de Renzi: Collect. Salern. II, 436.

^ A. Wölfler: Die chirurg. Behandlung des Kropfes, Berlin 1887, S. 10 u. ff.

^ DE Rekzi: Collect. Salemit. II, 445. 518. 628. 650 (lib. II, der Glossen der vier Meister). Die räthselhaffcen vier Meister erinnern an die vier Doktoren der Rechtswissenschaft zu Bologna, von denen Saviont (Geschichte des römischen Rechte, Bd. IV, S. 68) spricht.

174 Der inedicinische üntenriGlit im MittekUter,

bearbeitet wurde. Die Tbotula deutet nur an einer einzigen Stelle ihres Werkes auf die Wendung hin.^ Im Allgemeinen bestand die Geburtshilfe hauptsächlich in der Anwendung innerer Medicamente und psychischer Mittel.

Eine feste abgeschlossene Organisation erhielt die Schule von Sa- lemo erst durch die von der Staatsbehörde angeordnete Einfuhrung von Prüfungen. König Roger (Ruggiero) erliess bereits i. J. 1140 das Gesetz: „Wer von nun an die ärztliche Praxis ausüben will, soll sich unseren Beamten und Richtern vorstellen und ihrem Urtheil unter- werfen. Wer so verwegen ist, dies zu unterlassen, wird mit Gefängniss und Gonfiskation seines Vermögens bestraft. Diese Anordnung hat den Zweck, die TJnterthanen unseres Reiches vor den aus der Unwissenheit der Arzte entspringenden Gefahren zu schützen." ^

Der Hohenstaufen-Kaiser Friedrich II. bestätigte dieses Gesetz und gab der medicinischen Schule zu Salemo i. J. 1240 eine ausführliche Studienordnung. „Da man die medicinische Wissenschaft nur dann verstehen kann," heisst es in seinen Verordnungen, „wenn man vorher etwas Logik gelernt hat, so bestimmen wir, dass Niemand zum Studium der Medicin zugelassen werde, bevor er sich nicht drei Jahre hindurch mit Logik beschäftigt hat. Nach diesen drei Jahren mag er, wenn er will, zum Studium der Medicin übergehen. Auf das letztere muss er fünf Jahre verwenden und sich innerhalb dieser Zeit auch Kenntnisse in der Chirurgie erwerben, weil dieselbe einen Theil der Heilkunde bildet. Nachher, aber nicht früher, darf ihm die Erlaubniss, zu prak- tiziren, ertheilt werden, vorausgesetzt, dass er sich dem von der Be- hörde vorgeschriebenen Examen unterzieht, und dabei ein Zeugniss darüber, dass er die gesetzmässige Zeit studiert hat, vorlegt."^

„Die Lehrer sollen während des Quinquenniums in ihren Vor- lesungen echte Schriften des Hippokbates und GaijEn über die Theorie und die Praxis der Heilkunde erklären."

„Aber auch wenn die vorgeschriebenen fünf Jahre des medicinischen Studiums vorüber sind, wird der Arzt nicht sofort selbstständig prakti- ziren, sondern noch ein volles Jahr hindurch in der Ausübung seines Berufs einen älteren erfahrenen Praktiker zu Rath ziehen."

* DE Renzi: Collect. Salern. I, 149 u. ff. v. Siebold a. a. 0. I, 317.

* Quisquis amodo mederi voluerit, officialibus nostris et judieibus se pre- sentety eorv/m discutiendus judicio; qttod si sua iemeritate presumpserit, carceri constringatn/r honis suis omnibus ptiblteatis. Hoc enim prospecium esty ne in regno nostro subjecH periclitentur ex imperitia medieorum, Hist diplorn. Fried. II. imperat. ed. Huillard-Br6holles, Paris 1854, T. IV, pars 1, p. 149, tit 44.

« Hist. diplom. Frid. II. a. a. 0. p. 235, lib. 3, dt. 46.

Die Schule von Scderno, 175

tTber die Beweggründe, welche die Einführung ärztlicher Prüfungen hervorriefen, wird gesagt: „Wir fördern den Nutzen des Einzelnen, indem wir für das allgemeine Wohl sorgen. Wenn wir demnach den schw^en Verlust und unersetzbaren Schaden ins Auge fassen, welcher aus der Unwissenheit der Ärzte entspringen kann, befehlen wir, dass in Zukunft; Niemand den Titel eines Arztes in Anspruch nehme und zu praktiziren oder zu kuriren wage, wenn er nicht zuerst zu Salemo in einer öffentlichen Versammlung durch das Urtheil der Lehrer für fähig befunden worden ist, sich dann durch schriftliche Zeugnisse seiner Lehrer sowohl als unserer Beamten über seine Ehrenhaftigkeit und seine wissenschaftliche Reife vor uns oder unserem Stellvertreter aus- gewiesen und in Folge dessen die staatliche Erlaubniss zur Ausübung der Praxis erhalten hat. Wer dieses Gesetz übertritt und ohne Licenz zu praktiziren wagt, wird mit Einziehung seines Vermögens und Ge- föngniss bis zu einem Jahre bestraft."^

In Bezug auf die Ausbildung der Chirurgen wurde bestimmt, „dass kein Chirurg zur Praxis zugelassen werde, bevor er nicht durch schrift- liche Zeugnisse der Lehrer der medicinischen Facultät den Nachweis geliefert hat, dass er wenigstens ein Jahr hindurch den Theil der HeU- kunde studiert hat, welcher die Befähigung zur Ausübung der Chirurgie verleiht, dass er in den CoUegien namentlich die Anatomie des mensch- lichen Körpers fleissig gelernt hat und auch darin vollkommen erfahren ist, wie die Operationen mit Erfolg ausgeführt werden, und auf welche Weise nachher die Heilung zu Stande kommt." ^

Wenn der Arzt die Prüfungen bestanden und die staatliche Er- laubniss zur Praxis erhalten hatte, so wurde ihm ein Diplom ausgestellt, welches lautete: „Notum fadrmis fidditati vestrae, qicod fidelis noster N. N. ad curiam nostram accedens, examinatus, inventus fidelis et de genere fidelium ortus et suffidens ad artemi medidnae exercendam, extitit per nostram curiam approhatibs. Propter qicod de ipsitis prudentia et le- galitate confisi, recepto ah eo in curia nostra fidelitatis sacramento et de arte ipsa fidditer eocereenda juxta consuettidinem jv/ramento, dedimvus ei licentiam exercendi artem medidnae in partibus ipsis: ut amodo artefin ipsam ad honor&m et fidelitatem nostram et saltUem eorum qm indigent, fideliter ibi debeat exercere. Quodrca fidditati vestrae praedpiendo man- da/mvs, quatemis ntUlus sit, qui praedictv/m N. N, fidelem nostrum super arte ipsa medidnae in terris ipsis, ut dictum est^ exercenda impediat de cetero vel perturbet/^^

^ a. a. 0. p. 150, tit. 45. * a. a. 0. p. 236.

^ Peter de Vineis: Epist., lib. VI, c. 24, Basil. 1740. Eist. dipl. Frid. II. a. a. 0. p. 150, Anm. 2.

176 Der medicmisohe Unterricht im Mittelalter.

In dem Eide, welchen der junge Arzt bei dieser Gelegenheit schwören musste, wurde er verpflichtet, „Armen unentgeltlich seinen Kath zu ertheilen und Apotheker, welche die Medicamente nicht den Vorschriften entsprechend zubereiten, der Behörde anzuzeigen."

Ferner wurde gesetzlich angeordnet, wieviel er für einen Kranken- besuch verlangen durfte. Darnach betrug die Maximaltaxe für eine Krankenvisite am Tage innerhalb der Stadt einen halben Gold-Tarenus, ^ ausserhalb des Ortes drei oder höchstens vier Tareni nebst Ersatz der Reisekosten.

Dem Arzt wurde es untersagt, mit den Apothekern Geschäftsver- bindungen einzugehen oder selbst eine Apotheke zu halten. Die Apo- theker wurden angewiesen, die Arzneien nach der Vorschrift der Ärzte zu bereiten und zu bestimmten Preisen zu liefern. Bevor sie zur Aus- übung ihrer Kunst zugelassen wurden, mussten sie sich durch einen Eid verpflichten, die Medicamente nach der vorgeschriebenen Form herzustellen und sich dabei keinen Betrug zu Schulden kommen zu lassen. Gleichzeitig wurde angegeben, welchen Preisaufschlag sich die- selben bei Arzneien, welche vielleicht lange Zeit vorräthig gehalten werden müssen, ehe sie zur Verwendung kommen, erlauben dürfen, und ein Gesetz über die Anzahl der Apotheken in den verschiedenen Städten des Landes in Aussicht gestellt. ^ Ausserdem wurden Inspek- toren ernannt, welche die Bereitung der Arzneien überwachen und deren Tadellosigkeit durch Zeugnisse bestätigen soUten; in Salerno selbst führten die Lehrer der Heilkunde die Aufsicht darüber.^

„Gleichzeitig verordnen wir," heisst es an derselben Stelle, „dass Niemand über Medicin und Chirurgie irgendwo Vorlesungen halte, als zu Salerno, oder den Titel eines Lehrers annehme, wenn er nicht in Gegenwart unserer Beamten und der Lehrer dieser Kunst sorgfältig geprüft worden ist." Den Beamten, welche bei der Ausführung dieser Gesetze ihre Pflichten verletzten, wurde die Todesstrafe angedroht.

Die Verordnungen des Kaisers Friedrich 11. dienten den späteren Einrichtungen des medicinischen Studiums als Muster. Sie bildeten die ersten Versuche einer staatlichen Organisation desselben.

Leider wurde in den folgenden Jahrhunderten der Einfluss der weltlichen Behörden hier wie auf anderen Gebieten durch die zu- nehmende Macht des Klerus zurückgedrängt. Diese Thatsache gab der Cultur eine eigenthümliche Färbung und beherrschte die Entwickelung der Universitäten bis in die neueste Zeit.

* Ein Gold-Tarenus war eine Goldmünze im Gewicht von 20 Gran. 2 Hist. diplom. Frid. 11. a. a. 0. p. 236. » a. a. 0. p. 151, tit 47.

Die Schule von ScUerno, 177

Die medicinische Schule zu Salemo erlebte im 11. und 12. Jahr- hundert ihre Blüthe. In dieser Zeit entfaltete sie eine reiche literarische Thätigkeit, von welcher die Werke eines Gabiopontüs, Peteoncellus, Alphanus, der beiden Copho, der Platearier, des Constantinüs Afei- CANüs, welcher durch seine Übersetzungen viel dazu beitrug, dass die Salemitanischen Ärzte mit der arabischen Heilkunde bekannt wurden, das Arzneibuch des Babtholomaeüs, welches schon bald nachher ins Deutsche übertragen wurde, ^ die Schriften des Afflacius, Abchimat- THAEüs, MusANDmus uud Aegidius von Cobbeil, die Receptensamm- lung des Nicolaus Pbaepositüs, die Uroskopie des Maubus, vor Allem aber die berühmten Gesundheitsregeln der Schule von Salemo, welche in alle Sprachen übersetzt wurden und mehr als 200 Auflagen erlebten, Zeugniss geben.

Im Jahre 1252 beschloss der König Konrad, die medicinische Schule zu Salerno zu einer Universität zu vervollständigen, an welcher auch die Jurisprudenz und die artes gepflegt werden sollten. Aber sein Plan kam nur theil weise zur Ausführung. König Manfred stellte i. J. 1258 die Universität Neapel, welche kurz vorher aufgehoben worden war, wieder her, und es blieb in Salerno nur die medicinische Schule be- stehen. Allerdings wurde dort neben der Heilkunde auch Rechts- wissenschaft gelehrt; aber es wurden in diesem Fach keine akademischen Würden verliehen.^

Als in Neapel und anderen Städten Italiens und Frankreichs me- dicinische Schulen entstanden, verminderte sich die Zahl der Studie- renden in Salemo. Dazu kam, dass auch die Lehrkräfte, welche dort wirkten, allmälig von denjenigen anderer Hochschulen übertroffen wurden, * und ihre wissenschaftliche Thätigkeit erlahmte. Schon Aegidius von CoBBBiii klagte darüber, dass in Salerno bartlose unreife Knaben die Würde des Arztes erhielten und als Lehrer der Heilkunde auftreten durften:

„0 wie tief bist Du von der Höhe des Ruhmes, Salerno,

Der einst so sehr Dich geschmückt, wie tief doch zu Boden gesunken!

Denn wie erträgst Du es doch, dass jetzt Deinem Boden entspriesset

Manch' unreifes Pflänzchen unwürdiger Söhne der Heilkunst,

Denen weit besser wohl ziemt Schulmeisters kräftige Ruthe

Und die gediegene Zucht des viel erfahrenen Alters,

Als dass sie selbst nun mit Pomp des Katheders Stufen betreten!"^

* Jos. Haupt in den Sitzungsber. d. K. Akad. d. Wiss., Philos.-histor. KL, Wien 1872, Bd. 71, S. 451 u. ff.

' J. A. DE NiGBis bei J. C. G. Ackermann : Regimen sanitatis Salemi, Stendal 1790, p. 83.

' Aegidiüs v. Coebeil: de medicam. compos., v. 569 u. ff. nach H. Haeseb in Nord u. Süd 1877, HI, 7, S. 145.

PuscHMANN, Unterricht. 12

178 Der medidnische Unterricht im Mittelalter.

Im 14. Jahrhundert sagte Peteakca: „Es geht die Sage, dass die Medicin in Salerno ihren Ursprung genommen hat, aber Alles fallt einmal dem welkenden Alter zur Beute."

In den darauf folgenden Zeiten sank die Schule von Salerno mehr und mehr, und alle Versuche, ihr durch Privilegien und Dotationen frisches Leben einzuflössen, waren vergeblich. Ein Dekret der fran- zösischen Eegierung, welche eine Zeitlang die Geschicke des Landes leitete, machte am 29. November 1811 der Existenz der ältesten me- dicinischen Schule Europas ein Ende.

Die medicinische Schule zu Montpellier.

Auch die Entstehung der medicinischen Schule zu Montpellier hüllt sich in sagenhaftes Dunkel. Man weiss nicht, wann die dortigen Ärzte begonnen haben, Schüler in der Heilkunde zu unterrichten.

Unter den Ärzten, welche im 10. und 11. Jahrhundert zu Mont- pellier die Praxis ausübten, befanden sich wahrscheinlich viele Juden und Araber; die Thatsache, dass ein grosser Theil der Bevölkerung dieser Stadt aus Angehörigen dieser Nationen bestand, und die Nähe Spaniens, wo die jüdischen Ärzte unter der arabischen Herrschaft sehr zahlreich und angesehen waren, rechtfertigen diese Annahme. An den Triumphen, welche die arabische Medicin in Spanien feierte, hatten die Juden einen hervorragenden Antheil.

Die Namen eines Moses Maimonides, Chasdai Schaprout, Juda Halevi, Nachmanides u. A. erzählen von ihrem Wirken auf verschie- denen Gebieten des geistigen Lebens. Die Rabbiner und jüdischen Gelehrten beschäftigten sich gern mit der Medicin, und die medicinischen Schulen der Juden zu Toledo, Granada und Cordova standen in hohem Ansehen. Die arabischen Fürsten der iberischen Halbinsel ebenso wie ihre christlichen Nachfolger wählten mit Vorliebe Juden zu ihren Leibärzten. ^

Aber die grössten Verdienste erwarben sich die jüdischen Ärzte, indem sie die Vermittelung zwischen der arabischen Heilkunde und dem christlichen Abendlande übernahmen. Theils durch Übersetzungen arabischer Werke, die sie anfertigten, theils durch das lebendige Wort machten sie die Bewohner der benachbarten christlichen Länder mit

^ J. Münz: Über die jüdischen Ärzte im Mittelalter, Berlin 1887, S. 17 u. ff.

Die msdioinisehe Schule zu Montpellier. 179

den wissenschaftlichen Errungenschaften ihrer semitischen Stammes- genossen bekannt.

Die arabischen und jüdischen Schulen Spaniens bewahrten auch nach der Eroberung dieses Landes durch die Christen lange Zeit den Euf der Gelehrsamkeit. Noch im 11. und 12. Jahrhundert pilgerten wissensdurstige Forscher, wie Gebbebt, der später als Pabst Sylvester II. genannt wurde, Hebmannus Contbactus, David Mobley, Pibtbo von Abano, Abnald von Villanova u. A. nach Spanien, besonders nach Toledo, um dort in das Wissen der Araber eingeweiht zu werden.

Diesen Verhältnissen muss ohne Zweifel ein bedeutender Einfluss auf die Entstehung und Entwickelung der Schule von Montpellier zu- geschrieben werden. Man hat sogar nachzuweisen versucht, dass ein jüdischer Arzt aus Narbonne der Erste gewesen sei, der dort medici- nischen Unterricht ertheilt habe. ^

Als Benjamin von Tudela i. J. 1160 Montpellier besuchte, fand er viele Juden unter den dortigen Einwohnern, wie er erzählt. Aber schon damals machte sich die Reaktion gegen die Macht der Juden geltend. Graf Wilhelm von Montpellier bestimmte 1121 in seinem Testament, dass kein Sarazene oder Jude zur Würde eines Stadthaupt- manns (Bailli) zugelassen werde, und 1146 und 1172 wurde dieses Verbot in Betreff der Juden erneuert, da es den Sarazenen gegenüber wahrscheinlich nicht mehr nothwendig erschien. Jedenfalls beweist diese Thatsache, dass vor dieser Zeit die Araber und Juden in Mont- pellier gleiche Eechte wie ihre christlichen Mitbürger besassen und Anspruch auf die angesehensten Stellen erheben durften.

Bis zur Unterwerfung Spaniens durch die Christen herrschte dort ein Geist der Toleranz, welcher auf die Humanität wie auf die Wissen- schaft fordernd gewirkt hat; in diese Periode fallt, wie historisch fest- steht, die Gründung der medicinischen Schule zu Montpellier.

Als Bischof Ad ALBERT von Mainz i. J. 1137 dorthin kam, bestand dieselbe bereits und besass sogar schon eigene Gebäude, wie aus den Worten des zur gleichen Zeit lebenden Bischofs Anselmus von Havelberg hervorgeht.^ Bischof Adalbert liess sich von den Ärzten, welche in Mont- pellier die Heilkunde lehrten, über die Ursachen der Naturerscheinungen

* Ravel in der R^viie therapeut. du midi, Montpellier 1855. Cabmoly: Histoire des m^decins juife, Bruxelles 1844, p. 77. A. Gebmain: Histoire de la commune de Montpellier, Montpellier 1851, T. I, p. LXIX.

* Anselmi episcopi Havelbergensis vita Adelberti Moguntini in Bibl. rer. german. ed. Ph. Jaff(§, Berol. 1866, III, 592. A. Dubouchet: Un docimient curieux sur T^cole de m^decine de Montpellier in der Gaz. hebd. des scienc. m^d. de Montpellier, 10. Juli 1886.

12*

180 Der medicinische Unterricht im Mittelalter.

und der Krankheiten unterrichten, und zwar „nicht etwa weil er Ge- winn aus der Kenntniss dieser Dinge ziehen wollte, sondern nur, um das tiefverborgene Wesen der Dinge kennen zu lernen," wie sein Bio- graph hinzufugt.

In einem Briefe des hl. Bebnhabd v. J. 1153 wird erzählt, dass der Erzbischof von Lyon, als er erkrankt war, sich nach Montpellier begab, um sich von den dortigen Ärzten behandeln zu lassen, und bei dieser Gelegenheit nicht blos das Geld verbrauchte, welches er bei sich führte, sondern noch Schulden machte.^ Jean de Salisbüey, welcher auch derselben Zeit angehört, erklärte, dass Diejenigen, welche sich der Medicin widmen wollten, die dafür erforderlichen Kenntnisse in Salemo oder Montpellier erwarben. Auch Aegidius von Cobbeil und Haet- MANN VON der Aue haben für den alten Ruhm der Schule von Mont- pellier Zeugniss abgelegt. Der Mönch Caesarius von Heistekbach nannte Montpellier die „Quelle der medicinischen Weisheit" und be- merkte mit Bedauern, dass die dortigen Ärzte an die Wunderheilungen nicht glauben wollten und in ironischer Weise darüber sprachen.

I. J. 1180 erliess Wilhelm IV., Graf von Montpellier, die Ver- ordnung, dass Jeder, „wer er auch sei und woher er stammen möge, ohne dass er von irgend wem darüber zur Rede gestellt werde, das Recht habe, dort medicinischen Unterricht zu ertheilen."*

Obwohl sich in Folge dessen die medicinische Schule sehr hob, war diese schrankenlose Lehrfreiheit doch nicht aufrecht zu halten, weil dadurch manche ungeeignete Elemente angezogen wurden. Die Lehrer und Schüler wünschten deshalb, dass Massregeln dagegen ge- troffen wurden. Es ist bezeichnend für die Macht, welche der Klerus unterdessen gewonnen hatte, dass man sich an den päbstlichen Legaten wandte, der im Einvernehmen mit den Bischöfen von Maguelone, Avignon u. A. i. J. 1220 die gewünschten Bestimmungen traf.

Cardinal Konrad, welcher dadurch die Grundlagen zur weiteren Entwickelung der Schule von Montpellier schuf, war ein Deutscher und stammte aus dem schwäbischen Geschlecht der Grafen von Urach. Er wies in den Statuten, die er entwarf, zunächst darauf hin, dass die Heilkunde in Montpellier schon seit langer Zeit blühe und Ruhm ernte, und gab dann das Gesetz, dass fortan Niemand dort als Lehrer dieser

^ Expendit et quod habebat ed quod non habebat in Bernard. Epist 307, nach AsTBuc: M^moires pour servir k l'histoire de la facult^ de mMecine de Montpellier, Paris 1767, p. 7.

* Mando, volo, laudo atque concedo in perpettiu?n, quod omnes homines quicumque sint vel f^mde^unque sint, sine atiqtta inierpellatione regant scolas de fisica in Montepessulano. Abtrug a. a. 0. p. 34.

Die medicmische Schtde x/u MontpeUier. 181

Wissenschaft auftreten dürfe, der nicht darin geprüft und vom Bischof von Maguelone unter Zuziehung und nach Befragen seiner Lehrer die Licenz erhalten habe, dass Niemand als Schüler betrachtet werde, der nicht bei seinen Studien der Anleitung seines Lehrers folgt, dass der Bischof von Maguelone in Gemeinschaft mit drei angesehenen älteren Lehrern einen Kanzler wähle, welcher die Disciplin überwachen und die Streitigkeiten zwischen den Meistern und Schülern schlichten sollte, dass der Bischof den Kanzler durch seine Autorität unterstütze, und dass alle Lehrer und Schüler einander beistehen und Sorge tragen, dass auf die Schule keine Schande falle. ^

Manche Studierende unterbrachen ihre Studien, wie aus Abschnitt 14 dieser Statuten ^ hervorgeht, auf längere Zeit, um die ärztliche Praxis auszuüben, und kehrten dann zur Fortsetzung der Studien nach Mont- pellier zurück. Die Schüler zahlten den Lehrern Honorar für den Unterricht, den sie empfingen.

In den Gesetzen Konrads war allerdings keine Rede davon, die Andersgläubigen von der Schule auszuschliessen; doch wurden dieselben ohne Zweifel durch den mächtigen Einfluss, welcher darin dem Bischof eingeräumt wurde, einigermassen zurückgedrängt. Gleichwohl gab es dort im 13. und 14. Jahrhundert noch viele jüdische Studierende und Ärzte, wie Jacob ben Machie, bekannter unter dem Namen Peofatius, der wahrscheinlich sogar als Lehrer thätig war.^

I. J. 1230 wurde bestimmt, dass Niemand die ärztliche Praxis treibe, bevor er von zwei Magistern der Heilkunde, welche der Bischof zu Examinatoren wählte, geprüft und für fähig befunden worden sei. Der glückliche Erfolg der Prüfung wurde ihm durch ein Zeugniss, welches die Unterschrift des Bischofs und der Examinatoren trug, bestätigt.

Wer die ärztliche Praxis ausübte, ohne sich dieser Prüfung unter- zogen zu haben, wurde mit der Strafe der Excommunication bedroht. Doch blieben die Chirurgen von der Verpflichtung, sich examiniren zu lassen, befreit. Aber die Gesetze gegen die Kurpfuscher wurden, wie es scheint, nicht streng beobachtet; denn sie mussten von Zeit zu Zeit immer wieder ins Gedächtniss zurückgerufen werden.

* AsTEUc a. a. 0. p. 37.

* Qtiando scholaris redit a loeiSj in quibtis practieaverit, Obere sibi addieat, qtiemeunqtee vohierit, magisfrum, dum tarnen priori stio magisiro non teneatur ratione salari vel alterius alicujus ret. Astrüc a. a. O. p. 39. A. Germain a. a. 0. T. III, 424.

^ Cabholt a. a. 0. S. 90. Derselbe erwähnt noch andere jüdische Lehrer der Medicin, z. B. Samuel Ben Tibbon.

182 Der medidnische ünterriekt im Mittelalter.

Die Statuten und Lehrpläne, welche i. J. 1240 gegeben wurden, stutzten sich auf die für Salerno erlassenen Verordnungen des Kaisers Friedrich 11.^

Die medicinische Schule war somit vollständig organisirt. Neben ihr wurde in Montpellier seit dem Ende des 13. Jahrhunderts auch Unterricht in der Rechtskunde ertheilt; ebenso gab es schon 1242 Lehrer der philosophischen Disciplinen. Pabst Nicolaus IV. fasste 1289 den Entschluss, dort ein Stvdivm generale, d. h. eine Universität zu errichten; aber es gelang ihm nicht, die medicinische Schule mit den übrigen Facultäten zu einer Lehranstalt zu verschmelzen. Sie bewahrte eifersüchtig ihre Rechte und behauptete ihre Selbstständigkeit.

So kam es, dass in Montpellier fortan eigentlich zwei Universitäten bestanden, von denen die eine nur die medicinische Facultät, die andere die übrigen Facultäten umfasste. Jede von ihnen bildete ein besonderes Institut, hatte ihren eigenen Kanzler und führte den Namen einer Universität. Sie waren auch dazu berechtigt; denn man verstand unter dem Studium generale im Mittelalter nicht die Vereinigung aller Facul- täten an einem Ort, sondern eine höhere Unterrichtsanstalt, welche allgemein zugänglich war und Zeugnisse ertheilte, die überall Geltung hatten. 2 Der Ausdruck Studium generale machte im 14. Jahrhundert demjenigen der Universität Platz, mit welchem der Begriff der Corpo- ration, der organisirten Verbandseinheit verbunden war. Daneben ge- brauchte man bereits zu jener Zeit auch die Bezeichnungen ,,Oymna- s^iwm^' und „Alma m/iter'* für die Hochschule.

Während an der aus der juristischen, philosophischen und theo- logischen Facultät, welche erst 1421 errichtet wurde, bestehenden Universität zu Montpellier der Bischof fortan die Würde des Kanzlers bekleidete, wurde an der medicinischen Schule dieses Amt auch femer einem Lehrer derselben übertragen. Alle Versuche, welche später ge- macht wurden, um die letztere vollständig dem klerikalen Einfluss zu unterwerfen, waren vergeblich. Die medicinische Facultät behielt ihre Autonomie selbst unter der centralisirenden Macht der französischen Könige, und Ludwig XIV. fühlte sich sogar veranlasst, ein Dekret, welches die Vereinigung der medicinischen Facultät mit den übrigen Facultäten anordnete, wieder zurückzunehmen.^

* Gebhain a. a. 0. T. III, p. 424.

* H. Denifle: Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400. Berlin 1885, I, S. 15 u. ff. VergL dagegen Gr. Kaufmann: Greschichte der deutschen Universitäten, Stuttgart 1888, I, 98 u. ff.

® A. Düboüchbt: Documents pour servir ä Thistoire de l'universite de m6- decine de Montpellier in der Gaz. hebd. des sciences m^d. de Montpellier 1887, No. 4.

Die medicmische SchtUe zu Montpellier. 183

Da die Wahl des Kanzlers durch den Bischof und drei von ihm zugezogene Lehrer manche Unzuträglichkeiten im Gefolge hatte, so befahl Pabst Clemens V. i. J. 1308, dass der Candidat fortan ausser der Zustinunung des Bischofs zwei Drittel der Stimmen sämmtlicher Magister der medicinischen Hochschule vereinigen müsse.

Gleichzeitig wurde bestimmt, welche Bücher dem Unterricht zu Grunde gelegt werden sollten, und die Studien- und Prüfungsordnung dahin erläutert, dass jeder Studierende mindestens fünf Jahre medici- nische Vorlesungen hören und während acht Monaten oder zwei Sommer hindurch ärztliche Praxis ausüben müsse, ^ bevor er zur Promotion zu- gelassen werde.

I. J. 1350 wurde gesetzlich bestimmt, dass Niemand ärztliche Praxis treibe, ehe er den Grad eines Magisters erlangt habe.^ Aus dem an den Pabst gesandten Rotulus v. J. 1362 geht hervor, dass alle Scholaren der Medicin zu Montpellier in artilrus graduirt waren, ^ also eine allgemein-wissenschaftliche Vorbildung besassen.

Die Statuten der dortigen medicinischen Schule v. J. 1340* ge- währen einen Einblick in die Zustände derselben. Sie beschäftigen sich mit der Würde des Kanzlers, der die Gerichtsbarkeit leitete, mit dem Dekanat, welches Demjenigen, welcher die Lehrthätigkeit am längsten ausübte, übertragen wurde, hauptsächlich die Vertretung des Kanzlers zur Aufgabe hatte und eigentlich nur ein Ehrenamt war, mit der Wahl von zwei Procuratoren aus der Zahl der Lehrer, welche die Aufsicht über die Verwaltung der Güter und Besitzungen der Universität führten, mit den zweimal im Jahre stattfindenden allgemeinen Versammlungen der Lehrer, in denen über die Angelegenheiten des Unterrichts und die Finanzen der Schule berathen wurde, und mit den Pflichten der Lehrer und Schüler.

Die letzteren mussten sich sofort nach ihrer Ankunft den Pro- curatoren vorstellen, welche ihre Namen, und den Tag, an dem sie ihre Studien begannen und beendeten, in ein Buch eintrugen und dafür eine Taxe erhoben, welche eine verschiedene Höhe hatte, je nachdem es sich um einen Scholaren oder um einen Baccalaureus handelte, und

^ In loeis famosis quinque annis, si in artibus magistri existant idonei, alioquin per sex annos, pro quolibet anno octo duntaxat mensibus eomputatis ejusdem faeuUatem audiverint medieinae, ae in similibus hcis per oeto menses aut per duas aestates ad minus e/usdem medieinae praxim duxerint eocercendam. AsTRüc a. a. 0. p. 46.

* AsTRUc a. a. 0. p. 54.

' Dekifle a. a. 0. S. 355, Anra. 562.

* A. DuBoucHET a. a. 0. Gaz. hebd. No. 6 u. ff.

184 Der medidnisGhe ünterrioht im Mittelalter.

unseren Gebühren für Immatriculation und Exmatriculation entsprach. Die Studierenden gelobten bei der Aufnahme in den Verband der Hoch- schule, deren Gesetze gewissenhaft beobachten zu wollen.

Sie waren verpflichtet, während der ersten drei Jahre der Studien- zeit nach Abzug der Ferien durch volle 24 Monate medicinische Vor- lesungen zu besuchen. Hierauf folgte ejne Prüfung, bei der jeder der Lehrer eine Frage stellte, und darauf die Promotion zum Baccalaureus. In dieser Eigenschaft setzte der Studierende seine Studien noch min- destens zwei Jahre hindurch fort, hielt aber zugleich Vorlesungen über einzelne Abschnitte aus den medicinischen Schriften der Alten. Den Schluss des Studiums bildete die Bewerbung um das Magisterium der Heilkunde.

Als ordentlicher Lehrer wurde Derjenige betrachtet, welcher min- destens den ganzen Winter hindurch regelmässigen Unterricht ertheilte. Die Lehrer wählten in ihren Versammlungen die Gegenstände, über welche sie vortragen wollten; der Ältere hatte dabei den Vorrang vor dem Jüngeren. Auch wurde streng darüber gewacht, dass nicht ein Lehrstoff, welcher binnen einem Jahre abgehandelt werden sollte, auf mehrere Jahre vertheilt würde.

Anfangs war jeder Magister und unter gewissen Beschränkungen sogar jeder Baccalaureus berechtigt, die Lehrthätigkeit auszuüben, ohne dass er jedoch dafür irgendwelche Besoldung empfing. Erst i. J. 1498 wurden vier ordentliche Lehrkanzeln der Medicin errichtet, deren In- haber für den Gehalt von je 100 livres das ganze Jahr hindurch un- entgeltlich vortragen mussten. Die Besetzung dieser Professuren erfolgte durch den Bischof auf Vorschlag der übrigen Lehrer der medicinischen Schule. Die Besoldung der Professoren wurde unter Carl IX. auf 400 livr. und unter Heinrich IV. auf 600 livr. erhöht. Ausserdem waren sie gleich den übrigen Mitgliedern der Universität von Steuern und manchen anderen Lasten befreit.

Die medicinische Schule zu Montpellier erlebte im 13. und H.Jahr- hundert ihre Glanzperiode. Aus weiter Feme kamen damals die Kranken, wie der Bischof von Herford aus England und der König Johann von Böhmen, um bei den dortigen Ärzten, welche namentlich wegen ihrer praktischen Tüchtigkeit geschätzt waren, ^ Hilfe zu suchen. Ihnen erwuchs eine gefährliche Concurrenz, als die Universitäten, welche in jener Zeit in Italien, Frankreich und Deutschland gegründet wurden, zur Blüthe gelangten.

* Arnald von Villanova: Breviar* IV, 10. Guy von Chaüliac: Chir., tr. VI, d. 2, c. 2.

Die ältesten Hoohsehulen Italiens. 185

Die ältesten Hochschulen Italiens.

Kaiser Friedrich II. schuf i. J. 1224 die Hochschule zu Neapel,^ an welcher alle Wissenschaften gelehrt werden sollten, damit die wissens- durstigen Jünglinge nicht genöthigt würden, „wie Bettler ausserhalb des Landes die geistige Nahrung zu suchen". ^ Anfangs waren hier, wie es scheint, sämmtliche Facultäten vertreten; aber schon 1231 ging die medicinische ein, weil die Heilkunde nach einer kaiserlichen Ver- ordnung fortan nur in Salemo gelehrt werden durfte. I. J. 1252 wurden auch die übrigen Facultäten nach Salemo verlegt und mit der dortigen medicinischen Schule zu einer Universität vereinigt.

Doch wurde die Hochschule zu Neapel schon 1258 wiederhergestellt. Da sie in der Hauptstadt des Landes gelegen, von Norden und Osten leichter zugänglich und mit grösseren Rechten und Geldmitteln aus- gestattet war, als ihre ältere Schwesteranstalt zu Salemo, so überholte sie dieselbe später durch die Zahl der Schüler sowohl wie durch ihre Bedeutung und ihre Leistungen.

Gleich den Anfängen der Hochschulen zu Salerno und Montpellier verlieren sich auch diejenigen von Bologna in sehr frühe Zeiten.^ Kaiser Friedrich I. versprach der dortigen Universität i. J. 1158 seinen Schutz und verlieh ihr eigene Gerichtsbarkeit. ^ Sie war damals eigent- lich nur eine ßechtsschule; doch wurden im 12. Jahrhundert auch andere Wissenschaften gelehrt, und die Ärzte waren vielleicht schon zu einem Collegium verbunden.^

Im 13. Jahrhundert wurde die medicinische und philosophische Facultät als „Universität der Artisten" neben der juristischen organisirt. Die juristische Schule behielt indessen auch später durch die Zahl der Lehrer und Studierenden das Übergewicht über die anderen Facultäten.

Die medicinische Facultät wurde erst seit 1280, als Thaddaeus Floeentinus dort als Lehrer wirkte, in weiteren Kreisen bekannt und

^ MüBATOBi: Rer. It. Script. VIII, p. 496.

^ Huillabd-Bb^holles a. a. 0. T. II, p. 450. Disponimus apud Napolim doceri aries cujuseunque professtonis et vigere studia, ut jejuni et famelici doc- trinarum in ipso regno inveniant, unde ipsorum aviditati satisfiat neque com- pellantur ad investigandas scientias peregrinas nationes expefere nee in alienis regionibus mendieare.

* F. C. V. Saviqny : Geschichte des römischen Eechts im Mittelalter, Heidel- berg 1834, Bd. III, S. 164 u. ff.

* Cod. Auth. Habita. Giesebbecht in den Sitzungsber. d. K. b. Akad. d. Wiss., histor. Klasse, 1879, Bd. II, S. 285.

^ M. Medici: Compendio storico della scuola anatomica di Bologna 1855, p. 3.

186 Der medidnische ürUerrieht im Mittelalter.

berühmt. Übrigens hatte die Organisation der Universität zu Bologna ihren Schwerpunkt nicht so sehr in den Facultaten als in den Gorpo- rationen der Schüler.

Dieselben schieden sich Anfangs in die Citramontani und die Ultramontani, von denen sich jede aus mehreren Nationen zusammen- setzte. Diese landsmannschaftlichen Vereinigungen der Studierenden, welche ihr Vorbild in den Verbindungen fanden, die an den Hoch- schulen des Alterthums, z. B. in Athen, bestanden, entsprangen dem Bedürfniss, sich nach ihrer heimathlichen Zusammengehörigkeit in der Fremde an einander anzuschliessen, und organisirten sich nach Art der italienischen Zünfte. An der Spitze jeder der beiden Scholaren-Corpo- rationen stand ein Eector, der also dort ursprünglich durchaus nicht das Haupt der Universität war, sondern nur die Angelegenheiten der Studierenden, die ihn zu ihrem Vertreter gewählt hatten, leitete. An- fangs wurde diese Würde an Professoren ebenso wie an Studierende verliehen, seit der Mitte des 13. Jahrhunderts jedoch nur noch an die letzteren, und in den Statuten der Universität aus dem 14. Jahrhundert wurde dies sogar gesetzlich anerkannt.^ Seit dem 16. Jahrhundert gab es für beide Scholaren-Corporationen nur einen einzigen Rector.

Als die italienischen Städte, in denen sich Hochschulen befanden, mit einander wetteiferten, um durch Verleihung von Vorrechten und Auszeichnungen fremde Studierende dorthin zu ziehen, erlangten die letzteren allmälig eine ausserordentliche Machtstellung, und die Pro- fessoren geriethen in ein Abhängigkeitsverhältniss zu ihnen. In Bologna und Padua erhielten die Studierenden sogar das Recht, die Professoren zu wählen. 2

In Montpellier durften ihre Vertreter, die Procuratoren, den Pro- fessoren den Gehalt sperren, wenn sie nicht fleissig Vorlesungen hielten.^

Der aus der Mitte der Studierenden gewählte Rector, der zuerst nur über die Corporation, welcher er angehörte, die Gerichtsbarkeit besessen hatte, übte sie später über die ganze Universität, sogar über die Professoren und deren Familien, aus. Allerdings stand ihm dabei ein Mitglied der juristischen Facultät als Rathgeber zur Seite, und es dürfte sich ein ähnliches Verhältniss entwickelt haben, wie es im 16. und 17. Jahrhundert zuweilen auch an deutschen Universitäten be-

^ Ad rectoratus igitur offiGiuni eligatur Scolaris nostrae universitatis in den Statuten der Universität Bologna. Savignt a. a. O. Bd. lU, S. 643.

^ C. Meinebs: Geschichte der Entstehung und Entwickelung der hohen Schulen unseres Erdtheils, Göttiugen 1802. Savigny a. a. 0. Bd. III, S. 292 u. f£.

^ Thomas u. Felix Platter: Zwei Autobiographien, her. v. Fechter, Basel 1840, S. 155.

Die ältesten Hochschulen Italiens. 187

standen hat, wenn man Studierenden aus Yomehmen Familien das Rectorat übertrug.

Auf das Studien- und Prüfungswesen hatten die Kectoren keinen Einfluss; dies blieb den Professoren überlassen. Die letzteren erhielten für den Unterricht, welchen sie ertheilten, von ihren Schülern Honorare; seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts gewährte die Stadt ausserdem eine gewisse Besoldung.

Xach einem Bericht, welchen derCardinal-LegatANGucus i. J. 1371 erstattete,^ lehrten in Bologna damals 3 Magister die theoretische, 3 die praktische Medicin und einer die Chirurgie. Sie wurden von der Stadt besoldet; doch gab es neben ihnen noch andere Lehrer, welche keinen Gehalt bezogen. Im J. 1388 waren dort 68 Professoren an- gestellt, darunter 14 Mediciner, 27 Legisten, 12 Canonisten und 15 Ar- tisten, Grammatiker und Magister der Notariatskunst; L J. 1451 betrug die Zahl der Lehrer sogar mehr als 170, und es erfolgte deshalb eine Verminderung der Lehrkanzeln.* Unter den Professoren, welche im Mittelalter dort wirkten, befanden sich Franzosen, Deutsche, Spanier, Engländer, Portugiesen, Polen und Griechen,^ und ebenso waren auch unter den Studenten alle europäischen Nationen vertreten.

Die Professoren mussten sich beim Antritt des Lehramts durch einen Eid verpflichten, ihre Wissenschaft an keinem anderen Ort zu lehren als in Bologna und mit allen Kräften zum Gedeihen der dor- tigen Hochschule beizutragen.* Gleichwohl wurde dadurch nicht ver- hütet, dass bei verschiedenen Gelegenheiten Schüler und Lehrer in grösserer Anzahl aus Bologna fortzogen und einen anderen Studiensitz anfeuchten. Schon 1222 geschah dies und gab die Veranlassung zur Gründung oder Erweiterung der Hochschule zu Padua, wo vielleicht schon lange vorher Schulen für einzelne Wissenschaften bestanden hatten.

Die Universität Padua wurde nach dem Muster derjenigen von Bologna eingerichtet. Auch in Padua stand der Bieter an der Spitze der Scholaren- Verbindungen, deren man nach ihrer Nationalität vier unter- schied, nämlich die der Italiener, Franzosen, Provenzalen und Deutschen.^ Auch hier wurde der Rector aus der Zahl der Studierenden gewählt; es wurde von ihm nur verlangt, dass er einen unbescholtenen Ruf be- sitze, mindestens 22 Jahre alt sei und ein Jahr in Padua von seinem eigenen Vennögen gelebt habe.

^ Deiofle a. a. O. S. 208 u. ff.

* E. Coppi: Le uni versitz italiane nel medio evo, Firenze 1880, S. 257. ^ Mazetti: Repertorio di tntti i professori deir universitA, di Bologna, Bo- logna 1847. * E. Coppi a. a. 0. S. 78, Anm.

' F. C. Colle: Storia dello studio di Padova, 1824.

188 Der medicinisehe Unterricht im Mittelalter.

Wie die Universität Bologna wurde auch diejenige zu Padua vor- zugsweise von Juristen besucht. Im J. 1262 gab es in Padua drei Lehrer der Medicin und der Naturwissenschaften. Das Studium der Heilkunde gelangte in Padua und Bologna eigentlich erst im 15. und 16. Jahrhundert zur Blüthe.

Die Hochschule zu Vercelli, welche seit 1220 bestand, verdankte dem Umstände, dass in Folge von Streitigkeiten i. J. 1228 ein Theil der Professoren und Studenten zu Padua diese Stadt verliess, einen grossen Aufschwung. Der Bath der Stadt Vercelli schloss mit denselben einen Vertrag,^ in welchem sie durch verschiedene Vortheile bewogen wurden, dorthin zu übersiedeln. In Vercelli waren alle Fächer ver- treten; die Medicin hatte zwei Lehrkanzeln. Doch existirte die Hoch- schule nicht viel länger als ein Jahrhundert.

Die Universität zu Vicenza entstand wahrscheinlich auf dieselbe Weise, indem Schüler und Lehrer von Bologna dorthin kamen. Sie erlangte als Bechtsschule im Beginn des 13. Jahrhunderts einen gün- stigen Ruf. Erst 1261 wurde ein Lehrer der Medicin angestellt, welcher eine jährliche Besoldung von 150 librae denariorum erhielt.

In Modena, wo die juristischen Wissenschaften schon im 12. Jahr- hundert eifrig getrieben wurden, gab es erst im 14. Jahrhundert einen Lehrer der Heilkunde, ßeggio (Emilia) besass seit 1188 eine Rechts- schule, die aber keine grosse Bedeutung erlangte. Die Hochschule zu Arezzo, an welcher auch die Medicin gelehrt wurde, bestand bereits im 13. Jahrhundert, 2 wurde aber erst 1355 förmlich zur Universität erklärt und ging im 16. Jahrhundert wieder ein.

Siena war schon 1203 wegen seiner vortrefflichen Schulen be- kannt. Im J. 1241 wurde dort ausser anderen Wissenschaften auch die Medicin gelehrt, und 1247 gab es bereits drei Lehrer dieser Dis- ciplin. Als i. J. 1285 im Stadtrath die Berufung fremder Professoren zur Sprache kam, suchte man auch den in der Chirurgie erfahrenen Ranijccius zu gewinnen; ausserdem lehrte dort ein Magister Oelandus die Medicin.^

Im J. 1321 vergrösserte sich die Universität zu Siena, da sie Zuzug von Bologna erhielt. Dino di Garbo, welcher damals in Siena die Medicin vertrat, bezog einen jährlichen Gehalt von 1155 Lire. Später sank die Universität, und ihr Verfall wurde auch nicht wesentlich auf- gehalten dadurch, dass sie vom Kaiser Carl IV. i. J. 1357 die officielle

1 Coppi a. a. 0. S. 109 u. fF. Savigny a. a. O. Bd. III, S. 666 u. ff.

2 Saviqny a. a. O. Bd. III, S. 312 u. ff. ' Denifle a. a. 0. I, S. 437.

Die ältesten Hochschtden Italiens. 189

Anerkennung als Studiim. generale empfing. Erst am Ende des 15. Jahr- hunderts hob sie sich wieder.

Piacenza besass am Schluss des 12. Jahrhunderts eine Rechts- schule, welche 1248 zu einer Universität erhoben wurde. Als Lehrer der' Medicin wirkte damals der Magister Hugo, ein Kleriker. Die Hochschule erlangte erst unter Galezza Visconti ein gewisses An- sehen; i. J. 1399 hatte sie 71 Lehrer, unter denen sich 22 Mediciner befanden. Sie wurde schon 1408 wieder aufgehoben.

Am Sitz der päbstlichen Curie entstand 1244 eine mit den Rechten einer Universität ausgestattete ünterrichtsanstalt, in welcher Theologie, Jurisprudenz, orientalische Sprachen und später auch Medicin gelehrt wurden. Sie befand sich zuerst in Avignon und dann in Bom, wo sie mit der dort seit 1309 bestehenden Hochschule vereinigt wurde.

An derselben lehrten i. J. 1514 88 Professoren, nämlich 4 Theo- logen, 11 Canonisten, 20 Legisten, 15 Mediciner und 38 Philosophen, Mathematiker, Ehetoriker und Grammatiker; dagegen war die Zahl der Schüler verhältnissmässig gering. Unter dem Pabst Alexander VL begann der Bau der Sapienza, deren Hallen noch heut als Sitz der Universität Rom dienen.

In Perugia bestand im 13. Jahrhundert eine Rechtsschule; doch wurden daneben auch andere Wissenschaften und namentlich die Me- dicin gelehrt. Im J. 1308 erklärte der Pabst die Schule für eine Universität Es gab an derselben Anfangs nur einen, aber seit 1314 zwei Lehrer der Medicin, welche indessen nur stets für einen Zeitraum von 3 Jahren angestellt wurden. In der Matrikel von 1339 erscheinen neben 4 Doktoren des canonischen Rechts, 3 des Givilrechts, 1 der Philosophie, 1 der Logik auch 3 der Medicin und neben 119 Studenten der Jurisprudenz 23 Mediciner; doch waren dies sämmtlich Auswärtige, weil die Einheimischen nicht aufgezählt wurden.^ Die Mehrzahl der- selben stammte allerdings aus Italien, aber viele auch aus Deutschland. Bemerkenswerth ist dabei, dass die Lehrer und Schüler der Jurisprudenz den Titel Dominus, diejenigen der Medicin und der Philosophie den Titel Magister führten.

Im Jahre 1342 wurden die Lehrkräfte vermehrt und in den Statuten von 1366 bestimmt, dass mindestens 7 Lehrer der Heilkunde vorhanden seien. Im J. 1431 gab es deren 8, von denen einer speciell den Unterricht in der Osteologie ertheilen musste.

Treviso hatte im 13. Jahrhundert eine höhere Lehranstalt, die i. J. 1314 in ein Studium generale umgewandelt wurde, welches 1318

^ Denifle a. a. 0. I, S. 546. Coppi a. a. 0. S. 127, Anm.

190 Der medicinisehe Unterricht im Mittelalter.

das kaiserliche Privilegium erhielt. Die Stadt beschloss, 12 Lehrkanzeln zu gründen, von denen drei für die Medicin bestimmt wurden. Dieser Universität war nur eine kurze Dauer beschieden; denn sie hatte schon im Beginn des 15. Jahrhunderts zu sein aufgehört

Die Hochschule zu Pisa ging 1343 aus einer Kechtsschule hervor. Sie musste mit manchen widrigen Verhältnissen kämpfen; so wurden z. B. 1359 sämmtliche Professoren entlassen, weil das Geld für ihre Be- soldungen fehlte. Im J. 1403 wurde die Universität aufgehoben und erst 1473 unter Lorenzo de Medici, der sie sehr begünstigte, wieder eröffnet.

Von dieser Zeit an hob sie sich rasch und erlangte noch am Schluss des 15. Jahrhunderts eine hervorragende Bedeutung. Zum grosseji Theile verdankte sie dies dem Umstände, dass die Universität Florenz, welche schon im 14. Jahrhundert berühmte Mediciner unter ihren Lehrern hatte und Stiftungsbriefe vom Pabst und vom Kaiser besass, i. J. 1473 nach Pisa verlegt wurde.

Auch die Universität Pavia entwickelte sich aus einer Rechtsschule. Sie wurde 1361 vom Kaiser Carl IV. zu einem Studitmt. generale er- hoben. Die Heilkunde fand dort eifrige Pflege und Förderung. ^ Unter den Studierenden befanden sich viele Deutsche.

In Ferrara gab es im 13. Jahrhundert berühmte Artisten-Schulen. Sie wurden 1391 zu einer Universität vereinigt und gleichzeitig dafür Sorge getragen, dass auch die Eechtswissenschaft und die Medicin ver- treten waren. Im J. 1474 lehrten an der dortigen Hochschule 51 Pro- fessoren, darunter auch mehrere Mediciner.

Turin erhielt 1405 und Catania 1445 eine Hochschule. Auch in Parma, Cremona, Lucca und anderen Städten Italiens wurde während des Mittelalters zeitweilig Unterricht in einzelnen Wissenschaften, z. B. in der Rechtskunde und Medicin, ertheilt, ohne dass sich jedoch dort ein mit gesetzlichen Privilegien ausgestattetes regelrechtes Universitäts- studium entwickelte.

Die ältesten Hochschulen in Frankreich.

In Frankreich entstanden in jener Periode eine grosse Anzahl von Hochschulen. 2 In Orleans, Angers und Rheims gab es schon im

* Alp. Corradi in den Memorie e documenti per la storia dell' universitä di Pavia, Pavia 1878, I, 99—145.

* E. Pasquier: Kecherches de la France, Paris 1633, p. 888 u. ff.

Die ältesten Hochschulen in Frankreich. 191

13. Jahrhundert oder noch früher besuchte Rechtsschulen, welche später zu Universitäten erklärt wurden. Sie waren bemüht, fremde Studierende dorthin zu ziehen und gewährten ihnen aus diesem Grunde manche Vorrechte. So hatten die Studenten aus Deutschland in Orleans ihre besondere Gerichtsbarkeit und freien Eintritt in das Theater und wurden ohne Unterschied der Geburt wie Adehge behandelt.^

Der Unterricht in der Medicin wurde dort nur ausnahmsweise er- theilt und erlangte niemals besondere Bedeutung. Angers hatte z. B. i. J. 1362 unter 44 Lehrern nur einen einzigen, welcher Heilkunde vortrug. Ähnlich stand es in Toulouse, wo 1229 ein Sivdiitm generale gegründet wurde. Ebensowenig wurde die Medicin an den Hochschulen zu Avignon, Cahors, Grenoble und Orange beachtet, welche im 14. Jahr- hundert errichtet wurden. ^

Einzelne derselben hatten niemals viele Studenten. Von Orange ging, wie Gölnitz erzählt, der Witz, dass die gesammte Universität nur aus drei Personen bestehe, nämlich dem Rector, dem Schreiber und dem Pedell.'

Ä.uch die Hochschulen zu Perpignan, Aix, Döle, Caen, Poitiers, Valence, Lyon, Bordeaux, Bourges und Nantes, die bis zum 16. Jahr- hundert entstanden, erlangten keine grössere Bedeutung.

Die Entwickelung der politischen und socialen Verhältnisse Frank- reichs brachte es mit sich, dass die kleinen Provinzial-Universitäten in den Hintergrund gedrängt wurden durch Paris, welches den Mittelpunkt alles geistigen Lebens bildete.

Diese Universität entstand durch die Vereinigung der von einander unabhängigen höheren Schulen zu Paris, in welchen schon im 12. Jahr- hundert die Rechtskunde, die Medicin und mehrere andere Wissen- schaften gelehrt wurden. Über die Einrichtungen derselben und die Studien, welche in ihnen gepflegt wurden, hat Johann von Samsbuey genauere Nachrichten hinterlassen.*

Es ist nicht bekannt, wie es kam, dass die Lehrer derselben Dis- ciplin sich an einander anschlössen und einen Verband bildeten. Wahr- scheinlich geschah dies i. J. 1209 auf Veranlassung des Pabstes Inno- cenz in., welcher den Meistern der verschiedenen Wissenschaften be- fahl, sich Gesetze zu geben. *^

1 Savigny a. a. O. Bd. III, S. 402 u. ff.

' Gr. Bayle: Les m^decins d' Avignon, Avignon 1882, p. 43 u. ff. ^ A; GöLNiTz: Ulysses Belgico- Galliens, Lugd-Batav. 1631, p. 468. * Johannes Sabesbesiensis: Metalog., lib. II, c. 10, Ed. Migne (Patrol. lat. Bd. 199, p. 867).

^ A. F. Th^by: Histoire de l'^ducation en France, Paris 1858.

192 Dei* medioinisehe Unterricht im Mittelalter,

Im J. 1215 traten die Magistri der vier Disciplinen bereits als Corporationen, als Facul täten in unserem Sinne, auf und hatten ihre besonderen Statuten.^ Ihre Vereinigung zu einer Universität erfolgte jedoch erst 1254.

Neben ihrer Eintheilung in die Facultaten bestand schon im 13. Jahrhundert zu Paris diejenige in vier Nationen, welche offenbar den an den italienischen Universitäten vorhandenen Einrichtungen nach- gebildet war. Dieselbe scheint sogar auf die Verwaltung der Hoch- schule grösseren Einfluss ausgeübt zu haben, als die Scheidung der Facultäten.

Das Studium der artes liberales bildete die Vorstufe zu demjenigen der Theologie, der Jurisprudenz und der Medicin, und die philosophische Facultät diente den drei übrigen gleichsam als Grundlage.

Unter der „medicinischen Facultät" verstand man nicht blos, wie heut, das Lehrer-CoUegium der medicinischen Schule, sondern die Zunft der diplomirten Ärzte zu Paris. Da Anfangs jeder geprüfte Arzt be- rechtigt war, die Lehrthätigkeit an der Hochschule auszuüben, so lag es nahe, beide Corporationen zu identificiren, umsomehr als in ihnen häufig dieselben Personen die leitende Rolle spielten.

Aber nicht jeder Arzt konnte und wollte zugleich als Lehrer seiner Kunst thätig sein. Die ärztliche Corporation beschloss deshalb, all- jährlich einige ihrer Mitglieder zum Lehramt zu deputiren. Dasselbe verlangte jedoch manche Kenntnisse und Fähigkeiten, welche nicht Jeder besitzt, und es war daher sehr natürlich, dass sich allmälig eine Klasse von Ärzten entwickelte, welche die Lehrthätigkeit zu ihrem Beruf machte.

Diese Verhältnisse müssen sorgfaltig berücksichtigt werden, wenn man die damaligen Zustände der Universität Paris und des medicinischen' Studiums an derselben richtig verstehen will. Sie erklären die selbst- ständige Stellung der medicinischen Facultät gegenüber der Universität, den Einfluss der dem Lehramt fernstehenden Ärzte auf den medicinischen Unterricht und manche andere Thatsachen, welche in den historischen Überlieferungen seltsam und räthselhaft erscheinen.

Der Rector war auch in Paris ursprünglich das Haupt der Scho- laren-Corporationen, der Nationen. Da ihre Mitglieder als Schüler oder als Graduirte zur philosophischen Facultät gehörten oder in Be- ziehungen standen, so machte es sich von selbst, dass er allmälig die Leitung derselben erhielt. Die Facultät der Artisten bildete aber den Grundstock der ganzen Universität; daher kam es, dass der Rector

* BuLAEüs: Historia universitatis Parisiensis, Paris 1665 73, T. III, p. 81.

Die ältesten Hochschulen in Frankreich, 193

später an deren Spitze trat. Sohon 1280 galt er als Haupt der ge- sammten Universität; nur die theologische Facultät machte davon eine Ausnahme; doch wurde sie in der Mitte des 14. Jahrhunderts ebenfalls seiner Autorität unterstellt.

Zum Rector konnte nur Jemand erwählt werden, der einen aka- demischen Grad in der philosophischen Facultät, also eine wissenschaft- liche Allgemeinbildung besass. AUmälig entstand der Gebrauch, diese Würde einem Manne in hervorragender Lebensstellung zu übertragen, der bisweilen, wenn auch nicht immer, dem Lehrer-CoUegium angehörte. Die gleiche Einrichtung herrschte später auch an den Hochschulen zu Wien, Prag u. a. 0.

Ein Dekan der medicinischen Facultät wird i. J. 1267 erwähnt; es war Petbus Lemonensis.^ Der Dekan wurde von der ärztlichen Zunft, deren Vorstand er war, gewählt. Er durfte, wenigstens in späteren Zeiten, die Lehrthätigkeit nicht ausüben, damit die letztere nicht durch die administrativen Geschäfte, welche ihm übertragen wurden, vernachlässigt würde.

Die Lehrer der medicinischen Facultät schieden sich in diejenigen, welche zu Vorträgen verpflichtet waren und durch dieselben eine be- stimmte Lücke im Studienplan ausfüllten, und in solche, welche aus freiem Willen Vorlesungen hielten.

Die ersteren führten den Vorsitz bei Disputationen und feierlichen Gelegenheiten und wurden Doctores oder Magistri actu regendes genannt; ihre Stellung entsprach ungefähr derjenigen unserer ordentlichen Pro- fessoren. Die übrigen Mitglieder des Lehrkörpers, die Doctores non reg&ntes, hatten keine Verpflichtung zur Lehrthätigkeit und dafür auch keinen Antheil an verschiedenen Vorrechten und Einnahmequellen, welche jenen vorbehalten waren.

Die Lehrer der Hochschule unterrichteten gewöhnlich in ihren Wohnungen. Die medicinische Facultät erhielt erst 1505 ein eigenes Gebäude. Bis dahin fanden die Versammlungen derselben in der Kirche des Mathurins oder im Dom zu Notre-Dame statt.

Über das numerische Verhältniss der einzelnen Facultäten giebt die Thatsache Aufschluss, dass es i. J. 1348 in Paris 32 Magistri der Theologie, 18 des canonischen Kechts, 46 der Medicin und 514 der artes liberales gab. ^

^ BucHEz : De la facolt^ de m^decine de Paris im Journal des progr^s des Sciences et institutions m^dicales, Paris 1822.

' Wenn Denifle a. a. 0. I, S. 123, dem ich diese Zahlen entnehme, sie sämmtlich für regentes hält, so widerspricht diese Annahme allen übrigen Ver- hältnissen.

PuscHMANN, Unterricht. 13

194 Der medidnisehe Unterricht im Mittelalter.

Die Zahl der zum CoUegium der Ärzte, also zur medicinischen Facultät zu Paris gehörenden Doktoren, betrug i. J. 1311 29, i. J. 1395 31 und von 1391— 1431 durchschnittlich 36. Als die Engländer 1442 Paris belagerten, waren nur 10 bis 12 diplomirte Ärzte in der Stadt anwesend; doch schaarte sich um sie eine Menge von Schülern, welche unter ihrer Aufsicht die Praxis ausübten.

Auch später wuchs die medicinische Facultät nicht in dem gleichen Verhältniss wie die Stadt Paris; denn i. J. 1500 bestand die dortige medicinische Facultät aus 72, i. J. 1566 aus 81, 1626 aus 85, 1634 aus 101, 1675 aus 105 und 1768 aus 148 Doktoren.^ Neben ihnen existirten in Paris eine grosse Anzahl von Ärzten, welche zwar zur Ausübung der Praxis berechtigt waren, aber nicht den Doktor-Titel erworben hatten und daher auch nicht Mitglieder der medicinischen Facultät sein konnten, sowie von geprüften Chirurgen und andern vom Gesetz legitimirten Heilkundigen.

Die Organisation und die Einrichtungen der Universität Paris bil- deten das Vorbild für die meisten Hochschulen, welche in den folgenden Jahrhunderten in Deutschland, England und den übrigen Staaten ge- gründet wurden.

Die übrigen Universitäten Europas im Mittelalter.

Die ältesten Universitäten Spaniens entstanden wahrscheinlich unter dem Einfluss der arabischen Traditionen.

In Palencia gab es schon zur Gothenzeit berühmte Schulen; im Beginn des 13. Jahrhunderts errichtete Alfons VIII. dort eine Uni- versität, an welcher jedoch die medicinische Facultät fehlte. Übrigens bestand die Hochschule nur kurze Zeit.

Die Universität Salamanca, welche von Ferdinand III. i. J. 1243 gegründet wurde, entwickelte sich, wie es scheint, aus einer Kathedral- schule. An ihr waren alle Fächer mit Ausnahme der Theologie, die erst im 14. Jahrhundert hinzukam, vertreten. Den medicinischen Unter- richt ertheilten Anfangs nur zwei Lehrer, wie dies auch an anderen Hochschulen jener Zeit der Fall war. Salamanca erlangte einen Ruf, der weit über die Grenzen Spaniens hinausreichte und wurde vom

^ A. Springer: Paris im 13. Jahrhundert, Leipzig 1856. J. C. Sabatier: Recherches historiques sur la faculte de m^decine de Paris, 1835.

Die übrigen Universitäten Europas im Mittelalter, 195

Pabst Martin V. neben Bologna, Neapel und Paris zu einer der vier ersten Hochschulen der Christenheit erklärt^

Geringere Bedeutung hatten die übrigen Universitäten der iberischen Halbinsel. In Sevilla wurde vorzugsweise das Studium der orientalischen Sprachen, besonders des Arabischen, getrieben; die Hochschule diente zur Erziehung von Missionaren und wurde erst im Beginn des 16. Jahr- hunderts mit den übrigen Pacultäten ausgestattet.

Die Universität zu Lissabon wurde 1288 gestiftet, aber 1308 nach Coimbra verlegt. Dieses Schicksal widerfahr ihr noch mehrere Male; denn sie kam 1338 wieder nach Lissabon, 1354 wieder nach Coimbra, 1377 wieder nach Lissabon, und 1537 wieder nach Coimbra. Es macht fast den Eindruck, als ob die beiden Städte mit einander einen Vertrag geschlossen hätten, dass der Sitz der Universität zwischen ihnen un- gefähr alle 20 Jahre wechsele. Es wurden an ihr alle Wissenschaften gelehrt; doch bestand für die Heilkunde i. J. 1400 nur eine einzige Lehrkanzel.

Spanien erhielt ausserdem um 1260 in Valladolid, i. J. 1300 zu Lerida, 1354 zu Huesca, 1411 zu Valencia, 1446 zu Gerona (?), 1450 zu Barcelona, 1474 zu Saragossa, um 1480 zu Siguenza, 1482 zu Avila, 1483 in Palma, und 1499 zu Alcala Universitäten. An einigen von ihnen fehlte die medicinische Pacultät.

Die spanischen Universitäten schienen durch die politischen Er- eignisse wie durch die geographische Lage ihres Landes vorzugsweise zu der grossen Aufgabe berufen zu sein, die arabische Cultur dem christlichen Europa zu übermitteln, und durften hoffen, dass sie in Folge der Anregungen, welche sie aus dem ihnen übergebenen reichen Wissensschatz ihrer semitischen Vorgänger erhielten, durch lange Zeit eine massgebende Rolle unter den höheren Unterrichtsanstalten behaupten würden. Wenn sie gleichwohl keinen nachhaltigen Einfluss auf die Entwickelung der Wissenschaften ausübten und nach einer kurzen Blütheperiode, welche wie ein freundlicher Lichtschimmer die Geschichte des 16. Jahrhunderts verklärt, in einen Zustand geistiger Erstarrung versanken, der ihnen die Fähigkeit selbstständiger Bewegung nahm, so liegt die Schuld an dem politischen uad religiösen Druck, welcher hier eine beispiellose Höhe erreichte. Selbst in den schlimmsten Zeiten der Despotie und des Aberglaubens hat es dort an frischen Blüthen des geistigen Lebens nicht gefehlt; aber sie wurden zertreten und konnten nur zur Eeife gedeihen, wenn sie dem heimischen Boden entzogen wurden.

* V.delaFuente: Historia de las universidadesen Espana, Madrid 1884. 85, 2 Bde.

13*

196 Ikir medieinische Unterricht im Mittelalter.

Die alten englischen Universitäten zu Oxford und Cambridge ent- wickelten sich allmälig aus den Schulen, welche schon im 12. Jahr- hundert dort existirten. ^ Es lässt sich nicht bestimmen, wann sie den Charakter von Hochschulen annahmen. In den ersten Decennien des 13. Jahrhunderts erscheinen sie bereits als organisirte akademische Körperschaften, als Universitäten.

Die Heilkunde wurde in diesen Studienanstalten neben anderen Wissenschaften zwar auch gelehrt, aber nur als ein Theil der allge- meinen philosophischen Ausbildung. Für diesen Zweck genügte ein Lehrer dieser Disciplin, welcher den Schülern die wichtigsten Thatsachen derselben mittheilte. Ähnliche Verhältnisse herrschten an der Hoch- schule zu St. Andrews, welche 1411, zu Glasgow, die 1450, und Aber- deen, welche 1494 gegründet wurde.

Auf deutschem Boden wurde die erste Universität i. J. 1348 zu Prag, der Eesidenz des Kaisers Carl IV. errichtet. Ein wohlwollender Freund und Gönner aller wissenschaftlichen und künstlerischen Be- strebungen, war derselbe eifrig bemüht, die Unterthanen seines Reiches, namentlich aber seines böhmischen Erblandes, mit den Vortheilen der italienischen und französischen Cultur bekannt zu machen. Aus diesem Grunde schuf er in seiner Hauptstadt ein Studium generale, welches er nach dem Muster der Pariser Hochschule einrichtete.

Dasselbe enthielt sämmtliche vier Facultäten, und den Professoren wurden feste Besoldungen angewiesen. Die Studierenden wurden wie in Paris und Bologna in vier Nationen eingetheilt, nämlich in die böhmische, bayerische, sächsische und polnische. An ihrer Spitze stand der Rector, welcher zum Klerus, aber nicht zu einem geistlichen Orden gehören, d. h. eine der niederen Weihen besitzen, mindestens 25 Jahre alt, und legitimer Herkunft sein und ein tadelloses Leben geführt haben musste.^ Es konnten zu dieser Würde auch Studierende ge- wählt werden.

Die oberste Aufsicht über die Universität wurde dem Erzbischof von Prag übertragen, also einem hohen Geistlichen, wie dies zu jener Zeit bereits an vielen Hochschulen üblich war.

Die Universität Prag hob sich sehr rasch. Schon Benesch de Waitmuel, ein Schriftsteller des 14. Jahrhunderts, sagte, dass „an keinem Ort in Deutschland die Wissenschaften solche sorgsame Pflege fanden, wie in Prag, und dass dorthin Studierende aus England und

* H. C. Maxwell Lyte: A history of the university of Oxford from the earliest times to 1530, London 1886. James Bass Mullinger: The university of Cambridge (reicht bis z. J. 1535), Cambridge 1873.

2 W. Tomek: Greschichte der Prager Universität, Prag 1849.

Die übrigen Universitäten Europas im MittekUter, 197

Frankreich, der Lombardei, aus Ungarn, Polen und den angrenzenden Ländern kamen, unter ihnen Söhne von Adeligen und Fürsten und hohe Prälaten aus den verschiedenen Theilen der Welt."^

Wenn auch die Angaben über die Zahl der Studenten, welche die Hochschule damals zählte, übertrieben,^ jedenfalls aber sehr unverläss- lich sind, so lässt sich doch annehmen, dass dieselbe nicht unbedeutend war. Im J. 1872 constituirte sich die juristische Facultät als besondere Universität und wählte ihren eigenen Rector; sie bestand damals aus 37 Mitgliedern der böhmischen, 48 der bayerischen, 41 der polnischen und 29 der sächsischen Nation.

Das medicinische Studium fand keineswegs die gebührende Be- rücksichtigung; es wurde durch einen oder höchstens zwei Lehrer ver- treten. Als die ersten werden Nicolaus de Gevicka, Balthasae de TusciA und Waltheb genannt.

Die nationalen und religiösen Streitigkeiten, welche später in Prag ausbrachen, hatten die Folge, dass viel fremde Studierende die dortige Universität verliessen und die Studien vernachlässigt wurden. Damit begann ihr Verfall, der auf dem Gebiete der Medicin am Schluss des 15. Jahrhunderts bereits ziemlich deutlich zu Tage trat.

Die Wiener Universität wurde 1365 gestiftet, trat aber eigentlich erst 1385 ins Leben. Sie wurde nach dem Vorbild der Pariser Hoch- schule organisirt. Wie dort, schieden sich auch hier die Mitglieder derselben in vier Nationen, an deren Spitze Procuratoren standen, welche den Rector wählten. Das Haupt der ganzen Universität war der Rector, welcher dieselbe nach aussen vertrat und die Gerichtsbarkeit ausübte. Das Amt des Kanzlers bekleidete der Probst der St. Stefans- Kirche.

Die medicinische Facultät bildete die Vereinigung der diplomirten Ärzte; ihr Vorstand, der Dekan, wurde von ihnen gewählt. Zur Lehr- thätigkeit waren sie sämmtlich berechtigt; doch übten nur Einzelne dieselbe aus und zwar selten mehr als 6 bis 8. ^ Die Doctores regenies erhielten bestimmte Besoldungen. Die ersten Lehrer der Medicin waren

* Denifle a. a. 0. I, S. 600.

' Damach soll es in Prag damals 30 000 Studenten gegeben haben; von Bologna, Oxford und Löwen existiren ähnliche Berichte. Wahrscheinlich rechnete man dazu nicht blos die Studenten und Schüler, welche für die Universitäts- studien vorbereitet wurden, sondern auch alle Jene, welche in früheren Jahren dort studiert hatten, sowie die Beamten und Handwerker, die zu der Hochschule in geschäftlichen Beziehungen standen. Vergl. Paulsen in Stbel's histor. Zeit- schr. 1881, Bd. 45, S. 291 u. ff.

^ J. Aschbach: Geschichte der Wiener Universität, Wien 1865, I, S. 326.

198 Der medieimscke Unterricht im Mittelalter,

Johann Gallici aus Breslau, Hebmann Lurcz aus Nürnberg, Heb- mann VON Treysa aus Hessen, Conbad von Schivebstadt und Mabtin VON Wallsee.

Im J. 1364 gründete König Kasimir von Polen in Krakau eine Hochschule, an welcher zwei Lehrkanzeln für die Heilkunde bestimmt wurden. Doch wurden diese Pläne erst i. J. 1400 verwirklicht. Auch für Kulm wurde 1387 ein päbstlicher Stiftungsbrief erwirkt; aber die Universität seheint nicht ins Leben getreten zu sein.

Die Universität Heidelberg entstand 1386. Sie hatte Anfangs nur vier Professuren für alle Facultäten. Der erste Lehrer der Medicin wurde 1390 angestellt. Er blieb auch lange Zeit der einzige Vertreter dieser Wissenschaft. ^

In Köln a/Rh. wurde 1388 eine Hochschule gestiftet, die einen glänzenden Anfang nahm. Sie bestand bis z. J. 1798 und wurde erst unter der französischen Herrschaft gleichzeitig mit den Universitäten Trier und Mainz aufgehoben.

Die Erfurter Hochschule, welche schon 1379 die Rechte eines Studium generale erhielt und jedenfalls seit 1392 als solches bestand, erlangte im 15. Jahrhundert einen grossen Ruf, besonders durch ihre Pflege der Rechtswissenschaften. Sie existirte bis 1816.

Die beiden ungarischen Hochschulen zu Fünfkirchen und Ofen, welche im 14. Jahrhundert errichtet wurden, hatten nur eine kurze Dauer; die letztere wurde am Schluss des 15. Jahrhunderts wieder- hergestellt.

Auch die Universität Würzburg existirte nach ihrer Gründung i. J. 1403 nur 10 Jahre. Ihre Geschichte, die für die Heilkunde eine ausserordentliche Bedeutung besitzt, beginnt eigentlich erst i. J. 1582^ nachdem sie nach langer Pause wieder eröffnet worden war.

Im 15. Jahrhundert wurden ferner die Universitäten zu Leipzig (1409), Rostock (1419), Löwen (1426), Greifswald (1456), Freiburg i/Bn (1457), Basel (1460), Trier und Ingolstadt (1472), Tübingen und Mainz (1477), Upsala (1477), und Kopenhagen (1479) gestiftet^

Die medicinischen Studien spielten an diesen Hochschulen eine bescheidene Rolle. Für den Unterricht in der Heilkunde waren selten mehr als ein oder zwei Lehrer vorhanden, und häufig betrug auch die Zahl der Schüler nicht viel mehr.

* J. F. Haütz: Geschichte der Univeraität Heidelberg, Mannheim 1862, 2 Bde.' « Vergl. Paulsen in Sybel's histor. Zeitschr. 1881, Bd. 45, S. 266 n. ff.

Die Bildung der Ärzte im Allgemeinen. 199

Die Bildung der Arzte im Allgemeinen.

Die Universitäten des Mittelalters waren andere Anstalten, als diejenigen der Gegenwart. Die Begriffe, welche mit den Dingen ver- bunden werden, wechseln mit der Zeit ebenso wie die Namen, mit denen man sie bezeichnet.

Die Hochschulen jener Periode waren aber auch unter einander sehr verschieden, je nach der Zeit und dem Ort ihrer Entstehung. Die- jenigen von Salemo und Montpellier erscheinen als medicinische Fach- schulen, an welche sich die übrigen Facultäten in ziemlich loser Weise angliederten.

Die Hochschulen in Bologna, Padua und anderen Orten Italiens gleichen wandernden Kolonien von Professoren und Studenten, welche dort ihren Sitz aufschlugen, wo ihnen möglichst viele Freiheiten und Vortheile gewährt wurden; manche traten in Verbindung mit einer der zahlreichen Eechtsschulen, welche in vielen Städten seit langer Zeit bestanden.

Die Universität Paris und die nach ihrem Vorbild eingerichteten Hochschulen Englands und Deutschlands machen den Eindruck von philosophischen Facultäten, welche der Heilkunde neben anderen Wissen- schaften einen Platz innerhalb des Rahmens ihres Studienplans ge- währten; an einzelnen derselben, wie in Paris, Wien, Prag, Basel und anderen Orten, stand der medicinische Unterricht in engem Zusammen- hange mit der ärztlichen Zunft, wie dies ursprünglich auch an den ältesten medicinischen Schulen zu Salerno und Montpellier der Fall war. Wie die Handwerker und Künstler in ihren Gilden, so nahmen ajich die Meister der Heilkunst das Recht in Anspruch, in ihren Ver- sammlungen zu bestimmen, in welcher Weise sie gelehrt werden sollte und wer das zur selbstständigen Ausübung derselben erforderliche Wissen besitze.

Auch an den übrigen Hochschulen bedeuteten die medicinischen Facultäten etwas Anderes, als heut; denn sie boten in jener Zeit keine vollständige fachmännische Ausbildung, sondern nur die auf der Literatur beruhende theoretische Grundlage dazu, und überliessen es den Studie- rendejQ, sich später unter der Anleitung eines praktischen Arztes oder in Krankenhäusern die erforderlichen praktischen Kenntnisse in der Heükunst zu erwerben. Dadurch wurde der Schwerpunkt der ärztlichen Erziehung aus der Facultät und damit zugleich auch aus der Univer- sität verlegt, wie dies namentlich in England geschah, während in Deutschland, wo es häufig an den noth wendigen Anstalten fehlte und

200 Der medidnische Unterricht im Mittelalter.

die Mittel dürftig und beschränkt waren, die praktische Ausbildung der Ärzte überhaupt vernachlässigt wurde.

Im Allgemeinen gestaltete sich der Gang der medicinischen Studien durch Gewohnheit sowohl wie durch gesetzliche Verordnungen an den verschiedenen Hochschulen ziemlich gleichartig. Die Voraussetzung derselben bildete der Besitz einer allgemeinen wissenschaftlichen Vor- bildung, welche die Unterrichtsgegenstände umfasste, die an den Kloster- und Domschulen, sowie an den Stadtschulen gelehrt wurden. Wenn diese höheren Unterrichtsanstalten in Städten existirten, in welchen später Universitäten errichtet wurden, so wurden sie den letzteren ein- verleibt, wie in Paris, Prag, Wien u. a. 0. Daher kam es, dass viele Studierende an der Universität selbst die zu ihren späteren Fachstudien erforderliche Vorbildung erwarben, indem die philosophischen Facultäten gleichsam die Stelle unserer Gymnasien vertraten. Diese Einrichtung erhielt sich an den österreichischen Hochschulen in der Form der beiden philosophischen Jahrgänge, welche vor dem Beginn der medi- cinischen Studien absolvirt werden mussten, bis z. J. 1848 und besteht an den englischen Hochschulen in modificirter Form noch heut.

Schon Kaiser Friedrich IL befahl, wie erwähnt, dass dem Beginn der medicinischen Studien eine allgemeine wissenschaftliche Ausbildung vorausgehe, auf welche drei Jahre verwendet werden sollten. AUmälig wurde es an den meisten Hochschulen üWich, dass die Studierenden, bevor sie das medicinische Studium begannen, in artihus graduirten, jedenfalls aber durch einige Jahre Vorlesungen an der philosophischen Facultät hörten. In Paris konnten sie nach einem zweijährigen Besuch derselben das Baccalaureat, nach einem S^/gjährigen die Licenz und das Magisterium der Philosophie erlangen.^

Die Studienzeit der Mediciner dauerte vier oder fünf Jahre, konnte aber um ein halbes oder ganzes Jahr abgekürzt werden, wenn der Stu- dierende einen akademischen Grad in der philosophischen Facultät besass. Sie zerfiel in zwei Abschnitte, deren erster die ersten zwei oder drei Studienjahre umfasste und mit dem Baccalaureats-Examen abschloss, während der zweite sich aus den beiden letzten Studienjahren zusammensetzte und mit der Licenz zur Praxis sein Ende fand.

Der medicinische Unterricht bestand hauptsächlich in theoretischen Vorträgen. Denselben wurden die medicinischen Schriften der Alten und ihrer arabischen und italienischen Commentatoren zu Grunde gelegt. Der Lehrer knüpfte an die Lektüre dieser Bücher fachmännische Er- klärungen und Erzählungen aus seiner eigenen Praxis. Gewöhnlich

* L. Hahk: Das Unterrichtswesen in Frankreich, Breslau 1848.

Die Bildung der Ärzte im Allgemeinen, 201

wurden die verschiedenen TJnterrichtsgegenstände unter den Lehrern derartig vertheilt, dass ein einzelnes Thema in abgerundeter Weise vorgetragen wurde, z. B. die Anatomie, die Fieberlehre, der Aderlass, die Diätetik, die Arzneimittellehre, die specielle Pathologie, die Chirurgie u. a. m. Die Auditorien, welche in bildlichen Darstellungen jener Zeit erscheinen,^ zeigen den Lehrer auf erhöhtem Sitz, wie er seinen Schülern, die sich auf Bänken niedergelassen haben oder in seiner Nähe stehen, aus einem dickleibigen Buche vorliest, während dieselben seine Worte nachschreiben.

tTber den Inhalt der medicinischen Vorlesungen giebt ein Studien- plan der medicinischen Facultät zu Leipzig aus dem Ende des 15, Jahr- hunderts genauen Aufechluss. Darin wurde bestimmt,* dass die erste Vorlesung im Winter um 7 Uhr, im Sommer um 6 Uhr früh beginne und über die theoretische Medicin handele. Es wurden auf diesen Gegenstand drei Jahre verwendet und zwar der Art, dass den Vor- trägen im ersten Jahre der erste Canon des Avicenna mit den Er- klärungen des Jacobus Foboliviensis, im zweiten die ars parva des Galen mit dem Commentar des Trusianus und im dritten die Apho- rismen des HipPOKEATES nebst den dazu gehörigen Bemerkungen Galen's als Richtschnur dienten. Um 1 Uhr Nachmittags fanden die Vor- lesungen über die praktische Medicin statt, welche ebenfalls einen Cursus von drei Jahren in Anspruch nahmen. Dabei wurde im ersten Jahre das 9. Buch des Liber medicinalis ad Almansorem des Rhazes, welches die Pathologie enthält, mit den Bemerkungen des Jon. Aeculanxts, im zweiten die Fieberlehre und im dritten die allgemeine Therapie nach dem Canon des Avtcenna mit den Erklärungen des Dino de Gabbo u. A. zu Grunde gelegt.

Neben diesen ordentlichen Vorlesungen, welche die angestellten Professoren abhielten, behandelten einzelne zur medicinischen Facultät gehörige Doktoren in ausserordentlichen CoUegien besondere Themata, die sie freiwillig wählten, z. B." die Prognostik des Hippokrates.

Ähnlich war der Lehrplan, welchen der Professor an der medici- nischen Facultät zu Wien, Martin Stainpeis, i. J. 1520 den Studie-

^ Cod. Galeni Dresd., No. 92, fol. 20 ^ 30*. 39 •. 296». No. 93, fol. 587 >>. 608 ^ Ch. Meaüx St. Mabc: L'6cole de Saleme, Paris 1880 (Vignette). Lacroix: Science et lettres au moyen-age, Paris 1877. L. Geiger: Benaissance und Humanismus, Berlin 1882, S. 408 (nach einem Deckengemälde des Laurentius de Voltolina).

' F. Zarncke: Die Statutenbücher der Universität Leipzig, 1861, S. 38, 586 u. fr.

202 Der medidniscJie Unterriehi im MUtelaUer.

renden empfahl. ^ Er zählt in seinem Buch die medicinischen Schriften auf, welche sie lesen sollten, und zwar nach ihrem Inhalt so geordnet, dass sie in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge geeignet erscheinen, den Studierenden allmälig mit den einzelnen Theilen der Heilkunde bekannt zu machen. Unter ihnen werden die wichtigsten medicinischen Autoren des Alterthums und der Araber und ihre Erklärer, sowie eine. Anzahl italienischer Ärzte, deren Werke damals eine grössere Verbreitung erlangt hatten, genannt.

Stainpeis erörtert dabei den Nutzen dieser Lektüre für den künf- tigen Arzt und giebt den Eath, dass immer mehrere Schüler zusammen studieren sollen, damit sie einander gegenseitig über Dinge, welche dem einen von ihnen unklar sind, belehren können. „Vor dem Schlafen- gehen muss jeder Schüler Das, was er am Tage gelernt hat, wie ein Ochs wiederkäuen (fol. XVII)." Auf diese Weise vergingen die ersten drei Jahre der medicinischen Studienzeit.

Während der zweiten Hälfte derselben, also nach der Erlangung des Baccalaureats, beschäftigten sich die Studierenden der Medicin damit, Vorlesungen über einzelne Gegenstände zu hören, an den Disputationen, welche allwöchentlich unter Aufsicht der Professoren stattfanden, Theil zu nehmen, anatomischen Zergliederungen beizuwohnen, Hospitäler zu besuchen und die praktische Behandlung der Krankheiten kennen zu lernen.

Die Disputationen, welche schon in den Schulen der latrosophisten des Alterthums übUch waren, und auch von den Arabern eifrig ge- trieben wurden, bildeten einen wesentlichen Bestandtheil des medici- nischen Unterrichts. Sie entsprachen der ganzen Erziehungsmethode der scholastischen Periode, welche mehr in der dialektischen Gewandtheit als in der Tiefe des Wissens, mehr in der todten Schulgelehrsamkeit als in der praktischen Tüchtigkeit, welche das Leben fordert, ihr Ziel suchte. Im Grunde genommen dienten die Disputationen als eine nützliche Ergänzung der theoretischen Vorlesungen; denn sie boten den Schülern Gelegenheit, zu zeigen, ob und wie sie den Inhalt der- selben in sich aufgenommen hatten.

Sie waren somit gleichsam Prüfungen, welche die Studierenden in Gegenwart ihrer Lehrer und Mitschüler ablegten. Die Lernenden wurden dadurch auf Lücken ihres Wissens und die Lehrenden auf Mängel des Unterrichts aufmerksam gemacht. Leider entarteten diese

^ Martin Stainpeis: Liber de modo studendi seu legendi in medicina, Vienn. 1520, f. VII u. ff. A. V. Rosas: Geschichte der Wiener Hochschule u. bes. der med. Facultät, Wien 1843, I, 149 u. ff.

Der Unterricht in der Anatomie, 203

Disputationen häufig in hohle Redeübungen, welche nicht die Sache förderten, sondern nur die persönliche Eitelkeit befriedigten. Die jungen Leute „prahlen dabei mit Hippokrates und Galen, gebrauchen unge- wöhnliche Worte und bringen überall ihre Aphorismen an", sagte Johann von Salisbüby.

Die Baccalaureen waren ausserdem verpflichtet, die jungen Studie- renden zu unterrichten, indem sie ihnen Abschnitte aus den medicini- schen Schriften der alten Autoren übersetzten und erklärten und Vor- träge übiör einzelne Theile der Heilkunde hielten. Die Gewohnheit schuf auch hier bestimmte Eegeln; so wurde es in Paris eingeführt, dass über die Aphorismen des Hippokrates 50, über das Buch de regimene 30, über die akuten Krankheiten 38, über die Prognostik 36 Vorlesungen stattfanden.^ Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese Unterrichtsmethode für die Studierenden manche Vortheile hatte. Die Jesuiten, welche sie später in ihren Schulen anwendeten, verdankten ihr zum grossen Theile die Lehrerfolge, die sie erzielten.

Der Unterricht in der Anatomie.

Der medicinische Unterricht an den Universitäten trug also im Wesentlichen einen theoretischen Charakter; nur auf einzelnen Gebieten wurden Versuche gemacht, denselben mit praktischen Demonstrationen zu verbinden. So wurde die Anatomie zwar hauptsächUch nach Büchern gelehrt, aber durch Zeichnungen und Abbildungen, durch die Betrach- tung lebender Körper und die Zergliederung todter Thiere und Menschen erläutert.

Leider haben sich nur wenige anatomische Zeichnungen aus jener Zeit erhalten. Henei de Mondeville, welcher zuerst Professor in Mont- pellier und später Leibarzt Philipps des Schönen (1285 1314) von Frankreich war, gab seiner Anatomie 13 Abbildungen bei, wie Guy VON Chauliac berichtet. 2 Die königliche Bibliothek zu Berlin besitzt das CoUegienheft eines Studenten, welcher i. J. 1304 die Vorlesungen desselben nachgeschrieben hat; am Bande befinden sich rohe Feder- zeichnungen, denen H. de Mondeville's Abbildungen wahrscheinlich als Vorlage dienten.

^ Sabatier a. a. O.

* GrUY VON Chauliac: Chirurgia, Tract. I, doctr. 2, c. 1.

204 Der medicinisehe Unterricht im Mittelalter,

Ein Pergament -Codex aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts, welcher in der königlichen Bibliothek zu Dresden aufbewahrt wird,^ enthält Initialen mit Abbildungen, welche Vorgänge aus dem ärztlichen Leben, darunter auch mehrere anatomische Demonstrationen, darstellen. Aus denselben scheint hervorzugehen, dass beim Unterricht nackte Personen vorgestellt wurden, an denen die einzelnen Theile des mensch- lichen Körpers gezeigt und erläutert wurden. Vielleicht wurden die inneren Organe durch Umrisse auf der äusseren Haut gezeichnet?

Das gebräuchlichste Hilfsmittel des anatomischen Unterrichts bil- deten die Zergliederungen von Thieren. In Salemo benutzte man dazu vorzugsweise Schweine; an anderen Hochschulen ahmte man dieses Beispiel nach. Femer wurden auch Bären, AflFen, namentlich aber Hunde zu diesem Zweck verwendet. ^ In den Rechnungen der medi- cinischen Facultäten jener Zeit spielte daher der Ankauf von Schweinen und anderen Thieren zu anatomischen Untersuchungen bisweilen keine unbedeutende Rolle. Die Zergliederungen thierischer Körper blieben auch gebräuchlich, nachdem die Sektionen menschlicher Leichen ge- stattet worden waren, da sich nur sehr selten die Gelegenheit zur Vor- nahme derselben bot.

In den ersten Jahrhunderten des Mittelalters wurden sie durch die religiösen und politischen Gesetze ebenso wie durch die socialen Vorurtheile verhindert. Es scheint, dass die Ärzte jener Zeit dieses wichtige Mittel der medicinischen Ausbildung auch nicht entbehrten; denn das anatomische Wissen Galen's und seiner Erklärer genügte ihnen, und ein Bedürfiiiss zu selbstständigen Forschungen war nicht vorhanden. Die verständigen Ärzte verkannten freilich niemals, welche Bedeutung die Anatomie für die Medicin besitzt;^ aber erst im 13. und 14. Jahrhundert gelang es, die Hindernisse zu beseitigen, welche das Studium derselben erschwerten oder unmöglich machten.

Kaiser Friedrich IL ermahnte die Studierenden von Salemo, sich

^ Cod. Galeni No. 92. 93 mit dem Commentar des NicoL v. Beggio, No. 92, fol. 19^ 26^ 34^ 50». 59». SS*». 93^ ^6^ 109*. 151*. 158'. 164^ 169^ 177*. 304*. L. Choülant: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung, Leipzig 1852, S. 2.

' MoNDiNo : de anatomia (matricis). Mag. Richardus bei Habseb a. a. O. I, S. 736. J. Hyrtl: Vergangenheit und Gegenwart des Museums für mensch- liche Anatomie an d. Wiener Universität, Wien 1869, p. XII.

' So erklärte Taddeo Alderotti (1223—1303), dass er über das Wesen der Schwangerschaft nicht genaue Auskunft geben könne, weil er leider niemals Gelegenheit gehabt habe, eine Schwangere zu seciren. A. Corbadi: Dello studio e deir inscgnamento dell' anatomia in Italia nel medio evo in Bendiconti del R. istit. Lombardo, Milano 1873, ser. 11, vol. VI, p. 634.

Der UnUrricM in der AneUomie, 205

mit der Anatomie zu beschäftigen, und verordnete, dass kein Chirurg zur Praxis zugelassen werde, bevor er den Nachweis geliefert habe, dass er sich ein Jahr hindurch dem Studium der Anatomie gewidmet habe. Auf den Antrag des Mabtianus, Protomedicus von Sicilien, erliess er i. J. 1238 den Befehl, dass alle fanf Jahre in Gegenwart der Ärzte und Chirurgen eine Leiche secirt werde. ^

In Bologna fanden wahrscheinlich schon im 13. Jahrhundert Sektionen menschlicher Leichen statt. Im J. 1302 wurde auf Befehl des Bichters dort sogar eine gerichtsärztliche Sektion vorgenommen, da der Verdacht vorlag, dass ein Mann vergiftet worden sei; zu dieser Untersuchung wurden 2 Ärzte und 3 Chirurgen hinzugezogen.

Aus der Schilderung dieses Ereignisses geht nicht hervor, dass es der erste Fall dieser Art war, sondern im Gegentheil, dass man in solchen Untersuchungen und der Beurtheilung ihrer Ergebnisse bereits einige Erfahrungen besass.^ Aus dem gleichen Grunde soll Wilhelm VON Saliceto den Leichnam des Neffen des Marchese Pallavicini secirt haben. ^

Der Minoriten-Mönch Salimbeni erzählt, dass während einer Seuche, die i. J. 1286 in Italien wüthete, ein Arzt viele Leichen, deren Tod dadurch herbeigeführt worden war, öflEhete, um die Ursache des Leidens zu ergründen. Während der grossen Pestepidemie von 1348 haben verschiedene Ärzte diesen Versuch gemacht;* leider war das Eesultat, zu welchem sie dabei gelangten, nicht viel werth.

Man scheute sich auch nicht, die Leichen vornehmer Personen, welche fem von ihrer Heimath starben, durch Kochen und Maceration für den Transport herzurichten. So erging es den Bischöfen, Fürsten und adeligen Herren, die mit dem Heere Friedrich Barbarossa's 1167 in die Nähe von Eom kamen und dort einer Seuche erlagen,® und dem Kaiser selbst, als er im Flusse Saleph bei Jerusalem ertrank.® Ebenso machte man es mit der Leiche Ludwigs IX. von Frankreich, der 1270 bei Tunis starb, ^ sowie mit derjenigen Philipps des Kühnen und seiner Gemahlin. ^

* A. Buboobaeve: Precis de Thistoire de ranatomie, Gand 1840, p. 47.

* Medici a. a. 0. p. 5 u. ff. 10.

* PucciNorn: Storia della medicina H, pars II, 357.

* A. CoRBADi: Annali delle epidemie in Italia, Bologna pro a. 1286 u. 1348. ° G. H. Pebtz: Monum. Welforam ant. in Script, rer. German., Hanno v.

1869, p. 41.

^ Benedictus Petbobübo: Gesta regni Henrici II. in Script, rer. Brit. med. aevi, London 1867, T. 49, Vol. II, p. 89.

' CoBRADi a. a. 0. anno 1270.

® MuBATOBi: Rer. Script, it. VIII, 861.

206 Der medidnisohe Unterricht vm Mittdalter.

Pabst Bonifaz VIII. verbot dieses Verfahren i. J. 1300^ und nahm damit der anatomischen Forschung, welche damals eben wieder begann, ein Hilfsmittel, dessen Verlust ihr empfindlich war. Mondino schrieb, dass gewisse Knochen nur deutlich zu erkennen seien, wenn sie durch Kochen präparirt würden, dass er dies aber nicht thue, weil er sich fürchte, eine Sünde zu begehen.^ Sein Commentator Berengar von Cabpi sagt ihm freilich nach, dass er dieser Sünde nicht immer Widerstand geleistet und doch manchmal menschliche Knochen ge- kocht habe.^

Mondino, welcher in Bologna die Lehrthätigkeit ausübte, hat eine grosse Anzahl von Leichen-Sektionen ausgeführt.* Er selbst erklärt bei einer Gelegenheit, wo er über die Grössenverhältnisse des jung- fräulichen, des in der Menstruation begriffenen und des schwangeren Uterus spricht, dass er i. J. 1315 zwei weibliche Leichen zergliedert habe. ^ Bei seinen Arbeiten sollen ihn sein Prosector Otto Agenio aus Lustrula und eine junge Dame, Alessandra Giliani aus Persiceto, unterstützt haben. ^

Der praktische üntemcht an der Leiche wurde in vier Lektionen beendet, wie Guy von Chauliac berichtet, welcher bei Bertuccio, einem Schüler Mondino's, gehört hatte. In der ersten Vorlesung wurden die Organe der Ernährung, d. h. diejenigen der Bauchhöhle, „weil sie am schnellsten der Verderbniss anheimfallen," in der zweiten die membra spiritiuiUa, also die der Brusthöhle, in der dritten die membra animata (Gehirn) und in der vierten die Extremitäten besprochen.^

Um die Bänder, Knorpel, Gelenke, grösseren Nerven u. a. m. zu sehen und zu studieren, wurden die Leichen längere Zeit an der Sonne getrocknet, in die Erde vergraben, damit sie faulen, oder in fliessendes,

^ Decr. de sepulturis. S. auch Coeradi: Dello studio dell anatomia a. a. 0. p. 865.

* Mondino: De anatomia auris. ' Comment. Bonon. 1521, f. 510.

* multoties, wie Guy von Chauliac in seiner Chirurgie (I, 1, 1) schreibt.

* Mondino: de anatom. matricis.

* Wenn Al. Macohiavelli (Effemeridi sacro-civili, Bologna 1736, p. 60 u. ff.) von der letzteren erzählt, dass sie verstanden hätte, die Blutgefitese selbst in ihren feinsten Verästelungen zu reinigen, ohne sie zu zerreissen, und sie dann mit einer gefärbten Flüssigkeit gefüllt habe, welche nach der Gerinnung die Form der Gefasse deutlich wahrnehmen Hess, so wird diese Erzählung durch keine älteren Autoren verbürgt. Es ist nicht recht wahrscheinlich, dass man zu einer Zeit, da die Anatomie noch einen sehr niedrigen Standpunkt innehatte, bereits die Kunst der Gefilss-Injektion gekannt habe. Vergl. M. Medici a. a. 0.

p. 28 u. ff:

' Guy V. Chauliac: Chirurgia a. a. 0.

Der Unterricht in der Anatomie. 207

zuweilen auch in kochendes Wasser gelegt. Manche Anatomen, wie der Magister Eichardus, fanden eine derartige Behandlung des mensch- lichen Körpers „schrecklich" und zogen es deshalb vor, die Anatomie an den Leibern von Thieren zu lehren. Andere wird weniger die reli- giöse Scheu, als der Umstand, dass sich nur selten die Grelegenheit zu Sektionen menschlicher Körper bot, dazu veranlasst haben.

Manche Ärzte verschafften sich die Leichen, wenn sie dieselben nicht auf rechtmässige Weise erhalten konnten, durch Diebstahl. So spielte i. J. 1319 ein Prozess in Bologna, in welchem ein dortiger Lehrer der Medicin und vier seiner Schüler angeklagt waren, die Leiche eines Gehenkten heimlich aus dem Grabe genommen zu haben, um sie zu seciren.^ Derartige Fälle mögen sich in jener Zeit ziemlich häufig ereignet haben. Man rechnete mit dieser Thatsache und liess die Leichen nehmen, weil man sie nicht gern geben wollte. „Die Ge- setze gegen die Entweihung der Gräber schwiegen", wie Cobeadi sagt,^ „ohne dass sie aufgehoben wurden, und man schritt nur dann ein, wenn offenbare Gewalt angewendet oder grosses Ärgerniss gegeben worden war."

Nur ganz allmälig wurden für die Vornahme der Sektionen mensch- licher Leichname legale Formen gefunden. Der Senat von Venedig verordnete i. J. 1368, dass alljährlich eine Sektion stattfinde, damit sich die Ärzte und Chirurgen über die Lage der einzelnen Theile des Körpers unterrichten könnten.'

Die Universität Montpellier erhielt 1376 das Recht, alle Jahre die Leiche eines Verbrechers, an dem die Todesstrafe vollzogen worden war, zu zergliedern,* und der Universität zu Lerida wurde 1391 das- selbe Privilegium vom König Johann L verliehen.^ Derselbe bestimmte, dass die Stadtobrigkeit zu diesem Zweck den Leichnam eines Verbrechers liefere, welcher durch gewaltsames Untertauchen ins Wasser getödtet worden war, damit der Körper völlig unversehrt erscheine.

Ferdinand der Katholische erlaubte den Ärzten und Chirurgen zu Saragossa, die Leichen der Personen, welche in dem dortigen Spital gestorben waren, zu öffnen, wenn sie es für nützlich hielten, ® und der Pabst gestattete dies den Ärzten des Klosters della Guadelupe zu Estre- madura.^ Die medicinische Facultät zu Tübingen erhielt vom Pabst

^ Medici a. a. 0. p. 36. 427 u. fF. * Corradi a. a. 0. p. 642.

^ Corradi a. a. 0. p. 635. * Astruc a. a. 0. p. 32.

* Germain a. a. 0. III, 134. Denifle a. a. 0. I, S. 507. ^ A. H. Morejon: Historia bibliografica de la medicina espagnola, Madrid 1842, I, 252.

^ Morejon a. a. 0. II, 25. Leider sagt er nicht, wann dies geschehen ist.

208 Der medidnische Unterricht im Mittelalter,

Sixtus IV. i. J. 1482 das Recht, die Leichname von hingerichteten Verbrechern zu seciren. ^

In den Statuten der Universität Bologna v. J. 1405 wurde an- geordnet, „dass sich kein Doktor oder Student der Medicin, überhaupt Niemand eine Leiche aneignen dürfe ohne Erlaubniss des Eectors." Wenn Sektionen unter der Leitung eines Professors stattfanden, so wurde eine bestimmte Anzahl von Studierenden aufgefordert, denselben bei- zuwohnen; bei der Zergliederung einer männlichen Leiche durften nicht mehr als 20, bei derjenigen einer weiblichen, weil dieselbe seltener vorkam, nicht mehr als 30 Schüler anwesend sein, damit Jeder Alles deutlich sehen konnte. Kein Student wurde zu diesen Demonstrationen früher zugelassen, als nachdem er bereits zwei Jahre medicinische Vor- lesungen gehört hatte.

Der Bector musste dafür sorgen, dass allmälig sämmtliche Medi- ciner Gelegenheit erhielten, eine Leichensektion zu sehen, und dass bei den Einladungen dazu die Mitglieder aller Scholaren-Corporationen die gleiche Berücksichtigung erfuhren. Aus diesem Grunde wurde be- stimmt, dass kein Student, welcher die Sektion eines männlichen Leich- nams gesehen hatte, in demselben Jahre ein zweites Mal zu der gleichen Demonstration hinzugezogen würde. War dies im folgenden Studien- jahre geschehen, so wurde er überhaupt nicht mehr zu der Sektion einer männlichen, sondern nur noch zu derjenigen einer weiblichen Leiche eingeladen, so dass er während seiner Studienzeit im günstigsten Falle der Zergliederung von zwei männlichen und einem weiblichen Körper beiwohnen konnte.

Die Kosten, welche die Erwerbung, der Transport, die Herrichtung und Bestattung der Leiche verursachte, mussten die anwesenden Stu- dierenden tragen; doch durften sie bei einem männlichen Körper nicht über 16, bei einem weiblichen nicht über 20 Bologneser Pfund be- tragen. Von dieser Summe erhielt der Professor, welcher die Sektion vollzog, 100 Solidi. Die Mitglieder des Lehrer-CoUegiums lösten sich in dieser Funktion ab; kein Lehrer durfte die Aufforderung der Stu- dierenden, die Zergliederung einer Leiche vorzunehmen, ablehnen.^

Im J. 1442 wurde gesetzlich angeordnet, dass die Obrigkeit oder die Gerichtsbehörden von Bologna der Universität alljährlich zwei Leichen und zwar eine männliche und eine weibliche oder, wenn die letztere nicht zu erlangen war, zwei männliche für anatomische Zer-

* L. F. Fboriep: Die anatomischen Anstalten zu Tübingen, Weimar 1811, Beil. I, 14.

* Statut, deir univ. di Bologna v. 1405, Ruhr. 96, bei Corradi: Dello studio deir anat. in Italia a. a. 0. p. 638 u. ff. 647.

Der Unterricht in der Anatomie, 209

gliederungen liefern. Es war dabei nicht vorgeschrieben, dass sie von hingerichteten Verbrechern stammen, sondern dem Ermessen der Be- hörden überlassen, sie zu beschaffen, auf welche Art es möglich war (quomodoGvmique fieri poterit); nur durften sie nicht von Personen her- rühren, welche in Bologna ihre Heimath hatten. ^ Ähnliche Verhältnisse bestanden in Padua, Ferrara und Pisa.^

Im Allgemeinen pflegte man zu anatomischen Untersuchungen die Körper von Verbrechern zu verwenden, an welchen die Todesstrafe voll- zogen worden war. Das Volk betrachtete, wie schon im Alterthum, die Verstümmelung oder Zerschneidung des todten Leibes als eine Ent- weihung, welcher man höchstens Personen aussetzen durfte, die durch fluchwürdige Verbrechen die allgemeine Verachtung auf sich geladen hatten.

Als die wissenschaftlichen Bedürfnisse wuchsen, genügte diese Art, das Leiohenmaterial zu beschaffen, nicht, und man musste dasselbe noch auf anderen Wegen zu erwerben suchen. Aber auch dann hielt man daran fest, dass zu diesem in der öffentlichen Meinung entehrenden Zweck nur die Leichen fremder oder, wenn einheimischer, doch nur solcher Personen verwendet wurden, welche von niederem Herkommen waren. Es war eine Ausnahme, wenn man in Pisa dazu auch die todten Körper der Bürger dieser Stadt, sowie der Studenten und Dok- toren, wenn es ihre Verwandten gestatteten, benutzte, und erklärt sich vielleicht aus dem demokratischen Geist, welcher damals dort herrschte.'

Später und in weit geringerem Umfange als an den Hochschulen Italiens entwickelte sich der praktische Unterricht in der Anatomie an den Universitäten der übrigen Länder. In Paris begann man erst im 15. Jahrhundert mit derartigen Demonstrationen. In Prag fanden seit 1460 anatomische Zergliederungen statt, nachdem die dortige medici- nische Facultät durch Schenkung in den Besitz eines eigenen Hauses gelangt war. * In Wien veranstaltete der von Padua dorthin berufene Professor öaleazzo di S. Sofia i. J. 1404 die ersten anatomischen Demonstrationen, zu welchen ihm eine männliche Leiche geliefert wurde. Sie geschahen im Bürgerspital und dauerten acht Tage. Nach der Beendigung derselben sammelte der Professor bei den Zuschauem Geld, welches m die Kasse der Facultät floss.^ Es vergingen 12 Jahre, bis die nächste öffentliche anatomische Sektion stattfand; dies geschah dann

^ Statut y. 1442, Hubr. 19, bei Cobradi a. a. O. p. 648.

* Cobradi a. a. 0. p. 638.

' Fabroni: Hist. acad. Pisan., Pisa 1792, T. II, 73.

* Hyrtl: Greschichte der Anatomie in Prag, 1841, S. 9.

* Hyrtl: Vergangenheit und Gegenwart a. a. 0. S. VIII.

PuscHMANN, Unterricht. 14

210 Der medidnische ühterriohi im Mittelalter,

wieder 1418. Zu diesen Demonstrationen wurden Doktoren und Stu- denten der Medicin, Chirurgen, Apotheker, Gelehrte und vornehme Standespersonen eingeladen.

Im J. 1433 wurde ein besonderer Lector der Anatomie, Dr. Joh. AiaEL aus Nürnberg, angestellt. Auf eine seltsame Weise wurde die Facultät i. J. 1440 in ihren Erwartungen einer anatomischen Sektion getäuscht. Es war ihr zu diesem Zweck der Körper eines Verbrechers, welcher gehenkt worden war, übergeben Worden; aber als man die Zergliederung vornehmen wollte, kam derselbe wieder zum Leben. Er wurde in Folge dessen begnadigt und in Begleitung des Universitats- Pedells in seine Heimath Alt-Ötting in Bayern abgeschoben, wo er später wegen neuer Verbrechen doch noch am Galgen starb.

Im J. 1452 wurde in Wien zum ersten Male eine weibliche Leiche zergliedert; doch wurden dabei nur Ärzte und Chirurgen zugelassen. Im 15. Jahrhundert fanden dort ungefähr alle 8 Jahre einmal anar tomisohe Demonstrationen an der Leiche statt.

Die Statuten der medicinischen Facultät zu Tübingen v. J. 1497 bestimmen, dass alle 3 oder 4 Jahre eine menschliche Leiche öffentlich zergliedert werde; ein Professor musste während dessen die Erklärung dazu aus Mondino's Anatomie den Zuschauern vorlesen. Ahnlich ver- fuhr man an anderen deutschen Hochschulen.

Es war unter solchen Verhältnissen kein Wunder, dass die ana- tomische Wissenschaft in jener Periode keine sichtbaren Fortschritte machte. Mondino's anatomisches Werk, welches seit den Zeiten des Alterthums das erste war, dessen Verfasser menschliche Leichen zer- gliedert hatte, befand sich trotzdem noch vollständig auf dem Stand- punkte Galen's.

Auf teleologischer Grundlage ruhend, liefert es auf etwa 80 Seiten eine ziemlich dürftige Beschreibung der Lage der einzelnen Theile des Körpers, namentlich der Organe der drei grossen Körperhöhlen, und ihres vermeintlichen Nutzens; von den Muskeln werden nur diejenigen der Bauchwand ausführlicher beschrieben. Zahlreiche Bemerkungen über Krankheiten und Operationen an einzehien Körpertheilen, welche in die Schilderung derselben eingestreut sind, weisen darauf hin, welchem Zweck das Buch dienen sollte. Gleichwohl erlangte dasselbe ein ausser- ordentliches Ansehen und bildete durch mehr als zwei Jahrhunderte das beliebteste Lehrbuch der Anatomie.

Das anatomische Wissen erfuhr auch durch Gut von CHAUiiiAO, Matthaeus de Geadibus, Peter von Aegelata und ihre Nachfolger keine bemerkenswerthen Bereicherungen. Die rohen Holzschnitte, welche der Leipziger Professor Magnus Hundt seinem anatomischen Werk

Der Unterrieht in der Arxneibereitung und der ärxtliehen Praxis, 211

beigegeben hat, ^ werfen ein schlimmes Licht auf den Zustand der Ana- tomie im 15. Jahrhundert.

Auf einer höheren Stufe stehen die anatomischen Zeichnungen in dem Werk des Johannes de Ketham, weil sie zum Theil von tüchtigen Künstlern, wie Bened. Montagna, herrühren.

Der Unterricht in der Arzneibereitung und der

ärztlichen Praxis.

Zum Studium der Arzneipflanzen bot sich in den Gärten, welche bei vielen Klöstern bestanden, Gelegenheit. Auch manche Ärzte, wie Matthaeus Sylvaticus in Salerno und der Magister Waltee in Venedig, welchem der Senat zu diesem Zweck i. J. 1333 einen Platz anwies, 2 legten derartige Gärten an. Aber die Universitäten besassen in jener Zeit dieses werthvolle Lehrmittel noch nicht, und die Kennt- niss der Arzneipflanzen wurde hauptsächlich durch den theoretischen Unterricht und durch Bücher, welche manchmal mit botanischen Zeich- nungen verziert waren, vermittelt.

Die Droguen und die Bereitung der Heilmittel lernten die Stu- dierenden in den Apotheken kennen, die vom 13. Jahrhundert ab in allen grösseren Städten entstanden. Stainpeis empfahl den Studenten und jungen Ärzten, zu diesem Zweck oft die Apotheken zu besuchen. Felix Plattee^ erzählt, „dass er in Montpellier neben stetigem Stu- dieren und Lektionen-Zuhören sich sehr übte in Präparationen von allerlei Arznei, wohl aufzumerken in der Apotheke," und viele Kräuter sammelte, die er „zierlich" in Papier einhüllte.

Die Apotheker bezogen einen grossen Theil der Droguen von aus- wärts, und es entwickelte sich in diesen Dingen im Mittelalter ein reger Handel, der aus dem Orient über Italien führte.^ Ausser den Arzneistoffen hielten die Apotheken übrigens noch andere Artikel, ver- schiedene Specereien, Gewürze, Wachskerzen, Papier, Zucker und Süssig- keiten zum Verkauf; an vielen Orten, namentlich in Deutschland, übten die Apotheker zugleich das Pfeff'erküchler-Handwerk aus und waren

^ Choulant a. a. O. S. 24. ^ Meyee a. a. 0. IV, 255.

® Platter a. a. 0. S. 151.

* W. Heyd: Geschichte des Levantehandels, Stuttgart 1879, 11, 550 u. ff.

14*

212 Der medicmische Unterricht im Mittelalter.

verpflichtet, den Eathsherren der Stadt alljährlich in der Fastenzeit allerlei Näschereien als Geschenk zu übersenden.^

tTber die ArzneistolBFe, welche damals in den Apotheken vorräthig gehalten und am meisten gebraucht wurden, und deren Preise giebt ein Vertrag v. J. 1424 Aufschluss, in welchem ein Apotheker sich ver- pflichtet, die erforderlichen Medicamente für den herzoglichen Hof zu Este zu liefern. 2 Eine Bestätigung und Ergänzung erfahren diese Mittheilungen durch die Angaben, die über den Inhalt einer Apotheke zu Kosel in Schlesien i. J. 1417^ und über die Droguen und Medi- camente, welche die Apotheker in Frankfurt a. M. i. J. 1450 verkauften,* gemacht worden sind.

Von den Einrichtungen der Apotheken jener Zeit zeichnen einzelne Abbildungen des oben erwähnten Dresdener Codex und verschiedener medicinischer Incunabeln ein deutliches Bild.*'

In Italien und Frankreich bildeten die Apotheker schon im 13. Jahr- hundert Genossenschaften, die sich ihre eigenen Gesetze gaben und streng darüber wachten, dass ihre Rechte nicht verletzt wurden.® In Deutschland sollen die ersten Apotheken zu Wetzlar 1233, in Schweid- nitz 1248, in Würzburg 1276, in Augsburg 1285, in Esslingen 1300 und in Frankfurt a. M. 1343 errichtet worden sein. Im 15. Jahr- hundert besassen nicht blos alle grösseren Städte, sondern schon viele mittlere und kleine Orte, wie z. B. Znaim, Pressburg, Krems, Budweis, Olmütz, Brunn und Kuttenberg Apotheken.^

Die Ausbildung der Apotheker geschah handwerksmässig. ® Als liChrbücher dienten hauptsächlich die Werke des Nicolaus Mybepsos, NicoLAUs Praepositus, Christoph de Honestis, Saladin von AscuijO, QuiRicus DE AuGUSTis u. A. Bevor den Apothekern die Erlaubniss zur Ausübung ihrer Thätigkeit ertheilt wurde, mussten sie sich einer

* A. Philippe: Geschichte der Apotheker, übers, v. H. Ludwig, Jena 1859, I, S. 87.

* A, OoBRADi: Su i documenti storici spett. alla medicina, chirurgia, far- maceutica, in Annal. univ. di med., vol. 273, Milane 1885.

^ Henschel im Janus, Breslau 1847, 11, 152.

* J. A. Flückigeb: Die Frankfurter Liste, Halle 1873.

» Cod. Galeni No. 92, fol. 181^ 182». 193*. 265». 266». Choulant in Naumann's Arch. f. d. zeichnenden Künste, Leipzig 1855, Bd. I, 2, S. 264. H. Peters: Mittelalterliche Apotheken im Anzeiger des germ. Nationalmuseums, Nürnberg 1885, Bd. I, H. 1/2. A. Essenwein in d. Beil. z. Anz. d. germ. Nat., Bd. I, No. 11/12.

* A. GoBBADi: Grli antichi statuti degli speziali in Annali univ. di med., VoL 277, Milano 1886.

' Stainpeis a. a. 0. f. 29. * Stainpeis a. a. O. f. 29**.

Der Unterricht in der Arzneibereitung und d&i' ärztlichen Praocis. 213

Prüfung unterziehen, bei welcher ihre Meister und einige Ärzte die Fragen stellten. Die Aufsicht über die Apotheken und ihre Visitationen wurde von den Ärzten, in späterer Zeit überall von den Stadtärzten, ausgeübt.

Wie der praktische Unterricht in der Heilmittellehre, so lag auch die praktische Unterweisung in der Behandlung der Kranken ausser- halb der Aufgaben, welche sich die Universitäten stellten. Aber man darf daraus nicht etwa schliessen, dass die Studierenden jener Zeit überhaupt keinen Unterricht am Krankenbett erhalten hätten. Nam- hafte Historiker kamen zu dieser irrigen Meinung, weil in den Nach- richten, welche von der älteren Geschichte der Hochschulen und medicinischen Facultäten handeln, darüber wenig oder gar nichts ge- sagt wird.

Der praktische Unterricht in der Krankenbehandlung geschah un- abhängig von den Universitäten, weil die letzteren nicht in Verbindung standen mit Hospitälern.

Wenn der Studierende der Medicin das Baccalaureats-Examen ab- gelegt hatte, so trachtete er, sich unter der Anleitung seines Lehrers, bei dem er die theoretischen Vorlesungen gehört hatte, oder eines an- deren erfahrenen Arztes in der medicinischen Praxis auszubilden. Er begleitete ihn zu diesem Zweck, wenn derselbe seine Patienten besuchte, oder bemühte sich, in den Krankenhäusern die Gelegenheit zu erhalten, die Heilung der Leiden zu sehen und zu erlernen. Hatte er bereits einige Kenntnisse auf diesem Gebiet erworben, so durfte er seinen Meister unterstützen und vertreten und unter dessen Aufsicht und Verantwortung beginnen, selbst die Kranken zu behandeln.

Diese Methode der ärztlichen Ausbildung, welche der heutigen gleicht, wurde schon in der medicinischen Studienordnung des Kaisers Friedrich H. empfohlen. Die jungen Ärzte zu Salemo standen, wie erwähnt, nach Beendigung der gesetzlichen Studienzeit noch ein volles Jahr unter der Aufsicht eines älteren Praktikers, bevor sie selbstständig ihre Kunst ausüben durften.

In dem schon mehrmals erwähnten Galen-Codex des 15. Jahr- hunderts zu Dresden finden sich mehrere Initialen-Miniaturen, welche auf klinische Unterweisung hindeuten. So zeigt No. 93 fol. 46 P das Bild eines an Marasmus leidenden, im Bett liegenden Kranken, bei welchem der Arzt steht und seinem Schüler ein Eecept diktirt; ausser- dem sind noch zwei Wärterinnen anwesend. Die Abbildung auf fol. 565** stellt einen Arzt dar, welcher seinen Schülern zwei Kranke, deren Schenkel mit Geschwüren bedeckt sind, demonstrirt; fol. 468^ zeigt eine chirurgische Operation am Unterschenkel, welche der Schüler

214 Der medieinisohe Unterricht im Mittelalter,

in Gregenwart des Lehrers ausführt, 500 ^ die EröflEnung eines Abscesses in der Achselhöhle. In Cod. 92 fol. 268** erscheint eine Kinder-Poli- klinik, und fol. 158* und 295^ werden nackte Schwangere vorgestellt^

In Montpellier, wo schon i. J. 1198 ein Hospital existirte, war es üblich, dass die Studierenden der Medicin, nachdem sie das Bacca- laureat erlangt hatten, unter der Anleitung eines erfahrenen Arztes die ärztliche Praxis ausübten. Astbuc* führt in den Biographien der früheren Lehrer der Medicin an der Schule zu Montpellier verschiedene Fälle an, in welchen dieses System beobachtet wurde, und betrachtet die- selben keineswegs als besondere Ausnahmen, sondern als allgemeine Eegel.

Die medicinische Pacultät zu Paris forderte i. J. 1449 von ihren Baccalaureen, dass sie fleissig die Hospitäler besuchten oder einen tüch- tigen Arzt bei seinen Krankenbesuchen begleiteten, und verweigerte ihnen, wenn diese Vorschrift nicht erfüllt wurde, die Zulassung zur Licenz. ^

In den ältesten Statuten der Wiener medicinischen Facultät aus dem 14. Jahrhundert wurde bestimmt, dass die Baccalaureen der Me- dicin die Heilkunst innerhalb der Mauern Wiens nur mit Wissen und unter der Leitung ihres Lehrers oder eines anderen Doktors der Wiener Facultät ausüben durften.* Stainpeis gab den Studierenden vortreff- liche ßathschläge, wie sie dabei verfahren sollten. ^ Vor Allem gilt es, wie er sagt, die Ursache der Krankheit zu ergründen; hierauf wird der leidende Theil genau besichtigt und dann der übrige Körper einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen.

An der Universität zu Ingolstadt mussten die Baccalaureen der Medicin nach den Statuten von 1472 dem Dekan einen Eid leisten, dass sie innerhalb der Stadt und im Umkreise von sechs Meilen nur

1 Vergl. auch Cod. Galeni No. 92, fol. 7^ 17»». 43*. 75^ 121*. 128\ 208*. 224*. No. 93, fol. 458*. 471^ 475^ 482^ 496*. 504*. 535^ 560^

* AsTEUc a. a. 0. p. 236 (apres son bacealaureat, il alla en Provence p<mr y eocercer la mideciney suivant l'tcsage de ce tempa-lä), p. 243 (apres quoi il alla passer le temps, qu'il etoit ahrs desHne pow s'eocereer ä la pratique apres k bacealaureat) u. a. m. Vergl. Platter a. a. 0. S. 154. In den Statuten von 1240 heisst es: Item nullus Tnagister presentef aliquem (zur Licenz), nisi ille steterit in practica extra viüam Montispessulani per dimidium annum (nach GrEBMAiN a. a. 0. m, 424).

' Hazon: Eloge hlstorique de la facult^ de m^decine de Paris, 1770, p. 20 (qu'ils suivissent les kopitaux ou la pratique de qtielqtte mattre pendant le cours de la licence, faute de quoi ils n'etoient point admis ä ce degre).

* J. Zeisl: Chronol. dipl. universit. Vindob. Vienn. 1755, Statut, p. 80.

* Stainpeis a. a. 0. f. 102*» u. ff.

Der Unterrieht in d&r Ärzneibereittmg und der ärxtlich&n Praads. 215

Kranke besuchen und prakticiren würden, wenn sie als Stellvertreter ihres Lehrers oder eines anderen Doktors der dortigen Facultät auf- gestellt worden seien. ^ Sie hatten also ungefiihr dieselben Funktionen, wie unsere Praktikanten an den poliklinischen Instituten mancher Hochschulen.

An Hospitälern, in welchen die Baccalaureen der Medicin Gelegen- heit zur praktischen Ausbildung in der Heilkunst fanden, war im Mittelalter kein Mangel. Ihre grosse Anzahl muss umsomehr Erstaunen erregen, als uns nur ein Theil derselben bekannt ist. Die Nachrichten, welche sieh darüber erhalten haben, sind unvollständig und lückenhaft. Soweit sie sich auf Deutschland beziehen, oder die Leprosenhäuser be- treffen, wurden sie von Vibchow zusammengestellt.*

Ein reiches Material liegt ausserdem zerstreut in den Archiven und Bibliotheken; viele Quellen sind wahrscheinlich noch unerschlossen. Es wäre eine dankenswerthe Aufgabe, eine Geschichte der Gi*ündung und Entwickelung der Spitäler im Mittelalter zu schreiben; sie würde auf die Geschichte der Medicin wie auf die allgemeine Culturgeschichte manchen Lichtblick werfen.

Das Christenthum hatte eine Menge von Wohlthätigkeitsanstalten ins Leben gerufen, wie ich in einem früheren Abschnitt auseinander- gesetzt habe. tTberall wo seine Lehren verkündet wurden und Gläubige fanden, entstanden neben den Kirchen und Klöstern auch Hospitäler und Häuser für Arme und Gebrechliche aller Art. Die christlichen Missionäre, welche aus Italien und Frankreich nach den Ländern des Nordens und Ostens Europas kamen, waren Träger der Cultur, indem sie Humanität predigten und Wissenschaften lehrten, wenigstens soweit sie dabei mit ihren eigenen Interessen nicht in Conflikt geriethen.

Unvergängliche Triumphe feierte die christliche Wohlthätigkeit durch Gründung zahlreicher geistlicher und weltlicher Ordensgenossen- schaften, deren Mitglieder die Pflege der Kranken zu ihrer Lebensaufgabe machten. Ein Enthusiasmus der Menschenliebe erfüllte die Herzen, wie ihn die Welt nur ein einziges Mal gesehen hat. Hochgeborene Fürstinnen und arme Bauern, Eitter und Bürger wetteiferten miteinander in den Werken der Barmherzigkeit. Wohl möglich, dass Viele nicht so sehr der Idealismus der Liebe, als die Hofihung auf die Belohnungen des Jenseits und andere weniger edele Beweggründe dazu führten, ihr

^ C. Pbantl: Geschichte der Ludwig Maximilians-Universität zu Ingolstadt, Landshut, München 1872, I, 50. II, 43.

" ViBCHOw's Archiv, Bd. 18, S. 138—162. 273—329. Bd. 19, S. 43—93. Bd. 20, S. 166—198. 459—512.

216 Der medidnische UnterricM im Mittelalter..

Leben dem Dienst der Menschheit zu weihen; aber haben ihre guten Thaten deshalb vielleicht weniger Segen gestiftet?

Das Sehnen und Bingen nach Idealen, welche die von der Gegen- wart unbefriedigte Menschheit in einer übersinnlichen Welt der Zukunft verwirklicht glaubte, wirkte veredelnd auf den Charakter, milderte die ßohheit der Sitten und umgab manches Unternehmen mit einem Zauber, ohne welchen es vielleicht thöricht oder verächtlich erschienen wäre.

Dieser romantische Zug drückte auch den Kreuzzügen, in welchen sich wilde Lust nach Abenteuern und gemeine Habsucht mit frommer Glaubenseinfalt verbanden, ein eigenthümliches Gepräge auf. Wenn auch das eigentliche Ziel dieser militärischen Expeditionen, das Land, in welchem die Wiege des Christenthums stand, von der Herrschaft der Mohammedaner zu befreien, nicht, wenigstens nicht dauernd erreicht wurde, so hatten sie doch für die Entwickelung der Cultur manche wohlthätige Folgen; denn es wurden dadurch Handelsbeziehungen zwi- schen dem Orient und dem Occident eröflEuet, der geistige Gesichtskreis der Bewohner Europas erweitert und bei den Christen im Verkehr mit den Andersgläubigen das Gefühl der Zusammengehörigkeit geweckt, welches sich in der Stiftung von Hospitälern und Ordensgenossenschaften äusserte, die sich zu gemeinsamem Wirken auf dem Felde der Kranken- pflege verbanden.

Das grosse Hospital, welches die Johanniter im 12. Jahrhundert in Jerusalem besassen, vermochte 2000 Kranke aufeunehmen. Es be- stand aus mehreren Gebäuden, welche, wie der Ritter Johann von Maundeville berichtet, von 124 Marmorsäulen getragen wurden. 5 Ärzte und 3 Chirurgen, welche an diesem Krankenhause angestellt waren, besorgten den ärztlichen Dienst.^

Im J. 1236 besass der Orden 4000 Ordenshäuser, welche über die verschiedenen Länder der Christenheit vertheilt waren; aber schon ein Jahrhundert später klagte Pabst Clemens VL darüber, dass sich die vornehmen Ritter desselben lieber an schönen Pferden und Hunden, an Schmausereien, prächtigen Kleidern, goldenen und silbernen Gefässen und Kostbarkeiten aller Art ergötzten und Reichthümer anhäuften, als dass sie Kranke pflegten und Almosen spendeten. ^

Auch der deutsche Orden, welcher eine grosse Anzahl von Ho- spitälern errichtete, wandte sich seit dem 14. Jahrhundert mehr und mehr von der Krankenpflege ab und zog es vor, durch kriegerische Eroberungen politische Macht zu gewinnen.

* F. V. Räumer: Geschichte der Hohenstaufen, Leipzig 1858, VI, 439.

* J. Taafpe: The history of the holy military sovereign order of St. John of Jerusalem, London 1852, ad ann. 1343.

Der Unterricht in der Arzneibereitung und der ärztliGhen Praxis, 217

Der Orden der Lazaristen, welcher ebenfalls in Palästina entstand und die Pflege der Aussätzigen zur Aufgabe hatte, gründete eine Menge von Leprosen-Häusem. ^ Als der Aussatz in Folge der Verbesserungen der Hygiene und der richtigeren Diagnostik der verschiedenen Leiden, welche man bis dahin unter seinem Namen zusammengefasst hatte, allmälig seltener wurde, und in einzelnen Ländern schon im 16. Jahr- hundert gänzlich erlosch, fühlten sich die Ritter des hl. Lazarus ihrer Pflicht, Kranke zu pflegen, überhoben.

Treuer hielten an dieser Aufgabe die bürgerlichen Krankenpfleger- Genossenschaften fest, wenn auch einzelne derselben später ebenfalls entarteten. Der Orden des hl. Geistes war eine Schöpfung des Pabstes Innocenz IlL, der ihn zum Werkzeug ausersehen hatte, um dadurch der Krankenpflege eine die ganze Christenheit umfassende Organisation zu geben. ^ Es macht, wie Virchow schreibt, einen ergreifenden und zugleich versöhnenden Eindruck, zu sehen, wie „dieser gewaltige Mann, welcher den Kaiser demüthigte und Könige entsetzte, der unerbittliche Verfolger der Albigenser, seinen Blick mitleidsvoll auf die Armen und Kranken wendete und die Hilflosen und Elenden aufisuchte". ^

Der Orden des hl. Geistes wird zuerst in einer Urkunde v. J. 1198 erwähnt; damals besass er bereits zwei Hospitäler in Rom, eines in Montpellier und noch sieben andere in Frankreich. Im J. 1204 wurde das von Innocenz III. erbaute Hospital zu S. Spirito in Rom eingeweiht ; der Boden, auf dem es errichtet wurde, soll schon unter dem Pabst Symmachus im 6. Jahrhundert das alte Sachsen-Hospiz getragen haben. ^

Der Orden zum hl. Geist entfaltete eine ausserordentliche Thätig- keit. Schon bald nach seiner Entstehung stiftete er an verschiedenen Orten, wie z. B. in Zürich, Halberstadt, Wien, Spandau, Breslau, Riga^ Lübeck, Bremen und Hamburg, Krankenhäuser oder übernahm die Leitung von Anstalten, welche wie diejenigen zu Memmingen, Prei- burg i/Br., Mainz und Ulm, schon in früherer Zeit bestanden. Vlrohow hat die Nachrichten über 154 Krankenhäuser dieses Ordens in Deutsch- land, welche mit wenigen Ausnahmen im 13. und 14. Jahrhundert gegründet wurden, gesammelt ^ Daneben bestanden noch viele Spitäler, welche von anderen Krankenpfleger -Genossenschaften geleitet wurden.

Die Gründung von Wohlthätigkeits- Anstalten folgte dem Wege,

^ F. V. Raumeb a. a. 0. VI, 534.

' Hübteb: Geschichte des Pabstes Innocenz HI., Hamburg 1842. ^ ViBCHOw: Gresammelte Abhandlungen, Berlin 1879, II, S. 24. ^ C. L. Mobichini: Degli istituti di carit4, Borna 1870, p. 99. Gbeoobovius: Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Stuttgart 1859, II, 467. * ViBCHOw a. a. 0. II, 45 u. flf.

218 Der Tnedioinische Unterricht im Mittelalter.

auf welchem sich die Cultur in Europa verbreitete. Italien, Frankreich und das südliche und westliche Deutschland gingen voran, und die nördlichen und östlichen Lander unseres Welttheils folgten ihnen. Um ein Urtheil über diese Thätigkeit und ihre Erfolge im Einzelnen zu erhalten, ist es am besten, ein beschränktes Gebiet ins Auge zu fassen. Thüringen, Sachsen, Brandenburg, Pommern und Schlesien, also die- jenigen Länder, welche damals etwa die Grenze der Cultur bildeten, waren schon im 13. Jahrhundert reich versehen mit Hospitälern und Leproserien;^ selbst kleine Orte, deren Namen in der Geschichte kaum genannt werden, besassen derartige Anstalten. In Schlesien gab es deren zu Breslau (1214), Kloster-Trebnitz, Neisse (1226), Neumarkt (1234), Bunzlau (1261), Brieg (1273), Glatz (1275), Münsterberg (1276), Liegnitz (1280), Sagan (1283), Steinau(1290), Eatibor (1295), Gr.Glogau (1296), GörUtz (1298), Sprottau und Schweidnitz (1299), Beuthen (1302), Oels (1307), Frankenstein (1319), Freistadt (1320), Löwenberg (1322), Leubus (1330), Strehlen (1347), Goldberg (1348) u. a. 0. Allerdings sind die Angaben, welche darüber gemacht werden, unvollständig und ungenau; aber sie liefern doch ein Bild von dem Reichthum an An- stalten, welche man zur Pflege der Kranken getroffen hatte.

Es darf wohl angenommen werden, dass es in jenen Ländern, deren Cultur älter und mehr entwickelt und deren Reichthum grösser war, jedenfalls nicht schlechter, sondern wahrscheinlich noch besser damit bestellt war. Frankfurt a/M. besass im 13. Jahrhundert schon drei oder vier Krankenhäuser. ^ Das für Kranke und Sieche errichtete Katharinen- Hospital zu Regensburg hatte in der Mitte des 13. Jahr- hunderts 250 Pfleglinge. Eine derartige Zahl bildete damals sicherlich eine Ausnahme; denn die meisten Hospitäler jener Zeit waren klein und konnten nur wenige Personen aufnehmen.

Die Leiter der Regensburger Anstalt machten auch darauf auf- merksam, dass dieselbe überfüllt war, und dass in Folge dessen die Luft verpestet und Krankheiten auf gesunde Leute übertragen wurden. Welche Unreinlichkeit und sanitätswidrigen Verhältnisse noch im 15. Jahrhundert in einzelnen dieser Spitäler herrschten, zeigen die drastischen Mittheilungen, welche Thomas Platter über seinen Aufent- halt im Krankenhause zu Breslau hinterlassen hat.^

Es ist leider noch wenig erforscht, inwieweit und in welcher Art

* VmcHOw's Archiv, Bd. 18, S. 150 u. ff. 275 u. ff. 310 u. ff.

* G. L. Krieqk: Deutsches Bürgerthum im Mittelalter, Prankfurt a/M. 1868, I, S. 76 u. ff. W. Stricker: Geschichte der Heilkunde in Prankftirt a/M., 1847, S. 129.

^ Platter a. a. O. S. 22.

Die ärztlichen Prüfungen, 219

die Spitaler des Mittelalters zum XJnterriclit der Studierenden der Me- dicin und jungen Ärzte verwendet wurden.

Die Errichtung von Krankenanstalten erfolgte an vielen Orten früher, als sich dort wissenschaftlich gebildete Ärzte niederliessen. Die Krankenpflege ging somit häufig der Krankenbehandlung voraus.

Die ärztlichen Prüflingen.

Die medicinischen Prüfungen, welche die Studierenden der Heil- kunde ablegen mussten, bevor sie zur Praxis zugelassen wurden, hatten ihr Vorbild an den Einrichtungen, die der Kaiser Friedrich IL zu Salerno geschaffen hatte.

Im Verlauf der Zeit traten jedoch an die Stelle des einen Examens, welches am Schluss der Studien stattfand, die Prüfungen für das Bacca- laureat, die Licenz und das Magisterium oder Doktorat. Diese aka- demischen Grade wurden zuerst, wie es scheint, in Bologna und Paris eingeführt. In Salerno und Neapel wurden sie von Cael von Anjou 1278 und 1280 angeordnet, wie aus den von S. de Eenzi citirten Documenten hervorgeht^

Wer sich um das Baccalaureat der Medicin bewarb, musste zwei oder drei Jahre hindurch medicinische Vorlesungen gehört haben und dann in einem mündlichen Examen, welches vor den Mitgliedern der medicinischen Facultat stattfand, den Nachweis liefern, dass er sich eine allgemeine theoretische Kenntniss der einzelnen Zweige der Heil- kunde erworben hatte. Durch einen feierlichen Akt, die Determination, bei welcher der Candidat eine ihm gestellte wissenschaftliche Frage erörterte, wurde er aus der Klasse der Scholaren in diejenige der „Baccalarien", wie es in dem corrumpirten Latein des Mittelalters heisst, versetzt. Das Wort wird von einigen Erklärem mit baeulum, dem Stock, in Verbindung gebracht, der den Baccalaureen angeblich als Zeichen ihrer neuen Würde überreicht worden sein soll. ^ Mit grösserer Wahrscheinlichkeit wird es von bacca lauri abgeleitet; es erinnert an die Krönungen der Dichter mit dem Lorbeerkranz, von denen die Geschichte des Mittelalters erzählt.

Auf das Baccalaureat folgten nach einem Zeitraum von zwei oder drei Jahren, welche der Candidat zu seiner weiteren fachwissenschaft-

* S. DE Renzi: Storia docum. della scuola med. di Salerno, Doc. No. 287. 291. ' DE Renzi: Storia docum. della scuola med. di Salerno, p. 556.

220 Der medioinische Unterricht im Mittelalter,

liehen, namentlich aber zur praktischen Ausbildung benutzte, die Pru- fangen, welche der Ertheilung der Licenz vorausgingen. Bei der Zu- lassung wurde vorausgesetzt, dass der Baccalaureus ausser den Vor- lesungen, die er besucht hatte, an den Disputationen Theil genommen und dabei den Professoren mehrmals geantwortet, einige Vorträge ge- halten, den anatomischen Demonstrationen beigewohnt und sich in der praktischen Heilkunst ausgebildet habe. Die Examina wurden ebenfalls von der medicinischen Facultät abgehalten, bestanden in der Erklärung eines Hippokratischen Aphorismus, der Beschreibung einiger Krank- heiten und der Beantwortung der Fragen, welche daran geknüpft wurden. War das Ergebniss günstig, so wurde der Caadidat durch zwei Mitglieder der Facultät dem Kanzler der Universität vorgestellt, welcher ihm in feierlicher Weise die Licenz ertheilte.

Da die Kanzler-Würde überall von hohen Geistlichen bekleidet wurde, welche sich als Vertreter des Pabstes, des obersten Schutzherm des Unterrichts, betrachteten, so fand dieser Akt in der Kirche statt. Derselbe trug daher gleichsam einen religiösen Charakter, welcher Andersgläubige, z. B. die Juden, von der Erlangung der Licenz aus- schloss; doch scheint man schon in sehr früher Zeit einen Ausweg ge- funden zu haben, indem man die Verleihung der Licenz in solchen Fällen der Facultät überliess.^

Die Ärzte, welche in den Prüfungen ihre Befähigung zur Aus- übung der ärztlichen Praxis gezeigt imd die Erlaubniss dazu erhalten hatten, wurden Meister oder Magistri genannt. Nachdem bei den Ju- risten zu Bologna der Doktor-Titel üblich geworden war* und in allen Rechtsschulen Eingang gefunden hatte, begannen auch die medicinischen Facultäten, denselben zu gebrauchen.

Das Wort „Doctor" kommt schon in der Literatur des Alterthums vor^ und bezeichnet dort einen Lehrer (von dooere). In diesem Sinne wurde der Doktor-Titel auch von den medicinischen Facultäten zunächst Denjenigen ertheilt, welche als Lehrer der Heilkunde thätig waren. Dies geschah an den meisten Hochschulen bereits im 13. Jahrhundert. Da das Recht, zu lehren, jedem Arzt zustand, welcher zur Ausübung seiner Kunst legitimirt war, so wurde auch der Doktor-Titel allmälig allen Ärzten gegeben.

* DE Renzi a. a. 0. p. 558. 572.

' Savignt a. a. 0. I, 476. Gkuner's Almanach für Arzte, Jena 1789, S. 250 u. ff.

* Cicero: de erat. I, 19. Süeton: Caesar c. 42. Valer. Maxim. H, 3. Quintilian: Instit. orat. XI, 3, XH, 2. Ebsch u. Gbüber: Encyklop. sect. I, Th. 25, S. 237 u. ff.

Die ärztlicJien Prüfungen, 221

Als man anfing, zwischen den Doctores legentes et non legentes, zwischen Denjenigen, welche die Lehrthätigkeit ausübten, und Jenen, welche dies unterliessen, zu unterscheiden, entstand der Gebrauch, die ersteren Professoren zu nennen. Auch dieser Ausdruck stammt aus dem Alterthum;^ er kommt von proßeri, „eine Kunst oder Wissen- schaft öffentlich ausüben oder lehren". An den deutschen Universitäten kam der Titel „Professor" erst im 16. Jahrhundert auf, und zwar wurden* damit nur diejenigen LeTirer der Hochschule bezeichnet, welche mit der Abhaltung von Vorlesungen beauftragt waren und für diese Lehrthätigkeit eine Besoldung oder Remuneration bezogen. Es waren dies also die Mitglieder des Lehrer-CoUegiums, welche man früher Doctores regentes geaannt hatte.

Der Wechsel in der Bedeutung der Titulaturen und Formen der Höflichkeit, wie er sich im Verlauf der Zeiten vollzieht, hat seinen Grund zum grossen Theile in der menschlichen Eitelkeit. Heut ergeht es dem Professor-Titel wie einst dem Doktor-Titel; er wird an Ärzte verliehen, welche dem Lehramt gänzlich fernstehen, während manche Lehrer der Hochschulen schon nicht mehr so gern den Titel von Pro- fessoren, als denjenigen von Geheimen Käthen, Hofräthen oder Re- gierungsräthen führen.

Die Würde eines Doktors der Medicin konnte Jeder erlangen, der die Licenz zur Ausübung der ärztlichen Praxis besass. Zu diesem Zweck waren keine besonderen Prüfungen erforderüch; dagegen wurde ver- langt, dass der Candidat von ehrenhafter und ehelicher Abkunft, un- bescholten und sittsam, mindestens 26 Jahre alt, ohne körperliche Mängel und wohlgestaltet sei. An einigen Universitäten wurde das Alter auf 28 Jahre festgesetzt imd ein Nachlass in dieser Hinsicht nur dann gestattet, wenn der Candidat nicht zu weibisch ,und jugendlich aussah. Personen, welche missgestaltet oder abschreckend hässlich waren, sollten nicht zugelassen werden und zwar aus einem sonder- baren Grunde; man befürchtete nämlich, dass sich schwangere Frauen an ihnen versehen könnten.

Der Promotions-Akt war mit einer öffentlichen Disputation und verschiedenen Ceremonien verbunden, welche die Aufnahme des Gan- didaten in die ärztliche Zunft versinnbilden und ihm die hohe Bedeu- tung seiner neuen Würde deutlich vor Augen führen sollten. Die Feier wurde unter Glockengeläute und Theilnahme der ganzen Facultät

* Celsfs: Praef. u. 11, 6. Subton: Rhetor. 5. Quintilian: Institut orat Prooem. u. I, 9. XII, 11. Savignt a. a. 0. I, 396. H. Conbiko: Autiq. acad. I, 25.

222 Der medidnische Unterricht im Mittelalter,

vollzogen. Sie begann mit einem Vortrage des Doktoranden, dessen Verdienste von dem Professor, welcher den Akt leitete, in einer Rede beleuchtet wurden. Der Candidat legte dann einen Eid ab, dass er jeder Zeit seine Pflichten gegen die Facultät und den ärztlichen Stand überhaupt erlFuUen werde; hierauf wurde ihm der sogenannte Doktorhut aufgesetzt, ein Ring an den Finger gesteckt als Zeichen des ritterlichen Ranges, dem die Doktorwürde gleichgeachtet wurde, ein goldener Gürtel umgelegt, und ein Buch des Hippokeates vor ihm aufgeschlagen. Dann wurde er eingeladen, sich an der Seite des Promotors nieder- zulassen, von Diesem umarmt und ihm der Segen ertheilt. Mit dem Dank des neuen Doktors schloss die Feier, welcher ein Gastmahl folgte^ an welchem alle Mitglieder der Facultät Theil nahmen.

Die Ausgaben dafür, sowie die Taxen, welche gezahlt, und die Geschenke, die an verschiedene Personen vertheilt wurden, machten die Doktor-Promotion zu einer ziemlich kostspieligen Sache. In Wien hatte der Candidat die Verpflichtung, einem Doktor der medicinischen Facultät einen vollständigen Anzug zu schenken; es mussten dazu 14 Ellen Tuch von guter Qualität verwendet werden. Übrigens blieb es ihm unbenommen, mehrere seiner CoUegen auf diese Weise zu erfreuen. Femer erhielt jeder Doktor der Facultät ein Barett und ein Paar ge- wirkter Handschuhe, jeder Licentiat und Baccalaureus ein Paar gewöhn- licher Handschuhe, „wobei jedoch der Anstand und die Ehre der Facultät zu berücksichtigen sind."^ Ahnliche Anforderungen wurden auch an anderen Universitäten gestellt. Am meisten betrugen die Ausgaben^ welche die Promotion in Paris verursachte. Armen Doktoranden wurden^ wenn sie sich durch ihre Kenntnisse auszeichneten, die hohen Spesen ausnahmsweise erlassen, und an einzelnen Hochschulen geschah dies regel- mässig in bestiinmten Zeiträumen. ^

Manche wurden durch die mit der Promotion verbundenen Un- kosten von der Bewerbung abgeschreckt und begnügten sich damit, als Licentiaten die ärztliche Praxis auszuüben. Die letzteren genossen in dieser Hinsicht die gleichen Rechte wie die Doktoren. Es bestand zwischen ihnen nur der einzige Unterschied, dass die Doktoren voll- berechtigte Mitglieder der Facultät waren, über die Angelegenheiten derselben Berathungen pflegten und Beschlüsse fassten und an einzelnen Beneficien Theil nahmen.

In dem Wesen des Studium generale lag es, dass die Doktor- Würde in allen Ländern der Christenheit Geltung hatte. Allerdings wurden

* BosAs a. a. 0. I, S. 35. Hautz a. a. 0. I, 160.

* Coppi a. a. O. p. 204.

Die Chirurgie v/nd Geburtshilfe, 223

schon in früher Zeit einige Beschränkungen geltend gemacht; doch richteten sich dieselben nicht so sehr gegen das Recht, überall die ärztliche Berufsthätigkeit auszuüben, als gegen den Anspruch, als voll- berechtigtes Mitglied in die medicinische Facultät einer anderen Uni- versität aufgenommen zu werden. Die Facultäten sahen in der Pro- motion eine wichtige Einnahmequelle, welche geschmälert wurde, wenn Doktoren, die an fremden Hochschulen promovirt worden waren, ohne Weiteres als Mitglieder derselben betrachtet wurden. So weigerten sich die Ärzte von Bologna i. J. 1298, einen Collegen, den Sohn eines dortigen Bürgers, in ihre Genossenschaft aufzunehmen, weil er in Salemo die medicinische Doktorwürde erworben hatte und noch nicht 30 Jahre alt war. Derselbe antwortete selbstbewusst, dass er den Mangel an Jahren durch Kenntnisse ersetze.^

Zwischen Paris und Montpellier herrschten beständig derartige Streitigkeiten, und ebenso war es auch an anderen Hochschulen. Den- selben wurde erst ein Ende gemacht, als bestimmt wurde, dass die Doktoren, wenn sie die Aufuahme in eine Facultät nachsuchten, von welcher sie nicht ihren akademischen Grad erhalten hatten, einige Prüfungen, die jedoch in der Hauptsache nur eine Formalität waren, ablegten und bestimmte Taxen bezahlten.

Die zur Praxis berechtigten Ärzte, welche an den Universitäten ihre theoretische Ausbildung erlangt hatten, zerfielen also in die Dok- toren und die Licentiaten, die sich aber nicht durch ihr Wissen, sondern lediglich durch den Titel unterschieden.

Die Chirurgie und Geburtshilfe.

Nach ihrer Thätigkeit sonderten sich die Ärzte in solche, welche hauptsächlich innere Krankheiten, und in solche, welche äussere Leiden behandelten. Die Trennung der Chirurgie von der internen Medicin bestand, wie früher auseinandergesetzt worden ist, schon im Alterthum. Sie dürfte sich auch nachher während der ersten Jahrhunderte des Mittel- alters erhalten haben, ohne dass jedoch eine strenge Scheidung der Ver- treter dieser beiden Disciplinen stattfand. Wenn sie durch ihre Kennt- nisse und ihre Tüchtigkeit einander ebenbürtig waren, so werden sie sicherlich auch im gesellschaftlichen Leben dassel])e Mass von Achtung genossen haben.

* Meiners: Geschichte der hohen Schulen, Bd. II, S. 267.

224 Der medidnisehe Unterricht im Mittelalter,

In der Studienordnung des Kaisers Friedrich II. wurde die Zu- sammengehörigkeit dieser beiden Theile der Heilkunst hervorgehoben, und die medicinischen Schulen zu Salerno und Montpellier widmeten der Chirurgie im Lehrplan die gebührende Aufmerksamkeit und bil- deten beide Kategorien der Ärzte aus. Man bezeichnete die Heil- kundigen als medid physici und medid chirurgi und wollte damit viel- leicht andeuten, dass sie eine äquivalente fachmännische Ausbildung besassen. Auch wurde der Titel Physici anstatt Medici gebraucht.

Leider vernachlässigten später die meisten Universitäten nach dem Vorgange von Paris den Unterricht in der praktischen Heilkunde, be- sonders in der Chirurgie. Da gleichzeitig den Ärzten, welche de;n geistlichen Stande angehörten, die Ausübung der Chirurgie untersagt wurde, so stellte sich das Bedürfniss heraus, dass eine Klasse von Heil- kundigen existire, welche die Wundarzneikunst zu ihrer besonderen Aufgabe machten. Dazu kam, dass die Kriege und beständigen Fehden zwischen den kleinen Territorialherren, die Kreuzzüge, namentlich aber die grossen Seuchen, welche im Mittelalter die Länder verheerten, den Beweis lieferten, dass die vorhandenen Ärzte weder nach ihrer Zahl, noch nach ihren Kenntnissen den Bedürfhissen genügten. Diese Um- stände begünstigten die Bildung eines chirurgischen Standes, die eigent- lich erst im 13. Jahrhundert deutlich hervortrat.^

Derselbe setzte sich zusammen aus Doktoren und Licentiaten der Medicin, welche hervorragende Neigung oder Begabuug zur Chirurgie führte, aus Heilkünstlem, denen aus religiösen oder socialen Gründen die Erlangung akademischer Grade versagt war, und aus jener Masse von Empirikern, welche sich eine bemerkenswerthe Sicherheit in der Behandlung chirurgischer Leiden erworben hatten. Er barg also Ele- mente von sehr verschiedener wissenschaftlicher Qualität in sich.

Die Chirurgen Italiens und Frankreichs standen im Allgemeinen den Ärzten ihrer Heimath ebenbürtig zur Seite. Sie besuchten einige Zeit hindurch die Vorlesungen an der Universität ^ und erwarben sich eine allgemein-wissenschaftliche und fachmännische Bildung, welche den Forderungen jener Zeit entsprach. Viele waren zugleich zur Behand- lung der inneren Krankheiten berechtigt und zeichneten sich darin eben so sehr aus als in der Chirurgie. Die Namen eines Hugo und Teodoeico Bobgognoni, Bruno von Longobubgo, Wilhet<m von Saliceto, Lanfeanchi, Henei de Monde ville, Guy von Chauliac,

^ A. Ghiapelli: Studii suU' esercizio della medicina in Italia negli Ultimi tre secoli del medio evo, Milano 1885, p. 5. ' Coppi a. a. 0. p. 199.

Die Chirurgie und Geburtshilfe. 225

Peteb von Abgelata, Marcello Cumano, Leon. Bebtapaglia u. A. gehören zu den glänzendsten, welche die chirurgische Literatur jener Zeit wie die Geschichte der Heilkunde überhaupt aufweisen kann.

Die Pariser Chirurgen bildeten schon um die Mitte des 13. Jahr- hunderts eine Genossenschaft, welche sich nach dem Muster der medi- cinischen Facultät organisirte. Sie wurde nach dem hl. Cosmas, welchen sie zu ihrem Schutzpatron wählte, das College de St. Cöme genannt.

Die Mitglieder desselben hielten regelmässige Versammlungen ab, in welchen sie die Standes- und Unterrichtsangelegenheiten besprachen, und ertheilten ihren Schülern Unterricht in ihrer Kunst. Der letztere war, wie es scheint, vorzugsweise praktischer Natur, indem die Lehr- linge ihre Meister zu den Kranken begleiteten und dort die chirurgischen Verrichtungen kennen lernten. Lanpbanchi, welcher am CoUöge de St. Cöme lehrte, führte in Gegenwart seiner Schüler die chirurgischen Operationen aus und wurde dabei von ihnen unterstützt. Auch wohnten die Schüler den öffentlichen unentgeltlichen Krankenordinationen bei, welche die Mitglieder des College abhielten, und besuchten mit ihnen die Hospitäler, an denen ihre Lehrer angestellt waren. Einzelne ver- sahen dort vielleicht die Funktionen, welche unsere Heilgehilfen und Krankenwärter verrichten. Ausserdem wurden sie zu anatomischen De- monstrationen zugezogen, wenn sich dazu die Gelegenheit bot.

Die Schüler mussten sich am Schluss ihrer Studien einer Prüfung unterziehen; schon 1254 verlangten die Chirurgen, dass zu diesem Zweck Examinatoren ernannt würden. Ein Edikt Philipp des Schönen v. J. 1311 bestimmte, dass Niemand die chirurgische Praxis ausüben dürfe, der nicht von den Meistern für fähig erachtet und vom Leibchirurgen des Königs die Licenz dazu erhalten habe.^ Später wurden die Stu- dierenden der Chirurgie genöthigt, an der Universität den Grad eines Magister artium zu erwerben und einige Vorlesungen an der medici- nischen Facultät zu hören.

Im J. 1416 wurde das College de St. Cöme als besondere Facultät der Pariser Hochschule einverleibt.

Die Zöglinge desselben erlangten somit eine wissenschaftliche Aus- bildung, welche keineswegs hinter derjenigen der Ärzte zurückstand. Trotzdem wurden sie ihnen in der socialen Rangordnung nicht gleich- geachtet. Diese Zurücksetzung des chirurgischen Standes, welche zuerst in Paris zu Tage trat, hatte ihren Grund theils in dem schon erwähnten Umstände, dass sich der Klerus, welcher damals im gesellschaftlichen Leben die erste Stelle behauptete, von ihm fem hielt, theils darin, dass

* BucHEz: De la facult^ de med. de Paris a. a. 0. 1822. PuscHMANN, Unterricht. 15

226 Der medioinisGke Unterricht im MittelaUer,

- .j

sich unter den Berufsgenossen der Chirurgen auch viele ungebildete Leute von niederem Herkommen befanden, vor Allem aber in den Eifersüchteleien und Streitigkeiten mit der medicinischen Facultät, welche eine unberechtigte wissenschaftliche Superioritat in Anspruch nahm.

Der Kampf zwischen den Ärzten und den Chirurgen dauerte bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts und wurde mit einer Erbitterung geführt, welche auf beiden Seiten beklagenswerthe Ausschreitungen im Gefolge hatte. Die medicinische Facultät zu Paris legte i. J. 1 350 ihren Mitgliedern und Studierenden die Verpflichtung auf, keine Chirurgie auszuüben, und schloss dieselben aus, wenn sie dieses Verbot über- traten.^ Da sie bei den Chirurgen zu wenig Demuth und Unter- würfigkeit fand, 80 setzte sie es 1372 durch, dass den Barbierem das Recht ertheilt wurde, nicht blos den Aderlass auszuführen, sondern die ganze sogenannte kleine Chirurgie auszuüben und Geschwüre und Wunden zu behandeln, solange sie nicht lebensgefährlich seien. Übrigens mag sich auch wohl die Nothwendigkeit einer Klasse von Heilgehilfen ergeben haben, welche den Ärzten zu jeder Zeit zu Diensten standen, um die alltäglichen niederen chirurgischen Verrichtungen auszuführen; denn die eigentlichen Wundärzte mit fachmännischer Bildung waren selten und daher sehr beschäftigt.

Durch diese Einrichtungen wurde die Grenze zwischen den Chirurgen und den Barbierern, welche wahrscheinlich niemals unübersteigbar war, noch mehr verwischt. Die Pariser medicinische Facultät war bestrebt, den letzteren die Möglichkeit, sich zu Chirurgen heranzubilden, zu er- leichtem, indem sie i. J. 1491 Vorlesungen für sie eröfl&iete, welche in französischer Sprache gehalten wurden und die verschiedenen Theile der Chirurgie und Operationskunst behandelten. ^ In der That gingen auch aus dem Stande der Barbierer eine grosse Anzahl von Chirurgen hervor, von denen sich Einige um die Vervollkommnung der Heilkunst unvergängliche Verdienste erworben haben.

In den übrigen Ländern des christlichen Europas befand sich die Chirurgie auf einer niedrigeren Stufe, als in Italien und Prankreich. Wenn der Niederländer Jehan Ypebman im 13. Jahrhundert und der Engländer John Abdebn im 14. Jahrhundert ihre Berufsgenossen in der Heimath an Wissen weit überragten, so verdankten sie dies lediglich dem Umstände, dass sie ihre fachmännische Bildung in Frankreich er- halten hatten.

* A. F. Th6ey: Histoire de l'^ducation en France, Paris 1858.

* Hazon a. a. 0.

Die Chirurgie und Oeburtshilfe, 227

Nur in Spanien scheinen einige Zeit hindurch günstigere Verhält- nisse bestanden zu haben. In Saragossa wurden die Ärzte in der Chirurgie geprüft und erhielten den Titel von Medico-Chirurgen ; eine Einrichtung, die erst i, J. 1585 aufgehoben wurde. ^

Welche Art von Heilkünstlern in Deutschland die Chirurgie aus- übte, zeigen einige Thatsachen, die aus dem Ende des 12. Jahrhunderts berichtet werden. Als der Markgraf Dedo von Rochlitz und Groiz den Kaiser Heinrich VI. i. J. 1190 nach Italien begleiten sollte, fürchtete er wegen seiner Dickleibigkeit das heisse Klima und die Strapazen der Reise und liess einen Arzt kommen, der ihm ohne Weiteres den Leib aufschnitt, um das Fett herauszunehmen. Der Markgraf ging an dieser seltsamen Operation natürlich zu Grunde. ^

Der Herzog Leopold V. von Österreich brach sich i, J. 1195 durch einen Sturz vom Pferde den Unterschenkel, so dass die Bruchenden des Knochens durch die Haut hindurch drangen. Seine Ärzte behan- delten ihn mit Pflastern und Arzneien, bis der Brand eintrat. Sie weigerten sich, die Amputation vorzunehmen, obwohl der Patient sie verlangte. Einer seiner Diener vollzog sie dann; aber der Erfolg war, wie vorauszusehen, ein ungünstiger. Der Herzog starb am folgenden Tage. ^ Verwegenheit und Feigheit, die Kinder der Unwissenheit, waren die Eigenschaften, welche die grosse Masse der deutschen Chirurgen jener Zeit kennzeichneten.

Selbst die Bündth-Erzney des deutschen Ordensritters Heinbich VON ProLSPEUNDT, dcs hervorragendsten Wundarztes, welchen unser Vaterland im 15. Jahrhundert hervorgebracht hat, kann sich nicht mit den chirurgischen Werken der Italiener und Franzosen messen; denn sie war eigentlich nicht viel mehr als eine Anleitung zum Ver- binden und Behandeln der Wunden und äusseren Schäden.

Nirgends vermochte sich die Chirurgie während des Mittelalters zu der Höhe zu erheben, welche sie im Alterthum erreicht hatte. Allerdings finden sich in den Schriften einzelner Wundärzte Bemerkungen, welche eine richtige Erkenntniss der Aufgaben der Chirurgie, eine vor- treffliche Beobachtungsgabe und eine reiche Erfahrung bekunden; aber der Grundton derselben war die geistige UnSelbstständigkeit, die das ganze Zeitalter beherrschte.

Teod. Boegognoni empfahl eine möglichst einfache Behandlungs-

^ V. DE LA FuENTE a. a. 0. II, p. 479.

' Chron. mont. seren. ed. Eckstein im Progr. d. latein. Hauptschule zu Halle, Halle 1844, p. 53.

^ Will, op Newbubqh: Hist. rer. Angl. lib. V, c. 8 in Eer. brit med. aevi Script, T. 82, Abth. 2, p. 432 u. ff., London 1885.

15*

228 Der medidnische Unterricht im Mittelalter,

weise und wies auf die Heilung per primam hin. ^ Unter den Blut- stillungsmitteln wurde von Lanfbanchi u. A. auch die Unterbindung erwähnt. Derselbe suchte femer die Diagnostik der Schädel-Frakturen zu fordern und beschränkte die Trepanation auf diejenigen Fälle, in denen das Gehirn durch eingedrungene Knochen-Fragmente in Mitleiden- schaft gezogen war.^ Guy von Chauliao schrieb, dass der Verletzte, wenn man einen Metallstab, den er zwischen den Zähnen hält, berührt, einen Schmerz an der Stelle des Schädels, wo der Bruch ist, empfindet. Er stellte ebenfalls die Indicationen zur Trepanation fest und schilderte die Ausführung derselben.*

Der Amputation ging er aus dem Wege ; trat Brand in einer Ex- tremität auf, so wartete er, bis sich derselbe in dem zunächst gelegenen Gelenk abgrenzte und sich das Glied von selbst ablöst-e. * Bei der Be- handlung der Fraktur des Oberschenkels wendete er die dauernde Ex- tension des Gliedes an, die er durch ein Gewicht, welches an einer über Rollen laufenden Schnur zog, herbeizuführen suchte. * Die Binden, die zum Verband gebrochener Extremitäten gebraucht wurden, bestrich man vorher mit Eiweiss, welches nach der Gerinnung eine gewisse Un- beweglichkeit des Gliedes bewirkte.®

Man kannte die Schlundsonde und benützte sie zur künstlichen Ernährung. ^

Fisteln wurden durch die Enzianwurzel erweitert oder mit dem Messer in offene Wunden umgewandelt.® In der Operation der Mast- darmfisteln genoss John Abdebn einen grossen Ruf.® Die Hernien wurden . durch andauernde Rückenlage oder durch Bruchbänder be- handelt.^® Eine wesentliche Förderung erfuhr die Herniologie durch Guy V. Chauliao, welcher verschiedene Formen der Hernien nach ihren Bruchpforten unterschied und die Varicocele, Hydrocele und Sarcocele überhaupt davon absonderte. ^^ Die Radikalheilung suchte man

^ Chirurg. TI, c. 27. ' Lanfranchi: Chir. parva, c. 7.

Guy V. Chauliao: Ars chirurg. tr. III, doctr. 2, cap. 1, Venet. 1546.

* Guy V. Chauliao a. a. 0. tr. VI, d. 1, c. 8.

^ Girr V. Chauliao a. a. 0. tr. V, d. 1, c. 7 (ad pedem ligo pondua plumbo trcmseundo chordam super parvam polegeam; itaqtie tenebit tibiam in sua longitudine). ® Guy v. Chauliao a. a. 0. tr. V, d. 1, c. 1.

^ M. C. Bboekx: La Chirurgie de M. J. Yperman in den Annal. de Tacad. d*arch6ol. de Belgique, Anvers 1863, p. 128—326.

® Guy V. Chauliao a. a. 0. tract. IV, d. 1, c. 5.

^ A. Gore im Dublin Journal of medical science 1883, p. 269 u. tf. BßOEKx: Yperman a. a. 0. p. 178.

** Guy V. Chauliao a. a. O. tr. VI, d. 2, c. 6. 7. E. Albert: Die Hernio- logie d. Alten, S. 161 u. ff.

Die Chirurgie imd Oeburtshilfe. 229

durch Ätzungen der Bruchpforte nach Beposition der vorgefallenen Eingeweide zu erzielen. Zu der Entfernung des Hodens, welche bei Scrotal-Hernien angewendet wurde, entschlossen sich nur die herum- ziehenden Empiriker.

Auch der Steinschnitt, welcher nach der Methode des Celsus aus- geführt wurde, lag in den Händen von Specialisten dieser Art. Bei Strikturen der Harnröhre wurden Bougies aus Wachs, Zinn oder Silber gebraucht Bei Erkrankungen der Blase und beim Tripper verordnete John Abdern Einspritzungen.

Einzelne Beschreibungen von Geschwüren und brandigen Zer- störungen an den Geschlechtstheilen beziehen sich mit grosser Wahr- scheinlichkeit auf venerische Aflfectionen. Auf die ältere Geschichte der Syphilis, von der man lange Zeit irrthümlicher Weise annahm, dass sie am Ende des 15. Jahrhunderts überhaupt erst entstanden sei, wirft die Erzählung, dass Tpeeman mit einer Quecksilber-Salbe viele „Aus- sätzige" geheilt habe, ein klärendes Licht. ^ Übrigens wurde dieses Mittel damals häufig bei Geschwüren und Hautleiden gebraucht* Guy V. Chauliac gab den ßath, hartnäckige Geschwüre durch Auf- legen einer Bleiplatte, welche mit Quecksilbersalbe bestrichen war, zu behandeln. Beim Garcinom empfahl er das Glüheisen und den subli- mirten Arsenik.^

Eine bedeutende Bereicherung erhielt die Chirurgie durch das Wiederaufleben der plastischen Operationen, welche, wie erwähnt, schon im Alterthum bekannt waren. In Norcia und Preci in Calabrien be- schäftigten sich die Mitglieder mehrerer Familien seit jeher mit der Ausführung einzelner chirurgischer Operationen, z. B. der Bruchoperation, dem Steinschnitt, der Staaroperation u. a. m. Hier tauchte auch die erste Kenntniss der ßhinoplastik auf. Der Wundarzt Beanca, welcher im Beginn des 15. Jahrhunderts zu Gatania in Sicilien die Praxis aus- übte, erregte durch die Kunst, fehlende Nasen und Lippen durch Herüberziehen benachbarter Theile der Gesiehtshaut zu ersetzen, be- rechtigtes Aufsehen.* Auch sein Sohn Antonio besass darin eine grosse Geschicklichkeit; doch wurde später statt der Haut des Gesichts eine geeignete Stelle der Haut des Oberarms zum Ersatz des Substanz- verlustes verwendet Dieses Operationsverfahren wurde allmälig bei

* Broekx: Yperman a. a. 0. p. 145.

' Annalen von Waverley bei Alp. Corradi: Nuovi documenti per la storia delle malattie veneree in Ann. univ. di med. Milano 1884, vol. 269, p. 289.

* Guy V. Chauuac a. a. 0. tr. IV, doctr. 2, c. 6.

* Barth. Facius; De viris illustr. Florent. 1745, p. 38. E. Zbis: Geschichte der plast. Chirurgie, Leipzig 1863, S. 188 u. ff.

230 Der medicinische Unterricht im Mittelalter,

den Chirurgen bekannt und gelangte sogar nach Deutschland, wie aus Pfolspbundt's Buch hervorgeht.

Nicht unerwähnt darf bleiben, dass man bei den grossen chirur- gischen Operationen bereits anästhesirende Inhalationen anwendete. Sie wurden zuerst im Antidotarium des Nicolaus Praepositus erwähnt; man liess zu diesem Zweck Lösungen narkotischer Substanzen, z. B. von Opium, Hyoscyamus u. a., von einem neuen Schwamm aufsaugen, der hierauf an der Sonne getrocknet, vor dem Gebrauch in heisses Wasser gelegt und dann dem Kranken an die Nase gehalten wurde, damit die aufsteigenden Dünste ihn in einen Zustand von Betäubung und Schmerz- losigkeit versetzen.^

Die Augenheilkunde lag grösstentheils in den Händen von Em- pirikern, welche mit Salben und Medicamenten die Heilung der Krank- heiten des Auges versuchten. Die besten Augenärzte gab es, wie All. Benbdbtti sagt, im Orient;* von dort kamen Einzelne, wie Bbnvenutus Geaphbus, nach Europa und erzielten durch ihre Kunst grosse Erfolge. Die Staaroperation wurde, wie im Alterthum, durch Depression der erkrankten Linse, ausgeführt; Guy v. CnAuiiiAc schreibt, dass man sie, um ihr Wiederaufsteigen zu verhüten, so lange damieder- halten soll, bis man drei Vaterunser oder ein Miserere gebetet hat.^

Noch schlimmer als mit der Augenheilkunde, stand es mit der Geburtshilfe im Mittelalter. Die Ärzte, welche dem geistlichen Stande angehörten, durften sich nicht damit befassen, damit sie vor einer un- ziemlichen Vertraulichkeit mit Frauen bewahrt wurden, und die übrigen Heilkünstler thaten es auch nicht. Unwissenheit, Bequemlichkeit und andere Ursachen hielten die Ärzte ab, Geburtshilfe zu treiben. Sie wurden zu Gebärenden nur gerufen, wenn es sich darum handelte, abgestorbene Früchte aus dem Mutterleibe zu entfernen oder die nach der Geburt zurückgebliebene Nachgeburt zu lösen. Auf diese beiden Aufgaben beschränkte sich im Allgemeinen die ärztliche Thätigkeit . auf diesem Gebiet. Guy v. Chauliac sagt in seinem chirurgischen Werk, dass er sich dabei nicht lange aufhalten wolle, weil die Geburtshilfe gewöhnlich nur von Frauen ausgeübt werde.

Allerdings ist in dem naturwissenschaftlichen Werk des Thomas VON CANTiMPEfi, sowic in dem Breviarium, welches vielleicht mit Un- recht dem Abnald von Villanova zugeschrieben wird, von der Wendung

* Guy V. Chauliac: Chirurg., tr. I, doct. 1, c. 8. A. Coreadi: Escursioni d' un medico nel Decamerone in Atti delF istituto Lombardo, 1878, p. 127 u. £P.

' A. Hibsch: Geschichte der Augenheilkunde a. a. 0. S. 295.

Guy V. Chauliac a. a. 0. tr. VI, doctr. 2, c. 2.

Die Chirurgie tmd Geburtshilfe, 231

auf den Kopf und die Füsse die Eede, ^ und auch Guy spricht von der ümwandelung der anomalen Kindeslage in eine normale^ aber es lässt sich nicht entscheiden, inwieweit diese Bemerkungen nicht blos auf literarischen Reminiscenzen, sondern auf eigenen Erfahrungen beruhten.

Der Kaiserschnitt wurde ausgeführt, wenn die Schwangere vor der Geburt starb, um wenn möglich das Leben des Kindes zu retten. Auch an Lebenden wurde die Operation in einzelnen Fällen unternommen. Schon der wegen seiner ärztlichen Geschicklichkeit berühmte Bischof Paulus von Mebida, welcher im 6. Jahrhundert lebte, entfernte bei einer Extra-Uterin-Schwangerschaft durch einen Einschnitt in den Unter- leib ein abgestorbenes Kind.^ Im J. 1350 wurde an einer schwangeren Frau zu Medingen in Schwaben, welche, weil sie angeblich drei Hostien gestohlen hatte, um sie den Juden zu verkaufen, zum Tode verurtheilt worden war, der Kaiserschnitt vollzogen, bevor sie verbrannt wurde. ^

Die Geburtshilfe lag hauptsächlich den Hebammen ob, welche auch die bei der Geburt erforderUchen manuellen Eingriffe unternahmen. Ihre Ausbildung geschah wahrscheinlich handwerksmässdg. Ihre me- dicinischen Kenntnisse waren sehr verschieden in den einzelnen Ländern. In Italien und Frankreich erhoben sich Einzelne derselben zu Ärztinnen, deren Wissen sich über die gesammte Heilkunde erstreckte; in Deutsch- land waren sie selten mehr als geübte Wartefrauen, welche in der Geburtshilfe einige Erfahrungen gesammelt hatten.

Prüfungen wurden Anfangs nicht von ihnen verlangt Über ihre Befähigung urtheilte die öffentliche Meinung, welche in diesem Falle durch die angesehensten Frauen des Ortes vertreten wurde. Dieselben führten auch eine gewisse Aufsicht über die Hebammen. Später standen die letzteren unter den Stadtärzten, welche sie über ihre Kenntnisse examinirten. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts begannen einzelne Städte in Deutschland, Hebammen anzustellen. Ihre Besoldung war freilich nicht bedeutend; so erhielt die erste Stadt -Hebamme in Frankfurt a. M. jährlich vier Gulden, und von den übrigen jede zwei Gulden. *

* Abnald V. Villanova: Breviarium, lib. III, c. 4. ' 0. F. Heusinoeb im Janus I, 764 u. ff.

^ G. liAMHERT : Volksmedicin u. medicin. Aberglaube in Bayern, Würzburg 1868, S: 12.

^ KaiEOK a. a. 0. I, 14.

282 Der medidnische Unterricht im Mittelalter,

Der ärztliche Stand und die medicinische Literatur

jener Zeit.

Ausser den Ärzten für innere Krankheiten, den Chirurgen und Augenärzten gab es Zahnärzte und Specialisten für verschiedene innere und äussere Leiden.^,

Die Barbierer und Bader waren ebenfalls zu gewissen ärztlichen Verrichtungen berechtigt. Sie unterschieden sich in den ersten Jahr- hunderten des Mittelalters von einander und verschmolzen erst später zu einer Zunft;. Die Bader waren damals zahlreicher als heut, weil die Sitte des Badens allgemeiner verbreitet war. Jede Stadt, ja sogar viele Dörfer hatten öffentliche Bäder. Frankfurt a. M. besass im J. 1387 wenigstens 15^ und zählte unter seinen Bürgern 29 Bader; Mainz hatte im 14. Jahrhundert 4, Würzburg im 15. Jahrhundert 8, Ulm 11, Nürn- berg 13, Augsburg 17 und Wien 29 öffentliche Bäder. ^

Zu diesem zur Heilkunst durch die gesetzlichen Verordnungen mehr oder weniger legitimirten Heilpersonal traten noch andere Kate- gorien, welche das Herkommen als Bechtstitel für diese Beschäftigung betrachten durften. Hierher gehörte zunächst der Scharfrichter und zwar nicht etwa in dem Sinne, dass derselbe durch seine Berufsthätig- keit allen Leiden des Menschen in summarischer Weise ein Ende macht, sondern der Henker verrichtete in der That ärztliche Dienste, indem er die Wunden, welche die Folter geschlagen hatte, behandelte, die ausgerenkten Glieder wieder einrichtete u. a. m.

Die Ausübung der ärztlichen Praxis war allerdings in den meisten Ländern nur Deiyenigen gestattet,, welche durch erfolgreiche Prüfungen ihre Befähigung dazu nachgewiesen hatten. In Paris wurde die Kur- pfuscherei schon i. J. 1220 verboten. Übertretungen dieses Gesetzes wurden streng bestraft, wie die Akten eines darauf bezüglichen Pro- zesses V. J. 1311 beweisen.^ Es kam sogar zur Excommunication. Auch in Wien wurden Leute dieser Art vom Empfang der Sakramente ausgeschlossen.* Gleichwohl fehlte es nicht an Kurpfuschern beiderlei

^ Chiapelli a. a. O. p. 7 u. ff. S. de Renzi: Storia docum. della scuola med. di Salemo, p. 559.

' Kriegk a. a. 0. II, 15 u. ff.

' G. Zappebt: Über das Badewesen mittelalterlicher und späterer Zeit im Archiv für Kunde österr. Geschichtsquellen, Wien 1858, Bd. 21. B. Hoffhann: Die Augsburger Bäder und das Handwerk der Bader in d. Zeitschr. d. histor. Vereins f. Schwaben, 1886, Jahrg. 12.

* Hazox a. a. 0. ' Bosas a. a. 0. I, 124 u. ff.

Der ärztliche Stand und die medioinisGhe Literatur jener Zeit, 23S

Geschlechts. Übrigens kam es nicht selten vor, dass Empiriker, welche keine systematische medicinische Ausbildimg erhalten hatten, von hohen Herren und Behörden Zeugnisse und Diplome empfingen, wenn sie Erfolge in der Heilkunst erzielten, und Mangel an Ärzten herrschte.

Über die Höhe der ärztlichen Honorare lässt sich ein ungefähres Urtheil fällen, wenn man die gesetzlichen Taxen, die in einzelnen Orten bestanden, in Betracht zieht. Damach wurde im 14 und 15. Jahr- hundert zu Venedig für jede ärztliche Visite bei alltäglichen Krank- heiten 10 Soldi gezahlt; in Mailand durfte der Arzt für jeden Tag der Behandlung 12 20 Soldi, für einen Besuch in der Nacht einen Du- katen, und ausserhalb der Stadt für jeden Tag 4 6 Lire fordern. ^ John Abdeen verlangte für die Operation der Mastdarmfistel ein Ho* norar von mindestens 100 Gold-Sols. Keiche und vornehme Patienten beschenkten ihre Ärzte mit grossen Summen und Landgütern, während die Armen ihre Schuld durch ein Paar Hühner, durch Eier, oder Früchte abzutragen suchten.*

Auch die Besoldungen, welche die Leibärzte und Stadtärzte be- zogen, zeigen, wie hoch die ärztlichen Dienste damals geschätzt wurden. Die Herzöge von Savoyen, welche bekanntlich nicht zu den reichen Fürsten gehörten, gaben ihren Leibärzten einen jährlichen. Gehalt von 40 bis 60 Gulden; am Hofe zu Neapel erhielten sie dagegen 100 bis 300 Dukaten. In Prag wurde den königlichen Leibärzten der Niess- brauch mehrerer Landgüter eingeräumt.

Das Institut der Archiatri populäres, der besoldeten Stadtärzte, wie es im Alterthum bestand, hat sich in manchen Städten Italiens wahr- scheinlich ohne Unterbrechung durch das ganze Mittelalter erhalten. Die Ostgothen und Longobarden übernahmen es von den Kömem und überlieferten es vielleicht unverändert ihren Nachfolgern in der Herr- schaft Italiens.

In Eom, ebenso wie in Dänemark und Schweden, war der Name Archiater als Titel für einen höheren Medicinalbeamten bis in die neueste Zeit üblich.

Die Stadtärzte hatten die Pflicht, die städtischen Beamten, sowie die Armen der Stadt unentgeltlich zu behandeln, den ärztlichen Dienst in den städtischen Krankenhäusern zu versehen, den Gerichtsbehörden als Sachverständige zur Seite zu stehen und in Kriegszeiten die Bürger JDS Feld zu begleiten; femer führten sie die Aufsicht über die Apo- theken und öflFentlichen Häuser und leiteten die öffentliche Gesundheits-

^ Chiafelli a. a. 0. p. 29. * Chiapelli a. a. 0. p. 28.

234 Der rAedicinische Unterricht im Mittelalter.

pflege. Später übernahmen sie an manchen Orten auch den Unterricht des niederen Heilpersonals und examinirten dasselbe.

In Venedig gab es 12 Ärzte und 12 Chirurgen, welche von der Stadt angestellt waren; davon empfingen die ersteren Jahrgelder von 15 bis zu 100 Dukaten, die letzteren von 10 bis 130 Dukaten. Selbst kleinere Orte widmeten diesem Zweck in ihrem Ausgaben-Budget eine bestimmte Summe. Treviso zahlte seinen drei Communalärzten 728 Lire jährlich, Conegliano den Ärzten 350, den Chirurgen 250 Lire, und Palermo bewilligte den beiden dortigen Stadtärzten 50 Goldunzen jährlich. ^

In Deutschland wurden erst im 14. Jahrhundert Communalärzte angestellt. In einer Verordnung des Kaisers Siegmund v. J. 1426 heisst es: „Es soll in jeder Keichsstadt ein Meister- Arzt sein; der soll haben hundert Gulden. Die mag er niessen von einer Kirche. Und soll männiglich arzneien umsonst und soll seine Pfründt verdienen ernstlich und getreulich." ^ Frankfurt a. M. hatte 1348 einen Stadt- arzt, welcher die Kleidung und 10 Malter Korn erhielt;^ später gab es deren drei, deren Besoldungen sich zwischen 10 und 100 Gulden bewegten.

Auch für das Militär, die Hospitäler, die Klöster und für einzelne Gefängnisse wurden Ärzte gehalten, welche eine bestimmte Besoldung erhielten.

Die Ärzte, wenigstens die Stadtärzte, genossen an vielen Orten Steuerfreiheit und andere Vorrechte. Einige erhielten von den Städten, in denen sie sich niedergelassen hatten, kostenfrei das Bürgerrecht. In gesellschaftlicher Beziehung standen sie im Range der Adeligen.

Die Mitglieder des ärztlichen Standes gehörten grösstentheils den wohlhabenden Klassen an; man findet unter ihnen z. B. die Namen der vornehmsten Familien Italiens vertreten. Dagegen gingen die Chirurgen, namentlich in Deutschland, wohl vorzugsweise aus den ärmeren Ständen hervor.

Ungemein zahlreich waren die Juden unter den Ärzten. Als während der ersten Jahrhunderte des Mittelalters das medicinische Studium in den christlichen Staaten des Abendlandes damiederlag, war es ihnen vergönnt, durch die Berührung mit der arabischen Cultur und aus den Forschungen gelehrter Rabbiner Belehrung zu schöpfen. Es war daher nicht wunderbar, dass sie ihre christlichen Zunftgenossen

* Chiapelli a. a. 0. p. 22. 31.

* Moehsen: Geschichte der Wissenschaften in Brandenburg, Berlin 1783, S. 564. P. Frank: System der medicin. Polizei, Wien 1817, VI, 1, S. 174.

' Kbiegk a. a. 0. S. 8.

Der ärztliche Stand und die medidnische Literatur jener Zielt. 235

an Wissen und Geschicklichkeit übertrafen. So kam es, dass sie, be- sonders in jenen Ländern, in denen wie z. B. in Deutschland, die Heilkunst am meisten vernachlässigt wurde, die gesuchtesten Ärzte wurden.

Nicht blos Fürsten und regierende Herren, selbst Bischöfe und Päbste hatten jüdische Leibärzte; in den meisten Klöstern waren Juden als Ärzte angestellt, wie Arnald von Villanova schreibt.^ In Prag war im 12. Jahrhundert fast die ganze ärztliche Praxis in den Händen jüdischer Ärzte; ähnlich scheint es in Avignon gewesen zu sein.^ In Frankfurt a. M. war i. J. 1574 Adam Lonicebtjs der einzige christ- liche Arzt; seine dortigen CoUegen gehörten sämmtlich dem israelitischen Glauben an.' Es erklärt sich dies zum Theil daraus, dass den Juden die meisten übrigen gelehrten Carrieren verschlossen waren. Allerdings wurde auf mehreren Kirchen- Concilien bestimmt, dass die Christen keine jüdischen Ärzte zu Kath ziehen sollten; aber die Geistlichen kehrten sich selbst nicht an dieses Verbot. Auch hatte es keine Geltung, wenn an dem Ort gar kein oder wenigstens kein tüchtiger Arzt des christlichen Glaubens vorhanden war.

Als die Wogen der religiösen Leidenschaften höher gingen, und die Judenverfolgungen begannen, machten sich die Folgen auch auf diesem Gebiet bemerkbar. In den Statuten der medicinischen Facultät zu Ingolstadt v. J. 1472 wurde den christlichen Ärzten verboten, mit ihren jüdischen Collegen Consilien abzuhalten,* und in der Hebammen- Ordnung, welche 1451 zu Regensburg erlassen wurde, heisst es, dass dieselben zu jeder ihrer Hilfe bedürftigen Frau gehen sollen, „nur allein zu einer Jüdin sollen sie nit kommen".*

Der Klerus wurde von der Ausübung der ärztlichen Praxis sowohl durch die Gesetze der Kirche als durch die zunehmende ärztliche Con- currenz, welche ihm seit der Gründung der Universitäten entgegentrat, mehr und mehr zurückgeschreckt. Auf den Concilien zu Rheims (1131), im Lateran (1139), zu Montpellier (1162), Tours (1163), Paris (1212), im Lateran (1215) und durch die Decretalen der Päbste Alexander III. (1180) und Honorius HI. (1219) wurde den Geistlichen untersagt, ärzt- liche Praxis, besonders Chirurgie, zu treiben.

Dieses Verbot wurde wahrscheinlich nicht befolgt, weil es so oft

* Güdemann: Geschichte des Erziehungswesens der Juden, Wien, I, S. 155.

* J. v. Hasner in der Prager Vierteljahrsschrift 1866, Bd. 90. G. Bayle a. a. 0. p. 68.

* W. Stricker: Geschichte der Heilkunde in Frankfurt a. M., 1847, S. 68.

* Prantl a. a. 0. II, 47.

* G. Lammert: Geschichte des bürgerlichen Lebens, Regensburg 1880, S. 289.

236 Der medidnisehe Unterricht im Mittelalter,

wiederholt werden musste, jedenfalls aber häufig umgangen, wozu Stipendien, Dispensationen^ und manche andere Einrichtungen sogar direkt aufforderten. Immerhin wurde soviel erreicht, dass sich die Geistlichen wenigstens von der Ausführung chirurgischer Operationen und der Behandlung der Frauen fernhielten. Dagegen blieb das medicinische Lehramt an manchen Hochschulen noch lange Zeit in ihren Händen. Es lag dies daran, dass mit den Lehrstellen zuweilen Pfründen verbunden waren, deren Genuss den geistlichen Charakter ihres Inhabers zur Voraussetzung hatte. So war z. B. der Professor der Medicin an der Wiener Universität H. Lubcz zugleich Pfarrer von Hohlfeld in Bayern; er hielt sich dort einen Vikar, während er selbst in Wien die Lehrthätigkeit ausübte. ^

In Folge dieser Verhältnisse wurde auch an vielen Universitäten das Cölibat von den Lehrern der Medicin gefordert. Als i. J. 1479 der Kurfürst Philipp einen Laien als Professor d^ Heilkunde in Heidel- berg anstellen wollte, protestirte die Hochschule dagegen, weil er kein Kleriker war. Es wurde erst durchgesetzt, nachdem der Pabst i. J. 1482 gestattet hatte, dass auch Laien, sogar verheirathete, zu Professoren der Medicin ernannt wurden.^

In Paris, wo man das Cölibat so streng beobachtet hatte, dass dem Jean de Pols i. J. 1395, weil er sich verheirathet hatte, sogar die Licenz entzogen wurde, wurden diese Bestimmungen durch den Cardinal d'Estouteville 1452 aufgehoben. An manchen Orten setzte man sich stillschweigend darüber hinweg und gewährte in solchen Fällen auch Pfründen an Bewerber, welche nicht allen Vorschriften der kanonischen Gesetze zu genügen vermochten.*

Der Klerikalismus machte sein Übergewicht auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens geltend. Er blickte aus allen geistigen Bestrebungen, welche die Periode der Scholastik erfüllten, siegesgewiss hervor. Auch die naturwissenschaftliche und medicinische Literatur wurde davon beherrscht. Sie diente ebenfalls nur dem einen Zweck, die Wissenschaft zur Begründung und Stütze des theologischen Dogma zu machen.

Die naturwissenschaftlichen Werke des 13. Jahrhunderts trugen einen encyklopädischen Charakter. Die hervorragendsten Autoren waren der Dominikanermönch und spätere Bischof von ßegensburg Albebtus

* A. CoBBADi in Rend. d. R. ist. Lomb. 1873, ser. II, v. VI, p. 863.

* Aschbach a. a. 0. I, S. 410. ^ J. F. Hautz a. a. 0.

* Paulsen in Sybel's histor. Zeitschr. Bd. 45, S. 310. 434. Hefele: Con- ciliengeschichte YII, 355.

Der ärztliche Stand und die medidnisehe Literatur jener Zeit, 237

Magnus, der Minorit Baetholomäits Anglicus, die Franzosen Thomas VON Cantimpe£ und Vincenz von Beauvais, die Italiener Beünetto Latini, der Lehrer Dantb's, und Eistobio d'Arezzo und der Deutsche KüNBAT VON Mbgenbebg; auch die von Mönchen des Klosters Mainau verfasste Naturlehre gehört hierher.

Die eigentliche ärztliche Literatur lieferte hauptsächlich Erklärungs- schriften zu den Werken der Alten und der durch lateinische Über- setzungen bekannten arabischen Schriftsteller. Dieser Art waren die Arbeiten von Taddeo Aldbbotti, genannt Flobentinus, Dino und ToMMASO DI Gabbo, Babtolomeo Vabignana, Tobbigiano, Giacomo

DELLA TOBBE, GrIOVANNI Und MaBSILIO DI S. SOFIA, GlACOMO DE DONDI,

Fbancesoo DI PiEDiMONTE uud Jacqües Despabs aus Toumay.

Kurze für den Unterricht der Studierenden und den Gebrauch der Ärzte berechnete Auszüge der umfangreichen therapeutischen Werke der Araber und gedrängte Zusammenstellungen der gebräuchlichsten Heil- mittel entsprachen den Bedürfnissen des Tages. Hierher gehören der Glavis sancUionis des Simon von Genua, die medicinischen Pandekten des Matthäus Sylvaticus, der Aggregator Bnodanus des Gugltelmo CoBVi, die medicinischen Compendien des Gilbebtus Anglicus und des Schotten Gobdon, und die Schriften des Johann von Tobnamiba, des Portugiesen Valescus von Tabanta, des Florentiners Niccolo Falcucoi, des Miohele Savonabola, Antonio Guainebi u. A.

Einen unabhängigeren Standpunkt nahm der durch seine natur- wissenschaftlichen Kenntnisse hervorragende Peteb von Abano ein, welcher in seinem Gondliator differefniiarum eine strenge, zuweilen zer- setzende Kritik der damaligen Theorien der Heilkunde lieferte. Um dieselbe Zeit traten der Engländer Rogeb Bacon und der Catalonier Abnald von Villanova für die Freiheit der Forschung ein und er- klärten, dass die Naturwissenschaften und die Medicin nur allein durch die Beobachtung und die Erfahrung eine sichere Grundlage erhalten. Sie bahnten dadurch eine selbstständigere Richtung in der Heilkunde an, welche sich in den Schriften ihrer Anhänger, besonders an den Schulen zu Montpellier und Prag, kund gab and sich auch in den zahlreichen Sammlungen von Krankengeschichten äusserte, welche im 14. und 15. Jahrhundert verfasst wurden. Bei allem Festhalten an den herrschenden Lehren brachten sie doch manche werthvoUe eigene Be- obachtung, welche eine Bereicherung der medicinischen Wissenschaft bildete.

So beschrieb Hugo Bencio Fälle von periodischem Wahnsinn, Spermatorrhoe und Syphilis. Matteo Febbabi de Gbadibus behandelte einen Studenten, der am Schreibkrampf litt, und beobachtete die mit

238 Der medidnische Unterricht im Mittelalter.

Verzerrung des Gesichts verbundene Lähmung des N. Facialis, Hallu- cinationen des Gesichts und hartnäckigen Speichelfluss. Bayesius be- richtete über einen Paralysis der oberen Extremitäten mit Störung der Sprache und Gedächtnissschwäche, welche angeblich nach einer heftigen Halsentzündung zurückgeblieben war.^ Henbi de Mondeville und Guy von Chauliac sahen Fälle von Verletzungen des Gehirns . mit Verlust von Substanz desselben, ohne dass dauernde geistige Störung eintrat.*

Gleichzeitig mit dem Wiederbeginn einer selbstständigen Kranken- beobachtung wurde ein regeres Studium der Anatomie und ein erfolg- reicher Aufschwung der Chirurgie vorbereitet, wie ich an einer früheren Stelle auseinandergesetzt habe. Auch andere Zweige der Heilkunde wurden gefördert; es entstand eine durch den ßeichthum ihrer Erzeug- nisse bemerkenswerthe balneologische Literatur, welche die meisten der damals bekannten Bäder in Betracht zog. Auch Deutschland war darunter vertreten; der Nürnberger Barbier und Meistersänger Hanns FoLz verfasste i. J. 1400 ein „Büchlein von allen Bädern, die von Natur heiss sind."

Daneben erschienen besonders in Deutschland auch viele populäre, medicinische Schriften; es waren dies für den häuslichen Gebrauch bestimmte Beceptsammlungen oder diätetische Verhaltungsmassregeln^ die nach dem Muster des Begvmen ScUemitanvm bearbeitet waren, wie das Arzneibuch des Oätolt voq Bayerland, der Mainzer Gesundheits- garten u. a. m.

Das Mittelalter war somit in geistiger Beziehung keineswegs go öde und unfruchtbar, als es von manchen Schriftstellern dargestellt wird. Es herrschte ein reges Leben auf allen Gebieten der intellektuellen Thätigkeit. Wenn die Ergebnisse derselben nicht den Mühen und Arbeiten, welche aufgewendet wurden, entsprachen, so lag dies daran,, dass die letzteren eine falsche Bichtung verfolgten oder auf ihrem Wege Hemmnisse fanden, die sie nicht überwinden konnten. Das Joch der Scholastik lastete auf der Wissenschaft, und die Autorität der Kirche wies ihr Ziele an, welche ihrem Wesen fem lagen und unerreichbar waren.

* Ch. Darembebg a. a. 0. I, p. 338 u. ff.

* Guy V. Chauliac a. a. 0. tract. HI, doctr. 1, c. 1.

IIL Der medicinische Unterricht in der Neuzeii

Der Charakter des 16. Jahrhunderts.

Jemehr das Wissen sich vennehrte und verbreitete, desto mehr brach sich die Überzeugung Bahn, dass der Gedanke von den Fesseln^ welche ihn darnieder hielten, erlöst werden müsse. Was im 13. Jahr- hundert nur von wenigen auserlesenen Geistern gefühlt und kühn und unerschrocken verkündet worden war, erfüllte am Schluss des 15. Jahr- hunderts die Herzen aller Gebildeten. Der Drang nach Freiheit und Selbstständigkeit machte sich auf allen Gebieten des geistigen Lebens geltend und bildete in der Kunst wie in der Wissenschaft, in der Ee- ligion wie in der Politik den Grundton, der überall hindurchklang.

Machtige culturhistorische Bewegungen, wie diejenigen des 16. Jahr- hunderts, entstehen nicht plötzlich, sondern sind die Frucht einer langen vorbereitenden Thätigkeit. Sie bestehen längst, bevor sie in die Er- scheinung treten, der oberflächlichen Betrachtung entzogen und nur dem kundigen Auge erkennbar. Gleich den Keimen der Pflanzen, welche den Erdboden erfüllen, reifen sie in der Verborgenheit und brechen hervor, wenn ihre Zeit gekommen ist.

Die Wurzeln der reformatorischen Bestrebungen des 16. Jahr- hunderts reichen weit in das Mittelalter zurück. Ihre Geschichte erzählt von vergeblichen Versuchen, fruchtlosen Mühen, zertretenen Hoffnungen und blutigen Opfern. Um die Freiheit des Gedankens wurde schon in früheren Jahrhunderten mit Begeisterung und Hingebung gerungen; aber die Kämpfer standen vereinzelt und wurden von ihren Gegnern überwältigt.

Luther und Melanchthon hatten ihre Vorläufer, welche für ihre Überzeugung in den Tod gingen.

Die Unterdrückung des Raubritterwesens und die Angriffe gegen den Feudalismus wurden durch die Entwickelung eines unabhängigen wohlhabenden Bürgerthums vorbereitet und begünstigt.

240 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit,

Kunst und Wissenschaft wurden durch den Humanismus, welcher seit Petbabca in Italien gepflegt wurde, zum Studium der Antike und der Beobachtung der Natur zurückgeführt. Die Künstler machten sich von den mittelalterlichen Traditionen los und gaben ihren Gestalten «inen freieren Ausdruck, welcher der Natur abgelauscht und darum wahr war und die Herzen erwärmte.

Was für die Kunst die Früh-Renaissance, das war für die Wissen- schaft das Studium der römischen und griechischen Originalwerke und 4er Beginn einer selbstständigen Naturforschung. In den Schulen des Mittelalters hatte man die Schriften der römischen Classiker nur selten und diejenigen der griechischen niemals in ihrem ursprünglichen Text kennen gelernt. Das Latein, welches beim Unterricht und im täglichen Verkehr zwischen den Lehrern und Schülern gesprochen wurde, war sehr verschieden von der Sprache eines Cicero oder Quintilian. Die griechische Sprache wurde nirgends in den Bereich des Unterrichts gezogen, und die Kenntniss derselben war so selten, dass Petbabca L J. 1360 kaum zehn Gelehrte in Italien zu nennen vermochte, welche sie verstanden.^

In den übrigen Ländern stand es damit jedenfalls nicht besser. Die literarischen Werke des Alterthums wurden dem Mittelalter haupt- sächlich durch lateinische Übersetzungen, Bearbeitungen und Auszüge zugänglich gemacht, welche häufig nicht nach dem Original, sondern nach arabischen Übertragungen angefertigt wurden. Auf die Form und den Ausdruck der Sprache legte man dabei wenig Gewicht; denn sie wurde nicht als Bildungsmittel des Geistes betrachtet, sondern galt nur als die werthlose Schale für den kostbaren Inhalt, den man suchte. Aber auch dieser erhielt sich nicht rein und unverfälscht; denn er erfuhr diejenigen Änderungen, welche man im Zeitalter der Scholastik für die Autorität der Kirche und das Seelenheil der Gläubigen für nothwendig hielt.

Als man erkannte, dass man bei diesem Verfahren nicht in den vollen ungeschmälerten Besitz der reichen Schätze des Wissens gelangte, welche das Alterthum hinterlassen hatte, begann man, die Schriften derselben wieder in ihrer ursprünglichen Überlieferung zu studieren. Die heidnischen Classiker erwachten zu neuem Leben und verkündeten nüt flammenden Worten die Grösse und den Buhm der Vergangenheit.

Am frühesten geschah dies in Italien, wo zahlreiche Überreste von Bauwerken, Statuen und Inschriften an die Gultur der Kömer erinnerten.

* Gr. Voigt: Die, Wiederbelebung des classischen Alterthums, Berlin 1881, II, 107.

B&r Charakter des 16. Jahrhtmderts. 241

Auf diesem Boden lernte man zuerst wieder die echte Latinität kennen, und von dort gelangte diese Wissenschaft im 15. Jahrhundert auch in andere Länder. An den deutschen Hochschulen wurden Lehrkanzeln für lateinische Eloquenz und Rhetorik errichtet, deren Inhaber durch ihre Reden und Dichtungen die Bewunderung und den Neid ihrer Zeit- genossen erregten. Gleichzeitig erlangte die Kenntniss der griechischen Sprache eine allgemeine Verbreitung in den Kreisen der Gelehrten. Es war dies zum grossen Theile das Verdienst der griechischen Flücht- linge, welche nach der Unterwerfung ihres Vaterlandes durch die Türken nach Italien kamen und dort eine neue Heimath fanden. Cheysolaras, Geobgios von Trapezunt, Theodobos Gaza, Bessabion, Konstantin Laskabis u. A. brachten viele werthvoUe griechische Handschriften mit u^d sammelten einen Kreis von auserwählten Schülern um sich.

An den Höfen der für Kunst und Wissenschaft empfanglichen Fürsten Italiens, namentlich unter den Mediceem, entwickelte sich ein Cultus des Hellenenthums, welcher die hervorragendsten Männer des Staates vereinigte. Gelehrte Gesellschaften, welche sich Platonische Akademien nannten, ^ machten die Pflege der griechischen Literatur zu ihrer Lebensaufgabe. Die heiteren Formen des griechischen Lebens zauberten ihnen Bilder lachenden Menschenglücks vor die Seele, die sie dem traurigen Ernst der christlichen Entsagung entrückten, welcher die Freude hasste und verdammte. An den Idealen der Freiheit und antiken Heldengrösse richteten sie sich auf, wenn sie die Betrachtung der trostlosen politischen Zustande der Gegenwart darnieder drückte. Die Schriften der Weisen des Alterthums boten ihnen reiche Anregung und Belehrung auf allen Gebieten der wissenschaftlichen Thätigkeit; hier fanden sie die Grundlagen der Philosophie, Rechtswissenschaft, Mathematik, Astronomie, Geographie und Physik, der Naturwissenschafken und der Heilkunde.

Mit der Wiederbelebung der griechischen und römischen Literatur erschloss sich eine Welt von Jdeen und Bestrebungen, welche geeignet erschienen, an die Stelle der abgestorbenen Lebensformen des Mittel- alters zu treten. Der nach einer modernen Entwickelung der Cultur ringende Geist des Zeitalters glaubte darin eine wirksame Waffe für den grossen Kampf gegen die Kirche und die Scholastik zu finden und täuschte sich nicht Allerdings blieb der Humanismus auf einen kleinen Kreis beschränkt; aber derselbe bestand aus der geistigen Elite der Völker.

* P. Villabi: Nicolo Macchiavelli und seine Zeit, Deutsche Übers. , Rudol- Btadt 1882, I, 147 u. ff.

PuscHMANN, Unterricht. 16

242 Der medicimsehe Uhterrioht in der Neuzeit,

Die Ideen des Humanismus ergriffen die Gemüther mit solcher Macht, dass sich ihnen Niemand entziehen konnte, nicht einmal Die- jenigen, welche darin ihre natürlichen Feinde sehen mussten, die Ver- treter der Kirche und des Klerikalismus. Selbst am päbstlichen Hofe fanden sie gastliche Aufnahme. Nicolaus V. war ihr wohlwollender Freund und Gönner, wenn auch vielleicht mehr aus persönlicher Eitel- keit, als aus innerer Überzeugung. Pius IL hatte vor seiner Thron- besteigung, als er noch den Namen Aeneas Sylvius führte, mit grossem Eifer für ihre Verbreitung in Deutschland gewirkt und blieb allezeit ihr treuer Anhänger imd Vertheidiger in Wort und Schrift.

Ihre Wirkungen äusserten sich übrigens weniger in der Religion als in der Kunst und Wissenschaft. Die Humanisten vermieden im Allgemeinen direkte Angriffe gegen die Dogmen der Kirche. Auch war nicht zu befürchten, dass die lustigen, bisweilen sogar etwas frivolen Götter Griechenlands den christlichen Cultus verdrängen würden, wenn dies auch manchen Vertretern des Humanismus nach der Art eines Petee Ludeb, Buschius oder Uleioh von Hütten vielleicht erwünscht gewesen wäre. Der Einfluss, welchen die humanistischen Studien auf die christliche Religion ausübten, lag hauptsächlich darin, dass sie zu einer Vergleichung mit den supranaturalistischen und ethischen An- schauungen des Alterthums herausforderten und dadurch eine freiere Beurtheilung der christlichen Lehren ermöglichten.

Reiche Anregung verdankte die Kunst der Antike. Der eng- begrenzte Ideenkreis der jüdisch-christlichen Legende, welcher bis dahin den Künstlern nahezu ausschliesslich die Stoffe geliefert hatte, die durch die beständige Wiederholung allmälig monoton wurden, erhielt eine angenehme Bereicherung durch die Mythologie der Griechen und die Heldengeschichte Roms. Dabei zeigte die Behandlung der Form einen ungezwungenen kühnen Charakter, welcher einen wohlthuenden Gegen- satz zu der Steifheit und ünbeholfenheit früherer Zeiten bildete.

Dadurch traten die Gestalten, selbst diejenigen, welche der trans- cendenten Welt der religiösen Mystik entnommen wurden, dem Fühlen des Menschen näher. Verklärt von den Idealen des Guten, Schönen und Wahren erschienen sie dem Auge nicht mehr finster-drohend, über- irdisch-gewaltig, sondern als Frohsinn verkündende, Segen spendende Mächte.

Wer kennt nicht das glänzende Dreigestim in Florenz: Lionardo DA Vinci, Rafael Sanzio und Michelangelo Buonabotti? Ein Jahrhundert, welches drei solche Künstler neben einander sah, durfte sich wohl dem vielgepriesenen Zeitalter des Perikles vergleichen. Alle Drei umfassten die Kunst als Ganzes; alle Drei waren Maler, Bildhauer

Ber Charakter des 16. Jahrhimderts. 243

und Architekten zugleich und schufen in jeder dieser Künste Grosses, der Unsterblichkeit Werthes. Lionardo war aber nicht blos Künstler, sondern auch Mathematiker, Ingenieur, Physiker und Physiologe und hat sich in der Geschichte der Wissenschaft ebenfalls einen ehrenvollen Platz erworben.

Die Blüthe der italienischen Kunst wirkte anregend auch auf die übrigen Länder, namentlich auf Deutschland und die Niederlande. Die Namen Albbecht Dürer, Hans Holbein und Lucas Cranach geben Zeugniss davon.

In Nürnberg gediehen die Holzschneidekunst und die Goldschmiede- kunst zu hoher Vollendung. Deutschlands freie Städte erzeugten ein Bürgerthum, welches kunstsinnig und kunstverständig war und heitere Lebenslust mit sittlichem Ernst verband. In ihm fanden die künst- lerischen und wissenschaftlichen Bestrebungen eifrige Anhänger und Vertreter.

Auf dem Felde der Wissenschaft wurde der Humanismus vorzugs- weise von den gelehrten Vereinigungen gepflegt, welche allenthalben nach dem Muster der sogenannten Platonischen Akademien entstanden. Am bekanntesten unter ihnen wurde die Kheinische Gesellschaft, zu deren Mitgliedern Männer wie der gelehrte Abt Trithbmius, der Nürn- berger Patricier Willlbald Pirkheimer, femer Rudolf Agricola, der Dichter Conrad Geltes, Joh. Reuchlin, Erasmus von Rotterdam u. A. gehörten.

Das wachsende Interesse far die Literatur der Griechen und Römer hatte zunächst die Folge, dass die überlieferten Texte mit einander ver- glichen und auf Grund linguistischer und sachlicher Erwägungen ein Wortlaut festgestellt wurde, welcher allen Anforderungen zu entsprechen schien. Damit begann die wissenschaftliche Behandlung der Philologie, welche auf die Culturentwickelung der folgenden Zeiten den weittragend- sten Einfluss ausübte. Die Philologie übernahm die Rolle des Zauberers, der das in tausendjährigem Schlafe befangene Dornröschen der Wissen- schaft erlöste, und blieb ihr auch später ein väterlicher Freund, welcher ihre ersten Schritte mit ängstlicher Sorgfalt überwachte. Der Philologie verdanken es die Wissenschaften und nicht am wenigsten die Natur- wissenschaften, dass sie die richtige Methode der Forschung einschlugen ; denn von ihr lernten sie die peinliche Genauigkeit in der Sichtung des wissenschaftlichen Materials und die strenge Kritik der gewonnenen Ergebnisse.

Auch bei der Neugestaltung der Medicin leistete die Philologie wesentliche Dienste. Es wurden Ausgaben der meisten medicinischen Autoren des Alterthums veranstaltet. Die Ärzte, welche sich an dieser

16*

244 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.

literarischen Thätigkeit betheiligten, bereiteten sich dazu durch eine tüchtige philologische Bildung vor; nicht wenige von ihnen wirkten als Lehrer der alten Sprachen, bevor sie sich der Heilkunde zuwandten. Die Kenntniss des Griechischen galt in jener Zeit als nothwendiges wissenschaftliches Hilfsmittel für Jeden, der auf den Namen eines ge- bildeten Arztes Anspruch erhob, ähnlich wie man heut von ihm verlangt, dass er mit dem Mikroskop umzugehen versteht.

Wenn die durch den Humanismus angefachte literarische Wirk- samkeit der Ärzte in ungeahnter Weise sich entfaltete und zur Ver- breitung der medicinischen Wissenschaft beitrug, so war dies allerdings zum grössten Theile das Verdienst der Buchdruckerkunst, welche im

15. Jahrhundert erfanden wurde. Sie trat nicht unvermittelt ins Leben; denn sie war vorbereitet durch die Holzschneidekunst, durch die Kupfer- stecherei, durch die vielleicht aus China nach Europa gebrachte, ziem- lich unvollkommene Methode des Druckes mit feststehenden Lettern und durch andere Umstände. Gleichwohl war es ein ausserordentlicher Fortschritt, als man um das Jahr 1440 begann, beim Druck beweg- liche Typen zu gebrauchen.

Erst dadurch wurde der Druck umfangreicher Werke, der Betrieb im Grossen, ermöglicht. Freilich litt die Buchdruckerkunst im Anfang an vielen Mängeln; sie war sehr mühsam und in Folge dessen auch sehr kostspielig. So dauerte z. B. der Druck der Bibel, des ersten grossen Werkes, das aus der von Guttenbebg gegründeten, später FusT-SoHöFFER'schen Buchdruckerei in Mainz hervorging, 11 Jahre und erforderte 4000 Gulden, bevor noch der 12. Bogen vollendet war. Mit den Verbesserungen, welche die Buchdruckerkunst erfahr, nahm sie allmälig einen grösseren Aufschwung. Darembeeg schätzt die Zahl der medicinischen Schriften, welche bis zum J. 1500 gedruckt wurden, auf ungefähr 800.^

Die neue Erfindung übte auf die geistigen Bewegungen des

16. Jahrhunderts eine mächtige Wirkung aus. Die Kanzel, welche bis dahin der einzige Ort gewesen war, von dem aus zum Volke gesprochen wurde, erhielt einen Nebenbuhler, welcher ihr gelegentlich feindlich entgegen trat. Die freiheitlichen Ideen fanden hier einen Bundesge- nossen, und der Kampf gegen die bisherigen Autoritäten wurde mit wirksamen Waffen geführt. Aber die grösste Bedeutung erlangte die Buchdruckerkunst für die Entwickelung der Wissenschaft; denn die geistigen Errungenschaften konnten jetzt zum Gemeingut Aller und Jedem leicht zugänglich gemacht werden.

^ Ch. Darehbebo: Histoire des sciences m^dicaies, T. I^ 813.

Der Charakter des 16. Jahrhunderts. 245

Das Studium der aus dem Alterthum übernommenen Überlieferungen regte zur kritischen Prüfung ihrer realen Begründung an, und die da- durch hervorgerufenen eigenen Beobachtungen führten zur Berichtigung alter Irrthümer und zur Entdeckung neuer Thatsachen.

Die Eeformation der Wissenschaft welche sich auf diese Weise vollzog, bildet neben derjenigen des religiösen und politischen Lebens die markanteste Erscheinung der durch die Emancipation des individuellen Urtheils charakterisirten Strömung der Zeit.

Diese Eichtung erhielt eine unerwartete Förderung durch die Ent- deckung Amerikas, welche am Schluss des 15. Jahrhunderts die Ver- wunderung und das Staunen der Menschen erregte. Man fand dort eine Bevölkerung, die körperlich ebenso gebildet, geistig ebenso geartet war, wie diejenige Europas, und eine Cultur, welche viele Ähnlichkeiten zeigte mit manchen Einrichtungen der alten Welt. Von diesen Dingen, sowie von der Thierwelt und dem Pflanzen-Reichthum des neuen Welt- theils hatte weder die Kirche noch das Alterthum etwas gewusst. Von den beiden höchsten Autoritäten, welche man damals kannte, verlassen wurden die Denker und Forscher plötzlich selbstständig und genöthigt, auf ihre eigenen Beobachtungen zu vertrauen.

Wenige Decennien nach der Entdeckung Amerikas erfolgte die erste IJmschiffung der Erde, und damit wurde der unwiderlegbare Beweis geliefert, dass die Erde rund ist Schon die griechischen Natur- philosophen ahnten die Kugelgestalt derselben, und Abistotbles nahm sie als sicher an; aber Lactantius und andere Kirchenväter^ hatten diese Ansicht verworfen und für absurd erklärt. Ihre Autorität erlitt somit eine bemerkenswerthe Niederlage. Noch mehr wurde die Autorität der Kirche erschüttert, als die angeblich schon von Ptthagoeas auf- gestellte heliocentrische Theorie durch Kopeeniküs und Kepler be- gründet wurde.* Die Theologen bekämpften dieselbe, weil sie sehr richtig erkannten, dass mit ihrer Annahme die Erde nur als einer der unzählbaren Sterne, welche das Firmament beleben, erscheinen und der Mensch als ihr Bewohner die ihm von der christlichen Weltanschauung vindicirte herrschende Stellung verlieren werde. Auch der Streit zwischen der heliocentrischen und der geocentrischen Lehre wurde gegen die Kirche entschieden.

Es ist begreiflich, dass durch diese Ereignisse der Glaube an die Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntniss- Apparats, welchen die

* 0. Peschel a. a. 0. S. 96 u. £F. W. Whewell a. a. 0. I, 226 u. ff.

* Whewell a. a. 0. I, 381 u. ff. J. W. Drapeb: Geschichte der geistigen Entwickelung Europas, Leipzig 1871, S. 521 u. ff.

246 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit,

von der kirchlichen Autorität gestützte Scholastik gepredigt hatte, unter- graben wurde. Am weitesten ging der Protestantismus, indem er die Berechtigung des menschlichen TJrtheils sogar auf das theologische Dogma ausdehnte.

Auf keinem Gebiet des geistigen Schaflens wirkte die errungene geistige Selbstständigkeit tiefer und nachhaltiger als auf demjenigen der Naturwissenschaften und der Medicin.

Die Mineralogie erfuhr zum ersten Male eine wissenschaftliche Be- trachtung; der Arzt Geobg Agbioola machte den Versuch, die Mine- ralien auf Grund ihrer äusseren Merkmale in verschiedene Gruppen einzutheilen. Die Botanik begann aus dem Abhängigkeits-Verhältniss, in welches sie zur Arzneimittel- und Nahrungsmittellehre gerathen war, herauszutreten und sich zu einer Wissenschaft zu entwickeln, die um ihrer selbst willen getrieben wurde. Sie wurde durch eine Menge von Pflanzenbeschreibungen bereichert, und die Flora Europas sowohl wie diejenige der neu entdeckten überseeischen Länder genau erforscht. Einige Botaniker unternahmen es, zur leichteren Übersicht die Pflanzen nach bestimmten Ähnlichkeiten in verschiedene Abtheilungen zu scheiden; Conrad Gessnee und A. Cesalpini benutzten dazu bereits die Blüthen und Früchte, waren also gleichsam Vorläufer LiNN:fc's.

Auch für die Zoologie begann eine neue Periode ihrer Geschichte. Des gelehrten Gessnek's grosses Werk bildete den Markstein derselben; es enthielt nicht blos alle Thatsachen, welche auf diesem Gebiet in den vorangegangenen Zeiten festgestellt worden waren, sondern noch eine grosse Anzahl neuer Beobachtungen. Andere Forscher wählten einzelne Klassen des Thierreichs zum Gegenstande ihrer Untersuchungen, wie z. B. Belon die Vögel und Rondelet die Fische, oder beschäftigten sich mit der Thierwelt fremder Länder.

Ebenso machte sich in der Physik und Chemie eine rege Thätig- keit bemerkbar. Schon Nicolalts Cusanüs, der freisinnige Bischof von Brixen, und der grosse Künstler Lionabdo da Vinci bearbeiteten die Physik mit glücklichem Erfolge. ^ Während dann die Mathematik durch HiEBONYMUs Cardanus, Taetaglia, welcher die Lösung der Gleichungen dritten Grades entdeckte, u. A. gefordert wurde, machte auch die Optik erhebliche Fortschritte, die sie hauptsächlich dem Giambattista Porta, dem Erfinder der Camera obscura, und Jon. Kepler verdankte. Be- deutende Erfolge errangen die Physik und Chemie jedoch erst im 17. Jahrhundert; erst in dieser Zeit erlangten sie für die Medicin eine grosse Bedeutung.

^ PoooENDORP a. a. 0. S. 113 u. ff.

Die Emancipation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Medicin etc. 247

Die Emancipation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Medicin und die Fortschritte der Wissenschaft.

Die Heilkunde machte den gleichen Entwickelungsprozess durch, wie die ganze übrige Cultur; sie schüttelte das Joch der nur auf Tra- ditionen beruhenden Autoritäten ab und wurde selbstständig. Nur in Verbindung mit den die ganze Zeitrichtung erfüllenden Bestrebungen erscheint diese Thatsache natürlich und begreiflich; losgelöst von ihnen kann sie sich wohl dem Gedächtniss, nicht aber dem Verstände ein- prägen.

Die Emancipationsbewegung gab sich in allen Zweigen der Medicin kund und erreichte in einzelnen Disciplinen, namentlich in der Ana- tomie, Arzneimittellehre, Chirurgie und Geburtshilfe, bereits im 16. Jahr- hundert beachtenswerthe Resultate.

Die Anatomen hörten auf, an die Unfehlbarkeit Galen's zu glauben, und fingen an, eigene Untersuchungen an der Leiche anzustellen. Gabbiele Zebbi sonderte in seiner anatomischen Beschreibung des menschlichen Körpers bereits die Knochen, Muskeln und Gefässe; er machte auf die schrägen und kreisförmigen Muskelfasern des Magens aufmerksam und erwähnte die Thränenpunkte, die Ldgamenti uteri u. a. m. ^ Al. Achillini bemerkte die Einmündung des Ductus chole- dochus in den Zwölffingerdarm, sowie die Blinddarmklappe.* Bebengab VON Cabpi berichtigte verschiedene Irrthümer Mondino's und gilt als der Entdecker der Keilbeinhöhlen und des Wurmfortsatzes; ferner wies er darauf hin, dass beim Mann der Thorax, beim Weibe das Becken eine grössere Breite besitzt.^ Canani lieferte eine vortreffliche Schil- derung der Muskeln und sah zuerst die Venen-Klappen an der Vena axygos, *

Alle diese Forscher übertraf an Reichthum der Entdeckungen An- DBEAS Vesalius, den man den Reformator der Anatomie nennen kann. Er stammte von einer deutschen Familie ab, welche ursprünglich den Namen Witinq führte und von Wesel nach Brüssel übergesiedelt war.

Vesal's Untersuchungen umfassten alle Theile der Anatomie und schufen die Basis eines neuen anatomischen Lehrgebäudes.^ Er gab Aufschlüsse über die Ernährung der Knochen durch die Gefässe des

^ Medici a. a. 0. p. 43.

* BüBGQRAEYE a. a. 0. p. 55. Medici a. a. 0. p. 51.

^ Cabpi: Commentaria cum ampl. addition. super anat. Mundini, Bonon. 1521.

^ Amatub Lusitanus: Curat, med. cent., Basil. 1556, p. 84.

^ Burograeye a. a. 0. p. 72 u. fF.

248 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.

Periosts und die Vasa mUrienia und zeigte zuerst, dass der Nerv in (\en Muskel eindringt. An den Gefässwänden unterschied er zwei Lagen, von denen die innere eine stärkere Consistenz besitze und aus Muskel- fasern zusammengesetzt sei. Ziemlich richtig beschrieb er das Herz, seine Lage, Bewegungen und Gestalt- Veränderungen, sowie die Klappen- Apparate; doch vermochte er sich niemals vollständig von dem alten Irrthum zu befreien, dass das Blut durch die Scheidewand des Herzens hindurchtrete. Aber während er in der ersten Ausgabe seines ana- tomischen Hauptwerkes v. J. 1543 daran noch gar nicht zweifelte, er- klärte er in der zweiten Auflage v. J. 1555, vielleicht unter dem Ein- fluss Servet's, dass er nicht einsehen könne, wie es möglich sei, dass das Blut, .wenn auch nur in einer sehr geringen Menge, aus dem rechten Herzen in das linke durch die dichte feste Substanz des Septums hindurchschwitze. ^

Ein bedeutender Fortschritt zeigt sich in seiner Beschreibung des Bauchfells und Magens, sowie in der Schilderung der Leber und der männlichen und weiblichen Geschlechtstheile. Er kannte die Schwell- körper und die Samenkanälchen, deutete auf die Samenbläschen hin, und erörterte die Veränderungen, welche der Uterus durch die Schwanger- schaft erfährt. Grosse Sorgfalt widmete er der Untersuchung des Ge- hirns; er hob den Unterschied zwischen der grauen und weissen Substanz hervor und bemerkte das Corpvs caMosum, das Sefptwm liLddum, die Zirbeldrüse, die Vierhügel u. a. m.

Vesal's Entdeckungen riefen ein unerhörtes Aufsehen hervor; nicht blos in den Kreisen der Ärzte war man erstaunt über die Kühn- heit, mit der er die Unrichtigkeit dessen nachwies, was man bisher für wahr gehalten hatte. Die Verehrer des Alten, die Anhänger der geltenden Autorität, befeindeten ihn aufs heftigste. Allen voran sein früherer Lehrer Sylvius, der ihn mit einem gerade nicht sehr feinen Wortspiel auf seinen Namen einen Vesanus, einen Verrückten, nannte, der mit seinem giftigen Hauche Europa verpeste.^

Die Entdeckungen Vesal's wurden in vielen Punkten verbessert und ergänzt durch seine Zeitgenossen Eustachio und Faloppio. Der erstere beschäftigte sich namentlich mit der Struktur der Nieren und erwähnte bereits die Bellinischen Röhren.^ Dagegen wird ihm mit Unrecht die Entdeckung der nach ihm genannten Klappe an der Mün- dung der unteren Hohlvene zugeschrieben, da dieselbe schon früher

1 H. Tollin im Biolog. Centralblatt 1885, Bd. 5, S. 474 u. ff. * Jacob. Sylvius: Vesani cujusdam calumniarum in Hipp, et Galen depulsio, Paris 1551.

^ BURGGRAEVE a. a. 0. p. 201 u. ff.

Die Emandpation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Mediein etc. 24&

bekannt war. Er bereicherte ausserdem die Kenntniss des Gehörorgans^ beobachtete die Muskeln der Paukenhöhle, die Spindel der Schnecke und die Ohrtrompete, welche noch jetzt seinen Namen führt, und hinterliess eine vorzügliche Beschreibung der Grundfläche des Gehirns.

Faloppio, der geniale Schüler Vesal's, controllirte die Entdeckungen seines Lehrers mit gewissenhafter Sorgfalt, und berichtigte und ver- vollständigte sie durch eine Menge neuer Thatsachen. Neben Vesal hat er am meisten zur Neubegründung der Anatomie beigetragen.

Er gab werthvoUe Aufschlüsse über die Entwicklung der Knochen und Zähne, beschrieb das Eelsenbein genauer, bereicherte die Myologie durch musterhafte Schilderungen der Muskeln des äusseren Ohres, des Antlitzes, des Gaumens und der Zunge, sprach sich über die anasto- motischen Verbindungen einiger Gefasse aus, z. B. zwischen den Caro- tiden und den Vertebral-Arterien, und entdeckte den Nervus trocUearis, Auch die Anatomie der Sinnesorgane verdankte ihm einige Fortschritte; er stellte sehr genaue Untersuchungen an über die einzelnen Theile des Gehörorgans und des Auges, wobei er z. B. das Ligamentum eiliare^ die Tunica hyaloidea und die Linse besser kennen lehrte. Ebenso war dies mit den weiblichen Geschlechtsorganen der Fall ; die Eileiter haben seinen Namen in der anatomischen Terminologie verewigt.

Von den übrigen Anatomen jener Zeit haben sich Ingrassias durch seine osteologischen Arbeiten, besonders durch die Entdeckung des Steigebügels und der unteren Muscheln des Siebbeins, Abanzio, welcher die Anatomie des Fötus eingehend studierte, Vabolio, an den die Brücke erinnert, durch seine Untersuchungen des Gehirns und Nerven- systems, VoLCHEE KoYTEB durch seine Beiträge zur Entwickelungs- geschichte und pathologischen Anatomie, Fabbizio ab Aquapendentb durch die erste vollständige Beschreibung der Venenklappen, Gassebio durch seine Arbeiten über die Organe der Stimme und des Gehörs^ Adbian van den Spigel, der seine Aufmerksamkeit vorzugsweise der Leber zuwandte, von welcher ein Lappen noch heut seinen Namen trägt, Salomon Albebti durch seine Schilderung der Thränen- Werk- zeuge und Peteb Paaw, welcher zuerst auf die Rassen- Verschieden- heiten der Schädel aufmerksam machte, um die Entwickelung der ana- tomischen Wissenschaft verdient gemacht.^

Geringer waren die Fortschritte, welche die Physiologie in jener Zeit machte. Es war dies auch ganz begreiflich; denn man musste erst das Vorhandensein der anatomischen Thatsachen feststellen, ehe

^ K. Sprengel: Versuch einer pragmat. Geschichte der Arzneikunde, Halle 1827, III, 64 u. ff.

250 Der medidnisohe Unterricht in der Neuzeit.

man nach dem Zweck derselben fragen durfte. Doch erkannte man wenigstens die Fruchtlosigkeit der spekulativen Richtung und kehrte wieder auf den Weg der induktiven Forschung zurück, den schon Aki- STOTELES gezeigt hatte.

So injicirte Eustaohio Wasser in die Nieren- Arterie, um die Bil- dung des Urins kennen zu lernen.^ Recht bezeichnend für die voll- standige Veränderung, welche sich in der Denkweise der medicinischen Forscher vollzog, sind die Worte Realdo Colombo's, dass man aus der Zergliederung eines Hundes an einem Tage mehr lernt, als wenn man beständig den Puls fühlt oder mehrere Monate hindurch Galbn's Schriften studiert.^

Michael Sebvet und Realdo Colombo, der Prosector und Nach- folger Vesals im Lehramt zu Padua, waren die Ersten, welche den alten Irrthum berichtigten, dass das Blut durch die Scheidewand des Herzens aus dem rechten Herzen in das linke übertrete, und auf den Weg durch die Lungen hinwiesen. Wem von Beiden die Priorität dieser Entdeckung gebührt, lässt sich nicht sicher feststellen, wenn auch eine Menge von Wahrscheinlichkeitsgründen für Sebvet sprechen.^ Übrigens hat weder der Eine, noch der Andere klar und unzweideutig auseinandergesetzt, wie der Übertritt des Blutes aus der Lungen-Arterie in die Lungenvenen erfolgt.

Der Aufschwung der Physiologie begann erst im 17. Jahrhundert, als mit der Entdeckung des Blutkreislaufs die Experimentalforschung zur Herrschaft gelangte.

Die Fortschritte in der Anatomie mussten namentlich auf die Chirurgie, also den Theil der Heilkunde, der auf die Kenntniss des Baues des menschlichen Körpers am meisten angewiesen ist, einen an- regenden und fördernden Einfluss ausüben. Die Operationsmethoden der Chirurgen des Alterthums waren zum Theil seit langer Zeit ver- gessen oder wurden doch nur von Wenigen ausgeübt, die sie wie ein Geheimniss bewahrten und deren Kenntniss im engsten Kreise ver- erbten. Sie mussten gleichsam wieder aufs Neue erfunden werden; diese Aufgabe lösten einige geniale Praktiker, welche das Bedürfniss zur Verbesserung der bisherigen Heilmethoden führte.

Nur in beschränktem Maass wirkte darauf die Wiederbelebung des Studiums der alten Literatur hin; denn die ungelehrten Wundärzte wurden im Allgemeinen davon nicht berührt, und den studierten Ärzten

^ Barth. Eustachitis: De renum structura, Venet. 1564, c. 37. 46. * Realdo Columbo: De re anatomica, Venet, 1559, lib. XIV, p. 258. » H. Tollin im Deutschen Archiv f. Gesch. d. Med., Bd. VII, 1884, S. 171 u. ff. und in Virchow's Archiv, Bd. 91, S. 39 u. ff.

Die Emancvpation vom Autoritätsglauben auf denn Gebiet der Medicin etc. 251

fehlte häufig das praktische Verständniss für die Beurtheilung der von den Alten hinterlassenen Erfahrungen.

Eine ausserordentliche Bedeutung für die Entwickelung der Chirurgie hatte die Einführung der Schusswaflfen in die Kriegskunst. Während man vorher hauptsächlich nur Hieb- und Stichwunden zur Behandlung bekam, traten jetzt die Schusswunden in den Vordergrund. Die da- durch erzeugten Verletzungen hatten Erscheinungen im Gefolge, die bis dahin vollständig unbekannt waren. Die Schriften der Alten gaben darüber natürlich gar keine Auskunft. Die Chirurgen waren daher genöthigt, selbst Beobachtungen anzustellen und Erfahrungen zu sam- meln, wie die Schuss wunden zu beurtheilen und zu behandeln sind. Dadurch erhielt ihre Emancipation von der traditionellen Autorität und ihre geistige Selbstständigkeit eine mächtige Förderung.

Die Grösse der durch die Schusswaflfen herbeigeführten Zerstörungen und manche Zufälle und Nachkrankheiten, welche dabei beobachtet wurden, erregten den Verdacht, dass ausser der mechanischen Ver- letzung noch andere Umstände wirksam sind. So kamen die Chirurgen auf die Vermuthung, dass die Schuss wunden durch Verbrennung und Vergiftung erzeugt werden, und erklärten dies durch die Natur der Stoffe, nämlich des Pulvers und Bleis, welche die Verletzung hervor- rufen. Um diese vermeintliche Wirkung unschädlich zu machen, be- handelten sie die Schusswunden mit reizenden und ätzenden Mitteln.

Diese Kurmethode erlangte allgemeine Gültigkeit, bis ein glück- licher Zufall einer richtigeren Erkenntniss die Wege ebnete. Es fehlte nach einer Schlacht an heissem Öl, um die Verwundeten zu cauterisiren. Der berühmte französische Chirurg Ambboise PABi;, welcher diese Thatsache in sehr anschaulicher Weise geschildert hat, ^ wendete daher statt dessen nur einen Verband aus einfacher Digestiv-Salbe an und sah mit Besorgniss den Folgen entgegen, welche dieses Verfahren haben würde. Wer aber beschreibt sein Erstaunen, als er am nächsten Morgen fand, dass diejenigen Wunden, welche er auf diese Weise behandelt hatte, ein gutes Aussehen darboten und weder schmerzhaft noch ent- zündet und geschwollen waren, wie die übrigen Wunden, die nach der alten Methode cauterisirt worden waren. Wiederholte Versuche be- stätigten diese Erfahrung, und die günstigen Erfolge, welche man mit dieser einfachen Behandlungsweise erzielte, beseitigten allmälig die dem Kranken wie dem Arzt unbequeme Cauterisation.

^ Oeuvres d'Ambroise Par6 ed. par J. F. Maloaigne, Paris 1840, T. II, p. 127 u. fF. Le Paülmier: Ambroise Par6 d'apr^s des nouveaux documents, Paris 1885.

252 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit,

Par£ und Maggi lieferten femer den Nachweis, dass die Schuss- wunden auch nicht durch Verbrennung erzeugt werden, da man Tlinten- kugeln auf Säcke, die mit Schiesspulver gefüllt sind, abfeuern könne, ohne dass dieselben dadurch in Brand gerathen. ^

Jedenfalls aber wurde das Wesen der Verletzungen durch die neue Art der Kriegsführung wesentlich verändert. Die Geschosse führten grosse Zerstörungen der Knochen herbei, welche mit den früher üblichen Waffen gar nicht oder nur selten erzeugt werden konnten.

Die bis dahin wenig geübte Amputation wurde daher jetzt häufiger erforderlich. Mit den vermehrten Erfahrungen gewannen die Wund- ärzte grössere Sicherheit in der Ausführung dieser Operation und fingen an, die bisherigen Methoden zu verbessern. Die hauptsächlichsten Fehler derselben bestanden darin, dass man die Amputation zu lange hinauszuschieben pflegte, sie im kranken, im brandigen Fleisch aus- führte und den Stumpf mit dem Glüheisen oder heissem Öl cauterisirte, um die Blutungen zu stillen und die nekrotischen Gewebstheile zur Abstossung zu bringen.

Es war daher ein bedeutender Fortschritt, als BoTALiiO die Forderung aufstellte, dass die Amputation sofort unternommen werde, wenn sich die Zeichen des drohenden Brandes zeigen, als ferner die Chirurgen wieder begannen, die Abtrennung in den gesunden Theilen vorzunehmen, und als Hanns von Geesdobf, welcher sich rühmen durfte, ungefähr 200 Amputationen ausgeführt zu haben, den Stumpf mit einer feuchten Thierblase bedeckte und mit kühlenden Mitteln be- handelte. Er gewann dadurch eine ausreichende Bedeckung des Stumpfes mit Haut- und Weichtheilen , welche bei der Anwendung des Glüh- eisens in zu umfangreicher Weise zerstört, worden waren.

Um der mit der Operation verbundenen Gefahr der Verblutung vorzubeugen, wurde das Glied oberhalb der Einschnittslinie mit Binden fest umschnürt. Durch den Druck, welchen die letzteren auf die Blut- gefässe und Nerven ausübten, hoffte man, wie A. Pab^: schreibt,^ nicht blos die Blutungen zu verhüten, sondern zugleich die Schmerzen zu vermindern und eine lokale Unempfindlichkeit herbeizuführen.

Die meiste Sicherheit gegen die drohenden Blutverluste gewährte die Unterbindung der Arterienstämme, welche durch A. Par^: wieder empfohlen wurde. ^ Sie war, wie erwähnt, schon den Chirurgen des

^ Oeuvres d'Ambr. Pare a. a. 0. T. H, 134.

2 Oeuvres d'Ambr. Pare a. a. 0. T. II, p. 222.

^ Oeuvres d'Ambr. Pare a. a. O. T. II, 226 u. tf. Adameiewicz: Die mechanischen Blutstillungsmittel bei verletzten Arterien von Par6 bis auf die neueste Zeit, Würzburg 1872.

Die Emancipation vom Autoritätsglauben auf dem GeMet der Medidn etc. 253

Alterthums bekannt; auch im Mittelalter wurde sie von einzelnen hervor- ragenden Operateuren gelegentlich ausgeübt Pab^: erzählt, dass er durch das Studium Galens zu dem Versuch, die Gefässe zu unter- binden, angeregt worden sei; er brachte dieses Verfahren i. J. 1552 bei einer Amputation des Unterschenkels zuerst wieder zur Anwendung. Später nahm er anstatt der Unterbindung der isolirten Arterien die Ligatur ew m^se vor, indem er die Nerven mit den Gefässen zusammen unterband. Man glaubte dadurch das Ausströmen des „Nervengeistes" zu verhüten. Bei Nachblutungen wurden die Gefassstämme von aussen mit den Fingern oomprimirt; auch ist von einer Methode die Rede, welche nach der etwas dunkelen Beschreibung von A. Par4j der per- cutanen Ligatur zu entsprechen scheint.

Unter den in Folge von Verwundungen auftretenden Krankheiten wurde das Erysipel, der Hospitalbrand, die Diphtherie, die Pyaemie, sowie Trismus und Tetanus beobachtet.^

Eine bedeutende Bereicherung erfuhr die Technik des Steinschnitts im 16. Jahrhundert. Die bis dahin gebräuchliche, von Gelsus be- schriebene und von Paulus Aegineta vereinfachte Methode wurde dadurch verbessert, dass vor der Operation eine katheterartig gekrümmte Hohlsonde, welche mit der Convexität nach dem Perineum drängte, in die Harnröhre eingeführt wurde. Indem der Schnitt in die Pars membranacea in der Einne dieser Hohlsonde gezogen wurde, erhielt die Hand des Operateurs eine sichere Leitung, welche für den Erfolg von grosser Bedeutung war. Man nannte dieses Verfahren die Operation mit der grossen Geräthschaft und betrachtet Beenardo di BAPAUiO als den Erfinder derselben. Allgemeiner bekannt wurde sie durch Mariano Santo.

Die Nachtheile, welche der Steinschnitt vom Perineum aus zu- weilen im Gefolge hatte, namentlich die Vereiterung der Prostata und der Samenausführungsgänge und die dadurch hervorgerufene Zeugungs- Unfähigkeit, vor allen Dingen aber die Unmöglichkeit, sehr grosse Steine oder, wenn sich dieselben abgesackt haben, auf diesem Wege durch die Perineal- Wunde zu entfernen, regten zu dem Gedanken an, ob es nicht möglich sei, den Stein von oben her durch einen Ein- schnitt über der Schambeinfuge herauszuholen.* Pierre Franco führte den hohen Steinschnitt zum ersten Male i. J. 1560 mit glücklichem

1 F. WüBTz: Practica der Wundartzney, Basel 1642, S. 271. 538. 645 u. ff. Th. Billboth: Historische Studien über die Beurtheilung und Behandlung der Schasswunden, Berlin 1859, S. 15 u. ff. Wolzendobpf im Deutschen Archiv f. Gesch. d. Medicin, Bd. II, S. 23 u. ff., Leipzig 1879.

* C. B. Güntheb: Der hohe Steinschnitt seit seinem Ursprünge, Leipzig 1851.

254 Der mediGinische Unterricht in der Neuzeit.

Erfolge bei einem zweijährigen Kinde aus, nachdem er vergeblich ver- sucht hatte, den Stein, der die Grösse eines Hühnereies hatte, nach der alten Methode zu entfernen. Er fühlte sich dazu besonders da- durch veranlasst, dass die Blase stark nach vom drängte. Rousset gab deshalb auch später den sehr vernünftigen Bath, die Harnblase mit Wasser anzufüllen, bevor man zur Operation schreitet

Auch der hohe Steinschnitt hatte manche Gefahren, welche den Erfolg der Operation in Frage stellten. Schon Piebee Fbanoo er- kannte dies und beschäftigte sich aus diesem Grunde wieder mit dem Perineal-Steinschnitt, für welchen er eine neue Methode angab. Damach wurde der Schnitt auf der in die Harnröhre eingeführten Furchensonde seitlich von der Raphe ausgeführt und durch die Prostata verlängert. Der Seitensteinschnitt, wie dieses Verfahren genannt wurde, hatte wenigstens den Vortheil, dass dabei selbst Steine von bedeutendem Umfange entfemt werden konnten.

P. Fbanco machte darauf aufmerksam, dass Blasensteine beim weiblichen Geschlecht häufig durch eine einfache Erweiterung der Hamröhre herausgebracht werden.

Die Lithothrypsie war nahezu in Vergessenheit gerathen. Aless. Benedetti erzählte, dass einige Chimrgen den Blasenstein, ohne dass ein Einschnitt gemacht wird, mit eisernen Instrumenten zertrümmerten, ^ hielt aber von diesem Verfahren nicht viel.

Eine eigenthümliche Methode beschrieb Prosper Alpini, ^ welche er in Ägypten kennen gelernt hatte. Sie bestand darin, dass die Harnröhre erweitert und der Stein von aussen in dieselbe hinein- gedrängt wurde.

Die Hemien suchte man durch anhaltende Rückenlage oder Bruch- bänder zur Heilung zu bringen; auch entschloss man sich nicht selten zur Radikaloperation. Zu diesem Zweck wurde bei Leistenbrüchen die Pforte nach der Reposition der vorgefallenen Eingeweide mit einem feinen goldenen oder bleiernen Draht oder einem Faden vemäht. Ambeoise PARfi erwarb sich das grosse Verdienst, dass er das operative Eingreifen so viel als möglich auf die eingeklemmten Hernien be- schränkte. Nur in diesen Fällen führte er die regelrechte Hemiotomie aus. Allerdings haben andere Chirurgen, wie P. Franco und Rousset^ dies schon vor ihm gethan; aber erst durch A. Pab*: wurde dieses Verfahren bei eingeklemmten Hernien wissenschaftlich begründet und

^ Al. Benedictus: Omnium a vertice ad calcem morborum signa, causae etc., Basil. 1508, lib. XXH, c. 48.

* De medicina Aegyptorum HI, c. 14.

Die Emandpation vom Autoritätsglatcben auf dem Gebiet de?* Medidn etc. 255

damit den Kranken dieser Art, welche man früher häufig ihrem Schicksal überlassen hatte, die Aussicht auf Kettung geboten.^

Auch die operative Beseitigung der Harnröhren-Strikturen durch gewaltsame Trennung mit dem Messer, welche schon die Chirurgen der römischen Kaiserzeit gekannt hatten, wurde durch A. Par^j wieder der Vergessenheit entrissen. Ausserdem wendete man gegen dieses Leiden Bougies an, die mit geeigneten ArzneistoflFen bestrichen waren; sie wurden namentlich von Laguna empfohlen.

Die Kenntniss der plastischen Operationen hatte im 16. Jahrhundert längst aufgehört, das Geheimniss der Empiriker von Norcia und Preci zu sein. Mehrere tüchtige Wundärzte befassten sich damit und er- warben sich in der Ausführung dieser Operationen eine grosse Ge- schicklichkeit. Die meisten Erfolge auf diesem Gebiet erzielte Gaspaee Tagliacozzi, Professor in Bologna, welcher das Verfahren ausführlich beschrieben hat.^

Zum Ersatz des Substanzverlustes benutzte er, wie schon Ant. Bbanoa, die Haut des Oberarms. Aus ganz Europa kamen die Patienten zu ihm, um sich von ihm operiren zu lassen. Wenn es auch nur eine witzige Anekdote ist, dass er einst in seinem Hospital zu gleicher Zeit 12 deutsche Grafen, 19 französische Marquis, 100 spanische Granden und einen eng- lischen Esquire gehabt habe, welche sämmtlich durch Liederlichkeit ihre Nasen eingebüsst hatten und neue von ihm verlangten ^^ so zeigt sie doch, wie weit verbreitet sein Ruf als Operateur war.

Tagliacozzi erntete für seine menschenfreundlichen Handlungen wenig Dank. Ein bornirter Glaubensfanatismus sah in seinen Ver- suchen, den Verlust der Nase oder der Lippen zu ersetzen, einen frevel- haften Eingriff in die Eechte des Schöpfers. Als er gestorben war^ hörten die frommen Schwestern des Klosters, in welchem man seine irdischen Überreste bestattet hatte, mehrere Wochen hindurch eine Stimme, welche ausrief: „Tagliacozzi ist verdammt!" Auf Betreiben der Geistlichkeit in Bologna wurde seine Leiche deshalb ausgegraben und an ungeweihter Stätte beerdigt*

Die Glaubenseinfalt des 16. Jahrhunderts findet in dem niedrigen Culturzustande jener Zeit eine Entschuldigung. Die Menschen de& 19. Jahrhunderts dürfen aber nicht mit geringschätzendem Lächeln darauf herabsehen; denn als vor etwa 40 Jahren die Anwendung der

* E. Albert: Die Hemiologie der Alten, S. 180 u. ff. A. Gyerqyai im Deutschen Arch. f. Gesch. d. Medicin, Leipzig 1880, Bd. III, S. 326 u. ff.

* De chirurgia curtorum per insitionem, Ed. Troschel, Berol. 1831. 3 J. Bickerstapf: The tatier, London 1723, IV, No. 260.

* A. CoRRADi: Deir antica autoplastica italiana, Sep.-Abdr. 1874.

256 Der medicinisehe Unterricht in der Netixeit.

Äther-Narkose bei schweren Geburten vorgeschlagen wurde, eiferten die englischen Zeloten dagegen, indem sie sich auf das Wort der Bibel beriefen: „Das Weib soll mit Schmerzen gebären!"

Ausser Tagliacozzi machten sich auch andere Chirurgen, wie (jbiffon in Lausanne und Cortesi in Bologna, durch ihre glücklichen rhinoplastischen Operationen bekannt. Der Verlust der Nase wurde übrigens nicht blos durch Krankheiten, besonders die Syphilis, sondern zuweilen auch auf Befehl der Obrigkeit herbeigeführt. Eine derartige Strafe traf nach der Gesetzgebung des Kaisers Friedrich IL Ehe- brecherinnen und Mütter, welche ihre Töchter der Prostitution über- lieferten. Das Augsburger Stadtrecht v. J. 1276 bestimmte, dass den „fahrenden Fräulein oder Hübschierinnen", wie sie genannt wurden, die Nase abgeschnitten würde, wenn sie sich während der Fastenzeit oder Samstags Nachts auf der Strasse herumtrieben, ausgenommen wenn vornehme fremde Herren in der Stadt anwesend waren. ^

Die Augenheilkunde nahm an den grossen Fortschritten, welche die Chirurgie in jener Periode machte, keinen bemerkenswerthen An- theil. Sie lag nahezu gänzlich in den Händen herumziehender Kur- pfuscher, welche oft, ohne irgend welche Kenntniss von dem Bau des Auges und dem Wesen der Krankheiten, die sie behandelten, zu be- sitzen, mit verwegener Dreistigkeit die schwierigsten Operationen unter- nahmen. Als einer dieser Leute, welcher kurz vorher noch Bedienter gewesen war, gefragt wurde, wie er denn so keck sein könne, den Staar zu stechen, antwortete er, dass der Patient dabei ja nichts zu verlieren habe; denn wenn die Operation misslinge, so bleibe er doch nur blind wie vorher.

Auch die Geburtshilfe wurde während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vollständig vernachlässigt. Wie gering die Kennt- nisse der Ärzte auf diesem Gebiet damals waren, zeigt das Lehrbuch für Hebammen, welches Euchaeius Eöslin i. J. 1512 unter dem Titel: „Der schwangeren Frauen Eosengarten" herausgegeben hat. Dasselbe enthält unglaubliche Irrthümer und Abbildungen von verschiedenen Kindeslagen, die nur von einer fruchtbaren Phantasie ersonnen, in der Wirklichkeit aber niemals beobachtet werden können.

Auf einem ähnlichen Standpunkt befanden sich seine Nachahmer Walther Reiff und Jacob Eueff, Bürger und Steinschneider zu Zürich, auch als Dichter geistlicher Komödien bekannt. Noch un- bedeutender war die der Lucbezia Borgia gewidmete Schrift des

1 Huillard-Br6holles: Hist dipl. Fried. U, a. a. 0. IV, p. 168, 170, lib. III, tit. 74. 80. Lammebt: Zur Geschichte des bürgerlichen Lebens a. a. 0. S. 76.

Die Emanoipation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Medicin etc, 257

Lud. Bonacciuoli, Professor in Perrara, in welcher unter Anderem erzählt wird, dass von Schwangeren manchmal 70 und mehr Früchte gleichzeitig abgingen; der Verfasser scheint dieselben mit Eingeweide- würmern verwechselt zu haben. ^

Erst mit dem Aufschwung der Anatomie und Chirurgie eröfi&iete sich auch für die Geburtshilfe die Aussicht auf eine wissenschaftliche Gestaltung. Wiederum war es Ambeoise Par*:, welcher richtigere Anschauungen und bessere Behandlungsmethoden anbahnte. Er be- stimmte die Indicationen für die Vornahme der Wendung, welche zwar schon im Alterthum bekannt war, aber nachher nur selten geübt wurde, und gab eine Anleitung zu ihrer Ausführung. ^ Ihm war es zu danken, dass dieselbe fortan einen dauernden Platz in der operativen Geburts- hilfe behauptete.

Seine Lehren wurden von Pieeee Pranco und Jacques Guille- MEAü weiter entwickelt und fester begründet. Der erstere empfahl, zur Extraktion des Kindes ein dreiarmiges Speculum in die Scheide einzuführen, in welches er den Kopf oder die Püsse zu leiten suchte; er kam somit der Erfindung der Geburtszange schon ziemlich nahe.* GurLLEMEAU beobachtete bereits di« Placenta praema, ohne dass er jedoch die Art ihrer Entstehung erkannte, und führte bei der Tochter des A. Pae4: das Aecouehement force aus.

Der Kaiserschnitt wurde an Lebenden unternommen; doch scheint es sich in mehreren Fällen, über welche berichtet wird, nur um den Bauchschnitt bei Extra-Uterin-Schwangerschaft gehandelt zu haben. So erzählt Bauhin, dass Jacob Nupee, ein Schweizer Hodenschneider, i. J. 1500 seiner schwangeren Frau, nachdem 13 Hebammen und mehrere Chirurgen vergeblich versucht hatten, dieselbe auf natürlichem Wege zu entbinden, den Leib aufgeschnitten habe, „wie er es bei den Schweinen zu thun gewohnt war".* Dabei soll er sofort nach dem ersten Schnitt ein lebendes Kind herausbefördert haben.

Dagegen müssen andere Fälle auf den eigentlichen Kaiserschnitt bezogen werden.^ Man scheint denselben sogar häufigerj als noth- wendig war, ausgeführt zu haben; A. Pae:^ warnte davor und wies auf die Gefahren der Operation hin. Aber man war noch nicht so weit in der Wissenschaft vorgeschritten, um die Bedingungen feststellen zu

* E. C. J. V. Siebold a. a. 0. II, 17.

* Oeuvres d'Ambroise Pare ed. Malqaigne, T. II, 628 u. fF. ^ Siebold a. a. 0. II, 83.

* C. J. V. Siebold a. a. 0. II, 94 u. ff.

* Siebold a. a. 0. II, 106 u. ff. O. Wachs: Der Wittenberger Kaiserschnitt von 1610, Leipzig 1868.

PU8CHMAN27, ÜDterricbt. 17

258 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit

können, unter welchen der Kaiserschnitt vorgenommen werden soll, wenn auch Abanzios Arbeiten über die Beckenenge den Ärzten vielleicht eine Ahnung davon verschaflffcen.

Auch auf anderen Gebieten der Heilkunde regte sich der Geist des Kriticismus und rüttelte an den durch die herrschenden Autoritäten gestützten Lehren und Einrichtungen.

PiEREE Brissot erklärte, dass es unrichtig sei, den Aderlass bei entzündlichen Krankheiten möglichst entfernt von der leidenden Stelle vorzunehmen,, wie es damals üblich war, und führte ihn im Gegen theil in der Nähe des erkrankten Theiles aus. Seine an den hergebrachten Meinungen festhaltenden Gegner griffen ihn deshalb heftig an und behaupteten, dass seine Neuerung eben so geföhrlich für. die Körper sei, als der religiöse Glaube Luthers für die Seelen.^ Wichtiger als dieser ganze Aderlassstreit war es, dass in Folge dessen Zweifel auf- tauchten, ob der Aderlass überhaupt in gewissen Fällen immer er- forderlich sei.

Um dieselbe Zeit bekämpfte Mich. Servet die irrige Lehre von der Kochung der Säfte. Ferner erfuhr die übertriebene Bedeutung, welche man dem Puls und der Hamschau beilegte, eine vernünftige und noth wendige Einschränkung. Gewissenlose Abenteurer und un- wissende Empiriker trieben damit einen unerträglichen Missbrauch. Das TJringlas bildete gleichsam das Wahrzeichen des Arztes, wie man an den Bildern der niederländischen Schule sehen kann, und sollte über die geheimsten und wunderbarsten Dinge Auskunft geben. Es war begreiflich, dass sich ehrliche Ärzte und verständige Laien, wie der Bischof DüDiTH VON HoREKOwicz, gegen dieses Treiben wandten und eine wissenschaftliche Behandlung der ürinlehre anstrebten.

Freilich konnte dies erst dann mit Erfolg geschehen, wenn die Chemie eine höhere Entwickelung erreicht hatte. In dieser Eichtung hat Niemand während des 16. Jahrhunderts mehr geleistet, als Theo- PHRASTus BoMBASTüs Paracelsus vou Hoheuhcim. Dieser Mann, welcher zu. den merkwürdigsten Erscheinungen der Culturgeschichte gehört, ist von Einigen über Gebühr verherrlicht, von Andern mit Spott und Verachtung überhäuft, selten aber vorurtheilslos und gerecht be- urtheilt worden. Er war eine Faustische Natur, welche die höchsten und edelsten Ziele ins Auge fasste, aber mit ihren kühnen, weitgreifenden Plänen Schiffbruch litt und im Kampf mit den umgebenden Verhält- nissen Alles, sogar sich selbst verlor.

* K. Sprengel: Geschichte der Arzneikunde III, 176 nach Moreaü: De miss. sanguin. in pleurit, Paris 1630, p. 102.

Die Emandpation vom Autoritätsglauben auf dem Gebiet der Medicin etc. 259

Aber diese traurige Thatsache kann ihm nicht das grosse Ver- dienst rauben, welches er sich um die Medicin erworben hat, indem er die Säftetheorie der Alten bestritt und zuerst dem Gedanken Aus- druck gab, dass der Lebensprozess ein chemischer ist und chemische Veränderungen die Bedingungen der Gesundheit und Krankheit bilden. Er erkannte die Unrichtigkeit der aus dem Alterthum stammenden Lehre, dass das Herz der Sitz der Wärme sei, und sagte, dass jeder Körpertheil seine Wärmequelle in sich trage. ^ Er wies auf die Analogie der Gicht mit den Steinleiden hin, indem es bei beiden Krankheiten zur Ablagerung fester Stoffe komme, und empfahl in diesen Fällen den Gebrauch alkalinischer Säuerlinge. Die innere Anwendung verschiedener chemischer, besonders mineralischer Substanzen wurde von ihm zuerst versucht; zu diesen gehören das Quecksilber in verschiedener Gestalt, mehrere Bleiverbindungen, antimonhaltige Arzneien, die Schwefelmilch, der Kupfervitriol, der Eisensafran und andere Eisenpräparate.

Pabacelsus erklärte, dass die Chemie nicht die Aufgabe habe, Gold zu fabriciren, sondern Arzneien darzustellen. Er widmete dieser Wissenschaft ein eifriges Studium^ und war z. B. der Erste, der sich zur Bestimmung des Eisengehalts der Mineralwässer der Galläpfel- tinktur bediente. Die übelen Folgen, welche der länger fortgesetzte Gebrauch einzelner mineralischer Stoffe, z. B. des Quecksilbers, hinter- lässt, entgingen ihm keineswegs; er hatte sie an den Arbeitern der Bergwerke von Idria kennen gelernt. Ebenso schilderte er die Wirkungen des Arseniks und die Krankheiten, denen die Bergleute beim Schmelzen mancher Metalle ausgesetzt sind. Indem er die Chemie aus den Händen der Alchy misten befreite und der Heilkunde nutzbar machte, gab er die Anregung zur wissenschaftlichen Bearbeitung der Chemie und zur Begründung der medicinischen Chemie.

Die Wirkungen dieser Thatsachen zeigten sich in der Pharma- kologie; zahlreiche halb- oder ganz vergessene Arzneien wurden wieder in Erinnerung gebracht und andere neu erfunden. Gleichzeitig erfuhr der Arzneischatz durch die Medicamente, welche aus Amerika einge- führt wurden, manche Bereicherung.

Kaiser Carl V. gebrauchte auf Vesals Verordnung, als er an der Gicht damiederlag, eine Abkochung, der China-Wurzel. Das Guajak- holz erlangte einen grossen Kuf als specifisches Mittel gegen die Syphilis. IIiiEiCH VON Hütten, welcher selbst an dieser Krankheit viele Jahre litt, hat die Wirkungen des Guajakholzes ausführlich geschildert.^

* Paracelsus: Paramirum, Lib. I. ' Kopp: Gesch. der Chemie a. a. 0. 1, 96.

^ ü. V. Hütten: De Guajaci medicina, Mogunt, 1519. F. F. A. Potton:

Livre du Chevalier allemand Ulrich de Hütten sur la maladie fran9ai8e, Lyon 1865.

17*

260 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit

Auf dem Felde der inneren Medicin förderte der durch den Kampf gegen den Autoritätsglauben geweckte Geist der Selbstständigkeit eine Menge von Beobachtungen zu Tage, welche zur Kenntniss der Krank- heiten viel beitrugen. Das Wesen der Syphilis, die damals mit un- gewöhnlicher Heftigkeit und in seuchenhafter Ausbreitung auftrat, und deshalb für eine neue Krankheit gehalten wurde, die aus den neuent- deckten überseeischen Ländern nach Europa gelangt sei, wurde durch die Feststellung der genetischen Beziehungen zwischen den secundären und tertiären Folgezuständen und der primären Lokal-Aflfektion in ein überraschendes Licht gestellt. Mit dem Verlauf, den Erscheinungen und der Behandlung dieses Leidens beschäftigten sich zahlreiche Schriften, welche alle Theile des Krankheitsbildes berücksichtigten.

Aus derselben Zeit stammen die ersten Mittheiluügen über den Scorbut. Vasco de Gama verlor auf seiner Expedition L J. 1498 nicht weniger als 55 seiner Schiffsgefährten, die an dieser Krankheit zu Grunde gingen.^ Auch in den Küstenländern der Nord- und Ostsee und in einzelnen andern Gegenden wurde das Auftreten derselben beobachtet.

In das Ende des 16. Jahrhunderts fallen ferner die ältesten Berichte über die Kriebelkrankheit, den Ergotismus convulsivus, der sich von der gangränösen Form dieser Intoxication, welche man in früheren Zeiten gewöhnlich als Ignis sacer bezeichnete, sowohl durch die Krank- heitserscheinungen als durch die geographische Verbreitung unterschied.

Durch das sorgfaltigere Studium der Krankheitserscheinungen und den Fortschritt der medicinischen Wissenschaft gelangte man auch allmälig dahin, dass die vielumfassenden nosologischen Begriffe des Aussatzes und der Pest in die einzelnen Krankheiten, aus denen sie sich zusammengesetzt hatten, zerlegt werden konnten. In Folge dessen erlangten neben verschiedenen Leiden, die sich durch Ablagerungen in der Haut kennzeichnen, die typhösen Erkrankungen einen selbststän- digen Platz in der wissenschaftlichen Pathologie.

Fbacastoeio, der hervorragendste Epidemiograph des 16. Jahr- hunderts, veröffentlichte die erste Beschreibung des exanthcmatischen Typhus. Bailloü hinterliess die ersten unzweideutigen Schilderungen des Keuchhustens und des Croups.

Ausser diesen fundamentalen Arbeiten verdient die casuistische Literatur hervorgehoben zu werden, welche für die Entwiekelung der Heilkunde von grosser Bedeutung war. Einzelne Beobachtungen bieten

^ A. Hibsch: Handbuch der historisch-geographischen Pathologie, Stuttgart 1883, II, 358 u. ff.

Die Universitäten im 16. Jahrhundert, 261

noch jetzt Interesse, wie diejenigen über Gallensteine von Al. Benedetti, ferner die durch eine Abbildung illustrirte Beschreibung der Nieren- stwne des Herzogs Albrecht V. von Bayern, denen der Volksglaube die Gestalt von Jesuiten-Köpfen andichtete,^ der von F. Valleeiola erzählte Fall, in dem eine Pistolenkugel, welche in die Bauchhöhle eingedrungen war, nach einiger Zeit, .ohne weitere Folgen zu hinterlassen, durch den After entleert wurde, ^ der Bericht des Dodonaeus, welcher bei der Sektion eines französischen Prinzen, der lange Zeit am Tripper und an Nierenschmerzen gelitten hatte, Vereiterung der TJreteren und Ver- härtung der Nieren fand,* die psychiatrischen Erfahrungen Felix PiiATTEBs, welcher sich gegen die Zwangsmassregeln und die Ein- sperrung der Geisteskranken in Gefangnisse aussprach, u. ä. m.

Welche reiche Vermehrung des Inhalts die medicinische Wissen- schaft im 16. Jahrhundert erfahren hat, lässt sich hier leider nur andeuten ; denn eine ausführliche Schilderung der einzelnen Fortschritte würde zu weit führen und ist nicht die Aufgabe dieses Buches. Die angeführten Beispiele werden genügen, um zu zeigen, wie sich der Zeitgeist in der Entwickelung der Medicin wiederspiegelte.

Die Universitäten im 16. Jahrhundert.

Das mit ungeahnter Kraft sich entfaltende Geistesleben hatte die Gründung zahlreicher Universitäten zur Folge. In Spanien und Por- tugal, welche durch die überseeischen Entdeckungen in den Vorder- grund der öffentlichen Interessen gedrängt wurden, wurden Hochschulen zu Toledo (1520), Baeza (1533), Compostella (1534), Granada (1540), Ossuna und Gandia (1549), Almagro (1552), Orchuela (1555), Terra- gona (1572) und Oviedo (1580) errichtet; selbst in der neuen Welt, in Lima (1551) und Mexiko (1553), entstanden Universitäten.

Aber ihre Bedeutung für die Entwickelung der Wissenschaft blieb gering. Sie sanken rasch in Vergessenheit, als Spanien, dem das Schicksal die Rolle der leitenden Seemacht zugedacht hatte, durch die kurzsichtige Glaubenspolitik seiner Herrscher und den beschränkten Klerikalismus seines Volkes von der politischen Höhe, die es erreicht hatte, herabgestürzt wurde.

^ Ceedä u. Distel in Viechow*s Archiv, Bd. 96, S. 501 u. ff.

Observat. medicin., lib. IV, c 9, Lngd. 1605.

^ Medic. observat. exempla rara, Harderwjk 1521, p. 72, c. 41.

262 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit,

England und die Niederlande, welche an Spaniens Stelle traten und bald den Handel und Verkehr mit den überseeischen Ländern beherrschten, wussten besser den Vortheil ihrer Lage auszunutzen. Sie blühten empor und wurden die wohlhabendsten Länder der Welt. Sie vereinigten die Reichthümer Amerikas mit den Schätzen Asiens in ihrem Besitz; denn auch der Orienthandel, welcher bis dahin seinen Weg über Italien genommen hatte, schlug eine andere Richtung ein und gelangte zur See nach den Küsten Britanniens, Hollands und Norddeutschlands.

In dieser Thatsache liegt die Erklärung der merkwürdigen Er- scheinung, dass diese Länder fortan auch auf den geistigen Gebieten, in der Kunst und Wissenschaft, eine hervorragende Rolle spielten, während sie andererseits auf den Verfall Italiens, der mit jener Zeit begann und am Schluss des 17. Jahrhunderts deutlich zu Tage trat, ein Licht wirft.

Italien erhielt im 1 6. Jahrhundert nur zwei Hochschulen, nämlich zu Macerata (1540) und zu Messina (1548). In Frankreich wurden Universitäten zu Rheims (1558), Douai (1561), Besan9on (1564) und Pont-ä-Mousson (1572)^ gegründet, denen sich die in der französischen Schweiz gelegenen Universitäten zu Lausanne (1536) und Genf (1569) anschlössen. Ausserdem errichtete der König Franz I. das College de France, an welchem unentgeltliche Vorlesungen gehalten wurden, deren Besuch Jedermann gestattet war. Unter den reich dotirten 12 Lehr- kanzeln befand sich auch eine für Medicin.

Auf den brittischen Inseln erhielt Edinburg 1583 und Dublin 1591 eine Universität. In den Niederlanden entstanden derartige Anstalten zu Leyden (1575) und Franecker (1585). An der östlichen Grenze der Cultur wurde Wilna (1597) zum Sitz einer Hochschule gemacht.

Auch die Zahl der deutschen Universitäten wurde erheblich ver- mehrt. Schon auf dem Reichstage zu Worms i. J. 1495 richtete der Kaiser Maximilian I. an die Kurfürsten die Aufforderung, dass Jeder in seinem Lande eine Hochschule gründe. Was die Kurfürsten thaten, das wollten auch die übrigen Landesherren durchsetzen, wenn es irgend möglich war. So wurde eine Menge von Universitäten ins Leben ge- rufen, von denen manche kaum die nothdürftigsten Mittel zu ihrer Existenz erhielten.

Im J. 1502 errichtete der Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen mit kaiserlicher Genehmigung die Hochschule zu Wittenberg, welche

^ TouBDEs: Origine de renBeignement m^d. au Lorraine. La facult^ de m^d. de Pont-ä-Mousson, Paris 1876. Leoband; L'universit^ de Douai, Douai 1888,

Die Universitäten im 16. Jahrhv/ndert. 263

in den folgenden Decennien den Mittelpunkt der religiösen Reform- bewegung bildete. Darauf folgte 1506 die Gründung der Universität zu Frankfurt a/0. für die Markgrafschaffc Brandenburg.

Die erste Hochschule, die nach der Kirchenspaltung entstand und einen ausgesprochen protestantischen Charakter trug, war diejenige zu Marburg in Hessen, welche 1527 errichtet wurde, aber erst 1541 die Bestätigung des Kaisers erhielt. Gleich der Marburger Universität entstand auch diejenige zu Königsberg in Preussen (1544) unter Melanchthons Einfluss; sein Schwiegersohn Sabinus war ihr erster Eector.^

In Dillingen gründete der Augsburger Bischof 0. von Truchsess i. J. 1549 eine Bildungsanstalt für Kleriker, welcher 1554 vom Pabst die Rechte einer Universität verliehen wurden. Sie wurde später von den Jesuiten geleitet und 1804 aufgehoben.^

Die Entstehung der Universität Jena (1558) hatte darin ihren Grund, dass der Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, als er nach der unglücklichen Schlacht bei Mühlberg genöthigt wurde, sein Land gegen dasjenige seines Vetters Moritz zu vertauschen, eine Universität in der Nähe seiner Residenz haben wollte. Seinem Beispiel folgte Herzog Julius von Braunschweig und schuf 1576 die Universität Helmstädt, welche bis 1809 existirte. Die medicinische Facultät der- selben führte in ihrem Wappen einen gekrönten Ochsen unter einem Stern.3

In den Ländern der Habsburgischen Dynastie wurden Hochschulen zu Olmütz (1573) und Graz (1585) mit katholischem Charakter errichtet, die jedoch nicht mit allen Facultäten ausgestattet waren.

Nur die Universität zu Würzburg, welche L J. 1582 vom Fürst- bischof Julius Echter wiedereröflfnet wurde, besass reichere Hilfsmittel für das medicinische Studium. tTbrigens hatten auch die übrigen der neu entstandenen Universitäten selten mehr als einen Professor der Medicin. Die Theologie stand immer noch im Vordergrunde.

Die protestantischen Hochschulen kämpften nicht weniger eifrig für den neuen Glauben, als die katholischen Universitäten unter jesuiti- scher Führung die Autorität des Pabstes vertheidigten. An der Hoch- schule zu Helmstädt wurde Niemand geduldet, der nicht dem luthe- rischen Glauben anhing. Der Hferzog von Braunschweig erklärte 1584 dem General -Consistorium, dass es besser sei, wenn derartige Leute

* M. Toppen; Die Gründung der Universität zu Königsberg, 1844.

^ Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts a. a. 0. S. 268.

^ Geschichte der ehemaligen Hochschule zu Helmstädt, Helmstädt 1876.

264 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit.

;,zxim Teufel führen, als dass sie seine Kirchen und Schulen verunreinten und befleckten".^ Aber es war doch schon ein grosser Fortschritt zur Toleranz, dass er die Andersgläubigen nur ins Jenseits wünschte und nicht mehr gewaltsam dorthin befördern liess.

Leider kam auch dies unter der Herrschaft des Protestantismus nur zu oft vor, wie abgesehen von den grausamen und blutigen Ver- folgungen, deren Schauplatz England und die ihm unterworfenen Länder waren, das Beispiel des unglücklichen Michael Servet beweist, der auf Calvins Betreiben in Genf den Scheiterhaufen besteigen musste, weil ihm das Verständniss für die Dreieinigkeit Gottes nicht gelang. ^

Die Wirkung der Kirchenspaltung auf die Universitäten, welche sich der religiösen Reformbewegung anschlössen, äusserte sich zunächst in der Loslösung von Rom, in der Beseitigung der päbstlichen Ingerenz. Aber der kirchliche Einfluss wurde dadurch nicht aufgehoben ; es traten nur an die Stelle der katholischen Theologen die protestantischen, deren Herrschaft in manchen Ländern, z. B. in England, sehr drückend war und sich in unberechtigter Weise auf alle möglichen Gebiete des geistigen Lebens ausdehnte.

Ein freierer Geist beseelte die protestantischen Hochschulen Deutsch- lands. Die Geistlichkeit der neuen Kirchen gewann hier geringere Macht und entwickelte sich allmälig zu einem Organ der Staatsgewalt, die aus Gründen der politischen Zweckmässigkeit brutale Ausbrüche der religiösen Intoleranz vermeiden musste. In Frankreich wurde die Verstaatlichung der Universitäten und überhaupt des gesammten Schul- wesens, welche in den protestantischen Ländern Deutschlands unter dem Einfluss der Kirchenspaltung zu Stande kam, durch die Kraft der Re- gierungen allmälig herbeigeführt.

In den katholischen Ländern Deutschlands vollzog sich dieser Prozess erst im 18. Jahrhundert, in anderen Staaten, z. B. in Italien, im 19. Jahrhundert. Derselbe hatte manche Veränderungen in der Organisation der Universitäten im Gefolge. Die Kanzler- Würde wurde, wenn man sie nicht gänzlich abschaffte, mit hohen Beamten oder Ver- trauensmännern der Staatsregierung besetzt und die Licenz nicht mehr von der Kirche, sondern vom Staat ertheilt

Der kosmopolitische Charakter der Universitäten hörte damit auf; sie waren fortan nichts weiter als die höchsten Lehranstalten des Staates,. und ihre akademischen Grade hatten nicht mehr, wie früher, Geltung

^ Paülsek a. a. 0. S. 178 nach E. L. T. Henke: Georg Calixtus und seine Zeit, Halle 1853.

W. E. H. Lecey: Geschichte der Aufklärung in Europa 11, 31 u. ff.

Die Universitäten im 16. Jahrhundert, 265

für alle Lander der Christenheit, sondern nur für einen engbegrenzten politischen Bezirk. Die schrankenlose Freizügigkeit, deren sich die ge- lehrten Stände im Mittelalter er&eaten, wurde aufgehoben, und es ent- wickelte sich allmälig ein Prohibitiv-System, welches die Wissenschaft nur anerkannte, wenn sie innerhalb der eigenen Grenzpfahle erworben worden war.

Eine grosse Umwälzung erfuhren im Allgemeinen die finanziellen Verhältnisse der Universitäten Deutschlands und mehrerer anderer Länder, welche sich dem Protestantismus anschlössen. Die Professoren verloren die Aussicht auf eine Vermehrung ihrer Einnahmen durch fette Kirchenpfründen. Die geringe Erhöhung ihrer Besoldungen, welche bei der Säcularisation der Kirchengüter erfolgte, bot dafür nur einen dürftigen Ersatz. Überall fühlte man, dass der sichere Bückhalt, den man an den reichen Geldmitteln der Kirche gehabt hatte, nicht mehr vorhanden war.

Wie geringfügig die Mittel waren, welche damals die Erhaltung einer Universität erforderte, zeigt das Jahres-Budget der Tübinger Hoch- schule von 1541/42. Die Einnahmen betrugen 5176 fl., die Ausgaben 4853 fl.; in den letzteren waren die Professoren-Gehälter für 3 Theo- logen, 6 Juristen, 2 Mediciner und 10 Artisten mit je 40 200 fl., im Ganzen 2394 fl. enthalten.^

Die Bedürfiiisse einer kleinen Universität in jener Zeit waren nicht bedeutend, wie das Beispiel von Greifswald zeigt, wo sich sämmtliche Ba,umlichkeiten derselben in einem einzigen Hause befanden. Sie be- standen aus drei Hörsälen, dem Senatssaal, dem Laden für die aka- demische Buchhandlung, dem Bibliothekzimmer, dem Archiv, zwei Professoren- Wohnungen, mehreren Kammern, in denen Studenten wohnten, und dem Carcer im Souterrain. ^

Die katholischen Hochschulen befanden sich in dieser Beziehung in einer günstigeren Lage. Pabst Julius III. erliess i. J. 1553 eine Bulle, nach welcher es gesetzlich gestattet war, geistliche Pfründen an weltliche Professoren zu verleihen, was übrigens schon seit langer Zeit gebräuchlich war und stillschweigend geduldet wurde.

Das Cölibat der Universitätslehrer wurde dadurch gegenstandslos und hörte allmälig auch in den katholischen Ländern auf. An den protestantischen Hochschulen war es selbstverständlich ausgeschlossen; doch wirkte die Gewohnheit so mächtig, dass man z. B. in Tübingen daran noch festhielt und es sogar von den Professoren der Medicin

^ F. Paülsen in Stbel's histor. Zeitschr. 1881, Bd. 45, S. 278 u. ff. * F. Paulsbn a. a. 0. S. 304. 407.

266 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit,

verlangte, nachdem die Universität schon längst protestantisch ge- worden war.

Die Besoldungen der Professoren waren verschieden in den ein- zelnen Ländern und Facultäten; diejenigen der Mediciner standen denen der Theologen und Juristen im Allgemeinen nach. In Paris erhielt jeder Professor der Heilkunde i. J. 1505 12 livres jährlich.^ In Königsberg wurden den beiden Lehrern der Medicin i. J. 1544 Be- soldungen von 200 und 150 fl. ausgesetzt. ^ In Heidelberg bezogen die drei Professoren der Medicin vor der Keformation Jahresgehälter von 180, 160 und 140 fl. Im J. 1588 wurden dieselben erhöht auf 270, 180 und 170 fl.; ausserdem erhielt Jeder freie Wohnung, sowie ein Fuder Wein und 12 Malter Korn jährlich.^

Der Herzog Wilhelm von Bayern stellte 1537 einen Rechtslehrer in Ingolstadt mit 300 fl. Gehalt an. Dies war die höchste Besoldung, die damals auf einer deutschen Universität gezahlt wurde.*

Die Studentenschaft wurde von den grossen Begebenheiten der Zeit ebenfalls mächtig ergrifien. Der auf allen Linien eröfl&iete Kampf gegen die Autorität, der Humanismus, welcher in den ungezwungenen Lebensformen der antiken Welt seine Ideale fand, vor Allem aber die Kirchenspaltung erzeugten einen Geist der Freiheit und Unabhängigkeit, welcher sich manchmal gegen jede Beeinträchtigung der Selbstständig- keit auflehnte.

Die Senatsprotokolle der Tübinger Universität enthalten merk- würdige Belege für die Sittengeschichte der Studierenden des 1 6. Jahr- hunderts. So beschwerten sich die Nonnen von Suchen in einem Schreiben v. J. 1564 beim Senat, dass sie durch die häufigen und zu- dringlichen Besuche der Studenten belästigt wurden. Viele Studenten in Tübingen waren verheirathet und Familienväter; i. J. 1575 wurde den jungen Studierenden verboten, sich ohne Einwilligung ihrer Eltern zu verehelichen. Im J. 1589 wurde dem Senat angezeigt, dass eine Wittwe mit Studenten Unzucht trieb; zur Strafe dafür wurde sie „in einem Stüblein an die Kette gelegt".®

^ Hazon a. a. 0.

* D.H. Aenoldt: Historie der Königsbergischen Universität, Königsberg 1746.

' Hautz a. a. 0.

^ Meinebs: Greschichte der Entstehung der hohen Schulen, Göttingen 1802.

^ E.. y. Mohl: Nach Weisungen über die Sitten und das Betragen der Tü- binger Studierenden während des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1871. Jon. Hübeb: Deutsches Studentenleben in Kleine Schriften, Leipzig 1871, S. 364 u. ff. B. Gebhabdt in der Zeitschr. f. allgem. Gesch. her. v. Zwibdineck-Südenhobst, Bd. IV, 1887, S. 962.

Die Universitäten im 16, Jahrhundert, 267

In Wittenberg kamen ähnliche Excesse vor.^ Auch unter den Studenten katholischer Universitäten herrschte ein roher gewaltthätiger Ton, wie die Nachrichten über Ingolstadt beweisen. ^

Die Studenten wohnten theils in Bursen oder Convikten, wie sie schon im Mittelalter existirten, theils bei Privatleuten oder Professoren. Die letzteren fanden in dem Gelde, welches sie für die Aufnahme und Verpflegung der Studierenden empfingen, eine bisweilen recht erwünschte Einnahme-Quelle. Maetin Luther's Sohn hielt eine vielbesuchte Studenten-Pension in Wittenberg. ^ In Heidelberg kam es nicht selten vor, dass die Professoren den Wein, welcher einen Theil ihrer Gehalts- bezüge bildete, öffentlich ausschenken Hessen; sie durften sicher darauf rechnen, dass ihre Hörer dabei mindestens ebenso fleissig erscheinen würden, als in ihren Vorlesungen.

Arme Studenten waren der bittersten Noth ausgesetzt. Ein er- greifendes Bild dieses traurigen Daseins hat Thomas Platter in seiner Selbstbiographie gezeichnet. Hungernd und frierend, in Lumpen ge- hüllt und bettelnd durchzog er mit seinen Gefährten die Schweiz und Deutschland. Die fahrenden Studenten bildeten ein Vagabundenthum, welches die Leichtgläubigkeit und Unwissenheit brandschatzte und in manchen Gegenden zu einer argen Landplage wurde.

Eine tiefe gesellschaftliche Kluft trennte diese Bettelstudenten von den reichen und vornehmen Studierenden, welchen an den meisten Universitäten eine bevorzugte Stellung eingeräumt wurde. Dieselben suchten häufig durch kostspielige Schmausereien und Gelage, durch ein verschwenderisches Auftreten und übertriebenen Kleiderluxus Aufsehen zu erregen. So kosteten z. B. die Pluderhosen mancher Studenten über 100 fl.: eine Summe, deren Bedeutung man erst begreift, wenn man bedenkt, dass der aus drei Gängen und einem Quart Wein bestehende Mittagstisch für die Tübinger Studenten damals mit 38 fl. jährlich be- zahlt wurde. Gesetze, Predigten und Bücher eiferten gegen die Ver- schwendungssucht der Studenten, aber, wie es scheint, ohne Erfolg.

Professor Musculus zu Frankfurt a/0. geisselte die Sitte der Pluder- hosen in einer Schrift, welche den Titel führte: „Vermahnung und Warnung vom zerluderten, zucht- und ehrverwegenen pludrichten Hosen- teufel. (Frankfurt a/0 1556.)" Ein Senatsbeschluss der Tübinger Hoch- schule V. J. 1554 verwarnte „die Edelleute, so neuerlich hierher ge- kommen, wegen ihrer Bruttalhosen und Blossgesäss und forderte sie auf, solch' unfläthig und kriegerisch Kleid abzulegen."

^ J. F. A. Gillet: Crato von CraflPtheim, Frankfurt a/M. 1860, I, 101. * B. Gebhardt a. a. 0. S. 957. ^ Paulsen: Gesch. d. gel. Unterricht» S. 161.

268 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit.

Der medicinische Unterricht.

Die Veränderungen, welche die medicinische Wissenschaft erfuhr, äusserten ihren Einfiuss auf den medicinischen Unterricht dadurch, dass die Summe des Lehrstoffes sowohl wie die Anzahl der Professuren und die Lehrmittel vermehrt wurden, und die Methode der ärztlichen Aus- bildung, entsprechend der grösseren Bedeutung, welche die Anatomie und Chii'urgie erlangt hatten, allmälig eine etwas mehr praktische Richtung erhielt. Die culturhistorischen Ereignisse, die Erfindungen und Entdeckungen, übten ebenfalls eine mächtige Wirkung auf das Unterrichtswesen aus.

Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst gehörten Bibliotheken zu den seltensten und kostbarsten Dingen. Die medicinische Facultät zu Paris besass i. J. 1395 nicht mehr als 9 Werke, unter welchen der Continens des Rhazes am höchsten geschätzt wurde. Als der König Ludwig XI. dieses Werk i. J. 1471 ausleihen wollte, um es ab- schreiben zu lassen, fanden deshalb lange Berathungen der Facultät statt, und dieselbe ertheilte ihre Bewilligung erst, nachdem der König eine Caution von 12 Mark Silber erlegt und 100 Thaler Gold herge- liehen hatte. ^

Privatleute waren nur mit Aufwand grosser Mittel im Stande, sich Büchersammlungen anzulegen. Selbst ein so hervorragender und ver- mögender Arzt, wie Taddeo Aldeeotti, hinterliess bei seinem Tode nur 4 Bücher; im Nachlass des Arztes Freidank fand man nicht mehr als 3 Bücher. 2

Die Anfertigung der Abschrift eines Werkes nahm Jahre des an- gestrengtesten Fleisses in Anspruch und setzte Kenntnisse voraus, die damals wenig verbreitet waren. Mit der Erfindung des Bücherdrucks vollzog sich in dieser Hinsicht ein Umschwung, ähnlich demjenigen, der in neuester Zeit geschah, als die Maschinen- Arbeit den Handbetrieb in der Herstellung der Waaren ersetzte.

Die Gründung und Vermehrung der Bibliotheken der Hochschulen wurde dadurch erleichtert oder eigentlich erst ermöglicht. Die Uni- versitäten gewannen damit ein Lehrmittel, welches die Entwickelung des Geistes und Charakters in gleicher Weise forderte. Sie erkannten die Wichtigkeit desselben sehr gut und waren bemüht, die für die

^ J. C. Sabatier a. a. 0. KosEaARXEN (Geschichte der Universität Greife- wald, Greiüswald 1857, II, 232) giebt ein Verzeichniss der Bücher, welche sich 1482 im Besitz der dortigen medicinischen Facultät befanden.

' Kriegk a. a. 0. I, 17.

Der mediemische Unterricht. 269

Erwerbung von Büchern erforderlichen Geldmittel herbeizuschaflfen und die Benutzung der Sammlungen durch zweckmässige Einrichtungen und Vorschriften zu regeln. ^ Die Bibliotheksordnung der medicinischen Facultät zu Montpellier v. J. 1534 bestimmte, dass die Bibliothek im Sommer um 6 Uhr, im Winter um 8 Uhr früh geöffnet und Nach- mittags um 4 Uhr geschlossen wurde, und machte die Studierenden, welche sie benutzten, für jeden Schaden, der durch Verlust oder Ver- unreinigung der Bücher entstand, verantwortlich.^

Im 16. Jahrhundert begann man auch, die Universitäten mit bo- tanischen Gärten auszustatten. Die Republik Venedig ging darin allen übrigen Staaten mit gutem Beispiel voran, indem sie 1545 in Padua einen botanischen Garten anlegen liess.' Darauf entstanden diejenigen zu Pisa (1547) und Bologna (1568), wo später A. Cbsalpini, „der grösste Botaniker seines Jahrhunderts", lehrte und wirkte. Leyden er- hielt 1577, Montpellier 1593 einen botanischen Garten. An den deut- schen Hochschulen wurden die ersten zu Leipzig (1580), Breslau (1587), Basel (1588) und Heidelberg (1593) gegründet* Sie hatten zunächst wohl nur den Zweck, das Studium der Arzneipflanzen zu begünstigen.

Der Unterricht in der Botanik wurde mit Demonstrationen der Pflanzen verbunden, welche das Verständniss des Vortrags ausser- ordentlich erleichterten. Ausserdem wurden dazu Herbarien, Samm- lungen getrockneter Pflanzen, welche ungefähr seit der Mitte des 16. Jahrhunderts eingeführt wurden,^ sowie Abbildungen der Pflanzen benutzt.

Schon im Alterthum pflegte man botanische Werke mit Zeich- nungen zu verzieren. Diejenigen der Handschriften des Dioskoeides, welche sich im Besitz der kaiserlichen Hofbibliothek zu Wien befinden, stammen aus dem 5. Jahrhundert. Auch aus der späteren Zeit, be- sonders aus dem 15. Jahrhundert, haben sich mehrere Pflanzen-Zeich- nungen erhalten.®

Durch die Erfindung des Holzschnitts und Kupferstichs wurde es möglich, die Abbildungen in wünschenswerther Weise zu vervielfältigen. Hervorragende Künstler, ja sogar die Meisterhand eines Guido Eeni, entwarfen die Zeichnungen dazu. Die botanische Literatur wurde im

* Pbantl a. a. O. I, 215.

' DüBoucHET in der Gaz. hebd. des scienc. m^d. de Montpellier 1887, No. 11, p. 124. Vergl. auch das sehr detaillirte Beglement der Bibliothek der Ecole de m^decine zu Paris v. J. 1395 bei Sabatier a. a. 0.

^ Meyer a. a. 0. IV, 256 u. ff. * Haxttz a. a. 0.

» Meyer a. a. 0. IV, 266 u. ff.

« Meyer a. a. 0. IV, 273 u. ff.

270 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit.

15. und 16. Jahrhundert mit einer grossen Anzahl von illustrirten Werken dieser Art bereichert.

Noch mehr verdankte die Anatomie der bildenden Kunst. Die berühmtesten Maler jener Zeit widmeten der Anatomie des mensch- lichen Körpers ein eifriges Studium. Lionaedo da Vinci Hess sich von seinem Freunde, dem Anatomen Maec Antonio della Tokre, über den Verlauf und die Form der Muskeln und die Lage der ein- zelnen Theile des menschlichen Körpers belehren. Er lieferte ihm die Zeichnungen zu einem anatomischen Werk, welches derselbe heraus- geben wollte, das aber niemals erschienen ist. Dieselben kamen später grösstentheils in die Biblioteca Ambrosiana nach Mailand und dann nach Paris; ein Theil gelangte in den Besitz des englischen Königs- hauses und wurde theils durch den Stich, theils mit Hilfe der Photo- graphie veröffentlicht.^

Auch Michelangelo beschäftigte sich viele Jahre hindurch mit anatomischen Studien und wurde dabei während seines Aufenthalts in Rom vom Anatomen Eealdo Colombo unterstützt, der ihm den Leichnam eines wunderbar schönen jungen Negers zu diesem Zweck überliess.^ An den Leichen in den Kellern von S. Spirito zu Florenz betrachtete er den Bau des Menschen; mit grosser Aufmerksamkeit folgte er den Sektionen, welchen er beizuwohnen Gelegenheit erhielt. Es ging sogar die Sage, dass er, als er den Heiland am Kreuz darstellen musste, einen lebenden Menschen als Modell benutzt habe, gerade so, wie man dies bekanntlich auch im Alter thum von Paebhasios erzählte, als er den vom Geier zerfleischten Prometheus malte. ^

Von den anatomischen Zeichnungen MiCHELANaELo's mag die Skizze einer Leichen-Sektion und das Bild eines männlichen Körpers, dessen Muskeln stark hervortreten, erwähnt werden; das letztere ist durch die genaue Abgrenzung der Proportionen ausgezeichnet. Auch Eafaels Skelett-Studien sind streng nach der Natur gezeichnet; durch innere Wahrheit und den Ernst des Ausdrucks machen sie einen er- greifenden Eindruck.

^ Vasari: Leben der ausgezeichneten Maler, Bildhauer und Baumeister. Deutsche Übersetzung, Stuttgart 1843, Bd. III, S. 26. R. Knox: Great Artists and great Anatomists, London 1852. Choulant a. a. 0. p. 6 u. ff. K. F. H. Marx: Über Marc Antonio della Torre und Lionardo da Vinci in Abhdlgn. der Göttinger Soc. d. Wissensch., Bd. IV, 177 u. ff. C. Langer in d. Sitzungsber. d. k. k. Akad. d. Wiss. Math.-Naturwiss. KL, Wien 1867, Bd. 55, I, 637.

' A. CoRRADi in Rendic. del R. Ist. Lomb. di sc. e lett. , vol. VI , ser. II, p. 643.

' Haeser a. a. 0. II, 27. Choulant a. a. 0. p. 10 u. ff. Ann. Seneca: Controvers., lib. X, c. 5 (No. 34).

Der medidnisGfte UnterrichL 271

Vortreffliche Darstellungen der Muskeln und des Skeletts des menschlichen Körpers gab Rosso de Eossi, ein Schüler des Andrea DEL Sarto, welche durch den Kupferstich vervielfältigt wurden. ^ Auch die Sknlptur wurde von dieser Richtung beeinflusst, wie die im Mai- länder Dome befindliche, von Maeco Agrate herrührende Statue des hl. Bartholomäus beweist, an welcher die Muskeln biosgelegt erscheinen.

Vesals anatomische Tafeln und die seinen beiden grösseren Werken beigegebenen Zeichnungen stammen aus der Schule Tizians, wahr- scheinlich grösstentheils von Johann Calcar, einzelne Blätter und Ver- besserungen auf anderen vielleicht von Tizian selbst. Möglicherweise gehört dazu ausser den beiden bekannten Figuren eines männlichen und weiblichen Körpers auch das Titelblatt, auf welchem Vesal er- scheint, wie er im anatomischen Theater in Gegenwart eines grossen Zuschauer-Publikums die Zergliederung einer Leiche ausführt.

Geringeren Werth haben die anatomischen Tafeln der Vor-Vesalischen Periode, wie z. B. Bart. Passarotti's Aderlassfigur, welche, wie es scheint, zum Unterricht der Chirurgen und Bader diente.*

Albrecht Dürer und Lionardo da Vinci gaben Weike über die menschlichen Proportionen heraus,^ welche in fremde Sprachen über- setzt wurden und einen grossen Einfluss ausübten, wie aus den Arbeiten mehrerer spanischen Künstler hervorgeht. Einzelne Anatomen lieferten ebenfalls werth volle anatomische Zeichnungen, Das Bild, welches Varolio von der unteren Fläche des Gehirns entwarf, zeigt richtige, wenn auch derbe Contouren und war offenbar für den Unterricht bestimmt.*

Berengar von Carpi war nach dem Zeugniss von Benvenuto CEUiiNi nicht blos ein erfahrener Arzt und Anatom, sondern auch ein geschickter Zeichner. Er stattete seine anatomischen Werke mit Holz- schnitten aus, welche ebenso sehr die Interessen der Künstler als die- jenigen der Ärzte berücksichtigten. Auch die Myologie des Cannani, sowie die anatomischen Schriften von Charles Estienne (Stephanus), EusTACHio und Volcher Koyter, welche selbst viele anatomische Zeich- nungen machten, des Spaniers Valverde de Hamusco, ferner von GuiDi (ViDius), Jacques Guillemeau, Felix Platter, Salomon Al- berti, Giulio Casserio und Adrian van den Spigel waren mit Ab- bildungen versehen.

Neben den anatomischen Zeichnungen, welche für die ärztliche Ausbildung ohne Zweifel eine grosse Bedeutung hatten, und dem theo-

^ Choulant a. a. 0. S. 16 u. ff. ' Chottlakt a. a. 0. S. 39 u. ff.

' A. W. Becker: Kunst und Künstler des 16. Jahrhunderts, Leipzig 1863, Bd. I, 341. IV, 163.

* Chouijint a. a. 0. S. 69.

272 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit

retischen Vortrag bildeten die praktischen Demonstrationen, zu welchen die Leichen-Zergliederungen Gelegenheit boten, das gebräuchlichste Lehr- mittel in der Anatomie. Dieselben wurden im Verlauf des 16. Jahr- hunderts an allen Universitäten, welche mit medicinischen Facultaten verbunden waren, eingeführt.

Anfangs gingen sie in der Weise vor sich, dass der Professor vom Katheder aus die Beschreibungen und Erklärungen der einzelnen Theile des Körpers vortrug, während die Sektion selbst von einem Chirurgen oder Barbier ausgeführt wurde. Die gelehrten Doktoren glaubten häufig, dass ihre Würde herabgesetzt werde, wenn sie sich mit der Zergliederung von Leichen befassten. Als Vesal in Paris studierte, lag der ana- tomische Unterricht dort gänzlich in den Händen „unwissender Bart- scherer", wie er erzählt,^ „welche sich darauf beschränkten, die Muskeln des Unterleibs in zerrissenem und schmählich zerfetztem Zustande vor- zuzeigen, sonst aber keinen andern Muskel und keinen Knochen demon- strirten und noch weniger eine geordnete Übersicht der Arterien, Venen und Nerven gaben". Guinteb von Andernach,^ welcher in Paris den anatonüschen Unterricht ertheilte, hielt sich von praktischen Arbeiten fem; Vesal sagt von ihm, dass er das Messer wohl niemals zu andern Dingen, als zum Zerschneiden des Bratens gebraucht habe.

Die italienischen Anatomen schlugen eine richtigere Methode ein, indem sie selbst die Leichen-Sektionen ausführten. Diesem Umstände war es gewiss hauptsächlich zu verdanken, dass fast alle grossen ana- tomischen Entdeckungen jener Zeit von Italien ausgingen.

Die anatomischen Schulen dieses Landes waren die besten auf der ganzen Welt. Alle hervorragenden Anatomen des 16. Jahrhunderts haben hier ihre Ausbildung erhalten; unter ihren Lehrern finden sich die glänzendsten Namen, welche die Geschichte dieser Wissenschaft kennt. Man beschränkte sich bei der Auswahl derselben keineswegs auf Italien, sondern nahm die tüchtigsten Lehrkräfte aller Länder; auch mehrere Niederländer und Deutsche wirkten als Lehrer der Anatomie an italienischen Hochschulen.

Auf AiiBSs. Benedetti's Veranlassung wurde i. J. 1490 in Bologna ein anatomisches Theater errichtet. Nach dem Muster desselben ent- standen später auch in Padua (1548), Amsterdam (1555) und an anderen Hochschulen derartige Anstalten.^

Ein grosses Hemmniss der Entwickelung des anatomischen Unter-

^ Vesalius: Epist.. dedicat zu De corp. hum. fabrica. ' Über diesen Gelehrten s. E. Tubkeb in der Gaz. hebdom. de mdd. Paris. 1881, No. 27. 28. 32.

° Cervetto: Di alcuni iUustri anatomici, Verona 1842, p. 150 u. ff.

Der medioinische Unterricht. 273

richts war der Mangel an Leichen, welcher nur ganz allmälig beseitigt wurde. Noch Vesal erklärte, dass er so selten Gelegenheit gehabt habe, den Uterus schwangerer Frauen zu seciren, dass er eigentlich gar nicht wisse, wodurch sich derselbe von demjenigen einer schwangeren Hündin unterscheide. ^ Als Student in Paris und später in Löwen be- suchte er mit seinen Gefährten Nachts die Friedhöfe, um menschliche Knochen auszugraben und zu sammeln ; einmal soll er bei einem solchen Ausflug sogar auf den Galgen gestiegen sein und das Skelett des ge- henkten Verbrechers herabgeholt haben. ^

Ähnlich ging es auch an anderen Orten zu. Felix Platteb berichtet, dass er als Student in Montpellier mit seinen Freunden, unter denen sich ein „verwegener Mönch des Augustiner-Klosters" befand, bei Nacht, „nachdem sie einen tüchtigen Trunk gethan", auf dem Kirch- hofe mit den Händen Leichen ausgegraben und die Knochen heimlich in die Stadt getragen habe. ^ Aber nicht blos die Studierenden, sondern auch die Professoren beklagten sich über den Mangel an Leichen. Eondelet in Montpellier soll deshalb sogar seinen eigenen Sohn, als dieser gestorben war, secirt haben. Femer wird von ihm erzählt, dass er seinen CoUegen Fontano, während derselbe schwer krank darnieder- lag, gebeten habe, dass er seinen Körper nach dem Tode anatomischen Zwecken widmen möge.*

Allerdings gab es in den Statuten der medicinischen Facultäten Bestimmungen, dass jährlich eine oder mehrere anatomische Demon- strationen stattfinden und die Behörden das dafür erforderliche Leichen- Material liefern sollten. Aber die letzteren kamen diesen Verpflichtungen nicht immer nach, und selbst, wenn dies geschah, so genügte das Studien-Material kaum für den Unterricht, geschweige denn, dass es für die Untersuchungen der anatomischen Forscher ausreichend war.

Es war daher erklärlich, dass sie sich dasselbe, wenn sie es nicht auf legalem Wege erlangen konnten, auf andere Weise zu verschaffen suchten. Der Kauf und der Diebstahl der Leichen waren in Folge dessen nicht selten und wurden von den Behörden mit einer gewissen Toleranz betrachtet, wenn es zu wissenschaftlichen Zwecken geschah. Aber man scheint dies manchmal zu offenkundig getrieben und auch missbraucht zu haben, sodass dagegen eingeschritten werden musste.

In Padua verlangte das Volk i. J. 1550, dass die Gesetze gegen

* Vesalius: Epist. radic. chyn. decoct. rat. pertractans nach A. Cobbadi a. a. 0. p. 634.

« H. ToLUN im Biolog. Centralblatt 1885, Bd. V, 276 u. ff.

* Felix Plattee: Selbstbiographie a. a. 0. S. 152.

* CoRBADi a. a. 0. p. 643. Pobtal: Hist. de ranatomie I, 522. PusGHHANN, Unterricht. iq

274 Der medieinische Unterricht in der Neuzeit.

die Entweihung der Gräber und den Leichenraub strenger gehandhabt würden. ^

Der Vornahme der Leichen-Sektionen standen nicht mehr, wie früher, religiöse, sondern sociale Vorurtheile entgegen. Nur das Wohl- wollen einsichtsvoller Behörden und die thatkräftige Unterstützung vornehmer Herren, welche sich für die Anatomie interessirten, ermög- lichte es den Forschem, das nothwendige Studien-Material zu erwerben.

Faloppio erhielt Gelegenheit, in einem einzigen Jahre 7 mensch- liche Leichen zu seciren, Realdo Colombo brachte es sogar auf 14.* Felix Platter berichtet, dass er während einer 30 jährigen Thätigkeit mehr als 50 Leichen zergliedert habe:^ eine Zahl, welche für jene Zeit aussergewöhnlich hoch war. Vesal erhielt während seiner erfolgreichen Wirksamkeit an den Hochschulen zu Padua, Pisa und Bologna soviel Leichen, als er wünschte; sie wurden ihm von den Richtstätten wie aus den Spitälern geliefert. Die Richter hatten die Gefälligkeit, für die Verurtheilten eine Todesart zu wählen, welche Vesal im Interesse der unversehrten Erhaltung der Körper vorschlug, oder die Hinrichtung auf seinen Wunsch aufzuschieben bis zu einer Zeit, in welcher Mangel an Leichen herrschte.

Dieses Entgegenkommen ging soweit, dass Cosimo von Medici ihm, als er behufs Lösung der damals noch unentschiedenen* Frage, ob das Hymen virginitaiis existire, in Verlegenheit war, woher er ein passendes weibliches Objekt nehmen sollte, den Leichnam einer frommen Nonne, welche kurz vorher gestorben war, zur Verfügung stellte. Da- durch konnte, wie Hyrtl bemerkt, dieses wichtige Attribut der Jungfern- schaft in seine Rechte eingesetzt werden, was vorher nicht möglich war, da die Jungfern, welche vom Galgen geliefert wurden, sich ge- wöhnlich nicht mehr im Besitz desselben befanden.

Der praktische Unterricht in der Anatomie bestand hauptsächlich in der Demonstration der Leichentheile; nur ausnahmsweise erhielten die Studierenden Gelegenheit, selbst an der Zergliederung mitzuarbeiten. Aus den Statuten der medicinischen Facultäten lässt sich übrigens er- kennen, dass die Zahl der jährlichen Sektionen, welche zur Ausbildung der Ärzte gehörten, allmälig zunahm.

In Leipzig wurde 1519 angeordnet, dass jedes Jahr eine Leiche öffentlich zergliedert werde, da ohne anatomische Zergliederung die

* CoERADi a. a. 0. p. 642.

" R. Colombo a. a. 0. lib. XV, p. 262.

* F. Platbbus: De corp. hum. structura et usu, Basil. 1583, in der Wid- mung nach dem Titelblatt.

* H. Tollin im Biolog. Cenü-albl. V, 347.

Der medidnisohe ühterricht. 275

Kenntniss des menschlichen Körpers und seiner Krankheiten unmöglich sei.^ Die gleiche Vorschrift findet sich in den Statuten, welche der Herzog Ulrich für Tübingen erliess.

In Prag lag nicht blos das anatomische Studium darnieder, sondern die ganze Universität war herabgekommen. Der Priester Jacob an der Teynkirche nannte sie i. J. 1517 ein „verrostetes Kleinod".^ Medicin wurde im 15. und 16. Jahrhundert kaum mehr gelehrt. Anatomische Demonstrationen wurden erst durch Johann Jesensky (Jessenius) ein- geführt, welcher dort am Sehluss des 16. Jahrhunderts eine Professur der Medicin übernahm. ^

Nicht viel besser war es in Wien während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Erst nachdem Aichholtz das Lehramt der Anatomie angetreten hatte, fanden wenigstens in jedem Winter einmal öffentliche Zergliederungen statt. Doch hörte dies später wieder auf; denn 1567 baten die Studierenden der Medicin, dass wieder einmal eine Sektion vorgenommen werde, da dies seit mehreren Jahren nicht geschehen sei. Ihr Gesuch wurde aber abgewiesen; sie wiederholten es daher im folgenden Jahre, aber mit dem gleichen Erfolge; erst 1571 wurde ihr Wunsch erfüllt.*

In Basel hat Vesal um 1542 die erste Zergliederung einer mensch- lichen Leiche veranstaltet. Das Skelett derselben wird neben demjenigen, welches von Felix Platteb präparirt worden ist, noch jetzt im ana- tomischen Museum der dortigen Universität aufbewahrt.^ Der letztere unternahm in Gegenwart der Ärzte und Wundärzte und anderer Zu- schauer in den Jahren 1559, 1563 und 1571 öffentliche Sektionen. Regelmässige anatomische Demonstrationen wurden jedoch erst ein- geführt, nachdem C. Bauhin zum Professor der Anatomie und Botanik ernannt worden war. In Edinburg erhielt die Chirurgen-Zunft i. J. 1505 die Erlaubniss, einmal im Jahre die Leiche eines Gerichteten zu zergliedern.

Die Statuten der medicinischen Facultät zu Montpellier v. J. 1534 enthalten genaue Angaben, wie sich die Studierenden bei den Sektionen zu verhalten und wieviel sie dafür zu bezahlen hatten. Im J. 1598 wurde dort ein anatomisches Theater errichtet und ein Prosector mit 100 Thalern Gehalt angestellt.«

^ Za&ncke: Statutenbücher der Universität Leipzig, 1861, S. 39.

* W. Tohek: Geschichte der Prager Universität, 1849.

^ J. Htbtl: Geschichte der Anatomie in Prag, Frag 1841, p. 11.

* Rosas a. a. 0. n, 85. 89. 104.

'^ His im Correspond.-Blatt der Schweizer Arzte, 1879, S. 121 u. ff. ® DüBOüCHET in der Gaz. hebd. d. scienc. m^d. de Montpellier, 1887, No. 11 u. 17. AsTBüc a. a. 0. p. 66 u. ff.

18*

276 Der medicinisohe Unterricht in der Neuzeit.

In Paris wurde das Amt desselben schon 1576 geschaffen; es wurde mit einem Chirurgen besetzt, welcher die praktischen Ver- richtungen ausführte, während ein Baocalaureus der Medicin, der sich durch seine anatomischen Kenntnisse auszeichnete, die theoretischen Erklärungen aus der Literatur zusammenstellen und vortragen musste. Der letztere führte den Titel Archidiaconus. Der Prosector hatte eine sehr abhängige Stellung. Er stand unter der Aufsicht des Professors der Anatomie, welcher, wie es in den Statuten von 1598 heisst, darauf achten sollte, dass sich der Prosector nicht herumtreibe, sondern fleissig mit anatomischen Zergliederungen und Demonstrationen beschäftige (non sinat dissector&m divagari, sed continecU in officio disaecandi et demonstrandi). Es wurde femer bestimmt, dass jährlich mindestens zwei öffentliche Sektionen veranstaltet würden. Gleichzeitig wurden die Be- hörden angewiesen, keine Leiche ohne Wissen des Dekans der me- dicinischen Facultät zu anatomischen Zwecken herzugeben und bei der Lieferung derselben zunächst die Professoren und Doktoren der Medicin zu berücksichtigen, und sie nur, wenn die letzteren darauf verzichteten, den Chirurgen zu überlassen.^

Die mit den anatomischen Demonstrationen verbundenen Kosten wurden überall von den Zuschauem, also von den Studenten, getragen,* während die theoretischen Vorlesungen der Professoren seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts unentgeltlich abgehalten wurden.

Bei weitem später als die anatomischen Zergliedemngen wurde der praktische Unterricht in der Heilmittellehre und der Behandlung der Krankheiten in den Bereich der Universitäten gezogen.

Die Arzneistoffe und ihre Zusammensetzung lernten die Studierenden in den Apotheken kennen. In Paris wurde 1536 gesetzlich angeordnet, „dass die Baccalaureen der Medicin die Ärzte bei der Visitation der Apotheken begleiten sollten, damit sie sich über die Droguen unter- richten könnten".^ Apotheken gab es damals bereits fast in allen Städten. Sie waren mit Destillations- Apparaten, chemisch-pharma- ceutischen Feuerheerden und Öfen, pharmaceutischen Waaren und ver- schiedenen chirargischen Utensilien, welche dort zum Verkauf vorräthig gehalten wurden, ausgestattet.^

^ D. Putlon: Statats de la faculte de medecine en Tuniversite de Paris 1672, Art. 56 u. Nachtr. Art. 5. A. Pinet: Lois, decrets, reglements et circu- laires conc les facultas et las ecoles pr^paratoires de medecine, Paris 18S0, I, Art. 56, Nachtr. Art. 8.

' Vergl. Cervetto a. a. 0. p. 139.

Philippe a. a. 0. S. 153.

* H. Peters: Aus pbarmaceutischer Vorzeit, Berlin 1886, S. 25 u. ff., 111 u. ff.

Der medidnisohe Unterricht, 277

Durch ein Edikt Ludwig XII. v. J. 1514 wurden die Apotheker von Paris von der Gemeinschaft mit den Gewürzkrämern, mit denen sie bis dahin zu einer Zunft vereinigt waren, befreit. Wer sich dem Beruf des Apothekers widmete, musste, wie es in den von Franz I. er- lassenen Statuten heisst, eine gute Schulbildung erhalten und soviel Latein gelernt haben, dass er die in lateinischer Sprache geschriebenen Lehrbücher der Pharmacie und die Pharmakopoen verstehen konnte, und hierauf eine vierjährige Lehrzeit in einer Apotheke durchmachen. In Paris wurde die Einrichtung getroffen, dass sie während der Dauer eines Jahres in jeder Woche zwei Vorlesungen über die Apothekerkunst horten, welche ein dazu geeignetes angesehenes Mitglied der medicinischen Facultät hielt. Die Prüfung fand vor einer aus Ärzten und Apothekern bestehenden Commission statt und bestand aus einem theoretischen und einem praktischen Theile; in dem letzteren musste der Candidat zeigen, dass er in der Eenntniss der Arzneipflanzen erfahren war, und durch die Herstellung von fünf Compositionen sein Meisterstück liefern.^

Auch der Unterricht am Krankenbett lag ausserhalb des Lehr- plans der Universität. Die Studierenden der Medicin wandten sich zu diesem Zweck an ihren Lehrer oder einen anderen beschäftigten Arzt, der ihnen in seiner Privatpraxis oder einem Hospital, an welchem er thätig war, die Gelegenheit bieten konnte. Kranke zu beobachten und ihre Behandlung zu lernen.

An einigen Hochschulen wurden die Professoren durch gesetzliche Bestimmungen aufgefordert, ihren Schülern die dazu erforderliche An- leitung zu geben. In Wien, Heidelberg, Würzburg, Ingolstadt u. a. 0. erhielten sie den Auftrag, die Studierenden zuweilen an das Bett ihrer Patienten zu führen, vorausgesetzt dass die letzteren dadurch nicht be- lästigt würden. In Basel war der Stadtarzt, welcher zugleich das Lehr- amt der praktischen Heilkunde bekleidete und das städtische Hospital leitete, verpflichtet, den Studierenden der Medicin den Zutritt zu dem- selben zu gestatten und die Patienten, welche in diesem Krankenhause behandelt wurden, vorzustellen. * In Paris durften die Baecalaureen der Medicin unter der Aufsicht der Mitglieder der Facultät und in ihrer Vertretung die ärztliche Praxis ausüben.*

Aber die systematische Anleitung zur Behandlung der Kranken

^ Philippe a. a. 0. S. 165 u. ff.

* 0. Becker: Zur Geschichte der medicin. Facultät in Heidelberg, 1876. A. V. Köllikeb: Zur Geschichte der medicin. Facultät in Würzburg, 1871. F. Miescheb: Die medicin. Facultät in Basel, 1860, S. 32 u. ff. W. Yischeb: Gesch. d. Univ. Basel, Basel 1860.

* PiNBT a. a. 0. u. PüYTON a. a. 0. Art. 59.

278 Der medidnische UrUerricht in der Neuzeit

fehlte; diesen Mangel konnten gelegentliche Beobachtungen und zu- sammenhanglose Erfahrungen nicht ersetzen. Nicht blos die Ärzte, wie z. B. der schwedische Leibarzt W. Lemnius,^ sondern auch verständige Laien sahen dies ein. Der Philosoph P. Eamus forderte i. J. 1562 in einem Briefe an Carl IX. von Frankreich, in welchem er verschiedene Eeformen des Unterrichtswesens vorschlug, die Einrichtung klinischer Lehranstalten.*

Dieser Gedanke war damals bereits verwirklicht worden und zwar in Padua. Giambattista da Monte (Montanus), welcher gleichzeitig mit Vesal dort lehrte, soll die klinische Unterrichtsmethode schon 1543 angewendet haben. ^ Aber nach seinem Tode (1551) hörte diese Ein- richtung auf und wurde erst 1578 wieder erneuert.

Um diese Zeit begannen die Professoren Albeetino Bottoni und Maeco Oddo, von denen der eine die Abtheilung für Männer, der andere diejenige für Frauen im Hospital des hl. Franciscus leitete, auf Verlangen der deutschen Studenten dort Klinik zu halten; auch wurden die Leichen der Patienten, welche im Krankenhause starben, wenn es die Jahreszeit gestattete, geöffnet, um den Studierenden den Sitz und die Ursachen der Krankheiten zu zeigen (sed aum in fine Octobris codi Gonstitutio frigidior esset, professores cadavera aperiunt et loca affeeta auditorihus demonstrant). Leider wurden die Sektionen schon nach kurzer Zeit verboten, weil Ungehörigkeiten vorgekommen und Leichentheile aus der Anstalt verschleppt worden waren.*

Als Bottoni und Oddo starben, liess der Eifer unter den Lehrern und Schülern nach, und der Unterricht beschrankte sich zuletzt haupt- sächlich auf die Untersuchung des Pulses und des Urins.

Die Versuche, den Unterricht in der Heilkunde praktisch zu ge- stalten, traten jedoch im Lehrplan der medicinischen Facultäten weit zurück gegenüber den theoretischen Vorlesungen, welche die mass- gebende Stellung behaupteten. Nach den Statuten der Würzburger medicinischen Facultät v. J. 1587 gab es dort drei Lehrkanzeln der Heilkunde. Der Inhaber der ersten, der Professor der Theorie sollte

* P. Frank a. a. 0. VI, 2, S. 189.

* Ch. Jourdain: Histoire de l'uni versitz de Paris au 17 et au 18 si^ele, Paris 1862—66, T. I, p. 3.

^ G. Cebvetto: Di Giambattista da Monte e della medicina italiana nel secolo XVI, Verona 1839, S. 51.

^ A. CoMFARETTi: Saggio della scuola clinica nello spedale di Padova 1793, p. 6 u. ff. C. Netjbeet in d. Beiträgen zur prakt. Heilkunde, her. v. Clabus u. Radius, Leipzig 1836, II, 148 u. ff. Dagegen bringt P. A. 0. Mahon (Hi- stoire de la m^decine clinique, Paris 1804) nichts über den klinischen Unterricht.

Der medidnische Unterricht, 279

im ersten Jahre primam primi libri Ävicennae et libros Oateni de mor- hormn differentiis, eausis et symptorriai'üms , im zweiten Oaleni artem medidnulem cfwm Hippocratis prognostids, im dritten de pidsüyus et urinis nach AcTüAEius, ferner de victits ratione in morbis aeutis nach Hippo- KBATES, Oaleni de alinientorum facuUatibus und Ävicennae tertiam prvmi vortragen, der Professor der Praxis im ersten Jahre über allgemeine Therapie lesen und dabei auch den Aderlass und die Purgationen, sowie das Wesen der Fieber nach Avicenna erörtern, im zweiten und dritten specielle Pathologie und Therapie der einzelnen Krankheiten vortragen, und der Professor der Chirurgie im ersten Jahre de timioribm nach Galen, im zweiten über Geschwüre und Wunden nach Galen, Hippo- KBATES und den Arabern, und im dritten über Frakturen und Lujcationen nach Galen und Hippokbates sprechen. Daneben musste er im Sommer Arzneimittellehre vortragen und die officinellen Pflanzen vorzeigen, und im Winter Anatomie und Physiologie lehren. Genauer wurde das Lektionsverzeichniss von den Professoren in den Hundstagsferien fest- gestellt, damit es mit demjenigen der übrigen Facultäten in den Katalog aufgenommen und veröffentlicht werden konnte.^

In einem amtlichen Bericht, welcher 1569 über die Lehrthätigkeit der Professoren der Medicin in Heidelberg erstattet wurde, heisst es: 1. Professor Cueio liest de generibios morborum ex Galeno, erklärt Hippo- cratis de morborum signis und hat 3 4 Zuhörer. 2. Professor Ebastus hält keine Vorlesungen, weil er sich auf der Messe in Frankfurt a. M. befindet. 3. Professor Siegmund Melanchthon trägt über die Heil- kunst nach Galen vor und hat etwa 5 Schüler. ^

Dieser Bericht wirft auch ein Licht auf die Frequenz der me- dicinischen Facultäten jener Zeit. Dieselbe war im Vergleich zu heut sehr gering. In Leipzig gab es selten mehr als 4 6 Mediciner. Die Hochschule zu Basel zählte 1556 2 Professoren und 2 Studenten der Medicin.^ In Erfurt wurden in dem Zeitraum von 1392 1520 neben 120 Doktoren der Theologie und 40 der Jurisprudenz nur 5 Doktoren der Medicin creirt.

Viele Deutsche bezogen Universitäten des Auslandes, namentlich Paris, Bologna, Padua und Montpellier. In Padua gab es i. J. 1564 ungefähr 200 Deutsche, welche die Rechtswissenschaft studierten. * Die Mediciner suchten vorzugsweise Montpellier und Padua auf, wie aus

* A. V. KöLLiKEB a. a. 0. S. 58. F. v. Weoele: Geschichte der Univer- sität Würzburg, 1885, II, 191—199.

* J. F. Hautz a. a. 0. ^ Platter a. a. 0. S. 169.

* Meiners: Geschichte der Entstehung u. Entwickelung der hohen Schulen, Göttingen 1802.

280 Der medicinische Unlernckt in der Neuzeit.

zahlreichen Lebensbeschreibungen hervorragender Arzte des 16. Jahr- hunderts hervorgeht.^ Ein Göttinger Arzt hinterliess in seinem Testa- ment 1 420 ein Legat von 600 FL, aus dessen Zinsen ein armer Student der Medicin durch 4 Jahre in Montpellier erhalten werden sollte.^ Auch Felix Platter begab sich von Basel dorthin, um die me- dicinischen Studien zu absolviren.

Der ärztliche Stand und seine Stellung zu den Bewegungen des 16. Jahrhunderts.

Die ärztlichen Prüfungen geschahen nach den gleichen Vorschriften, wie früher. Doch sanken die akademischen Grade durch die Leicht- fertigkeit, mit der sie an manchen Hochschulen verliehen wurden, sehr im Werth. Schon 1503 klagte man darüber, dass „Pferdehändler, Vieh- händler und andere gemeine Leute, die von Aeistoteles nicht das Geringste wissen und nicht einmal die ersten Elemente der Grammatik kennen", die Magister-Würde in der philosophischen Facultät zu Paris erlangten. ^

An einigen französischen Universitäten wurde sogar der medicinische Doktor-Grad für Geld verkauft König Franz J. fühlte sich dadurch veranlasst, nur die medicinischen Diplome von Paris und Montpellier anzuerkennen. *

In Padua entstand die seltsame Sitte, dass die Examinanden Bei- stände zur Prüfung mitbringen durften, welche ihnen die Antworten auf die Fragen, die gestellt wurden, zuflüsterten. Noch bequemer wurde es den Prüflingen gemacht, wenn man ihnen, wie Augüstin Leysee in Helmstädt berichtet, die Fragen nebst den Antworten vorher schrift- lich übergab.*^ Dazu kam, dass die Doktor- Würde nicht blos von den Universitäten, sondern auch vom Pabst und vom Kaiser verliehen wurde.

* Melchiob Adam: Vitae Germanorum medicorum, Heidelberg 1620. A. Budinszky: Die Universität Paris und die Fremden an derselben im Mittel- alter, Beriin 1876, S. 115 u. ff.

' ScHraDT.: Göttinger Urkundenbuch II, 20.

' BüLAEUs: Hist. Universität. Paris 1673, T. VI, p. 11.

* H. ToLUN in ViBCHOw's Archiv 1880, Bd. 80, S. 66 u. im BioL Centralblatt Bd. V, S. 341.

' C. Meinebs: Über die Verfassung und Verwaltung deutscher Universi- täten, Göttingen 1801, I, 328 u. ff. u. C. Meiners: Geschichte der Entstehung u. Entwickelung der hohen Schulen, I, 188.

Der ärxtlicks Stand u, seine Stellung om den Bewegungen des, 16. Jahrh. 281

Im 14. Jahrhundert erhielten sogar die Pfalzgrafen das Recht, Doktoren zu ernennen, ebenso wie sie bekanntlich auch befugt waren, uneheliche Kinder zu legitimiren.

Für solche Verhältnisse mochte manchmal die drastische Schilderung passen, welche Petbaeoa von der Doktor-Promotion hinterlassen hat. „Da erscheint der junge Mann, bläht sich auf und murmelt einiges unverstandenes Zeug, während ihn das Volk anstaunt und seine Freunde ihn mit Beifall begrüssen. Dabei werden die Glocken geläutet, Trompeten geblasen, Ringe und Küsse gewechselt und ihm das runde Barett des Meisters auf das Haupt gesetzt. Hierauf kommt derjenige, welcher als Dummkopf den Katheder bestiegen hatte, als weiser Mann herab. Dies ist eine Verwandlung, von welcher Ovid nichts wusste".^

Viele Studierende verzichteten wegen der Kostspieligkeit und der geringen Achtung der Doktor-Würde gänzlich darauf, dieselbe zu er- werben. Daraus erklärt es sich vielleicht, dass man die Diplome ver- schiedener hervorragender Ärzte, wie Jag. Sylvius, Vesal, M. Seevet, J. Thibaült u. A. nicht aufzufinden vermochte.

Die Chirurgen waren von der Erlangung des medicinischen Doktor- Grades überhaupt ausgeschlossen. Nur in Italien, wo die Trennung der Chirurgie von der übrigen Heilkunde niemals so vollständig war, wie in den übrigen Ländern, machte man eine Ausnahme.

Auch in Frankreich empfingen die Chirurgen eine wissenschaftliche Ausbildung. Das Collie de St. C6me erhielt 1545 das Recht, akademische Grade zu verleihen. Die Zöglinge desselben mussten 4 Jahre studieren und nicht blos Vorlesungen über Chirurgie, sondern auch über Anatomie, Arzneimittellehre u. a. m. hören. Leider dauerten die Eifersüchteleien und Streitigkeiten zwischen der chirurgischen Facultät, wie man das College de St. Cöme nennen kann, und der medicinischen zum Schaden der gemeinsamen Wissenschaft auch in dieser Zeitperiode fort.

Die Ärzte waren bemüht, den Chirurgen in den sogenannten Barbier-Chirurgen ebenbürtige Gegner zu schaffen, indem sie Sorge trugen, dass die letzteren eine grössere Summe von allgemeinen und fachwissenschaftlichen Kenntnissen erwarben. Wenn dies zu manchen Unzuträglichkeiten zwischen den beiden Klassen von Wundärzten führte, so hatte es doch das Gute, dass dadurch hochbegabten Mitgliedern des niederen Chirurgen-Standes die Möglichkeit geboten wurde, sich zu Chirurgen, zu Operateuren in unserem Sinne zu entwickeln. Das Bei- spiel eines Ambroise PAEfi zeigt, wieviel die Chirurgie und damit die Medicin überhaupt, diesem Umstände zu verdanken hat.

* Petbaboa: De vera sapienta, Dial. I. (Op. ed. Basil. 1554, p. 365.)

282 Der medidnische ünterrichi in der Neuzeit

Freilich verfolgte die medicinische Facultät bei ihrem Vorgehen nicht diesen löblichen Zweck, sondern sie wollte das Ansehen der Chirurgie darnieder drucken und die Vertreter derselben zu ihren er- gebenen Dienern machen, welche ihre geistige Überlegenheit bereitwillig anerkannten. Dieser Standpunkt kennzeichnet sich deutlich in den Worten M. Sebvins, welcher 1607 schrieb, „qice la s&ience n'est pour ceux qui n^ont que la main, qu'ils doivent laisser ä jvger atix medecins^ Als einer der Professoren, Robeet lb Sbcq, in der Prüfung der Chirurgen i. J. 1606 auch die Physiologie berührte und auf die Thätigkeit der Muskeln, den Mechanismus der Respiration u. ä. m. einging, protestirte die medicinische Facultät dagegen, weil dies wissenschaftliche Streit- fragen seien. 2

In Deutschland und anderen Ländern erhob sich die Chirurgie selten über das Handwerk. Nur an einzelnen Universitäten wurde die- selbe gelehrt. In Wien wurde 1537 ein Professor der Chirurgie an- gestellt, welcher eine jährliche Besoldung von 52 fl. erhielt.^

Die deutschen Wundärzte gingen fast ohne Ausnahme aus dem Stande der Barbierer und Bader hervor. Sie erlernten bei einem Meister die Behandlung der Wunden und Geschwüre, der Frakturen und Luxa- tionen und bildeten sich dann in Spitälern und im Militärdienst weiter aus. Einzelne, wie Heeeonymus BfiUNSCHWYa, Hanns von Gersdoef, Felix Wüetz u. A. erwarben sich eine bedeutende operative Geschick- lichkeit

Der Mangel an studierten Ärzten, welcher in Deutschland herrschte, und die vielen Kriege und Seuchen, welche dieses Land im 16. Jahr- hundert zu ertragen hatte, Hessen die Chirurgen als eine Nothwendig- keit erscheinen; dazu kam, dass ihnen mit der Behandlung der äusseren Leiden auch diejenige der Geschlechtskrankheiten zufiel. Da sie die Ärzte an praktischer Gewandtheit und Erfahrung häufig übertrafen, dem Volk in socialer Beziehung näher standen und billigere Forde- rungen für ihre Dienste stellten, so erfreuten sie sich einer grossen Beliebtheit. Viele wurden als Leibärzte an fürstlichen Höfen, im Com- munaldienst oder in hervorragenden ärztlichen Stellungen beim Heere beschäftigt.

Die Ärzte nahmen an den geistigen Bewegungen des 16. Jahr- hunderts lebhaften Antheil. Wie immer, so schlössen sie sich auch damals in ihrer grossen Mehrheit der freiheitlichen Richtung an.

Es war leicht begreiflich, dass der zum Radikalismus neigende

* D. Püylon: Statuts de la facult^ de inMecine, Paris 1672. ' Hazon a. a, 0. ^ Rosas a. a. 0. II, 51.

Der ärztliche Stand u, seine Stellung zu den Bewegungen des 16. Jahrh. 283

Paeacelsus allen Strömungen, welche sich gegen die bestehenden Auto- ritäten richteten, mit Begeisterung folgte und ihr Anwachsen zur ver- heerenden Fluth ersehnte. Aber auch die besonnenen, ruhig urtheilenden Männer führte ihre tTberzeugung in das Lager der Reformation, nament- lich als sie sahen, dass sich dieselbe innerhalb der Grenzen der natür- lichen Entwickelung vollzog.

Die Heerführer des Protestantismus widmeten der Medicin ein reges Interesse. MAHTHir Luther liess seinen Sohn Paul die Heilkunde studieren; derselbe wirkte später als Leibarzt in Gotha, Berlin und Dresden und trat auch als medicinischer Schriftsteller auf. Melanch- thon's Schwiegersohn, Caspar Peucer, war Professor der Medicin in Wittenberg, sein Neffe Siegmund in Heidelberg. Adam von Boden- stein, der Sohn des Theologen Karlstadt, übte in Basel die ärztliche Praxis aus. Crato von Crapftheim vertauschte auf Martin Luther's Kath das Studium der Theologie, welches er unter dessen Leitung be- gonnen hatte, mit demjenigen der Heilkunde; er hat darin grosse Er- folge errungen und als Leibarzt in Wien bei drei Kaisern hervorragende Dienste geleistet Er war der Mittelpunkt des Protestantismus in Breslau und später der eifrigste Vertreter desselben am Wiener Hofe. ^ Auch sein College Diomedes Cornarus (Hagenbutt), Leibarzt des Kaisers Maximilian IL, gehörte wahrscheinlich diesem Glauben an.

In Wien erklärten sich i. J. 1584 drei Ärzte vor ihrem Tode für confessionslos, und ein vierter verbat sich das Glockengeläut bei seinem Begräbniss und verlangte, dass sein Leichnam in ungeweihter Erde bestattet werde. Der Doktor der Medicin Caspar Pirchpach liess, als er 1568 das Rectorat der Wiener Universität bekleidete, die For- derung der Statuten, dass sich die Lehrer derselben zum römisch-katho- lischen Glauben bekennen sollen, beseitigen und das Wort catholicae durch christianae (fidei) ersetzen. Gleichzeitig wurde bestimmt, dass Angehörige der Augsburgischen Confession zur Doktor-Promotion zu- gelassen wurden. 2 Sogar in Ingolstadt, dem Mittelpunkt der kirchlichen Reaktion, huldigten mehrere Professoren der medicinischen Facultät einer freieren religiösen Meinung; sie wurden deshalb durch den Je- suitismua, der bald darauf dort zur Herrschaft gelangte, aus ihren Stel- lungen gedrängt.^

Als das 16. Jahrhundert zu Ende ging, hatten die geistigen Be- wegungen, mit denen es begonnen hatte, fast überall den Sieg errungen.

^ J. F. A. Gillet: Crato von CraiFtheim u. seine Freunde, Frankfurt a/M. 1860, n, 14.

* Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts, S. 272.

* Prantl a. a. 0. I, 319.

284 Der medidmsche Uhterrioht in der Neuzeit.

Soweit sie einen revolutionären Charakter trugen, waren sie allerdings gescheitert; aber sie erreichten ihr Ziel, wenn sie sich innerhalb ver- nunftgemässer Kefonnen bewegten. Ihr grösster Erfolg bestand jedoch darin, dass selbst ihre Gegner genöthigt wurden, ihre Berechtigung anzuerkennen, die bisherigen Wege verliessen und neue Bahnen ein- schlugen.

Wohl nirgends hatte die Pflugschar der geistigen Arbeit tiefere Furchen gezogen, als auf dem Boden der Naturwissenschaften und der Medicin. Doch muss ihre Bedeutung nicht so sehr in Dem, was er- reicht wurde, gesucht werden, als in Dem, was die Zukunft der wissen- schaftlichen Forschung versprach.

Erleuchtete Geister, wie Francis Bacon von Vebulam, begannen zu erkennen, welche massgebende EoUe den Naturwissenschaften in der Cultur-Entwickelung der Menschheit beschieden war. Dieser hervor- ragende englische Staatsmann und Philosoph, welcher gleichsam das Facit aus den geistigen Errungenschaften des 16. Jahrhunderts zog, erklärte, dass der induktive Empirismus allein die Lösung der Fragen zu bieten vermag, welche die wissenschaftliche Forschung anstrebt

War er auch selbst nicht im Stande, die Wissenschaft durch neue Entdeckungen zu bereichem, so hat er ihr doch die Wege gewiesen, welche zu ihnen führen. Er hat allerdings den richtigen Zusammen- hang mancher Erscheinungen geahnt, deren klare Erkenntniss den späteren Jahrhunderten vorbehalten war. So sprach er bereits die Vermuthung aus, dass die Luft der Pflanze zur Nahrung dient, dass die Farbe 6ine Modifikation des Lichts, die Wärme eine Form der Be- wegung sei, und dass es dereinst gelingen werde, die Mineralquellen künstlich nachzubilden.^ Er wies auf den Werth der Vivisektionen, auf die Bedeutung der pathologischen Anatomie, der Statistik der Heilungs-Resultate u. a. m. hin. Aber seine verdienstvollsten Leistungen liegen auf dem Gebiet der Erkenntnisstheorie; er hat die Methode der Forschung so klar und ausführlich entwickelt, wie es vor ihm noch niemals geschehen war.

Bacon war weder jener seichte hohle Schwätzer ohne jede Origi- nalität der Gedanken, wie ihn Einige dargestellt haben, noch jener schöpferische Genius, aus dessen Haupt die Wissenschaft in vollendeter Schönheit entsprang, wie ihn Andere geschildert haben. Er glich dem Zeiger am Zifferblatt der Uhr, welcher uns sagt, wie weit die Zeit vorgeschritten war.

* H. V. Bahbebqer: Über Bacon von Verulam, Würzburg 1865, S. 15. 21 u. ff.

Die eacperimentelh Eichtimg der Naturmssenseh. etc. webend d. 17. Jahrh. 285

Die experimentelle Richtung der Naturwissenschaften, der Physik und Chemie während des 17. Jahrhunderts.

Die Erwartungen, welche der Aufschwung der Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert erregt hatte, wurden im folgenden Jahrhundert im reichsten Maasse erfüllt Hatte man sich vorher darauf beschränkt, die Thatsachen in der Natur zu beobachten und die Existenz der Dinge festzustellen, so begann man jetzt, nach deren Ursachen zu forschen und ihre gegenseitigen Beziehungen zu ergrunden. Man wollte die Vorgänge im organischen Leben in ihrer Entwickelung kennen lernen und stellte zu diesem Zweck Versuche an, bei denen das Vorgehen der Natur auf künstliche Weise nachgeahmt wurde.

Das Experiment trat in den Vordergrund und gab der Denkweise des 17. Jahrhunderts eine charakteristische Färbung. Kein Gebiet des geistigen Schaffens wurde dadurch mehr berührt, als die Naturwissen- schaften und die Medicin. Sie verdankten dieser Richtung die An- regung zu neuen Forschungen und gewannen dabei diejenige Sicherheit ihrer Lehren, welche zum Wesen der Wissenschaft gehört.

Die Physik, Chemie und Physiologie, also diejenigen Disciplinen, welche hauptsächlich auf das Experiment angewiesen sind, wurden in dieser Zeit durch eine Menge Entdeckungen bereichert. Für sie begann eine neue Periode ihrer Geschichte.

Auch die Mineralogie, Botanik, Zoologie und Anatomie machten bedeutende Fortschritte. Die Krystallographie wurde durch die Beobach- tungen Nie. Steno's und Gultblmini's über die Streifung und Zu- sammensetzung der Krystalle und die Unveränderlichkeit der Winkel gefördert Rob. Botlb bemerkte die Krystallisation des Wismuths aus dem Schmelzfluss, und der dänische Arzt Erasmus Barthomnus fand am isländischen Kalkspath die doppelte Strahlenbrechung (1670), welche dann von Huygens genauer untersucht wurde und für seine Undu- lations-Theorie des Lichts von Bedeutung war.^

Gleichzeitig erfuhr die Botanik wichtige Veränderungen. Während die specielle Pflanzenkenntniss durch zahlreiche Arbeiten über die Flora einzelner Gegenden und Länder vermehrt wurde, trugen die verschie- denen Versuche, die Pflanzen nach der Ähnlichkeit ihrer Organe in Familien und Gruppen zu sondern, dazu bei, dass ihr Bau genauer studiert wurde. Aber erst die Begründung der Phytotomie durch Malpighi und Gbew und ihre vortrefflichen Untersuchungen der fei-

^ F. V. Kobell: Geschichte der Mineralogie, München 1864, S. 8 u, ff.

286 Der medicinische UrUerricht in der Neuzeit.

neren Struktur der Pflanzen, besonders ihre Arbeiten über die Blüthen, Früchte und Samen, sowie der experimentelle Beweis der Sexualität im Pflanzenreiche durch R. J. Camebabiüs ermöglichten die Aufstellung eines Systems, welches den Forderungen der Wissenschaft entsprach.

Linn£, welcher diese Aufgabe löste, gab der Botanik durch die mit der Durchführung der binären Nomenclatur verbundene methodische Charakteristik der Gattungen und Arten eine bestimmte abgeschlossene Form, neben welcher die Entdeckung eines natürlichen Systems als wünschenswerthes Postulat der Zukunft vorbehalten blieb. ^

Der Zoologie wurde mit der Verwendung der Loupe und des Mikroskops zu wissenschaftlichen Untersuchungen eine neue Welt von Lebewesen erschlossen, von deren Dasein man bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Leeuwenhoek entdeckte die Infusionsthierchen, beschrieb einzelne Räderthiere, beobachtete die facettirten Augen der Insekten und studierte die Entstehung und Entwickelung verschiedener niederer Thierarten. Malpighi gab über die Struktur und Zusammensetzung der Organe des thierischen Körpers merkwürdige Aufschlüsse und sprach bereits den Gedanken aus, dass der complicirte Bau der höher entwickelten Organismen dem einfacheren der niederen Wesen analog ist und durch ihn verständlich wird. Er kam sogar der Entdeckung der thierischen Zelle schon ziemlich nahe, während Rob, Hooke auf den zelligen Bau der Pflanzen aufmerksam machte.

Die zootomischen Arbeiten Swammebdams, von deren Genauigkeit seine Untersuchungen mehrerer Mollusken, der Urogenital-Organe des Frosches, der Anatomie der Biene u. a. m. Zeugniss geben, und die Beobachtungen F. Redi's über die Urzeugung, durch welche er den Nachweis lieferte, dass sich im faulenden Fleische keine Maden ent- wickeln, wenn man die Fliegen davon abhält, übten natürlich auf die wissenschaftlichen Anschauungen einen klärenden Einfluss aus. Auf Grund dieser Ergebnisse durften dann John Ray, J. Th. Klein, LiNNfi u. A. den Versuch machen, durch eine systematische Klassifikation der Thiere das Studium derselben zu erleichtern und eine übersichtliche Darstellung der zoologischen Wissenschaft zu liefern.^

Die bedeutendsten Umgestaltungen erlebten in jener Zeit aber die Physik und die Chemie. Als die letztere durch Pabaoblsus und seine Anhänger von der Alchymie abgelenkt und auf die Arzneimittellehre hingewiesen wurde, da nahm sie einen Aufschwung, welcher für die

^ J. Sachs: Geschichte der Botanik, München 1875, S. 84 u. ff., 246 u. ff., 417 u. ff.

^ y. Cabus: Geschichte der Zoologie, München 1872, S. 386 u. ff.

Die experirnentüle lUchtung der Naturwissensch, eh. während d. 17, Jahrh. 287

Medicin wie fiir die Chemie gleich segensreich war. Es warde eine grosse Anzahl neuer Arzneien entdeckt und die Technik ihrer Bereitung in mannigfacher Weise gefördert.

Vielleicht nicht weniger bedeutend war die Wirkung, welche die chemischen Anschauungen und Kenntnisse auf die Physiologie und Pathologie ausübten. Ein Theil der Ärzte sah in allem organischen Geschehen Gährungs- und Zersetzungsprozesse und wollte die meisten Äusserungen des gesunden und kranken Körpers durch chemische Vor- gänge erklären. Diese chemiatrische Eichtung ging manchmal zu weit, indem sie sich an Aufgaben wagte, deren Lösung bei der geringen Entwickelung, welche die Chemie zu jener Zeit erlangt hatte, unmög- lich war; aber sie hatte das grosse Verdienst, dass sie die Ärzte an den Gedanken gewöhnte, von der Spekulation wenig, von der Unter- suchung der Thatsachen viel, wenn nicht Alles zu erwarten.

Die Chemie verdankte dieser Erkenn tniss viele Entdeckungen und eine bedeutende Vermehrung ihres Inhalts. Der Arzt Libaviüs erfand die Bereitung der Schwefelsäure aus Schwefel und Salpeter und er- kannte, dass sie identisch war mit derjenigen, welche sich aus Vitriol oder Alaun bildet. Er stellte zuerst das Doppelt-Chlorzinn durch Destillation des Quecksilbersublimats mit Zinn dar und kannte die Färbung der Glasflüsse durch Zusatz von Gold. Türquet de Mayebne lehrte die Sublimation der Benzoö-Blumen.

Auch J. B. VAN Helmont bereicherte die Chemie mit einer Menge neuer Thatsachen. Er sprach den Satz aus, dass nur diejenigen Metalle aus einer Lösung ausgeschieden werden, welche schon vorher darin ent- halten waren, und gab damit der Goldmacherkunst den Todesstoss. Er entdeckte die Kohlensäure und führte den BegriflF der Gase für Luffc- arten, welche nicht mit der atmosphärischen Luft übereinstimmen, in die Chemie ein. Von der experimentellen Methode seiner Forschung liefert der Versuch, welchen er anstellte, um den Antheil des Bodens, des Wassers und der Luft an der Ernährung der Pflanze zu studieren, einen deutlichen Beweis.

In den Schriften Glaubees, welcher über das schwefelsaure Natron und mehrere andere Salze genauere Aufschlüsse gab, findet sich sogar schon ein ahnungsvolles Verständniss der chemischen Verwandtschaft.^ Eine tiefere Begründung erhielt dieselbe durch Eobert Boyle, welcher in seiner Corpuscular-Theorie die Auflösung chemischer Verbindungen in ihre Bestandtheile und deren Vereinigung mit denjenigen anderer

^ Kopp a. a. 0. I, 111. 114. 120 u. flF. 130.

288 Der medidnische Utiterricht in der Neuzeit

chemischer Verbindungen durch die Anziehung und Abstossung, welche sie aufeinander ausüben, zu erklären suchte.

Mit BoYLE begann die Zeit, da man die Chemie um ihrer selbst willen studierte und nicht mehr als blosses Hilfsmittel betrachtete, um den Stein der Weisen zu finden, wie die Alchymisten, oder um neue Medicamente darzustellen, wie die Chemiatriker. Er entdeckte die Phosphorsäure, das Kupferchlorür, die flüchtige Schwefelleber und war der Erste, welcher das entgegengesetzte Verhalten der Säuren und Alkalien gegenüber gewissen Pfianzenfarben beobachtete. Von ihm rührt der Gebrauch her, Papierstreifen mit Pflanzenfarben zu tränken und als Eeagentien zu benutzen. Boyle erwarb sich grosse Verdienste um die Begründung der analytischen Chemie, sowie um die Verwendung der Chemie zu technischen Zwecken.^

An dem weiteren Aufbau der wissenschaftlichen Chemie nahmen EüNKEii, Becheb, W. Hombebg, Lemeby, Stahl, F. Hoffmann, welcher sich vorzugsweise mit der chemischen Untersuchung der Mineralquellen beschäftigte und z. B. in dem Seidlitzer Mineralwasser das Bittersalz auffand, Marggeaf, der Begründer der Eunkelrübenzucker-Fabrikation, DU Hamel, der auf die Verschiedenheit des Natrons und Kali auf- merksam machte, die Darstellung der Soda lehrte und ihr Vorkommen in der Asche von Pflanzen, die an der Meeresküste wachsen, nachwies, H. Cavbndish, dessen Untersuchungen über das WasserstoflFgas, welches er leider für das gesuchte, nicht existirende Phlogiston hielt, über die Wirkungen, das specifische Gewicht und die Absorbir barkeit der Kohlen- säure durch Wasser, öl und Alkohol hier Erwähnung verdienen, Bebg- mann, welcher die Lehre von der chemischen Verwandtschaft bearbeitete. Scheele, der sich um die organische Chemie Verdienste erwarb und ausser verschiedenen Fflanzensäuren die Milchsäure und die Harnsäure entdeckte, aber auch die anorganische Chemie durch die Auffindung mehrerer neuer Elemente, wie das Chlor und Mangan, förderte, u. A. einen hervorragenden Antheil. Viele unter ihnen waren zugleich Ärzte und widmeten daher den Beziehungen der Chemie zur Medicin ihre besondere Aufmerksamkeit.

Leider wurde der Fortschritt der Chemie beeinträchtigt durch vor- gefasste irrige Meinungen, welche sich zu Dogmen von allgemeiner Geltung entwickelt hatten. So nahm man an, dass der Verbrennungs- prozess von dem Vorhandensein eines Stoffes, den man Phlogiston nannte, abhängig sei, und dass die grössere oder geringere Verbrenn- lichkeit eines Körpers darauf beruhe, in welcher Menge er diesen

* Kopp a. a. 0. I, 165 u. flPl

Die eayperimentelle Richtung der Naturwissensch, etc, während d, 17, Jahrh, 289

hypothetischen Brennstoff enthalte. Die phlogistisehe Theorie, nach deren Analogie man den Säuren einen sauem Stoff, die sogenannte Ursäure, und den kaustischen Alkalien einen kaustischen Stoff zu Grunde legte, heherrschte die Geister nahezu ein Jahrhundert und wurde erst durch Lavoisiek beseitigt.

Ein glücklicherer Stern waltete über der Physik,^ indem die Forscher hier nicht durch haltlose unbegründete Hypothesen in ihrem TJrtheile beeinflusst und auf Irrwege geleitet wurden, sondern ihre ganze geistige Kraft dazu gebrauchten, Bausteine herbeizutragen, welche zu der Errichtung eines Lehrgebäudes der wissenschaftlichen Physik ver- wendet werden konnten.

Galilei, dessen Leistungen in der Astronomie und dessen Martyrium für seine Überzeugung bekannter sind als seine Verdienste um die Physik, entdeckte die Fall- und Pendelgesetze. Er erkannte die Be- deutung des Satzes vom Parallelogramm der Kräfte und versuchte mit Hilfe desselben die Bahn geworfener Körper zu bestimmen. Gleich- zeitig mit Stevinus bearbeitete er auch die Hydrostatik und Hydro- dynamik. „Wenn ein Einzelner auf die Ehre des Begründers einer so vielfach verzweigten Wissenschaft, wie die Physik ist, Anspruch machen kann, schreibt Poggendobff (a. a. 0. S. 268), so ist sie unbedenklich keinem Andern als Galilei zu ertheilen; denn er hat den Grund zu der wissenschaftlichen Mechanik gelegt, die alle übrigen Theile der Physik mehr oder weniger als Nerv durchzieht".

Schon 1597 verfertigte Galilei einen Thermometer, mit dessen Herstellung sich auch Eon. Fludd, Sanctoeius und Corn. Dbebbel beschäftigt haben.

Galilei's hochbegabter Schüler Toebicelli stellte die Gesetze des Ausfliessens von Flüssigkeiten aus Röhren fest, erfand (1643) den Baro- meter und erklärte die Veränderungen des Luftdruckes für die Ursachen des Steigens und Fallens der Quecksilbersäule. Pascal lieferte dafür unwiderlegbare Beweise und zeigte, dass man mit Hilfe des Barometers die Höhenunterschiede zweier Orte feststellen kann. Mabiotte, J. Pecquet und SiNCLAiB führten diesen Gedanken weiter aus und brachten ihn seiner Verwirklichung näher. Pascal construirte einen Wein-Barometer, während Bebti und 0. v. Guebicke statt des Quecksilbers Wasser in die Röhre einschlössen.

Der Bürgermeister von Magdeburg und ehemalige Ingenieur der Festung Erfurt, Otto von Guebicke, ersann die Luftpumpe und setzte die auf dem Reichstage zu Regensburg i. J. 1654 versammelten Fürsten

* J. C. PoGGENDORPF, Gcschichte der Physik, Leipzig 1879, S. 204 u. ff. PuscHMANN, Unterricht. 19

290 Der medicinische Untenriclit in der Neuzeit

durch die Versuche, welche er damit anstellte, in kein geringes Er- staunen. Er machte gute Beobachtungen über das Gewicht der Luft und verfertigte den ersten Manometer, um den Grad der Dichtigkeit und des Druckes der Luft zu messen. Auch wies er nach, dass im luftleeren Eaume kein Ton zu Stande kommt und keine Verbrennung stattfindet.

Seine Beobachtungen wurden durch Boyle vervollständigt, welcher die Elasticität der Luft genauer studierte und das irriger Weise nach Mariotte genannte Gesetz entdeckte, dass die Volumina derselben Luft- masse im umgekehrten Verhältnisse zu dem auf ihnen lastenden Drucke stehen.

Um die gleiche Zeit versuchte man die Geschwindigkeit des Schalles zu bestimmen. Gassendi gab an, dass derselbe in einer Sekunde einen Weg von 1473 Fuss zurücklege. Mersenne kam der Wahrheit schon etwas näher, indem er diese Zahl auf 1380 Fuss ermässigte. Waren auch die Eesultate, zu denen sie gelangten, unrichtig, so schlugen sie doch die richtige Methode der Untersuchung ein, und dies war schon ein ausserordentlicher Fortschritt. Selbst ein Newton vermochte nicht alle Fehlerquellen zu vermeiden; er berechnete die Geschwindigkeit des Schalles auf 906 Pariser Fuss in der Sekunde, weil er, wie Laplace gezeigt hat, den Einfluss der Wärme nicht genügend berücksichtigte.

Die bedeutendsten Fortschritte geschahen in der Optik. Sie wurden begünstigt und zum Theil überhaupt erst ermöglicht durch verschiedene Instrumente, deren Erfindung in jene Zeit fiel. Das Femrohr befähigte das Auge zum Sehen in die Ferne, das Mikroskop eröflftiete ihm die Einsicht in die Welt des Kleinen. Durch diese beiden optischen Hilfs- mittel wurde das menschliche Sehvermögen in ungeahnter Weise ver- stärkt und der Forschung Gebiete erschlossen, welche jenseits der natür- lichen Grenzen des menschlichen Erkennens lagen.

Die Heimath dieser Erfindungen war Holland. Wem ihre Priorität gebührt, ist zweifelhaft; doch scheint es, dass die Brüder Janssen, welche im Beginn des 17. Jahrhunderts als Glasschleifer in Middelburg lebten, wenigstens in Bezug auf das zusammengesetzte Mikroskop die meisten Ansprüche darauf haben. Es ist hier nicht meine Aufgabe, auf die Geschichte dieser Entdeckung näher einzugehen, und auch über- flüssig, da sie von Harting eine ziemlich erschöpfende Darstellung erfahren hat. ^ Welche ausserordentliche Bedeutung das Mikroskop für die Naturwissenschaften erlangt hat, lässt sich mit Worten nicht ge- nügend schildern.

* P. Haetino: Das Mikroskop, ins Deutsche übers, v. Theile, III. Theil, Braunschweig 1866.

Die experimentelle Richtung der Naturvmsensch, etc. während d. 1 7. Jahrh, 291

Die Instrumente wurden allmälig in mannigfacher Weise ver- bessert und vervollkommnet. Die Erfindung der Spiegel-Teleskope durch James Gregoby, diejenige des Mikrometers oder Fadenkreuzes durch KoB. HooKE, die erste Construktion achromatischer Linsen aus einer Combination von Krön- und Flintglas durch Mobe Hall u. a. m. schlössen sich später daran an.

Man wagte sich jetzt sogar an die schwierigen Probleme des Lichts und der Farben. Der grosse Denker Descabtes (Cabtesiüs), dem die Mathematik die Einführung der negativen Wurzeln der Gleichungen und die Begründung der analytischen Geometrie verdankt, versuchte eine Erklärung des Kegenbogens und entwickelte dabei das Gesetz des Einfalls- und Keflexwinkels. Snell stellte das Verhältniss der Medien zu der Brechung der Lichtstrahlen fest, und Gbimaldi entdeckte die Diflfraction oder Inflexion des Lichts, sowie die Dispersion oder Farben- zerstreuung.

Schon der Letztere, noch mehr aber Hooke, als er seiue Be- obachtungen über die Farben dünner Blättchen veröffentlichte, hatte eine Ahnung von der wellenförmigen Bewegung des Lichts, welche HuYGENs, gestützt auf das Phänomen der doppelten Strahlenbrechung, in seiner Undulations- Theorie zu einer wissenschaftlichen Thatsache erhob. Freilich dauerte es länger als ein Jahrhundert, bis sie allgemein anerkannt wurde; denn Newton hatte behauptet, dass das Licht aus konkreten Theilchen bestehe, die mit grosser Schnelligkeit vom leuchten- den Körper ausgesandt werden, und seine Autorität war so mächtig, dass ihr gegenüber alle Versuche, der Wahrheit zum Siege zu verhelfen, vergeblich waren. Erst 1815 gelang es den Bemühungen eines Fbesnel und Abago, der Undulations-Theorie überall Eingang zu verschaflFen.

Aus dem Ende des 17. Jahrhunderts stammen auch die ersten Mittheilungen über die Erscheinungen der Polarisation, welche Newton zwar beobachtete, aber selbstverständlich nicht zu erklären vermochte. Dagegen kam er bei seinen Versuchen über die Dispersion des Sonnen- lichts, welche er in der Weise anstellte, wie es schon Gbimaldi und vor diesem der Prager Arzt Mabcus Mabci von Kronland gethan hatten, zu dem wichtigen Ergebniss, dass das weisse Licht aus unzählig vielen Farbenstrahlen von verschiedener Brechbarkeit zusammengesetzt wird und jedem Grade von Brechbarkeit eine bestimmte Farbe entspricht. Newtons Ansicht über die Entstehung und das Wesen der Farben war nicht richtig; es scheint, dass hier Leonh. Euleb zuerst (1746) den richtigen Zusammenhang geahnt hat.

Dem 17. Jahrhundert gehören femer eine Anzahl physikalischer Entdeckungen an, welche die Cultur nach verschiedenen Richtungen

19*

292 Der medwinische Unterricht in der Neuzeit.

mächtig gefordert haben. Hooke vervollkommnete die Taschenuhren durch die Spiralfeder, und Huygens erfand die Pendel-Uhren.

Der Marquis von Worcestee, der Kapitän Saveey, Moreland, Papin u. A. studierten die Dampfkraft genauer und ersannen Maschinen zu ihrer praktischen yerwerthung. Dieselben litten Anfangs an manchen ünvoUkommenheiten. So musste das offnen und Schliessen der Hähne am Einspritzrohr und Dampfrohr von Menschenhand besorgt werden. Da bemerkte eines Tages ein kluger Bursche, dem dieses Geschäft an- vertraut war, dass das Drehen der Hähne mit der Bewegung des Balanciers zusammenhing. Er verband sie daher mit Bindfäden und sah, dass die Maschine fortan von selbst ging. Der Bindfaden wurde später natürlich durch andere praktische Vorrichtungen ersetzt Papin machte sogar schon den Vorschlag, die Dampfkraft zur Bewegung von Schiffen zu benutzen.

Auch die ersten Beobachtungen der elektrischen Erscheinungen reichen in jene Periode zunick. ^ Der Engländer Gilbert, welcher den tellurischen Magnetismus entdeckte, fand, dass die Elektricität durch Reiben entsteht, aber nicht in allen Körpern erzeugt werden kann und vom Magnetismus verschieden ist. *0. v. Guericke beobachtete mit Hilfe eines von ihm construirten Apparates, der eine Vorstufe zur Elektrisirmaschine bildete, ausser der schon bekannten elektrischen An- ziehung auch die Abstossung, von der man bis dahin nichts wusste, sowie das Leuchten und Knistern beim Elektrisiren. Den eigentlichen elektrischen Funken beschrieb dann der englische Forscher Wall i. J. 1698, welcher dieses Licht und das beim Elektrisiren entstehende Knistern bereits mit dem Blitz und Donner verglich. Stephan Gray stellte (1729) den Unterschied zwischen Leitern und Nichtleitern der Elektricität durch Experimente fest, zeigte, dass die Elektricität von einem Körper dem andern mitgetheilt wird, und dass dazu nicht immer die direkte Berührung erforderlich ist, sondern schon die Annäherung genügt; er wies ferner nach, dass es bei der Elektrisirung der Körper nicht auf deren Masse, sondern nur auf ihre Oberfläche ankommt, und war der Erste, welcher das Wasser und den Menschen elektrisirte und sich dabei bereits des Isolirschemmels bediente.

Bald darauf machte Dufay die wichtige Entdeckung, dass es zwei verschiedene Arten der Elektricität giebt, von denen die eine am Glase, die andere am Harz haftet. Daran schlössen sich die Verbesserungen der Apparate zur Erzeugung von Elektricität durch Böse, J. H. Winkler u. A., welche zur Construktion der Elektrisirmaschine führten, ferner

^ E. Hoppe: Geschichte der Elektricität, Leipzig 1884.

Die eaperimentelle Richtung der Naturuüissensch. etc. während d. 17, Jahrh, 293

die Erfindung der Verstärlningsflasche, die ziemlich gleichzeitig von MusscHENBEOEK in Lejdcn und dem Baron Kleist in Pommern ge- macht wurde, sowie die Entdeckung der atmosphärischen Elektricität durch Le Monioer, die Erfindung des Blitzableiters durch Benjamin Franklin und die Herstellung des ersten Elektrometers durch John Canton.

Endlich müssen hier noch einige Fortschritte in der Physik er- wähnt werden, welche der gleichen Zeit angehören. Der Thermometer wurde auf Anregung des Mediceers Ferdinand IL verbessert. Man erfand auch schon den Differential-Thermometer. Amontons, der das Hygroskop ersann und den Einfluss der Wärme auf den Barometer studierte, ver- fertigte den ersten wirklichen Luffc-Thermometer. Durch die Graduirung und Anbringung einer Skala am Thermometer, wodurch sich nament- lich der Danziger Fahrenheit Verdienste erwarb, wurde seine prak- tische Verwendbarkeit sehr erhöht.

In Florenz machte man die ersten Beobachtungen über die spe- cifische Wärme, die man Wärme-Kapacität nannte.

Alf. Borelli gab Aufschlüsse über die schon von Lionardo da Vinci gekannten Erscheinungen der Capillarität.

Aber alle diese Thatsachen traten an Bedeutung zurück vor J. New- ton's Entdeckung der allgemeinen Gravitation,^ durch welche die unendlich complicirten Bewegungen der Himmelskörper nach den allgemein gül- tigen Gesetzen der Mathematik und Physik erklärt und der Beweis ge- liefert wurde, dass die letzteren im ganzen Weltall Geltung haben. Dieser Gedanke übte den grössten Einfluss auf die Emancipation des menschlichen Geistes von den mystisch-transcendenten Gewalten aus und gab ihm eine Macht, die in das Gebiet des Überirdischen zu reichen schien.

Wenn sich Newton sonst kein Verdienst um die Physik erworben hätte, so würde die Gravitationstheorie genügen, seinen Namen in der Geschichte dieser Wissenschaft unter den Ersten zu nennen. Er war einer der grössten Mathematiker und Physiker, die jemals gelebt haben. Will man die für die Physik an Ergebnissen und Entdeckungen so un- gemein fruchtbare Geistesrichtung jener Zeit mit einem Worte be- zeichnen, so darf man nur an Newton erinnern, der ihr hervorragendster Vertreter war.

Welcher mächtige Umschwung in der Denkweise hatte sich voll- zogen in dem Zeiträume von Galilei bis Newton! Die Naturwissen-

* W. Whewell: Geschichte der inductiven Wissenschaften, Stuttgart 1840, II, 158 u. ff.

294 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit,

schatten, welche noch im 16. Jahrhundert von den herrschenden Auto- ritäten unterdrückt und bevormundet, von der öffentlichen Meinung mit Gleichgültigkeit oder Missachtung behandelt und nur von Wenigen ge- pflegt und thatkräftig gefordert wurden, standen jetzt im Brennpunkte der geistigen Interessen und durften ohne Scheu die höchsten Probleme des menschlichen Daseins in den Bereich ihrer Untersuchungen ziehen.

Mit jugendlichem Feuereifer ging die Naturforschung an ihre Auf- gaben, und die raschen, alle Erwartungen übersteigenden Erfolge, die sie errang, schienen zu der Hoffnung zu berechtigen, dass ihr keine Schranke gesetzt sei. Als sich dieselbe nicht erfüllte und der mensch- lichen Erkenntniss unüberwindliche Hindemisse entgegentraten, da er- lahmte der Fleiss, und die Arbeit begann zu stocken. Man wandte sich wiederum anderen Bestrebungen zu, welche mehr Erfolg versprachen, als die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften.

Auf den siegreichen Aufschwung, welchen die Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert erlebten, folgte ihr Niedergang oder Still- stand im 18. Jahrhundert, welches keine wesentliche Vermehrung des Wissensinhalts brachte, aber unter dem Einfluss einer encyklopädischen Kichtung der Geister zu einer Sammlung und Sichtung der gewonnenen Ergebnisse führte, die für ihre weitere Entwickelung nützlich und noth- wendig war.

Die mikroskopische Forschung in der Anatomie und das Experiment in der Physiologie.

Das 16. Jahrhundert sah die glänzenden Triumphe der Anatomen, welche den Bau des menschlichen Körpers erforschten; dem 17. Jahr- hundert drückte das physiologische Experiment, welches eine auf That- sachen begründete Wissenschaft schuf, die Signatur auf.

Die Anatomie wurde, soweit es durch Untersuchungen mit dem unbewaffneten Auge möglich war, in ihren wesentlichen Grundzügen schon im 16. Jahrhundert festgestellt. Die folgenden Zeiten hatten die Aufgabe, die errungenen Wissens-Resultate zu prüfen, zu berich- tigen und durch Detailforschungen zu vervollständigen und weiter aus- zuarbeiten.

Diese Untersuchungen gewannen durch die Loupe und das Mikro- skop eine Tiefe und Gründlichkeit, welche man früher nicht erreichen konnte. Die Anatomen widmeten daher ihre Aufmerksamkeit haupt- sächlich der feineren Struktur der Organe, welche mittelst der neu

Die mikroskop. Forsehg. in d. Anatomie u. d, Eacperiment in d. Physiologie. 295

entdeckten optischen Instrumente in erfolgreicher Weise untersucht wurde. Die besten Mikroskope besass Leeüwenhoek, welcher sie selbst zusammensetzte. Sie ermöglichten eine 160 270fache Vergrösserung, während die Instrumente, welche andere Forscher benutzten, höchstens eine 143 fache Vergrösserung zuliessen.

Leeüwenhoek schilderte den röhrigen Bau der Knochen und be- merkte bereits die Knochen -Körperchen, welche später von Pubkinje wieder entdeckt und genauer beschrieben wurden. ^ Er wies femer auf die Schmelzsubstanz der Zähne hin, deren übrige Struktur von Malpighi aufgeklärt wurde. Clopton Havebs entdeckte die noch jetzt seinen Namen fuhrenden Knochenkanäle ;^ du Hamel studierte die Bildung des Knochengewebes und erkannte, dass sich dasselbe unter Betheiligung des Periosts aus Knorpel entwickelt, wobei die Gefasse nach seiner An- gabe das erforderliche Bildungsmaterial zuführen; J. Th. Klinkosch in Prag lehrte dann die Entstehung des Knochens aus Bindegewebe, während Halleb an der Entwickelung desselben aus Knorpel festhielt und die Umwandlung von den Gefässen, welche die von ihm entdeckten Primordial-Knochenkerne umspinnen, ausgehen liess.

Daneben wurde auch die makroskopische Kenntniss der Osteologie bereichert. Nath. Highmobe entdeckte die Höhle des Oberkiefers, Olaus Worm beschrieb die nach ihm genannten, schon von Eustachio gekannten Nahtknochen, Th. Kebckring verfolgte die Entwickelung des Skeletts am Fötus, und Fbiedb. Rutsch machte auf die Ver- schiedenheiten des männlichen und weiblichen Skeletts, namentlich auf die Unterschiede in der Form des Beckens und des Brustkorbes bei beiden Geschlechtern aufmerksam. Die Bänderlehre erfiihr durch Josias Weitbbecht eine sorgfaltige Bearbeitung.^

Die Struktur der äusseren Haut wurde von Malpighi, an den das Bete mucosum noch heut erinnert, und Leeüwenhoek untersucht, welcher die glatten Schuppen der Epidermis, sowie die durch die Bil- dung von Schwielen und Narben erzeugten Veränderungen der Haut und die Ablagerung des Pigments bei farbigen Menschenrassen beob- achtete. tTber die Struktur und die Funktion der Nasenschleimhaut gab C. V. ScHNEiDEE einige Aufschlüsse.*

Mit der Zusammensetzung der Muskelsubstanz beschäftigten sich A. BoBELLi, R. HooKE uud vor Allen Nioolaus Steno, welcher auf

* P. J. Haaxmank in der Nederl. Tijdschr. v. Geneesk 1871, II, 1—86.

* Cl. Havers: Observationes de ossibus, Amstelod. 1731, p. 63.

* Jos. Weitbrecht: Syndesmologie, Deutsche Ausgabe, Strassburg 1779.

* K. F. H. Marx in den Abbandlungen d. kgl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, Bd. 19, 1873.

296 Der medioinische ünterrieht in der Neux&iL

die Gleichartigkeit ihres Baues bei Menschen und Thieren hinwies und zeigte, dass Gefässe und Nerven in die Muskeln eintreten, und dass die letzteren aus Fibrillenbündeln besteben und von einer Haut umgeben sind, welche auch zwischen die einzelnen Fibrillenbündel eindringt. Leeuwenhoek bemerkte die Querstreifung der Muskelbündel und lehrte, dass das Wachsthum der Muskeln nicht durch die Vermehrung, sondern durch die Vergrösserung der Primitivbündel erfolgt. Er erklärte, dass die Muskelsubstanz aus kleinen Kugeln zusammengesetzt sei. R Hooke hielt dieselben für Prismen.

Das Studium der Gefässlehre wurde durch das neu entdeckte In- jektions-Verfahren, um dessen Vervollkommnung sich Swammerdam und Kutsch die meisten Verdienste erwarben, ausserordentlich erleichtert.^ Zur Einspritzung in die Gefasse verwendeten sie gefärbte, leicht gerinn- bare harzige Flüssigkeiten. Euysch, von dem man sagte, dass er die Hände einer Fee und die Augen eines Luchses besitze, konnte dadurch das Vorhandensein und die Vertheilung der Blutgefässe an Körper- stellen nachweisen, die man früher für gefässlos gehalten hatte. Er beschrieb auch die Bronchialgefässe und die Kranzgefässe des Herzens; Kerckring fand an der Pfortader des Pferdes die Vasa vasorum, und Leeuwenhoek erläuterte die Struktur der Gefässhäute.

Der Bau des Herzens wurde von Steno, Lowe» und Vieussens aufgeklärt. Daran schlössen sich später die Arbeiten von Winslow und Senac an. Die Lungen wurden von MAiiPiOHi sorgfältig untersucht; derselbe wies nach, dass sie aus kleinen Bläschen bestehen, deren Wände mit Gefassen reich versehen sind.^ Eine musterhafte Darstellung der anatomischen Verhältnisse der Leber gab Glisson,^ während Malpiohi, welcher auch zuerst den acinösen Bau der Drüsen erkannte,* der Milz seine Aufmerksamkeit widmete.

Die Ausbreitung des Bauchfells schilderte James Douglas, dessen Name sich noch durch andere Beobachtungen in der Geschichte der Anatomie erhalten hat. Die Schweizer Ärzte Peyer und Brunnee ent- deckten die Drüsen des Darmkanals. G. Wirsung fand den Ducttis pancreaticus, Steno den Ausführungsgang der Parotis, Wharton den- jenigen dei Unterkieferdrüse und Quirinus Rivinus denjenigen der Glandula svhlingyMis,

Den Bau der Nieren untersuchten Malpighi, Bellini und Bertin,

^ BUBGGRAEYE a. a. 0. p. 294 u. ff.

^ De pulmonibus epist. duae in Malpighi: Op. omnia, London 1686, III, 133 u. ff.

' F. Glisson: Anatomia hepatis, Amstelod. 1659.

^ M. Malpighi: De structura glandularum conglob., London 1697.

Die mikroskop. Forsehg, in d. Anatomie u. d, Experiment in d. Physiologie, 297

während die Kenntniss der Sexualorgane durch W. Cowper, der die nach ihm genannten, schon früher bekannten Drüsen beschrieb, durch Beiniee de Graae, welcher die Follikel des Eierstocks schilderte, durch D. Santorini, der die aorpora lutea einer näheren Untersuchung unter- zog, und besonders durch William Hunter gefordert wurde, welcher die besten Beobachtungen über die Anatomie des Hodens anstellte und die erste richtige Darstellung der Veränderungen, welche der Uterus durch die Schwangerschaft erfahrt, veröffentlichte.

Auf einem niedrigen Standpunkte befand sich die Neurologie. Steno gestand offenherzig, dass er von dem Bau des Gehirns nichts verstehe, und meinte, dass es den übrigen Anatomen ebenso ergehe. Er verlangte, dass man die Nervenfasern durch die Gehimsubstanz ver- folge, war sich indessen der Schwierigkeiten dieser Üntersuchungs- methode wohl bewusst, und zweifelte, ob man jemals ohne besondere Apparate damit zum Ziele kommen werde. ^

Willis, der Entdecker Aq^ Nervus occßssonw«, Sylvius und Humphrt KiDLEY lieferten gute Beschreibungen des Gehirns; J. J. Wepfer schil- derte die Verbreitung der Blutgefässe desselben; Veeussens bemerkte die Pyramiden und Oliven der Medulla oblongata und fand, dass die harte Hirnhaut Nervenfäden vom Trigeminus erhält ;2 Lancisi machte auf die Faserung des Corpus oallosum aufmerksam und untersuchte den Bau der Zirbeldrüse; Malpighi gab über die Vertheilung der grauen und weissen Substanz des Gehirns Aufschlüsse und beobachtete den Übergang der Faserzüge des Rückenmarks in das Gehirn.^

In Betreff der feineren Struktur der Gehirnmasse gelangte man zn keiner klaren Anschauung. Man huldigte im Allgemeinen der Hypothese, dass die graue Substanz des Gehirns aus Blutgefässen und kleinen Follikeln bestehe, von denen weisse Nervenfasern ausgehen.

Die peripherischen Nerven wurden genauer beschrieben und mehrere Ganglien entdeckt, wie z. B. das Ganglion Gasseri am Nenms trige-

minus. *

Mit grösserem Erfolge wurde die Anatomie der Sinnesorgane be- arbeitet. EuYSCH entdeckte die nach ihm genannte Membran der Chorioidea des Auges; Leetjwenhoek schilderte die Zusammensetzung der Linse aus Fasern, die sich zu Blättern vereinigen; Meibom be-

^ W. Plenkebs in den Maria *Laacher Stimmen 1884, VII, H. 25. 26. Th. Puschvann in der Wiener Neuen freien Presse 1886, 26. November.

* R. ViEussENs: Neurographia universalis, Lugd. 1685, p. 82. 170.

* M. Malpighi: De cerebro in Op. omnia a. a. 0. III, 1 u. ff.

^ A. B. B. Hirsch: Paris quinti nervorum encephali disquisitio anatomica, Vienn. 1765, p. 20.

298 Der medicinische Unterrickt in der Neuzeit.

schrieb (1666) die in der Substanz des Augenlidknorpels eingelagerten Drüsen^ und Steno die Thränen-Organe; Poubfoue du Petit fand den zwischen den beiden Blättern der Membrana hycUaidea des Glas- körpers um den Rand der Linsenkapsel verlaufenden Kanal; Zinn machte auf die Zonula dliai-is aufmerksam; Demoubs beobachtete die seinen Namen führende Haut an der hinteren Fläche der Cornea.

Mit der Anatomie des Gehörorgans beschäftigten sich Düvebney, Vieussens, Valsalva, Cassebohm, Cotügno u. A., während der Bau der Stimmwerkzeuge, besonders des Kehlkopfes, durch die Untersuchungen von Deelincoubt, Santobini und WiiisBEBa aufgeklärt wurde.

Die grössten Erfolge feierte die physiologische Forschung. Das Zeitalter des Experiments, wie man das 17. Jahrhundert nennen kann, führte eine vollständige Umwälzung der bisherigen Anschauungen herbei und machte die Physiologie zu einer Wissenschaft

Die Entdeckung des Blutkreislaufs bildete den Grundstein, auf dem das Lehrgebäude derselben errichtet wurde. Schon Sebvbt und Eealdo Colombo lehrten, dass das Blut aus dem rechten Herzen durch die Lungen- Arterie und die Lungen- Venen in das linke Herz gelange; aber erst Will. Habvey lieferte den Beweis dafür, indem er auf diesem Wege Wasser von der Ä. pulmonalis in das linke Herz trieb.

Es lag nahe, dieses Schema auch auf die übrigen Gefässe des Körpers zu übertragen. Dieser Annahme stand jedoch die damals herrschende Lehre entgegen, dass die Arterien hauptsächlich Luft, und nur wenig Blut enthalten, und dass das Blut ebensowohl in den Venen, wie in den Arterien in centrifugaler Richtung fliesse.

Habvey beseitigte diese Irrthümer.^ Er öfPnete Arterien unter Wasser und sah, dass keine Luftblasen aufsteigen; er schnitt Arterien auf und beobachtete, welche Menge von Blut sie enthalten. Er be- schäftigte sich femer mit dem Mechanismus der kurz vorher entdeckten Venenklappen und machte den Versuch, von den Stämmen aus Luft in die mit Klappen versehenen Venen einzublasen. Dabei fand er, dass die Klappen so gestellt sind, dass sie den Blutstrom in der Richtung von den Stämmen zur Peripherie hemmen und erschweren, in der um- gekehrten, also centripetalen Richtung dagegen erleichtem und fordern.

War diese Thatsache richtig, so tauchte die Frage auf, woher das in den feinen Verästelungen der Venen vorhandene Blut stamme. Da sich nicht denken liess, dass das Arterienblut in den Organen voll- ständig verbraucht wird, so ergab sich von selbst die Erklärung, dass

^ H. Meibom: De vasis palpebrarum novis, Lugd. Batav. 1723, p. 135 u. ff. * W. Harvet: Works ed. by R. Willis, London 1847.

Die mikroskop. Forsehg, in d, Anatomie u, d. Experiment in d, Physiologie. 299

es, wie es beim Lungenkreislauf nachgewiesen worden war, in die Venen übertritt. Die Art, wie sich dieser Übergang vollzieht, wurde erst von Malpighi aufgeklärt, welcher die Capillaren entdeckte und zuerst mit dem Mikroskop den Übertritt des Blutes aus den Venen in die Arterien beobachtete.

Haevey hielt an der irrigen Ansicht fest, dass die Leber die Be- reitungsstatte des Blutes bilde. Den richtigen Sachverhalt erkannte man erst, als Gaspabe Aselli die Chylus-Gefässe, Jean Pecquet den I>uct7is thoracicus und 0. Rudbeck und Th. Baetholinus das Lymph- gefässsystem auffanden und auf deren Bedeutung für die Bereitung des Blutes hinwiesen.

An die Entdeckung des Blutkreislaufs schlössen sich eine Reihe von Untersuchungen über das Gefasssystem, das Blut, seine Zusammen- setzung, Bereitung, Bewegung u. a. m. an. A. Boeelli führte zuerst den Gedanken aus, dass das Gefasssystem einem hydraulischen Werke gleiche, und versuchte die Kraft zu berechnen, mit welcher das Blut durch die Gefösse fliesst. Er kam dabei freilich zu falschen Resultaten, da die dabei in Betracht kommenden Verhältnisse noch nicht genügend bekannt waren. So schätzte er z, B. den Widerstand, den die sich immer mehr verengernden Arterien leisten, ausserordentlich hoch.^ WiUiiAM CoLE machte deshalb darauf aufmerksam, dass die Summe der Querschnitte der Gefasse mit ihrer Entfernung vom Herzen zunimmt und das Gefasssystem sich als ein Kegel darstellt, dessen Grundfläche in der Peripherie des Körpers und dessen Spitze sich am Herzen befindet. ^

Bellini zeigte, dass das Blut um so langsamer fliesst, je mehr sich die Gefasse in Zweige vertheilen. Stephan Hales suchte die Stärke des Blutdruckes und die Geschwindigkeit der Blutbewegung durch eine Reihe von Experimenten festzustellen und führte zu diesem Zweck eine Glasröhre in die durchschnittene Arterie eines lebenden Thieres ein, um zu beobachten, wie hoch das Blut getrieben wird. ^ Molyneux und Leeüwenhoek beobachteten unter dem Mikroskop die Geschwin- digkeit der Blutbewegung.*

Der irländische Arzt Allen Moulin machte den ersten Versuch, die Menge des im Körper enthaltenen Blutes zu bestimmen. Er öfl&iete die Herzen lebender Thiere und berechnete aus der Blutmenge, die sie

^ Alp. Bobelli: De motu animalium, Lugd. Bat. 1685, I, p. 94 u. ff.

* Will. Cole: De secretione animali, Genev. 1696, c. 7, p. 26.

^ St. Hales: Haemostatique ou la statique des animaux, Französ. Übers, mit Bemerkungen von de Sau vage, Geneve 1744.

* Philos. Transactions, London 1685, No. 177, p. 1286.

300 DefT medidnisohe Unterricht in der Neuzeit.

fassten, und der Geschwindigkeit der Blutbewegung die Quantität des im Körper enthaltenen Blutes. Bei dieser ziemlich unvollkommenen Methode gelangte er zu dem Ergebniss, dass das Gewicht der Blut- menge ungefähr den zwanzigsten Theil des Körpergewichts ausmache. ^

Auf die Zusammensetzung des Blutes warf die Entdeckung der Blutkörperchen, welche Malpighi zuerst bemerkte, ein aufklärendes Licht. Sie wurden von Swammebdam als eiförmige Gebilde, von Malpighi als korallenartige Schnüre, und von Leeuwenhoek, der ihre Gestalt an verschiedenen Thierklassen studierte, als flach-ovale Kugel- chen beschrieben. Hewson glaubte, dass sie ein kleines Bläschen ent- halten, und sprach die Ansicht aus, dass sie hauptsächlich in der Milz entstehen. Vieussens und Cherac dachten sogar schon an die che- mische Untersuchung des Blutes. A. Badia und Menghini lieferten den Nachweis, dass das Blut Eisen enthält; F. Quesnat, der um die National-Ökonomie hochverdiente Begründer des physiokratischen Systems, lehrte, dass das Blut folgende Bestandtheile enthält: 1) Wasser, 2) Ei- weissartige Stoffe, welche in der Hitze gerinnen und, wenn sie faulen, eine alkalische Schärfe entwickeln, 3) Fette, welche in der Kälte starr werden, in der Wärme zerfliessen und eine ranzige Schärfe erzeugen, 4) Gelatinöse Stoffe und 5) Gallige, seifenartige Substanzen.* Hewson setzte die Untersuchungen über das physikalische und chemische Ver- halten des Blutes fort und beschäftigte sich eingehend mit der Gerin- nung desselben, deren Ursachen er durch verschiedene Experimente zu erforschen bemüht war.^

Man hatte beim Aderlass oft zu beobachten Gelegenheit gehabt, dass das Blut sich röther färbt, wenn es mit der Luft in Berührung kommt. Ebenso war schon den Alten die Thatsache bekannt, dass das arterielle Blut heller ist, als das venöse. Die latrophysiker, wie Malpighi, Pit- CAiBN u. A. erklärten diese Erscheinung dadurch, dass das Blut durch die eingeathmete Luft eine feine Zertheilung erfahre, während die Che- miatriker einen chemischen Einfluss der Luft annahmen. Ihre Versuche, den Bestandtheil derselben, der diese Wirkung äussert, zu ergründen, führten natürlich nicht zum Ziele. R. Bathurst und N. Henshaw sprachen die Ansicht aus, dass es derselbe Stoff sei, welcher auch in der Salpetersäure eine wichtige Rolle spiele.

Die Art, in welcher die Luft auf das Blut wirkt, wurde von Dom.

* Philosophical Transactions, London 1687, Decemb., No. 191, p. 433 u. ff.

* F. Quesnay: Essai physique sur Feconomie animale, Paris 1747, II, 342 u. ff., HI, 31 u. ff. Haeser a. a. 0. II, 592.

^ Will. Hewson: Vom Blut, Deutsche Übers., Nürnberg 1780. E. Brücke: Vorlesungen über Physiologie, Wien 1885, I, 81 u. ff.

Die mikroskop. Forsckg, in d, Anatomie u, d. Experiment in d. Physiologie, 301

MiSTiCHELLi genauer untersucht, indem er durch Einblasen von Luft in die Lungen sterbender Thiere nicht blos den Farbenwechsel des Blutes hervorzurufen, sondern auch die Bewegungen des Herzens gleich- sam neu zu beleben vermochte.^ Um die gleiche Zeit stellten Peyer und Haedee Experimente mit den Herzen abgestorbener Thiere und gehenkter Menschen an, welche sie durch Einblasen von Luft wieder in Bewegung setzten. ^

Santorio, welcher sich durch die Erfindung verschiedener physi- kalischer Instrumente bekannt machte, ^ wollte das Verhältniss zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Körpers bestimmen, unternahm zu diesem Zweck durch 30 Jahre genaue Wägungen der Nahrung, die er zu sich nahm, und der Excremente, welche ausgeschieden wurden, ver- glich die Ergebnisse mit dem Körpergewicht und fand dabei, dass ein Theil der aufgenommenen Nahrung auf unsichtbare Weise in der Form von Gasen (Perspiratio imensibüis) den Körper verlässt.^ Denys Dodaet wiederholte diese Versuche und bemerkte dabei, dass bei zunehmendem Alter die sichtbaren Produkte der Ausscheidung vermehrt werden.

Die Prozesse der Verdauung, Ernährung und Absonderung wurden von den latrophysikern und den Chemiatrikem in verschiedenartiger Weise beurtheilt. Während die Einen der Ansicht huldigten, dass der Magen eine zerkleinernde, zerreibende Wirkung auf die Nahrung ausübe, glaubten die Anderen, dass dieselbe durch die chemischen Kräfte des Speichels, des Magensaftes, des pankreatischen Saftes und der Galle zersetzt und in einen Brei verwandelt werde. Die künstlichen Ver- dauungsversuche, welche Spallanzani und Caeminati später anstellten, zeigten, inwieweit beide Momente in Frage kommen.^

Ähnlich verhielt man sich dem Vorgang der Absonderung und Ernährung der Organe gegenüber; doch war es keinem Zweifel unter- worfen, dass die Erklärung der latrophysiker, welche auf den Blut- druck, die Form, die Verästelungen und Krümmungen der Gefässe, und die Porosität der Capillaren hinwiesen, sich mehr auf dem Boden der Thatsachen bewegte, als diejenige der Chemiatriker.

Die Entdeckung des Blutkreislaufs lenkte die Aufmerksamkeit der Forscher auf die thierische Bewegung überhaupt. Nicol. Steno machte

* Philosoph, [experiments and observations of Rob. Hooke etc. p. by W. Deb- HAM, London 1726, p. 372 u. ff.

' Peyebi: Parerga anatom. et medica, Genev. 1681, p. 198. 8 K. Spbenöel a. a. 0. IV, 422 u. ff.

* Sangt. Sanotobius: De statica medicina, Venet 1614, sect. I.

^ Spallanzani: Versuche über das Verdauungsgeschäft des Menschen und verschiedener Thierarten, Deutsche Übers., Leipzig 1785,

302 Der medidnische Unterrieht in der Neuzeit.

den ersten Versuch, die Thätigkeit der Muskeln nach den allgemein- gültigen Lehrsätzen der Mechanik zu erklären. ^ Bei dieser Gelegenheit veröffentlichte er seine Beobachtungen über die Veränderungen der Form und Consistenz, welche der Muskel bei der Zusammenziehung und Ausdehnung erfahrt.

Wenige Jahre später (1680) erschien A. Bobelli's berühmtes Werk de motu animcUium, in welchem die complicirten Bewegungen in die Thätigkeitsäusserungen der einzelnen Muskeln aufgelöst wurden. ^ Der Verfasser verglich darin die Knochen und die sich daran ansetzenden Muskeln mit physikalischen Hebel-Apparaten. Um die Kraft eines Muskels zu bestimmen, hing er an demselben so viele Gewichte an, bis seine Fasern zerrissen.

Schon Steno machte die Beobachtung, dass die Muskelsubstanz das vom Einfluss der Gefasse und Nerven unabhängige Vermögen be- sitze, zu Bewegungen angeregt zu werden, wie es de Mabchettis nur für das Herz und die Darmmuskeln angenommen hatte. Durch Ex- perimente an Fröschen und Schildkröten wurde festgestellt, dass die Bewegungsfähigkeit selbst nach der Entfernung des Gehirns noch vor- handen ist. Steno wies auf die Rolle hin, welche dabei das Blut spielt; er unterband die absteigende Aorta des Frosches und zeigte, dass darauf die Lähmung der Muskeln des Hinterleibes folgt. Auch Baglivi suchte die Ursache der dem Muskelgewebe innewohnenden Contractilität im Blute und sah in den Nerven nur die Erreger der Bewegung. Er machte bei dieser Gelegenheit Andeutungen, welche sich auf die Unter- scheidung der glatten von den quergestreiften Muskelfasern beziehen lassen.^ Mayow hob dagegen den Einfluss der atmosphärischen Luft auf die Muskelthätigkeit hervor.

Glisson betrachtete die Irritabilität als eine der Materie über- haupt zukommende Eigenschaft;* Willis schrieb dieselbe nur den Muskeln zu. Auf Grund einer grossen Anzahl von Untersuchungen und Vivisektionen stellte A. Halleb später fest, welchen Grad von Sensibilität und Irritabilität die verschiedenen Gewebe und Organe des Körpers besitzen. Er kam dabei zu dem Schluss, dass die Sensibilität an das Vorhandensein von Nerven, die Irritabilität an dasjenige von Muskelsubstanz gebunden sei.

^ Nie. Stenonis elementorum myologiae specimen scu musculi descriptio geometrica, Flor. 1667. a. a. 0. I, p. 19 u. ff.

° G. Baqlivi: De fibra motrice et morbosa in dessen Opera omnia medico- pract et anatom., Antwerpen 1719.

* Glisson: De ventriculo et intestinis, Amstelod. 1677, p. 168 u. ff. nach G. H. Meter in Haeseb's Archiv, Jena 1843, V, p. 1 u. ff.

Die mikroskop, Forsehg. in d, Anatomie u. d. Experiment in d. Physiologie. 303

Die Nerven dachte man sich mit einem Fluidum gefüllt, und Glisson sprach sogar von Strömen, die in den Nerven auf und nieder gehen. Selbstverständlich haben dieselben mit dem, was man heute darunter versteht, nur die Ähnlichkeit des Ausdrucks gemein.

In der Erklärung der Nerven-Thätigkeit gingen die latrophysiker und die Chemiatriker auseinander, indem Jene mit Newton Vibrationen, Spannungen und Erschlaffungen, Diese chemische Umsetzungen des Nerven-Inhalts annahmen. Diejenigen, welche weder die eine noch die andere Deutung befriedigte, nahmen ihre Zuflucht zu den hypothetischen Lebensgeistern, die auf alle Fragen die gewünschte Antwort gaben.

Das Gehirn galt allgemein als das Centrum der geistigen Thätig- keit. Willis wagte sogar, die verschiedenen Seelen-Vermögen in den einzelnen Theilen des Gehirns zu lokalisiren; so verlegte er den Sitz der Empfindung in die Streifenhügel, des Gedächtnisses in die Mark- substanz, und der animalischen Funktionen in das Kleinhirn.

E. Whytt lieferte durch eine Menge von Vivisektionen den Nach- weis, dass die Bewegungsfähigkeit noch lange Zeit nach dem Tode er- halten bleibt, und wies darauf hin, dass sich enthauptete Frösche „plan- massig und wie mit Bewusstsein bewegen". Er schloss daraus, dass das Gehirn nicht das einzige Centrum der geistigen Thätigkeit sein könne. ^ Die physiologischen Funktionen des Eückenmarks suchte Caldani zu erforschen, der zu diesem Zweck partielle Zerstörungen desselben vornahm.

Der grosse Astronom Kepler entwarf die Grundzüge einer richtigen Theorie des Sehens, bemerkte die Verschiedenheit der Kugelabschnitte an der vorderen und hinteren Fläche der Linse, erklärte, dass dieses Organ keineswegs der Sitz des Sehvermögens sei, wie man damals glaubte, sondern dazu diene, die einfallenden Lichtstrahlen in. ent- sprechender Weise zu brechen, verfolgte die Schicksale der letzteren, bis sie die Netzhaut treffen, ^ und zeigte, dass Kurzsichtigkeit und Fem- sichtigkeit auf Anomalien der brechenden Medien beruhen und durch passende Brillen mit concaven oder convexen Gläsern ein richtiges Bild des Sehobjekts hervorgebracht wird. Pater Scheinee in Wien vervoll- ständigte diese Untersuchungen und bewies durch das nach ihm ge- nannte Experiment, dass ein Gegenstand nur innerhalb einer bestimmten Entfernung vom Auge deutlich gesehen wird. Er machte dabei auch die Beobachtung, dass sich die Pupille bei der Betrachtung naher Gegen-

* EoB. Whytt : An essay on the vital and mvoluritaiy motions of animals, Edinburgh 1751, p. 344 u. ff., 384 u. ff. E. Whytt: Physiological essays, Edin- burgh 1755, p. 107 u. ff., 214 u. ff.

' PoGOENDOEFP a. a. 0. S. 168 u. ff.

304 Der medi&inische Unterricht in der Neuzeit,

Stande vereBgert. Der Prior des Klosters zu St. Martin, E. Mabiotte, machte die Entdeckung, dass die Eintrittsstelle des Sehnerven für Licht- strahlen unempfindlich ist.^

Die Physiologie des Gehörs wurde von Gl. Perrault, dem be- rühmten Arzt und Architekten, dem Erbauer des Louvre in Paris, be- gründet. Er sah zuerst die auf dem Spiralblatt der Schnecke sich ausbreitenden Nervenfäden und erklärte sie für das Organ der Gehör- Empfindung; ^ auch erkannte er die Rolle, welche das Labyrinth mit den halbzirkelformigen Kanälen bei der Fortleitung des Schalles spielt. DuvEBNEY verfolgte die Verbreitung des Gehörnerven im innem Ohre genauer und ergänzte die Ergebnisse Pebbault's in einzelnen Punkten. Darauf folgten Valsalva's vortreffliche Arbeiten.

Gl. Peueault versuchte auch die Entstehung der Stimme zu er- klären, indem er auf den Bau des Kehlkopfes hinwies. Denys Dodart meinte, dass der Ton durch die in Folge der Schwingungen der Luft entstehende Zusammenziehung oder Erweiterung der Stimmritze erzeugt wird; Ant. Ferrein erkannte, dass dabei die Vibrationen der Stimm- bänder die wichtigste Bedeutung haben. ^

P. Camper wollte aus den Verschiedenheiten im Bau der Stimm- werkzeuge verschiedener Thierklassen die Differenzen ihrer Stimmen erklären. Mit der Physiologie der Sprache beschäftigten sich Ammann, W. V. Kempelen und Kratzenstein, welche die ersten Maschinen zur Nachahmung der menschlichen Sprache construirten.

Als Organe des Geschmacksinns wurden schon von Malpighi und Bellini die Papillen der Zunge erklärt. In die Papillen der Haut verlegte Malpighi den Sitz der Tastempfindung. Bohn wies auf die Verschiedenheit des Tastsinns vom Wärme-Sinn hin, und der Genfer Philosoph Bonnet warf bereits die Frage auf, ob die Zunge für jede Art von Geschmacksempfindung besondere Nerven und das Ohr für jeden Ton eine besondere Chorde besitze.*

Zu den wichtigsten Tagesfragen, welche die Naturforscher des 17. und 18. Jahrhunderts beschäftigten, gehörte die Lehre von der Erzeugung und Entwickelung des thierischen Embryo. Auch hier war

^ Lettres ecrites par Mabiotte, Pecquet et Perrault sur le sujet d'une noavelle d^ouverte touchant la veue par Mabiotte im Becueil de plusieors traitez de matbematique de Tacad. royale des sciences, Paris 1676.

* Oeuvres diverses de physique et de mechanique, Leyden 1721, Vol. I, p. 247 u. ff. (du bruit, partie III).

^ Hist. de Tacad. royale des scieuces avec les m^moires etc., Paris 1700, p. 244 u. ff., 1706 p. 136 u. ff., 388 u. ff., 1707 p. 66 u. ff., 1741 p. 409 u. ff.

^ Brief Bonnets an Haller nach Haeseb a. a. 0. II, 596.

Die mikroskop. Forsehg, in d. Anatomie u. d, Experiment in d. Physiologie. 305

es Will. Haevey, welcher den Untersuchungen eine feste Basis gab, indem er den Satz aussprach: Omne animal ex ovo. Er lehrte, dass sich die Frucht aus dem von der Mutter stammenden Ei entwickele und der männliche Samen nur die Anregung zu diesem Vorgange gebe.

Man huldigte der Meinung, dass sich das Ei während der Be- gattung vom Ovarium loslöse; aber schon Kerokring berichtet, dass ihm weibliche Personen erzählt hätten, es werde bei jeder Menstruation ein Ei ausgestossen. ^ Die Eiertheorie wurde noch mehr begründet durch SwAMMEBDAM, Malpighi uud Redi, wclchc den HABVEY'schen Satz in Omne vivum ex ovo erweiterten und sogar auf die Pflanzen an- wendeten.

Eine mächtige Erschütterung erfuhr diese Lehre durch die Ent- deckung der Samenthierchen, welche Jon. Ham i. J. 1677 zuerst be- merkte. Leeuwenhoek, welcher diese Beobachtung bestätigte und die Spermatozoon als geschwänzte, mit einem runden Kopf versehene, in fortwährender Bewegung begriffene, ausserordentlich kleine Thierchen beschrieb, stellte auf Grund dessen die Hypothese auf, dass nicht die Eier, sondern die Samenthierchen die Keime der Frucht bilden. Hart- SOEKER glaubte eine Ähnlichkeit zwischen den Spermatozoon und der menschlichen Gestalt zu erkennen und betrachtete dieselben als präfor- mirte Embryonen. Der schöngeistige Leibnitz sprach sogar von der Unsterblichkeit der Samenthierchen.

Diesen Träumereien machte Antonio Vallisneri ein Ende, indem er die hohe Bedeutung des Eies für die Entwickelung der menschlichen Frucht bestätigte; doch beging er den Fehler, dass er die Spermatozoen für unwesentliche zufallige Bestandtheile des Samens hielt und daher als einflusslos für die Zeugung erklärte. Diese Ansicht wurde auch von BuFPON, Halleb u. A. vertheidigt und erlangte nahezu allgemeine Geltung; erst Spallanzani beschäftigte sich wieder genauer mit der Frage, wo die wirkende Ursache der Befruchtung liege, und unternahm zu diesem Zweck eine Reihe künstlicher Befruchtungsversuche mit männlichem Samen. ^

Über die Entwickelung der Frucht, besonders über die Bildung des Gefässsystems gab Haller einige werthvoUe Aufschlüsse; der fötale Kreislauf wurde schon von Duverney ausführlich dargestellt.

Die meisten Forscher huldigten der alten theologischen Evolutions- Theorie, nach welcher die Keime der organischen Wesen von der

* Th. Kebcering: Anthropogenia ichnographica, Amstelod. 1671, p. 3.

* Spallanzani: Versuche über die Erzeugung der Thiere und Pflanzen, Deutsche Übers., Leipzig 1786.

PuscHMANN, Unteirichl. 20

306 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit,

Schöpfung des ersten derselben präformirt seien und gleichsam scha<5htel- artig in einander stecken. Sie wurde beseitigt durch die Lehre von der Epigenesiö, in welcher Caspae Fried». Woi^ff auf Grund einer gi'ossen Anzahl sorgfältiger Beobachtungen den Nachweis lieferte, dass die Organe in ihrer Anlage nicht von Anfang an vorhanden sind, sondern dass die einzelnen Theile des Körpers in Tolge einer Reihe von Differenzirungen allmälig in die Erscheinung treten.^

Mit grossem Scharfsinn wies er auf die analoge Entwickelung der Pflanzen und Thiere hin und machte dabei bereits Andeutungen der von Goethe entwickelten Metamorphosenlehre im Pflanzenreiche, ebenso wie er auch bemerkte, dass das Nervensystem, der Darmkanal und die Ge- fasse und Muskeln des thierischen Körpers aus gesonderten Keimlagen hervorgehen. Für die Grundbestandtheile des Körpers erklärte er kleine Kügelchen oder Bläschen; vielleicht spricht sich darin bereits eine Ahnung der Zelle aus?

Die Fortschritte in den übrigen Theilen der Heilkunde während des 17. und 18. Jährhunderts.

Wie in der Physiologie, so machten sich auch in der Pathologie die Gegensätze zwischen den latrophysikern und den Chemiatrikem geltend. Man versuchte die Krankheiten theils durch mechanische Störungen, z. B. durch Stockungen des Blutes oder des Nerven-Inhalts, theils durch chemische Vorgänge, durch Gährungen und Zersetzungen zu erklären. Hervorragende Denker unter den Ärzten, wie Bobelli, PiTCAiEN, Helmont, Sylvius, Willis, Boeehaae und Fb. Hoffmann errichteten auf diesen Theorien kunstvolle Lehrgebäude der Patho- logie, deren Hinfälligkeit mit dem Fortschritt der Wissenschaft zu Tage trat.

Die Lücken und Fehler, besonders die Einseitigkeit, welche einige dieser medicinischen Systeme zeigten, führte dazu, dass man sie mit dynamischen Hypothesen verschmolz, wie es schon von Paeacelsus ver- sucht und dann von Helmont und Willis wiederholt wurde. Doch wurde die dynamische Theorie, welche in manchen Beziehungen an die Lehren der Pneumatiker des Alterthums erinnerte, aber selbstverständ-

* C. F. Wolpp: Theoria generationis, Halle 1759. - C. F. Wolpp: Über die Bildung des Darmkanals im bebrüteten Hühnchen, Berlin 1812, S. 57. 125. 148.

Die Fortschritte in d. übrigen Theilen d. Heük. während des 17. u, 18. Jahrh. 307

lieh dem christlichen Glauben entsprechend umgeformt worden war, zunächst nur zur Erklärung der letzten Ursachen des organischen Ge- schehens benutzt.

Stahl entwickelte dieselbe zu einem Animismus, der die wissen- schaftliche Erforschung der Medicin als überflüssig betrachtete. Zu einem ähnlichen Schluss, wenigstens in Bezug auf die theoretischen Grundlagen der Medicin, gelangten jene Ärzte, welche, wie Sydenham, unbefriedigt von den Versuchen, die Theorie mit der Praxis zu ver- söhnen, an der Lösung dieser Aufgabe verzweifelten und die auf der Erfahrung ruhende Heilkunst für das einzige Ziel ihres Strebens er- klärten.

Die künstlichen Schulsysteme, welche dem Scharfsinn und der Phantasie entsprangen, überlebteh sich rasch und glichen den schil- lernden Seifenblasen, welche durch ihren Farbenreichthum einen Augen- blick blenden, um dann spurlos unterzugehen. Nur was die Erfahrung in jener Zeit errungen, was die Beobachtung der Wissenschaft erschlossen hat, das ist geblieben und einer der vielen Bausteine geworden, welche das Fundament der Heilkunde bilden.

Eine reiche casuistische Literatur forderte die Kenntniss der Krank- heiten im Einzelnen und lenkte die Aufmerksamkeit der Ärzte auf Symptomen -Gruppen, welche früher nur wenig oder gar nicht be- achtet worden waren. Gleichzeitig wurde die Diagnostik der Leiden mit neuen Hilfsmitteln bereichert und mit der Sammlung der Berichte über die Veränderungen an den Leichen die wissenschaftliche Bear- beitung der pathologischen Anatomie vorbereitet. Stlvius beschrieb die Tuberkelherde der Lungen und leitete von dem eiterigen Zerfalle derselben die Schwindsucht ab. ^ Willis schilderte den Diabetes meüitm und hob dabei den süssen Geschmack des Urins hervor, den er sich nicht zu erklären vermochte.* Werlhof lieferte die erste Beschreibung der Blutflecken-Krankheit.^

Aus dem 17. Jahrhundert stammen auch die frühesten Mitthei- lungen über die Eachitis, deren Erscheinungen schon von B. Reusner skizzirt, von Whistler, A. de Boot und Glisson ausführlicher dar- gestellt wurden. In die gleiche Zeit fallen verschiedene Berichte über das endemische Vorkommen des Kretinismus, welches schon Paracelsus in einigen Alpengegenden beobachtet hatte, sowie die ältesten Nach- richten über das epidemische Auftreten der unter dem Namen der

* Fb. de le Boe Stlvii Opera medica, Traject. ad Rhenum et Amstelod. 1695, p. 692 u. ff.

* Th. Willis: De urinis in Op. omnia, Amstelod. 1663, p. 333 n. ff.

' P. G. Werlhof: Opera med. ed. Wichmann, Hannover 1775, II, p. 624. 761.

20*

308 Der medicinische Unterrickt in der NeuxeU.

Sibbens in Schottland und unter dem der Eadesyge in Skandinavien bekannten Syphilisformen.

Auch die Diagnostik der Krankheiten erfuhr in dieser Periode einige bemerkenswerthe Fortschritte, deren volle Bedeutung allerdings erst später erkannt wurde. Ausser der Untersuchung des Urins und des Pulses, über welchen Solang de Luques, Th. Bordeu u. A. neben vielen seltsamen und sogar absurden Angaben auch einzelne neue werth- voUe Mittheilungen machten, begann man noch andere diagnostische Hilfsmittel anzuwenden.

Santorio benutzte den Thermometer zur Bestimmung der Wärme des Körpers, und Boerhaave, Cockburn u. A. machten davon in der ärztlichen Praxis einen ausgedehnten Gebrauch.^ Anton de Haen stellte auf diese Weise fest, dass die - Temperatur des Körpers während des Fieberfrostes nicht herabgesetzt, wie man damals allgemein annahm, sondern im Gegentheil erhöht sei, machte zuerst auf die merkwürdige Erscheinung der postmortalen Wärme aufmerksam und beobachtete, dass das subjektive Wärmegefühl der wirklichen Temperatur zuweilen gar nicht entspricht, und dass die Temperatur gelähmter Gliedmassen niedriger ist als diejenige gesunder.^

Grosses Interesse erregten die Erkrankungen des Herzens. Lancisi brachte die Undulation der Jugularvenen mit der durch die Insufficienz der Tricuspidalklappe erzeugten Erweiterung des rechten Herzens in Verbindung.^ Albertini bemerkte sehr treffend, dass die Schwierigkeit der Diagnose der Herzkrankheiten zum grossen Theile darin ihren Grund habe, dass bei ihnen Krankheitszustände verschiedener Art zu- sammentreffen, und gab den Rath, bei der Untersuchung des Herzens die Hand auf die Herzgegend des Kranken aufzulegen.*

Weitaus die grösste Errungenschaft, welche die Diagnostik dieser Zeit zu verdanken hat, war die Entdeckung der Percussion durch den Wiener Arzt Auenbrügger.^ Leider blieb sie fast gänzlich unbeachtet; erst im 19. Jahrhundert wurde sie zu einer „Fackel, welche, wie Gh. G. Ludwig in Leipzig i. J. 1763 sagte, Licht brachte in die Fin- sterniss, die über den Krankheiten der Brusthöhle lagerte".

Auch die pathologische Anatomie that einen mächtigen Schritt nach vorwärts. Man hörte auf, in den Veränderungen an der Leiche

* Wunderlich: Das Verhalten der Eigenwärme in Krankheiten, Leipzig 1870.

* Th. Puschmann: Die Medicin in Wien, 1884, S. 19.

* Lancisi: De motu cordis et aneurysmatibus, Lugd. Batay. 1740, p. 306, pars II, cap. 6, prop. 60.

* Albertini: Opuscula ed. M. H. Romberg, Berol. 1828.

* Auenbrugger: Inventum novum, Vindob. 1761.

Die Fortschritte in d, übrigen Theüen d, HeilL während des 17. u, 18. Jahrh. 30 9

nichts weiter als Curiositäten zu sehen, welche die Schaulust der nach Seltenheiten haschenden Sammler befriedigten, und begann ihren Zu- sammenhang mit den Erscheinungen am Kranken zu ahnen und zu erforschen. Schon W. Haevey erklärte, dass man aus der Sektion eines Menschen, der an der Schwindsucht oder einer anderen chronischen Krankheit gestorben sei, mehr lernen könne als aus der Zergliederung von zehn Gehenkten. Benevteni, Th. Babtholinus, Bonet, Bidlet, Lancisi, Valsalva u. A. legten in ihren Schriften eine Menge werth- voller Beobachtungen nieder.

Wepfeb machte den ersten Versuch, die Lehre von den Erkran- kungen des Gehirns von dem Wust mystisch -transcendenter Spekula- tionen zu befreien und durch die pathologisch-anatomischen Verände- rungen dieses Organs zu begründen. Er beobachtete die Vemarbung apoplektischer Herde und beschrieb bereits den später nach Fothergill genannten Gesichtsschmerz. Im 18. Jahrhundert machte Fontana die wichtige Entdeckung, dass die Drehkrankheit der Schafe durch Hyda- tiden im Gehirn verursacht wird.

Die Pathologie des Gefasssystems verdankte den Arbeiten von ViEussENs, Lancisi und Senac wesentliche Fortschritte. Vieussens^ beobachtete die Verwachsung des Herzens mit dem Herzbeutel und be- schrieb den Hydrops perieardii und die Pericarditis. Mit bewunderungs- würdiger Klarheit schilderte er die gegenseitigen Beziehungen zwischen den pathologischen Veränderungen an der Leiche und den Erschei- nungen am Lebenden in einem Falle, in dem er von der Stenose des linken Ostivm venosum die Erweiterung der Pulmonalvenen; das Lungen- ödem, die Vergrösserung des rechten Herzens, die wassersüchtige An- schwellung der Füsse und die Kleinheit des Pulses ableitete, sowie bei einer anderen Gelegenheit, wo er Verknöcherung der Aorta ascendens und Verknöcherung mit Insufficienz der Semilunarklappen beobachtete und daraus den theilweisen Rückfiuss des Blutes in das linke Herz und das Herzklopfen erklärte.

Lancisi gab nähere Aufschlüsse über die krankhaften Verände- rungen, besonders die Verknöcherungen der Klappen und die Erwei- terung und Vergrösserung des Herzens.^ Senac machte zuerst auf die durch pathologische Verhältnisse hervorgerufene rechtsseitige Lagerung des Herzens aufmerksam.^ Bedauerlicher Weise standen der richtigen Beurtheilung der Thatsachen häufig die irrigen Ansichten der Ärzte

* J. Philipp im Janus H, 580—598. HI, 316—326.

' Philipp im Janus III, 318 u. ff.

^ Senac: Trait^ de la stractare du coeor, Paris 1749.

310 Der medidnwGhe ünterrioht in der Neuzeit,

über die Bedeutung der sogenannten Herzpolypen entgegen, obwohl schon Keeokeing dieselben für eine Leichenerscheinung erklärt hatte. ^

Ihren Höhepunkt erreichte die pathologische Anatomie jener Periode in J. B. MoBGAGNi, der im Besitze des gesammten Wissens, wel- ches sich auf diesem Gebiete angesammelt hatte, die gewonnenen Er- gebnisse durch zahlreiche eigene Erfahrungen berichtigte und ergänzte und die Aufgabe dieser Disciplin zum ersten Male klar und deutlich entwickelte.^

Er zog bei seinen Untersuchungen auch das Experiment zu Eath.^ Auch Stephan Hales bediente sich desselben und erzeugte mittelst Einspritzung von Wasser in das Gefässsystem künstlichen Hydrops.

Haller's Arbeiten über die Sensibilität und Irritabilität stützten sich hauptsächlich auf Versuche an Thieren und Vivisektionen. Er er- kannte deren Nutzen und erklärte: „Ein einziges derartiges Experiment hat oft die aus der Arbeit ganzer Jahre hervorgehenden Täuschungen beseitigt. Diese Grausamkeit hat der Physiologie mehr genutzt als fast alle anderen Künste, deren Zusammenwirken unsere Wissenschaft ge- kräftigt hat."*

Grosses Aufsehen erregten Spallanzani's Versuche über die Wie- dererzeugung abgefallener Glieder bei niederen Thieren.^

Am meisten trug John Hunteb dazu bei, dass die experimentelle Methode in die Pathologie eingeführt wurde.

Aber nicht blos die ersten Anfänge der experimentellen Patho- logie, sondern auch diejenigen der Bakteriologie fallen in diese Periode. Leeuwenhobk beschrieb Bakterien von runder, stäbchenförmiger, faden- artiger und schraubenförmiger Gestalt, welche er zwischen den Zähnen der menschlichen Mundhöhle gefunden zu haben behauptete.® In Folge dieser Entdeckungen entwickelte sich die Theorie, dass manche Krank- heiten durch solche „kleine Thiere" verursacht würden. Diese Ansicht liess sich damals freilich nicht beweisen; aber gleichwohl hielten ein- zelne hervorragende Naturforscher, wie LiNNfi und Plencicz, am Cow- tagiwm animatumi fest,

Werthvolle Vorarbeiten für die Begründung der Hygiene lieferten Lancisi, welcher sich mit den Ausdünstungen der Sümpfe und der

^ Th. Keboebino: Spicilegium anatomicum, Amstelod. 1670, p. 145. ' F. Falk: Die patbol. Anatomie des J. B. Morgagni, Berlin 1887. " PfflLipp in der deutschen Klinik, 1853, No. 45.

* Vergl. Ad. Valentin in der Denkschrift auf A. v. Haller, Bern 1877, S. 78. ^ Spallanzani: Sopra le riproduzioni animali, Modena 1768. ^ F. Löffler: Vorlesungen über die geschichtliche Entwickelung der Lehre von den Bakterien, Leipzig 1887, Th. I,

Die Fortschritte in d. übrigen T heilen d. Heük während des 17. u, 18, Jahrh, 311

Assanirung der römischen Campagna beschäftigte,^ und Pringle, der sich grosse Verdienste um die Militär-Gesundheitspflege erwarb und Untersuchungen über septische und antiseptische Substanzen anstellte.

Der Arzneischatz wurde durch mehrere Heilmittel bereichert. Man erkannte die Wirkung der Chinarinde gegen das Tieber, entdeckte in der Ipecacuanha- Wurzel ein kräftiges Brechmittel und empfahl den Gebrauch des Arseniks beim Krebs.

Auch suchte man über die Ursachen, auf denen die Heilwirkungen der Arzneistofife beruhen, sowie über die geeignetste Art ihrer Anwen- dung richtigere Anschauungen zu gewinnen. Schon Willis forderte zu Untersuchungen über die Veränderungen auf, welche die Medica- mente im Magen, im Blut und in den einzelnen Organen hervorrufen. Dieser Gedanke wurde von Wepfer und in grösserem Massstabe später von A. Stöbck ausgeführt, welche zahlreiche pharmakodynamische Ex- perimente mit verschiedenen arzneilichen Substanzen anstellten. ^

Unter dem Einfluss der Entdeckung des Blutkreislaufs wurden auch die ersten Versuche unternommen, Arzneistoffe in die Venen zu injiciren, sowie grosse Blutverluste durch Ueberführung von Blut aus einem anderen Körper zu ersetzen.^ Aber die ungünstigen Erfolge dieser Operationen, welche zum Theile in der mangelhaften Technik ihrer Ausführung ihren Grund hatten, brachten die Infusion und Trans- fusion bald in Miskredit und allmälig in Vergessenheit.

C. Stalpebt van deb Wiel wendete zur künstlichen Ernährung bereits eine Art von Schlundsonde an.*

Die specielle Therapie förderten Bennet durch seine Empfehlung der Inhalationen bei der Schwindsucht,^ Dolaeus, welcher %^g^Tv das Podagra die Milchkur verordnete, sowie Edw. Baynabd und J. Ployeb, die bei starkem Fieber den Kranken in kaltes Wasser eintauchen Hessen. Die beiden Hahn, Bbandis und Cubbie empfahlen die Uebergiessung mit kaltem Wasser beim Typhus und gaben dadurch die Anregung zum Aufschwünge der Hydrotherapie, während die Balneotherapie durch B. BoYLE und Fb. Hoffmann auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt wurde.

Geringere Fortschritte als die übrigen Disciplinen der Heilkunde

* C. Langer in den Mitth. d. Ver. d. Ärzte in Nieder-Österreich 1875, No. 2. ' PüscHMANN a. a. 0. S. 85 u. ff.

* P. Scheel: Die Transfusion des Blutes und Einspritzung in die Adern, Kopenhagen 1802. Dieffenbagh in Rust's Handwörterbuch, Berlin 1838.

* Stalp. V. D. Wiel: Observat. rar. cent. H, 27 und Kjiul im Weekbl. v. h. Nederl. Tijdschr. v. Greneesk, 1883, No. 47.

^ Che. Bennet: Tabidorum tbeatrum, Lugd. Bat. 1714, cap. 28.

312 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit.

machte die Chirurgie im 17. Jahrhundert. Es lag dies theils daran, dass die begabtesten Vertreter der ärztlichen Wissenschaft sich vorzugs- weise den Erfolg versprechenden chemischen und physikalischen For- schungen, sowie der Physiologie und mikroskopischen Anatomie zu- wandten, theils an der sich mehr und mehr erweiternden Kluft zwischen der inneren Medicin und der Chirurgie, durch welche die studierten Ärzte von der Beschäftigung mit der Wundarzneikunst abgehalten wur- den, während die empirisch gebildeten Praktiker vollauf damit zu thun hatten, den grossartigen Umschwung ihrer Kunst, welchen das voran- gegangene Jahrhundert in Bezug auf die chirurgischen Operations- methoden herbeigeführt hatte, zu verstehen und in sich aufzunehmen. Allerdings fehlte es nicht an einzelnen Verbesserungen in der Technik der Operationen; aber ein alle Zweige der Chirurgie umfassendes, reformirendes und in neue Bahnen drängendes Genie, wie Ambroise Pab:^, war nicht vorhanden.

Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzog sich in der Chirurgie ein neuer Aufschwung, der sich aber nicht so sehr in der Entwicklung der Operationskunst, als in der Begründung der chirurgischen Pathologie äusserte.

Zur Stillung der Blutungen bediente man sich nur selten der Unterbindung, weil sie mehr anatomische Kenntnisse voraussetzte, als den meisten Chirurgen zu Gebote standen. Dazu kamen die zahlreichen Misserfolge derselben, welche zum Theile in der unvollkommenen, rohen Methode der Ausführung ihren Grund hatten. Man wendete daher lieber die Compression der Gefässe an, welche durch die Erfindung des Knebel-Tourniquets von Möbel L J. 1674 bedeutend erleichtert wurde. Petit ersetzte den Knebel 1718 durch eine Schraube. Auch kam die Digital-Compression durch Saviabd und Louis wieder in Gebrauch. Die preussischen Chirurgen Theden und Schmuckeb empfahlen die Tamponade. Daneben wurden das Glüheisen, die Kälte und verschiedene styptische Mittel zur Anwendung gebracht.

Die Unterbindung fand bei den Chirurgen erst allgemeinere An- erkennung, als man den Fehler erkannte, welchen man durch die Hereinziehung der Nerven, Venen und des umliegenden Zellgewebes in die Ligatur begangen hatte, und anfing, die Arterie isolirt zu unter- binden. Man wagte sich nun selbst an die Unterbindung grosser Ge- fässstämme, wie der Ä. cruralis und axillaris] Wabneb und Else unternahmen i. J. 1775 sogar die Unterbindung der Carotis.

Die Amputation wurde hauptsächlich am Fuss, Unterschenkel, Vorderarm und an der Hand, seltener oberhalb des Ellenbogens und des Kniees ausgeführt. Die Technik dieser Operation erfuhr durch die

Die Fortschritte in d, übrigen Theüen d, Heilk. während des 17, u. 18. Jahrh. 313

Einführung des zweizeitigen und dreizeitigen Zirkelsclinitts, des Lappen- schnitts und Trichterschnitts, durch welche die ausreichende Erhaltung von Hauttheilen zur Bedeckung des Stumpfes bezweckt wurde, einige Bereicherungen.

Die Amputation wurde übrigens häufiger ausgeführt, als nothwendig war. So berichtet Schmucker, dass er i. J. 1738 im Hotel Dieu zu Paris einen Kranken sah, welchem beide Oberschenkel wegen einfacher Fraktur derselben amputirt worden waren. Die conservativen Chirurgen traten diesem unter dem Einfluss der französischen Schule entstandenen Missbrauch entgegen und suchten die Amputation in vernünftiger Weise einzuschränken.

Die Vermehrung der anatomischen Kenntnisse und die Verbesse- rungen in der Technik der chirurgischen Operationskunst ermuthigten auch zu Exartikulationen, welche im Ellenbogen schon von A. Pabä, im Kniegelenk zuerst von Pabry von Hilden und in der Schulter von MoEAND und Le Däan ausgeführt wurden. Die nach Chopaet genannte Exartikulationsmethode im Fusswurzelgelenk wurde 1791 ver- öflFentlicht. Die Exartikulation im Hüftgelenk wurde zwar versucht, aber wegen ihrer ungünstigen Erfolge wieder aufgegeben.

Auch wurde die Resektion einzelner Knochen oder Knochentheile, z. B. am Oberarm von Ch. White, am Schlüsselbein von Cassebohm unternommen, während die ersten erfolgreichen Gelenk-Resektionen am Knie von Filkin (1762) und Paek (1781) und an der Schulter von Ch. White (1768) und J. Bent (1771) ausgeführt wurden.

Die Trepanation geschah häufig aus ganz geringfügigen Ursachen; es ist unglaublich, mit welcher Leichtfertigkeit man sich dazu ent- schloss. Am Prinzen Phil. Wilhelm von Oranien wurde sie, wie Coen. Solingen erzählt, 17 mal ausgeführt. Nur vereinzelte Stimmen erhoben sich gegen diese gefährliche Operationswuth.

In jene Zeit fallt auch die erste operative Eröffnung der Kiefer- höhle bei Erkrankungen derselben. Der Katheterismus der Tuba Eustachii verdankte dem tauben Postmeister Guyot in Versailles, welcher ihn an sich selbst erprobte, seine Entdeckung.^

Die Tracheotomie wurde nicht blos zur Entfernung von fremden Körpern und zur Erleichterung der Eespiration/ sondern auch bei Croup und Diphtherie empfohlen und ausgeführt. ^

Die Oesophagotomie wurde im 18. Jahrhundert zum ersten Male unternommen, während die erste Gastrotomie schon im Jahre 1635

* Machines et inventions, appr. par Tacad^mie royale, Paris 1724, IV, No. 253. ' B. ScHüCHAKDT In Langenbbck's Archiv 1887, Bd. 36, H. 3.

314 Der medidnische Unterrieht in der Neuzeit

geschah.^ Über die erste erfolgreiche Exstirpation der Milz berichtete Giov. Pantoni.2

In der Lehre von den Hernien machte sich das Studium der ana- tomischen Verhältnisse, welche ihr zu Grunde liegen, geltend. Man begann neben den Leisten- und Nabelbrüchen auch andere Formen der Hernien zu unterscheiden, und wurde auf die Schenkelhernie, diejenige der grossen Schamlippen, die Hernia obturatoria und ischiadica aufinerksam. Auch suchte man über die Entstehung der Brüche Klarheit zu ge- winnen; Halleb wies auf die Beziehungen der angeborenen Hernien zur Embryologie hin.

Bei der Behandlung erlangten die Bruchbänder eine grössere An- erkennung, besonders seitdem Nicol. Lequin 1663 die elastischen federnden eingeführt hatte. Die Radikal-Operation wurde seltener aus- geführt und allmälig mehr auf die eingeklemmten Brüche eingeschränkt. Man war dabei darauf bedacht, den Samenstrang zu erhalten; nur bei Geistlichen hielten es manche Chirurgen, wie Dionis, für gestattet, die Castration mit der Operation zu verbinden.

Die Operation der Mastdarmfistel kam dadurch auf die Tages- ordnung, dass Ludwig XIV. sich derselben unterziehen musste. Diese Krankheit übte einen grossen Einfluss auf die Politik aus; Michelet hat die Regierungszeit dieses Monarchen bekanntlich in die Perioden avant et apres la fisttde eingetheilt. ^ Die Debatten über die Ausführung der Operation führten zur Erfindung verschiedener Fistelmesser, unter denen dasjenige von Pott mit den Verbesserungen von Savigny die meiste Beachtung verdiente. Die Colotomie behufs Herstellung eines künstlichen Afters bei angeborenem Verschluss der natürlichen Öffnung desselben wurde 1783 zum ersten Male unternommen.

Unter den Methoden des Steinschnitts gewann die Sectio lateralis die meiste Verbreitung. Cheselden modificirte das Verfahren einiger- maassen, und Fbäee C6me empfahl zur Ausführung das Lithotome eaehe. Seltener kam der hohe Steinschnitt über der Schamfuge zur Anwendung. Die Lithothrypsie wurde von Ciucci beschrieben, welcher dabei eine dem Civiale'schen Lithotryptor ähnliche, in einer Scheide befimdliche Canülen-Zange mit gezähnten Branchen gebrauchte.

Bei der Behandlung der Harnröhren -Strikturen genossen die von Daean empfohlenen elastischen Bougies, welche in der Harnröhre auf- quollen, grosses Ansehen.

Hendrik van Deventeb, A. J. Venel u. A. entwarfen die Prin-

* Hagens in der Berliner klinischen Wochenschr. 1883, No. 7.

' J. Fantoni: Opusc. med. Genev. 1738. Haeseb a. a. 0. II, 432.

Die Fortschritte in d. Übrigen Theüen d, Heük. während des 17. u. 18, Jahrh, 315

cipien der Orthopädie. Um dieselbe Zeit machten Hendrik van Roon- HUYSB und später Tülp die ersten Versuche, mittelst Durchschneidung des M. ster7ho6Uidom€tstoideu8 die Heilung des Caput obstipum zu be- wirken. I. J. 1784 liess M. G. Thilenius die erste Trennung der Achillessehne beim Elumpfuss ausfahren.

Die chirurgische Pathologie erfuhr durch Percival Pott, welcher die chronische Gelenkentzündung, den Tumor allms, und die nach ihm genannte Caries der Wirbel zum Gegenstande sorgfältiger Beobachtungen machte, wesentliche Bereicherungen, während J. L. Petit auf die nach Verletzungen auftretende eiterige Osteomyelitis aufmerksam machte. Petit und John Hünteb beschäftigten sich auch mit den feineren Vorgängen, welche sich bei der Thrombus-Bildung, der Eiterung, Ver- narbung und Granulation in den Geweben abspielen.

Einen wichtigen Fortschritt machte die Ophthalmologie in jener Periode, indem der alte Irrthum beseitigt wurde, dass die Cataracta durch eine extrabulbäre Feuchtigkeit erzeugt werde, die sich in der Form eines undurchsichtigen Häutchens vor der Linse lagere, und der Nachweis geliefert wurde, dass sie in einer Erkrankung der Linse selbst besteht

Eine glänzende Bestätigung erhielt diese Entdeckung durch die Extraktions-Methode, nach welcher Daviel i. J. 1746 die erste Staar- operation ausführte. Die Extraktion behauptete fortan neben der De- pression des Staares einen ständigen Platz in der operativen Oculistik.

Eine weitere Errungenschaft der letzteren war die künstliche Pu- pillenbildung, welche von Woolhouse angeregt und von Cheselden i. J. 1728 zuerst ausgeführt wurde. Das Verfahren bestand in der Incision der Iris; der ältere Wentzel änderte es dahin ab, dass er statt dessen ein Stück der Iris ausschnitt, also die Iridectomie vornahm.

Die Geburtshilfe verdankte dieser Zeit die segensreiche Erfindung der Zange. Längst vorbereitet durch die Instrumente, deren sich die Geburtshelfer zur Herausbeförderung abgestorbener Früchte bedienten, trat sie im 17. Jahrhundert ins Leben und nahm Formen an, welche sie für ihren Zweck geeignet erscheinen Hessen.

Die Chamberlen gebrauchten bei schweren Geburten Vorrichtungen, welche aus Hebeln oder stählernen, mit Leder überzogenen Blättern bestanden. Diese Erfindung blieb Geschäftsgeheimniss, bis sie durch Jean Palfyn, der sie in mehrfacher Hinsicht verbesserte, der Öffent- lichkeit übergeben wurde. ^ Sie wurde dann weiter vervollkommnet

^ J. H. AvELiKo: The Chamberlens and the midwifeiy forceps, London 1882. A. Gofpin: Jean Palfyn, Bruxelles 1887.

316 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit.

von Dusfi, welcher die Kreuzung der beiden Löffel einführte, vom jüngeren Gbbgoire, der sie fenstern und durch ein Schloss verbinden liess, und vor Allem von Leveet, welcher die gerade Form der LöflFel in eine gekrümmte umänderte, ihre Verbindung durch einen beweg- lichen Stift bewerkstelligte und die Indicationen far den Gebrauch der Zange feststellte.

Um den Gefahren des Kaiserschnitts, der ziemlich selten ausgeführt wurde, auszuweichen, wurde die Symphyseotomie empfohlen, durch welche man irrthümlicher Weise eine Erweiterung des Beckens herbei- zuführen hofft«; die übelen Polgen dieser Operation zeigten sich bald und bewirkten, dass sie allgemein verurtheüt wurde.

Dagegen errang sich das von Cameeabiüs und Slevogt zuerst empfohlene Verfahren, in Fällen, wo, wie beim verengten Becken, auf natürlichem Wege kein ausgetragenes Kind geboren werden kann, im 7. oder 8. Monat die künstliche Frühgeburt einzuleiten, den Beifall der Geburtshelfer und erhielt sich in der gynaekologischen Therapie.

Auch die erste wissenschaftliche Bearbeitung der gerichtlichen Medicin, z.B. die Verwerthung der Lungenprobe zu forensischen Zwecken,^ sowie die ersten Anfange einer systematischen Medicinalstatistik gehören dieser Zeit an.^

Wenn man den Gang der Entwickelung der Medicin während des 17. und 18. Jahrhunderts verfolgt, so erkennt man dieselben Phasen, welche die Gesammt-Cultur jener Periode kennzeichnen. Die erfolg- reiche Forscherthätigkeit, welche sich in dem rastlosen Ansammeln em- pirischen Wissens-Materials äusserte, gelangte allmälig zu einem gewissen Abschluss, und es machte sich das Bedürfniss geltend, die gewonnenen Ergebnisse zu sichten und in ihren Beziehungen zu einander und zum geistigen Leben der Menschheit überhaupt zu betrachten. Wie der Wanderer, wenn er nach anstrengendem Marsche eine Höhe erklommen hat, mit stolzer Befiriedigung auf den Weg zurückblickt, den er zurück- gelegt hat, so hält auch der Genius der Cultur nach grossen Errungen- schaften eine kurze Rast, bevor er sich zu neuen Thaten rüstet.

Ein solcher Augenblick war für die Geschichte der Menschheit im 18. Jahrhundert gekommen, und die Bestrebungen der Encyklopä- disten gaben dieser Thatsache einen deutlichen Ausdruck. Auch in der Medicin machte sich diese Richtung der Geister bemerkbar und trat in einer Reihe von Arbeiten zu Tage, welche hauptsächlich die Ge- schichte der Heilkunde behandelten.

^ Blumenstock in der Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medicin, 1884, Bd. 38, S. 252—69. Bd. 39, S. 1—12.

* J. G&aetzeb: Daniel Gohl und Christ. Knndmann, Breslau 1884.

Der Glmr akter jener Zeit in der Kunst und Philosophie. 317

Die ersten hervorragenden Vertreter der historischen Literatur der Mediein waren Daniel Leclerc, John Fbeind und Jon. Heinii. Schulze. An Boerhaave und namentlich an Halles, welcher sich durch die Herausgabe medicinischer Schriften des Alterthums und durch seine bibliographischen Werke unvergängliche Verdienste um die Ge- schichte der Heilkunde erworben hat, fand sie einflussreiche Treunde und Förderer. Auch Portal, der eine Geschichte der Anatomie ver- fasste, Weethof, Hensleb und Gruneb, deren gediegene Untersuchungen über die Geschichte der Krankheiten einen dauernden Werth besitzen, AsTBUc, Baldingeb, Tbiller, Moehsen, Ackebmann, Mezleb u. A. gaben Zeugniss dafür, dass der Sinn für historische Forschungen unter den Ärzten des 18. Jahrhunderts weit verbreitet war und reiche Früchte trug.

Der Charakter jener Zeit in der Knnst und

Philosophie.

Das geistige Leben des 18. Jahrhunderts hatte einen anderen Charakter als sein Vorgänger. Diese Veränderung gab sich entweder in einem Nachlass der empirischen Forschung kund, wie in den Natur- wissenschaften, oder führte eine Wandelung der Richtung herbei, in welcher sich die Thätigkeit bewegte, wie dies am deutlichsten die Lei- stungen der bildenden Kunst zeigten. Das 17. Jahrhundert sah einen GuEDO Eeni, Salvatob Eosa, die Spanier Velasquez und Mubillo, die französischen Meister Nicolas Poussin und Claude Lobbain und die grossen Niederländer Rubens und Rembbandt. Das 18. Jahrhun- dert vermochte diesen Künstlern nur Wenige an die Seite zu stellen, deren Namen Tor dem Glanz, den Jene ausstrahlten, nicht gänzlich erblassen.

An die Stelle der classischen Schönheit der Formen, welche durch die grossartige Einfachheit der Linien und durch die richtige Abwägung der Farbentöne ein Muster für alle Zeiten geworden sind und selbst, wenn sie wie bei Rubens einen derbsinnlichen Naturalismus zur Schau tragen, niemals blos die Sinne fesseln, sondern immer zum Herzen sprechen, trat eine ungesunde Überladung mit barocken Zuthaten, welche durch die Sucht, originell zu erscheinen, hervorgerufen wurde und die Kunst auf Abwege brachte.

Ein wahrheitsgetreues Spiegelbild der geistigen Kämpfe und Wan- delungen jener Periode lieferten die philosophischen Meinungen und

318 Der rnsdicinisGhe Unterricht in der Neuzeit

Systeme, welche damals aufgestellt wurden. Der induktive Empirismus Bacon's, welcher in dem Aufschwünge der Naturwissenschaften und einer Menge von Entdeckungen und Erfindungen eine alle Erwartungen bei weitem übersteigende Rechtfertigung erhielt, entwickelte sich unter dem Einfluss der letzteren auf einer materialistischen Grundlage, wel- cher der Pantheismus einen idealistischen Zug verlieh. Was der un- glückliche GioBDANo Bruno als seine heilige Überzeugung verkündet hatte, für die er den Tod in den Flammen erlitt. Das suchte sein späterer Gesinnungsgenosse, der wegen seines religiösen Freisinns aus dem Judenthum ausgestossene Babuch Spinoza durch wissenschaftliche Thatsachen zu begründen und zur allgemeinen Weltanschauung zu machen. Er lehrte die Gesetzmässigkeit alles Geschehens und die Einheit der Substanz, die sich, wie er im Anschluss an Cabtesius er- klärte, in zweifacher Form, nämlich als Geist und Materie, äussere.

Einen Schritt weiter ging John Locke. Als Arzt gewohnt, das Metaphysische aus dem Kreise der Erörterungen zu bannen, stellte er sich auf den Boden des reinen Empirismus und verkündete, dass es keine angeborenen Ideen gebe, sondern dass sich alle Erkenntniss auf die Erfahrung gründet. Die menschliche Seele gleicht, wie er schreibt, bei der Geburt einem leeren Blatt, auf welchem die Sinneswahrnehmungen als Erfahrungen niedergelegt werden, bis sie durch die Reflexion, durch den Verstand, den Locke den inneren Sinn nennt, zu Vorstellungs- bildem zusammengestellt werden. Er führte somit die Philosophie wieder in die Arme der Naturforschung zurück, indem er die Erkennt- nisstheorie auf die Untersuchung der Dinge mittelst der sinnlichen Beobachtung anwies.

Der Sensualismus Locke's fand in Frankreich hervorragende Ver- treter an E. B. de Condillac und Voltaibe und regte in England zum Skepticismus an, wie er von David Hume zum Ausdruck gebracht wurde, während ihm in Deutschland in Leibnitz ein mächtiger Gegner entgegentrat.

Der Letztere verband die angeborenen Ideen Platon's mit den Grundzügen der Demokrit'schen Atomistik, an welche schon G. Bbuno und P. Gassendi angeknüpft hatten, und passte dies den christlichen Lehren von der Weisheit des Schöpfers und der Zweckmässigkeit der Natur an. Er nahm untheilbare und unräumliche, metaphysische Punkte an, die er Monaden nannte und mit einem Vorstellungs-Inhalt begabt dachte; ihre gegenseitigen Beziehungen und Verbindung zu der Einheit des Bewusstseins glaubte er durch die phantastische Hypothese einer vor Beginn aller Zeiten festgesetzten „praestabilirten" Harmonie zu erklären.

Der Charakter j&rier Zeit in der Kirnst und Philosophie, 319

Auf die Entwickelung der Nakirwissenschaften und speciell der Medicin hat Leibnitz keinen fördernden Einfluss ausgeübt; für die Philosophie, wie überhaupt für die Literatur, hat er vielleicht grössere Bedeutung erlangt, als er verdient. Sein System blieb hauptsächlich auf Deutschland beschränkt, wo Chbistian Wolfp sein eifrigster Apostel wurde. Er ordnete die Ideen, die Leibnitz in wilder Ungebundenheit hingeworfen hatte, mit schulmeisterhafter Pedanterie zu einem Schema- tismus, der dort, wo Jener Lücken zeigte oder eine zu hochfliegende Phantasie walten liess, sich aus den Lehren anderer Philosophen ergänzte.

Consequenter und einheitlicher im Aufbau, aber rücksichtsloser und erschreckender in seinen Folgerungen war der Materialismus, wie er um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich auftrat. Der radikalste Vertreter desselben, der französische Arzt Lamettbie, machte in seiner Histoire naturelle de Täme und seinem Werke „L'homme machine" den Versuch, sogar die Denkprozesse, die geistigen Fähig- keiten und sittlichen Gefühle aus dem Wesen der Materie, aus der körperlichen Organisation abzuleiten. Den transcendenten Charakter der menschlichen Seele bestritt er, indem er sich dabei unter Anderem auch auf die Thatsache der auf Verändeniugen des Gehirns beruhenden psychischen Erkrankungen bezog. Die Unsterblichkeit gab er zu, jedoch nur insoweit, als die Materie, aus welcher die Dinge dieser Welt be- stehen, nicht untergeht, sondern nur die Form ändert und wieder an einem anderen Körper Theil nimmt.

Leider predigte Lamettbie gleichzeitig einen Hedonismus, welcher auf eine schamlose Verherrlichung des Vergnügens, bes. der Wollust hinauslief. Lediglich in diesem Umstände, keineswegs aber in seinen philosophischen Theorien liegt der Grund der heftigen Angriffe, die er erfahren musste. Es mag ja sein, dass er in seinem Leben keineswegs dem frivolen Cynismus huldigte, welchen er in seinen Schriften zur Schau trug; aber selbst F. A. Lange, welcher die Ehrenrettung Lamettbies unternahm, vermochte zu dessen Vertheidigung nur anzuführen, dass er weder seine Kinder ins Findelhaus geschickt, wie Rousseau, noch zwei Bräute betrogen habe,' wie Swlpt, nicht der Bestechung überführt worden sei, wie Bacon, und sich auch nicht der Urkundenfälschung verdächtig gemacht habe, wie Voltaibe.^ Jedenfalls hat Lamettrie durch seine Lehren die Sittlichkeit schwer geschädigt und viele reine Gemüther vergiftet, und ist vorzugsweise schuld daran, dass die materialistische Philosophie lange Zeit von unverständigen Menschen mit der schrankenlosen Befriedigung des Sinnesgenusses identificirt wurde.

^ F. A. Lange: Geschichte des Materialismus, Iserlohn 1876, I, 349.

320 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit.

Die übrigen Anhänger des Materialismus, namentlich diejenigen, welche unter dem Namen der Encyklopädisten bekannt geworden sind, suchten ihre Aufgaben weniger in der wissenschaftlichen Begründung ihrer philosophischen Meinungen, als in der Bekämpfung der kirchlichen und politischen Autoritäten. Der Verfasser des Systeme de la nature entwickelte den Kreislauf des Lebens und die innigen Wechsel- beziehungen der drei Naturreiche; aber ungleich grösseren Werth legte er auf die rationalistische Aufklärung und die Erörterungen über das Eecht der Völker auf Selbstregierung, welche er damit verband.

Diese Theorien trugen ohne Zweifel viel dazu bei, die mächtigen Umwälzungen vorzubereiten, welche am Schluss des 18. Jahrhunderts Prankreich und dann ganz Europa erschütterten, und erklären es zum Theile, dass der Materialismus von Manchen als die Quelle der Irreligio- sität und als Feind der Monarchie betrachtet wurde.

Die gelehrten Gesellschaften und Universitäten im

17. und 18. Jahrhundert.

Wie im 16. Jahrhundert, so wurde auch im 17. Jahrhundert die Entwickelung des wissenschaftlichen Geistes wesentlich gefordert durch die Gründung von gelehrten Gesellschaften und Universitäten. In Italien stiftete der Fürst Federigo Gesi i. J. 1603 die Accademia dei Lincei, so genannt, weil deren Mitglieder zu ihren Untersuchungen gleichsam Luchsaugen bedurften und im Vereins- Wappen einen Luchs führten; in Florenz entstand unter dem Schutz der Mediceer 1657 die Accademia del cimento, welche die Pflege des Experiments zu ihrer Aufgabe erklärte.

Nach diesem Muster bildeten sich auch in andern Ländern gelehrte Vereinigungen. In Deutschland wurde Schweinfart der Mittelpunkt einer Gesellschaft von Ärzten und Naturforschem, welche i. J. 1672 vom Kaiser Leopold zu einer Akademie erhoben wurde. In Paris trat die Academie des sciences um das Jahr 1666 ins Leben, welche 1793 in das Institut national umgewandelt wurde. Auch die königliche Ge- sellschaft der Wissenschaften in London, deren Verhandlungen in nahezu ununterbrochener Eeihenfolge bis heut erschienen sind und eines der wichtigsten und inhaltsreichsten Aktenstücke zur Geschichte der Wissen- schaften bilden, 1 wurde 1666 gegründet. Es folgten darauf die Akademie

^ Ch. R. Wbld: History of the royal society, London 1848, 2 Bde.

Die gelehrten Gesellsokaflen u. ühiversitcUen' im 17, u, 18, Jahrhundert, 321

zu Berlin, welche i. J. 1700 auf Leänitz' Betreiben gestiftet wurde, die Göttinger gelehrte Gesellschaft i. J. 1733, die Akademie zu Peters- burg 1725, welche zwar auf russischem Boden entstand, aber haupt- sächlich eine deutsche Schöpfung war, die Akademie zu Mannheim 1755 und diejenige zu München 1760.

Das wissenschaftliche Leben jener Periode brachte in England und den Niederlanden die reichsten Fruchte hervor. Auch Italien zeitigte noch einzelne Spätlinge, welche an die besten Zeiten der grossen Ver- gangenheit dieses Landes erinnerten.

Auf Frankreich warf der glänzende Hof Ludwig XIV. ein weithin strahlendes Licht, welches neben mancher inneren Hohlheit eine über- raschende Fülle von Talent und Thatkraft beleuchtete. Während des 18. und bis tief hinein in das 19. Jahrhundert stand das französische Volk an der Spitze des geistigen Fortschritts; seine Gelehrten und Forscher wirkten nicht blos in formaler Hinsicht bahnbrechend für die Wissenschaft, sondern sie erweiterten auch den Umfang der letzteren und vertieften ihren Inhalt nach verschiedenen Eichtungen.

Deutschland wurde durch den unglückseligen Religionskrieg, welcher es 30 Jahre hindurch verwüstete, in seiner politischen und geistigen Entwickelung gehemmt und fand erst zwei Jahrhunderte später die sichere Ruhe zur vollen Bethätigung seiner Kraft.

Als das 16. Jahrhundert zu Ende ging, bestanden in den einzelnen Ländern bereits so viele Hochschulen und Bildungsanstalten, dass den vorhandenen Bedürfnissen im Allgemeinen Genüge geleistet wurde. In England bildeten die alten Universitäten zu Oxford und Cambridge den wichtigsten Mittelpunkt der höheren Studien. Frankreich centralisirte die Wissenschaften mehr und mehr in Paris. Holland erhielt neue Hochschulen zu Groningen (1614), Utrecht (1634) und Harderwyk(1648). In Italien entstanden Universitäten zu Parma, Cagliari, Mantua, Urbino, Piacenza, Sassari und Mailand, von denen einzelne ihre Entstehung wohl nur einer kleinlichen Eifersüchtelei dieser Städte und ihrer Beherrscher verdankten. Im J. 1608 wurde in Pampellona eine Universität errichtet, die jedoch ebenso unbekannt blieb, als die übrigen Hochschulen Spaniens. Auch die Anstalten dieser Art, welche im östlichen Europa gegründet wurden, wie diejenige zu Tymau in Ungarn, welche später nach Pest verlegt wurde, zu Klausenburg in Siebenbürgen und zu Kiew und Moskau traten nicht sonderlich hervor. Für Finnland wurde 1640 zu Abo eine Hochschule gestiftet, die 1828 nach Helsingfors kam, und Schweden erhielt 1668 eine zweite Universität zu Lund.

Unverhältnissmässig gross war die Zahl der Hochschulen, welche während dieser Periode in Deutschland entstanden. Zum Theil wurden

PüSCHMANN, Unterricht. 21

322 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit,

sie keineswegs durch das Bedürfaiss nach akademischer Bildung, sondern nur durch die Eitelkeit der kleinen Territorialherren hervorgerufen, welche in der Gründung einer Hochschule ein nicht zu kostspieliges Mittel sahen, um ihre Souverainetat zu documentiren und sich in Beden und Gedichten als Beschützer der Wissenschaften preisen zu lassen.

Als 1652 das Gymnasium zu Herbom in Nassau zur Universität erhoben wurde, kostete es dem Landesfürsten grosse Mühe, die für die Ertheilung der kaiserlichen Privilegien erforderliche Taxe von 4100 fl. zu schaffen. Die Stadt Einteln besass, als sie im J. 1621 zum Sitze einer Universität gemacht wurde, weder eine Apotheke noch einen Gast- hof.^ Die Theilung der hessischen Länder unter verschiedene Linien der Dynastie führte im J. 1607 zur Errichtung der Hochschule zu Giessen; doch war sie von 1625 1650 wieder mit ihrer benachbarten Schwester- Anstalt zu Marburg vereinigt.

Die Universität Strassburg ging aus dem dortigen akademischen Gymnasium hervor, an welchem ausser andern Facultätswissenschaften auch Medicin gelehrt wurde; sie erhielt 1566 und 1621 die kaiserliche Bestätigung. Im J. 1602 studierten dort 70 Theologen, 77 Juristen, 11 Mediciner und 145 Philosophen.* Später sank die Frequenz der Hochschule und betrug im Durchschnitt jährlich nicht viel mehr als 4 Studierende in sämmtlichen Facultäten; erst seit 1718 hob sie sich wieder, nachdem unter der französischen Herrschaft ruhige politische Zustände eingetreten waren. ^

In ähnlicher Weise entstand im J. 1622 die Universität Altdorf auf dem Gebiet der freien Reichsstadt Nürnberg. * Das Gymnasium zu Bremen glich ebenfalls einer Hochschule; im J. 1610 wurde dort auch eine Lehrkanzel der Heilkunde errichtet. Denselben Charakter trugen die höheren Lehranstalten zu Steinfiirt, welche für die Grafschaft Bent- heim-Tecklenburg, zu Neustadt an der Haardt, die für die Pfalz be- stinmit war, zu Hanau und zu Lingen. In Duisburg entstand 1655 und in Kiel 1665 eine Universität Die Hochschule zu Dorpat ver- dankte ihre Errichtung im J. 1632 dem Könige Gustav Adolf von Schweden; doch bestand sie nur wenige Jahrzehnte und erwachte erst 1802 wieder zu neuem Leben.

In den katholischen Staaten Deutschlands kam das höhere Unter-

^ A. Tholuck: Das akademische Leben des 17. Jahrhunderts, Halle 1854, Bd. I, Abth. 2, S. 96. 303.

Tholuck a. a. 0. I, 2, 122.

^ F. Wiegeb: Geschichte der Medicin in Strassburg, 1885, S. 71.

* G. A. Willis: Geschiebte und Beschreibung der Universität Altdorf, Alt- dorf 1795.

Die gelehrten Oesellsohaflen u. ühiversiiäten im 17. u. 18, Jahrhundert. 323

richtswesen allmalig vollständig in die Hände des Jesuiten-Ordens. Mehrere neue Anstalten, welche auf dessen Betreiben errichtet wurden, waren, auch wenn sie die Rechte einer Universität erhielten, eigentlich nur geistliche Seminarien. So entstand zu Molsheim im Elsass ein Jesuiten-Gymnasium, welches 1617 vom Pabst zur Universität erhoben, 1702 nach Strassburg verlegt und mit der dortigen Hochschule ver- einigt wurde. Gleichzeitig erhielt die Domschule zu Paderborn den Charakter einer Universität; ebenso geschah dies mit der Domschule zu Osnabrück. Die 1647 zu Bamberg errichtete Akademie entwickelte sich allmalig ebenfalls zu einer vollständigen Universität. Im J. 1734 wurde auch das Jesuiten-Gymnasium zu Fulda zur Universität erhoben, während die Domschule zu Münster erst 1780 dieses Ziel erreichte.

Dazu kamen eine Anzahl von Hochschulen in den Ländern der habsburgischen Krone. In Salzburg errichteten gelehrte Benediktiner eine höhere Unterrichtsanstalt, welche der Pabst im J. 1623 zur Univer- sität erhob. Die gleiche Ehre widerfuhr 1673 dem Jesuiten-Gymnasium zu Innsbruck. Auch das Jesuiten-CoUegium zu Breslau entwickelte sich nach und nach zur Universität und wurde 1702 als solche anerkannt. Die Anstalt zu Brunn erhielt erst 1779 die Privilegien einer Univer- sität, als die Olmützer Hochschule dorthin verlegt und mit ihr ver- einigt wurde. Aber schon nach wenigen Jahren verlor sie diesen Charakter wieder und wurde in ein Lyceum umgewandelt, welches später mit einer medicinisch-chirurgischen Lehranstalt verbunden wurde und in Olmütz seinen Sitz erhielt.^

Einen hervorragenden Einfluss auf die Entwickelung des wissen- schaftlichen Geistes erlangten die Universitäten Halle und Göttingen. Die erstere wurde 1 694 errichtet, nachdem das Erzstift Magdeburg mit den dazu gehörigen Landestheilen an Brandenburg gefallen war.

Schon der grosse Kurfürst hatte sich mit der Gründung einer Art von Akademie beschäftigt, welche einen Vereinigungspunkt aller wissens- werthen Dinge bilden, mit einem chemischen Laboratorium, physikalisch- technologischen Institut, zoologischen und botanischen Garten, Maschinen- hause, Museen u. a. m. ausgestattet und allen Lernbegierigen ohne Unter- schied der Nationalität und des religiösen Bekenntnisses zugänglich sein sollte. 2 Für die Ausführung eines solchen grossartigen, der ratio- nalistischen Denkweise des 18. Jahrhunderts vorauseilenden Planes war aber weder die Zeit reif, noch das erforderliche Geld vorhanden.

^ F. J. Bigbteb: Geschichte der Olmützer Universität, Olmütz 1841. ^ Ebman u. Regqlah: M^m. p. servir k Fhistoire des refugi^s francois, T. III, p. 293 u. ff., Berlin.

21*

324 Der medidnisohe Unterricht in der Neuzeit

Auch die Universität Halle war in ihren finanziellen Mitteln ziem- lich beschrankt; ihre Jahresdotation betrug bis 1786 nicht mehr als 7000 Thaler, womit die Besoldungen sämmtlicher Lehrer und überhaupt alle Ausgaben der Hochschule bestritten werden mussten. Vergeblich baten die Professoren, dass ihr die Präbenden der ehemaligen Dom- stifte von Magdeburg und Halberstadt überwiesen würden.^ Der Tüchtig- keit ihrer Lehrkräfte, unter denen sich die Juristen Strtk und Tho- MAsms, der Theologe Francke, der Philologe Cellaeius und die Mediciner Stahl und F. Hoffmann befanden, war es zu danken, dass die Universität Halle lange Zeit den ersten Platz unter den deutschen Hochschulen behauptete.

Sie trat erst zurück, als die hannoversche Regierung im J. 1734 in Göttingen eine Universität errichtete, für deren Unterhalt die Summe von 16 000 Thalem jährlich bewilligt wurde. Bei der Besetzung der Professuren und der Ordnung der Studienverhältnisse waltete ein freier Geist, welcher den Forderungen der Zeit nach jeder Richtung gerecht zu werden bemüht war.

Den Naturwissenschaften wurde eine grössere Berücksichtigung zu Theil als an anderen Hochschulen. Werlhof, welcher beauftragt wurde, die Vorschläge für die Einrichtung der medicinischen Facultät zu er- statten, stellte in seinem Gutachten vom 16. Dezember 1733 den Antrag, Lehrkanzeln für Anatomie, Botanik, Chemie nebst Arzneimittellehre, sowie für medicinische Theorie und medicinische Praxis zu gründen, einen botanischen Garten und ein chemisches Laboratorium anzulegen, sowie ein Krankenhaus zu erbauen, welches für den Unterricht der Studierenden der Medicin benutzt werden sollte.^

Kleinere Universitäten entstanden im 18. Jahrhundert zu Erlangen (1743), zuBützow in Mecklenburg (1760), zu Stuttgart (1781), die aus der Karlsschule hervorging, und zu Bonn (l 784), welche sich aus einem Jesuiten-Gymnasium zur Hochschule erhob, aber als solche damals kaum ein Jahrzehnt bestand.

Deutschland besass somit bei einer Bevölkerung, welche kaum die Hälfte der heutigen betrug, ungefähr die doppelte Anzahl von Hoch- schulen, als gegenwärtig bestehen. Schon aus dieser Thatsache ergiebt sich, dass die damaligen Universitäten von den heutigen in manchen Beziehungen verschieden waren. Sie dienten nicht so ausschliesslich der Vorbereitung für einen speciellen Lebensberuf, wie jetzt, sondern in vielen Fällen nur zur Vervollständigung der Allgemeinbildung; sie

* J. Ch. Föbstbb: Geschichte der Universität Halle in ihrem ersten Jahr- hundert, Halle 1799.

E. F. Rösslek: Die Gründung der Universität Göttingen, Göttingen 1855.

Die gelehrten OeseUsohaften u. Universitäten im 17, u. 18. Jahrhwndert 325

begnügten sich ferner mit einer weit niedrigeren Frequenz von Stu- dierenden, da die Unterhaltungskosten auch viel geringer waren, als gegenwärtig.

In Wien studierten i. J. 1723 nur 25 Mediciner, in Göttingen in der Periode von 1767—78 jährlich 50 bis 80. Jena zählte 1768 17 und 1773 42 Studierende der Medicin; in Altdorf promovirten in der Zeit von 1623 1794 nicht mehr als 386 Mediciner. In Würzburg lagen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die medicinischen Studien gänzlich darnieder. Der russische Leibarzt M. A. Weikard erzählt in seiner Selbstbiographie (Berlin und Stettin 1784): „Als ich i. J. 1761 mit C. C. Siebold und Senpft in Würzburg Medicin zu studieren anfing, waren seit mehreren Jahren keine Zuhörer dagewesen, und hatten folglich auch keine CoUegien stattgefunden. Ein Jahr vorher hatten zwei angefangen, und später mehrte sich die Zahl auf neun. Die Lehrer, die nur 200 300 Gulden Gehalt hatten, betrachteten natürlich ihr Lehramt als eine Nebensache und waren auch entwöhnt vom Schulgeschäft, und mussten wir mehrmals beim Bector magnificus klagen, ehe wir sie sämmtlich dahin brachten, wieder CoUegien zu lesen. Sie mussten durch Ermahnungen und ernstliche Drohungen hierzu ge- zwungen werden. Dessen ungeachtet ging es damit äusserst sparsam zu; es war oft Vierteljahre lang Stillstand und doch bei alledem der Verlust nicht sonderlich."^

Stärker war der Besuch einiger ausländischer Hochschulen. Alex. MoNRo hatte während seiner 50jährigen Lehrthätigkeit in Edinburg 14 000 Schüler; die Zahl der dortigen Mediciner betrug in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchschnittlich 400. In Leiden gab es i. J. 1 709 gegen 300 Studenten. In Padua betrachtete man es als ein schlechtes Jahr, als 1613 nicht mehr als 1400 Studierende dort im- matricuürt waren. Pavia hatte 1782 unter 2000 Studenten 200 Me- diciner. ^

Die deutschen medicinischen Facultäten waren mangelhafter und dürftiger eingerichtet als diejenigen Hollands, Italiens und Frankreichs. Aus diesem Grunde begaben sich viele Studierende der Medicin aus Deutschland dorthin, um ihre fachmännische Ausbildung zu vervoll- ständigen. Namentlich genossen die Universitäten Leiden, Padua,^ Montpellier und Paris in dieser Hinsicht einen grossen Ruf und wurden gern besucht.

^ KöLLiKEB a. a. 0. S. 21.

* G. Fischer: Chirurgie vor 100 Jahren, Leipzig 1876, S. 77. ' S. das Namensverzeichniss der Studenten, welche dort immatriculirt waren, in Dell' universitä, di Padova, Padova 1841.

326 Der medidnisehe Unterricht in der Neuzeit.

Dazu kam, dass sich Frankreich allmälig zum Mittelpunkt der weltmännischen Bildung entwickelte, welche an den deutschen Univer- sitäten leider sehr vernachlässigt wurde. Im 16. Jahrhundert hatten die letzteren wohl ihrer Aufgabe entsprochen und jene Summe von Wissen geboten, welche damals als InbegriflF einer höheren Allgemein- bildung galt. Als aber die Vornehmen nicht mehr darnach trachteten, durch ihre Kenntniss der lateinischen oder griechischen Sprache zu glänzen, und die Entdeckungen und Fortschritte in den Naturwissen- schaften einen anderen Ideenkreis in den Vordergrund drängten, ge- nügte der Studienplan der deutschen Universitäten den Anforderungen nicht mehr, und man suchte im Auslande Das zu erwerben, was die Heimath nicht gewährte.^

Auf diese Weise entstand ein Zwiespalt zwischen der gelehrten und der weltmännischen Bildung, der sich zum Theil bis auf unsere Tage erhalten hat. Die Universitäten wehrten sich gegen die Aufnahme von neuen Bildungs-Elementen, und die auf den politischen, militäri- schen, künstlerischen, technischen und industriellen Gebieten hervor- ragenden Männer, welche durch den Aufenthalt im Auslande einen weiteren Gesichtskreis gewonnen hatten, spotteten über die Einseitigkeit der Stubengelehrten, die durch die Unbeholfenheit ihrer äusseren Er- scheinung manchmal eine klägliche ßolle spielten.

An den deutschen Universitäten jener Zeit herrschte ein wüstes, rohes Leben. „Auf unsern deutschen hohen Schulen nimmt man unter den Studierenden statt der Bücher nichts als Streitigkeiten, statt der Hefte Dolche, statt der Feder Degen und Federbüsche, statt gelehrter Unterhaltungen blutige Kämpfe, statt des fleissigen Arbeitens unauf- hörliches Saufen und Toben, statt der Studierzimmer und Bibliotheken Wirthshäuser und Hurenhäuser wahr", schreibt der Arzt Lotichius i. J. 1631.2 Der Pennalismus, d. L die durch das Herkommen zur fest- stehenden Einrichtung gewordene Sitte der älteren Studenten, die jün- geren zu tyrannisiren, führte zu entsetzlichen Ausschreitungen, zu Grausamkeiten und sogar zu Verbrechen. Auch gegen die Bürgerschaft erlaubten sich die Studenten manche Unverschämtheiten.^

Der Senat der Universität Leipzig sah sich 1625 veranlasst, den

^ Biedermann (Deutschland im 18. Jahrhundert, Leipzig 1858, II, 1, S. 18) schreibt: „Die Mehrzahl (der deutschen Universitäten) war zu Tummelplätzen orthodoxer Beschränktheit, pedantischer Buchstabengelehrsamkeit und schola- stischer Spitzfindigkeiten ausgeartet/^

' Oratio de fatalibus academiarum in Germania periculis in acad. Rintel. rec. 1631, p. 67 nach Meinebs: Gesch. d. hohen Schulen.

^ Tholuck a. a. 0. I, 1, 264 u. ff.

Die gelehrten Oesellsohaflen u. Universitäten im 17. u. 18, Jahrkundert, 327

dortigen Studierenden zu verbieten, „die Hochzeiten zu stören, die Gäste zu stossen, die Frauen und Jungfrauen durch obscöne Bemer- kungen zu beleidigen oder ihnen gar ein Bein zu stellen."^ In Jena lieferten die Studenten i. J. 1660 der Polizei eine wirkliche Schlacht, bei der mehrere todtgeschossen wurden. Ähnliche Excesse ereigneten sich auch in Ingolstadt Aber es war kein Wunder, wenn unter den Studenten derartige Dinge vorkamen; denn der Ton, welcher unter den dortigen Professoren herrschte, war manchmal auch nicht viel besser. Im J. 1663 wurde ein Professor vom ßector mit Carcer bestraft, weil er seinen Schwiegervater geprügelt hatte.* Die Universität Helmstädt wurde vom Landesherm ermahnt, bei Neubesetzungen der Lehrkanzeln keine „versoffenen Professoren" in Vorschlag zu bringen.^ Von der Universität Herbom berichtet Steubing: „Die ganze hohe Schule war nicht nur in Parteien getheilt, sondern obendrein ein Professor dem andern zuwider. Sie stichelten nicht nur, wo sie konnten, in ihren Vor- lesungen auf einander, sondern befehdeten sich auch vor der Regierung." * Derartige Verhältnisse existirten noch ein Jahrhundert später; als sich i. J. 1760 ein Professor beim Senat der Universität Ingolstadt beklagte, dass er von der medicinischen Facultät beleidigt worden sei, erklärte dieselbe, „dass sie den Kläger wegen seiner niederträchtigen Handlungen allerdings für einen schlechten Kerl halte, sich aber gerade nicht er- innere, ihn officiell so betitelt zu haben."*

Es war begreiflich, dass sich eine Reaktion gegen diese Verwil- derung der Sitten und Umgangsformen geltend machte. Die Universität Göttingen begann damit, indem sie ihren Studierenden höflichere Ma- nieren empfahl. Man nahm dabei das französische Wesen zum Muster, welches überall an den Fürstenhöfen Eingang gefunden hatte. Was die den Kreisen der Vornehmen angehörigen Studenten schätzen lern- ten, fand bald auch bei den übrigen Anklang. So entwickelte sich bei einem Theile der deutschen Studentenschaft das anerkennenswerthe Be- streben, das gesellige Leben durch gefallige Formen zu veredeln.

Die urwüchsige Derbheit, welche sich auf vielen, namentlich den kleineren Hochschulen breit machte, sah darauf mit Verachtung herab und bezeichnete es als „Petit-Maiterei" und unpatriotische Nachäffung fremdländischer Sitten. Auch ernste Historiker haben diese Auffassung getheilt und dabei zu wenig berücksichtigt, dass eine Reform nach dieser Richtung nothwendig war. Das deutsche Volk hat dem Um-

* Gebhardt in Zwiedikeck-Südenhorst's Zeitschr. 1887, IV, 955.

* Prantl a. a. 0. I, 500. 503. Tholuck a. a. 0. I, 1, 142.

* Tholuck a. a. 0. I, 1, 140. ' Praijtl a. a. 0. I, 606.

328 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit.

stände, dass es stets beflissen war, seine Mängel zu verbessern und von seinen Freunden wie von seinen Feinden zu lernen, ohne Zweifel sehr viel zu verdanken.

Im Beginn des 17. Jahrhunderts umfasste die allgemeine Vorbil- dung der Studenten hauptsächlich die lateinische, griechische und hebräische Sprache, Kechnen nebst etwas Mathematik, Kirchengeschichte und die Lektüre alter Autoren, welche zur Mittheilung historischer, geographischer und naturwissenschaftlicher Bemerkungen Gelegenheit bot. AUmälig aber wurde den letzteren ein grösserer Spielraum ge- währt

Schon am Schluss dieses Jahrhunderts erschienen die französische und englische, manchmal auch die italienische oder spanische Sprache, die Geschichte, Geographie, Physik und Naturwissenschaften neben dem Tanzen, Fechten und Reiten als systemisirte TJnterrichtsgegenstände im Studienplan der für die Söhne der Adeligen bestimmten Gymnasien. Man nannte diese Wissenschaften und Künste die „galanten", wie man ja auch in andern Beziehungen diesen Ausdruck für „ritterlich" oder „den vornehmen Ständen vorbehalten" zu gebrauchen pflegte.

Leibnitz, Seokendoefp, Thomasius und andere vorurtheilsfreie Männer verlangten mit Entschiedenheit, dass die Realien in den Lehr- plänen eine grössere Berücksichtigung erhielten. Aber noch weit mehr als diese wurde die Muttersprache an den deutschen IJnterrichtsanstalten vernachlässigt. In Pommern wurde den Lehrern an den Lateinschulen i. J. 1690 eingeschärft, sie möchten mit ihren Schülern stets lateinisch, niemals deutsch reden, weil das letztere leichtfertig, ärgerlich und schäd- lich sei.^ Der Pädagog Fbancke in Halle klagte i. J. 1709 darüber, dass es selten einen Studenten gebe, welcher einen deutschen Brief ohne orthographische Fehler zu schreiben im Stande sei. Auch auf diesem Gebiet war eine Reform dringend geboten.

Die Modemisirung der gelehrten Schulen begann im 18. Jahr- hundert und vollzog sich auf Kosten der Studien in den alten Spra- chen, welche im Lehrplan eine wohlthätige Beschränkung erfuhren. Einige verrannte Philologen jammerten zwar darüber und prophezeiten für Deutschland die Wiederkehr „der Barbarei des Mittelalters"; aber ihre Worte erfüllten sich nicht, wenn man nicht in dem Auftreten von liESsiNG und Klopstock einen Rückschritt der Cultur erblicken will, wie Paulsen witzig bemerkt ^

* Tholuck a. a. 0. I, 1, 173. Biedeemann a. a. 0. II, 1, 511. » Paulsen a. a. 0. S. 378.

Der mediein, Unterricht in den theoret, Fächern, soiüie in der Anatomie etc, 329

Der medicinische Unterricht in den theoretischen Fächern, sowie in der Anatomie, Botanik, Chemie

und Arzneimittellehre.

In der Organisation des Unterrichts und im Lehrbetrieb der Uni- versitäten änderte sich während des 1 7. Jahrhunderts nur wenig. Selbst bei den medicinischen Facultäten bildeten die theoretischen Vorlesungen die Hauptsache, wenn auch die Bedeutung der praktischen Demonstra- tionen mehr als früher anerkannt wurde.

In einem Lektionskatalog der Universität Würzburg v. J. 1604 werden folgende Vorlesungen von der medicinischen Facultät angekün- digt: 1) Hebm. Bibkman liest über die drei prognostischen Schriften des HippoKBATES. 2) JoH. Stengel bespricht die Krankheiten der Brust und einiger anderer Organe. 3) Geobg Leyeb trägt über die Unterschiede und die Ursachen der Krankheiten und ihrer Erschei- nungen nach Galen vor.^ Die Professoren behandelten ihre Lehr- aufgaben mehr nach der literargeschichtlichen Methode der Scholastik, als im Sinne des induktiven Empirismus der Neuzeit.

Eine strenge Scheidung der Lehrkanzeln nach den verschiedenen Disciplinen kam erst im 18. Jahrhundert allmälig zu Stande. Sie wurde nothwendig, als die Entwickelung des praktischen Unterrichts in der Medicin eine Summe von Specialkenntnissen in einzelnen Dis- ciplinen verlangte. Während vorher die Professoren ohne Schaden für den Unterricht ihre Lehrkanzeln wechseln durften, da der Zustand der Wissenschaft eine gleichmäßsige Ausbildung in derselben gestattete, blieben sie von jetzt ab auf ein bestimmtes Fach beschränkt, damit sie sich auf diesem Gebiete zum Meister entwickeln konnten. Doch brachte es die durch die niedrigen wissenschaftlichen Anforderungen ermöglichte und durch die ärmliche finanzielle Lage der Universitäten gebotene geringe Anzahl von systemisirten Lehrkanzeln mit sich, dass von dem- selben Lehrer fast überall mehrere Disciplinen gleichzeitig vertreten wurden. So war an den meisten Hochschulen das Lehramt der Botanik und Chemie mit dem der Arzneimittellehre, dasjenige der Anatomie mit dem der Chirurgie, dasjenige der Physiologie mit dem der Ana- tomie oder allgemeinen Pathologie vereinigt.

Es kam sogar vor, dass Professoren einer andern Facultät, z. B. der philosophischen, Vorlesungen über einzelne Theile der Heilkunde

* F. V. Weqele: Geschichte der Universität Würzburg, Würzburg 1885, II, 226.

330 Der medidnische Unterrieht in der N&uxeü.

hielten, wie es sich auch andererseits nicht selten ereignete, dass Medi- ciner ihre Lehrthätigkeit auf Wissenschaften ausdehnten, die ihrem Berufe fem lagen.

H. CoNRiNG in Helmstädt lehrte nicht blos Medicin, sondern auch Philosophie und Politik und wurde „der Begründer der deutschen Eechtsgeschichte", wie 0. Stobbe sagt. Meibom las neben der Medicin noch über Geschichte und Dichtkunst, und Jon. Heine. Schulze hatte in Altdorf neben seiner medicinischen Professur den Lehrstuhl für giiechische Sprache und in Halle, wohin er später übersiedelte, denjenigen der Beredsamkeit und Archäologie inne.

Die damaligen Universitäten waren in dieser Hinsicht unsern heutigen Gymnasien ähnlich, an denen ja auch bisweilen ein Mathe- matiker einen Theil der Unterrichtsstunden des Philologen übernimmt oder umgekehrt. Es wurde in jener Zeit vom akademischen Lehrer nicht verlangt, dass er die Wissenschaft, welche er vortrug, durch eigene Arbeiten gefördert habe. Protektionen, Vetterschaften, persönliche Vor- züge und allerlei Zufälligkeiten waren oft die Ursachen, welche die Verleihung einer Professur bewirkten.

Übrigens waren die damit verbundenen Besoldungen manchmal so gering, dass sich kaum Bewerber darum fanden. An kleinen Hoch- schulen musste man zufrieden sein, wenn einer der dortigen Ärzte sich bereit erklärte, eine Lehrkanzel der medicinischen Facultät zu über- nehmen, die er dann vielleicht verliess, wenn sich ihm die Aussicht auf eine einträgliche Praxis in einer grösseren Stadt darbot

An den deutschen Universitäten war es üblich, dass der Lehrer seinen Vorlesungen eine Schrift oder ein Lehrbuch, welches den Gegen- stand behandelte, zu Grunde legte. An den Inhalt desselben pflegte er seine eigenen Bemerkungen anzuschliessen.

Die lateinische Sprache, welche dabei gebraucht werden musste, war nicht geeignet, ein allseitiges tiefes Verständniss der Sache zu er- möglichen; sie verleitete zu Missverständnissen und gewöhnte an hohle Redensarten, hinter denen sich die anspruchsvolle Oberflächlichkeit zu verbergen suchte. Es lässt sich leicht ennessen, dass diese Zustände für die Ausbildung des Arztes die übelsten Folgen haben mussten.

Freie Vorträge wurden, wenigstens an deutschen Universitäten, selten gehalten; denn sie setzten voraus, dass der Lehrer sowohl sein Fach gründlich beherrschte, als auch eine ausserordentliche Gewandt- heit im Gebrauche der lateinischen Sprache besass.

Erst im 19. Jahrhundert gelang es, diese das Lehren und Lernen ohne Noth erschwerende Sitte abzuschafl'en. Niemals kann die Schuld für den Schaden, der dadurch den Studierenden und den Kranken, der

Der medidn, Unterrickt in den theoret Fächern^ sowie in der Anatomie etc, 33 1

medicinischen Wissenschaft, wie der deutschen Culturentwickelung zu- gefügt wurde, gesühnt werden.

Der praktische Unterricht in der Medicin lag, wie erwähnt, An- fangs ausserhalb des Studienplanes der UniTersitaten. Er wurde nur allmälig in denselben aufgenommen; am frühesten geschah dies mit der Anatomie, am spätesten mit der klinischen Unterweisung am Krankenbett.

Die Fortschritte, welche der anatomische Unterricht in dieser Periode machte, bestanden in der Vermehrung des Studien-Materials, der vollständigeren Ausnutzung desselben, der Gründung anatomischer Sammlungen, der Errichtung von besonderen Professuren und Instituten für dieses Fach und in der Theilnahme der Studierenden an den Zer- gliederungen.

Der Mangel an menschlichen Leichen nöthigte freilich dazu, dass häufig in der früher üblichen Weise thierische Körper zu anatomischen Studien verwendet wurden; doch geschah dies jetzt mit grösserem Nutzen für die anatomische Ausbildung und führte zur Beobachtung mancher werthvoUen zootomischen und vergleichend - anatonüscheu Thatsache.

Wenn die Zahl der menschlichen Leichen, welche den anatomischen Lehranstalten zur Verfügung standen, klein war, so muss man bedenken, dass auch nicht viele Studierende vorhanden waren, so dass der Ein- zelne Alles deutlich sehen und beobachten konnte. Doch wurden dem anatomischen Unterricht durch die Nachlässigkeit, mit welcher die Be- hörden die Lieferung des erforderlichen Leichenmaterials betrieben, durch die ermüdenden Weitläufigkeiten und zeitraubenden, von unverständigen Bureaukraten ersonnenen Schreibereien, die damit verbunden waren, ^ und vor Allem durch die unter dem Volke herrschenden Vorurtheile viele Schwierigkeiten bereitet.

In den Kreisen der Vornehmen Hessen dieselben allerdings nach; sie machten hier einer wissenschaftlichen Neugier Platz, welcher bis- weilen eine Haut-göut-artige Sinnlichkeit nicht fehlte. Die Leichen- Sektionen erschienen als piquante Schauspiele, zu denen sich die Zu- schauer drängten; den Höhepunkt der dramatischen Situation bezeichnete die Demonstration der sexuellen Organe, für welche ein erhöhtes Ein- trittsgeld gefordert wurde. Als der regierende Herzog von Würtem- berg im J. 1604 den Besuch von drei sächsischen Prinzen empfing, führte er sie, um ihnen eine Unterhaltung zu verschaffen, nach Tübingen, wo sie der Zergliederung einer menschlichen Leiche beiwohnten, welche

^ Pjrantl a. a. O. I, 496.

332 Der medicmische Unterricht in der Neuzeit.

acht Tage dauerte.^ Der Anatom Webnbr Rolfink in Jena wurde an den Hof nach Weimar beschieden, wo er in Gegenwart von Fürsten und vornehmen Herren eine Sektion ausführen musste; sie bildete gleichsam einen Theil der Vergnügungen, welche der Herzog seinen Gästen bot^ In Frankreich wurde das wissenschaftliche Interesse Modesache; selbst hochstehende Damen scheuten sich nicht. Gefallen an anatomischen Demonstrationen zu finden.

Anders dachte das Volk darüber. Hier erhielt sich der fromme Aberglaube, welcher in der anatomischen Zergliederung des mensch- lichen Körpers ein Verbrechen sah, das an ihm ausgeübt wurde. Dazu kam das aus alten Zeiten stammende MährchenJ, dass die Anatomen, wenn sie keine Leichen zur Verfügung haben, auch lebende Menschen zu ihren Untersuchungen verwendeten. Die dadurch erzeugte Er- bitterung wurde noch gesteigert durch die illegale Art, in welcher viele Leichen in den Besitz der anatomischen Anstalten gelangten.

In Jena erbaten sich Verbrecher, welche zum Tode verurtheilt waren, bevor sie dem Henker übergeben wurden, die Gnade aus, dass ihre Körper nicht dem Professor Eolfink überliefert würden, und die Bauern in der Umgegend von Jena Hessen die Gräber ihrer An- gehörigen bewachen, damit deren Leichen nicht „gerolfinkt" würden. J. Becher musste 1661 aus Würzburg fliehen, weil er den Leichnam eines hingerichteten Weibes zergliedert hatte. ^ In Berlin und Lyon wurden die anatomischen Anstalten von dem aufgeregten Volk gestürmt und die Anatomen gemisshandelt;* aus dem gleichen Grunde wurde auch die Anatomie zu Edinburg im J. 1725 vom Pöbel zerstört.^ Noch heut ist dieses Vorurtheil nicht gänzlich verschwunden. Vor wenigen Jahren richteten die Pfründner der Stadt Wien an den dortigen Magistrat die Bitte, dass ihre Leichen nicht der Anatomie übergeben würden.

Glücklicher Weise war man nicht überall so engherzig. Vieussens hatte in Montpellier Gelegenheit, über 500 Leichen zu zergliedern. Lieutaud konnte sich auf 1200 Sektionsberichte stützen. HAiiLEß er- zählt, dass er während seiner Lehrthätigkeit in Göttingen (1736 1753) ungefähr 350 Sektionen ausgeführt habe; die unter seiner Leitung

^ J. SixiNGER: Über die Entwickelung des medicin. Unterrichts an der Tübinger Hochschule, 1883.

^ G. W. Wedel: Oratio funebr. ßolfincio dicta, Jena 1675.

^ KöLLiKEB a. a. 0. S. 11.

* J. P. Frank: System der medicinischen Polizei, Wien 1817, VI, 2, S. 60 Anm.

^ A. Grant: The story of the university of Edinburgh, London 1884.

Der medidn. Unterrieht in den theoret Fächern, sowie in der Anatomie etc, 333

stehende dortige Anatomie erhielt jährlich 30 40 Leichen.^ Ebenso günstig stand es in Strassburg; im Winter d. J. 1725 wurden in der dortigen Anatomie 30, 1760 sogar 60 Leichen zergliedert. ^ In Paris, Leyden und an einigen italienischen Hochschulen war man so viel als möglich bemüht, die anatomischen Lehranstalten mit dem nothwendigen Studien-Material zu versorgen. Albertini in Bologna erzählte, dass man ihm selbst in wohlhabenden Familien bereitwillig die Erlaubniss zur Sektion ertheilt habe, wenn es sich darum handelte, die Ursache einer Krankheit zu ergründen.

An andern Orten hatte die Vernachlässigung der anatomischen Demonstrationen nicht so sehr in dem Mangel an Leichen, als in der Bequemlichkeit und dem Unverstand der Professoren ihren Grund. In Prag wurden in einem Zeitraum von 22 Jahren (1690 1712) nur drei Zergliederungen vorgenommen.^ Iq Wien fand während des Jahres 1741 nicht ein einziger Actus anatomicus statt; als der Professor dieses Faches von der Regierung deshalb getadelt wurde, brachte er unter Anderem zu seiner Entschuldigung vor, dass er keinen Prosector zur Unter- stützung gehabt habe.^ Die medicinische Facultät zu Ingolstadt be- antragte im J. 1753 sogar, die Professur der Anatomie gänzlich auf- zuheben, da es am besten sei, diese Wissenschaft erst nach der Ab- solvirung der medicinischen Studien während der ärztlichen Praxis zu erlernen. ^

Doch traf man im 18. Jahrhundert in den meisten deutschen Staaten Einrichtungen, um dem beständigen Leichen-Mangel, an welchem die anatomischen Lehranstalten litten, abzuhelfen. Im J. 1716 verord- nete die kurfürstlich sächsische Regierung, dass die Leichen aller zum Tode verurtheilten Verbrecher des Leipziger Kreises auf Verlangen der dortigen medicinischen Facultät ohne Weiteres der Anatomie übergeben würden. Desgleichen wurde auch für die Bedürfnisse der Anatomie zu Wittenberg Sorge getragen. Im J. 1723 wurde bestimmt, dass auch Leichen von ertrunkenen und todt gefundenen Personen, insofern es sich nicht um „honoratiores" handelte, sowie von Selbstmördern und Sträflingen, die in den Gefängnissen starben, zu anatomischen Zwecken verwendet werden sollten; femer wurde verfügt, dass die armen Leute, welche in den Krankenhäusern auf öffentliche Kosten verpflegt wurden, wenn sie dort starben, und ihre Angehörigen die Begräbnisskosten nicht erschwingen konnten, den medicinischen Facultäten überliefert wurden,

* A. Valentin in der Denkschrift über A. v. Haller, Bern 1877, S. 72.

* WiEGEE a. a. 0. S. 82.

* Hyrtl: Geschichte der Anatomie in Prag, 1841, S. 26.

* KosAs a. a. 0. II, 256. " Prantl a. a. 0. I, 607.

334 Der medidnische ühterricht in der Neuzeit.

Jedoch nur zur blossen Sektion und Demonstrirung der Viseerum, nicht aber zur völligen Anatomirung".^

Die preussische Regierung erliess ebenfalls geeignete Verordnungen, damit das zum anatomischen Studium erforderliche Material nicht fehle. Die Anatomie zu Göttingen erhielt die Leichen der Prostituirten und der unehelichen Kinder. In Wien mussten seit 1749 die Hospitaler, wenn keine Hinrichtungen stattfanden, die Leichen für die anatomischen Untersuchungen und Demonstrationen liefern.^ M. Stoll erwartete eine erhebliche Vermehrung des Studien-Materials, wenn auch die Leichen von Bankerottierem diesem Zweck überwiesen würden. Die Anatomie zu Abo in Finnland durfte sogar die Leichen aller Derjenigen, welche eine Unterstützung vom Staat genossen, in Anspruch nehmen.

In dieser Periode begann man auch besondere Gebäude für die Anatomie zu errichten. Hazon hat eine Beschreibung des anatomischen Amphitheaters hinterlassen, welches im J. 1604 zu Paris erbaut wurde. Die Herstellung desselben geschah binnen 14 Tagen; es war sehr klein und durchaus nicht solid. Schon nach kurzer Zeit wurde an seiner Stelle ein grösseres und zweckmässigeres Gebäude errichtet, welches indessen auch recht schlecht war. Es hatte z. B. keine Fenster, sondern nur Luftlöcher, wie Hazon erzählt, der darin als Student im J. 1730 Vorlesungen hörte, und war daher der Kälte und dem Winde zugänglich.

Auf WiNSLOws Veranlassung und unter seiner Leitung erhielt die Pariser Anatomie im J. 1744 ein Gebäude aus Quadersteinen, welches mit Glasfenstern versehen war. Die anatomische Lehranstalt zu Leiden war mit Skeletten von Menschen und Thieren verschiedener Arten aus- gestattet und geräumig eingerichtet.* Die Chirurgenzunft in Edinburg gründete 1697 ein anatomisches Theater, in welchem Demonstrationen stattfanden, und schuf 1705 eine Professur der Anatomie.

In Würzburg wurde im J. 1724 ein anatomisches Theater er- richtet; es war ein Kuppelbau mit Oberlicht, hatte fliessendes Wasser und kostete 10 000 fl. Im Parnassus boicus (München 1725, p. 310) wird darüber berichtet: „Zur Aufiiamb des Studii anatomici und chirurgici spahret man keine Kosten, und ist ein berühmter Chirurgus auß Paris, Monsieur Sivert, unter einer starken Besoldung (nämlich 400 Reichs- thaler) dahin beruflfen worden, umb die chirurgischen Griff geschickt zu zeigen und die Anatomie oder Zergliederung deß menschlichen Leibs

* J. P. Frank a. a. O. VI, 2, S. 73 u. ff.

' J. D. John: Lexikon der k. k. Medicinalgesetze, Prag 1798, VI, 712 u. ff. ^ Alb. Ktpeb: Medicinam rite discendi et exercendi methodus, Lugd. Batav. 1643, p. 112.

Der medidn, Unterrioht in den theoret. Fä/ihem, sowie in der Anatomie eto. 335

zu lehren, worzu ihm aus dem prächtigen Spitall die Körper angeschafft werden: wie er denn unlängst an einer in ßaserey verstorbenen Frauen- Person ein Probstuck abgelegt." Im J. 1788 wurde die anatomische Anstalt zu Würzburg erweitert, indem an das Amphitheater zwei Säle, in denen die anatomische Sammlung untergebracht wurde, ein Saal für die Präparir-Übungen der Studierenden, ein Zimmer, in welchem der Professor arbeitete, und eine Küche angebaut wurden.^

Die Universität Breslau wurde 1745, und diejenige zu Königsberg 1738 mit einem anatomischen Theater ausgestattet; das letztere ver- dankte seine Existenz dem damaligen Professor der Anatomie, der es auf seine eigenen Kosten erbauen liess.^ Das anatomische Theater zu Paviä fasste 400 Zuschauer, war sehr hell und mit den Bildnissen der berühmtesten Anatomen geschmückt. In dem daran stossenden Saale, welcher mit breiten Steinplatten belegt, mit einem Herde, mit grossen Kesseln und beständig fliessendem reinen Wasser versehen war, fanden die Secir-tFbungen der Studenten statt. ^

Derartige Anstalten wurden auch in Städten, welche keine Uni- versität besassen, wie in Berlin, Bremen, Frankfurt a. M., Nürnberg u. a. 0. errichtet und den dortigen Ärzten und Chirurgen zum Gebrauch über- geben. An manchen Orten wurde ein Schuppen oder ein anderes Lokal, welches nicht benutzt wurde, für die anatomischen Sektionen und Demon- strationen verwendet.

Ausser den anatomischen Instituten entstanden auch anatomische Museen, welche bald als werthvoUes Lehrmittel beim medicinischen Unterricht erkannt wurden. F. Rutsch legte eine Sammlung ana- tomischer Präparate an, welche er im J. 1717 um den enormen Preis von 30 000 fl. an Peter den Grossen verkaufte. Binnen zehn Jahren gelang es ihm, eine neue Sammlung herzustellen, welche zum grössten Theile vom polnischen Könige Johann Sobieski erworben wurde, der dafür 20 000 fl. bezahlte.

John Huntbes berühmtes Museum enthielt 14000 anatomische Präparate; es wurde nach seinem Tode von der englischen Regierung für 15 000 Pfd. Sterhng angekauft und dem R. College of Surgeons zum Geschenk gemacht, wo es sich noch heut befindet. Grossen Euf ge- nossen auch J. N. Liebebkühn's Injektions-Präparate, sowie J. G. Waltee's anatomische Sammlung, die Frucht einer angestrengten Arbeit von 54 Jahren; sie bestand aus 2868 Nummern, wurde im J. 1803 von der

* KöLLiKER a. a. 0. S. 25. 75. 78.

D. H. Abnoldt a. a. 0. Frank a. a. 0. VI^ 2, S. 88.

» J. P. Pbank a. a. 0. VI, 1, S. 327.

336 Der rnedidnisehe Unterrieht in der Neuzeit.

preussischen Regierung für 100000 Thaler erworben und bildete den Grundstock des anatomisch-zootomischen Museums der Berliner Hoch- schule.

Auch wurden von geübten Künstlern Nachbildungen anatomischer Präparate in Wachs angefertigt, welche zum medicinischen Unterricht dienten. Einzelne Italiener erreichten in den Modellir-Arbeiten dieser Art eine bewunderungswürdige Geschicklichkeit. Der Kaiser Josef II. liess eine berühmte Sammlung von Wachs-Präparaten, welche in Florenz unter Fontana's Leitung hergestellt worden war, für 30 000 fl. an- kaufen, nach Wien bringen und als Lehrmittel der militarärztlichen Akademie übergeben. Übrigens machte schon P. Fbank darauf auf- merksam, dass diese Wachs-Nachbildungen sich nicht so sehr für den anatomischen Unterricht der Studierenden der Medicin eignen, als sie zu empfehlen sind, wenn es gilt, Laien, welche einen unüberwindlichen Abscheu vor Leichen haben, eine allgemeine oberflächliche Kenntniss des menschlichen Körpers und seiner verschiedenen Theile zu ver- schaffen.

Ein wichtiges Lehrmittel für den anatomischen Unterricht bildeten femer die anatomischen Tafeln und Zeichnungen, welche theils selbst- ständig erschienen, theils den Lehrbüchern der Anatomie beigegeben wurden. Jon. Remmelin nahm die schon früher geübte Methode wieder auf, durch aufgeklebte und hinwegzuschlagende Bilder die Lage- rung der Muskelschichten und Eingeweide kenntlich zu machen;^ in derselben Weise verfuhr Clopton Havebs.

Vortreffliche anatomische Tafeln, namentlich über die Vertheilung der Nerven, verdankt man dem Maler Pietro da Cortona; die Titel- vignette der Ausgabe von 1741 stellt die Blut-Transfasion dar. Gebabd DE Laibesse lieferte die Zeichnungen für das anatomische Lehrbuch des G. BiDLOO. Vorzugsweise für Künstler berechnet waren das ana- tomische Werk von B. Genga mit den Zeichnungen Ch. Ebbabds, die Anatomia dei pittori des Cablo Cesio, welche auch in deutscher Über- setzung erschien, ferner das vom spanischen Anatomen und Maler Mabtinez entworfene Bild der Muskeln des Körpers, welches sich durch seine tadellosen Proportionen auszeichnet, die Tafeln von Eboole Lelli u. a. m. Auch die Kupfer, welche die anatomischen Schriften von W. Cheselden und Dom. Santobini zierten, ragten durch ihren hohen künstlerischen Werth hervor; die letzteren wurden von Mobgagni für Musterbilder erklärt.

Ein weiterer Fortschritt bestand in der Einführung colorirter Zeich-

* Choulant: Geschichte der anat. Abbildung, Leipzig 1852, S. 39. 82 u. ff.

Der medidn, Unterricht in den theoret. Fächern, sowie in der Anatomie etc, 33 7

nungen für anatomische Darstellungen; dadurch konnten die Arterien, Venen, Nerven und die einzelnen Organe schärfer unterschieden werden. Zum ersten Male kam dies in den Holzschnitten zur Anwendung, mit welchen C. Aselli seine Arbeit über die Chylus-Gefasse ausstattete. Im Beginn des 18. Jahrhunderts machte der Miniatur-Maler J. Chb. LE BiiON die ersten Versuche in gefärbter Schabkunst; 1721 veröffent- lichte er das erste anatomische Blatt, das nach diesem Verfahren her- gestellt worden war. Aber in weiteren Kreisen bekannt und für die anatomischen Darstellungen verwerthet wurde die neue Erfindung des Buntkupferdrucks erst durch Jan Ladmibal, welcher mehrere Ab- handlungen der Anatomen B. S. älbinus und F. Rutsch mit der- artigen Abbildungen versah, sowie durch J. F. Gautiee d'Agoty der dabei hauptsächlich anatomische Präparate Duveeney's als Vorlage benutzte.

Albinüs hinterliess eine ausführliche Beschreibung der Herstellung anatomischer Zeichnungen und gab dabei beachtenswerthe Rathschläge, welche Fehler zu vermeiden und welche Regeln zu berücksichtigen sind. ^ Er verwendete, wie er selbst erzählt, die Summe von 24 000 Gul- den aus seinem eigenen Vermögen auf die Anfertigung anatomischer Tafeln.^ Als Zeichner stand ihm Jan Wandelaeb zur Seite. Auch Halleb, welcher eine Sammlung anatomischer Abbildungen veranstal- tete, und W. Huntee, dem man die beste Darstellung des schwangeren Uterus verdankte, wurden von tüchtigen Künstlern unterstützt. End- lich gab PiETEB Campee, welcher den Zeichenstift ebenso geschickt zu führen verstand als das Secirmesser, werth volle Aufschlüsse über die mathematische Conformation des Kopfes und machte auf die Bedeutung des nach ihm genannten Gesichtswinkels für die Beurtheilung der geistigen Begabung der Menschen aufmerksam.

Über die Art, in welcher der anatomische Unterricht ertheilt wurde, erhalten wir durch mehrere Bilder der niederländischen Schule, auf denen hervorragende Ärzte jener Zeit dargestellt werden, wie sie, umgeben von ihren Schülern oder befreundeten CoUegen, über ana- tomische oder chirurgische Fragen Vorträge halten, eine klare An- schauung.

Rembeandt's berühmtes Gemälde: „Die anatomische Vorlesung", welches zu den bedeutendsten Schöpfungen dieses grossen Meisters ge- hört, zeigt den Amsterdamer Anatomen Nie. Tulp, der damals zugleich

* B. S. Albinüs: Acad. annotat., Lugd. Bat. 1754, lib. I, Praef. p. 7 u. ff., lib. VIII, p. 30. 50.

* Albinüs a. a. 0. lib. III, p. 73.

PuscHMANN, Unterricht. 22

338 Der mediainische Unterricht in der Neuzeit,

die Würde des Bürgenneisters bekleidete, in dem Augenblick, da er seinen ärztlichen Collegen eine Leiche demonstrirt; das Bild befindet sich gegenwärtig in der königlichen Gallerie im Haag und ist durch den Kupferstich sehr bekannt geworden. Auf einem anderen Bilde hat Bembeandt den Dr. Deymann, den Nachfolger Tunp's im Lehramt, dargestellt, wie er nach Entfernung des Schädeldaches ein Gehirn präparirt.

Ähnliche Gemälde werden in Amsterdam und anderen Orten Hollands aufbewahrt; es befinden sich darunter Werke von Aabt

PlETERSEN, Th. DE KeYSEB, MiCH. MiBEWELL, ADBIAN BaKEB, CoBN.

Tboost und T. Regtebs. Sie waren grösstentheils für die Chirurgen- Gilde in Amsterdam bestimmt. ^ Sie bilden wichtige Documente sowohl für die Geschichte des medicinischen Unterrichts als für die sociale Stellung, welche die Ärzte zu jener Zeit in den Niederlanden einnahmen.

Der anatomische Unterricht beschränkte sich nicht mehr, wie in früheren Zeiten, auf die Demonstration der Organe der grossen Körper- höhlen, sondern unterzog auch die Muskeln, Gefösse und Nerven einer eingehenden Betrachtung.

Auch wurden die Studierenden veranlasst, selbst an den anatomi- schen Arbeiten Theil zu nehmen. Halles hatte als Student in Leyden Gelegenheit, unter der Leitung seines Lehrers Albinus drei Leichen zu seciren.* Am College de St. Cöme zu Paris wurden i. J. 1750 ana- tomische Secirübungen für die Studierenden eingerichtet' In Wien führte der geistreiche Josef Babth die Präparir-tTbungen für die Stu- dierenden ein. Stoll und P. Fbank entwickelten die Nothwendigkeit, dass sich die künftigen Ärzte an den Zergliederungen selbst bethei- ligten. *

An den meisten Universitäten fiel dem Anatomen zugleich die Aufgabe zu, die pathologischen Veränderungen an der Leiche zu demon- striren und zu erklären. Weblhof forderte dies ausdrücklich in seinem Gutachten über die Einrichtung der medicinischen Pacultät in Göttingen. Es geht dies auch aus der Thatsache hervor, dass die bedeutenden Anatomen jener Periode, wie Lancisi, Valsalva, Mobgagni, Lieutaud, PoBTAL, Sandepobt, J. Hunteb, Halleb u. A. zugleich die Grund- lagen der pathologischen Anatomie gezeichnet haben.

* J. B. TiLANUs: Beschrijving der Schilderijen afkomstig van het Chirur- gijnsgild te Amsterdam, Amsterdam 1865. P. Triaire: Les le^ons d'anatomie et les peintres Hollandais, Paris 1887.

* Valentin a. a. 0. S. 68.

» P. Frank a. a. 0. VI, 2. Abth., S. 331, Anm.

* Frank a. a. 0. VI, 2, S. 87.

Der medidn, Unterricht in den theoret. Fächern, sotvie in der Anatomie etc. 339

Man begann auch schon Sammlangen pathologisch -anatomischer Präparate anzulegen. Bereits im 17. Jahrhundert bewahrte G. Riva in Rom eine Anzahl derselben auf, die er als Hospitalarzt gewonnen hatte. Später geschah dies häufiger. SöMMEBixa besass eine reichhaltige pathologisch-anatomische Sammlung, welche auf Bbambilla's Veran- lassung um den Preis von 400 Dukaten für das Josefinum in Wien erworben wurde. ^

Zum Unterricht in der Heilmittellehre boten die botanischen Gär- ten, in denen die Arzneipflanzen gezogen wurden, und die Apotheken Gelegenheit Der Jardin des plantes zu Paris wurde i. J. 1626 auf Betreiben des königl. Leibarztes Labbosse angelegt. Gleichzeitig be- stimmte ein Dekret des Königs Ludwig XIII., dass „in Anbetracht, dass an den medicinischen Schalen die pharmaceutischen Operationen nicht gelehrt werden, drei Doktoren aus der Pariser Facultät ausgewählt würden, welche den Schulern das Innere der Pflanzen und aller Medi- camente demonstriren und die Bereitung jeder Art von Arzneien auf einfachem und chemischem Wege zeigen sollten, und dass in einem Zimmer Proben sämmtlicher Arzneien und allerlei seltener Naturgegen- stände aufgestellt würden." ^ Für die Erhaltung dieser Anstalt wurde eine jährliche Summe von 21 000 Livres angewiesen. Naturforscher wie TouENEFOET, die beiden Jussiext, Dufat, Daubenton und vor Allen BüFFON, welche hier thätig waren, machten den botanischen Garten zu Paris zu einer europäischen Berühmtheit.

Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts wurden die meisten Universitäten mit botanischen Gärten ausgestattet Durch seinen Reich- thum an offlcinellen Pflanzen zeichnete sich besonders derjenige zu Chelsea (London) aus, welchen Sir Hans Sloane L J. 1686 der Lon- doner Apotheker-Genossenschaft schenkte.

Botanische Gärten entstanden femer zu Amsterdam, Utrecht, Kopen- hagen und Upsala in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in Oxford (1632), Edinburg (1680), Cambridge (1702), Harderwyk (1709) und Petersburg (1725). In Deutschland wurden die Hochschulen zu Giessen (1609), Altdorf (1626), Jena (1629), Helmstädt (1634), Kiel (1669), Halle, Tübingen (1675), Würzburg (1695), Wittenberg (1711), Ingol- stadt (1723), Göttingen (1737), Prankfurt a. 0. (1744), Wien (1749), Greifswald (1765), Prag (1776), Salzburg, Marburg und Rostock mit botanischen Gärten verbunden.

^ BuD. Waoneb: Soemmerings Leben, Leipzig 1844, II, 89. ' EflQuraos und Weil: Die wissenschaftlichen Institute zu Paris, Stuttgart 1850, I, S. 28.

22*

340 Der medioinische ühterrieht in der Neuzeit,

Auch dienten dem botanischen Unterricht die Sammlungen ge- trockneter Pflanzen, sowie die botanischen Bilder- Atlanten, von denen manche durch ihre Naturtreue überraschen. ^ Zu dem gleichen Zweck unternahmen die Studierenden mit ihrem Lehrer gemeinsame botanische Ausflüge, welche Herbationen genannt wurden.

Ebenso wie beim botanischen Unterricht wurden auch beim chemi- schen vorzugsweise die Interessen der Pharmakologie und Pharmacie berücksichtigt Es gab in jener Zeit bereits an mehreren Universitäten Lehrkanzeln der Chemie und chemische Laboratorien, in denen die Her- stellung pharmaceutischer Präparate erlernt werden konnte. Das Ver- halten des Senates der Universität zu Innsbruck, welcher i. J. 1 740 die Errichtung von Professuren für Botanik und Chemie ablehnte, bildete sicherlich eine Ausnahme; er begründete dies damit, dass ein gründlicher botanischer Unterricht 10 Jahre erfordere, „da bei diesem neugierigen saecido immer etwas Neues in vegetabilibm in Vorschein komme", während eine Lehrkanzel für Chemie zu viel Geld koste.* Die beste Gelegenheit zum Unterricht in der Chemie boten die Apotheken, deren innere Ein- richtungen durch H. Petebs, welcher in seinem Buche Bilder der Hof- apotheke zu Rastadt v. J. 1700, der Sternapotheke zu Nürnberg v. J. 1710 und der Apotheke zu Klattau in Böhmen v.J. 1733 veröffent- lichte, allgemein bekannt geworden sind.^

Die Ausbildung der Apotheker geschah handwerksmässig. Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse, welche von ihnen verlangt wurden, waren nicht bedeutend.* So schrieb Fb. Hofpmann: „Dem Apotheker soll bekannt sein, dass ein Acidum mit einem Aleali ebullieret; aber es ist schon genug, wenn er nur den Effekt weiss, obschon er die Ursache davon nicht sagen kann."

Den Apothekern fiel neben der Bereitung der Arzneien auch die Aufgabe zu, Klystiere zusammenzusetzen und beizubringen. Diese Be- schäftigung war sehr einträglich zu einer Zeit, da Ludwig XIIL in einem einzigen Jahre ausser 215 Purgantien 212 Klystiere zu sich nahm. Ein Kanonikus zu Troyes brachte es binnen zwei Jahren sogar zu der unglaublichen Zahl von 2190, welche dem Andenken der Nachwelt aufbewahrt worden ist, weil er sich weigerte, das dafür geforderte Honorar zu bezahlen, und deshalb verklagt wurde. Die Klystiere wur- den Modesache, und die Pariser Damen raunten sich vertraulich zu,

* H. Peters a. a. 0. S. 57.

' J. Probst: Geschichte der Universität zu Innsbruck, Innsbruck 1869. » H. Peters a. a. 0. S. 78 u. ff.

* Fr. Hopfmann: Medicus politicus, Lugd. Batav. 1746, II, 2, c. 16.

Der klinisGke Unterricht im 17. und 18. Jahrhundert. 341

-

dass das Geheimniss der Ninon de FEnclos, durch welches sie sich ihre vielhewunderte Schönheit bis ins hohe Alter erhielt, lediglich auf dem öfteren Gebrauche dieses Mittels beruhte.^

Der klinische Unterricht im 17. und 18. Jahrhundert.

Die grösste Errungenschaft, welche der medicinische Unterricht dieser Periode verdankte, bestand darin, dass die klinische Unterweisung an den meisten Universitäten eingeführt und in den Studienplan der- selben aufgenommen wurde. Die ersten Versuche, welche damit, wie erwähnt, im 16. Jahrhundert zu Padua angestellt wurden, hatten keinen dauernden Erfolg und übten auch keinen sichtbaren Einfluss aus auf andere Hochschulen.

Der Universität Leyden gebührt das Verdienst, den klinischen Unterricht zu einer bleibenden Einrichtung gemacht und durch ihre Schüler auch nach andern Orten verpflanzt zu haben. Die Professoren Otto van Hetjrne und Ew. Schrevelius eröfl&ieten denselben um das Jahr 1630 im Krankenhause zu Leyden.

Dabei wurde die Methode eingeschlagen, dass die Studierenden zunächst den Kranken über sein Leiden examinirten und untersuchten, dass hierauf ein Jeder derselben seine Ansicht über das Wesen, die Ur- sachen, Symptome, Prognosis und Behandlung der Krankheit äusserte, und der Professor zuletzt die richtige bestätigte, die falsche widerlegte und die nothwendigen Erklärungen dazu abgab. Aber dieses Verfahren gefiel den Studenten nicht, weil sie dabei Gefahr liefen, durch Fragen, die sie nicht beantworten konnten, biosgestellt zu werden, undO.v.HEUENE sah sich daher zu seinem Bedauern veranlasst, dasselbe aufzugeben, statt dessen selbst die Krankenuntersuchung vorzunehmen und daran seine Anleitung zur Behandlung zu knüpfen.

Die Patienten, welche im Hospital starben, wurden secirt, um über die Ursache und den Sitz der Krankheiten Sicherheit zu gewinnen« Auch gehörte zu diesem Hospital eine Apotheke, in welcher die Studieren- den die Bereitung der Arzneien sehen und lernen konnten.*

Im J. 1648 übernahm Albert Ktper aus Königsberg in Preussen, dem wir diese Nachrichten verdanken, die Leitung der Klinik zu Leyden.

* Philippe a. a. 0. S. 131 u. ff.

' Alb. Ktper a. a. 0. p. 112 u. ff., 256 u. ff.

342 Der medidnisöhe Unterricht in der Neuzeit.

Ihm folgte schon nach wenigen Jahren Franz de le Boe (Sylviüs), welchen sein College Lucas Schacht in seiner klinischen Wirksamkeit geschildert hat.^ „Wenn er mit seinen Schülern zum Kranken kam und den Unterricht begann, so schien er über die Ursache und Art seines Leidens, die Krankheitserscheinungen und die Behandlung voll- ständig im Unklaren zu sein und äusserte sich Anfangs gar nicht über den Krankheitsfall; er fing nun an, durch Fragen, die er bald an diesen, bald an jenen der Zuhörer richtete, Alles herauszufischen (ecqnscabatur), und vereinigte die auf diese Weise ermittelten Thatsachen zu einem Krankheitsbilde, so dass die Studierenden den Eindruck empfingen, als ob sie die Diagnose nicht von ihm erfahren, sondern selbst aufgefunden hätten." Unter seiner Leitung erlangte die Klinik in Leyden einen solchen Kuf, dass Studierende und Ärzte aus Ungarn, Russland, Polen, Deutschland, Dänemark, Schweden, aus der Schweiz, Italien, Frankreich und England, also fast aus allen Ländern Europas, dorthin kamen, wie Schacht erzählt.

Die Leydener KUnik behauptete lange Zeit den ersten Rang unter allen derartigen Anstalten. Boebhaave, welcher bis 1738 an der Spitze derselben stand, war in der ganzen Welt bekannt und zählte zu seinen Schülern Halles, G. van Swieten, A. de Haen, Peingle, H. D. Gaub, RiBEiRO Sanchez u. A., welche das 18. Jahrhundert mit ihrem Ruhm erfüllten.

Auch an andern Hochschulen Hollands, dessen Krankenhäuser von Augenzeugen sehr gelobt wurden, ^ wurde klinischer Unterricht ertheilt. In Utrecht lehrte Wilh. van dek Steaten, dessen Methode, die Studieren- den zur Erkenntniss der Krankheiten anzuleiten, den uneingeschränkten Beifall Kypees fand.^

Im Hospital von S. Spirito zu Rom wurde auf Lancisi's Veran- lassung im J. 1 7 1 5 eine klinische Lehranstalt errichtet. Die Universität zu Edinburg erhielt 1738 ein Spital, welches seit 1746 zum klinischen Unterricht benutzt wurde.*

In Paris wurde im J. 1644 die poliklinische Unterweisung, welche dort seit Jahrhunderten bestand, dem Lehrplane der medicinischen Facultät einverleibt. Den Anlass dazu gab, wie es scheint, Thbopheaste Renaubot.

Dieser geistvolle und unternehmende Mann, welcher das erste Leih- haus und das erste Adressbureau in Paris gründete und die erste Zeitung,

* Oratio funebris in obitum F. de le Boe Sylvh in Sylvii opera medica, Amstelod. 1680, p. 931 und Nefbeet a. a. 0. 1836, II, 162.

* Vergi. Tholuck a. a. 0. I, 2, S. 205. * Kyper a. a. 0. p. 255.

* A. Gbant a. a. 0.

Der klinische ühterriGht im 17, und 18, Jahrhundert, 343

welche in Frankreich erschien, nämlich die Gazette de France, redigirte, schuf im Verein mit andern ärztlichen CoUegen auch ein ambulato- risches Institut, in welchem arme Kranke unentgeltlich behandelt wurden. Von der medicinischen Facultät, mit der er in beständiger Fehde lebte, weil er sich dem Zunftgeist derselben nicht fugen wollte, erfuhr er deshalb viele Anfeindungen. Als sein Gönner, der mächtige Cardinal Bichelieu, gestorben war, setzte sie es sogar durch, dass die Poliklinik Kenatjdot's, welche der ärmeren Bevölkerung eine Wohlthat gewesen war, geschlossen wurde. ^

Dafür übernahm die medicinische Facultät nun die Pflicht, selbst eine derartige Anstalt zu erhalten. Es wurde daher angeordnet, dass 6 Doktoren, und zwar 3 alte und 3 junge, damit beauftragt würden, zweimal wöchentlich in der Ecole de medecine unentgeltlich ambulante Kranke zu untersuchen und ihnen Arzneimittel zu verabreichen. Die chirurgischen Operationen sollten sie entweder selbst vornehmen oder durch einen tüchtigen Chirurgen ausführen lassen. In schwierigen Fällen mussten sie einander zu Bath ziehen; auch wurde dem Dekan der Facultät befohlen, dabei oft anwesend zu sein.

Arme Kranke, welche wegen ihres Zustandes nicht zur Consul- tation kommen konnten, wurden in ihren Wohnungen besucht und unentgeltlich behandelt. Die Baccalaureen, also die älteren Studierenden der Medicin, wurden verpflichtet, den poUklinischen Consultationen bei- zuwohnen; sie wurden dabei zugleich beschäftigt, indem sie die Becepte, welche die Doktoren diktirten, niederschrieben uni andere Dienst- leistungen verrichteten. Ebenso sollten sie an den ärztlichen Besuchen im Hotel Dieu oder einem andern Hospitale Theil nehmen. ^ Diese poliklinischen Studien dauerten zwei Jahre. Erst am Ende des 18. Jahr- hunderts wurden in Paris stationäre Kliniken eingerichtet.

Auch in Deutschland entstanden die ersten Kliniken nicht vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Allerdings beantragte Weblhop bei der Gründung der Universität Göttingen die Errichtung einer damit verbundenen Klinik, aber vergeblich. Ähnlich erging es der medi- cinischen Facultät zu Wien im J. 1718.

Auch F. HoFPMANN in Halle betonte, dass durch den Besuch medicinischer Vorlesungen allein Niemand zum Arzt ausgebildet werde, sondern dass dazu die klinische Unterweisung gehöre.^ Die Über- zeugung, dass die Klinik für den medicinischen Unterricht nothwendig

^ Gilles de la Toübette: Theopbraste E^naudot, Paris 1884.

' Hazon a. a. 0. Sabatisb a. a. 0.

^ F. Hoffvann: Medicus politicus, Halle 1746, I, 1, 6,

344 Der medidnisGhe Unterricht in der Neuzeit.

sei, war also allgemein; aber die Ohnmacht der Professoren der Heil- kunde, die Gleichgültigkeit der Behörden und vor Allem der Mangd an Geldmitteln trugen Schuld, dass die Verwirklichung der dafür er- forderlichen Anstalten stets auf spätere Zeiten verschoben wurde.

Wien war die erste deutsche Universität, welche eine Klinik er- hielt. Auf Gebhard van Swietens Veranlassung wurde im J. 1753 im sogen. Bürgerspital eine klinische Abtheilung eingerichtet, welche aus 6 Betten für Männer und 6 Betten für Weiber bestand; doch wurde dem Vorstande derselben das Recht eingeräumt. Kranke aus den übrigen Abtheilungen dieser Anstalt, sowie aus dem Dreifaltigkeits- Hospitale, wenn es im Interesse des Unterrichts lag, in die Klinik ver- legen zu lassen.

Zur Leitung derselben wurde der Niederländer A. de HaSn be- rufen, welcher sie vollständig nach dem Vorbilde der Leydener Klinik organisirte. „Täglich erschien er in früher Morgenstunde im Spital und untersuchte die Kranken, um sich von« den etwaigen Veränderungen in ihrem Zustande zu unterrichten. Um 8 Uhr begann die Klinik, in welcher die Kranken unter seiner Leitung von den Studierenden unter- sucht und behandelt wurden. Er befolgte dabei eine sehr empfehlens- werthe Lehrmethode; jeder seiner Schüler musste ihm das Resultat seiner Untersuchung leise ins Ohr flüstern, und de Haen theilte am Schluss mit lauter Stimme die richtige Diagnosis mit, so dass sich Die- jenigen, welche sich geirrt hatten, davon überzeugen konnten, ohne dass sie einer Beschatnung ausgesetzt waren.

Nach der Klinik begann die ärztliche Ordination für jene Kranken, welche nicht im Spital verpflegt wurden. Auch dieser wohnten die Studierenden bei. Hier sowohl, wie in der Klinik wurde über jeden Kranken Buch geführt und dessen Leidensgeschichte nebst den ge- troffenen Verordnungen eingetragen. Wenn Patienten in der Klinik starben, so wurde von de Haen in Gegenwart der Studierenden die Sektion gemacht, das Ergebniss derselben mit der während des Ver- laufs der Krankheit gestellten Diagnose verglichen und der Werth und Nutzen der eingeschlagenen Behandlung besprochen."^

De Haen begründete den Ruhm der Wiener Klinik. Sein Nach- folger Maximilian Stoll vermehrte denselben durch seine grossen Lehrerfolge und zog Studierende und Arzte aus allen Ländern dorthin. Unter ihm erreichte sie „eine Stufe der Vollkommenheit, auf der sie

* Freimüthige Briefe an den Herrn Grafen von V., Frankfurt a/M. und Leipzig 1774, S. 69 u. ff. Th. Puschmann: Die Medidn in Wien während der letzten hundert Jahre, Wien 1884, S. 17.

Der Minisöhe Unterricht im 17, und 18, Jahrhundert, 345

unbedingt als ein Vorbild aller klinischen Schulen aufgestellt werden konnte." ^

Die Akademie der Wissenschaften zu Paris legte dem Könige Ludwig XVI. von Frankreich den Plan Tor, dort eine Klinik nach dem Muster der von Stoll geleiteten Lehranstalt zu errichten.* Für die Kliniken, welche in den übrigen Provinzen Österreichs, sowie in Deutsch- land entstanden, war die Einrichtung der Wiener massgebend.

Prag erhielt 1769 eine Klinik, welche unter Plenoicz im J. 1778 von 8 auf 50 Betten vermehrt wurde und daneben das unbedingte Recht besass. Kranke, welche für den Unterricht erwünscht waren, aus den übrigen Abtheilungen des Krankenhauses zu fordern.^ In Pavia führte BoBSiEBi 1770 den klinischen Unterricht ein; in Modena nahm er 1774 seinen Anfang.

In Würzburg wurden die Studierenden der Medicin schon seit langer Zeit angewiesen, den ärztlichen Besuchen im Julius-Hospitale beizuwohnen. Auch wurden dort schon 1729 unter Beeingers Leitung klinische Übungen veranstaltet; doch scheinen dieselben später nicht fortgesetzt worden zu sein oder nur zeitweise stattgefunden zu haben,* da in der Studienordnung von 1749 wiederum darauf hingewiesen werden musste, wie nothwendig es zur Vollständigkeit der ärztlichen Bildung gehöre, dass die Professoren die Studierenden und jungen Ärzte in die Hospitäler und zu den Kranken ihrer Privatpraxis mitnehmen und dort, mit der Krankenbehandlung bekannt machen.

Ein regelmässiger systematischer klinischer Unterricht wurde in Würzburg erst 1769 eingeführt Auch in Strassburg kamen seit 1738 zuweilen klinische Demonstrationen vor; zu den Besuchern derselben gehörte bekanntlich auch Goethe, als er 1770 dort studierte.* Aber ein Becht auf die Benutzung des Lehrmaterials im dortigen Bürger- spital wurde der Strassburger Klinik erst viel später eingeräumt.®

Göttingen wurde 1764 durch R. A. Vogel mit einem CoUegium clinicum ausgestattet, an dessen Stelle im J. 1781 eine stationäre Klinik trat. In Halle begann Johann Junckeb klinische Übungen abzuhalten; doch wurde eine zum Universitäts-Unterricht gehörige stationäre Klinik

* J. F. C. Hecker: Geschichte der neueren Heilkunde, Berlin 1839, S. 506. M. Stoll: Über die Einrichtung der öffentlichen Krankenhäuser, Wien

1788, S. 28.

* Sbbald: Geschichte der medicinisch-praktischen Schule zu Prag, Prag 1796.

* J. N. TuoMANif: Annales instituti medico-clinici Wirceb., Vol. I, p. 24, Würzburg 1799.

* Aus meinem Leben in Gtoethe's Werken, Leipzig 1870, FV, 167.

* F. WiBOKR a. a. 0. S. 118 u. ff.

346 Der medidmsche Unterrickt in der Neuzeit

dort erst 1810 errichtet. ^ Erlangen erhielt 1779, Altdorf 1786, Kiel 1788, Jena 1791, Tübingen 1793, Leipzig 1798 eine Klinik. ^

An den meisten übrigen Universitäten beschränkte man sich auf poliklinische Anstalten oder suchte die Studierenden zum Besuch der Spitäler anzuregen, damit sie Gelegenheit hatten. Kranke zu beobachten. Auch in andern Ländern musste man sich mit dieser Lehrmethode be- gnügen, wenn ein eigentlicher, mit Vorträgen am Krankenbett ver- bundener klinischer Unterricht fehlte.

Eine wohlthätige Ergänzung erfuhr die praktische Ausbildung in der Heilkunst durch die sehr verbreitete Sitte, dass ältere Studierende oder junge Ärzte längere Zeit als Praktikanten in einem Krankenhause wirkten und dort von den leitenden Ärzten mit den Anforderungen der Praxis vertraut gemacht wurden. In Frankreich und England, wo diese Einrichtung noch heut besteht, nahmen viele Hospital-Ärzte Schüler an, welche für die praktische Unterweisung, die ihnen zu Theil wurde, ein bestimmtes Lehrgeld entrichteten. Wie J. Hünczovsky berichtet, bot sich dazu die Gelegenheit im St. Bartholomews-Hospital in London, im Matrosen-Spital zu Portsmouth, sowie im Hotel Dieu in Paris und zu Ronen. ^

In Italien scheinen ähnliche Verhältnisse bestanden zu haben. Lancisi trat, nachdem er die medicinischen Studien absolvirt hatte, in das Hospital S. Spirito in Bom ein, um sich durch mehrere Jahre für die ärztliche Praxis vorzubereiten.* Er empfahl den Studierenden der Heilkunde, viele Kranke zu beobachten und Hospitäler zu besuchen, und rieth ihnen, mehrere Jahre auf dieses Studium zu verwenden.^

Auch im Dreifalügkeitsspitale in Wien fanden stets eine Anzahl von Studierenden der Heilkunde als Praktikanten Aufnahme.^ Im städtischen Krankenhause zu Bremen gaben die dort angestellten Ärzte den Studierenden, welche sich an den Visiten betheiligten, ebenfalls klinischen Unterricht.^

Es unterliegt keinem Zweifel, dass derartige Einrichtungen an

* P. Frank a. a. 0. VI, 2, S. 221.

' G. W. A. Fikentscher: Geschichte der Universität Erlangen, Nürnberg 1806, II, 104.

' J. Hunczovset: Medicinisch-chirargische Beobachtungen aufEeisen durch England und Frankreich, Wien 1783, S. 7. 62. 84. 162.

^ Eüs. Sgüariüs: Vita Lancisi in der Vorrede zu Lancisii opera vera, Venet. 1789.

^ Lancisi: De recta medicorum studiorum ratione instituenda, Eomae 1715.

^ Nachrichten von dem Kranken-Spital zur allerheil. Dreifaltigkeit, Wien 1742.

^ Külenkampff: Die Krankenanstalten der Stadt Bremen, ihre Geschichte und ihr jetziger Zustand, Bremen 1884,

Der Unten'ieht in der Chirurgie, Augenheükimde u, Geburtshilfe, 347

vielen Krankenhäusern bestanden. Die Archive mancher Anstalten dürften darüber wichtige Aufschlüsse enthalten; eine dankenswerthe Aufgabe wäre es, das in dieser Beziehung, namentlich für Deutschland, noch sehr unvollständige Material herbeizuschaffen und zu vervollstän- digen. Aber die angeführten Thatsachen werden genügen, um zu be- weisen, dass die in den medicinischen Geschichtswerken bis zum Über- druss wiederholte Ansicht, dass vor der Gründung künischer Lehranstalten die jungen Ärzte ihre fachmännischen Kenntnisse lediglich aus Büchern und durch theoretische Vorlesungen erlangt hätten, in dieser Allgemein- heit jedenfalls unrichtig ist.

Zu diesem Irrthume dürfte der Umstand beigetragen haben, dass der praktische Unterricht am Krankenbett im Allgemeinen ausserhalb des Studienplanes der Universitäten lag und häufig erst nach der Be- endigung der Studien und der Doktor- Promotion aufgesucht wurde. Auch mag es wohl bisweilen vorgekommen sein, dass junge Doktoren der Medicin im Hochgefühl ihrer neuen Würde gewissenlos und ver- messen genug waren, die Praxis zu beginnen, bevor sie sich die dazu erforderliehe praktische Befähigung erworben hatten; aber die Meisten erkannten die Nothwendigkeit der praktischen Ausbildung und besuchten die Hospitäler zu diesem Zweck, wie aus zahlreichen Lebensbeschrei- bungen und Schriften hervorragender Ärzte jener Zeit deutlich hervorgeht

Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde

und Geburtshilfe.

Nur ein spärlicher Kaum wurde der Chirurgie in dem Lehrplane der Universitäten zugemessen. Man gab den Studierenden der Medicin eine allgemeine Übersicht dieser Disciplin und zeigte ihnen an der Leiche die wichtigsten Operationen.

Hauc^br, welcher neben seinen übrigen Obliegenheiten auch eine Zeitlang die Lehrkanzel der Chirurgie in Göttingen versah, konnte sich, wie er erzählt, niemals entschliessen, an einem lebenden Menschen zu operiren, obgleich er sich an Leichen sehr geübt hatte. Da die Ärzte damals nicht die Aufgabe hatten, chirurgische Operationen auszuführen, so konnte dieser theoretische Unterricht vielleicht genügen, um ihnen ein Verständniss der Bedeutung der Chirurgie für die innere Medicin zu verschaffen; aber er war in keiner Weise ausreichend, um ihnen ein Urtheil über chirurgische Fragen zu gestatten. Wenn man den Ärzten

348 Der medidniseke Unterricht in der Neuzeit,

das Recht einräumte, die Chirurgen in ihrer Thätigkeit zu beaufsich- tigen und zu belehren, und den letzteren die Pflicht auferlegte, jene wegen der Nothwendigkeit und der Art der chirurgischen Eingriffe zu ßath zti ziehen, so musste dies zu Streitigkeiten fuhren. Der Arzt wurde dadurch der Gefahr ausgesetzt, sich durch Unwissenheit blos zu stellen, und der Chirurg sah mit Recht in der Zumuthung, sich einem Manne unterzuordnen, der wenig oder gar nichts von der Sache ver- stand, eine unverdiente Kränkung.

F. HoFFMANN gab den Ärzten im „Politischen Medicus" den ver- nünftigen Rath, „sie möchten sich mit den Chirurgen gut stellen, sie in Gegenwart der Kranken nicht scharf anfahren, sondern modeste ermahnen, auch nicht mit ihnen disputiren, namentlich nicht über chirurgische Dinge, weil die Chirurgen ihnen darin an Erfahrung über- legen seien." Aber bei den meisten Doktoren, besonders denen, welchen die Erfahrung mangelte, war der Hochmuth grösser als die Klugheit, und sie sahen mit dünkelhafter Verachtung auf die Chirurgen und die Chirurgie herab. Der Verfasser des Buches: „Des getreuen Eckharts unwürdiger Doctor (Augsburg und Leipzig 1698)" schildert diese Ver- hältnisse (S. 428 u. ff.) und erklärt dabei voll Ärger: „Es ist wohl ein stoltzes Thier umb einen jungen Doctor, bevoraus wann das Gehirn mit allerhand Vanitäten und Phantastereien angefüllt ist und sich gar auf keine Art will ändern noch regieren lassen. Er meinet. Jedermann müsse ihm weichen und ihm an der Stirne ansehen, dass er ein Doctor sei."

Allerdings hatte die gedrückte sociale Stellung der Wundärzte zum grossen Theile darin ihren Grund, dass ihre Allgemeinbildung sehr gering war, und die Trennung zwischen ihnen und den Badern und Barbierem nicht streng durchgeführt wurde. In Paris kam i. J. 1655 sogar ihre officielle Vereinigung mit denselben zu Stande; doch dauerte sie glücklicher Weise nur bis 1699.

Das College de St. C6me verlor unter diesen Verhältnissen an Bedeutung und Ansehen. Bessere Zustände traten erst wieder ein, als es i. J. 1724 den Bemühungen der königlichen Leibchirurgen Mab:^- SCHAL und La Peyronie, welche am Hofe grossen Einfluss besassen, gelang, die Anstellung von fünf Lehrern für Anatomie, theoretische imd praktische Chirurgie, Operationskunst und Geburtshilfe durchzusetzen.

Noch mehr trug zur Hebung des Chirurgenstandes die Gründung der Academie de Chirurgie zu Paris bei, welche 1743 die königliche Bestätigung erhielt. Sie bildete fortan den Mittelpunkt aller bedeu- tenden Vertreter der Chirurgie, und zwar nicht blos in Frankreich, sondern zählte auch viele hervorragende Wundärzte des Auslandes zu

Der ünterriGht in der Chirurgie, Augenheilkunde u. Geburtshilfe, 349

ihren Mitgliedern. Durch Preisaufgaben über chirurgische Frageo, welche alljährlich gestellt wurden, durch materielle Unterstützungen, die den Forschern zu Theil wurden, und durch die Herausgabe ihrer * Memoiren, in denen werthvoUe Beobachtungen und Erfahrungen ver- öffentlicht wurden, förderte sie die Entwickelung der Chirurgie und befestigte die wissenschaftlichen Grundlagen derselben. Sie wurde der medicinischen Facultät im Bange gleichgestellt, von ihr unabhängig gemacht und erhielt das Becht^ den akademischen Grad eines Magisters der Chirurgie zu verleihen; doch wurde bestimmt, dass Niemand den- selben erlangen solle, der nicht die Würde eines Magisters der Philo- sophie besitze. Auch trat die Academie de Chirurgie zum CoUöge de St. Cöme in Beziehungen, indem mehrere hervorragende Mitglieder der ersteren als Lehrer am letzteren wirkten.

Im J. 1750 wurde angeordnet, dass der Lehrcursus für die Chi- mrgen, welche im College de St. Cöme studierten, drei Jahre dauere; auch wurden praktische Übungen in der Anatomie und Operationskunst eingeführt^ Die medicinische Facultät verlor ihren Einfluss auf die Erziehung der Chirurgen nahezu vollständig und war nur noch bei ihrer Promotion zum Magisterium vertreten. Sie bekämpfte zwar die Emancipation des Chirurgenstandes mit allen Mitteln, suchte durch historische Auseinandersetzungen und durch Gutachten der medicinischen Facultäten zu Göttingen und Halle den Beweis zu führen, dass die Unterordnung desselben unter die Ärzte sowohl zu allen Zeiten bestanden habe, als noth wendig und in der Natur der Sache begründet sei, und verstieg sich sogar zu der absurden Behauptung, dass der Besitz einer grösseren Allgemeinbildung den Wundärzten Schaden bringe; aber Alles war vergeblich. Die Chirurgen behaupteten die Selbstständigkeit, um welche sie Jahrhunderte hindurch gerungen hatten, und ihre Leistungen zeigten, dass sie derselben würdig waren.

An der chirurgischen Hochschule zu Paris empfing nur die Elite der Wundärzte ihre fachwissenschaftliche Ausbildung; die meisten lernten die Chirurgie gleich einem Handwerk bei einem Meister und erwarben sich als Gesellen und chirurgische Praktikanten in den Krankenhäusern die erforderliche Übung und Gewandtheit. Es wurde bestimmt, dass kein Meister mehr als einen Lehrling halte, damit er sich mit dem Unterricht desselben genügend beschäftigen konnte. In Städten, in denen mehrere Chirurgen ihre Thätigkeit ausübten, bildeten sie Vereinigungen, versahen abwechselnd den Dienst in den Spitälern

* P. Frank a. a. 0. VI, 2, S. 331, Anm., ou les eleves feront eux-memes les dissections et les Operations qui leur auront ete enseignees.

350 Der medioinisohe Unterricht in der Neuzeit.

und unterstützten den Unterricht ihrer Schüler durch Vortrage und praktische Demonstrationen aus der Anatomie und Chirurgie. Im Beginn des Jahres schickte jede chirurgische Zunft ein Verzeichniss sämmtlicher Meister derselben an den königlichen Leibchirurgen, welcher an der Spitze aller Wundärzte Frankreichs stand. ^

In England und Holland lag das höhere chirurgische TJnterricht-s- wesen vollständig in den Händen der Chirurgen -Gilden, welche dort schon sehr früh als geschlossene Corporationen mit bestimmten Rechten auftraten. Eine Einrichtung von kurzer Dauer war es, als Crom well i. J. 1656 das College of Physicians in Edinburg ermächtigte, die Chi- rurgie auszuüben, weil die letztere ja eigentlich ein Theil der Medicin sei.*

Die Chirurgen -Genossenschaften zu London, Edinburg, Dubün, Amsterdam, im Haag u. a. 0. richteten Unterrichtscurse für die Stu- dierenden der Chirurgie ein und sorgten dafür, dass sie sich in der Anatomie und Chirurgie praktisch ausbilden konnten. John Kay wurde schon unter Heinrich VIII. nach London berufen, um die Chirurgen in der Ausführung von Sektionen zu unterrichten.^ Welche Sorgfalt die holländischen Wundärzte den anatomischen Zergliederungen wid- meten, zeigen die schon erwähnten Bilder der niederländischen Maler. In der Privatpraxis ihres Lehrers und im Spitaldienste erhielten die Schüler Gelegenheit, Kranke zu beobachten und chirurgische Operationen zu sehen.

Die deutschen Chirurgen befanden sich im Allgemeinen auf dem Standpunkte des Barbierers; nur Wenige ragten darüber hervor und waren einer wissenschaftlichen Betrachtung der Wundarzneikunst fähig. Wer diesen Lebensberuf ergriff,* lernte zunächst bei einem Meister die Kunst, zu rasiren und Haare zu schneiden, Pflaster zu streichen, zu schröpfen und zur Ader zu lassen. Später wurde ihm gezeigt, wie Wunden und Geschwüre behandelt, Verrenkungen eingerichtet und Knochenbrüche geheilt werden. An grössere chirurgische Operationen wagten sich nur solche Chirurgen, welche in der Schule der Erfahrung gereift waren, oder Specialisten, die sich auf einem streng umgrenzten Gebiete eine hervorragende Geschicklichkeit erworben hatten.

Dem Stadtwundarzt in Zürich wurde i. J. 1716 befohlen, junge Chirurgen zu den Operationen, welche er unternahm, beizuziehen, „damit sie den Anlass haben mögen, in solchen Kuren mehrere Wissenschaft

* G. Fischeb: Chirurgie vor hundert Jahren, Leipzig 1876, S. 254 u. ff.

Historical sketsch of the E. College of Physicians of Edinburgh, Edin- burgh 1882.

' A. CoRRADi a. a. 0. ser. II, vol. VI, p. 638.

* 0. Buchneb: Aus Giessens Vergangenheit, Giessen 1885, S. 27.

Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde u. Oeburtshüfe, 351

zu erlangen." ^ . In Würzburg wurde der Oberchirurg am Julius-Hospital i. J. 1725 beauftragt, Unterricht in seiner Kunst am Krankenbett zu ertheilen.

In der Schrift: „Des getreuen Eckharts verwegener Chirurgus (Augsburg 1698)" wurde den Studierenden der Chirurgie empfohlen, tüchtig Anatomie zu treiben, und zwar, falls es an menschlichen Leichen fehle, an thierischen Cadavern; denn wenn sich gelehrte Doktoren nicht scheuen, daran zu studieren, so „würde es einem naseweisen Barbier- oder Badergesellen an seiner Ehre auch nicht schaden." Ferner wurde ihnen der Rath ertheilt, nach der Lehrzeit Hospitäler zu besuchen und den Operationen beizuwohnen, welche berühmte Chirurgen vornahmen. Auf ihre gesellschaftliche Bildung werfen die übrigen Ermahnungen, die ihnen ertheilt werden, ein bezeichnendes Licht. So heisst es: „Er soll nicht auf den Bierbänken von seinen Kuren plaudern, den Kranken nicht wie die Sau den Bettelsack anfahren und mit ihm tyrannisch und nach seiner Wuth umspringen. Er soll nicht 12 Thaler fordern, wo er nur 2 Thaler verdient. Nicht blindlings darf er darauf losschneiden; denn es ist Menschenfleisch und kein abgeschlachtetes Bindfleisch oder Schweinefleisch; die Haut wird gar theuer angeschrieben. Auch soll er in gefährlichen Umständen die Medicos und andere Mit-Meister zu Bath ziehen."^ Auch M. G. Purmann klagte darüber, dass die Chi- rurgen, um sich gegenseitig ihre Patienten abzuschwatzen, „Bänke und falsche Tücke mit der Scheererei" verübten.*

Auf eine höhere Stufe gelangten die Chirurgen in Deutschland, als man anfing, Lehranstalten zu ihrer Ausbildung zu errichten. Sie waren zunächst dazu bestimmt, das für das Militär erforderliche Heil- personal heranzubilden; aber das Bedürfniss nach Ärzten führte bald dazu, dass auch Zöglinge aus dem Civilstande aufgenommen wurden.

Im J. 1716 wurde eine derartige Anstalt in Hannover gestiftet. Berlin erhielt 1713 ein Theatrum anatomicum, welches den Anfang der für den Unterricht von Militärärzten und Medico-Chirurgen bestimmten Lehranstalt bildete, die 1724 eröffnet wurde und mit dem Charite- Krankenhause, dessen Gründung wenige Jahre später erfolgte, in Ver- bindung trat. Den Unterricht ertheilten 6 Professoren und ein De- monstrator der chirurgischen Operationen; er umfasste nicht blos Anatomie und Chirurgie, sondern auch Pathologie, Arzneimittellehre, Botanik, Chemie und sogar Mathematik. „Nach dem Beispiele von

^ Meies- Ahbeks : Geschichte des Zürcherischen Medicinalwesens, Basel 1840.

* G. Fischer a. a. 0. S. 33 u. ff.

^ G. Pürmann: Lorbeerkrantz oder Wundartzney, Frankfurt u. Leipzig 1722.

352 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit,

Paris, London und Amsterdam sollte in der Charite allen Medicis und Chirurgis hinlänglich Gelegenheit gegeben werden, sowohl die inner- lichen als die äusserlichen Kuren zu sehen und zu begreifen."^

In Dresden wurde 1 748 eine militärärztliche Schule errichtet. Die Schüler dieser Anstalten waren befähigte Barbierer, welche bereits län- gere Zeit als Chirurgen beim Heere Dienste geleistet hatten oder in Spitälern und in der Privatpraxis thätig gewesen waren, also keineswegs Anfänger, sondern Leute, welche bereits eine Summe von Erfahrungen in der Heilkunst besassen. Sie sollten in der chirurgischen Schule eine wissenschaftliche Fachbildung erhalten, damit sie später hervorragende Stellungen als Operateure und Lehrer der Chirurgie einnehmen konnten.

Auch die militärärztliche Lehranstalt in Wien, welche 1781 er- öflftiet wurde, hatte Anfangs diese Einrichtung. Diese später nach ihrem Stifter, dem Kaiser Josef, genannte Schule erhielt 1785 ein neues Lehr- gebäude, welches mit einem Kostenaufwande von einer Million Gulden hergestellt wurde; es befanden sich darin die Hörsäle, die Bibliothek, die wissenschaftlichen Sammlungen und die Wohnungen der Lehrer. Mit dieser Schule wurde das Militärspital verbunden, welches Baum für 1200 Personen bot und auch zwei Krankensäle für schwangere Soldaten weiber, also eine kleine geburtshilfliche Abtheilung enthielt.^ Femer wurde in der Nähe der Anstalt ein botanischer Garten angelegt und ein kleines chemisches Laboratorium eingerichtet.

Der Unterrichtscursus dauerte zwei Jahre; zu demselben wurden 30 der geschicktesten Feldärzte commandirt, welche nach der Beendi- gung dieser Studien zu ßegimentschirurgen befördert wurden. Daneben wurde die Anstalt von Studierenden besucht, welche sich für den chirur- gischen Beruf erst vorbereiteten.

Den Lehrkörper bildeten Anfangs 5 Professoren, von denen einer die Anatomie und Physiologie nebst den zum Verständniss derselben erforderlichen Elementen der Mathematik und Physik, der zweite die allgemeine Pathologie und Therapie nebst der Hygiene lehren, der dritte die Instrumenten- und Bandagenlehre vortragen, die chirurgische Klinik und die Operationsübungen leiten und Geburtshilfe und gericht- liche Medicin vertreten, der vierte Vorlesungen über innere Medicin halten und die Klinik der inneren Krankheiten leiten, und der fünfte Botanik, Chemie und Arzneimittellehre vortragen und den botanischen Garten beaufsichtigen sollte; ausserdem wurde ein Prosector angestellt,

^ A. Güttstadt: Die natarwissenBchaftlichen und medicinischen Staats- anstalten Berlins, Berlin 1886, S. 344.

* deLuca : Wiens gegenwärtiger Zustand unter Josephs Regierung, Wien 1787.

Der Unterricht in der Chirurgie y Augenheilkimde u. Geburtshilfe, 353

(welcher die für den Unterricht erforderlichen anatomischen Präparate anfertigen und die Sektionen der Kranken, welche im Militärspital starben, vornehmen musste. ^ Zur Eichtschnur beim Unterricht sollten die Worte des Kaisers dieuen: „Meine Absicht geht keineswegs dahin, dass den Chirurgen, die hier formirt werden sollen, nur die Oberfläche von einer jeden der angegebenen Wissenschaften beigebracht und sie blos mit der Kenntniss der Kunstwörter und einer übereilten und seichten Lehre von hier abgefertigt werden. Ich will vielmehr, dass sie ihre Kenntnisse gründlich fassen und mit solchen versehen zu den Regimentern zurückkehren." ^

Mit der Anstalt wurde eine Akademie verbunden, welche nach dem Muster der Academie de Chirurgie in Paris organisirt war, Preisauf- gaben für die Lösung chirurgischer Fragen ausschrieb und die Arbeiten zur Veröffentlichung brachte.^ Sie erhielt die Rechte und Ehren einer Universität und durfte die Grade eines Magistei*s und Doktors der Chi- rurgie verleihen. Die gebildeten Chirurgen wurden dadurch den Ver- tretern der inneren Medicin in der socialen Rangordnung gleichgestellt.

Vernünftige, vorurtheilslose Ärzte begrüssten diese Einrichtungen mit Begeisterung als den ersten Schritt zu der ersehnten Wiederver- einigung der Chirurgie mit der internen Medicin. Prof. Aua. Richtbb in Göttingen gab den Erwartungen, die man daran knüpfte, in den Worten Ausdruck: „Ganz Deutschland nimmt gewiss Antheil an der Ehre dieser Akademie, an dem glücklichen Fortgange ihrer Bemühungen, an der Wahl ihrer Mitglieder; denn diese sind es, von denen nun die Chirurgie Deutschlands Leitung, Richtung und Aufklärung erwarten wird; nach dem glücklichen oder unglücklichen Erfolge ihrer Bemühun- gen wird der Ausländer in der Folge den Werth oder Unwerth der ganzen deutschen Chirurgie beurtheilen; unter ihnen wird man immer die angesehensten Wundärzte Deutschlands, in ihren Akten wird man jedes wichtige deutsche chirurgische Produkt suchen."* Diese Hoff- nungen erfüllten sich nur in geringem Maasse. Der frühe Tod des Kaisers Josef IL, an dem die Akademie einen wohlwollenden und frei- gebigen Gönner verlor, die politischen Ereignisse und beständigen Kriege, welche den Militärärzten die Müsse zu wissenschaftlichen Arbeiten nah- men und vor Allem die geringe Entwickelung und unselbstständige

* G. PizziOHELLi: Accademia medico-chirurgica Giuseppina, Vienna 1837.

* AUerh. Entschliess. v. 3. April 1781 im Archiv des k. k. Kriegsmiiiisteriums.

* J. A. V. Brambilla: Verfassung und Statuten der Jos. med.-chir. Aka- demie, Wien 1786. Th. Puschmann a. a. 0. S. 96 u. ff.

* A. G. Richter: Chirurgische Bibliothek, Göttingen 1788, Bd. IX, St. 2, S. 191.

PuscMMANN, ÜDterrlcht. 23

354 Der medioinisGhe Unterricht in der Neuzeit,

Stellung der deutschen Chirurgie trugen Schuld, dass die hochgesteckten Ziele nicht erreicht wurden.

Nach dem Vorbilde des Wiener Josefinums entstanden die medi- cinisch-chirurgischen Schulen zu Petersburg (1783) und Kopenhagen (1785). In Spanien wurde 1748 zu Cadix eine Schule zur Ausbildung von Marineärzten gegründet, welche von einem Direktor und 10 Lehrern geleitet wurde. ^

Ausserdem wurden im 18. Jahrhundert eine Menge von TJnter- richtsanstalten errichtet, in welchen Barbierer- und Badergesellen in einem zweijährigen oder dreijährigen Lehrcursus zu Landärzten und Chirurgen herangebildet wurden. In Österreich bildeten diese Schulen theils Abtheilungen der medicinischen Tacultäten oder Lyceen, theils besondere Anstalten, wenn sich an dem gleichen Ort keine Hochschule befand. In den übrigen deutschen Ländern entstanden solche Anstalten in Frankfurt a/M., Hamburg, Eegensburg, Braunschweig, Bruchsal, Celle, Kassel, Gotha, Dillingen, Zürich u. a. 0.

Um die gleiche Zeit begann man auch an den Universitäten dem praktischen Unterricht in der Chirurgie grössere Beachtung zu schenken. Die Kliniken, welche damals entstanden, beschränkten sich freilich zu- nächst nur auf die Behandlung der inneren Krankheiten; die chirur- gischen Verrichtungen, welche dabei vorkamen, wurden gewöhnlich von einem Wundarzt, der dem Vorstande der Klinik untergeordnet war, besorgt.

Nur in Holland erhielten die Studierenden der Medicin Gelegen- heit, in den Spitälern den chirurgischen Operationen beizuwohnen. J. J. Bau in Leiden veranstaltete chirurgische Operationscurse an der Leiche, für welche er ein Honorar von 100 holländischen Thalern for- derte. Viele deutsche Mediciner begaben sich daher, wenn sie prak- tische Kenntnisse in der Chirurgie erwerben wollten, nach Holland, wie es ihnen Fried. Hoffmann in seinem „Politischen Medicus" (I, 1 , 6) empfahl. Desgleichen wurden auch Frankreich und England aus diesem Grunde aufgesucht.

In Deutschland entstand die erste chirurgische Klinik i. J. 1769 zu Würzbürg; Carl Caspar Siebold organisirte dieselbe sehr zweck- mässig, erläuterte die chirurgischen Vorlesungen durch die Demonstra- tionen anatomischer Präparate und führte chirurgische Operationsübungen an der Leiche ein.^ In Wien wurde 1774 eine chirurgische Klinik eröfiftiet. Göttingen erhielt ein derartiges Institut i. J. 1781; Deutsch-

* MoREJON a. a. 0. T. VI, 341. ' F. V. Wegele a. a. 0.

t)er Unterricht in der Chirurgie, Äugenheilku/nde u. Geburtshilfe. 355

lands berühmtester Lehrer der Chirurgie A. Gr. Richter ertheilte hier den klinischen Unterricht.

Auch die Augenheilkunde und die Geburtshilfe, welche zur Zeit Boerhaave's mit den übrigen Vorlesungen, besonders mit der Chirurgie, vereinigt gelehrt wurden, fanden allmälig im Studienplan grössere Be- rücksichtigung.

Frankreich, England und Italien brachten einige tüchtige Augen- ärzte hervor, denen sich erst am Schluss des 18. Jahrhunderts mehrere Deutsche ebenbürtig zur Seite stellten. Hervorragende Augen-Operateure wurden ähnlich, wie es gegenwärtig mit berühmten Teueren geschieht, aus weiter Feme berufen, um Vorstellungen in ihrer Kunst zu geben. N. J. Palucci kam auf G. van Swibten's Veranlassung nach Wien und führte in Gegenwart der Studierenden der Medicin und Chirurgie im Dreifaltigkeits- Hospitale Staaroperationen aus. Zu dem gleichen Zweck kam später der ältere Wentzel dorthin, unter dessen Anleitung sich Jos. Baeth zum Augenarzt ausbildete.

Die Erfolge des letzteren auf diesem Gebiete bewogen den Kaiser Josef, ihm den Auftrag zu ertheilen, zwei junge Ärzte in der Augen- heilkunde zu unterrichten. Es wurde ihm dafür ein ausserordentliches Honorar von 1000 Gulden ausgesetzt, welches ihm jedoch erst aus- gezahlt werden durfte, nachdem Jene durch sechs glückliche Cataract- Operationen den Beweis ihrer Befähigung geliefert hatten. Seine ersten Schüler waren sein Prosector Ehbenäitteb, der sehr früh starb, und Adam Schmidt, denen sich später noch G. J. Beer zugesellte, welcher zuerst von Baeth als Zeichner beschäftigt wurde. Sie wurden die Begründer der Wiener ophthalmologischen Schule, welcher die Welt eine Eeihe tüchtiger Augenärzte verdankt.

Gleichzeitig begann man auch in Göttingen, Jena, Leipzig u. a. 0. die Augenheilkunde in den Bereich des klinischen Unterrichts zu ziehen.

Die Geburtshilfe wurde noch im 17. Jahrhundert nahezu aus- schliesslich von Hebammen ausgeübt. Sie erwarben ihre Kenntnisse in diesem Fach durch die persönliche Unterweisung einer älteren erfahrenen Kunstgenossin und wurden darin von angesehenen Frauen oder von den Ärzten der Stadt, in welcher sie sich niederlassen wollten, geprüft. In Leipzig leitete die Gemahlin des Bürgermeisters die Examina der Hebammen; aber an den meisten Orten unterzogen sich die Ärzte und Chirurgen, besonders diejenigen, welche im Communaldienste angestellt waren, dieser Aufgabe.

In Folge dessen begannen die letzteren auch, den Hebammen Unterricht zu ertheilen. Dies war freilich sehr nothwendig; denn Gervais de la Touche berichtet, dass durch die Unwissenheit der

23*

356 Der medicinische Unterricht in der Neuzeit,

Hebammen alljährlich eine Anzahl von Trauen und Kindern bei der Geburt zu Grunde gingen; und Fabry von Hilden erzählt, dass die Hebammen vom Bau der weiblichen Geschlechtsorgane und von den Obliegenheiten der Hebamme keine Ahnung hatten.^ Einzelne hoch- begabte Frauen, wie Louise Bourgois, welche die Maria von Medicis, Gemahlin des Königs Heinrich IV., entband und die Geburtshilfe auch literarisch forderte, machten davon eine Ausnahme.

In Paris erhielten die Hebammen eine systematische Ausbildung. Im Hotel Dieu befand sich eine Entbindungsanstalt, in welcher die Hebammen-Schülerinnen von der Ober-Hebamme unterrichtet wurden; in dieser Stellung wirkte lange Zeit die bekannte Marguerite de la Marche, deren Lehrbuch für Hebammen zu den besten literarischen Produkten jener Zeit gehört. Der Lehrcursus währte drei Monate; während der zweiten Hälfte desselben mussten die Schülerinnen alle Dienste, die bei Geburten erforderlich sind, selbst verrichten. Nur in ausserordentlichen Fällen wurde der Chirurg der Abtheilung, welcher zugleich Geburtshelfer war, zu Eath gezogen.

Im Allgemeinen weigerten sich die schwangeren Frauen, männ- liche Hilfe anzunehmen. Eine Stütze gewann diese übel angebrachte Schamhaftigkeit in der Unwissenheit der meisten Ärzte und Chirurgen, welche keine Gelegenheit gehabt hatten, Erfahrungen in der Geburts- hilfe zu erwerben. Diese Verhältnisse änderten sich erst, als man die übertriebene Prüderie aufgab^ und männliche Hilfe bei den Geburten in Anspruch nahm. Die Herzoginnen de la ValliMb und de Mon- TESPAN und andere Damen des französischen Hofes machten damit den Anfang; „ihr Beispiel fand bald Nachahmung, wie P. Dionis schreibt, und sogar die Frauen aus dem Volke erklärten, dass sie die männlichen Geburtshelfer den Hebammen vorziehen würden, wenn sie nicht durch die hohen Honorarforderungen derselben abgehalten würden".^

Im J. 1720 wurde im Hotel Dieu zu Paris eine Lehranstalt für Geburtshelfer errichtet. Im J. 1743 wurden auch an der chirurgischen Schule gynaekologische Ünterrichts-Curse eröffnet, und 1 754 fühlte sich sogar die medicinische Facultät veranlasst, eine Lehrkanzel für Geburts- hilfe zu schaffen.

Holland besass schon im 17. Jahrhundert ein geordnetes Hebammen- wesen. Die Frauen, welche sich diesem Berufe widmeten, wurden von

* C. J. V. Siebold a. a. 0. H, 132 u. ff.

^ Bei anderen Gelegenheiten war man weit entfernt davon. S. Les con- sultations de Mad. de S£vign]§ ed. p. P. Meni^e, Paris 1864, p. 21 u. ff.

* Siebold a. a. 0. H, 189. Sue d. Jüngere: Versuch einer Geschichte der Geburtshilfe, Deutsche Übers., Altenburg 1786, S. 99.

Der Unterricht in der Chirurgie, Augenheilkunde u, Geburtshilfe, 357

Chirurgen, die in der Geburtshilfe geübt und erfahren waren, unter- richtet und geprüft. Zu ihren Lehrern gehörten Männer, wie H. van

ROONHUYSEN, Fb. EuTSOH U. A.

In England entstanden während des 18. Jahrhunderts eine Anzahl von Entbindungsanstalten, welche zujn Theil für den geburtshilflichen Unterricht der Hebammen und Studierenden benutzt wurden. Das auf J. Leake's Anregung durch Privatwohlthätigkeit im J. 1765 gegründete Westminster Lying-in-Hospital zu London bot den jungeh Ärzten und Chirurgen die Gelegenheit, sich in der Geburtshilfe praktisch aus- zubilden. Ausserdem nahmen mehrere Ärzte, welche Entbindungs- Institute leiteten, Schüler auf, die sie zu Geburtshelfern heranbildeten.^ An der Universität Edinburg wurde 1726 eine Professur der Geburts- hilfe gestiftet. In Dublin eröiBFnete das CoUegium der Ärzte und später auch dasjenige der Wundärzte Lehrcurse in diesem Fache. Die im J. 1 746 dort errichtete Gebär- Anstalt erlangte einen grossen Ruf.

Deutschland hat im 1 7. Jahrhundert keinen einzigen Geburtshelfer von Bedeutung hervorgebracht; dagegen machten sich einzelne Hebam- men allgemein bekannt. Die „Chur-Brandenburgische Hoff-Wehe-Mutter Justine Siegemundin, geb. Dittbichin", die „Mutter Gbbte", welche der Herzogin Dorothea Sibylla zu Brieg gleichsam als „wahre Geheim- räthin" zur Seite stand, wie Siebold (a. a. 0. II, 207) sagt, und die Auf- sicht über die „Hofjungfern" führte, und die Braunschweigische Stadt- Hebamme A. Elis. Hobenbübg verschafften ihrer Kunst durch ihre Leistungen verdientes Ansehen und trugen durch ihre Schriften zur Verbreitung und Förderung derselben bei.

Die Geburtshelfer wurden selten zu ßath gezogen. Die Auffassung, welche manche derselben von ihren Aufgaben hatten, musste die Hilfe suchenden Frauen mit Furcht und Schrecken erfüllen. Lobenz Heistbb erzählt, dass sie „in Wendung und Herausziehung sehr schlecht er- fahren waren; wenn sie was thun soUten, so kamen sie mit Hakens und zerrissen auf eine erbärmliche und erschreckliche Weise die Kinder im Mutterleibe in viele Stücken, die sie, wenn sie behörige Wissen- schaft davon gehabt hätten, noch sehr oft mit den blossen Händen wohl hätten bekommen können und dadurch verhindern, dass nicht so oft, wie geschehen, die Gebärmutter der unglücklichen Frauen mit ihren Haken nebst den Kindern zugleich wären zerrissen und ums Leben gebracht worden".^

* C. G. Baldinqeb's Medicin. Journal, GÖttingen 1787, St. 15. ' Lob. Heister: Mcdicinische, chirurgische und anatomische Wahrnehmungen, Rostock 1753, Vorrede.

K<UBSU&K^_^

358 Der medieinische Unterricht in der Neuzeit.

Der Dr. Deisch, welcher in Augsburg seinen „Würgungskreis" hatte, wurde vom Volk der „Kinder- und Weiber-Metzger" genannt; „er perforirte und zerstückelte die Kinder ohne Unterlass, sie mochten noch am Leben sein oder nicht, und schnitt ihnen die Hälse durch. Hatte er die Wendung unternommen, so war er erstaunt, wenn das Kind lebend zur Welt kam". Im J. 1753 gebrauchte er unter 61 Ge- burten 29 Mal scharfe Instrumente, wobei 10 Gebärende zu Grunde gingen. Sein College Mittelhäusee, welcher als Physicus zu Weissen- fels in Sachsen eine ähnliche Thätigkeit verübte, betrachtete es als einen besonderen Erfolg, dass ihm von zehn Trauen, die er entband, nur zwei starben.^

An anderen Orten scheint es zuweilen nicht viel besser gewesen zu sein; Nichols köstliche Satyre: The petition of the unbom babies (London 1751), in welcher sich dieselben über die schlechte Behandlung beklagten, die sie von Seiten der Geburtshelfer erführen, sowie die Figur des Dr. Slop, des mit seinen Instrumenten kampfbereiten Ge- burtshelfers in L. StEBNE's Tristeam Shandy, waren sicherlich mehr als blosse Phantasien des Dichters.

Es war begreiflich, dass sich der allgemeine Unwille gegen diese Art von Geburtshilfe erhob. Die Fortschritte, welche diese Wissen- schaft im 18. Jahrhundert machte, brachten eine richtigere Erkenntniss des Waltens der Natur beim Gebär- Akt und humanere Anschauungen über die Rolle, welche dabei der Kunst des Geburtshelfers zufällt, zur Geltung.

Einen bemerkenswerthen Antheil an diesem wohlthätigen Um- schwünge hatte die Einführung eines geordneten geburtshilflichen Unter- richts an den Universitäten und die Vermehrung der Entbindungs- Anstalten. Neben den theoretischen Vorlesungen über Geburtshilfe, welche an den meisten Hochschulen in Verbindung mit den chirur- gischen gehalten wurden, begann man auch mit der praktischen Unter- weisung der Studierenden.

Strassburg ging darin allen übrigen deutschen Universitäten voran; im J. 1728 wurde in der dortigen Entbindungsanstalt, welche schon seit langer Zeit zum Hebammenunterricht verwendet wurde, eine Schule für Geburtshelfer eingerichtet* Sie stand unter Feied's Leitung und wurde, wie Osiandee sagt, die Mutterschule aller andern Institute dieser Art in Deutschland. Die Schüler übten die geburtshilflichen GrifiFe zuerst am Phantom, untersuchten femer die Schwangeren und überwachten die Geburten. Das Honorar, welches sie dem Lehrer für

* Siebold a. a. 0. II, 426 u. ff. « Wiegeb a. a. 0. S. 100 u. ff.

Der medidn, üfUerricht am SchMss des 18. Jahrh. u. der ärztliche Stand, 359

diesen Unterricht zahlen mussten, war ziemlich hoch; es betrug un- geföhr 100 Thaler.

Aus dieser Schule gingen mehrere der bedeutendsten Geburts- helfer des vorigen Jahrhunderts hervor, unter ihnen J. G. Roedebeb, welcher 1751 als Professor der Geburtshilfe und Direktor der neu er- richteten Entbindungsanstalt nach Göttingen berufen wurde. Gleich- zeitig wurde in der Berliner Charite eine geburtshilfliche Schule er- öffnet Im J. 1 786 gab es im Königreiche Preussen ohne die Provinz Schlesien bereits 14 Lehrer dieser Disciplin. Ebenso entstanden in den übrigen deutschen Ländern derartige Anstalten, in welchen Hebammen und Studierende in der Geburtshilfe Unterricht empfingen, z. B. in Würzburg(l 739), Kopenhagen (1 760), Kassel (1 763), Braunschweig (1 768), Karlsruhe, Dresden (1774), Jena(1781), Marburg (1792), Detmold, Mann- heim, Weimar, Bern (1782) u. a. 0. In Wien wurde 1748 der Hebammen- Unterricht eingeführt und 1754 an der Universität eine Lehrkanzel der Geburtshilfe gestiftet. Eine besondere Klinik dieses Faches wurde 1 789 eingerichtet, nachdem schon seit 1774 geburtshilfliche Lehrcurse in einem Spital eingerichtet worden waren und Fälle dieser Art auch in der chirurgischen Klinik Aufnahme gefunden hatten. Aber an manchen Universitäten blieb der Unterricht in der Geburtshilfe ebenso wie der ophthalmologische bis tief hinein ins 19. Jahrhundert mit dem chirur- gischen vereinigt.^

Der medicinische Unterricht am Schluss des 18. Jahr- hunderts und der ärztliche Stand.

Die Veränderungen, welche der medicinische Unterricht an den Hochschulen in der Periode vom Beginn des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erfuhr, waren sehr bedeutend. An die Stelle der zwei oder drei Professoren, deren Lehrthätigkeit sich auf einige theoretische Vorlesungen beschränkte und die praktische Ausbildung in der Anatomie, Arzneimittellehre und eigentlichen Heilkunst nur gelegentlich in Betracht zog, waren, wenigstens an den grösseren Universitäten, Lehrer-CoUegien getreten, deren Mitglieder die verschiedenen Disciplinen der Heilkunde vertraten und anatomische Lehranstalten, Laboratorien und klinische Institute zu ihrer Verfügung hatten.

^ A. GussEBOw: Zur Geschichte und Methode des klinischen Unterrichts, Berlin 1879.

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360 Der medidnisehe Unterricht in der Neuzeit.

Nach der Studienordnung v.J. 1749 bestanden an der medicinischen Facultät zu Würzburg 5 ordentliche Lehrkanzeln. Von ihren Inhabern sollte der erste den Studierenden eine gedrängte Übersicht der Ge- schichte der Medicin geben, die Institutionen (Physiologie) auf wissenschaft- lich-physikalischer Grundlage vortragen, die Ursachen und Wirkungen von Gesundheit und Krankheit (allgemeine Pathologie) mit Berück- sichtigung der Anatomie erörtern und auf diese Weise den Weg zur ärztlichen Praxis ebnen, der zweite Botanik lehren und den botanischen Garten leiten, der dritte Chemie vortragen und in der zum Julius- Spital gehörigen Apotheke die Zubereitung der Arzneien zeigen, der vierte Vorlesungen über specielle Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten halten, die Schüler in die Hospitäler führen und mit der Krankenbehandlung vertraut machen, und der fünfte den Unterricht in der Anatomie und Chirurgie ertheilen; dem letzteren stand dabei ein Prosector zur Seite, welcher zugleich als Oberchirurg und Lehrer der Geburtshilfe thätig war. ^ Der medicinische Lehrkörper zu Heidel- berg hatte 1763 vier ordentliche Professoren, derjenige zu Göttingen 1784 deren sechs und zu Pavia um die gleiche Zeit acht* Der Studien- plan, welchen P. Feank 1 785/86 für die medicinische Facultät in Pavia entwarf, zeigt, welche Anforderungen ein Fachmann damals stellte.^

Die Naturwissenschaften nahmen eine angesehenere Stellung ein, als früher; es zeigt sich dies deutlich in einem Erlass des regierenden Fürstbischofs von Würzburg v. J. 1782, in welchem es heisst: „Wenn man es in vorigen Zeiten für eine ausgemachte Wahrheit hat halten dürfen, dass die Physik für diejenigen, welche sich der Arzneykunst zu widmen gedenken, ein nicht nur sehr nützliches, sondern sogar unent- behrliches Studium sei, so wird man wohl in unseren Tagen, wo die Physik eine vielverbesserte Gestalt angenommen hat, um so weniger daran zweifeln; und wenn gleich die Physik für den Theologen und Juristen von geringerem Nutzen als für den Arzney-Beflissenen sein mag, so sind auch die Vortheile, welche künftige Theologen und Juristen von der Mathematik und der sogenannten praktischen Philosophie sich zu versprechen haben, längstens entschieden".^

Die medicinische Facultät zu Wien besass im J. 1780 bereits 9 systemisirte Lehrkanzeln, welche sich auf Anatomie, Physiologie, Naturgeschichte, Chemie und Botanik, allgemeine Pathologie und Therapie nebst Arzneimittellehre, interne Medicin und Klinik, theo-

* Wegele a. a. 0. Kölliker a. a. 0. S. 75. » P. Frank a. a. 0. VI, 2, S. 46.

» P. Frank a. a. 0. SuppL-Band I, S. 176 u. flF.

* Weqele a. a. 0. II, 428.

Der medidn, Uhterriöht o/m Schluss des 18. Jahrh, u. der ärxtliolie Stand, 361

retische Chirurgie, chirurgische Klinik und Geburtshilfe vertheilten; ausserdem betheiligten sich an der Lehrthätigkeit noch mehrere Assi- stenten und ein Prosector, da dem Professor der Anatomie die Pflicht oblag, „ein Subjectum, welches zu seiner. Zeit ihm zu succediren fähig, auf eigene Unkosten abzurichten". Der Kaiser Josef II. widmete dem medicinischen TJnterrichtswesen eine rege Aufmerksamkeit. In einem Kescript vom 27. April 1786 gab er den Bedenken gegen die Studien- pläne der medicinischen Facultäten, welche ihm vorgelegt worden waren, mit den Worten Ausdruck: „Dass die Lehre der Chirurgie, aller Opera- tionen und Bandagen in sechs Monaten soll hinlänglich gegeben werden können, scheint mir nicht leicht möglich, und überhaupt theile ich das medicinische Studium auf folgende Art ein. Das erste Jahr Anatomie mit der Physiologie verbunden, dergestalt, dass, wie man z. B. eine Lunge in der Anatomie vorgezeigt, man auch zugleich deren Noth- wendigkeit und Wirkung in dem gesunden Körper anführe und so auch weiter bis auf jeden Muskel im Leibe, wie er zur Bewegung dienet. Dieses Schuljahr müssten medici und chirurgi absolviren; dem Professor anatomiae et phjsiologiae müsste man die nöthigen prosectores und was er gebraucht, zugeben, um sein Lehramt gut zu verwalten. Zu- gleich würde im ersten Jahr für die Mediciner Botanik und Chemie, und für die chirurgos Operazionen, Bandagen und Geburtshilfe gelehrt. Im zweiten Jahr müssten die Wundärzte die chirurgische und me- dicinische Praxis und clinicam im Spital erlernen und im Spital auch die Geburtshilfe praktiziren, und da wären sie fertig; die medici aber müssten materiam medicam, Pathologie und alles was zum gelehrten Fach der Medicin gehört, hören, im dritten Jahr aber sich ganz mit der praxis und clinica, auch Praktizirung im Spital abgeben. Und auf diese Art würden in zwei Jahren für das Land geschickte chirurgi und in drei Jahren medici für die Stadt gebildet werden. Nach diesem Sinne erwarte ich die weitere Ausarbeitung. Josef." ^

Die Studienordnung, welche bald darauf erlassen wurde, wich von diesen Grundsätzen zunächst darin ab, dass für die Studierenden der Medicin und Chirurgie eine Studienzeit von vier Jahren bestimmt und ein gemeinsamer Lehrplan festgesetzt wurde, nach welchem der Unter- richt in den meisten Fächern für beide Kategorien vereinigt war und sich nur dadurch unterschied, dass Jene mehr Zeit auf die Arznei- mittellehre, Chemie und innere Medicin verwenden. Diese sich ein- gehender mit der Chirurgie und den damit verbundenen Lehrgegen- ständen beschäftigen und dies in den Prüfungen beweisen müssten.

* Archiv des k. k. Unterrichtsministeriuins zu Wien.

362 Der medidnische Unterricht in der Neuzeit.

Damit wurde endlich auch in Österreich und Deutschland der Chirurgie eine würdigere Stellung eingeräumt, wie dies in andern Staaten bereits geschehen war. Die internen Mediciner und Chirurgen wurden als gleichstehende Klassen von Ärzten anerkannt, welche eine gleichwerthige Bildung besitzen und sich nur durch die Form ihrer Thätigkeit unterscheiden.

Daneben entstand eine niedere Art von Ärzten, welche, mit ge- ringeren Kenntnissen ausgestattet, hauptsächlich für die Landbevölkerung bestimmt waren und sowohl die innere als die äussere Praxis ausübten. Die Gegensätze, welche bisher zwischen den Ärzten und den Chirurgen bestanden hatten, wurden nun auf die Beziehungen zwischen den höher gebildeten Ärzten und den weniger unterrichteten Medice -Chirurgen übertragen. Bei der Beurtheilung der Zustände, welche sich daraus entwickelten, darf man daher nicht vergessen, dass eine Verschiebung der in Trage kommenden Faktoren stattgefunden hatte, welche später Manches rechtfertigte, was vorher unhaltbar und ungerecht erschien.

Es ist ja zweifellos, dass die Chirurgen des 1 7. Jahrhunderts einen niedrigen Bildungsstandpunkt einnahmen; aber war es vielleicht mit den Ärzten jener Zeit anders? Der todte Wust einer unfruchtbaren Gelehrsamkeit trübte Vielen den Blick für das frische Leben der Gegen- wart „Sie kannten den Galen, aber ihre Kranken gar nicht", wie Montaigne sagt-e. Die Figur des Dr. Diafoirus, welche MoliSiee in seinem „eingebildeten Kranken" gezeichnet hat, soll der Wirklichkeit abgelauscht sein.^

Der grosse Haufe der Ärzte suchte dem Publikum durch das hohle Wortgetön der griechisch -lateinischen Terminologie zu imponiren; sie meinten den Kranken einen Dienst erwiesen zu haben, wenn sie, wie Kant schreibt, ihren Leiden einen Namen gegeben hatten. ^ Durdh Pillen und Pflaster, Arzneien, Klystiere und oft wiederholte Blut- entziehungen bemühten sie sich, die Krankheit zu beseitigen, so dass zuweilen eine kräftige Constitution dazu gehörte, um diesen, häufig unzweckmässigen oder verkehrten Massregeln Widerstand zu leisten.

Der Titel eines Doktors der Medicin bot keineswegs die Garantie, dass der Träger desselben ärztliche Kenntnisse besass. Ausser den Universitäten nahm auch der Kaiser, der Pabst und seine Bevollmäch- tigten und die Pfalzgrafen das Eecht in Anspruch, diese Würde zu verleihen. In Neapel genoss die Familie d'Avellino-Caräaciolo noch

* M. Raynaud: Les m^decins au temps de Moli^re, Paris 1862.

* Im. Kant: Versuch über die Krankheiten des Kopfes Inder Ausg. sämmtl. Werke von Rosenkrantz u. Schubert, Leipzig 1838, VII, 16.

Der mediein, Unterricht am Schlips des 18. Jahrh, u, der ärztliche Stand. 363

im Torigen Jahrhundert das Privilegium, Doktoren der Mediein und des Rechts zu ernennen; sie machte davon reichlichen Gebrauch und liess es sich entsprechend bezahlen.

Aber auch an einzelnen Hochschulen wurde mit der Doktor-Pro- motion ein schändlicher Missbrauch getrieben. Manche Professoren sahen in den Taxen, welche dafür entrichtet wurden, eine erwünschte

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Vermehrung ihrer Einnahmen und suchten die Bewerber dadurch an- zulocken, dass sie möglichst geringe Anforderungen an deren Wissen stellten. Die Prüfungen wurden entweder erlassen oder sanken zu einer werthlosen Formalität herab. Die Doktor-Dissertationen konnten von gelehrten Lieferanten, welche die Anfertigung derartiger Arbeiten gewerbsmässig betrieben, zu bestimmten Preisen gekauft werden.^ In Greifswald erwarb i. J. 1788 ein Schuster das medicinische Doktor- Diplom, und zwar auf Grund einer Dissertation über die Heilwirkungen des Pechs. Die Universität Erfurt creirte in einem einzigen Jahre 97 Doktoren der Mediein, während sie überhaupt nicht mehr als 30 Studenten in sämmtlichen Facultäten zählte.

An anderen Hochschulen waren die mit der Erlangung der Doktor- würde verbundenen Unkosten so gross, dass unbemittelte Candidaten darauf verzichten mussten. Sie holten sich dieselbe in Folge dessen entweder an Orten, wo man weniger Geld dafür verlangte, oder be- gnügten sich damit, als Licentiaten der Mediein die ärztliche Praxis auszuüben. In Wien kostete die medicinische Doktor -Promotion bis z. J. 1749 ungefähr 1000 Gulden, in Göttingen 1765 etwa 130 Thaler," in Paris 7000 Livres und in Oxford 100 Pfund Sterling. ^ Dabei ge- währte dieselbe keineswegs überall besondere Vorrechte.

Ausser zahlreichen anderen Heilkünstlem, welche durch die gesetz- lichen Einrichtungen zur ärztlichen Praxis berechtigt waren, erhielten auch herumziehende Empiriker, Bruchschneider, Steinoperateure und Staarstecher an vielen Orten ohne besondere Schwierigkeiten die Er- laubniss, ihre Kunst auszuüben. In auffallendem Aufzuge, behängt mit allerlei buntem Flitterstaat und begleitet von einem Harlekin, wie der im Volksliede verewigte Dr. Eisenbart, zogen sie auf den Jahr- märkten und Kirchweihen umher und erzählten dem Publikum von den wunderbaren Kuren, die sie angeblich verrichtet hatten. Mit un- verschämten Worten priesen sie die Heilkraft ihrer Medicamente gegen Schwindsucht, Taubheit und alle möglichen unheilbaren Leiden. Manche erklärten, dass sie im Stande seien, das Sehvermögen, auch wenn es

* Kais. priv. Reichsanzeiger, Gotha 1802, No. 169—170.

* P. Frank a. a. 0. VI, 3, S. 291.

364 Der mediainisohe Unterrieht in der Neuzeit.

seit vielen Jahren verloren worden, sofort wieder herzustellen; Andere empfahlen Pillen gegen Unfruchtbarkeit, welche nach ihrer Angabe sogar ohne Coitus die gewünschte Wirkung hervorbrachten.

Die Scharfrichter, die unter den Kurpfuschern eine hervorragende Stelle behaupteten, verkauften Menschenblut, welches in frischem schäu- menden Zustande als Heilmittel gegen die Epilepsie betrachtet wurde; sie hatten dafür einen bestimmten Tarif, je nach dem Menschen, von dem es stammte; am theuersten war das Blut einer Jungfrau oder eines Jünglings, am billigsten dasjenige eines Juden. ^

Das grösste Unheil richteten jedoch die herumziehenden Operateure an. Wenn sie auf öffentlichen Plätzen der staunenden Menge unter dem Schmettern der Trompeten und Wirbeln der Trommeln, welche die Schmerzensschreie der beklagenswerthen Patienten übertönen mussten, Proben ihrer Kunst zeigten, so dachte Niemand an die traurigen Folgen, welche diese chirurgischen EingrifiFe häufig zurückliessen. Aber gilt denn nicht noch heut das Wort Bacon's, dass jeder Charlatan und jedes alte Weib als Nebenbuhler des tüchtigsten Arztes angesehen wird und mit ihm um den Vorzug am Krankenbett ringen darf?

^ G. Fischer a. a. 0. S. 49 u. ff. Des getreuen Eckharts mediciniflcher Maulaffe oder der entlarvte Marktschreier, Frankfurt und Leipzig 1719. The tatler, London 1723, IV, No. 243. 0. Büchner a. a. 0. S. 145 u. ff.

IV. Der medicinische Unterricht in der

neuesten Zeit.

Die naturwissenschaftliche Weltanschauung des

19. Jahrhunderts.

Mit den gewaltigen Ereignissen der letzten Decennien des 18. Jahr- hunderts begann die Geschichte der neuesten Zeit. Die politischen und culturhistorischen Gestaltungen der Gegenwart haben mit der franzö- sischen Revolution und den geistigen Bewegungen jener Periode ihren Anfang genommen.

Die französische Eevolution war nicht so sehr gegen die Monarchie als gegen den Feudalismus gerichtet, dessen Vertreter ihre bevorzugte Stellung in unerhörter Weise gemissbraucht hatten. Zum ersten Male wurde das schwere Unrecht, welches darin lag, dass ein Theil der Be- völkerung alle Lasten des öffentlichen Gemeinwesens tragen musste, während der andere sämmtliche Vorrechte und Vortheile davon genoss, allgemein anerkannt und der Grundsatz ausgesprochen, dass Diejenigen, welche den Staat erhalten, auch auf die Verwaltung desselben einen massgebenden Einfluss auszuüben berechtigt sind.

Dieser Gedanke bildete gleichsam den festen Rückstand in den mannigfachen politischen Zersetzungs- und Umwandelungs- Prozessen, welche damals stattfanden. Er führte zum Parlamentarismus, der im 19. Jahrhundert fast in allen civilisirten Landern zur gesetzlichen In- stitution erhoben wurde. Mit der Beseitigung der historischen Privi- legien und der ständischen Gliederung, mit der Aufhebung der Leib- eigenschaft, mit der Einführung der bürgerlichen Selbstständigkeit und Gleichberechtigung der einzelnen Individuen und der Theilnahme der breiten Schichten des Volkes an der Regierung vollzog sich eine sociale Umwälzung von weittragender Bedeutung.

Gleichzeitig mit der politischen Emanoipatioö der bürgerlichen Ge- sellschaft begann auch der Aufschwung der Tagespresse, die Entwickelung

366 Der medidnisohe Unterricht in der nevssten Zeit.

des Journalismus und die Popularisirung von Kunst und Wissenschaft. Das Interesse für die Bestrebungen auf diesen Gebieten drang in Kreise der Bevölkerung, welche früher gänzUch unberührt davon geblieben waren.

An der Culturentwickelung betheiligten sich alle gebildeten Na- tionen, namentlich aber die Franzosen, die Engländer und die Deutschen. Die letzteren, welche schon im 18. Jahrhundert einen Lessing, Heedeb, Goethe, Schiller, Mozabt, Beethoven, Kant und andere erleuchtete Geister hervorgebracht, und in der Dichtkunst und Literatur, in der Musik und Philosophie eine Achtung gebietende Stellung errungen hatten, übernahmen allmälig auch in der Medicin und in den Natur- wissenschaften die Führung. Während in der Geschichte derselben Anfangs neben einzelnen Engländern hauptsächlich Franzosen genannt werden, gewannen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die deutschen Gelehrten und Forscher einen überwiegenden Einfluss.

Anders gestaltete sich das Verhältniss in der Philosophie, welche in Deutschland unter dem Banne der Schulgelehrsamkeit leider den Zusammenhang mit dem praktischen Leben verlor und erst in neuester Zeit wieder gefunden hat.

Mit kritischer Schärfe hatte der grosse Denker von Königsberg die Quellen, den Umfang und die Grenzen des menschlichen Denkens gezeichnet; aber die auf Kant folgenden Philosophen haben seiner Erkenntniss-Theorie nur wenig hinzuzufügen vermocht und sich darauf beschränkt, diese oder jene Eichtung seines Systems weiter zu ent- wickeln. Indem sie dabei gerade an die Frage nach dem Wesen und letztem Grunde der Dinge, welche Kant für überflüssig und unlösbar erklärt hatte, als er die Forschung auf die Welt der Erscheinungen verwies, anknüpften, verlegten sie die Aufgabe der Philosophie wiederum in das mystisch-transcendente Gebiet der Spekulation.

Die geistvollen Hypothesen eines Fichte, welcher die Lösung des Räthsels des Daseins in dem Ich-Begriflf suchte und damit zu einem unbeschränkten Idealismus gelangte, eines Schelling, der die Identität von Natur und Geist verkündete und damit die Naturphilosophie be- gründete, eines Hegel, welcher alles Heil in der absoluten Idee sah, und eines Schopenhauer, der die Welt als Wille und Vorstellung erklärte, konnten wohl eine Zeitlang fesseln, keineswegs jedoch dauernd überzeugen. Keines dieser Systeme hat auf die Naturwissenschaften grösseren Einfluss ausgeübt, als die Naturphilosophie.

Hervorragende Ärzte und Naturforscher, wie Blumenbaoh, Oken, Kielmbyer, J, Döllinger, Oebsted, Bubdaoh, Nees V. Esenbeok, Kieser, K. G. Carus u. A. schlössen sich ihr an, weil sie in ihr be-

Die naiurwissenschaßliehe Wdianschauung des 19, Jahrhunderts, 367

stimmte Gesichtspunkte zur Beurtheilung der empirisch gesammelten Thatsachen fanden. Gleich der Romantik, welche damals die Kunst und Literatur beherrschte, ein echtes Kind dieser nach einem befriedigenden Abschluss der gegensätzlichen und unfertigen Bestrebungen ringenden Zeit, verfolgte auch die Naturphilosophie durchaus edle Ziele, indem sie sich in die Tiefen des Gemüths versenkte, der Medicin ihre erhabenen ethischen Aufgaben ins Gedächtniss rief und die Einheit der verschie- denen Naturwissenschaften zum Ausdruck brachte.

Der empirischen Forschung stellte sie sich erst feindlich gegenüber, als sie, vom religiösen Mystieismus angekränkelt,, die Metaphysik zu ihrem Tummelplatz wählte und, um mit Hamann's Worten zu reden, „aus einer allgemeinen Wissenschaft des Möglichen zu einer allgemeinen Unwissenheit des Wirklichen" wurde. Wenn die Naturphilosophie in greisenhafter Selbstüberhebung ihre vagen und oft veralteten Begriffs- bestimmungen der täglich fortschreitenden Naturwissenschaft entgegen- hielt, so erreichte sie damit nur, dass sich dieselbe gänzlich von ihr abwandte.

Nicht wenig trug die vorzugsweise durch Hegel in die Philosophie eingeführte schwerföUige Form der Darstellung, welche sich in einer selbst fabricirten Sprache abmühte, die einfachsten Dinge möglichst unverständlich zu machen, zu der Entfremdung bei, welche allmälig in Deutschland zwischen der Naturwissenschaft und der Philosophie stattfand.

In andern Ländern war es damit in mancher Beziehung besser bestellt. Hier behielt die Philosophie enge Fühlung mit den Wissen- schaften und Künsten des realen Lebens und stellte bei der methodi- schen Bearbeitung derselben ihre Kräfte in deren Dienst. In Frank- reich begründete Auguste Comte, welcher gleich Kant, an den er anknüpfte, mathematisch und naturwissenschaftlich geschult war, den Positivismus, welcher im Einklang mit dem mächtigen Aufschwung, den die empirische Forschung in jener Zeit dort erlebte, die Metaphysik und den Teleologismus ausschloss und alles philosophische Denken, alle Wissenschaft, auf die durch die Erfahrung festgestellten Thatsachen gestützt wissen wollte.

Diese Kichtung musste den Naturforschern genehm erscheinen und fand daher unter ihnen viele Anhänger und Vertreter. In Deutschland verkündeten Fechner, H. Lotze, H. Czolbe und andere hervorragende Männer der Naturwissenschaft diese Lehren und trugen das zu ihrer Begründung nothwendige Material herbei. Die exakte Schule der Gegen- wart begann wieder mit der Phüosophie zu rechnen, und einer der grössten Naturforscher, Karl Rokitansky, wies auf den Nutzen und

368 Der medictnische Unterricht in der neuesten Zeit.

die Bedeutung hin, welche dieselbe für die Naturwissenschaften und die Medicin besitzt. Aber auch die Philosophen erkannten, dass die positive Kenntniss der wissenschaftlichen Thatsachen die selbstverständ- liche Voraussetzung ihrer Thätigkeit sein muss, wenn sich dieselbe fruchtbringend gestalten soll und ernste Beachtung beanspruchen will. An einzelnen Hochschulen wurden die philosophischen Lehrkanzeln Naturforschem übertragen, welche den Werth der Beobachtung und des Experiments erprobt hatten und damit der Bedeutung, welche die naturwissenschaftliche Weltanschauung für die Culturentwickelung der Gegenwart gewonnen hat, ein deutlicher Ausdruck gegeben. Dieselbe erhielt ihre Begründung in der Fülle von neuen Thatsachen, mit welchen die verschiedenen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert bereichert wurden, und in der Erkenntniss ihrer gegenseitigen Be- ziehungen und gemeinsamen Gesetze, welche eine einheitliche Betrach- tung des Lebens der Natur ermöglichte.

Wenn ich hier einige Thatsachen aus der Geschichte der ver- schiedenen Naturwissenschaften hervorhebe, so geschieht es nur, um den Gang ihrer Entwickelung mit wenigen Worten zu kennzeichnen.

Schon im 18. Jahrhundert versuchte man, die Mineralien nach rationellen Gesichtspunkten zu ordnen. LinnS und Wallerius legten ihrer Eintheilung derselben die äusseren Merkmale und Ähnlichkeiten zu Grunde. Der Schwede Axel von Cronstedt betrachtete dagegen die chemischen Bestandtheile als massgebend; der sächsische Bergrath Abraham Gottlob Werner stellte dann ein Schema auf, welches sich auf die chemischen und physikalischen Eigenschaften sowohl als auf die äusseren Erscheinungsformen stützte. Ihm gebührt auch das Ver- dienst, die Oryktognosie und Geognosie von einander abgegrenzt und die letztere begründet zu haben.

Die wissenschaftliche Bearbeitung der Krystallographie^ begann mit ßoMi: de l'Isle und Haut und wurde von Weiss und Mohs in erfolgreicher Weise fortgesetzt. Andere beschäftigten sich mit den chemischen, optischen und elektrischen Eigenschaften, mit der Phosphor- escenz und den Polarisations-Erscheinungen, welche bei einigen Mine- ralien beobachtet wurden. Die Verwerthung der Chemie für die Mine- ralogie führte zu einer innigen Verbindung dieser beiden Wissenschaften, welche nach vielen Eichtungen anregend und befruchtend wirkte.

In der Geognosie und Geologie wirkte Leopold von Buch bahn- brechend. Gleichzeitig wurde auch die Petrefacten-Kunde, auf welche

* Cuvier: Geschichte der Fortschritte in den Naturwissenschaften seit 1789, Deutsche Übers., Leipzig 1828, 4 Bde.

Die naturwissensehaftliche Weltanschauung des 19. Jahrhunderts. 369

Scheuchzer zuerst die Aufmerksamkeit gelenkt hatte, fleissig getrieben und bot die Materialien zur Lösung mancher Fragen der Geologie und Anthropologie.

In der Botanik wurden verschiedene Versuche unternommen, ein natürliches System der Pflanzen aufzufinden. Adanson erklärte: „Die Natur stellt uns überall natürliche Ordnung dar,*' und meinte, dass sich dieselbe sicherlich nicht auf die Ähnlichkeiten oder Unterschiede eines einzelnen Organs, sondern nur auf die Gesammt- Erscheinung, auf den Total-Habitus stützen könne. Um dieses System zu entdecken, verglich er die einzelnen Pflanzen in Bezug auf ihre verschiedenen Organe und ordnete sie in die Klassen der Nächststehenden, der Nahe- stehenden u. s. w., je nachdem sie mehr oder weniger mit einander übereinstimmten. Diese Eintheilung entbehrte vor Allem der Übersicht- lichkeit und vermochte sich daher keinen Beifall zu erringen.

Eine richtigere Methode schlugen A. L. de Jusseeu, Pyrame de Candolle, Robebt Bbown u. A. ein, indem sie zunächst auf eine genaue Feststellung und Begrenzung der Pflanzen-Familien drangen und eine Reihe werthvoUer Vorarbeiten dazu lieferten. Dabei begründete P. DE Candolle, der selbst mehr als hundert Familien sorgfältig be- schrieb, die Lehre von der Symmetrie der Pflanzengestalt.

Von fundamentaler Bedeutung für die Morphologie waren ferner die Untersuchungen Jos. Gaertners über die Früchte und Samen der Pflanzen und Rob. Brown's monographische Arbeiten. Goethe's Metamor- phosenlehre regte mehr die Naturphilosophen, als die Naturforscher an. Sie war verschwommen und unbestimmt und erfuhr erst durch Schimper und Alexander Braun, welche über die Blattstellung und dieEntwickelung der Pflanzen werthvoUe Aufschlüsse gaben, eine wissenschaftliche Klärung.^

Die Anatomie der Pflanzen fand fleissige Bearbeiter an Brisseau- MiRBEL, dem jüngeren Moldenhawer, Link, Meyen, Hugo Mohl u. A., welche die Ansichten über den Bau der Pflanzen zu einem gewissen Abschluss brachten. Auch die mikroskopische Struktur derselben wurde genauer untersucht, und die Entdeckung, dass die Zelle das alleinige Grundelement derselben ist, wies der morphologischen Forschung eine neue Richtung. Sie drängte zu einer grösseren Berücksichtigung der Histogenese. Man begann diese Verhältnisse an den niederen Krypto- gamen zu studieren, weil man hier mit einfacheren, leichter zu durch- schauenden Thatsachen rechnen durfbe, und ging dann allmälig zu den höher organisirten Pflanzen über.

* Wigand: Geschichte und Kritik der Lehre von der Metamorphose der Pflanzen, Leipzig 1846.

PuscHMANN, Uuterricht. 24

370 Der medidnische Unterrichi in der nettesten Zeit.

Die dabei gewonnenen Ergebnisse warfen ein merkwürdiges Licht auf die Entstehung und das Wachsthum der Organe. Mohl beob- achtete bereits verschiedene Arten der Sporenbildung und beschrieb 1835 einen Fall von vegetativer Zelltheilung. Schleiden stellte 1838 eine Theorie der Zellbildung auf, die aber an so vielen Fehlem litt, dass sie bald nachher wieder aufgegeben wurde. An ihre Stelle trat Naegelis Theorie, welche umfassender war, die verschiedenartigen Fälle ins Auge fasste und das ihnen zu Grunde liegende Gesetz feststellte.

Im Jahre 1839 sprach Schwann den Satz aus, dass die thierische Zelle der vegetablischen analog ist, und 1855 machte Ungeb auf die Ähnlichkeit des Protoplasma der Pflanzenzelle mit der Sarcode der niedersten Thiere aufmerksam, welche durch die Untersuchungen über die Myxomyceten eine weitere Bestätigung erhielt.

Diese Thatsachen führten zu einer richtigeren Beurtheilung der räthselhaften Beziehungen zwischen dem Pflanzen- und Thierreich und trugen ebenfalls dazu bei, die Lehre von der Constanz der Arten, welche lange Zeit als ein unumstössliches Dogma gegolten hatte, zu beseitigen.

Die Befruchtung der Pflanzen wurde von Du Hamel studiert, welcher die Bestäubungseinrichtungen der Blüthen und die EoUe, welche manche Insekten dabei spielen, beschrieb. Eine gründliche Bearbeitung erfuhr dieser Gegenstand seit 1830, indem die Prozesse im Innern der Samenknospen zum Gegenstande sorgfaltiger Untersuchungen gemacht und die Sexualität auch bei den Kryptogamen nachgewiesen wurde.

Auch die Vorgänge der Ernährung, Stofi'-Aufnahme und -Abgabe und des Wachsthums fanden eine ausführliche Darstellung. Die Saft- bewegung, über welche schon Stephan Hales interessante Experimente angestellt hatte, wurde hauptsächlich durch Dutäochet, der die dios- motischen Erscheinungen zu ihrer Erklärung heranzog, aufgeklärt. Ingenhoüss fand, dass die grünen Pflanzentheile unter dem Einfluss des Lichts Kohlensäure aufnehmen, Sauerstoff ausscheiden und auf diese Weise den Kohlenstoff erhalten, den die Pflanzen in der Form orga- nischer Verbindungen in sich aufhäufen, und begründete somit die Lehre von der Athmung und Ernährung der Pflanze. Daran schlössen sich Senebiees Untersuchungen über den Einfluss des Lichts auf das Leben der Pflanze an.

Zahlreiche Arbeiten beschäftigten sich dann mit dem Chemismus der Ernährung und den Bewegungserscheinungen der Pflanzen.^ Auch

» Sachs a. a. O. S. 276 u. ff.

Die natu/noissenschaflliGhe Weltanschauung des 19, Jahrhunderts. 371

die Pathologie derselben fand Beachtung und wurde namentlich in neuester Zeit ausserordentlich gefordert. Endlich trat auch die Pflanzen- Geographie ins Leben, welche dadurch, dass sie die Abhängigkeit der Pflanzenwelt vom Klima und Boden nachwies und erklärte, grosse Be- deutung für die Heilkunde und besonders für die medicinische Geo- graphie erlangte.

Die Zoologie erfuhr durch die Auffindung neuer Thierarten und die sorgfältige Erforschung ihres anatomischen Baues nicht nur eine bedeutende Vermehrung ihres Wissens-Inhalts und gelangte zu einer besseren Systematik, sondern vermochte mit Hilfe der Entwickelungs- geschichte, vergleichenden Anatomie und Palaeontologie zu einer natur- geschichtlichen Gesammt-Anschauung durchzudringen, welche das ganze Gebiet des Werdens und Vergehens in der Natur zu umfassen schien.

BuFPON^ näherte sich bereits diesem Standpunkt, indem er erklärte, dass kein wesentlicher Unterschied zwischen Thieren und Pflanzen be- stehe und die Reihenfolge der organischen Wesen einen einheitlichen Plan zeige. Seine populäre und geistvolle Darstellungsweise, welche den Reichthum der Thatsachen mit kühnen Hypothesen zu verweben verstand, regte die Forscher zu neuen Untersuchungen an und erweckte und verbreitete beim grossen gebildeten Publikum das Interesse für naturwissenschaftliche Gegenstände. Bueton ging dabei auch auf die geographische Verbreitung der Thierwelt ein und hob, wie schon LrNN:fc, die Verschiedenartigkeit derselben in den einzelnen Continenten hervor. Wenn die arktischen Thierformen von Amerika und Europa überein- stimmen, so schloss er daraus, dass einst ein Zusammenhang der beiden Welttheile bestanden habe oder wenigstens Wanderungen der Thiere von einem zum andern möglich gewesen seien.

Die Bekanntschaft mit der überseeischen Fauna wurde hauptsäch- lich durch die wissenschaftlichen. Expeditionen, denen Naturforscher beigegeben wurden, herbeigeführt. So beschrieb Sonnebat mehrere Thiere der südasiatischen Inseln; hauptsächlich aber erwarben sich der ältere Foesteb, Al. von Humboldt und Lichtenstein in dieser Rich- tung Verdienste.

Ebenso wurde die Verbreitung der Thierwelt in den einzelnen Ländern Europas genauer studiert. PalIiAS beschrieb verschiedene neue Thierformen.

Gleichzeitig wurde die Kenntniss der bekannten Thierarten durch wichtige Beobachtungen bereichert. Bonnet bemerkte zuerst die un- geschlechtliche Fortpflanzung der Blattläuse. P. Campee und J. Hunteb

* V. Carus a. a. 0. S. 522 u. ff.

24'

372 Der medicinisehe Unterrickt in d&r nettesten Zeit,

entdeckten gleichzeitig und unabhängig von einander die Pneumacität der Vogelknochen und den Zusammenhang ihrer Lufträume mit den Lungen. Fabbioius und später Lateeille beschäftigten sich vorzugs- weise mit der Entomologie, während Etjdolphi die Helminthologie bearbeitete und Lamarck, 0. F. Müller und Ehrenberg in der Welt der Infusorien Umschau hielten.

Die Zootomie gab über den Bau der verschiedenen Thiere werth- voUe Aufschlüsse, und die Vergleichung ihrer Organisation eröflfeete beachtenswerthe Gesichtspunkte für eine einheitliche Beurtheilung der- selben. Die vergleichende Anatomie und Physiologie erhielt durch J. HuNTBR, F. VicQ d'Azyr, Blumenbaoh, Kielmeyer, Geoffroy St. Hilaire, Cüvier, Tibdemann, C. G. Carus, J. F. Meckel und JoH. Müller eine Fülle wissenschaftlichen Materials zugeführt und wurde als das eigentliche Ziel der Zootomie betrachtet. Ignaz Döllinger schrieb 1814: „Die Aufgabe der Zootomie ist, den Bau der Thiere zu entwickeln und in demselben die Natur des Lebensprozesses nach- zuweisen. Damit wird das Vergleichen des Zootomen Geschäft; er soll Thatsachen zusammenstellen und untersuchen, worin sie sich ähnlich und worin sie sich unähnlich sind; er soll sie mit der Idee des Lebens zusammenhalten und erforschen, wie sich ein und dasselbe durch eine Reihe von Metamorphosen durchbildet".^

Geoffroy St. Hilaire stellte leitende Grundsätze auf, welche den Forschern als Eichtschnur dienen konnten. Cüvier entdeckte das schon von J. Hermann geahnte Gesetz der Correlation der Theile, nach welchem jeder Organismus ein geschlossenes Ganze bildet, dessen ein- zelne Theile nicht abgeändert werden können, ohne dass auch an allen übrigen Organen Aenderungen stattfinden.

Auf Grund dieser neu erschlossenen Thatsachen durfte man sich auch an die Systematik wagen. Batsch versuchte zuerst, die Knochen- thiere von den übrigen zu sondern; aber erst Lamarck brachte die Eintheilung in Wirbelthiere und Wirbellose zum deutlichen Ausdruck und zur allgemeinen Anerkennung.

Den grössten Fortschritt in dieser Hinsicht verdankte man Cüvier, welcher die Typenlehre begründete. Er erklärte, dass es im Thier- reiche vier neben einander stehende Hauptzweige oder „allgemeine Pläne gebe, nach denen die zugehörigen Thiere modellirt zu sein scheinen und deren einzelne ünterabtheilungen nur leichte, auf die Entwickelung oder das Hinzutreten einiger Theile gegründete Modificationen sind,

* J. Döllinger: Über den Werth und die Bedeutung der vergleichenden Anatomie, Würzburg 1814, S. 17.

Die natunüissenschaftliche Weltanschauung des 19, Jahrhunderts. 373

in denen aber an der Wesenheit des Planes nichts geändert wird". K. E. V. Baee bestimmte den Begriflf des Typus genauer und berichtigte die Theorie, namentlich in Bezug auf die Entwickelungsgeschichte, welche Cuvier gänzlich unberücksichtigt gelassen hatte.

Die wissenschaftliche Bearbeitung der letzteren begann damals mehr, als bisher, hervorzutreten und auf die verwandten Disciplinen Einfluss auszuüben. Pander veröffentlichte seine bahnbrechenden Unter- suchungen über die Entwickelung des Huhns, in welchen er den Nach- weis lieferte, dass sich der Vogelkörper aus drei Keimblättern bildet. K. E. V. Baeb zog auch die übrigen Klassen der Wirbelthiere in Be- tracht und wies auf die verschiedenen Sonderungsvorgänge am Keime hin. Auch von Anderen wurden die Veränderungen des Eies nach der Befruchtung beobachtet und die Furchungsprozesse beschrieben. Femer wurde die Entwickelung einzelner Organe, z. B. diejenige des Gehirns, des Auges, der WoLEF'schen Körper u. a. m. zum Gegenstande besonderer Untersuchungen gemacht.

Dabei wurde man auf die Ähnlichkeit in der Entwickelung der Embryonen verschiedener Thierformen aufmerksam. John Hünteb, KiELMEYER Und Später Oken begründeten die Theorie, dass die Em- bryonen der höher organisirten Thiere die Entwickelungsstadien der niederen Klassen durchlaufen. Die entwickelungsgeschichtlichen That- sachen in Verbindung mit den palaeontologischen Funden, welche die Verschiedenheiten zwischen den fossilen Pflanzen und Thieren und den heutigen Repräsentanten ihrer Art erkennen Hessen, erschütterten auch in der Zoologie den Glauben an die Unveränderlichkeit der Form und bereiteten die Descendenztheorie vor.

Schon i. J. 1 804 erklärte Lamarck unter Hinweis auf die Bastardirung und Varietätenbildung, dass der Begriflf der Art nur dem an ein kurzes Zeitmass gewöhnten Urtheil der Menschen unveränderlich erscheine, in der Wirklichkeit aber wechsele und sich den äusseren Lebensverhältnissen an- passe. Im J. 1830 veröflFentlichte Lyell seine Principles of Geology, in denen er auseinander setzte, dass es zur Erklärung der Veränderungen der Erdrinde durchaus nicht immer der Annahme grosser gewaltiger Katastro- phen bedürfe, sondern dass dazu die langsam, aber stetig wirkenden Kräfte der Natur ausreichen. Er wies auf die Wirkungen der Flüsse und Meere, der Mineralquellen und Gletscher hin und verglich die Veränderungen der unorganischen Welt mit dem Minutenzeiger der Uhr, „dessen Vorrücken man sieht und hört, während die Fluktuationen der lebenden Schöpfung kaum sichtbar sind und der Bewegung des Stundenzeigers gleichen".^

* 0. Schmidt: Descendenzlehre und Darwinismus, Leipzig 1873, S. 117.

374 Der medidnische Unterricht in der nettesten Zeit,

Das Dogma der Constanz der Artea wurde allmälig von den meisten Naturforschern yerlassen. Man sah, dass die Arten sich inner- halb gewisser morphologischer Grenzen . verändern, und wurde dadurch zu der Vermuthung gedrängt, dass sie sich auf diese Weise zu ihrer gegenwärtigen Form entwickelt haben. Ch. Dabwust hat das unver- gängliche Verdienst, diese Hypothese zur wissenschaftlichen Thatsache erhoben zu haben. Gestützt auf ein reiches Beobachtungs-Material, unternahm er es, die Ursachen zu ergrunden, welche die Entstehung der Arten erklären, und kam zu dem Eesultat, dass der Kampf ums Dasein und die natürliche Zuchtwahl zu einer Auslese des Besseren und Passenderen führen, welche den Untergang des unterliegenden Theiles und die allmälige Vervollkommnung des siegenden im Gefolge haben. Diese Theorie, welche von Wallace, Naegeli u. A. in einzelnen Punkten berichtigt und ergänzt wurde, bildete den Grundstein einer neuen natur- wissenschaftlichen Weltanschauung.

Als bald darauf der Versuch gemacht wurde, darauf eine natür- liche Schöpfungsgeschichte aufzubauen, und dabei auch die Stellung des Menschen gegenüber den übrigen Bewohnern der Erde in den Kreis der Erörterung gezogen wurde, erregte die neue Lehre den heftigen Unwillen aller Derjenigen, welche darin einen Angriff auf die Religion und die Menschenwürde erblickten. Die Lückenhaftigkeit der That- sachen, besonders in der Palaeontologie, und die mangelhafte Kennt- niss mancher physiologischen und entwickelungsgeschichtlichen Vorgänge gestattete allerdings nicht Schlussfolgerungen von solcher Tragweite, wie sie bisweilen zu Tage traten; aber dieselben hüllten sich in das anspruchslose Gewand der Hypothese und forderten nicht bedingungs- lose Unterwerfung, sondern eine freimüthige Kritik. Die Religion wird niemals von der Wissenschaft bedroht werden, wenn sie es unterlässt, die Freiheit der Forschung anzufeinden, und in der ethischen Erziehung des Menschengeschlechts, in der Veredelung des Gemüthslebens ihre einzigen Aufgaben erkennt

Physik und Chemie in den letzten hundert Jahren.

Während sich die Mineralogie, Botanik und Zoologie aus be- schreibenden Naturwissenschaften in erklärende umwandelten, gewannen auch die Physik und Chemie durch die Verbesserungen der Unter- suchungsmethoden und die Fülle neuer Entdeckungen eine andere Gestalt.

Physik und Chemie in den letzten hundert Jahren, 375

In der Chemie wurde diese Periode eingeleitet durch die Ent- deckung des Sauerstoffs und die Beseitigung der Phlogiston-Theorie und charakterisirt durch die Methode der quantitativen Untersuchungen. Im J. 1774 fand Jos. Pbiestley den Sauerstoff, indem er rothes Queck- silberoxyd zum Erhitzen brachte. Zu gleicher Zeit beobachtete er, dass das dabei gewonnene Gas die Athmung und Verbrennung besser unter- hält, als die gewöhnliche Luft; aber er vermochte nicht, die daraus sich ergebenden Schlüsse zu ziehen. Er war ein genialer Dilettant, der die Wissenschaft mehr in der Breite als in der Tiefe erforschte. Er hat die Chemie mit einer Menge von Entdeckungen bereichert, und, wie Kopp sagt, für die Kenntniss der Gase mehr geleistet, als die berufs- mässigen Naturforscher.^

Erst Lavoisibb erkannte die volle Bedeutung der Entdeckung des Sauerstoffs. Schon zwei Jahre vor derselben lieferte er den experi- mentellen Nachweis, dass sowohl bei der Verkalkung der Metalle, als bei der Verbrennung von Phosphor und Schwefel im Widerspruch mit der phlogistischen Theorie eine Gewichtszunahme erfolgt, welche auf der Absorption von Luft beruht; aber er wusste nicht, ob dabei die Luft im Ganzen oder nur ein Theil derselben wirksam ist. Als er durch Pbibstley den Sauerstoff kennen lernte, kam er auf den Ge- danken, in ihm die Ursache dieser Erscheinungen zu suchen. Durch zahlreiche Versuche stellte er fest, dass sich nur ein Fünftel der atmosphärischen Luft an der Verbrennung betheiligt, und dass die Luft aus einem Theile Sauerstoff und vier Theilen eines Gases besteht, welches weder zur Verbrennung noch zur Athmung geeignet ist. Seine Angaben über die Zusammensetzung der Luft, des Wassers und ver- schiedener ^Säuren wurden von Cavendish bestätigt und in einzelnen Punkten ergänzt^

Mit der Widerlegung der phlogistischen Theorie tauchten ver- schiedene Fragen auf, welche bis dahin auf Grund derselben oder nach ihrer Analogie gelöst worden waren. Da Lavoisibb in allen Säuren, die er untersuchte, Sauerstoff fand, so erklärte er denselben für den diesen Körpern gemeinsamen Bestandtheil, also für Das, was man früher als Ursäure bezeichnet hatte; er wies femer auf die Rolle hin, welche der Sauerstoff bei der Oxydation oder sogenannten Verkalkung der Metalle spielt. Von dem Wesen der Kausticität hatte Black schon früher eine richtige Darstellung gegeben.

^ Kopp a. a. O. I, 239.

' Kopf: Beiträge zur Geschichte der Chemie, Braunschweig 1875, III, 254 u. ff.

376 Der medicmische Unterricht in der neuesten Zeit,

Lavoisier entwickelte ferner die Bedeutung, welche der Sauerstoff für die Athmung und Blutbereitung besitzt, und gab dadurch die An- regung zu einer gründlichen Umänderung der physiologischen Lehren über diese Vorgänge. Aber auch auf die Pathologie und Therapie übte die Entdeckung des Sauerstoffs einen grossen Einfluss aus. Einzelne Ärzte sahen in ihm die Lebensluft, auf welcher die Gesundheit beruhe. Sie glaubten, dass bestimmte Krankheiten in dem Überschuss oder Mangel von Sauerstoff ihren Grund hätten, und verwendeten ihn daher in der Therapie.

Lavoisiers Lehren fanden die früheste Aufnahme in seinem Vater- lande Frankreich. Zu seinen Anhängern gehörten Guyton de Morveaxj, der sich um die Einführung einer rationellen chemischen Nomenklatur verdient machte, Fourcroy, welcher sich mit der medicinischen Chemie beschäftigte, und Berthollet, der die Zusammensetzung des Ammoniaks ermittelte, die bleichende Kraft des Chlors zuerst be- obachtete und deren Bedeutung für das praktische Leben erkannte, das chlorsaure Kali und das Knallsilber entdeckte, die Blausäure genau untersuchte und deren Bestandtheile feststellte, den Irrthum Lavoi- siers berichtigte, dass in allen Säuren Sauerstoff enthalten sei, die Lehre von der chemischen Verwandtschaft begründete und auf die Wichtigkeit der quantitativen Verhältnisse, welche dabei in Frage kamen, hinwies und die technische Chemie, namentlich die Stahl- und Salpeter- fabrikation förderte.

In Deutschland war Klaproth der Erste, welcher die anti- phlogistische Theorie vertheidigte. Die Chemie verdankt ihm die Ent- deckung mehrerer Elemente und die Richtigstellung Verschiedener irriger Angaben, welche von andern Forschem gemacht worden waren. Seine analytischen Arbeiten zeichneten sich durch ihre Genauigkeit aus und übertrafen in dieser Beziehung sogar diejenigen Vauquelins, welcher um die gleiche Zeit die mineralogische Chemie bearbeitete, und dabei das Chrom und die Beryllerde auffand. Auch der organischen Chemie widmete er seine Aufmerksamkeit und entdeckte z. B. die Chinasäure.

Im Beginn unsers Jahrhunderts verkündigte J. L. Proust das Gesetz, dass die chemischen Verbindungen stets eine bestimmte Constanz ihrer Zusammensetzung zeigen. Ausserdem lieferte er wichtige Beiträge zur Chemie einzelner Metalle und entdeckte den Traubenzucker. Der Engländer Dalton versuchte, die Constanz der chemischen Verbindungen durch die atomistische Theorie zu erklären, indem er annahm, dass sich die Atome verschiedener Elemente in einem bestimmten, von ihrem Gewicht abhängigen Verhältniss vereinigen; dabei fand er das Gesetz

Physik und Chemie in den letzten hundert Jahren, 377

der multiplen Proportionen.^ Die stöchiometrischen Untersuchungen Daltons wurden von Wollaston, der die Bezeichnung der Äquivalente anstatt der Atomgewichte einführte, und Berzelius fortgesetzt und ergänzt.

Eine Erweiterung erfuhr dieser Gegenstand durch Gay-Lussac, welcher bei der Untersuchung der chemischen Verbindungen auch die Volumen -Verhältnisse der Körper, wenn sie sich im gasformigen Zu- stande befinden, zu berücksichtigen empfahl. Im J. 1805 fand er in Gemeinschaft mit. xIlexander von Humboldt, dass sich das Wasser aus 1 Volumen Sauerstoff und 2 Volumen Wasserstoff zusammensetzt. Später untersuchte er noch andere Verbindungen von diesem Gesichts- punkt aus und stellte dabei fest, dass ihre Bestandtheile, sobald sie im gasartigen Zustande sind, auch in einem bestimmten Raumverhältniss zu einander stehen; er legte somit die Grundlage zu der Volumen- Theorie.

Gay-Lussao veröffentlichte ferner werthvoUe Arbeiten über die Ausdehnung der Gase durch die Wärme, über die Dichtigkeit der Dämpfe, zu deren Bestimmung er geeignete Untersuchungsmethoden angab, über das Jod, welches kurz vorher entdeckt worden war, und seine Verbindungen, sowie über mehrere Chlorverbindungen. Er gab die erste richtige Darstellung der Zusammensetzung der Blausäure, er- läuterte das Wesen des Cyans, entdeckte den Jodwasserstoff-Äther und die Unterschwefelsäure, und vereinfachte die Prüfung verschiedener im täglichen Leben gebrauchten Stoffe.

Die Erforschung der quantitativen Verhältnisse zwischen den ein- zelnen Bestandtheilen der chemischen Verbindungen trat in ein neues Stadium, als die Thatsache bekannt wurde, dass der elektrische Strom die letzteren zerlegt. Nicholson, Carlisle, Ceuikshank, sowie Ber- zelius und Hisinger machten darüber verschiedene interessante Be- obachtungen, und HuMPHRY Davy *gab ihnen eine theoretische Grund- lage. Er zeigte, dass mittelst des elektrischen Stromes das Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff und die Salze in Säuren und Basen zerlegt werden, von denen sich die ersteren am positiven, die letzteren am negativen Pol der Volta'schen Säule niederschlagen, wies die Zerlegbar- keit mehrerer zusammengesetzter Körper, z. B. der feuerbeständigen Alkalien, der alkalischen Erden, des Baryt, des Strontian, der Bittererde, Kalkerde u. a. m. nach und sprach die Ansicht aus, dass die chemischen und elektrischen Wirkungen Äusserungen der gleichen Kraft seien; er

* A. WuRTz; Geschichte der chemischen Theorien, Deutsche Übersetzung, Berlin 1879, S. 29 u. ff.

378 Der mediGimsche Unterricht in der neuesten Zeit.

glaubte, dass dieselben bei der Berührung grösserer Massen in der Form der Elektricität, beim Zusammentreffen kleiner Theilchen als chemische Verwandtschaft zu Tage treten.

Davy's Arbeiten gaben die Anregung zu einer Reihe von elektro- chemischen Untersuchungen, welche von Tkönaed, dem Entdecker des Wasserstoffsuperoxyds, und Gay-Lussac angestellt wurden und die Kenntniss einzelner Elemente, besonders des Kaliums und Natriums, ebenso wie die Technik der Forschungsmethoden wesentlich förderten. Zu gleicher Zeit gaben Schweigger und Berzelius neue Aufechlüsse über die Theorie des Elektrochemismus; der letztere ging von der An- nahme der elektrischen Polarität der Atome der Körper aus und er- klärte demgemäss die Entstehung chemischer Verbindungen als ein Aneinanderlagem der entgegengesetzten Pole der Atome verschiedener Körper.

Im J. 1834 fand Farad ay die wichtige Thatsache, dass dieselbe Menge cirkulirender Elektricität auch stets denselben chemischen Effekt hervorbringt. Danut gewann er ein Maass für die vorhandene Elek- tricität. Indem er femer die Wirkungen derselben auf die verschiedenen Verbindungen studierte, machte er die Beobachtung, dass die Gewichts- mengen der Stoffe, welche vom elektrischen Strom zerlegt werden, ihrem chemischen Äquivalentgewicht entsprechen. Auf diese Weise erhielt die Lehre von der chemischen Verwandtschaft eine Beleuchtung, welche sich auf das ganze Gebiet des Elektrochemismus erstreckte.

Auch die übrigen Theile der Chemie wurden erfolgreich bearbeitet. H. Davy berichtigte die irrigen Ansichten über das Chlor und führte den Begriff der Wasserstoffeäuren ein; ferner machte er zuerst auf die berauschende Wirkung des von Priestley entdeckten Stickoxyds auf- merksam. Erwähnung verdienen auch seine Untersuchungen über die Malerfarben an antiken Kunstwerken und über die Mittel, um die in Pompeji gefundenen Handschriften ih einen lesbaren Zustand zu bringen.

Berzelius wirkte nach allen Richtungen der Chemie anregend und fördernd und schuf eine Schule, aus welcher eine Eeihe der her- vorragendsten Chemiker des 19. Jahrhunderts, wie Chr. Gmelin, Mit- SOHERUCH, die beiden Rose, Wühler, Magnus, Arfvedson und Andere hervorgingen. Er erleichterte die quantitative Analyse, indem er die Löthrohr- Untersuchungen mehr in Aufnahme brachte, entdeckte und beschrieb mehrere bis dahin nicht bekannte Elemente und lieferte vor- treflniche Beiträge zur Zoochemie. Faraday beschäftigte sich mit der Flüssigmachung der Gase und mit Verbesserungen der Stahl- und der Glasfabrikation, während Dumas Untersuchungen über das specifische Gewicht verschiedener Gase anstellte.

Physik tmd Chemie in den letzten hundert Jahren, 379

MiTSCHEBLiGH Unternahm die künstliche Nachbildung anorganischer Körper und zeigte, dass sie identisch sind mit den in der Natur vor- kommenden Mineralien, yeröfiFentlichte wichtige Arbeiten über die V^er- bindung des Natrons mit Jod, sowie über die Oxydationsstufen des Mangans, und bahnte durch seine Entdeckung des Isomorphismus und Dimorphismus in der Chemie eine physikalische Richtung an, die auch für die Mineralogie von Bedeutung war. Die Thatsache, dass Körper von verschiedener chemischer Zusammensetzung die gleiche Krystall- gestalt besitzen und ihre Bestandtheile durch andere Elemente ersetzt werden können, ohne dass sich ihre Form ändert, während andere Körper, wie der Schwefel, bei gleicher chemischer Zusammensetzung, unter verschiedenen Gestalten erscheinen, übte auf die weitere Ent- wickelung . der Chemie einen grossen Einfluss aus.

Mit Liebig und Wöhleb trat die organische Chemie in den Vordergrund. Hier eröffnete sich der wissenschaftlichen Forschung ein Arbeitsfeld, welches bis dahin noch wenig oder gar nicht bebaut worden war. Die Untersuchung der organischen Verbindungen, ihrer Zusammen- setzung und Eigenschaften und die Versuche, sie künstlich darzustellen, boten eine Fülle von Aufgaben, deren Lösung die Chemiker des 19. Jahr- .hunderts vollauf beschäftigte. ^

Dazu kam die Erkenntniss der vielfachen und tiefgreifenden Be- ziehungen, welche die Chemie zum praktischen Leben hat, und ihre Verwerthung für die Landwirthschaft, für verschiedene Handwerke und Gewerbe, die Malerei, die Kriegskunst, die Nahrungsmittellehre, die Physiologie, Pharmakologie und Pharmaceutik. Die Agricultur-Chemie, die technologische, physiologische und pharmaceutische Chemie haben sich allmälig zu besonderen Disciplinen entwickelt, und die Chemie ist zur Wissenschaft des täglichen Lebens geworden, welche die Bedürfnisse des Menschen regelt und befriedigt. ^

In der Physik wurde diese Periode mit der Entdeckung der merk- würdigen Erscheinungen des Galvanismus eröffnet, welchen Al. Volta die richtige Deutung gab. Sie erregte ausserordentliches Aufsehen und veranlasste eine Reihe von Arbeiten, deren Ergebniss die Verbesserung der Volta'schen Säule, die Feststellung ihrer Wirkungen und der Be- dingungen, unter denen sie zu Stande kommen, und die Entdeckung anderer wichtiger Thatsachen bildete. Man erkannte die wesentliche

* A. Ladenbubq: Vorträge über die Entwickelungsgeschichte der Chemie in den letzten hundert Jahren, Braunschweig 1887, S. 117 u. flP. H. Kopp: Die Entwickelung der Chemie in der neueren Zeit, München 1873, S. 518 u. ff.

' Kopp: Geschichte der Chemie, I, 270 u. ff.

380 Der medicmische Unterricht in der neuesten Zeit,

Identität des Galvanismus mit der Elektricität.und stellte das Verhalten der verschiedenen Metalle dagegen fest.

Von fundamentaler Bedeutung wai* Oebstbd's Beobachtung, dass die Magnetnadel durch den Strom abgelenkt wird; denn man wurde dadurch auf den Zusammenhang zwischen Elektricität und Magnetismus hingewiesen. Abago und Gay-Lussac zeigten bald darauf, dass der Strom nicht blos ablenkt, sondern auch magnetisirt. Schweigger con- struirte den ersten Multiplicator, und AmpSbe entdeckte den gegen- seitigen Einfluss der elektrischen Ströme, versuchte eine Erklärung des Wesens des Magnetismus zu geben und entwickelte zuerst die Idee des elektromagnetischen Telegraphen.

Gleichzeitig beobachtete man die Wechsel- Wirkungen zwischen Wärme und Elektricität, und Seebeck fand in der sogenannten Thermo-Elektricität eine neue Quelle der Elektricität. Ohm entdeckte die für die Leitungs- fähigkeit der Metalldrähte und für das zwischen Strom-Intensität, elek- tromotorischer Kraft und Widerstand bestehende Verhältniss geltenden Gesetze und brachte sie in eine leichtfassliche mathematische Formel Fabaday bemerkte zuerst die elektrischen Induktionsströme und stu- dierte die Wechsel- Beziehungen zwischen Elektricität und Licht. Die Verbesserungen in der Technik der Untersuchungsmethoden, die Er- findung zweckentsprechender Apparate und Instrumente und die darauf folgenden wissenschaftlichen Ergebnisse bildeten weitere Bereicherungen der Kenntnisse auf diesem Gebiet.

Für die Physiologie erlangten hauptsächlich zwei physikalische Entdeckungen eine mächtige Bedeutung, nämlich die Feststellung der Thatsache, dass im thierischen Körper elektrische Ströme kreisen und die Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung und Umwandlung der Kraft. Durch das letztere wurde bewiesen, dass Elektricität, Wärme und mechanische Arbeit oder Bewegung ineinander übergeführt oder zur Auslösung gebracht werden können und äquivalente Erscheinungsformen der gleichen Kraft sind. Damit war das einheitliche Band aufgefunden, welches die wichtigsten Funktionen des organischen Lebens umschlingt.

Die Verwendung der Elektricität zu technischen Zwecken, z. B. zur Telegraphie, zur Beleuchtung, zum Treiben von Maschinen u. a. m. gehört ebenfalls der neuesten Zeit an.^

Die enge Verbindung, welche die Physik mit der Mathematik schloss, die sie als Pfadfinder sowohl wie zur Controlle gebrauchte, und die gewissenhafte und gründliche Methode des Experiments sicherten der Forschung auch in den übrigen Richtungen dieser Wissenschaft

1 E. Hoppe: Geschichte der Elektricität, Leipzig 1884, S. 118 u. ff.

Physik K/nd Chemie in den letzten hundert Jahren: 381

bedeutende Resultate. Am deutlichsten musste dies in der Mechanik hervortreten; Laplace, Young, Gauss u. A. unternahmen es, die den verschiedenen Vorgängen, z. B. der Capillarität, zu Grunde liegenden Gesetze festzustellen. Auch die Astronomie, die Meteorologie und Kli- matologie verdankten diesen Bestrebungen manche Anregung und eine bedeutende Vermehrung des wissenschaftlichen Materials.

Die Entwiokelung der Wärmelehre stand ebenfalls unter diesem Einfluss. Rumford machte die Beobachtung, dass durch Reibung Wärme erzeugt wird, und schuf dadurch die erste Grundlage zur me- chanischen Wärmetheorie. ^ Die Mittheilungen über die ungleiche Wärme-Capacität der Körper, die Untersuchungen über den Grad der Ausdehnung, welche sie durch die Wärme erfahren, über die Spann- kraft des Wasserdampfes und deren Verwerthung für die Wärme-Öko- nomie der Dampfmaschine, die calorimetrischen Messungen, besonders die Versuche in Betreff der Heizkraft der Combustibilien u. a. m. nahmen die Physiker umsomehr in Anspruch, als sie den Bedürfnissen des prak- tischen Lebens entsprachen. Das Gesetz der Äquivalenz von Wärme und Arbeit warf auf viele dieser Fragen ein klärendes Licht und zeigte den Weg zu ihrer Lösung.

Die Optik wurde durch den Sieg der Undulations- Theorie des Lichts und durch zahlreiche Entdeckungen gefördert. Young benutzte das Princip der Interferenz des Lichts zur Erklärung verschiedener Erscheinungen, und Fbesnel studierte die Lichtbeugung. Im J. 1809 entdeckte Malus die Polarisation des Lichts durch Reflexion, und nicht lange nachher machte Brewsteb^ auf die Existenz zweiaxiger Krystalle, sowie auf die innigen Beziehungen zwischen optischer und krystallini- scher Struktur aufmerksam. Er construirte später auch das erste diop- trische Stereoskop.

Ebenso wurden die chemischen Wirkungen des Lichts einer ge- nauen Untersuchung unterzogen; dieselbe führte zur Erfindung der Photographie, welche sich an die Namen von Daguerre, Niepce und Talbot knüpft.

Feaünhofer beobachtete, wie schon Wollaston vor ihm, die dunkeln Streifen im Sonnen-Spektrum; aber eine Erklärung derselben wurde erst von Kirchhofe gegeben. Die Entdeckung der Spektral- Analyse gab Aufschlüsse über die physikalische Natur und die chemi- sche Zusammensetzung der Weltkörper und eröffnete der Forschung ein neues Arbeitsfeld.

^ Gr. Berthold: Rumford u. die mechanische Wärmetheorie, Heidelberg 1875. * D. Brewster in den Philos. Transactions, London 1818, p. 199 u. ff.

382 Der medidnische Unterricht in der neuesten Zeit,

Die Verbesserungen der optischen Hilfsmittel, namentlich die Er- findung der achromatischen Fernrohre, sowie diejenige der achromati- schen Mikroskope, die zuerst von Hebmann van Deyl und Fbaunhofeb in der Zeit von 1807 1811 angefertigt wurden, und die Vervollkomm- nungen, welche dieselben später durch Plössl, Selligue, Chevalieb, Amici, Obebhäüseb, Habtnack u. A. erfuhren, hatten für alle Gebiete der Naturforschung eine grosse Bedeutung.

Die Akustik wurde durch Chladni, Ohm u. A. mit einigen werth- vollen Arbeiten bereichert; doch ist die wissenschaftliche Begründung dieses Theiles der Physik eigentlich erst der jüngsten Zeit gelungen und hauptsächlich Helmholtz zu verdanken.

Die Physik und Chemie sind die eigentlichen Hilfswissenschaften der Medicin geworden, welche in der Physiologie wie in der Pathologie, in der internen Heilkunde wie in der Chirurgie zu Kath gezogen werden.

Die medicinischen Systeme und die Fortschritte in

der Anatomie und Physiologie.

Die durch Halleb zur allgemeinen Anerkennung gelangte Lehre, dass Sensibilität und Irritabilität die Grundeigenschaften des animali- schen Organismus bilden, die darauf folgenden Entdeckungen in der Chemie und vor Allem der Galvanismus riefen eine Anzahl medicini- scher Systeme hervor, in denen der Versuch gemacht wurde, mit Hilfe dieser Thatsaehen die Erscheinungen des menschlichen Körpers im ge- sunden und im kranken Zustande zu erklären und bestimmte Gesichts- punkte für die Heilung zu gewinnen.

Ein Theil der Ärzte sah gleich den Methodikern des Alterthums in allen physiologischen und pathologischen Äusserungen Reizungen oder Erschlaffungen, deren Ursachen bald in das Nervensystem verlegt wurde, wie es Cullen that, bald in der grösseren oder geringeren Erregbarkeit gesucht wurde, wie es durch John Bbown und seine An- hänger geschah.

Die Erregungstheorie wurde von Chb. Gibtanneb, welcher den Sauerstoff für das wirksame Princip der Erregbarkeit erklärte, von Röschlaub, der auf den Einfluss der Anlage, der Organisation hinwies, von Bboussais, der an die Stelle der Reizung die Entzündung setzte und die Theorie durch die pathologische Anatomie stützen wollte, und von Rasobi, welcher die für die kalten torpiden Naturen des Nordens

Die medidn, Systeme u, die Fortschritte in der Anatomie u, Physiologie, 383

berechnete Lehre Browns den Verhältnissen seiner südländischen Heimath anpasste, erweitert und ausgearbeitet. Sie erlangte eine grosse Verbreitung, wurde aber ebenso rasch wieder aufgegeben, als ihre Halt- losigkeit nachgewiesen worden war.

Der wissenschaftlichen Forschung stand sie kalt und gleichgültig gegenüber, die praktische Heilkunst belastete sie mit einer vielgeschäf- tigen Polypharmacie, die häufig mehr Schaden als Nutzen stiftete.

Einen tieferen Gehalt hatte der Vitalismus, welcher mit der Er- regungstheorie um die Herrschaft in der Medicin rang und schliesslich den Sieg davontrug. Derselbe nahm von Montpellier seinen Ausgang und erinnerte in manchen Beziehungen an den Animismus Stahl's; doch unterschied er sich von dem letzteren in vortheilhafter Weise da- durch, dass er über dem die Ordnung und Harmonie im Organismus schaffenden allgemeinen Lebensprincip keineswegs das Studium der einzelnen Verrichtungen und Theile des Körpers vernachlässigte und nicht, wie jener, die Seele zur Erklärung aller, auch der einfachsten Lebensvorgänge benutzte, sondern nur dann darauf zurückging, wenn er die letzten treibenden Ursachen im thierischen Organismus bezeichnen wollte. Er verlangte nicht, auf dem Gemälde der Medicin die Haupt- figur zu sein, sondern begnügte sich damit, als Grundton verwendet zu werden. Seine Vertreter, zu denen in Frankreich Forscher wie BoRDEU, Barthbz, Grimaud, Pinel, Bichat, Chaussier u. A., in Eng- land Erasmus Darwin, in Deutschland Blumenbach, J. C. Reil u. A. gehörten, standen an der Spitze der wissenschaftlichen Bestrebungen und lieferten durch ihre Leistungen den Beweis, dass der Vitalismus den Fortschritt nicht hemmte. Dadurch erklärt es sich zum grossen Theile, dass er auch fortdauerte, als in Deutschland die Naturphilosophie und in Frankreich die physiologische Schule die Medicin beherrschte.

Doch hatte er auch einzelne Verirrungen im Gefolge, namentlich auf dem Felde der Therapie. Der Mesmerismus sowohl wie die Ho- möopathie behaupteten, dass ihre Behandlungs-Methode unmittelbar auf die Lebenskraft einwirke. Wenn sie damit Heilerfolge erzielten, so beruhte dies in dem ersten Falle wohl hauptsächlich auf den Erschei- nungen des Hypnotismus, der Metallotherapie u. a., welche erst in neuester Zeit einer sorgfältigen Beobachtung unterzogen wurden, bei der Homöopathie auf den Wirkungen der im Körper vorhandenen regu- latorischen Vorrichtungen.

Der Vitalismus verlor den Boden, als es gelang, die complicirten Lebensprozesse in die einzelnen Faktoren aufzulösen und nach den allgemeinen Naturgesetzen zu erklären.

Die empirische Forschung, welche alle erleuchteten Geister seit

384 Der medidnische Unterricht in der neuesten Zeit,

Aristoteles als die einzige Quelle der Erkenntniss gepriesen hatten wurde allmälig die Losung des Tages, und man sah davon ab, medi- cinische Systeme zu ersinnen, an denen die Thatsachen gewöhnlich nur geringen, die Hypothesen und Spekulationen den grössten Antheil hatten. Wenn in der Geschichte der Medicin des 19. Jahrhunderts zuweilen eine besondere Richtung der Forschung, z. B. die Physiologie, die pathologische Anatomie und in jüngster Zeit die Hygiene, in den Vordergrund trat und die Entwickelung der gesammten Wissenschaft beeinflusste, so lag dies nicht an einer willkürlichen Systemsucht, sondern ergab sich aus der Erfahrung, dass die Bearbeitung dieses einzelnen Feldes die reichsten Früchte für das Ganze trug.

Es ist hier nicht meine Aufgabe, alle Entdeckungen und Fort- schritte in den einzelnen Disciplinen der Heilkunde, welche in unserem Jahrhundert stattgefunden haben, aufzuzählen. Ich darf mich darauf beschränken, die grossen Errungenschaften der Medicin anzuführen, und muss es mir versagen, jeden der Steine zu beschreiben, welche sich zu dem Mosaikbilde der Gegenwart zusammensetzen.

Der anatomische Bau des menschlichen Körpers war im Allge- meinen der Wissenschaft bereits erschlossen, als diese Periode begann; es handelte sich nur noch darum, die Lücken in der Kenntniss ein- zelner Gebiete, namentlich in Bezug auf das Gefäss- und Nervensystem und die Sinnesorgane, zu ergänzen. Femer galt es, über die feinere Struktur der Organe, welche nach der Verbesserung der Mikroskope und der Einführung neuer technischer Hilfsmittel mit grösserer Aus- sicht auf Erfolg untersucht werden konnte, eine klare Einsicht zu ge- winnen.

Ausserdem versuchte man, die Anatomie von einem anderen, als dem reinen descriptiven Gesichtspunkt zu betrachten. Die einzelnen Theile und Organe des Körpers wurden nach den verschiedenen Ge- genden geordnet, in ihrer gegenseitigen Lagerung studiert und die Be- deutung dieser Verhältnisse für die Chirurgie erörtert.

Neben der Bearbeitung der topographischen und chirurgischen Anatomie wurde ferner der Einfluss der Entwickelungsgeschichte auf die Form und Gestaltung der Theile des Körpers untersucht und auf diese Weise die eigentlich -morphologische Betrachtung der Anatomie angebahnt. Während für die vergleichende Anatomie zwischen dem Menschen und den Thieren bereits ein reiches Wissens-Material vorlag, welches beständig vermehrt wurde, begann man jetzt auch, den Eigen- thümlichkeiten und Verschiedenheiten der menschlichen Kassen die Aufmerksamkeit zuzuwenden und dadurch den Grund zur wissenschaft- lichen Behandlung der Anthropologie zu legen.

Die medkln. Systeme u. die Fartsehritte in der Anatomie u. Physiologie. 385

Zu den hervorragendsten Anatomen, welche am Schluss des vorigen Jahrhunderts lebten, gehörte Th. Soemmering. Seine wissenschaftliche Thätigkeit umfasste die verschiedenen Richtungen, in' denen sich damals die anatomische Forschung bewegte. Schon seine Inaugural-Dissertation über die Basis des Gehirns war eine Arbeit von bleibendem Werth. Er hat die Erwartungen, die er darnach erregte, in vollem Maass er- füllt. Seine vortrefiFlichen Abbildungen des Auges und der übrigen Sinnesorgane, seine lichtvolle Darstellung des anatomischen Baues des menschlichen Körpers, seine Untersuchungen über die körperlichen Verschiedenheiten des Negers und des Europäers und seine embryolo- gischen Schriften haben die Wissenschaft in verschiedener Hinsicht ge- fördert. Er machte auch bereits den Versuch, die Entstehung der Missbildungen aus der Entwickelungsgeschichte zu erklären.

Die descriptive Anatomie erfuhr im Verlauf der letzten hundert Jahre werthvoUe Bereicherungen des Inhalts und durch ihre Verbindung mit der Entwickelungsgeschichte und der vergleichenden Anatomie eine grössere wissenschaftliche Vertiefung.

Die Osteologie war in ihrem makroskopischen Theile zu einem gewissen Abschluss gelangt. Soemmering versuchte die Formen eines idealen weiblichen Skeletts festzustellen, wie es S. Albinüs für das männliche Skelett gethan hatte; er benutzte dazu die Leiche eines wunderbar schönen Mädchens von 20 Jahren aus Mainz, welche der anatomischen Anstalt übergeben worden war, und verglich damit die vollendeten Verhältnisse der Antike, ähnlich wie Albinus die Gestalt des Apoll von Belvedere seiner Zeichnung zu Grunde gelegt hatte. ^ In der Myologie galt es, die Ursprünge und Ansätze der Muskeln, ihre Lagerung und Betheiligung an dem Bau einzelner Organe und das Vor- kommen etwaiger Varietäten zu beobachten. Die meisten Ergänzungen bedurfte die Lehre von den Gefässen und Nerven. Die erstere wurde von Mascagni, G. Breschet, J. und Ch. Bell, Tiedemann, Berres, V. FoHMANN u. A. in erfolgreicher Weise bearbeitet. Die letztere ver- dankte ihre bedeutendsten Fortschritte Ant. Scarpa, welcher den Nervus nasopalatinus zuerst beschrieb und neue Aufschlüsse über den Verlauf der Gehirnnerven und über die Struktur der Nerven und der Sinnesorgane gab, Charles Bell, der eine umfassende Darstellung des Gehirns und Nervensystems lieferte, Emil Hüschke und Benedict Stilling, deren bewunderungswürdige Arbeiten über die Faserung des Gehirns und Eückenmarks den Ausgangspunkt der späteren Forschungen über diesen Gegenstand bildeten.

^ RuD. Wagneb: Soemmerings Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen, Leipzig 1844, II, 59.

PuscHMANN, Unterricht. 25

386 Der medicinischs Unterrieht in der neuesten Zeit,

Die Untersuchungen über den feineren Bau der einzelnen Theile des Körpers führten zur Begründung eines neuen Wissenszweiges, dei- Gewebelehre, durch Bichat. Schon in seiner Dissertation über die Membranen, welche vielleicht an die dasselbe Thema behandelnde Schrift von A. Bonn anknüpfte, hauptsächlich aber in seiner allgemeinen Anatomie erörterte er, dass der Körper aus verschiedenen Arten von Geweben zusammengesetzt ist, und schilderte deren Eigehthümlichkeiten und Vertheilung.

Diese Beobachtungen waren nicht blos für die Anatomie, sondern auch für die Pathologie von grosser Bedeutung; denn sie beleuchteten die Entstehung und Verbreitung der Krankheiten von einer Seite, an die man bis dahin noch gar nicht gedacht hatte.

Die Verbesserungen der optischen Hilfsmittel, und besonders die Herstellung achromatischer Mikroskope, ermöglichten die gründliche Erforschung der Textur der Gewebe. Die Ergebnisse dieser Unter- suchungen, denen Schwanns Entdeckung der thierischen Zelle eine histogenetische Richtung gab, betrafen alle Organe des Körpers und boten die Grundlagen zu einem vollständigen Lehrgebäude der mikro- skopischen Anatomie, an dessen Aufrichtung und weiterem Ausbau sich nach JoH. Müller, Ehrenberg, Purkinje, Henle, R. Wagner, Valentin und Max Schultze nahezu alle hervormgenden Anatomen dieses Jahr- hunderts betheiligt haben.

Die Lehre von der Entstehung und Entwickelung des menschlichen Embryo erhielt in den Thatsachen der allgemeinen Entwickelungs- geschichte und vergleichenden Anatomie und Zoogenese ein werthvoUes wissenschaftliches Material. Auf die Arbeiten Panders und Baers, welche Kölliker „als das Beste bezeichnet, was die embryologische Literatur aller Zeiten und Völker aufzuweisen hat",^ folgte die Ent- deckung des Keimbläschens durch Purkinje und des Keimflecks durch Run. Wagner.

Zahlreiche Beobachtungen hervorragender Forscher, unter denen hier nur Heinr. Rathke, Reichert, Th. Bischöfe und Rob. Remak genannt werden sollen, beschäftigten sich dann mit den Vorgängen der Zeugung und allmäligen Bildung der menschlichen Frucht und brachten eine befriedigende Lösung der meisten dieser ungemein schwierigen Fragen.

Eine fleissige und erfolgreiche Bearbeitung erfuhr die vergleichende Anatomie. J. F. Blumenbach, welcher sich zuerst der Aufgabe unter- zog, die anatomischen Verschiedenheiten zwischen den einzelnen mensch-

A. Kölliker: Grundriss der Entwickelungsgeschichte, Leipzig 1884, p. 3.

Die medicin. Systeme u. die Fortsehritte in der Anatomie u. Physiologie. 387

Itohen Rassen, besonders den Europäern, Negern und Indianern und den anthropoiden Aflfen festzustellen, und dabei auch die Ergebnisse berücksichtigte, zu denen die Betrachtung der Bildwerke des Alterthums und die Sektionen mehrerer ägyptischen Mumien führte, sammelte alle Thatsachen der vergleichenden Anatomie, welche von früheren Forschern in der Literatur niedergelegt worden waren, und vermehrte sie durch eine Menge eigener Erfahrungen. So fand er z. B. bei der Zergliederung eines Seehund- Auges, dass sich die Axe desselben leicht verlängern oder verkürzen lässt^ damit das Thier in Medien von so verschiedener Dichtigkeit, wie die Luft und das Wasser, deutlich sehen kann.^ Seine berühmte Sammlung von Schädeln verschiedener Nationen gab die Anregung zum Studium dieses wichtigen Theiles der Ethnologie.

Die vergleichende Anatomie errang dann eine Reihe bedeutender ' Erfolge und bildete bis in die neueste Zeit eine unerschöpfliche Quelle der Forschung. Die rasch auf einander folgenden Entdeckungen be- fruchteten die Zoologie, die Anatomie und Entwickelungsgeschichte und trugen hauptsächlich zur Begründung der tiefen morphologischen Auffassung des organischen Lebens bei, welche gegenwärtig diese Dis- ciplinen beherrscht.

Auch die Verwerthung der Anatomie für die bildende Kunst und die Bearbeitung derselben für die Zwecke der Chirurgie, wie sie von Malacarne, Fboriep, Velpeau, Rosenmülleb, T. Boyer u. A. unter- nommen wurde, erzielte beachtenswerthe Ergebnisse.

Weit mehr in die Augen fallend waren die Fortschritte, welche die Physiologie in unserm Jahrhundert gemacht hat. Aus einem noch grösstentheils auf Spekulationen und Hypothesen aufgebauten, von mystischen, teleologischen und vitalistischen Ideen beherrschten Lehr- system ist sie eine wirkliche Naturwissenschaft geworden, deren That- sachen sich auf mathematische und physikalische Gesetze, chemische Vorgänge und anatomische Beobachtungen stützen und durch das Ex- periment bewiesen worden sind.

An die Stelle der vieldeutigen Lebenskraft, deren Name einst die grosse Lücke in der Kenntniss des organischen Lebens verdecken musste, sind die einzelnen physiologischen Funktionen des mensch- lichen Körpers getreten, deren Bedeutung für den Lebensprozess durch die Beobachtung und den Versuch festgestellt und controllirt wurden. Erreicht wurde dies mit Hilfe der verbesserten Technik der TJnter- suchungsmethoden, welche durch die Erfindung und Anwendung zweck-

^ K. F. H. Marx in den Sitzungsber. d. Gröttinger Soc. d. Wissensch. vom 8. Februar 1840, S. 22.

25*

388 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit,

entsprechender Apparate ermöglicht und durch die grössere Exaktheit in der Stellung und Lösung der Fragen und die Berücksichtigung der scheinbar nebensächlichen Dinge begünstigt wurde.

Das Experiment kam zur vollen Geltung, und Magendie, Floürens^ Cii. Beenard und die grosse Zahl der deutschen Forscher würdigten vollständig die Bedeutung dieses wichtigen Hilfsmittels der Unter- suchung.

Die Chemie bot Aufschluss über die chemische Zusammensetzung des Körpers und seiner einzelnen Bestandtheile. Die Untersuchung der verschiedenen Gewebe und Flüssigkeiten des Körpers, namentlich des Blutes und Harns, führte zu einer neuen Auffassung des menschlichen Organismus und seiner Lebensäusserungen. Dabei gewann man einen Einblick in den Chemismus der Ernährung und lernte die Rolle ver- stehen, welche die Eiweisskörper, die Kohlehydrate und Fette in der Ökonomie des menschlichen Körpers spielen.

Die Beziehungen zwischen den Einnahmen und Abgaben des Kör- pers, der StoflFwechsel, die Blutbereitung, die Bildung der Sekrete und Exkrete, die Entstehung der Körperwärme u. a. m. erhielten durch die Arbeiten eines Liebig, Wöhler, Dumas, Gmelin und ihrer Schüler und Nachfolger eine eigenthümliche Beleuchtung. Die Lehre von der Verdauung wurde namentlich von Magendie, Gmelin, J. N. Eberle, Helm, Beaümont, Blondlot, deren Versuche mit Magensaft zu wich- tigen Ergebnissen führten, Cl. Bernard, welcher die Wirkung des pankreatischen Saftes auf die Fette untersuchte und die Zuckerbildung in der Leber entdeckte, und vielen anderen ausgezeichneten Forschern bearbeitet.

DuTROCHET verwendete die vom Abbe Nollet entdeckte Endos- mose zur Erklärung der Vorgänge der Resorption und Absonderung und studierte die DiflFusionsverhältnisse der verschiedenen thierischen Gewebe.

Andral und Gavarret, Becquerel, Scherer, Nasse, Lehmann u. A. beschäftigten sich mit der Physiologie des Blutes. Die Zusammen- setzung und die Farbstoffe desselben, die Blutkörperchen, die Gerinnung u. a. m. wurde untersucht und die physikalischen Verhältnisse der Blut- bewegung in den Gefässen, der Blutdruck, die Mechanik der Herzpumpe und die ganze Einrichtung des Herzens und die Erscheinungen des Pulses mit Hilfe zweckmässig construirter Apparate der wissenschaft- lichen Kenntniss erschlossen.

Neben den Arbeiten von E. H. Weber, Volkmann, Flourens u. A., welche sich auf diesem Gebiet hervorragende Verdienste erwarben, muss hier auch der wichtigen Untersuchungen über den Einfluss des Nerven-

Die medidn. Systeme u. die Fortschritte in der Anatomie u, Physiologie. 389

Systems auf die Herzthätigkeit und das Gefässsystem gedacht werden. Eduard Weber wies auf die KoUe hin, welche der Vagus bei der Eegulirung der Herzbewegung spielt; später erkannte man, dass es sich dabei eigentlich um Fasern des Accessorius handelt. Cl. Bernard entdeckte die vasomotorischen Eigenschaften des Hals-Sympathicus und gab dadurch vielleicht Veranlassung zu Untersuchungen, welche zur Auffindung des vasomotorischen Centrums in der Medulla öblongatd führten.

Das Centrum der Respirationsbewegungen, der P(rint vital, wurde 1837 von Flourens entdeckt, nachdem schon Legallois auf die Be- deutung des verlängerten Marks für die Athmung aufmerksam gemacht hatte. Andere Forscher erläuterten den Mechanismus der Respiration und die Funktionen der dabei betheiligten Muskeln, sowie den Gas- austausch in den Lungen und die Beziehungen desselben zur Färbung des Blutes, und suchten die Kraft, welche die Lunge bei der Inspiration und Exspiration entfaltet, und die Menge von Luft, die dabei verwendet wird, zu messen. Die Begründung der Spirometrie und der Manometrie der Lunge, welche manche Anhaltspunkte für die Diagnostik der Er- krankungen dieses Organs bietet, geschah vorzugsweise durch John Hutchinson und Waldenburg.

Die Bewegungserscheinungen regten ebenfalls zu eingehenden Stu- dien an. Die Flimmerbewegung, welche man früher auf niedere Thiere beschränkt glaubte, wurde von Purkinje auch im menschlichen Körper beobachtet, während die Vorgänge der Molekularbewegung erst in Deuester Zeit in den Kreis der Betrachtung gezogen wurden.

Die Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge erhielt durch die Brüder Eduard und Wilhelm Weber eine nahezu erschöpfende Dar- stellung.

Die Entdeckung des Muskelstromes lenkte die Auftnerksamkeit auf die chemischen und physikalischen Vorgänge, welche im Innern des Muskels stattfinden. Desgleichen stellte auch die Nerven -Elektricität eine Menge von Aufgaben, deren Lösung die Denker und Forscher bis heut in Anspruch nimmt. ^ Welche Bedeutung das von Jul. Rob. Mayer entdeckte Gesetz der Erhaltung und Umwandelung der Kraft für die Beurtheilung der Leistungen des Organismus hatte, habe ich schon früher angedeutet.

Im J. 1811 machte Charles Bell die schon von Galen geahnte anatomische Verschiedenheit der motorischen und sensibeln Nerven zu

* E. DU Bois-Reymond : Untersuchungen über thierische Elektricität, Berlin 1848, Bd. I, S. 29 u. ff.

390 Der medidnische Unterrieht in der neuesten Zeit.

einer wissenschaftlichen Thatsache, indem er den Nachweis lieferte, dass die ersteren aus den vorderen, die letzteren aus den hinteren Rückenmarks -Wurzeln entspringen. Er kam auf diese für die Nerven- Physiologie ausserordentlich wichtige Entdeckung durch die Vergleichung mit dem anatomischen und physiologischen Verhalten der Gehimnerven, besonders der einzelnen Äste des Trigeminus, deren Analogie mit den ßückenmarks-Nerven schon von Soemmeeing und Peochaska bemerkt wurde. Magendie, namentlich aber Johannes Müllee bestätigten Bell's Gesetz durch überzeugende Versuche.,

Daran schloss sich die bereits von Caetesiüs aufgestellte und von PßocHASKA ausgesprochene Lehre von den Reflexbewegungen, welche Mabshall Hall 1833 durch Beobachtungen wissenschaftlich begründete und JoH. MüLLEE in einzelnen Punkten berichtigte und in klarer, ver- ständlicher Weise darstellte.

Die Funktionen der einzelnen Nerven und die Bedeutung der ver- schiedenen nervösen Gebilde, z. B. der Ganglien, wurden durch Ver- suche festgestellt. Auch wagte man sich an die Lösung der schwierigen Probleme, welche die Physiologie des Central -Nervensystems bietet. F. J. Gall glaubte, bei der Untersuchung und Vergleichung der Schädel von Personen, welche bestimmte Eigenschaften des Geistes und Charakters besitzen, die Beobachtung gemacht zu haben, dass gewisse Stellen stärker hervorragen. Indem er an die alte Theorie der Lokali- sation der Seelen vermögen anknüpfte, folgerte er, dass die geistigen Centren im Gehirn lokal begrenzt seien und sich durch grössere Wöl- bungen des Schädels an einzelnen Stellen seiner Oberfläche erkennen lassen.

Obwohl er bemüht war, diese Hypothese durch anatomische Unter- suchungen zu stützen, so behauptete doch die Spekulation dabei einen überwiegenden Einfluss. Seine Aufstellung und Vertheilung der Seelen- vermögen war willkürlich, und seine Annahme, dass sich dieselben durch Merkmale an der Oberfläche des Schädels äussern, gänzlich un- berechtigt. Trotzdem muss ihm das Verdienst zugestanden werden, die anatomische Untersuchung des Gehirns gefordert und zur wissenschaft- lichen Bearbeitung der Kranioskopie angeregt zu haben, welche dann von C. G. Caeüs, Hüschke u. A. mit vielem Erfolg unternommen wurde.

Erst den verbesserten Untersuchungs- Methoden der neuesten Zeit ist es gelungen, einiges Licht in das dunkele Gebiet der Physiologie des Gehirns zu bringen. Mit Hilfe derselben konnte der Verlauf der Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark genau verfolgt, ihre Bethei- ligung an den einzelnen Theilen derselben festgestellt und der feinere Bau der grauen Substanz und die verschiedenartige Form ihrer Zellen

Diagnostik, patiiolog, Anatomie u, experimentelle Pathologie, Nosologie ete. 39 1

erkannt werden, während man gleichzeitig durch Versuche an lebenden Thieren, welche die lokal begrenzte Nekrotisirung und die dadurch er- zeugte Aufhebung der Lebensäusserungen gewisser Partien des Central- Nervensystems zum Zweck hatten, deren Funktionen zu erforschen suchte und mit den Ergebnissen die Beobachtungen am Krankenbett und die pathologischen Befunde der Sektionen verglich.

Auch die Physiologie der Sinnesorgane wurde fleissig bearbeitet. Die Entstehung des Sehakts, die Wahrnehmung der Farben, die Be- deutung der Licht empfindenden Theile des Auges, die Wirkung der optischen Medien, die Accomodations-Vorrichtungen, die entommatischen Beobachtungen, das binoculäre Sehen, die Horopterfrage u. a. m. wurden eingehend untersucht und durch zahlreiche Thatsachen verständlich gemacht. In der gleichen Weise wurde auch das Gehör, der Geruch, Geschmack, Tastsinn und das Gemeingefühl in ihren Einzelnheiten Studiert und der wissenschaftlichen Erkenntniss erschlossen.

Die physiologische Forschung hat aber nicht blos die Aufgabe, die Funktionen und Gesetze des gesunden menschlichen Organismus auf- zufinden und zu erklären, nahezu vollständig gelöst; sie hat auch eine Menge von Beobachtungen zu Tage gefördert, welche die Deutung der Erscheinungen des kranken Körpers vorbereitet und ermöglicht haben.

Diagnostik, pathologische Anatomie und experimentelle Pathologie, Nosologie und Heilmittellehre.

Die Lehre von der Krankheit, die Pathologie, machte ähnliche Entwickelungsstadien durch, wie die Physiologie. Nachdem man die Aussichtslosigkeit der Versuche, das Wesen der Krankheit durch kühne, aber wenig begründete Hypothesen und philosophische Spekulationen zu erfassen, erkannt hatte, schlug man auch hier die analytische Me- thode ein und begann mit der Feststellung und Erforschung der ein- zelnen Thatsachen, welche das Krankheitsbild zusammensetzen.

Die Vervollkommnung der diagnostischen Hilfsmittel gestattete ein tieferes und gründlicheres Studium der Krankheitserscheinungen, und der mächtige Aufschwung der pathologischen Anatomie versprach Aufschluss über die ihnen zu Grunde liegenden Veränderungen .des Körpers zu geben. Durch die Vergleichung der Beobachtungen am Kranken mit den Sektionsresultaten gewann man allmälig mehr Klar- heit über die Entwickelung und das Wesen der mgisten Krankheiten.

392 Der mediciiiische Untemchi in der neuesten Zeit.

Die technischen Fortschritte in der Diagnostik waren hauptsächlich der Physik und Chemie zu verdanken. Die Percussion wurde im vo- rigen Jahrhundert nur von Wenigen, wie z. B. M. Stoll, geübt; sie gerieth nahezu gänzlich in Vergessenheit und erhielt erst durch Cor- viSART den ihr gebührenden Platz unter den am Krankenbett gebräuch- lichen diagnostischen Hilfsmitteln. Auf Auenbeugger's verschollene Schrift aufmerksam gemacht, prüfte er durch 20 Jahre die dort nieder- gelegten Beobachtungen, berichtigte und ergänzte sie durch seine eigenen Erfahrungen und veröffentlichte dann sein berühmtes Werk über die Percussion, in welchem er dem Verdienst des Entdeckers der- selben volle Gerechtigkeit widerfahren liess.

Die Percussion wurde dann von Piorry, welcher den Plessimeter einführte, Wintrich, der die Anwendung eines Hammers empfahl, namentlich aber von Skoda, welcher den verschiedenen Schallerschei- nungen eine richtige Deutung gab und nach allen Richtungen refor- mirend und bahnbrechend wirkte, Traube u. A. vielfach verbessert.

Gleichzeitig erfuhr auch die Auscultation eine TJmwandelung und wissenschaftliche Bearbeitung. Während sie früher nur gelegentlich und durch direktes Anlegen des Ohrs an den Körper ausgeübt worden war, entwickelte sie sich seit Laennec, der den Gebrauch des Ste- thoskops und damit die Auscultation mediate einführte, zur systemati- schen Untersuchungs- Methode 7 welche bei der Diagnostik der Krank- heiten sehr häufig zu Eath gezogen wurde.

Für die Erforschung der p]rkrankungen der Lungen und des Herzens wurde sie geradezu unentbehrlich, da sie in diesen Fällen die wichtigsten, manchmal sogar die einzigen diagnostischen Stützen darbot. Aber auch andere Gebiete der Heilkunde verdankten ihr werthvoUe Bereicherungen; so entdeckten Lejumeau de Kergaradec und bald nachher Mayor durch die Auscultation des schwangeren Unterleibes die fötalen Herztöne uod boten damit ein Mittel, um das Leben der Fi'ucht zu erkennen.

Ausser den physikalischen Untersuchungs-Methoden, zu denen noch die Mensuration und die in neuester Zeit namentlich von Wunderlich bearbeitete Thermometrie kam, trugen auch die Chemie und die Mi- kroskopie zur Förderung der Diagnostik sehr viel bei. Das Vorhanden- sein mancher Krankheiten, ihre Schwere, Zunahme oder Abnahme konnte nur durch den chemischen Nachweis sicher gestellt werden, dass bestimmte StoflFe in einigen Ausscheidungen, z. B. Eiweiss oder Zucker im Harn, in einer gewissen Menge enthalten sind, sich ver- mehren oder vermindern. Die chemische Analyse der pathologischen Produkte erlangte für das Studium der Krankheiten, besonders aber

Diagnostik, patholog. Anatomie u. experimentelle Pathologie^ Nosologie etc, 393

für die Lehre von den Intoxicationen, eine grosse Bedeutung. Nicht weniger Beachtung nahm in manchen Fällen die mikroskopische Unter- suchung in Anspruch, weil dadurch auf. die Anwesenheit von histolo- gischen Form-Elementen, welche zu gewissen, die Art des Leidens be- treffenden Schlüssen berechtigten, hingewiesen wurde.

Die sorgßlltige Beobachtung aller Krankheits-Symptome und die gewissenhafte Berücksichtigung der dabei in Frage kommenden Ver- lältnisse war die selbstverständliche Voraussetzung jeder Diagnose. Auch die Sektions-Ergebnisse und deren Beziehungen zu den Krank- heitserscheinungen wurden zu diesem Zweck eifrig studiert.

Die pathologische Anatomie erhielt eine ungeahnte Bedeutung für die Lehre von der Krankheit; sie übernahm gleichsam die Controlle der Diagnose. Sie entwickelte sich unter dem Einfluss der Arbeiten Bichat's zunächst in Frankreich; zahlreiche Arbeiten beschäftigten sich mit den allgemeinen Krankheitszuständen und mit der speciellen Pa- thologie der Krankheiten, für welche eine beachtenswerthe Summe von Thatsachen ermittelt wurde. Auch in England, wo J. Hunter's An- regung fortwirkte, und in Deutschland widmeten hervorragende Anatomen und Kliniker, wie P. Frank, A. B. Vetter, J. F. Meckel, Lobstetn, JoH. Müller u. A. ihre Aufmerksamkeit der pathologischen Anatomie. Ihre Glanzperiode begann aber erst mit Rokitansky, welcher das reiche Leichenmaterial des Wiener allgemeinen Krankenhauses für sie ver- werthete. Im Besitz einer Erfahrung, wie sie Keinem seiner Zeitgenossen zu Gebot stand, vermochte er eine Reihe naturlicher, leicht auffindbarer Tj'^pen der anatomischen Veränderungen aufzustellen, welche fast alle wichtigen Krankheiten umfassen.

Während Rorftansky das Verständniss der pathologischen Ana- tomie forderte, vermehrte er zugleich deren Inhalt durch eine Menge von Entdeckungen und vertiefte sie durch die Untersuchung der patho- genetischen Beziehungen. Er fragte nicht blos nach dem Was, sondern auch nach dem Wie und Warum der pathologischen Prozesse und ver- suchte, Einsicht zu gewinnen in ihre Ursachen und Entwickelung; er war, wie Wunderlich sagt, bestrebt, die pathologische Anatomie zu einer anatomischen Pathologie zu machen.

Die Cellular-Pathologie, welche Virchow auf der Zellentheorie auf- baute, drängte dann mehr imd mehr zur Untersuchung der feineren pathologischen Veränderungen, der mikroskopischen Formelemente, und führte zur Begründung der pathologischen Histologie. Allerdings wurden später durch die Auffindung mancher neuen Thatsachen einzelne morsch gewordene Stützen der Cellular-Pathologie beseitigt; aber die Grundlagen blieben erhalten und tragen das Lehrgebäude der Pathologie noch heut.

394 Der medicinische Unterrieht in der neuesten Zeit,

Es gewann ausserordentlich an Festigkeit und Sicherheit, als das Ex- periment in die pathologische Forschung eingeführt wurde. Cl. Bernard erzeugte durch die Verletzung einer bestimmten Stelle der Medulla oblongata die Zuckerkrankheit. Durch die Darreichung von Phosphor erkannte man die merkwürdige Wirkung desselben auf das Knochen- gewebe und seinen Zusammenhang mit der Phosphor-Nekrose.

Die methodische Anwendung des Experiments war ein grosser Fortschritt für die Pathologie; sie brachte viele wichtige Fragen derselben zur Entscheidung und schuf die Physiologie des kranken Menschen, welche im Verein mit der pathologischen Anatomie die Biologie der Krankheit begründete und den Beweis lieferte, dass in der Pathologie dieselben Naturgesetze herrschen wie in der Physiologie des gesunden Organismus.

Die Pathologie hat sich auf Grund dieser Thatsachen zu einer wirklichen Naturwissenschaft entwickelt Die allgemeinen Krankheits- prozesse sowohl wie die Vorgänge, welche bei den besonderen Er- krankungen der einzelnen Organe stattfinden, wurden sorgfältig unter- sucht und dem wissenschaftlichen Verstandniss nahe gerückt.

CoRvisART studierte die pathologischen Veränderungen des Herzens und der grossen Gefasse: ein Thema, welches dann auch von Hodgson, Latham, Hope, Stokes, Bouillaud, Skoda, Traube u. A. bearbeitet wurde. Später wurden auch die Veränderungen des Blut.es in den Kreis der Betrachtungen gezogen und die Chlorosis und Leukaemie als selbst- ständige Krankheiten erkannt.

G. L. Bayle veröffentlichte Aufsehen erregende Untersuchungen über die Lungenschwindsucht und ihre Beziehungen zum Auftreten von Tuberkeln, auf deren Gleichartigkeit in verschiedenen Organen er hinwies. Andral, Schönlein, Trousseau, welcher eine Schrift über die Larynx-Phthisis herausgab u. A. beschäftigten sich ebenfalls mit diesem Gegenstande, welcher indessen erst in neuester Zeit durch die Entdeckung, dass die Tuberkulose eine Infektionskrankheit ist, einen gewissen Abschluss erhalten hat.

Bretonneau begründete mit seinem Werk über die Entzündungen der Schleimhäute die Lehre von der Diphtheritis, deren Verhältniss zum Katarrh und zum Croup von späteren Forschern erläutert wurde. Die Erfindung des Kehlkopfspiegels und seine Verwerthung für die ärztliche Praxis brachte eine vollständige Umwälzung in der laryngologischen. Untersuchung hervor und ermöglichte eine grössere Genauigkeit in der Beobachtung und Behandlung der Krankheiten des Kehlkopfes. Um dieselbe Zeit führte die schon früher versuchte Endoskopie auch auf andern Gebieten zu bemerkenswerthen Ergebnissen.

Diagnostik, patholog. Anatomie ii, experimentelle Pathologie, Nosologie etc. 395

Cruveilhier und Rokitansky gaben Aufschluss über die Ent- stehung und das Wesen des Ulcus rotundum des Magens; Petit und SebreSj P. A. Louis u. A. begründeten die Diagnostik des Abdominal- Typhus, und J. Küd. Bischof beobachtete die typhösen Danngeschwüre. Die Pathologie der Leber wurde vorzugsweise von Gr. Büdd, Annesley, Freeichs und Anderen und diejenige der Nieren von P. Eayes, Bright und Traube gefördert, der auf den Zusammenhang zwischen den Er- krankungen der Nieren und des Herzens aufmerksam machte. Addison beschrieb zuerst die Degeneration der Nebennieren, und Basedow schil- derte den nach ihm genannten Symptomen-Complex.

Die Dermatologie fand durch Alibert, Biett, Willan, Batbman, C. H. Fuchs, Erasmus Wilson und Ferd. Hebra, die Lehre von den venerischen Krankheiten durch Baeren^prung, K. W.Boeck, Rioord u. A. eine wissenschaftliche Bearbeitung, während die Pathologie der Nerven- leiden durch Valleix, Duchenne, Abercrombie, Romberö, Eemak u. A. wissenschaftlich begründet wurde.

Auch die Psychiatrie, welche sich schon sehr früh zu einer selbst- standigen Disciplin entwickelte, wurde allmälig von dem Wust mystischer Träumereien, die in den Geisteskrankheiten Folgen der Sünde oder Strafen Gottes, jedenfalls aber lediglich psychische Defekte sahen, be- freit und gleich der übrigen Pathologie auf eine somatische Grundlage gestellt. Diese schon von Pinel, Esquirol und Chiarugi vertretene Richtung wurde dann namentlich von Spürzheim, dem Anhänger Galls, Reil, FoviLiiE, Calmeil, der mit seiner Arbeit über die allgemeine Para- lyse die Beobachtungen dieses Leidens eröffnete, durch die beiden Falret, Morel, welcher der Ätiologie der Seelenstörungen seine Aufmerksam- keit schenkte, Schroeder van der Kolk, Guislain, Jacobi, Chr. F. Nasse und Griesinger weiter verfolgt und drang zunächst auf Fest- stellung und strenge Prüfung der Sektionsergebnisse. Gleichwohl brachte sie es nicht dahin, dass die auf der Symptomatologie beruhenden Diagnosen durch anatomische ersetzt wurden ; diesen Versuch darf man erst jetzt wagen, nachdem die Anatomie und Physiologie des Central- Nervensystems in ein helleres Licht getreten ist.

Auffallender als die Fortschritte in der Pathologie der Geistes- störungen waren die Verbesserungen in der Behandlung derselben. Welche wohlthätige Veränderung ist auf diesem Gebiet erfolgt seit der Zeit, da man in Wien auf Befehl des menschenfreundlichen Kaisers Josef IL den „Narrenthurm" erbaute und die Kranken dort ebenso wie im St. Lukas-Hospital zu London dem nach einer Unterhaltung lüsternen Publikum zeigte oder sie mit Verbrechern zusammen in Gefangnissen einsperrte und mit der Peitsche oder durch Fasten für ihre „Tollheiten"

396 Der rnedieinische Unterricht in der neuesten Zeit.

bestrafte! Es war eine der grössten Errungenschaften der Humanität, als es PiNEL bei den Machthabem der französischen Revolution durch- setzte, dass die unglücklichsten aller Menschen von den Ketten befreit wurden, welche das religiöse Vorurtheil geschmiedet und der ärztliche Unverstand befestigt hatte.

Den Irren wurde eine liebevolle Pflege und zweckmässige ärztliche Behandlung zu Theil; man errichtete besondere Anstalten, in denen sie Schutz und Aufsicht fanden. John Conolly verkündete das No-restraint- System, nach welchem die mechanischen Zwangsmittel aus der Be- handlung der Geisteskranken möglichst verbannt wurden, und die Gründung von Irren-Kolonien, wo die Kranken ähnlich wie in Gheel neben einer sorgsamen Aufsicht und Pflege ein gewisses Maass von Freiheit geniessen und zu einer ihnen zusagenden Beschäftigung an- gehalten werden, bildete einen weiteren Fortschritt auf diesem Wege.

Auf keinem Gebiet der Pathologie waren die Veränderungen jedoch grösser als jn der Lehre von den Infektionskrankheiten. Man lemt-e mehrere neue Krankheitsformen kennen, welche früher nicht beachtet worden waren, und die dem nosologischen Schema eingereihten Leiden richtiger und genauer, namentlich in Bezug auf die Ätiologie, unter- scheiden. Die Natur des Krankheitsgiftes, die Entstehung desselben innerhalb oder ausserhalb des menschlichen Körpers, seine Entwickelung in verschiedenen Medien, sein Verhältniss zum Klima, Boden u. a. m., seine Dauer und Verschleppbarkeit wurde sorgfaltig untersucht.

Die asiatische Cholera überschritt im 19. Jahrhundert die Grenzen ihrer Heimath und verbreitete sich über den ganzen Erdball. Die schweren Verluste an Menschenleben, welche sie herbeiführte, forderten die Ärzte auf, die Ursachen und das Wesen dieser Krankheit zu er- forschen. Dabei beobachtete man die merkwürdigen Beziehungen, welche zwischen ihrer Entstehung und Ausbreitung und den Bodenverhältnissen bestehen. Mit der Entdeckung des Komma-Bacillus, welche vor Kurzem gemacht wurde, scheint man denn endlich den eigentlichen Krankheits- erreger gefunden zu haben.

Das Gelbfieber, welches mehrere Male nach Europa verschleppt wurde, wurde ebenso wie andere exotische Leiden, z. B. Beriberi, ein- gehend studiert. Das epidemische Auftreten der Cerebrospinal-Meningitis lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese früher unbekannte Krankheit. Gleichzeitig machten sich auch geläuterte Anschauungen über viele andere Krankheiten geltend.

Der Begriff des Typhus, welcher früher eine hauptsächlich sympto- matologische Bedeutung besass und zu einer den vorwiegenden Krank- heitserscheinungen entsprechenden Eintheilung in die Formen des

Diagnostik, patliolog, Anatomie u, experimentelle Pathologie y Nosologie etc, 397

ünterleibs-Typhus, Gehirn-Typhus, Pneumo-Typhus und Fleck-Typhus geführt hatte, wurde vollständig umgeändert-, als die ätiologischen Momente in den Vordergrund traten. Man erkannte, dass sich drei Krankheiten, welche bisher unter dem Namen Typhus zusammengefasst worden waren, nämlich der exanthematische Typhus, der Abdominal- Typhus und Recurrens- oder ßückfalls-Typhus, in ihrer Entstehung und Verbreitung sowohl als auch streng ontologisch abgrenzen, so dass niemals die eine aus der andern entsteht.

Ebenso kam mehr Klarheit in die Lehre von den fieberhaften exanthematischen Krankheiten. Die Beziehungen der Masern, Röthein, Blattern, des Scharlachs u. s. w. zu einander und zu andern Leiden wurden genau studiert. Die Entdeckung, dass die Kuhpocken vor der Erkrankung an Variola, wenigstens für längere Zeit, schützen, führte zu einer der segensreichsten Erfindungen, mit denen die Menschheit jemals beglückt worden ist. Sie bildet das unvergängliche Verdienst E. Jenners; ihren Nutzen kann nur Der leugnen, welcher die Ge- schichte der Pocken nicht kennt.

In ein neues Stadium trat die Pathologie der Infektionskrankheiten, als man den parasitären Charakter einer Anzahl derselben erkannte. Die Beobachtungen an einigen Pflanzenkrankheiten, sowie an der Muscardine, einer durch Pilze verursachten Erkrankung der Seiden- raupen, die Untersuchungen über die Krätzmilbe, über die dem Favus, der Pityriasis versicolor, dem Herpes tonsurans und andern Hautleiden zu Grunde liegenden Pilze, über die verschiedenen Enterozoen des menschlichen Körpers und die Entdeckung der Triehina spiralis und der durch sie erzeugten Krankheitszustände gaben die Anregung, dass den Parasiten und niederen Organismen überhaupt mehr Beachtung geschenkt und ihre pathogene Bedeutung erforscht wurde. Auch die Erfahrungen an der Pellagra und ähnlichen durch den Genuss ver- dorbener Nahrung entstandenen Leiden, sowie die Beobachtungen der Krankheiten, welche von Thieren auf Menschen übertragen werden, wirkten in dieser Richtung.

Als man dann beim Milzbrand, Recurrens, bei der Pyaemie, beim Puerperalfieber, Erysipel, der Osteomyelitis u. a. m. in dem Blut, sowie in einzelnen Sekreten oder Geweben mikroskopisch kleine Lebewesen, Pilz- formen verschiedener Art, auffand, lag der Gedanke nahe, in ihnen die Entstehungsursache des Leidens zu sehen. Aber der wissenschaftliche Nachweis, dass diese niederen Organismen wirklich in einem ursäch- lichen Zusammenhange mit bestimmten Krankheiten stehen, war erst möglich, nachdem es gelungen war, diese Lebewesen durch geeignete Untersuchungsmethoden zu isoliren, auf gesunde Thiere zu impfen und

398 Der medidnische Unterricht in der neuesten Zeit.

dadurch die betreffende Krankheit hervorzurufen. Diese Bedingungen sind bisher allerdings nur beim Milzbrand, Recurrens, Erysipdas mcdigmim, bei der Diphtherie und Cholera asiatica, erfüllt worden; doch sprechen eine Menge von Thatsachen und Wahrscheinlichkeitsgründen dafür, dass auch bei der Entstehung und Verbreitung der Tuberkulose, Lepra, des exanthematischen und Abdominal -Typhus, Scharlachs, der septicämischen Prozesse, der Malaria u. a. m. pathogene Bakterien thätig sind. Die Schwierig- keiten, welche sich bei diesen Untersuchungen dem Experiment, nament- lich in Bezug auf die Wahl eines zur Impfung geeigneten, für die Krank- heit empfangliche Q Thieres, entgegenstellen, machen es erklärlich, dass die Resultate langsam erreicht werden. Die bis jetzt festgestellten Thatsachen haben der Ätiologie einen tieferen Gehalt gegeben, indem sie die eigentlichen Krankheitserreger ans Licht zogen und damit auch der Pathologie und Therapie die Wege vorgezeichnet, welche sie künftig wandeln sollen.

Die Heilmittellehre hat sich in den letzten Decennien aus einer pharmaceutischen Waaren künde in die pharmokodynamische Wissen- schaft umgewandelt, welche im engen Anschluss an die Physiologie und experimentelle Pathologie sich auf die Erfahrungen am Krankenbett und die Versuche an lebenden Thieren stützt. Dadurch konnte die tiefe Kluft zwischen ärztlicher Theorie und Praxis hier und dort über- brückt werden.

Zu gleicher Zeit wurde der Arzneischatz durch eine grosse Anzahl von Heilmitteln vermehrt. Die Chemie lehrte die Darstellung der wirk- samen Extraktivstoffe verschiedener pflanzlichen und thierischen Sub- stanzen, so dass dieselben für sich allein in der ärztlichen Therapie angewendet werden können, ohne dass zugleich durch Beimengungen noch andere, nicht beabsichtigte Wirkungen herbeigeführt werden. So wurde eine Menge von Alkaloiden, besonders der narkotischen Medica- mente entdeckt, z. B. das Morphium 1804 von Sertürner und gleich- zeitig von SfiGUiN, das Cantharidin 1812 von Robiqüet, das Strychnin 1818 und das Chinin 1820 von Pelletier und Caventon, das Veratrin 1818 von Meissner, das Coffein 1820 von Runge, das Solanin 1821 von Desfosses, das Coniin 1830 von Geiger, das Atropin 1831 von Mein, das Aconitin 1833 von Hesse, das Colchicin von Geiger und Hesse, das Cocain 1859, das Cumarin, Curarin, Saponin, Santonin, Pilocarpin, Pepsin, Pancreatin u. a. m. und in die Heilkunst eingeführt.

Mehrere andere Heilmittel, wie das Jod, welches 1811 von Coürtois in der Soda aufgefunden wurde, das Brom, das 1826 von Balard ent- deckt wurde, das Jodkalium, Bromkalium, das Chloroform, Jodoform, Chloralhydrat, die Salicylsäure und die Carbolsäure, waren ebenfalls

Chirurgie, Augenheilkunde , Geburtshilfe und Staatsarzneikwide, 399

den Fortschritten der Chemie zu verdanken oder wurden, wie Kamala, Kusso, Cundurango u. a. m. aus fremden Welttheilen nach Europa ge- bracht. Man studierte dann ihre arzneilichen Wirkungen auf den ge- sunden und kranken Organismus und suchte die passendste Art ihrer Anwendung ausfindig zu machen.

Auch in dieser Beziehung hat die Heilkunst im 19. Jahrhundert wichtige Fortschritte gemacht; denn die Erfindung der subcutanen In- jektionen durch Pravaz und Al. Wood, die Einführung der Inhalations- Kuren und die Pneumotherapie mit ihren vortrefflichen Heilappara^en, welche den erkrankten ßespirationsorganen die Luft in verdichtetem oder verdünntem Zustande übermitteln, sind wesentliche Bereicherungen der therapeutischen Technik. Die wissenschaftliche Begründung der Balneologie, Klimatherapie, Hydrotherapie, Elektrotherapie und der schwedischen Heilgymnastik sind ebenfalls Errungenschaften unserer Zeit.

Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und

Staatsarzneikunde.

Der Aufschwung der pathologischen Anatomie und die Klarung der pathologischen Theorien übten im Verein mit den Fortschritten in der Physik und Chemie auch auf die Chirurgie einen mächtigen Ein- fluss aus.

Die Vorgänge der Eiterung, Geschwürsbildung, Vernarbung, Re- generation der Gewebe und andere in das Gebiet der chirurgischen Pathologie fallenden Fragen wurden durch Beobachtungen und Experi- mente dem Verständniss erschlossen. Die Entwickelung und Diagnostik der pathologischen Neubildungen beschäftigte die Chirurgen und die pathologischen Anatomen im gleichen Grade.

Die operative Chirurgie machte ebenfalls bedeutende Fortschritte. Dieselben bestanden aber nicht so sehr in der Verbesserung der Ope- rations-Methoden und in der Erfindung neuer Operationen, als haupt- sächlich darin, dass man zu der Einsicht gelangte, dass die Aufgabe des Chirurgen nicht darin liegt, erkrankte Theile zu entfernen, sondern wenn möglich zu erhalten. Dieser Gedanke bahnte die conservative Chirurgie unserer Tage an.

Er konnte nur verwirklicht werden mit Hilfe der anästhesirenden Inhalationen, welche die Schmerzen der Kranken während der Operation und die dadurch hervorgerufene Reaktion des Organismus beseitigten.

400 Der medieinische Unterrieht in der neuesten Zeit,

und dur^h die Erfindung und Einführung der antiseptischen Wund- behandlung, durch welche die im Gefolge der Operationen auftretenden Nachkrankheiten verhütet und der Heilerfolg gesichert wurde. Diese beiden grossen Errungenschaften der Heilkunst des 19. Jahrhunderts haben den Charakter der Chirurgie vollständig umgestaltet. Sie haben den Operateur mit Muth und Selbstvertrauen ausgerüstet; denn er weiss, dass der Erfolg seiner Kunst nicht mehr durch unberechenbare Zufälligkeiten in Frage gestellt wird und das Herz des Kranken mit Hofinung erfüllt, so dass er den Chirurgen nicht mit banger Furcht betrachtet, sondern in ihm den Heilung spendenden Arzt erkennt.

Schon im Alterthum und im Mittelalter hatte man zur Linderung der Schmerzen narkotisirende Getränke und Inhalationen angewendet^ wie ich früher erwähnt habe. Die unvollkommene Wirkung dieses Verfahrens und vor Allem die üblen Folgen desselben lassen es aber begreiflich erscheinen, dass man nur selten davon Gebrauch machte. Als HuMPHßY Davy auf die berauschende Wirkung des Stickstofibxy- duls aufmerksam machte, stellte man damit Versuche an, welche später dazu führten, dass es bei operativen Eingriffen, vorzugsweise in der Zahnheilkunde, verwendet wurde.

Um die gleiche Zeit wurden die narkotischen Eigenschaften des Schwefel-Äthers entdeckt, welcher namentlich von Jackson untersucht und empfohlen wurde. Im J. 1847 stellte Flourens durch Experi- mente an Thieren fest, dass das von Soübeiran und J. Liebig gleich- zeitig entdeckte Chloroform ein vorzügliches narkotisches Mittel sei. •Der Gynäkologe Simpson führte es bald darauf in die ärztliche Praxis ein. Die Vorzüge, welche es vor den übrigen Mitteln dieser Art besitzt, erklären es, dass es dieselben allmälig vollständig zurückdrängte.^

Man hat noch verschiedene andere Substanzen zu anästhesirenden Einathmungen benutzt, die Chloroform- Narkose mit der Ätherisation oder mit Morphium-Injektionen verbunden, um die betäubende Wirkung zu erhöhen oder zu verlängern, und die lokale Anästhesirung der Körpertheile, welche operirt werden sollen, durch die Kälte, die Äther- Douche u. a. m. empfohlen. Auch haben J. Clocquet, J. Brald und Andere versucht, während des hypnotischen Schlafes chirurgische Ope- rationen auszuführen.

Die Anwendung der anästhesirerden Inhalationen gestattete dem Operateur die ungehinderte und vollständige Lösung seiner Aufgabe. Man durfte sich daher auch an die schwierigen, viele Zeit in Ansprucli

^ O. Kappeler in „Deutsche Chirurgie", her. v. Billroth u. Luecke, Stutt- gart 1880. Marion Sims: The discovery of anaesthesia, Richmond 1877.

Chirurgie^ Augeiifieilkunde/ Geburtshilfe üml Staatsarxneikunde, 401

nehmenden und grosse Schmerzen verursachenden Operationen wagen^ welche in früheren Zeiten nicht ausgeführt werden konnten.

Zur Verhütung gefahrdrohender Blutungen bei oder nach Opera- tionen kam neben der Unterbindung und den anderen früher üblichen Methoden auch die Torsion wieder in Aufnahme. Simpson empfahl die Acupressur, während andere Chirurgen der forcirten Beugung. der Glieder, der Anwendung der styptischen Mittel, wie des Liqiior fern sesquidhlorati y oder der Kälte oder Glühhitze in verschiedener Form den Vorzug gaben. Brünninghausen regte den Gedanken an, den Körpertheil, welcher operirt werden soll, durch eine eng anliegende Binde vorher blutleer zu machen; doch ist es erst einem genialen Chi- rurgen der Gegenwart gelungen, ein Verfahren aufzufinden, durch welches dieser Zweck erreicht wird.

Auch die Galvanokaustik, welche hauptsächlich durch Middeldobpf begründet wurde, ^ und die von Chassaignac erfundene Operations- Methode des Ecrasement lineaire suchten die Entfernung kranker Theile auf unblutigem Wege zu bewerkstelligen. Durch die erstere wurde zugleich ein die Operationswunde bedeckender Schorf erzeugt, unter dem der Heilungsprozess stattfinden konnte; auch bietet sie den Vor- theil, dass sie selbst bei sehr gefässreichen Weichgebilden, sowie bei Organen, welche dem Messer oder dem Glüheisen schwer zugänglich sind, anwendbar ist. Die Schwierigkeiten, welche sich früher der Ent- fernung umfangreicher pathologischer Neubildungen entgegenstellten, wurden dadurch wesentlich verringert.

Die Technik der Amputation machte, wenn man von der Einführung des Ovalärschnittes durch Scoutetten, des Schrägschnittes durch Bla- siüs, der dem letzteren ähnlichen elliptischen Methode durch Soüpart und den Verbesserungen des Lappenschnittes absieht, nur geringe Fort- schritte. Doch wurde auf die Nachbehandlung grössere Sorgfalt ver- wendet, als früher.

In manchen Fällen wurde die Exartikulation der Amputation vor- gezogen. Die Operation im Hüftgelenk wurde durch Larrey zuerst unternommen. Die Exartikulation im Kniegelenk erfuhr eine Erweite- rung durch die von Syme empfohlene Absägung der Condylen, womit Andere die Aufheilung der abgesägten Patella auf dem Ende des Oberschenkels zu verbinden suchten. Mit besonderem Fleiss wurde die Exartikulation in den Fusswurzelgelenken und im Fussgelenk bearbeitet. Neben Chopart's Methode im mittleren» Tarsus- Gelenk wurde die Operation im Mittelfussgelenk von Lisfranc, unter dem

* A. Th. Middeldorpp: Die Galvanokaustik, Breslau 1854.

PuscHMANN, Unterricht. 26

402 Der medidnisclie Unteiricht in der neuesten Zeit.

Sprungbein von Textor und im Fussgelenk von Syme und Pirogoff empfohlen.

Der conservative Charakter der Chirurgie, welcher dem erkrankten Körper soviel als möglich zu erhalten bestrebt war, äusserte sich auch in der Zunahme der Resektionen. Sie bezweckten entweder die gänz- liche oder eine theilweise Fortnahme der Knochen und wurden sowohl an den Extremitäten, als an der Wirbelsäule durch Entfernung eines Processus spinosus oder transversus oder des hinteren Umfanges des Wirbelbogens, an den Rippen, z. B. beim Empyem, am Becken, Schulter- blatt, besonders an der Scapula, am Schlüsselbein, am Oberkiefer und Unterkiefer unternommen.

Einen hohen Grad der Vollkommenheit erreichte die Lehre von den Gelenk-Resektionen. Nach den ersten glücklichen Versuchen, die man damit im 18. Jahrhundert an der Schulter und am Knie gemacht hatte, wurden sie auch an anderen Gelenken ausgeführt, z. B. im Ellen- bogen und am Fuss zuerst vom älteren Moreau, und in der Hüfte von Ant. White. Die vielen Kriege der letzten Jahrzehnte boten reiche Gelegenheit, diese Operation zu üben und zu verbessern. Die Indicationen zu derselben wurden genau bestimmt und in einzelnen Beziehungen, z. B. zu orthopädischen Zwecken, sogar erweitert. Be- sondere Modifikationen derselben, wie die Keil-Resektionen beim Klump- fiiss, die sogenannten temporären Resektionen, bei denen keine dauernde Entfernung der Knochentheile beabsichtigt wird, die subperiostalen Re- sektionen und die Osteotomien verschiedener Art wurden dem betreflfen- den Fall angepasst.

Die Behandlung der Frakturen und Luxationen erfuhr durch die Einführung der erhärtenden Verbände, welche das Glied während der Heilung unbeweglich machen, einen wichtigen Fortschritt. Larrey verwendete dazu eine aus Eiweiss, Bleiweiss und Kampher-Spiritus be- stehende Masse, Seutin erfand (1834) den Kleisterverband, und Veiel empfahl den Leimverband. Die meiste Anerkennung und Verbreitung erlangte der Gjpsverband, welcher schon seit langer Zeit im Orient bekannt war und im Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa eingeführt wurde, aber erst seit der Anwendung der von Mathysen erfundenen Gypsbinden einen grossen Ruf erwarb. Ausserdem wurden auch das Tripolith-Pulver, die Guttapercha, der plastische Filz und die plastische Pappe, das Wasserglas, das Paraffin und Stearin zu derartigen Ver- bänden benutzt.

Auch wusste man geeignete Schwebe-, Extensions- und Lagerungs- Apparate zu construiren, durch deren Mitwirkung der Heilungsprozess begünstigt wurde. Bei schlecht geheilten Frakturen trennte man den

Chirurgie, Avigenheilhimde, Geburtshilfe und StacUsarxneikunde, 403

Callus durch Zersägen oder Zerbrechen, damit sich der Heilungsprozess nochmals vollziehe. Bewegliche Knochen suchte man durch die Knochen- naht, durch die künstlich hervorgerufene Entzündung der Enden u. a. m. zu vereinigen.

Die Myotomie und Tenotomie zur Beseitigung von Contraoturen, z. B. beim Caput öbstipum und beim Klumpfuss, wurde wie erwähnt, schon in früheren Zeiten unternommen; aber die subcutane Ausführung derselben ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Delpeoh hat diese Operation in die chirurgische Praxis eingeführt, und die Erfolge, welche DupUYTEBN, DiEFFBNBACH, Steomeybä u. A. damit bei verschiedenen Leiden erzielten, verschafften ihr einen ständigen Platz in der operativen Chirurgie.

Die Heilung der Aneurysmen wurde durch Compression, durch die Ligatur, Electropunctur und permanente Flexion versucht.

Die Lehre von den Hernien wurde durch werthvoUe Arbeiten über die anatomischen Verhältnisse derselben, über die Ursachen der Ein- klemmung u. a. m. gefördert. Bei der Behandlung nach der Taxis kamen hauptsächlich die Bruchbänder in Betracht, welche ausserordent- lich vervollkommnet wurden; bei der Badikal-Heilung suchte man die Bruchpforte durch plastische Operationen, z. B. durch Hereinziehen der Scrotal-Haut oder durch künstlich erzeugte Verwachsungen, zu ver- schliessen.

Die Methoden des Steinschnitts wurden durch die von L. J. Sanson angegebene Operation vom Mastdarm aus und die von J. Cl^mot em- pfohlene Sectio vagino'vesioalis vermehrt Um die Lithothrypsie erwarben sich Gbuithuisen, Civiale, Lerot d'Emolles, N. Heurteloup u. A. durch die Erfindung und Verbesserung der Instrumente hervorragende Verdienste. Die Beseitigung der Harnröhren-Strikturen versuchte man durch ätzende Bougies, durch allmälige oder gewaltsame Erweiterung der Harnröhre oder durch die Urethrotomie herbeizuführen.

Die operative Entfernung einer Niere wurde zuerst von 0. Simon aui^eführt, während die Splenectomie, die schon im 16. Jahrhundert unternommen wurde, seit Qüittenbaüm in einer planmässigen, den Regeln der Kunst entsprechenden Weise vollzogen wurde. ^ Die längst bekannte Gastrotomie führte zur Gastrostomie, zur kunstlichen Anlegung einer Magenfistel, welche von Eqebebo und Sädillot in die chirur- gische Therapie eingeführt wurde. An die Beseklaon des Magens oder des Oesophagus, sowie an die Exstirpation des Kehlkopfs hat man sich erst in unseren Tagen gewagt.

^ Adelmann im Archiv f. klin. Chirurgie 1S87, Bd. 36, H. 2.

26*

404 Der medidnische Unterricht in der nettesten Zeit.

Die Ehinoplastik war im 17. und 18. Jahrhundert völlig in Ver- gessenheit gerathen. Im J, 1742 erklärte die medicinische Facultat zu Paris die Mittheilungen, welche Tagliacozzi darüber hinterlassen hatte, für Phantasiegebilde und das von ihm angewendete Operations- verfahren für unmöglich. Da brachten i. J. 1794 englische Zeitungen die Nachricht, dass in Indien von dortigen Eingeborenen die Kunst au&geübt werde, ^ den Verlust der Nase durch plastische Operationen zu ersetzen. Die europäischen Ärzte studierten die Operations-Methode, welche dabei angewendet wurde, ahmten sie nach, prüften dann das alte italienische Verfahren und verallgemeinerten die Operation, indem gie auch den Ersatz der Lippen und Augenlider, den Verschluss ab- normer ÖflfQungen u. a. m. in Betracht zogen. Durch C. F. Graefe, Delpeoh, Dieffenbaoh, B. Langenbeck u. A. erlangten die plastischen Operationen eine hohe Vollendung.

Die Transplantation von Hautstücken zum Ersatz von Substanz- vejlu^ten, z. B. nach Verbrennungen, von Periost und Knochentheilen, um eine feste Stütze zu erzeugen, sowie die Einheilungsversuche fremder Gewebstheile oder Körper gehören der jüngsten Zeit an.

Die Transfusion des Blutes nach grossen Blutverlusten kam am Schluss des 18. Jahrhunderts wieder in Aufnahme und wurde von J. Blündell zum Gegenstande sorgfältiger Untersuchungen gemacht. Prevost, Dumas und andere Physiologen, welche sich mit dieser Frage beschäftigten, empfahlen zur Transfusion defibrinirtes Blut, Panüm gab den Rath, nur Menschenblut zu verwenden. In ein anderes Licht trat die Lehre von der Transfusion, als man erkannte, dass die Erfolge dieser Operation keineswegs auf der Zufuhr von Blut beruhen, sondern in dem durch die Vermehrung des Gefössinhalts erhöhten intravascu- lären Druck ihren Grund haben. ^

Die günstigen Heilerfolge, welche die operative Chirurgie gegen- wärtig erzielt, sind grösstentheils der streng-methodischen Anwendung der Antisepsis zu verdanken, welche in den beiden letzten Decennien die allgemeine Anerkennung gefunden hat. Mit ihr begann eine neue Periode für die Geschichte der Chirurgie, deren Tragweite auf die wissen- schaftliche Gestaltung derselben sich kaum vollständig ermessen lässt.

Einzelne Zweige der Chirurgie erfuhren im 19. Jahrhundert zum ersten Male eine wissenschaftliche Bearbeitung und entwickelten sich ^u besonderen Unterrichts-Disciplinen. So ging die Zahnheilkunde aus

^ E. Zeis a. a. 0. S. 208 u. tf.

' E. V. Bergmann: Die Schicksale der Transfusion im letzten Decenniuin, Berlin 1883. ^ ;:

Chirurgie, Augenheiikunde, Oeburtshilfe und Staatsarzneikunde. 405

den Händen unwissender Barbierer und Empiriker allmälig in die- jenigen von Ärzten über, welche die Beziehungen der Erkrankungen der Zähne zu den übrigen Krankheiten des Körpers erforschten und €ine rationelle Behandlung der ersteren begründeten.

Die Diagnostik und Behandlung der Ohrenleiden erhielt in dem von A. Cleland verbesserten Katheterismus der Tuba Eustachi! ein sehr werthvoUes Hilfsmittel. Die künstliche Beleuchtung des Trommel- fells, die Auscultation des Mittelohrs und die Luft-Douche bildeten weitere Fortschritte in diesem Theile der Heilkunst, um dessen Aus- bildung sich Itabd, LfiON Dbleaü, W. B. Wilde, Jos. Totnbee, W. Keamee und mehrere andere deutsche Ohrenärzte hervon-agende Verdienste erworben haben.

Grosse Triumphe feierte die Ophthalmologie. Man gewann eine klare Einsicht in die Entstehungs-Ürsachen und die anatomischen Ver- änderungen der meisten Erkrankungen des Auges, erhielt in dem Augen- spiegel ein diagnostisches Hilfemittel, welches die schwierigsten Fragen der Pathologie des Sehorgans zur Lösung brachte, und lernte mehrere neue Heilmethoden und operative Eingriffe kennen. Schon Adam Schmidt machte auf die Beziehungen aufmerksam, welche zwischen manchen Augenleiden und den Krankheitszuständen des übrigen Kör- pers bestehen und nannte die Augenkrankheiten „die zierlichen Mi- niaturspiegel der Körperkrankheiten".

Die einzelnen Formen der Conjunctivitis wurden genauer unter- schieden, dabei das Wesen der durch ihre rasche Verbreitung und Bösartigkeit die Bevölkerung in Schrecken versetzenden Ophthalmia aegyptiaca s. militaris festgestellt, die Iritis und Chorioditis studiert, und auf die dem Glaukom zu Grunde liegende Steigerung des intraocularen Druckes, gegen welchen A. v. Gbaefe die Iridectomie empfahl, hingewiesen.

Bei Trübungen der Hornhaut machte man den Versuch, an Stelle der ausgeschnittenen Narbe ein Stück Glas oder einen Theil der Cornea eines Thieres einheilen zu lassen, um auf diese Weise den Lichtstrahlen den Durchtritt zu ermöglichen, oder schritt zur Bildung einer künst- lichen Pupille. Die Nachtheile der von Wentzel angegebenen Methode der Iridectomie, durch, welche häufig Erkrankungen der Linse und ihrer Kapsel herbeigeführt wurden, wusste Beee zu vermeiden, indem er den Iris-Lappen nicht mehr innerhalb der vorderen Augenkammer loslöste, wie bisher, sondern aus der Hornhautwunde hinausdrängte und ausser- halb des Auges abschnitt. Dieses Verfahren wurde später verbessert und erhielt sich bis heut, während andere zu dem gleichen Zweck er- sonnene Operations-Methoden, wie die Iridodialyse längst aus der Praxis verschwunden sind.

406 Der medicinische Unten*icht in der nettesten Zeit.

- f

Zur Beseitigung der Cataract, deren Ätiologie und anatomischer Sitz genauer untersucht wurden, wendete man neben der Depression der erkrankten Linse, welche Scabpa mit der Zerstückelung derselben verband und Buchhobn durch die Hornhaut auszuführen empfahl^ hauptsächlich die Extraction an, die in den meisten Fällen als die beste und sicherste Operations -Methode erscheint. Die letztere erfuhr eine werthvolle Verbesserung durch den von F. Jägeb empfohlenen, viel- leicht schon von früheren Augenärzten geübten Hörnhautschnitt nach oben, welcher dann zur linearen Extraction führte. . Diese in einzelnen Fällen, z. B. bei geschrumpften und weichen Staaren, schon früher ausgeübte Methode wurde von A. v. Geaefe, der den Schnitt in die obere Grenze der Hornhaut verlegte und gleich- zeitig die Iridectomie verrichtete, ausgebildet und zum Gemeingut aller Ärzte gemacht.

Ungemein erleichtert wurde die operative Augenheilkunde, als man die Mydriatica anzuwenden begann. Himly machte auf die pupillen- erweiternden Eigenschaften des Hyoscyamus und der Belladonna auf- merksam. Später lernte man noch andere derartige Mittel kennen; doch kamen die narkotischen Alkaloide, besonders das Atropin, am meisten in Gebrauch.

Die bedeutendste Errungenschaft der Ophthalmologie während des 19. Jahrhunderts war jedoch ohne Zweifel die Erfindung des Augen- spiegels. Vorbereitet durch die Untersuchungen über den leuchtenden Hintergrund der mit einem Tapetum versehenen Augen gewisser Thiere,. durch die Beobachtungen der menschlichen Netzhaut beim Mangel der Iris und durch Pukkinje's Experimente trat sie 1851 ins Leben, Wäh- rend der Erfinder des Augenspiegels, Helmholtz, die Theorie desselben bearbeitete und nahezu vollständig abschloss, war es hauptsächlich A. VON Graefe, welcher seine Bedeutung für die ophthalmiatrische Praxis erkannte und darlegte.

Mit Hufe des Augenspiegels wurde es möglich, den Zustand der brechenden Medien und des Augengrundes zu untersuchen. Das Wesen der Amaurosis, die man früher scherzhafter Weise als eine Krankheit definirt hatte, „bei welcher weder der Kranke, noch der Arzt etwas sieht", wurde dem Verständniss erschlossen, ^ und man vermochte die ver- schiedenen Krankheiten der Netzhaut zu unterscheiden. Als die Beziehun- gen der letzteren zu gewissen AUgemein-Erkrankungen des Körpers, z. B. zum Morbus Brightii, Diabetes mellitus u.a.m. festgestellt wurden, gewann der Augenspiegel diagnostische Bedeutung für die gesammte Pathologie.

^ A. Hirsch: Geschichte der Augenheilkunde a. a. 0. S. 474.

Chirurgie y Augenheilkunde, Geburtshilfe und StacUsarx/neikunde, 407

Die Geburtshilfe schlug eine . naturgemässe Richtung ein und er- weiterte sich, indem sie alle physiologischen und pathologischen Vor- gänge im Weibe und deren Behandlung in den Kreis der Betrachtung zog, zur Gynaekologie. Man gelangte zu der Einsicht, dass Schwanger- schaft, Geburt und Wochenbett physiologische Zustande sind, deren Verlauf dem Walten der Natur überlassen werden darf, solange nicht aussergewöhnliche Verhältnisse das Einschreiten des Arztes erheischen.

Lukas Boer, welcher diese Grundsätze vertrat, verwarf die soge- nannten Vorbereitungskuren, welche in den meisten Fällen schädlich wirkten, und lieferte den Nachweis, dass selbst die Gesichts-, Steiss-, Knie- und Fusslagen nicht immer die Kunst des Arztes erfordern, sondern durch die Kraft der Natur häufig noch derartig regulirt wer- den, dass die Geburt von selbst erfolgt. Der schwerfällige complicirte Instrumenten- Apparat früherer Zeiten wurde vereinfacht und die ope- rative Geburtshilfe auf diejenigen Fälle eingeschränkt, in denen sie unumgänglich war.

Man lernte die Verengerungen des Beckens durch methodische Messungen diagnosticiren und den Einfluss der Lage Veränderungen und Krankheiten der Gebärmutter auf die Schwangerschaft und den Ge- burtsakt beurtheilen. Auch die Pathologie des Wochenbetts, besonders das Puerperalfieber, auf dessen Pathogenese die Beobachtungen des un- glücklichen Semmelweiss ein überraschendes Licht warfen, wurde sorg- fältig erforscht. Die Erkrankungen der Gebärmutter, der Eierstöcke und der benachbarten Theile gaben zu operativen Eingriffen Anlass^ deren Methoden erst erfunden werden mussten.

Die Exstirpation des Uterus bei bösartigen Entartungen desselben wurde bereits von Monteggia, Osiander u. A. ausgeführt und in jüngster Zeit in Bezug auf die Technik sehr vervollkommnet. Ahnlich verhält es sich mit der Ovariotomie, welche von Mac Do well i. J. 1809 zum ersten Male unternommen wurde und seitdem viele Verbesserungen erfahren hat. Die operative Behandlung des Prolapsus des Uterus und der Vagina, sowie die Operation der Blasenscheidenfisteln, welche früher als unheilbar galten, gehören ebenfalls der neuesten Periode an und sind hauptsächlich das Verdienst von Jobebt de Lamballe, Mariox Sims, G. Simon und anderen hervorragenden Gynäkologen der Gegenwart.

Der Fortschritt der Medicin im 19. Jahrhundert beschränkte sich aber nicht blos auf die Bedeutung, welche sie als Heilkunst für das kranke Individuum besitzt, sondern brachte auch die wichtigen Be- ziehungen derselben zum Staat zum allgemeinen Bewusstsein.

Es hing dies vielleicht mit der politischen Entwickelung zusammen^ welche die Staatsregierung an ihre Aufgabe mahnte, die Gesellschaft

408 Der medioinisehe Unterricht in der neuesten Zeit.

zu schätzen, und in dem einzelnen Bürger das Gefühl erweckte, dass er als Mitglied des Gemeinwesens Pflichten gegen dasselbe zu erfüllen habe und an seiner Wohlfahrt betheiligt sei. So traten die gerichtliche Medicin, welche von A. Henke, Mende, Christison, Casper, Orfila, Tardieü u. A. begründet und bearbeitet wurde, und die medicinische Polizei, deren Fundamente Peter Frank legte, in die Reihe der me- dicinischen Disciplinen. Was die erstere für die Justiz wurde, das sollte die letztere für die Verwaltung sein: der Inbegriff der Kennt- nisse, deren der ärztliche Sachverstandige bedarf, wenn er von den Behörden zu Bath gezogen wird.

Die Sanitäts- Polizei erweiterte sich zur öffentlichen Gesundheits- pflege oder Hygiene, als sich der Gedanke Bahn brach, dass nicht blos der Staat, sondern jeder Einzelne berufen ist, Krankheiten zu verhüten und die Entwickelung und Erhaltung dei: Salubrität zu fördern. Die Identität der Interessen, welche in den Fragen der Hygiene die Be- völkerung mit der Staatspolitik verbindet, erklärt es sicherlich zum grossen Theile, dass die wissenschaftliche Lösung derselben in den letzten Jahrzehnten mit einem bewunderungswürdigen Eifer betrieben^ wurde. Der Einfluss der Nahrung, Kleidung, Wohnung, des Bodens, Klimas, der Temperatur, Luft, der Beschäftigung, des Alters und Ge- schlechts wurde sorgfaltig untersucht," die Erforschung der Ursachen der Entstehung und Verbreitung der Seuchen, die gesundheitsgemässe Anlage von Krankenhäusern, Friedhöfen, Fabriken und Bauten aller Art, die Überwachung der Prostitution u, a. m. bildeten weitere Auf- gaben der öffentlichen Gesundheitspflege.

Sowohl die Geschichte der Medicin, die über den A-'erlauf der grossen Volkskrankheiten, welche in vergangenen Zeiten die Länder durchzogen und den Erfolg der dagegen getroffenen Massregeln Bericht erstattete, als die medicinische Geographie, welche darauf hinwies, dass manche Krankheiten nur oder wenigstens vorzugsweise in gewissen Gegenden vorkommen, und die Erklärung dieser Thatsache versuchte, und die Medicinalstatistik, die das beigebrachte Material mit Hilfe der numerischen Methode zu sichten und zu Schlussfolgerungen zu ver- werthen bemüht war, lieferten wichtige Beiträge zur Lösung dieser Fragen. Die Chemie, das Mikroskop und das Experiment boten die Mittel zu Untersuchungen, welche ebenfalls zu werthvoUen Aufschlüssen darüber führten, und die Bakteriologie lenkte den Blick auf die letzten Ursachen der Krankheiten.

Die Erfolge, welche die Hygiene dadurch in den letzten Jahren errungen hat, und die Erwartungen, die man von ihr für die Zukunft hegt, haben ihr in kurzer Zeit eine hervorragende Stellung unter den

Der medidnische Unterricht in der Gegenwart, 409

medicinischen Disciplinen verschafift. Die Aufgabe, die Krankheiten zu Terhüten, erscheint ebenso gross und segensreich, als diejenige sie zu heilen, und die öffentliche Medicin tritt der privat-en ebenbürtig an die Seite.

Die Staatsregierungen tragen dieser in immer weitere Kreise dringenden Erkenn tniss Rechnung, indem sie die Sanitats Verwaltung organisiren, Gesundheitsämter errichten und für ärztliche Beaufsichtigung gewisser Einrichtungen Sorge tragen, und das prophetische Wort des englischen Staatsmannes Gladstone: „Die Arzte werden die Führer der Völker sein", geht seiner Erfüllung entgegen.

Der medicinische Unterricht in der Oegenwart.

Die Umgestaltungen und Verbesserungen, die der medicinische Unterricht während der letzten hundert Jahre erfahren hat, sind nicht weniger bedeutend als die Erfolge, welche die wissenschaftliche Be- arbeitung der Heilkunde errungen hat. Wenn man die mit Lehrmitteln aller Art reichlich ausgestatteten Institute unserer heutigen medicinischen Schulen, ihre vortrefflich eingerichteten Lehrgebäude für normale und pathologische Anatomie und Physiologie mit ihrem Instrumenten- Apparat, ihre physikalischen, chemischen und hygienischen Labora- torien, ihre naturwissenschaftlichen Sammlungen und ihre grosse Anzahl klinischer Anstalten betrachtet und sie mit den dürftigen Anfängen vergleicht, welche in dieser Hinsicht im vorigen Jahrhundert gemacht wurden, erkennt man, wie viel seitdem erreicht worden ist. Heut gelten diese Einrichtungen als unentbehrlich für den Betrieb des ärzt- lichen Unterrichts, während sie damals an den meisten Hochschulen gänzlich fehlten oder doch nur zum geringsten Theile vorhanden waren und in solcher Vollständigkeit kaum jemals erhofft werden konnten.

Die Lehrmethode" hat in Folge dessen eine andere Form an- genommen; die praktischen Demonstrationen gewannen mehr und mehr das Übergewicht im medicinischen Unterricht und füllten mit den zu ihnen gehörigen Erklärungen den Inhalt desselben aus, während die theoretischen Vorträge zurückgedrängt wurden und allmälig fast gänz- lich verschwanden. Das Verständniss der wissenschaftlichen Thatsachen und Theorien ist dadurch ausserordentlich erleichtert worden; denn was man mit den Sinnen erfasst, das prägt sich nicht blos dem Gedächtniss, sondern auch dem Verstände ein.

410 Der medidnische Unterriekt in der nettesten Zeit.

Dazu kam, dass die Theilung der Arbeit auch im medicinischen Unterricht durchgeführt wurde und feststehende Formen gewann, welche es gestatteten, dass der Lehrer sich ausschliesslich mit der Disciplin, welche er vertritt, beschäftigen und daher eine virtuose Gewandtheit und Sicherheit darin erlangen konnte.

Die Vervollständigung des medicinischen Unterrichts durch die Errichtung neuer Lehrkanzeln, welche die Entwickelung und fort- schreitende Specialisirung der Heilkunde forderte, und die Einführung und Verbesserung der Prüfungsordnungen, welche die Gewähr leisten sollen, dass die jungen Ärzte die für ihren Beruf nothwendigen Kennt- nisse erworben haben, bildeten weitere Bereicherungen, die das ärztliche Bildungswesen in diesem Zeitraum erfuhr. Allerdings waren die Fort- schritte auf diesem Gebiet in den einzelnen Ländern sehr verschieden; der Zustand der allgemeinen Cultur und besonders der Heilkunde, die sociale Stellung der Ärzte, die historischen Traditionen und vor Allem das Vorhalten des Staates zum öffentlichen Unterricht übten darauf einen entscheidenden Einfluss aus.

Bei den rohen Naturvölkern, bei den Kaffern, Indianern, den Ein- geborenen Brasiliens u. A. versuchen die Ärzte und Zauberer noch heut^ die Krankheiten durch Gebete und Beschwörungsformeln zu vertreiben, und das medicinische Wissen reicht nur selten über die Kenntnis» einiger heilkräftigen Kräuter und Wurzeln hinaus.^

Auch bei den Culturvölkern herrschen in Bezug auf die Heilkunde sehr verschiedenartige Zustände. Die einheimischen Ärzte in den Ländern des Islams handeln zum grössten Theile jetzt noch nach den- selben Grundsätzen, welche die Vertreter der arabischen Medicin im Mittelalter verkündet haben, und ebenso glauben auch die chinesischen Ärzte an die gleichen haltlosen Spekulationen, die dort seit Jahrtausenden Geltung besitzen. 2 Doch führte die Berührung mit der europäischen Heilkunde und die Erkenntniss ihrer Vortheile zu Versuchen, dieselbe dorthin zu verpflanzen.

In Konstantinopel und Kairo gründete man medicinische Schulen an denen europäische, vorzugsweise französische und deutsche Ärzte als Lehrer angestellt wurden. Bei weitem griind lieber und, wie es scheint,, mit grösserem Erfolg wurde dies in Japan ins Werk gesetzt, wo in den letzten Jahren mehrere ärztliche Lehranstalten entstanden, welche

^ Th. Waitz: Anthropologie der Naturvölker, Leipzig 1859, II, 412. IIl^ 225. 419. IV, 473. V, 2. 149. 199. VI, 24 u. ff. 394 u. ff. 557. A. Bastian: Der Mensch in der Geschichte, Leipzig 1860, II, 116 u. ff.

* P. Dabry: La medecine chez les Chinois, Paris 1863. D. J. Macgowax in den Med. Rep. Shangai 1882, No. 22.

Der medieinisdie Unterricht in defr Gegenwart. 411

vollständig nach europäischem Muster organisirt und hauptsächlich mit deutschen Lehrkräften versehen wurden.^ Die niedere Cultur weicht vor der höheren zurück, welche überall siegreich vordringt und die Menschheit mit ihren Segnungen beglückt.

In den civilisirten Ländern hat die allgemeine und fachwissen- schaftliche Bildung der verschiedenen Berufsklassen eine gewisse Gleich- artigkeit angenommen, welche sich aus der durch die Literatur be- wirkten leichten und raschen Vermittelung der geistigen Fortschritte und Errungenschaften erklärt. Auch die Heilkunde zeigt diese Er- scheinung, und der unterrichtete Arzt in Frankreich bekennt sich zu denselben Lehren, wie sein College in Deutschland, Österreich, Italien und anderen Ländern. Die medicinische Wissenschaft ist überall die- selbe; aber die Summe des Wissens, welche von den Vertretern der- selben in den einzelnen Staaten verlangt wird, ist verschieden, und die äusseren Formen, in denen sie den Studierenden gelehrt wird, sind mannigfaltig.

An einzelnen Orten, z. B. in Amerika und England, besteht noch die Einrichtung, dass Ärzte Schuler annehmen und gleich den Hand- werkern zu Meistern in ihrer Kunst ausbilden; aber im Allgemeinen werden die ärztlichen Kenntnisse an Schulen erworben, welche diesen Zweck zu ihrer besonderen Aufgabe machen und entweder als medi- cinische Facultäten mit anderen Lehranstalten zu Universitäten ver- einigt sind, oder ausserhalb derselben eine gesonderte Existenz führen.

Diese Schulen werden in manchen Ländern vom Staat geleitet oder wenigstens beaufsichtigt, während sie in anderen eine unabhängige Stellung einnehmen und sich selbst verwalten oder von Privatpersonen ])eeinflusst werden. Diese principiellen Verschiedenheiten in der Organi- sation des medicinischen Unterrichts waren für die Entwickelung des- selben von grosser Bedeutung, wie die Betrachtung der betreffenden Verhältnisse in den verschiedenen Staaten lehrt.

Die ausführlichste Darstellung werden dabei die Zustände bean- spruchen dürfen, welche sich in dieser Hinsicht bei den Engländern, Franzosen und Deutschen entwickelt haben, weil sie die Typen der verschiedenen Gestaltungsformen des ärztlichen Bildungswesens dar- stellen und auf den medicinischen Unterricht der übrigen Nationen einen massgebenden Einfluss ausgeübt haben.

* Ardoüin: Apercu sur Thistoire de la m^decine au Japon, Paris 1884. Ad. Hopmeister: Die Universität Tokio, ihre Geschichte und Organisation, Aus- land, Jahrg. 57, No. 51. H. Gierke in der Breslauer ärztl. Zeitschr. IV, S. 64 u. ff.

412 Der medicinisefie Uhterrieht in dsr neuesten Zeit

England. Nord -Amerika.

Am längsten haben sich die Einrichtungen des Mittelalters im medicinischen Unterricht in England erhalten.^ Dort kommt es noch heut vor, wenn auch bei weitem seltener als früher, dass die Studierenden der Heilkunde ihre Studien damit beginnen, dass sie sieh zu einem praktischen Arzt in die Lehre begeben; sie bleiben bei ihm ein Jahr hindurch, um einen allgemeinen Überblick dessen zu gewinnen, was das Leben einst von ihnen fordern wird.^ Bei dieser Methode hängt natürlich sehr viel von der Individualität des Schülers und nahezu Alles von der Persönlichkeit des Lehrers ab. Ist der Schüler fleissig und begabt, und besitzt der Lehrer Geduld, Kenntnisse und Freude an seiner Thätigkeit, dann ist dieses Jahr für den ersteren von unschätz- barem Vortheil für seine späteren Studien; im anderen Falle ist es ver- lorene Zeit und dient höchstens dazu, ihn mit einer handwerksmässigen Routine auszustatten, die manchmal nahe an Charlatanerie streift.

Ähnlich verhält es sich, wenn das erste Jahr der medicinischen Studienzeit in einem Hospital zugebracht wird, wie es auch häufig ge- schieht. Die Studierenden glauben, dass sie dort Gelegenheit haben, viele Kranke zu beobachten, und hoffen von den Hausärzten über die wichtigsten Ereignisse Belehrung zu erhalten. Wenn sie in diesen Erwartungen nicht getäuscht werden, so können sie sich allerdings eine, gewisse Gewandtheit im Verkehr mit den Kranken aneignen, welche ihnen in ihrer späteren klinischen und ärztlichen Wirksamkeit sehr nützlich ist.

Aber in manchen andern Beziehungen muss diese Form der Ein- führung in die medicinischen Studien grosse Bedenken erregen. Sie verleitet den Schüler zur Oberflächlichkeit, indem sie ihn gewöhnt, das Wesen der Dinge nur zu streifen, weil ihm die Kenntnisse und das Verständniss fehlen, um ihnen auf den Grund zu gehen. Auch dürften die Ergebnisse, welche auf diese Weise erzielt werden, wohl kaum den Opfern an Zeit und Mühe entsprechen, die sie den Ärzten, die dabei die Rolle als Lehrer spielen, verursachen, und noch weniger die Unbequemlichkeiten rechtfertigen, welche sie für die Kranken-

^ Th. Puschmann: Das meclicinische Unterrichtswesen in England in der Beil. d. AUg. Zeitung, München 1886, No. 7 9. Dieser Aufsatz, den ich s. Z. unter dem frischen Eindruck der eigenen Anschauung geschrieben habe, bildete eine Vorarbeit des vorliegenden Buches. .

^ Ch. Bell Keetley : The Students Guide to tlie medical profession, London 1878, p. 16 u. ff.

England, Nord* Amerika, 413

behandlung im Gefolge haben. Jedenfalls ist diesem Herumtasten auf unbekannten Gebieten der systematische Unterricht an einer medi- cinischen Schule bei weitem vorzuziehen.

Aus diesem Grunde ist es mehr und mehr üblich geworden, dass die Studierenden sofort eine medicinische Fachschule oder eine Univer- sität besuchen. Die medicinischen Schulen Englands haben sich aus der eben beschriebeneu Form des Unterrichts entwickelt; sie lehnen sich an Hospitäler an und sind dadurch entstanden, dass die Ärzte der- selben Schüler annahmen und Unterricht in der Heilkunst gaben. Als die Bedürfnisse des Unterrichts wuchsen, vertheilten sie die Vertretung der einzelnen Zweige der Heilkunde unter sich und trugen, wenn sie selbst in einzelnen, z. B. den theoretischen Fächern sich nicht zu Lehrern befähigt erachteten, dafür Sorge, dass geeignete Lehrkräfte er- worben und die nothwendigen Lehrmittel und Institute angeschafift wurden.

Nur ein kleiner Bruchtheil der Studierenden der Medicin bezog die Universität, da dieselbe bis in die neueste Zeit der für das Studium der Heilkunde erforderlichen Einrichtungen entbehrte. Die englischen Hochschulen waren eigentlich nichts weiter als verlängerte Gymnasien, wie sie J. Döllinger bezeichnete, welche nicht die Aufgabe haben, Beamte zu bilden und Juristen, Ärzte oder Naturforscher zu liefern, sondern „durch classische und mathematische Studien nebst Logik und Moralphilosophie und durch eine Collegienerziehung dem Staat und der Gesellschaft den gebildeten und unabhängigen Gentleman und daneben der Staatskirche einen weniger theologisch, als classisch und literarisch gebildeten Klerus zu liefern".

Einen anderen Charakter zeigten die schottischen Hochschulen, besonders Edinburg, wo man schon in früher Zeit anfing, die prak- tische Heilkunde in den Bereich des medicinischen Unterrichts zu ziehen.

Die verschiedenartigen Wege, auf denen die medicinischen Kennt- nisse erworben wurden, lassen es begreiflich erscheinen, dass unter den Ärzten grosse Unterschiede in Bezug auf ihr Wissen und ihre Geschick- lichkeit bestanden. Dazu kam, dass sie nicht genöthigt waren, darüber ernste Eechenschaft zu geben. Der Staat kümmerte sich nicht darum, ob und wo der künftige Arzt die Befähigung für seinen Beruf erlangte; er gestattete Jedem, die ärztliche Praxis auszuüben, und überliess es dem Publikum, die guten Ärzte zu sondern von den schlechten.

Dabei war natürlich nur der Erfolg entscheidend. Die Heilkünstler, welche diesem unsicheren Urtheil misstrauten, suchten durch Zeugnisse, in 4eß6^ ihre medicinischen Studien und ihre ärztliche Tüchtigkeit bestätigt wurden, äie öffentliche Meinung zu gewinnen. Verschiedene

414 Der medidniscke Unterricht in der neuesten Zeit,

ärztliche Genossenschaften und medicinische Schulen waren dazu geg-en Entrichtung der üblichen Taxen bereit und nahmen Prüfungen ab, die aber weder einheitlich organisirt, noch von einer Centralstelle über- wacht wurden, und daher durchaus nicht eine Gewähr für die Bildung des Arztes boten.

Manche erwarben ein Diplom im Auslande oder suchten sich das- selbe auf illegale Weise zu verschaffen; auch hatte der Erzbischof von Canterbury das Kecht, Doktoren der Medicin zu ernennen. Zuletzt kam es soweit, dass es genügte, wenn Jemand von zwei Mitgliedern einer ärztlichen Genossenschaft der Behörde als Arzt vorgestellt wurde, damit er als solcher anerkannt wurde.

Derartige Zustände müssten für die Kranken, auf welche diese Heilkünstler „losgelassen" wurden, schwere Nachtheile im Gefolge haben. Der unerschütterliche Gleichmuth des englischen Volkes wurde dadurch endlich aufgerüttelt, und das Parlament veranlasst, Abhilfe dagegen zu treffen. Das Ergebniss der Berathunge« desselben war die Medical Act v.J. 1858, in welcher genau bestimmt wurde, welche Körperschaften fortan das Recht haben, ärztliche Prüfungen abzunehmen und gültige Zeugnisse darüber auszustellen.

Sie wurden der Aufsicht des General Council of medical education and registration of the united kingdom unterstellt, welcher darauf achten soll, dass die Prüfungen ihrem Zweck entsprechen. Ist dies nicht der Fall, so steht dem General Council die Befugniss zu, eine Zurechtweisung der Examinatoren zu veranlassen, oder wenn die Übel- stände nicht beseitigt werden, die Aufhebung des der betreffenden Corporation ertheilten Prüfungs-Privilegiums zu bewirken.

Die Namen der Personen, welche vor einer zur Abnahme der Prüfungen legitimirten Körperschaft ihre Befähigung zur Ausübung der ärztlichen Thätigkeit nachgewiesen haben, werden in ein Verz'eichniss aufgenommen, welches vom General Council geführt und dem Publikum bekannt gemacht wird; nur solche durch das Gesetz anerkannte Ärzte können beim Gericht die Klagen auf rückständige Honorar-Forderungen geltend machen und amtliche Stellungen erlangen.

Der General Council, welchem übrigens noch andere auf das Me- dicinalwesen bezügliche Aufgaben übertragen wurden, besteht aus 24 Mitgliedern, von denen 17 durch die verschiedenen Prüfungskörper- schaften gewählt, 6 von der Krone ernannt und 1, nämlich der Prä- sident, vom General Council selbst bestimmt wird. Mit diesem Gesetz wurde für die weitere Entwickelung des medicinischen ünterrichts- wesens in England eine feste Grundlage gegeben, welche wenigstens die gröbsten Missbräuche verhinderte.

England. Nord- Amerika. 415

Die Mängel, welche es zeigte, riefen Verbesserungsvorschläge hervor, welche aber gar nicht oder doch nur zum Theil ausgeführt wurden. Im J. 1881 wurde eine Commission von Fachmännern berufen, welche über die Fragen des medicinischen Unterrichts Berathungen hielt Boi dieser Gelegenheit wurde die Nothwendigkeit einer allgemeinen wissen- schaftlichen Vorbildung für den Studenten der Medicin hervorgehoben, die Einführung von Staatsprüfungen angeregt und verlangt, dass nur Diplome der Befähigung zur Ausübung der gesammten Heilkunde, nicht aber einzelner Theile derselben ausgestellt werden. Aber die Mehrheit verhielt sich ablehnend dagegen und verwarf mit aller Entschiedenheit die absolute Gleichförmigkeit der ärztlichen Erziehung, indem sie es als einen besonderen Vorzug des englischen Systems betrachtete, dass es innerhalb gewisser Grenzen die Freiheit der Bewegung gestattet und eine bei der Verschiedenheit der Lehranstalten natürliche Mannigfaltig- keit der Bildung hervorbringt^

Gegenwärtig erwerben die Studierenden der Heilkunde die fach- wissenschaftliche Bildung hauptsächlich an den medicinischen Schulen und den Universitäten. An den ersteren ist kein Mangel; in London allein existiren zwölf. Sie sind mit Krankenhäusern verbunden und werden gewöhnlich darnach genannt.

Die älteste Schule ist diejenige des St Bartholomeus- Hospitals, dessen ereignissreiche Geschichte mit der Entwickelung der Heilkunde in England eng verknüpft ist Diese Krankenanstalt besteht seit 1164 und die frühesten Nachrichten, dass dort medicinischer Unterricht er- theilt wurde, stammen vom Jahre 1662. Zu den Ärzten derselben gehörten William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs, und später die Chirurgen Pebcival Pott und Abernethy.^

Die Gründung des St Thomas-Hospitals, mit welchem ebenfalls eine ärztliche Lehranstalt verbunden ist, wird in das 13. Jahrhundert verlegt; in den Akten dieser Anstalt wird schon 1551 ein ärztlicher Lehrling erwähnt Ihre jetzigen Gebäude wurden 1871 der Benutzung übergeben und erregen durch ihre zweckmässigen Einrichtungen die Bewunderung der Fachmänner.

^ Report of the royal commissioners appointed to inquire into the medical acts, presented to both houses of Parliament (Engl. Blaubuch 1882, Vol. 29) Abs. 37: It would be a mistake to introduce absolute uniformity into medical education. One great merit of the present System, so far as teaching is concemed, lies in the elasticity which is produced by the variety and the numbers of educating bodies.

^ N. MooBE in St. Bartholomews Hospital Rep., London 1882, XVUI, p. 333 358. W. A. Delamotte: The royal Hospital of St. Bartholomews, London 1846.

416 De?' inediüinische Unterricht in der neuesteji Zeit.

Auch St. Georges-Hospital, das Middlesex* Hospital, das London- Hospital, das Westminster-Hospital, das Charing-Cross-Hospital, St. Marj's Hospital und Guy 's Hospital, werden zum medicinischen Unterricht .benutzt und dienen als ärztliche Schulen.^

Das Kings College und das University College, welches übrigens keineswegs mit der London University identisch ist, schliessen sich zwar auch an Krankenhäuser an; aber sie unterscheiden sich von den übrigen medicinischen Schulen dadurch, dass sie nicht isolirt sind^ sondern in einem organischen Zusammenhange mit juristischen, philo- sophischen und naturwissenschaftlichen Facultäten, mit technischen In- stituten u. a. m. stehen. Ausserdem existirt in London eine medicinische Schule für Frauen, welche sich dem ärztlichen Beruf widmen wollen.

In den übrigen Städten- Englands bestehen medicinische Unter- richtsanstalten zu Birmingham, Bristol, Leeds, Liverpool, Sheffield, Dublin, Belfast, Cork, Galway, Edinburg, Glasgow u. a. 0.; auch giebt es Schulen^ welche keine vollständige medicinische Ausbildung, sondern nur Unterricht in einzelnen Fächern gewähren, wie die West London hospital preparatory school oder Cookes anatomische Schule. In den brittischen Colonien, in Canada und in Brittisch-Indien befinden sich gleichfalls eine Menge von medicinischen Lehranstalten, welche nach englischem Muster eingerichtet sind; auch zu Valetta auf der Insel Malta giebt es ein derartiges Institut. ^

Die medicinischen Schulen Englands sind ebenso wie die Hospitäler, zu welchen sie gehören, im Allgemeinen Privat-Unternehmungen. Der Staat zahlt weder ihre Unterhaltungskosten, noch leistet er einen Zu- schuss dazu; ebensowenig übt er irgend welchen Einfiuss auf ihre Organisation und Verwaltung oder auf den Unterricht aus, der dort ertheilt wird. Dafür giebt der Besuch dieser Schulen auch keineswegs das Recht zur Ausübung der ärztlichen Praxis. Die Lehrkörper der- selben haben nicht die Befugniss, Prüfungen abzuhalten, welche eine öffentliche Geltung besitzen, sondern sind genöthigt, zu diesem Zweck ihre Schüler den ärztlichen Corporationen und Examinationsbehörden zu überweisen, deren Zeugnisse und Diplome die Licenz zur Praxis ge- währen.

Der private Charakter der medicinischen Schulen tritt namentlich

^ Benj. Golding: An historical account of St. Thomas Hospital, London 1819. Erasmus Wilson: The history of the Middlesex Hospital, London 1845. W. E. Page: St. Georges Hospital, London 1866. B. Golding: The origin, l)lan and Operations of the Charing Gross Hospital, London 1867.

* H. B. Hardwicke: Medicai edueation and practise in all parts of the world, London 1880.

England, Nord- Amerika, 417

in der Einricbtung derselben, in ihrer Ausstattung mit Lehrmitteln, bei der Auswahl des Lehrerpersonals u. a. m. hervor. Das entscheidende Wort in diesen Angelegenheiten spricht das Curatorium, welches die Aufsicht über das Hospital fuhrt; ihm fällt die Aufgabe zu, die Ärzte desselben und die Lehrer der Schule anzustellen. Da diese Curatorien nicht oder doch nur zum geringsten Theile aus Fachmännern, sondern hauptsächlich aus Laien bestehen, so liegt die Gefahr, dass Protektion und Nepotismus bei der Besetzung der Stellen wirken, nicht gar fem, umsomehr als dieselbe nicht, wie in Deutschland und Österreich, auf Grund hervorragender wissenschaftlicher Leistungen, oder wie in an- deren Ländern, durch Concurs erfolgt.

Die Besoldungen der Lehrer fliessen aus den Erträgnissen, welche das Schulgeld liefert; nur in besonderen Fällen, wenn dasselbe wegen Mangels an Schülern zu geringfügig ist oder wenn es gilt, eine be- rühmte Lehrkraft zu gewinnen, bewilligen die Curatorien. ausserordent- liche Zuschüsse. Die Schulgelder sind in Folge dessen ziemlich be- trächtlich. So kostet z. B. am St. Bartholomeus Hospital zu London der Besuch eines Cursus über Physiologie 9 Guineen, über Materia medica 6^2 Guineen, über Botanik oder gerichtliche Medicin 4 Gui- neen, am Thomas -Hospital die Theilnahme an den Sektionsübungen während drei Monaten 4 Guineen; doch geschieht es nur ausnahms- weise, dass der Studierende ein einzelnes CoUeg belegt. Gewöhnlich betheiligt er sich an sämmtlichen Vorlesungen und Demonstrationen, welche der Studienplan der Schule empfiehlt, und zahlt dafür ein be- stimmtes Pauschale, welches grösser oder geringer ist, je nachdem das Geld sofort oder in verschiedenen Terminen erlegt wird, aber niemals weniger als 125 Pfand Sterling, also 2500 Mark, für die gesammte Studienzeit beträgt. Dazu kommen manchmal noch besondere Aus- gaben für die Benutzung von Instrumenten, für die Leichentheile, welche zum Studium dienen, u. a. m.

Die Ausstattung der einzelnen Schulen mit Lehrmitteln ist sehr verschieden. Manche haben hohe luftige Hörsäle, zweckmässige Räume für anatomische Secirübungen, gut eingerichtete physiologische und chemische Laboratorien, naturwissenschaftliche Sammlungen, anatomi- sche und pathologische Museen, Bibliotheken und klinische Institute aller Art; Andere leiden daran Mangel und bieten in dieser Hinsicht weniger, als die kleinste medicinische Facultät in Deutschland.

Der Lehrplan der medicinischen Schulen richtet sich nach den Prüfungen, welchen sich die Studierenden später unterziehen wollen. Im Allgemeinen werden die vorbereitenden und propädeutischen Fächer nicht in dem gleichen Grade berücksichtigt, wie diejenigen Disciplinen,

PuscHMANN, Unterricht. 27

418 Der medidnische Unterricht in der neuesten Zitit

welche mit der Praxis unmittelbar zusammenhängen. Der Utilitarismus, welcher das englische Volk beherrscht, kommt vielleicht nirgends so unverhüllt zum Ausdruck, als in diesen Anstalten, welche lediglich das Ziel verfolgen, für die ärztlichen Prüfungen vorzubereiten. Sie gleichen darin den Instituten, welche in Deutschland für eine möglichst rasche Ausstattung mit der für die Officiers- Aspiranten geforderten Allgemeinbildung Sorge tragen und unter dem Namen der Fähnrichs- pressen bekannt sind.

Dagegen sehen es die englischen Universitäten als ihre vornehmste Aufgabe an, den Sinn für wissenschaftliche Bestrebungen zu beleben und zu erhalten. Wer dort die medicinischen Studien treibt, hat die Absicht, eine gründliche tiefe Ausbildung in den naturwissenschaftlichen und vorbereitenden Disciplinen zu erwerben und akademische Grade zu erlangen. Doch ist der Aufenthalt an der Universität kostspieliger als an den medicinischen Schulen, weil er die Studienzeit verlängert und durch das Zusammenleben mit reichen Jünglingen und die Theil- nahme an den gemeinsamen Vergnügungen zu manchen Ausgaben verleitet, zu denen an den Fachschulen keine Veranlassung ist. Die Ärzte, welche die Universität besucht und dort promovirt haben, ge- hören durch ihr Wissen und ihre gesellschaftliche Stellung zu der Elite ihres Standes.

Die englischen Universitäten sind ebensowenig als die medicini- schen Schulen Staatsanstalten. Ihre Unterhaltungskosten werden aus den Schulgeldern, welches die Studierenden zahlen, und aus den Er- trägnissen ihrer reichen Stiftungen bestritten. Die Verwaltung und Leitung führen Senate, welche sich aus Männern von hervorragender Lebensstellung und Professoren der Hochschule zusammensetzen.

Im Gegensatz zu den Universitäten des übrigen Europas sind die englischen nicht blos Unterrichts-, sondern zugleich Erziehungsanstalten. Ihrem Verbände gehören eine grosse Anzahl von Colleges und Halls an, d. s. klosterähnliche Pensionate, in denen die Studierenden zusammen wohnen und leben, Kost erhalten und in ihren Studien unterstützt werden. Oxford besitzt 25, Cambridge 17 derartige Institute. Einzelne von ihnen reichen bis ins Mittelalter zurück. Sie verdanken ihre Ent- stehung frommen Vermächtnissen und Schenkungen und sind mit Geld- mitteln reichlich ausgestattet.

Leider werden dieselben nicht immer in zweckmässiger und ge- rechter Weise verwendet. Anstatt zur Hebung der Wissenschaft und zur Unterstützung armer Studierender dienen sie hauptsächlich zu ein- träglichen Sinecuren für den Master und die Fellows, d. h. den Vorstand und die Beamten der Colleges. So bezieht der Master des Trinity

England. Nord- Amerika. 419

College zu Cambridge 60 000 Mark und die 60 Fellows zwischen 5400 und 15 000 Mark jährlich, ohne dass sie dafür entsprechende Dienste leisten. Würden diese Stellen ausnahmslos an solche Personen ver- liehen, welche ihr Leben der wissenschaftlichen Forschung geweiht und in dieser Thätigkeit bereits Erfolge errungen haben, so könnte man dies vielleicht rechtfertigen; aber von den Bewerbern um die Fellow- ship wird nur verlangt, dass sie einen akademischen Grad besitzen. Die Protektion giebt bei der Besetzung den Ausschlag; dass dabei die Geistlichkeit den Löwenantheil davon trägt, liegt in den englischen Verhältnissen, welche dem Klerus der Hochkirche eine sociale Macht zugestehen, wie sie die katholische Geistlichkeit in Tjrol vergeblich anstrebt.

Ein Mitglied des Senats der Universität Cambridge klagte öffent- lich darüber, dass die Stellen der Vorstände der dortigen Colleges nur mit Geistlichen besetzt und die Fellowships an Leute vergeben werden, welche nicht das Geringste für die Wissenschaft, die Universität oder das College thun.^ E. Bia^AN sagt, dass eine kleine deutsche Univer- sität mit ihren linkischen Professoren und hungernden Privatdocenten für die Wissenschaft mehr leistet, als alle prunkenden Beichthümer Oxfords.

Die meisten der Colleges zu Oxford und Cambridge befinden sich in alterthümlichen, wegen ihrer Architektur und ihrer Kunstdenkmäler sehenswerthen Gebäuden, welche mit ihren Thürmen und Bogen, ihren Kapellen, Säulengängen und Eefektorien an längst vergangene Zeiten erinnern; aber auch der Geist, der in diesen Anstalten herrscht, ist derjenige der Scholastik. Obwohl es ein britischer Mönch war, welcher im 13. Jahrhundert die ersten mächtigen Angriffe dagegen richtete, hat sich doch gerade in seiner Heimath jene mittelalterliche Welt- anschauung bis heut erhalten. Das theologische Dogma beherrscht das Unterrichtswesen und das gesammte geistige Leben des englischen Volkes und hat ihm einen pietistischen Zug aufgedrückt, der zu seinem politischen Freisinn und seinem rastlosen Haschen nach irdischen Be- sitzthümem nicht recht passt.

Auch in der äusseren Erscheinung der Professoren und Studenten prägt sich der theologische Charakter aus; wenn sie in ihren langen schwarzen Talaren und barettähnlichen Kopfbedeckungen einherschreiten, so glaubt man sich in jene Zeit versetzt, da die Mönche die Erziehung der Jugend leiteten. Die Studierenden stehen unter einer strengen Zucht; sie werden nicht wie junge Männer, die für eine gewisse Freiheit

* A few brief remarks on Cambridge University, London 1870.

27*

420 Der rnedicinischß Unterriohi in der neuesten Zeit.

und Selbstständigkeit reif sind, sondern wie Schüler, die einer bestän- digen Aufsicht bedürfen, behandelt.

Unter den Studenten befinden sich Personen von sehr verschie- denem Alter; doch gilt im Allgemeinen das 16. Lebensjahr als untere Altersgrenze. Nicht weniger unterscheiden sie sich in Bezug auf ihre Kenntnisse; während Manche kaum die Elementarstufen der Allgemein- bildung überwunden haben, giebt es Andere, welche durch ihre* wissen- schaftlichen Arbeiten bereits die Aufmerksamkeit der fachmännischen Kreise erregen.

Verhältnissmässig gering ist die Zahl der Professuren, sie beträgt in Oxford 48, in Cambridge sogar nur 37 in sämmtlichen Facul täten. Doch giebt es ausserdem noch eine grosse Anzahl von Eeaders oder Lecturers und Tutors, welche entweder an der Universität oder an einem College thätig sind, Vorträge halten, Repetitionen veranstalten und Privat-Lektionen geben. An manchen Hochschulen liegt, wie Ein- heimische versichern, der Unterricht hauptsächlich in ihren Händen. Wahrscheinlich betrifft dies nur die zur Allgemeinbildung gehörigen Fächer; bei der Medicin und den Naturwissenschaften dürfte es sicher- lich nicht der Fall sein.

Die Heilkunde findet übrigens an den englischen Universitäten nur eine theilweise Vertretung. Früher gab es dafür fast überall nur eine oder zwei Lehrkanzeln; erst in neuester Zeit hat man dieselben vermehrt. Dabei wurden jedoch vorzugsweise die theoretischen Disci- plinen, besonders die Anatomie und Physiologie, berücksichtigt.

Die Vervollständigung der ärztlichen Bildung durch den Unter- richt in der praktischen Heilkunst erfolgt in den medicinischen Schulen, welche an dem gleichen Ort oder in der Nähe desselben bestehen, und der Universität einverleibt sind oder wenigstens Beziehungen zu der- selben haben. In Cambridge bietet Addenbeooke's Hospital -Schule, in Oxford das dortige Krankenhaus, in Durham die medicinische Schule zu Newcastle-upon-Tyne Gelegenheit dazu, während in Manchester Owens College einen Theil der dort i. J. 1880 gegründeten Universität bildet. Ähnliche Beziehungen unterhalten die seit 1591 bestehende Universität Dublin (Trinity College) und die Royal University of Ire- land, welche 1881/83 an die Stelle der aufgelösten Queens University getreten ist, zu dortigen medicinischen Schulen und Hospitälern.

Enger ist die Verbindung zwischen den medicinischen Facultäten und Universitäten in Schottland. Die ältesten dortigen Universitäten zu St. Andrews, Glasgow und Aberdeen entstanden unter dem Einfluss des katholischen Klerus und wurden von ihm geleitet; ein medicinisches Studium bestand nur in St. Andrews.

England, Nord-Amerika. 421

Die Universität Edinburg begann als College und entwickelte sich als städtische ünterrichtsanstalt nach dem Muster der Genfer Aka- demie.^ Da die dortige ärztliche Zunft einen botanischen Garten an- legte und medicinischen Unterricht ertheilte, so lag es nahe, den letz- teren in den Verband der Hochschule zu ziehen. In Folge dessen stellte der Stadtrath von Edinburg i. J. 1685 drei Professoren der Medicin an der Universität an; es waren Ärzte der Stadt, denen man zwar keine Besoldung gab, wohl aber Lehrsäle zur Verfügung stellte. Zu den ersten Lehrern, die dort wirkten, gehörte Abchibald Pitcaien. Im J. 1770 bestanden an der dortigen medicinischen Facultät bereits Lehrkanzeln für Anatomie, Institutionen, medicinische Praxis, Geburts- hilfe, Chemie, Botanik, Materia medica und Naturgeschichte, sowie eine anatomische Lehranstalt, ein botanischer Garten, ein chemisches Labo- ratorium und eine Klinik. Im J. 1802 wurde eine chirurgische und 1825 eine geburtshilfliche Klinik eröfihet. Im J. 1816 schlug der Stadtrath die Errichtung einer Professur für vergleichende Anatomie und Veterinärchirurgie vor; aber der akademische Senat sprach sich dagegen aus. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden diejenigen Institute geschaffen, welche durch die Bedürfnisse des medicinischen Unterrichts gefordert wurden. Ebenso war es in Glasgow und den anderen beiden Hochschulen.

Neben den medicinischen Facultäten giebt es in Edinburg und Glasgow noch ärztliche Fachschulen, welche unabhängig von der Uni- versität sind.

Die University of London ist keine Universität, sondern ein In- stitut, an welchem Prüfungen abgelegt und akademische Grade er- worben werden.

Die Hochschulen in den überseeischen Ländern, welche unter der brittischen Herrschaft stehen, sind nach dem Vorbild der englischen organisirt.

Wer sich dem Studium der Heilkunde widmet, muss sich über den Besitz einer gewissen Allgemeinbildung ausweisen. Wenn er eine Universität bezieht, so unterwirft er sich zu diesem Zweck dem Matri- culations-Examen; besucht er eine medicinische Schule, so legt er die Prüfung vor einer der zahlreichen Examinations-Commissionen ab, welche gültige Zeugnisse darüber ausstellen dürfen. Die wissenschaft- lichen Anforderungen derselben sind nicht überall die gleichen; doch liegt ihnen ein allgemeines Schema zu Grunde, das mehr oder weniger zum Ausdruck gelangt. Über den Grad des Wisseas, welcher darin

^ A. Grant: The story of the university of Edinburgh, London 1884.

422 Der medidnische Unterricht in der neuesten Zeit,

verlangt wird, gestatten die Vorschriften der London University ein ürtheil; sie können als das höchste Maass von Kenntnissen gelten, die von den Prüflingen vorausgesetzt werden.^

Als Prüfungsgegenstände werden angeführt: 1) Latein, 2) zwei der folgenden Sprachen je nach der Wahl des Examinanden, nämlich Grie- chisch, Französisch oder Deutsch oder auch anstatt einer dieser drei Sprachen Arabisch oder Sanskrit, 3) englische Sprache und Geschichte und moderne Geographie, 4) Mathematik, 5) Natural Philosophy, wie in England die Physik genannt wird, und 6) Chemie. Im lateinischen Examen werden Stellen aus Julius Caesae's de hello Gallico, Sallust, den leichteren Reden Cicero's, aus Lrvius, Ovid, Viegil und Horaz ins Englische übersetzt, im griechischen Xenophon, Homeb und Eu- RTPiDEs vorgelegt und Fragen aus der Grammatik und alten Geschichte daran geknüpft. Die betreffenden Autoren und die einzelnen Abschnitte aus ihren Schriften, welche Gegenstände der jedesmaligen Prüfling bilden, werden jedoch schon 1^2 Jahre vorher öffentlich bekannt ge- macht, so dass das „Einpauken" der Schüler darauf ermöglicht wird. Ähnlich verhält es sich mit der Prüfung aus den übrigen Sprachen. Das mathematische Examen befasst sich mit den Decimalbrüchen, dem

*

Ausziehen von Quadratwurzeln und einfachen Gleichungen, und in der Geometrie mit den ersten Büchern Euklid's und ihrem Inhalt. Auch die physikalischen Kenntnisse, welche gefordert werden, tragen einen durchaus elementaren Charakter und beschränken sich auf die einfachen Gesetze und Thatsachen der Mechanik, Hydrostatik, Pneumatik, Wärme und Optik nebst den dabei gebräuchlichen Apparaten und Instrumenten. In der chemischen Prüfung wird verlangt, dass der Candidat über die wichtigsten chemischen Elemente und ihre Eigenschaften, die bekann- teren chemischen Prozesse und die Zusammensetzung des Wassers, der Luft und einzelner häufig vorkommender Körper Bescheid wisse. Dies ist im Wesentlichen die Summe der Kenntnisse, welche in England die Grundlage der fach wissenschaftlichen Studien bilden; doch ermässigt sich dieselbe an manchen Orten insofern, als dort die Prüfung aus einigen Fächern, z. B. aus den Sprachen, mit Ausnahme der lateinischen und englischen, sowie aus der Physik und Chemie, nicht obligat, son- dern dem freien Belieben des Examinanden anheimgestellt ist und daher grösstentheils wegfällt.

Wenn die Allgemeinbildung der englischen Studierenden zurück- steht hinter derjenigen der deutschen, so hat die englische Erziehung doch andererseits den grossen Vorzug vor der deutschen, dass sie die

* Calendar of the university of London 1883, p. 53 u. ff.

England. Nord- Amerika. 423

Bedeutung der körperlichen Entwickelung in vollem Maasse würdigt. Die englischen Schulen sorgen nicht blos für die geistige Ausbildung, sondern auch für die körperliche Gesundheit und Tüchtigkeit ihrer Zöglinge. In den Parkanlagen und Gärten, mit denen viele der Colleges umgeben sind, verbringen sie einen grossen Theil des Tages; körperliche Bewegungen verschiedener Art, Ballspiele, Bingübungen, Turnen, Reiten, Schwimmen, Rudern u. a. m. erhalten ihre Gesundheit und stählen ihre Kräfte. Die englischen Studierenden erscheinen daher im Allgemeinen frischer, gesunder und kräftiger als die deutschen, welche, nachdem sie am Gymnasium 32 Stunden in der Woche auf der Schulbank sitzen mussten und in der übrigen Zeit mit Schulaufgaben und Privatstunden geplagt wurden, müde und abgearbeitet die Universität beziehen und häufig über Kurzsichtigkeit, Brustbeschwerden und andere Leiden klagen.

Der medicinische Studienplan, welcher der fachlichen Ausbildung der meisten englischen Ärzte zu Grunde liegt, zeigt an den einzelnen Lehranstalten manche Verschiedenheiten, lässt aber überall eine merk- liche Bevorzugung der sogenannten praktischen Disciplinen erkennen. Den vorbereitenden und theoretischen Wissenschaften, die zur Heil- kunde gehören, wird, wenn man von einzelnen Universitäten absieht, verhältnissmässig wenig Zeit und Arbeit gewidmet. Das umfangreiche Gebiet der Physiologie, deren Unterricht an den deutschen Universitäten ein ganzes Jahr hindurch wöchentlich 6 Stunden in Anspruch nimmt, wird z. B. von den medicinischen Schulen Englands innerhalb 6 Mo- naten in 3 4 Vorlesungen wöchentlich bewältigt; ähnlich ergeht es den Naturwissenschaften und der Anatomie.

Die praktische Beschäftigung mit der letzteren, die anatomischen Zergliederungen, finden nur in beschränktem Maasse statt, da die Leichen zu hohen Preisen gekauft werden müssen. Die Händler, welche die Lieferung derselben besorgten, griffen früher zuweilen zu dem schon im Mittelalter beliebten Mittel, die Leichen von den Kirchhöfen zu stehlen; einzelne dieser Resurrections-men begingen sogar Verbrechen, wenn es an dem erforderlichen Material fehlte, indem sie lebende Men- schen umbrachten und ihre Leichname an die Anatomie verkauften. Der Prozess der Mörder Hare und Burke in Edinburg, in welchen der Anatom Robert Knox verwickelt wurde, enthüllte darüber entsetzliche Einzelheiten.^ Erst i. J. 1832 wurde in England die Vornahme ana- tomischer Secirübungen gestattet und gesetzlich festgestellt, unter welchen Bedingungen sie geschehen dürfen. Neben den praktischen

* H. Lonsdale: A sketsch of the life and writings of Rob. Kliiox, the ana- tomist, London 1870.

424 Der medicinische Unterricht in der neuesten Zeit.

Zergliederungen dienen hauptsächlich Spiritus-Präparate und Wachs- Modelle zum Studium der Anatomie.

Der Unterricht in den theoretischen Wissenschaften beschrankt sich auf die Grundzüge und wichtigsten Thatsachen derselben, nament- lich soweit dieselben Bedeutung für die praktische Ausübung der Heil- kunst haben. Dieser Gesichtspunkt, nämlich die praktische Verwend- barkeit der erworbenen Kenntnisse, ist der rothe Faden, der das ganze TJnterrichtssystem der medicinischen Schulen durchzieht. Die Lehrer derselben fügen sich diesem utilitarischen Bedürfniss und heben in ihren Vorträgen jederzeit die praktischen Beziehungen hervor; dadurch erreichen sie, dass das Interesse der Schüler geweckt und erhöht wird.

In England wird der Mediciner vom ersten Tage seiner Studienzeit an daran gewöhnt, die Heilkunst als das Ziel zu betrachten, das ihm gesteckt ist. Häufig betheiligt er sich schon im ersten Semester an den Krankenbesuchen, welche die Ärzte im Hospital machen. Die letzten Semester werden vollständig den klinischen Studien gewidmet, indem die Studierenden in den Kliniken und den verschiedenen Ab- theilungen des Krankenhauses oder bei der ambulatorischen Behandlung in den poliklinischen Instituten Dienste leisten, die Diätzettel und Re- cepte niederschreiben, die Kranken-Journale führen, chirurgische Ver- bände anlegen, bei Operationen assistiren u. dgl. m. Wenn sie auf chirurgischen Abtheilungen beschäftigt werden, heissen sie Dressers, wenn sie in Abtheilungen für innere Medicin verwendet werden, Clerks. Wer an dem zur medicinischen Schule gehörigen Hospital keine der- artige Stelle findet, erhält in den zahlreichen grösseren Krankenhäusern des Landes Gelegenheit dazu. Die Studierenden sind nur verpflichtet, 2^/2 Jahre an der medicinischen Schule zu bleiben; während der übrigen Studienzeit dürfen sie in der erwähnten Weise an einem Ho- spital arbeiten.

Zur Abnahme der ärztlichen Prüfungen und Ertheilung der Er- laubniss zur Praxis sind nach der Medical Act von 1858 im Ganzen 19 Corporationen und Behörden berechtigt. Es sind dies die Genossen- schaften der Ärzte, Chirurgen und Apotheker in London, Edinburg, Glasgow und Dublin und die medicinischen Facultäten der Universitäten,

Die wissenschaftlichen und finanziellen Bedingungen, welche dabei gestellt werden, sind ebenso verschieden als die Titel und Würden, die erworben werden. In welcher Weise dies zur Ausführung gebracht wird, mögen folgende Beispiele erläutern. Die beiden vornehmsten ärztlichen Vereine Londons, das Royal College of Physicians und das Royal College of Surgeons, haben sich zu gemeinsamen Prüfungen ver- einigt, nach deren glücklicher Absolvirung die Approbations- Diplome

England, Nord- Amerika, 425

beider Corporationen verliehen werden. Um zu dieser Prüfung zuge- lassen zu werden, muss der Candidat den Nachweis liefern, dass er Unterricht in der Botanik, Chemie, Arzneimittellehre und Pharmacia erhalten, im chemischen Laboratorium gearbeitet, zwölf Monate lang an anatomischen Secirübungen Theil genommen, einen sechsmonatlichen Cursus über normale Anatomie des Menschen, einen sechsmonatlichen Cursus über Physiologie und Histologie und einen dreimonatlichen praktischen Cursus über die beiden letzteren Gegenstände besucht, femer sechs Monate Vorlesungen über innere Medicin und über Chirurgie, drei Monate über Geburtshilfe und Gynäkologie gehört, mindestens 20 Geburten gesehen, sowie eine systematische Anleitung zur Ausübung der praktischen Heilkunde empfangen, z. B. die verschiedenen diagno- stischen Methoden, die Untersuchung der erkrankten Gewebe und aus- geschiedenen Produkte, den Gebrauch der dabei verwendeten Instru- mente u. ä. m. erlernt, ausserdem einen dreimonatlichen Cursus über pathologische Anatomie erhalten, während der klinischen Thätigkeit den klinischen Sektionen beigewohnt, drei Monate hindurch Vorträge über gerichtliche Medicin gehört, je neun Monate die medicinische und die chirurgische Klinik, drei Monate die gynäkologische Klinik und über- haupt 2^/2 Jahre das Krankenhaus besucht hat, je sechs Monate als Clerk und als Dresser thätig gewesen ist und die praktische Befähigung zur Vornahme der Vaccination erworben hat.

Die Prüfung selbst zerfällt in mehrere Abschnitte, von denen einige schon während der Studienzeit erledigt werden. Das erste Examen betrifft die Chemie, Physik, Arzneimittellehre, Pharmacie und medici- nische Botanik einerseits und die elementare Anatomie und Physiologie andererseits. Es kann zur Erleichterung der Prüflinge in zwei Theile geschieden werden, welche in verschiedene Zeiten fallen; doch soll das ganze Examen, wenn möglich, innerhalb des ersten Studienjahres ab- solvirt werden. Sechs Monate nachher darf der Candidat das zweite Examen ablegen, welches nur die Anatomie und Physiologie umfasst, diese beiden Wissenschaften aber weit eingehender behandelt als in der ersten Prüfung. Beim dritten und letzten Examen bilden innere Me- dicin, Therapeutik, pathologische Anatomie und allgemeine Pathologie, ferner Chirurgie, chirurgische Anatomie und Pathologie, Geburtshilfe und Gynäkologie die Prüfungsgegenstände; ausserdem sollen einige Fragen aus der gerichtlichen Medicin und öflFentlichen Gesundheits- pflege damit verbunden werden. Auch dieses Examen kann, wie das erste, in mehrere Abtheilungen zerlegt und zu verschiedenen Zeiten absolvirt werden. Es darf jedoch nicht früher begonnen werden, als zwei Jahre nach dem zweiten Examen. Der Candidat xnuss mindestens

426 Der medidnisohe Unterricht in der nettesten Zeit.

21 Jahr alt sein und eine unbescholtene Vergangenheit haben. Die Prüfungen sind theils mündlich, theils schriftlich, theils praktischer Natur; zur letzteren Klasse gehören z. B. die Demonstrationen anato- mischer Präparate, die Untersuchung einzelner Kranken, die Ausführung chirurgischer Operationen an der Leiche u. a. m.

Der Candidat, welcher diese drei Prüfungen besteht, erhält die Licenz des R. College of Physicians und das Diplom eines Member of the R. College of Surgeons.^ Damit ausgerüstet erscheint er dem Publikum als ein in jeder Beziehung tüchtiger, in allen Theilen der Heilkunst gleichmässig unterrichteter Arzt. Übrigens wird auch jede dieser beiden Qualifikationen von der betreffenden Corporation für sich verliehen; es erleichtert sich dann die Prüfung insofern, als entweder auf die Anatomie und die chirurgischen Fächer oder auf Chemie, Physik, Physiologie und innere Medicin weniger Gewicht gelegt wird.

Nach derselben Methode verfahren noch andere Corporationen, welche entweder in Gemeinschaft mit anderen Examinations-Commis- sionen oder für sich allein ärztliche Diplome verleihen; doch begnügen sich einzelne Prüfungsbehörden mit geringeren Leistungen. So wird z. B. vom Royal College of Physicians in Edinburg nur verlangt, dass sich der Candidat 6 Monate an den anatomischen Secirübungen be- theiligt, 3 Monate Physiologie gehört und 6 Monate die medicinische und 3 Monate die chirurgische Klinik besucht habe. Das Examen besteht aus zwei Abtheilungen; in der ersten wird Anatomie, Physio- logie und Chemie, in der zweiten Arzneimittellehre und Pharmacie, allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie, innere Medicin, Chirurgie, Geburtshilfe, gerichtliche Medicin und klinische Medicin geprüft.

Die Apotheker- Gesellschaften fordern von ihren Prüflingen, dass sie sich neben dem Studium der Heilkunde noch besonders eingehend mit den Naturwissenschaften, sowie mit Chemie und Pharmacie be- schäftigt und in einer Apotheke oder einem pharmaceutischen Labora- toriam gearbeitet haben. Dass die Genossenschaften der Apotheker in London und Dublin zu den ärztlichen Prüfungsbehörden gehören, er- klärt sich daraus, dass dieselben in England den gleichen Studiengang durchmachen, wie die Ärzte, und daher auch die Licenz zur Praxis besitzen. Es mag sich diese Einrichtung wohl aus der von jeher be- stehenden Gewohnheit des Volkes, in der Apotheke die erste ärztliche Hilfe zu suchen, entwickelt haben.

^ Examining Board in England by the R. College of Phys. of London and the R. C. of 8urg. of England, London 1884.

England, Nord- Amerika, 427

Die Wahl der Examinationsbehörde steht dem Candidaten frei; derselbe wird sich wohl vorzugsweise für diejenige entscheiden, welche seiner Heimath oder dem Ort, an dem er seine medicinischen Studien absolvirt hat, am nächsten gelegen ist, die bescheidensten Ansprüche an sein Wissen und seinen Geldbeutel macht und beim Publikum in gutem Ansehen steht Der Engländer wird daher in den meisten Fällen englische Diplome, der Schotte schottische und der Irländer irische zu erlangen trachten; je mehr er deren erwirbt, desto mehr wächst die Achtung, die seinen Kenntnissen gezollt wird, und das Vertrauen, welches ihm die Kranken entgegen bringen.

Noch grössere Bedeutung gewinnt er, wenn er in den Kreis der Mitglieder einer der privilegirten ärztlichen Corporationen aufgenommen wird und den Titel eines Member oder Fellow derselben erhält. Diese Würden werden entweder durch besondere Prüfungen erworben oder auf Grund einer freien Wahl der Genossenschaften an geeignete Be- werber verliehen. So muss sich z. B. Derjenige, welcher das Prädicat eines Member of the R. College of Physicians in London zu erlangen wünscht, einem Examen unterziehen, welches zwar die gleichen Disci- plinen umfasst, wie die Prüfung pro licentia, aber tiefer in den Inhalt derselben eindringt. Aus der Zahl der Members der Gesellschaft werden die Fellows gewählt, welche die Geschäfte derselben leiten und sie nach aussen vertreten.

Das R. College of Surgeons in London^ verleiht die Fellowship theils an solche, welche sich durch eine Prüfung, in der die praktischen Fächer, besonders die Chirurgie, in den Vordergrund treten, ein Recht darauf erwerben, theils an diejenigen seiner Members, welche durch ihre Leistungen und ihren Charakter dieser Auszeichnung würdig er- scheinen. Die meisten übrigen ärztlichen Corporationen wählen ihre Mitglieder, ohne daran die Bedingung eines Examens zu knüpfen; doch bewahren sie sich auf diese Weise immerhin die Möglichkeit, nur die tüchtigsten und ehrenwerthesten Vertreter ihres Standes an sich zu ziehen.

Zur Verleihung akademischer Grade sind nur die Universitäten berechtigt. Die Bedingungen, unter welchen dies geschieht, sind an den einzelnen Orten verschieden. Doch gilt im Allgemeinen der Grund- satz, dass die akademischen Prüfungsbehörden der' wissenschaftlichen Vorbildung des Candidaten eine grössere Beachtung schenken, als dies bei den meisten ärztlichen Corporationen der Fall ist.

Manche Universitäten, wie Oxford und Dublin, verlangen sogar.

^ Calendar of the E. College of Surgeons of England, London 1884.

428 Der medidnisohe Unterricht in der nettesten Zeit.

dass die Bewerber um medicinische Grade bereits in der philosophischen Facultät eine akademische Würde erworben haben. Wer in Oxford Bachelor of medicine (Baccalaureus medicinae) werden will, muss den Grad des Bachelors of arts besitzen, welcher in England ungefähr dieselbe Bedeutung hat, wie in Deutschland der Titel des Doktors der Philosophie. Um diese Würde zu erlangen, ist ein dreijähriges philo- sophisches Studium erforderlich. Daran schliesst sich dann das medi- cinische Fachstudium, welches 4 Jahre dauert.

Die Prüfung, welche der Bewerber um den Grad eines Bachelors of medicine ablegen muss, besteht aus zwei Abtheilungen, von denen die erste über normale Anatomie des Menschen, vergleichende Anatomie^ Physiologie, Physik, Chemie und Botanik, die zweite über theoretische und praktische Medicin, die Krankheiten der Weiber und Kinder^ Arzneimittellehre, Chirurgie, Geburtshilfe, gerichtliche Medicin und Hygiene handelt; damit wird auch die Interpretation einiger Stellen aus den Schriften der Mediciner des Alterthums, z. B. der Hippokratiker^ des Galen, Aeetaeus oder Celsus oder eines dieser Autoren und eines ärztlichen Schriftstellers der Neuzeit verbunden.

Der Grad des Bachelors of medicine berechtigt zur Ausübung, der ärztlichen Praxis. Auch kann nur Derjenige, welcher diesen Grad be- sitzt, zum Doktor der Medicin promovirt werden; es geschieht dies aber erst, nachdem er 3 Jahre die ärztliche Berufsthätigkeit ausgeübt und eine medicinische Dissertation vorgelegt hat.

Ähnlich ist der Prüfungsmodus an anderen Hochschulen. Die London üniversity, deren Examina wegen ihrer Gründlichkeit einen grossen Euf gemessen, macht den Besitz eines philosophischen Grades nicht zur Bedingung für die Erlangung medicinischer Würden, sondern verlangt nur, dass sich der Candidat eine gewisse Summe naturwissen- schaftlicher Kenntnisse erworben hat. Sie ertheilt das Diplom des Bachelors of medicine, wenn der Bewerber folgende Prüfungen mit Erfolg besteht: 1) das Preliminary scientific examen, in welchem aus der Physik, anorganischen Chemie, Botanik und Zoologie geprüft wird; 2) die Intermediate examination, die ein Jahr nach der vorher erwähnten Prüfung folgt und Anatomie, Physiologie nebst Histologie, Arzneimittel- lehre, pharmaceutische und organische Chemie umfasst; 3) das Schluss- Examen am Ende der Studienzeit, in welchem die allgemeine Patho- logie und Therapie, Hygiene, Chirurgie, innere Medicin, Geburtshilfe und gerichtliche Medicin die Prüfungsfächer bilden.

Diese Prüfungen sind ebenso wie diejenigen anderer Examinations- behörden theils mündlich oder schriftlich, theils mit praktischen De- monstrationen, Untersuchungen am Krankenbett u. dgl. m. verbunden;

England. Nord- Amerika. 429

desgleichen wird, wie bei den privilegirten ärztlichen Corporationen, von den Candidaten die Vorlage von Zeugnissen verlangt, in denen der Besuch der Vorlesungen und Curse über gewisse ünterrichtsföcher, der Kliniken und des Hospitals bestätigt wird.

Der Grad des Bachelors of medicine ist die Voraussetzung für die Erwerbung der übrigen medicinischen Würden. Der Doktor-Titel wird nach einer mehrjährigen ärztlichen Praxis und einem nochmaligen Examen aus den verschiedenen Disciplinen der Heilkunde verliehen.

Auch die chirurgischen Grade werden nur solchen Ärzten gegeben, welche bereits Bachelors der Medicin sind. Der Grad des Bachelors der Chirurgie wird durch eine Prüfung erworben, die sich hauptsächlich über chirurgische Anatomie und Pathologie, Instrumentenlehre und Operationstechnik erstreckt. Zum Master in Surgery wird derjenige Bachelor der Medicin und Chirurgie promovirt, welcher 2 5 Jahre hindurch in den chirurgischen Kranken-Abtheilungen beschäftigt war oder selbstständig chirurgische Praxis ausübte und dann abermals eine Prüfung auf diesen Gebieten ablegt. Desgleichen stellen die meisten anderen akademischen Examinationsbehörden bei der Ertheilung chirur- gischer Grade die Bedingung, dass der Candidat bereits die Berechti- gung zur ärztlichen Praxis überhaupt besitzt.

Nicht an jeder Universität können sämmtliche medicinische Grade erworben werden. Oxford und Cambridge creiren z. B. nur Bachelors und Doktoren der Medicin, während die Universität Dublin alle mög- lichen Titel und Würden zur Auswahl anbietet. An den Hochschulen zu Durham und St. Andrews besteht die Einrichtung, dass Ärzte, welche 15 Jahre in der Praxis thätig sind und das 40. Lebensjahr überschritten haben, nach Ablegung eines verhältnissmässig sehr leichten Examens gegen Zahlung von 50 Guineen zu Doktoren der Medicin promovirt werden.

Für die Bedeutung und Thätigkeit der verschiedenen Examinations- behörden und den Studiengang der grossen Mehrzahl der englischen Ärzte bietet die Statistik der Prüfungs-Ergebnisse einige Anhaltspunkte. Darnach erhielten in den Jahren 1876 1880 an der Universität Ox- ford 6, 10, 5, 6, 7 den Grad eines Bachelors der Medicin, und 1, 1, 0, 2, 2 denjenigen eines Doktors der Medicin, in Cambridge 13, 7, 9, 13, 16 den eines Bachelors und 5, 2, 6, 9, 7 eines Doktors der Me- dicin, in Durham 2, 7, 9, 19, 13 den eines Bachelors und 2, 3, 1, 11, 10 den eines Doktors der Medicin und 0, 0, 2, 7, 4 den eines Masters in Surgery, an der University of London 23, 22, 25, 34, 39 den eines Bachelors, 11, 8, 6, 12, 18 den eines Doktors der Medicin, 7, 3, 6, 6, 8 den eines Bachelors der Chirurgie, und 1, 1, 0, 0, 1 den

430 Der medieinische Unterricht in der neuesten Zeit,

eines Masters in Surgery, während das R. College of Physicians in London 90, 97, 68, 108, 79 Candidaten die Licenz zur Ausübung der Praxis ertheilte, 25, 23, 20, 14, 18 zu Members und 12, 9, 13, 12, 12 zu Fellows wählte, das R. College of Surgeons of England 406, 393, 361, 420, 404 zu Mitgliedern und 29, 36, 21, 18, 30 zu Fellows machte, und 20, 27, 27, 17, 19 die zahnärztliche Praxis gestattete, und die Society of apothecaries of London 257, 206, 223, 216, 228 die Licenz verlieh. An der Universität Edinburg wurden in dieser Zeit 86, 108, 115, 98, 134 zu Bachelors, 20, 34, 30, 33, 29 zu Doktoren der Medicin und 80, 100, 106, 98, 129 zu Masters in Surgery, an der Hochschule zu Glasgow 58, 62, 59, 57, 74 zu Bachelors, 23, 20, 11, 12, 16 zu Doktoren der Medicin und 54, 56, 57, 54, 66 zu Masters der Chirurgie, in Aberdeen 41, 34, 57, 51, 48 zu Bachelors, 32, 46, 30, 25, 35 zu Doktoren der Medicin und 41, 34, 55, 48, 48 zu Masters der Chirurgie, in St. Andrews 1, 2, 1, 0, 3 zu Bachelors der Medicin und Masters der Chirurgie und 10, 10, 10, 10, 11 zu Doktoren der Medicin promovirt. Das R. College of Physicians in Edinburg ertheilte die Licenz an 114, 99, 114, 145, 137 und in Gemeinschaft mit der dortigen chirurgischen Gesellschaft an 85, 116, 160, 156, 162 und mit der ärztlichen Genossenschaft zu Glasgow an 22, 13, 21, 27, 30 und machte 23, 18, 23, 19, 20 zu Members und 9, 11, 8, 6, 9 zu Fellows, das R. College of Surgeons in Edinburg wählte 27, 31, 30, 41, 44 zu Fellows, und die Faculty of Physicians and Surgeons in Glasgow ver- lieh die Licenz an 63, 34, 55, 71, 73 und die Fellowship an 15, 23, 10, 3, 5. Die Universität Dublin gab die Licenz in der Medicin an 3, 2, 0, 2, 4, in der Chirurgie an 1, 2, 0, 0, 3, schuf 36, 44, 29, 29, 40 Bachelors und 20, 17, 14, 15, 10 Doktoren der Medicin, 20, 18, 23, 23, 28 Bachelors und 8, 5, 3, 3, 1 Masters der Chirurgie. Die Queens (jetzt Royal) University in Ireland hatte 53, 44, 47, 55, 64 Doktoren der Medicin und 47, 35, 35, 34, 44 Masters der Chirurgie; das Kings and Queens College of Physicians in lireland ertheilte die Licenz in der Geburtshilfe an 99, 89, 79, 76, 78 und in der gesammten Heilkunde an 108, 86, 78, 88, 105 und wählte zu Fellows 5, 2, 0, 3, 4; das R. College of Surgeons in Ireland gab die Licenz in der Ge- burtshilfe an 11, 8, 10, 9, 10 und in der Medicin überhaupt an 97, 99, 106, 122, 103 und machte zu Fellows 13, 5, 6, 15, 14; die Apo- thecaries Hall in Ireland licentiirte 22, 24, 23, 34, 42. Aus dieser Zu- sammenstellung ergiebt sich, dass das numerische Verhältniss der Ärzte, welche an den Universitäten die Prüfungen ablegen, zu jenen, die von den ärztlichen Corporationen die Licenz erwerben, in England ungefähr 1:8, in Schottland 4 : 3 und in Irland 1:2 beträgt.

England. Nord- Amerika, 431

Zur Bezeichnung der verschiedenen ärztlichen Grade und Berech- tigungen werden ahgekürzte Formen gebraucht, wie dies bei Titeln in England allgemein üblich ist. So bedeutet F R C P Fellow of the Royal College of Physicians, M R C S Member of the Royal College of Surgeons, L S A Licensed by the Society of Apothecaries, M B Bachelor der Medicin, M C Master der Chirurgie, M D Doktor der Medicin; dazu wird dann gewöhnlich der Name der Universität gesetzt, von welcher dieser Grad erworben wurde.

Das englische Publikum kennt den Werth und die Bedeutung der verschiedenen Arten von ärztlichen Diplomen, welche im Lande vor- kommen, und wird durch die Unterschiede in der Höhe der ärztlichen Honorare, die das Herkommen bestimmt, daran erinnert.

Wenn England in Bezug auf das medicinische Unterrichtswesen den Fortschritten, welche dasselbe in anderen Staaten gemacht hat, nicht immer gefolgt ist, so hat es dafür das grosse Verdienst, die erste zweckentsprechende Sanitäts -Verwaltung geschaffen zu haben. Durch die Public Health Act von 1875 wurde das ganze Land in Sanitäts- distrikte eingetheilt, denen Lokalbehörden vorstehen. Sie haben dafür zu sorgen, dass die Wasserleitungen, Canalisation, sanitäre Baupolizei, die öffentlichen und privaten Aborte, die Reinlichkeit der Strassen, das Trinkwasser und die Lebensmittel, die Kellerwohnungen, Gasthöfe, Krankenhäuser, Friedhöfe, Fabrik- Anlagen u. a. m. den Grundsätzen der öffentlichen Gesundheitspflege entsprechen und wählen Sanitäts- beamte, welche die Aufsicht darüber führen und die nothwendigen Vorkehrungen veranlassen.

Wer sich um eine derartige Stelle bewirbt, muss zur Ausübung der ärztlichen Praxis berechtigt sein und sich einer Prüfung unter- zogen haben, welche über Klimatologie, Chemie, Geologie, Physik, Ge- schichte und Geographie der Krankheiten, Medicinal-Statistik, Hygiene und Sanitätsgesetzgebung handelt. Diese Organisation stützt sich auf das Princip des Selfgovernment, welches in einem Lande, dessen Be- völkerung seit Jahrhunderten an die Selbstverwaltung gewöhnt ist, einen grossen National-Reichthum besitzt und für die Vortheile einer rationellen Gesundheitspflege Verständniss hat, auf diesem Gebiet sicher- lich hervorragende Erfolge erzielen wird.

Das medicinische Unterrichtswesen Englands wurde nicht blos in den überseeischen Ländern, welche seinem Scepter unterworfen sind, sondern überall, wo die englische Sprache und Cultur herrscht, nach- geahmt. Auch in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika ist der

Ä

432 Der medidnische Unternolvt in der neuesten Zeit.

medicinische Unterricht vollständig Privatsache. Mehrere Ärzte an einem Ort vereinigen sich zu dem Zweck, ärztlichen Unterricht zu er- theilen, und stellen ihren Schülern Zeugnisse über ihre Kenntnisse aus. Nach der Qualification der Lehrer und den Erfolgen ihres Unterrichts fragt Niemand. Der Werth dieser Lehranstalten ist daher ungemein verschieden.

Nach einer Zusammenstellung v. J. 1882 gab es in den Vereinigten Staaten 114 medicinische Schulen mit 13 321 Studierenden.

Einzelne medicinische Schulen, wie das Newyork College of Phy- sicians and Surgeons, welches 1791 gegründet wurde, das University Medical-CoUege, das seit 1841 besteht, und das Bellevue Hospital Col- lege in Newyork, sowie das Massuchusetts Med. College in Boston und Bush Medical College in Chicago geniessen mit Becht einen guten Buf. Neben ihnen giebt es aber auch Erscheinungen, welche in wissenschaft- licher und moralischer Hinsicht eine tiefe Stufe einnehmen.

Bekannt ist der skandalöse Handel, den manche Facultäten mit ärztlichen Diplomen treiben. Eine Zeitung in Philadelphia, wo man die Missbräuche an der Quelle studieren konnte, brachte darüber vor einigen Jahren unglaubliche Mittheilungen. ^ Es ist daher kein Wunder, wenn das amerikanische Doktor-Diplom in Europa mit Misstrauen be- trachtet und zuweilen mit jenen liebenswürdigen, wenn auch bedeutungs- losen Auszeichnungen gleichgestellt wird, die man beim Cotillon erhält. . Die Bildung der amerikanischen Ärzte steht im Allgemeinen unter derjenigen ihrer europäischen Berufsgenossen, Der Präsident Eliot erklärte in einem Bericht v. J. 1871/72: „Es ist entsetzlich, wenn man die Unwissenheit und Unfähigkeit der meisten amerikanischen Ärzte betrachtet, welche von amerikanischen Schulen graduirt sind; sie vergiften, machen zum Krüppel, tödten auf jede Weise und sind nicht im Stande, die Gesundheit und das Leben zu erhalten."^

Die tüchtigen Ärzte, welche man in Amerika findet, stammen zum Theil aus Europa oder haben wenigstens dort ihre Studien gemacht. Doch werden einzelne Fächer der praktischen Heilkunde, wie die Gy- näkologie und die Zahnheilkunde, an den medicinischen Schulen Nord- Amerikas mit grossem Erfolg betrieben. Auch macht sich jetzt überall das erfreuliche Bestreben geltend, die vorhandenen Übelstände zu be- seitigen und eine Besserung des medicinischen Unterrichtswesens nach europäischem Muster herbeizuführen.

* A Doctor-Factory making full-fledged physicians for seventy five Dollars in der Philadelphia Record vom 28. Februar 1880.

' Revue internat. de l'enseignement, Paris 1882, IV, p. 550.

Frankreich. 433

Frankreich.

Während man in England und Amerika den Grundsatz befolgt, dass sich der Staat nicht um Dinge kümmern soll, welche auch ohne ihn gemacht werden können, huldigt man in Frankreich dem entgegen- gesetzten Princip.

Hier fühlten sich die regierenden Gewalten stets berufen, Alles, was geschieht, streng zu überwachen. Auch das medicinische ünter- richtswesen und die ärztliche Praxis wurde von den Behörden durch minutiöse Verordnungen geregelt und geleitet. Nur in den Tagen der grossen Revolution wich man von diesem Grundsatz ab und setzte an die Stelle einer bisweilen in kleinliche Pedanterie ausartenden Bevor- mundung eine schrankenlose Freiheit, die zur Anarchie führte.

Die Ärzte nahmen an den mächtigen politischen Bewegungen jener Zeit lebhaften Antheil.^ Der constituirenden National -Versamm- lung gehörten 17 Ärzte an, unter ihnen Guillotin, der Erfinder der nach ihm genannten Guillotine, übrigens ein Politiker von sehr ge- mässigten Ansichten, ferner J. G. Gallot, P. Blin, Salles, Beaüvais DE P»:fcATJx u. A. Im gesetzgebenden Körper von 1791 befanden sich 22 Ärzte, darunter der berühmte Chirurg Tenon; im Convent von 1792 sassen 39 Ärzte, von denen Baeaillon, Panvilliebs, E. Eschassäbiaux, Ant. Foubcroy, M. A. Baudot, der Geburtshelfer Levasseuä, E. La- coste und Marat am meisten bekannt wurden.

Als die Männer des Schreckens ihre unheimliche Thätigkeit be- gannen und grauenhafte Orgien der Mordlust feierten, da hatte auch der ärztliche Stand zahlreiche Opfer zu beklagen; 104 seiner Mitglieder wurden hingerichtet und 328 Ärzte und 540 Chirurgen aus Frankreich verbannt. Pierbe Desault wurde, während er die Klinik im Hotel Dieu abhielt, aus der Mitte seiner Schüler herausgeholt und ins Ge- fängniss geworfen. Doch gelang es den Bemühungen seines Freundes FouBCBOY, welche in der Presse eine wirksame Unterstützung fanden, Desault bald wieder in Freiheit zu setzen. Nicht so glücklich war der grosse Chemiker Lavoisieb. Er starb auf dem Schaffet, obwohl HalTj^ mit ergreifenden Worten an seine unvergänglichen Verdienste um die Wissenschaft erinnert hatte. Noils n'avons pas besoin des sa- vants, antwortete der Gerichtspräsident und liess das Todesurtheil voll- ziehen, welches Frankreich einen seiner grössten Bürger raubte.

Man wollte keine Gelehrten und brauchte die Wissenschaft nicht.

* C. Saucerotte: Les m^decins pendant la revolution, Paris 1887. PüscHMAiTN, Unterricht. 28

434 Der medicinisehe Unterricht in der nettesten Zeit,

Der politische Fanatismus erstickte die edleren Regungen der Mensch- lichkeit und tödtete mit seiner sengenden Gluth alle höheren geistigen Bestrebungen.

Das medicinisehe Unterrichtswesen war der Reformen dringend bedürftig.^ Von den 18 medicinischen Schulen, welche Frankreich beim Ausbruch der Revolution besass, war kaum die Hälfte ausserhalb der Stadt bekannt, wo sie ihren Sitz hatte, und nur diejenigen zu Paris und Montpellier genossen einen bedeutenden Ruf. Die Einrichtungen der medicinischen Facultäten Frankreichs standen hinter denjenigen anderer Länder zurück, und die französischen Hospitäler waren wegen ihrer schlechten hygienischen Zustände geradezu berüchtigt.

Das Parlament beschäftigte sich mit diesen Fragen. Ein Gesetz- entwurf, welcher demselben i. J. 1790 Torgelegt wurde, enthielt manche beachtenswerthe Vorschläge zur Reorganisation des medicinischen Unter- richts; so wurde der ausschliessliche Gebrauch der französischen Sprache beim Unterricht und bei den Prüfungen, die Freiheit der Lehre, die Unentgeltlichkeit der Vorlesungen, die Beseitigung der Fixirung einer bestimmten Studienzeit, die Besetzung der Professuren durch Goncurs u. a. m. verlangt. Anstatt der 18 medicinischen Schulen sollten nur 4 medicinisehe Facultäten in Paris, Montpellier, Bordeaux und Strass- burg bestehen, jede derselben jedoch mit wenigstens 12 Lehrkanzeln ausgestattet und daneben in jedem Departement eine niedere ärztliche Schule errichtet werden, die mit einem Hospital verbunden sein musste. ^ Leider kamen diese Anträge nicht zur Berathung.

Als der Radikalismus zur Herrschaft gelangte, begnügte man sich nicht mehr mit der Verbesserung der bestehenden Einrichtungen, son- dern forderte ihre gänzliche Beseitigung. An die Stelle der Reform- bewegung war die Revolution getreten, qui vint tout renverser depuis le tröne du roi de France jtisqu'd Vhurnble chaire du professeur et la han^ qustte de Vetudiant, wie Sabatlee (a. a. 0.) schreibt. Durch das Gesetz vom 18. August 1792 wurden alle Universitäten, Facultäten und me- dicinischen Schulen aufgehoben; ein Ersatz dafür wurde zunächst gar nicht geschaffen.

Wie in der Theologie, Moral und anderen Dingen wollte man auch in der Heilkunde zum Naturzustande der Menschheit zurückkehren. Man hoffte dadurch Verhältnisse herbeizuführen, wie zu den Zeiten der

^ L. LiARD in der R^vue intemat. de renseignement, Paris 1887, T. XIV, p. 409 u. ff.

* Dreipüs-Brisac in der R6vue internationale de Tenseignement, Paris 1881, II, 555 u. ff.

Frankreich, 435

alten griechischen Philosophen; aber man öffnete nur dem Aberglauben und der schamlosen Charlatanerie die Thore.

Die Fehler und Mängel der wissenschaftlichen Medicin wurden in unsinniger Weise übertrieben und zu schweren Anklagen gegen ihre Vertreter benutzt. Im Convent verstieg sich ein Redner zu der Äusse- rung, dass man mit den Ärzten ebenso verfahren müsse, wie mit den Geistlichen; denn sie seien sämmtlich nur Gaukler.^

Die Kriege, welche die Republik führte, lehrten aber bald, wie nothwendig und nützlich die Ärzte sind. Als dem Convent mitgetheilt wurde, dass die Armee binnen 18 Monaten ungef&hr 600 Ärzte ver- loren habe, und dass die Truppen in den östlichen Pyrenäen der ärzt- lichen Hilfe fast gänzlich entbehrten, beschloss man die Wiedereröflhung einiger medicinischer Schulen. Durch das Gesetz vom 14. Frimaire d. J. III (4. December 1794) wurden in Paris, Montpellier und Strass- burg drei medicinische Unterrichtsanstalten errichtet, die man Ecoles de sant6 nannte. Sie waren zunächst nur bestimmt, ä former les offi- ders de sante pour le serviee des höpitaux et spedalement des hopitaux müitaires ei de marine. Jeder Distrikt des Landes schickte einen Zög- ling in diese militärärztlichen Schulen, der dort auf Kosten des Staates 3 Jahre hindurch Medicin studierte. Paris erhielt 300, Montpellier 150 und Strassburg 100 Schüler.

Das Bedürfoiss nach unterrichteten Heilkünstlem fahrte aber bald dahin, dass hier auch Studierende aus dem Civilstande, welche nicht vom Staat unterstützt wurden, zum Unterricht zugelassen wurden. Im J. 1796 wurde die medicinische Schule zu Paris neu organisirt und mit folgenden 12 Lehrkanzeln ausgestattet: 1) für Anatomie und Phy- siologie, 2) medicinische Chemie und Pharmacie, 3) medicinische Physik und Hygiene, 4) chirurgische Pathologie, 5) Pathologie der inneren Krankheiten, 6) medicinische Naturgeschichte, 7) chirurgische Operations- kunst, 8) chirurgische Klinik, 9) Klinik der inneren Krankheiten, 10) Clinique de perfectionnement, 11) Geburtshilfe, 12) Geschichte der Medicin und gerichtliche Medicin. Ausserdem hielt der Direktor der Anstalt Vorlesungen „über die Hippokratische Behandlungsmethode der akuten Krankheiten" und „über seltene Krankheitsfalle, aus der Ge- schichte und der Praxis zusammengestellt", während der Bibliothekar einen bibliographischen Cursus gab und eine kritische Übersicht der medicinischen Literatur lieferte.^

1 F. Fbahk a. a. 0. VI, 1. Abth., S. 221.

^ A. DE Beauchamp: B^cueil des lois et reglements sur Tenseignement sa- p^rieur, Paris 1880—85.

28*

436 Der medidnische Unterricht m der neuesten Zeit

Unter den Lehrern befanden sich Sabatieb, Chopaet, Pinel, CoEvisAET, Baudeloque, Lassus Und P. A. 0. Mahon, welcher die Professur der Geschichte der Medicin bekleidete. Im J. 1799 wurde die Errichtung zweier neuer Lehrkanzeln beantragt, von denen die eine für die pathologische Anatomie, die andere für Philosophie medicale bestimmt war; doch wurden diese Vorsehläge nicht verwirklicht.

Mit der Anstalt wurde 1798 eine Ecole pratique verbunden, in welcher die Schüler Gelegenheit zu Leichen -Zergliederungen erhielten. Kliniken verschiedener Art sorgten für die praktische Ausbildung am Krankenbett; für manche Krankheit-en, z. B. für die geschlechtlichen Leiden, wurden besondere klinische xinstalten gegründet.

Der Unterricht war unentgeltlich und nach* dem Gesetz vom 22. Ventöse d. J. X Jedem zugänglich; doch musste man den Besuch der Kliniken aus Gründen der Schicklichkeit auf die Studierenden der Medicin beschränken. ^ Die medicinische Schule zu Paris hob sich unter diesen Umständen rasch und zählte i. J. 1799 bereits 1500 Zöglinge.

Am Schluss der Studien folgten Prüfungen aus den wichtigsten Unterrichtsgegenständen; doch waren dieselben keineswegs obligat. Neben den Ärzten, welche an den Schulen zu Paris, Montpellier und Strassburg eine systematische Ausbildung genossen hatten, gab es eine grosse Menge von Kurpfuschern. Jeder durfte die ärztliche Praxis ausüben; Niemand bedurfte dazu einer Erlaubniss oder eines Diploms.

Die Zustände, welche sich daraus entwickelten, hat Poueceoy, der damals an der Spitze des Unterrichtswesens stand, in seinem Berieht vom 7. Germinal d. J. XI mit scharfen Worten gegeisselt. „La vie des dtoyens'^y sagte er, „est entre hs mains d'hommes avides aiUant qu'ignorants, L'&mpirisme le plus dang&reuxj le charlatanisme le plus dehonte, abusent partout de la creduMtS et de la honne foi, Atumne prewve de savoir et d'habüite n'est eodgee. Zes ca/mpagnes et les villes sont egalement infeetees de oharlatans qui distritment les poisons et la mort avec une audace que les andennes lois ne peuvent plus reprimer. Les pratiques les plu^ meurtrieres ont pris la place des principes de Vart des accouchements. Des rebouteurs et des meges impudents abusent du titre d'offhdenr de sante pour couvrir leur ignorance et leur avidite/'^^

Das Gesetz vom 19. Ventöse d. J. XI (10. März 1803) beseitigte diese Übelstände, indem es die Erlaubniss zur ärztlichen Praxis von der erfolgreichen Ablegung der Prüfungen, welche zu diesem Zweck

^ E. Beaussibe: La libert^ d'enseignement et Taniversit^ sous la troisiöme republique, Paris 1884.

* Een£ Roland: Les m^decins et la loi du 19 ventose an XI, Paris 1883.

Frankreich. 437

eingeführt wurden, abhängig machte. Die letzteren umfassten die Anatomie und Physiologie, Pathologie und Nosologie, Materia medica, Pharmacie und Chemie, Hygiene und gerichtliche Medicin, Geburtshilfe, Chirurgie und innere Medicin. In der Anatomie wurde die Anfertigung eines Präparats verlangt; die Prüfung in der praktischen Heilkunde geschah am Krankenbett.

Gleichzeitig wurden zwei Klassen von Ärzten geschaflFen, nämlich Doktoren der Medicin und Chirurgie und Officiers de sante. Wer das Doktor-Diplom anstrebte, musste das Lyc6e absolvirt haben, bevor er sich dem Studium der Medicin widmete, und auf das letztere 4 Jahre verwenden.

Die Officiers de sante bildeten eine Kategorie von niederen Ärzten; sie waren nicht verpflichtet, einen Nachweis über ihre Allgemeinbildung zu bringen, und erhielten die Erlaubniss zur ärztlichen Praxis schon nach einem dreijährigen Studium an der medicinischen Schule. Doch wurde ihnen das letztere auch gänzlich erlassen, und es genügte, wenn sie 5 Jahre in einem Hospital beschäftigt gewesen waren, oder 6 Jahre bei einem Doktor gedient hatten. Das Examen, welches sie ablegten, betraf die Anatomie und die Elemente der Medicin, Arzneimittellehre und Chirurgie und fand ausschliesslich in französischer Sprache statt

Die Doktoren durften sich überall niederlassen; die Officiers de sante nur auf dem Lande und in dem Departement, für welches sie die Licenz erhalten hatten, und wurden genöthigt, in schwierigen Krank- heitsfallen und bei grösseren Operationen einen Doktor zu ßath zu ziehen. Das Parlaments -Mitglied Caebet vertheidigte die Einführung dieser Landärzte mit den Worten: ,jLes habiiants des campagnes ayant des moeurs plus pures que oeux des viUes, ont des maUidies plus simples qui eang&rä par ce motif moins d'instruction et moins d^apprets^^.

Die Officiers de sante wurden hauptsächlich an den Hospitalschulen gebildet, welche in verschiedenen Städten Frankreichs entstanden und unter dem Namen Ecoles secondaires eine feste Organisation erhielten. Auch die niedere Kategorie der Apotheker empfing hier den nothwen- digen Unterricht, während für die Ausbildung der Pharmaceuten erster Klasse drei besondere Lehranstalten in Paris, Montpellier und Strass- burg errichtet wurden, die sich in mancher Hinsicht an die dortigen medicinischen Schulen anschlössen.

Die letzteren wurden i. J. 1808 wieder zu medicinischen Facul- täten erhoben und der Universite de France einverleibt. Diese Schöpfung Napoleons war keine Universität in unserem Sinne, sondern der In- begriff aller Unterrichts- Anstalten und Unterrichts-Behörden des Landes. Sie bedeutete ungefähr Das, was man jetzt als Untemchts -Verwaltung

438 Der rnedicmisehe UnterricM in der nettesten Zeit.

bezeichnet. An der Spitze der Universite de France stand ein Gross- meister, dessen Würde später in diejenige des Unterrichts -Ministers überging oder verwandelt wurde. Ihm wurde ein Studienrath als be- rathende Behörde an die Seite gestellt, während eine grössere Anzahl von General -Inspektoren die einzelnen Lehranstalten überwachte und controllirte.

Das ganze Land wurde in 26 Universitäts-Bezirke eingetheilt; jeder derselben bildete den Sitz einer Akademie (höheren Unterrichtsanstalt) mit einem Rector, Studienrath und Inspektoren. Diese strenge gleich- massige Gliederung des Unterrichtswesens hatte den grossen Vortheü, dass sie eine Ausgleichung der Verschiedenheiten in dem Bildungsniveau der einzelnen Theile Frankreichs anstrebte und die Grundsätze der Ordnung und Gerechtigkeit überall zur Geltung brachte. Sie erfiielt sich auch nach dem Sturz des Kaiserthums und erfahr im Verlauf der Zeit nur die durch die Bedürfnisse der Cultur und des Staates ge- botenen Verbesserungen.

Jede Facultät verlieh fortan drei akademische Würden, nämlich das Baccalaureat, die Licenz und das Doktorat. Nur die beiden letzten Grade gaben, wenn sie in der Medicin erworben wurden, das Eecht zur Ausübung der ärztlichen Praxis. Die Hospitalschulen durften nur den Titel eines Officier de sante verleihen.

Die Lehrkanzeln wurden durch Concurs besetzt; doch wurde i. J. 1810 angeordnet, dass bei Bewerbern von anerkannten literarischen und wissenschaftlichen Verdiensten davon abgesehen werdd, sie der vor- geschriebenen Prüfung zu unterziehen oder zur Vorlage einer Thesis zu veranlassen.

Die feindliche Haltung, welche die medicinische Facultät in Paris später gegen Ludwig XVIII. beobachtete, und die lärmenden Scenen, zu denen es in Folge dessen kam, führten dazu, dass sie i. J. 1822 geschlossen wurde. Bei ihrer Wiedereröffnung, die im folgenden Jahre geschah, erhielt sie eine neue Organisation. Ihr Lehrkörper bestand aus 23 ordentlichen Professoren und 36 Agreges, von denen 24 en exercise und 12 en stage waren. Im J. 1824 wurde das Unterrichts- Ministerium errichtet, welchem die medicinischen Facultäten und Schulen untergeordnet wurden.

Während der nächsten 50 Jahre wurde die Organisation des me- dicinischen Unterrichts in Frankreich nur wenig verändert. Erst unter der dritten Republik hat man begonnen, dieselbe weiter auszubauen und zu vervollständigen.

Gegenwärtig besitzt Frankreich 6 medicinische Facultäten in Paris, Montpellier, Nancy, welche 1872 errichtet wurde, nachdem die Universität

Frankreich, 439

Strassburg mit dem Elsass an Deutschland abgetreten worden war, in lille, Bordeaux und Lyon (seit 1877), wo früher niedere ärztliche Schulen existirten. Neben ihnen giebt es 18 Ecoles preparatoires der Medicin, wie die früheren Ecoles secon^aires jetzt heissen. Sie befinden sich in Marseille, Nantes, Toulouse, Amiens, Angers, Arras, B.esan9on, Caön, Clermont, Dijon, Grenoble, Limoges, Poitiers, Eeims, Rennes, Ronen, Tours und Alger und sind theils de plein exercise, d. h. sie bieten Gelegenheit zur vollständigen Absolvirung des medicinischen Studiums, theils nur eigentliche Vorbereitungsschulen. Sie unterscheiden sich durch ihre Ausstattung mit Lehrmitteln und Lehrkanzeln. Die Ecoles de plein exercise haben wenigstens 17, die übrigen 12 ordent- liche Professuren. Zwischen den ersteren und den medicinischen Fa- cultäten besteht der einzige Unterschied, dass jene nicht das Recht haben, das Doktorat der Heilkunde zu verleihen. Ausserdem sind die Facultäten Staatsanstalten, während die übrigen medicinischen Schulen einen manicipalen Charakter tragen.

Die Studierenden der Heilkunde, welche promoviren wollen, be- suchen die Facultäten oder die Ecoles de plein exercise, dürfen aber auch einen Theil ihrer Studienzeit an den Ecoles preparatoires zubringen; ebenso werden auch die Candidaten für das. Officiat de sante sowohl an den Facultäten als an den übrigen medicinischen TJnterrichtsanstalten zugelassen. Das medicinische Doktor -Diplom kann nur an den Fa- cultäten, das Officiat de sante dagegen an jeder medicinischen Schule erworben werden.

Die Ecoles preparatoires werden verhältnissmässig wenig besucht. Von den 21 Anstalten dieser Art, welche i. J. 1845 bestanden, hatten damals 18 weniger als 40 Schüler, 6 nicht einmal 25 und die Schule zu Reims sogar nur 15 Studierende. Dasselbe Schicksal haben die medicinischen Facultäten in den Provinzen; denn Paris centralisirt nahezu das gesammte höhere Unterrichtswesen. Im J. 1877 gab es in Frankreich 4447 Studenten der Medicin, von denen sich 3835 in Paris befanden, während die übrigen medicinischen Facultäten zusammen nicht mehr als 612 Studierende zählten. Durch die Erhebung mehrerer Vorbereitungsschulen zu medicinischen Facultäten, welche in den letzten Jahren erfolgte, wurde das Verhältniss einigermassen verändert. Im J. 1881/82 hatte Paris 2413, Bordeaux 155, Lyon 165, Montpellier 154, Nancy 83 und Lille 54 Studierende der Medicin. Ausserdem besuchten 756 Candidaten für das Officiat de sante die Vorlesungen der ver- schiedenen medicinischen Facultäten. An den übrigen 18 medicinischen Unterrichtsanstalten hatte man im Ganzen 632 Schüler, von denen sich 306 für das Doktorat und 326 für das Officiat de sante vorbereiteten.

440 Der medidnische Unterricht in der neuesten Zeit.

Die Gesammtzahl der Studierenden der Heilkunde beider Kategorien betrug also damals 4412, von denen 3830 das Doktor diplom erringen, 1082 Officiers de sante werden wollten.

Schon 1826 wurde im Parlament die Aufhebung der niederen Klasse von Ärzten beantragt; aber ohne Erfolg. Im J, 1847 petitio- nirten die Doktoren der Heilkunde abermals um Beseitigung der Officiers de santö, während die letzteren eine Erweiterung ihrer Rechte ver- langten. Wiederum wurde im J. 1864 ein Versuch gemacht, das In- stitut der Officiers de santö abzusehaflfen; doch fand es einen Vertheidiger an Bonjean, welcher erklärte: ,yÄ des malades simples et pauvres ü faut un medidn pauvre et simple comme eux qui puisse comprendre le langage, le hesoin de ses modestes clients, qui ne dans une condition peu elevee, habitUrS des son enfance ä la vie sobre des chaumieresj ayant conquis son grade d peu de frais, pmsse se contenter d'une m^iqtie retribution. Uoffider de sante est dans les msilleures conditions pour remplir cette mission de modeste devouement; il se fera d'autant plus aisement le con- fident, le conseiUer, le consolateur du pauvre qu'il en est presque le com- pagnon/^ Übrigens vermindert sich die Zahl der Officiers de sante in Frankreich von Jahr zu Jahr. Im J. 1847 gab es deren 7456, im J. 1872 nur noch 4653, während die Menge der Doktoren in der gleichen Zeit von 10 643 auf 10 766 gestiegen ist.

Die Aufhebung des Instituts der Officiers de sante erscheint somit nur als eine Frage der Zeit. An der Spitze aller medicinischen Schulen steht die medicinische Facultät zu Paris; sie hat die reichhaltigsten Lehrmittel und die besten Studien-Einrichtungen. Ihr Lehrkörper be- steht gegenwärtig aus 33 ordentlichen Professoren (Titulaires) und einer grossen Anzahl von Agreges, welche ungefähr unsem ausserordentlichen Professoren entsprechen. Von den ordentlichen Professoren vertritt 1 die Anatomie, 1 die Histologie, 1 die Physiologie, 1 die medicinische Chemie, 1 die medicinische Naturgeschichte, 1 die medicinische Physik, 1 die Pharmakologie, 1 die allgemeine Pathologie und Therapie, 1 die Arznei- mittellehre, 1 die interne und 2 die externe Pathologie, 1 die patho- logische Anatomie, 1 die vergleichende und experimentelle Pathologie, 1 die Geburtshilfe und Gynäkologie, 1 die chirurgische Operationslehre, 1 die Hygiene, 1 die gerichtliche Medicin und 1 die Geschichte der Medicin, während 4 die chirurgischen, 4 die internen Kliniken, 1 die gynäkologische Klinik, 1 die Klinik der Kinderkrankheiten, 1 diejenige für Geschlechtskrankheiten, 1 die ophthalmiatrische, 1 die psychiatrische Klinik und 1 diejenige für Nervenleiden leitet. Sie beziehen je 15 000 Fr. jährliche Besoldung und werden auf Vorschlag der Facultät aus der Zahl der Agreges ernannt.

Frankreich, 441

Die letzteren unterstützen und vertreten die Ordinarien beim Unter- richt und bei den Prüfungen und erhalten, wenn sie einen Lehrauftrag haben, 6000 Fr. jährlichen Gehalt. Sie werden in 3 Klassen geschieden, nämlich in die Agreges stagiaires, en exercise und libres. In den. ersten drei Jahren nach ihrer Ernennung haben sie weder Eechte noch Pflichten und werden stagiaires genannt. Hierauf rücken sie in die Reihe der activen Agreges vor, deren Zahl derjenigen der Ordinarien gleich ist; als Agreges en exercise sind sie zu Vorlesungen verpflichtet, wirken als Examinatoren und werden besoldet. Nachdem sie in dieser Eigenschaft 6 Jahre oder auch länger thätig gewesen sind, treten sie zu den Agreges libres über, welche weder zum Unterricht noch zu sonstigen Dienstleistungen genöthigt werden, keinen Gehalt beziehen und nur den Vortheil haben, dass sie gleich den übrigen Agreges zu Ordinarien vorgeschlagen werden können.

Die Beförderung zu Agreges erfolgt auf Grund eines Concurses mehrerer Bewerber, der aber nur in Paris stattfindet. Früher war der- selbe auch bei der Besetzung der Ordinariate üblich; seit 1852 ist er jedoch auf die Wahl der Agreges und andere derartige Stellen be- schränkt. Am Concurs darf sich jeder promovirte Arzt betheiligen, welcher der französischen Nation angehört und das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat. Zu diesem Zweck überreicht er einer aus Professoren und andern Gelehrten zusammengesetzten Commission seine wissen- schaftlichen Arbeiten, liefert unter Clausur und ohne Benutzung literarischer Hilfsmittel eine schriftliche Arbeit über eine Frage, die ihm vorgelegt wird, und hält einen Vortrag, dessen Thema er drei Stunden vorher erhält. Die Commission trifl't hierauf nach den Leistungen der Candidaten eine Auswahl unter denselben, sodass die Zahl der Be- werber um jede freie Stelle nicht mehr als drei beträgt. Dieselben werden nun nochmals einer Prüfung unterworfen, die aus praktischen Untersuchungen, aus einer Vorlesung und einer Abhandlung über ein gegebenes Thema besteht, welches binnen einer bestimmten Zeit fertig gestellt werden muss.

Die Bewerbung um das Agregat geschieht nicht für ein einzelnes Fach, sondern für eine bestimmte Summe von Disciplinen. Die Agreges scheiden sich demgemäss in 4 Abtheilungen; die erste umfasst die Anatomie und Physiologie, die zweite die Naturwissenschaften, Physik, Chemie und Pharmakologie, die dritte die Pathologie und Therapie, interne Medicin und Staatsarzneikunde, und die vierte die chirurgischen Fächer nebst der Geburtshilfe. Im J. 1884 bestand der Lehrkörper der medicinischen Facultät zu Paris aus 120, zu Lyon aus 64, zu Bordeaux aus 50, zu Douai-Lille aus 45, zu Montpellier aus 43 und zu

442 Der medidnische Unterricht in der nettesten Zeit,

Nancy aus 41 Professoren. Die Facultät zu Lyon hatte nicht weniger als 25 Ordinarien.

Es ergiebt sich daraus, dass die medicinischen Schulen Frankreichs mit Lehrkräften reichlich ausgestattet sind, und dass die Regierung für diesen Zweck keine Ausgaben scheut. In Paris zahlt man für Be- soldungen der Professoren der medicinischen Facultät nahezu 700 000 Fr. jährlich, eine Summe, hinter welcher die Budgets der medicinischen Facultäten in manchen anderen Ländern weit zurückbleiben. Ebenso vortrefflich ist für die Lehrmittel der medicinischen Facultäten gesorgt. Die medicinischen Lehranstalten zu Paris und Lyon, welche ich aus eigener Anschauung kenne, sind musterhaft eingerichtet.

Der Unterricht in Paris wird theils an der Ecole de medecine, wo die theoretischen Vorlesungen der Professoren stattfinden, theils in der Ecole pratique, in welcher die Institute für praktische Arbeiten vereinigt sind, 'theils in den verschiedenen Hospitälern, in denen sich Kliniken befinden, ertheilt. Die grossen luftigen, mit Licht, fliessendem Wasser und anderen Einrichtungen versehenen, den hygienischen An- forderungen der heutigen Zeit entsprechenden Secir-Säle enthalten 682 Arbeitsplätze. Neben dem Direktor der Anstalt, welcher zugleich eine anatomische Professur versieht, wirken hier 8 Prosectoren und 24 Assistenten, welche den Studierenden die Anleitung zu den ana- tomischen Zergliederungen geben und sie dabei überwachen. Ausser- dem hält jeder der Prosectoren wöchentüch 3, jeder der Assistenten wöchentlich eine Vorlesung, deren Thema sich nach einem vom Direk- tor entworfenen Plane richtet. Diese Vorträge der Prosectoren und Assistenten schliessen sich an einander an und bieten in ihrem Zu- sammenhange eine vollständige Übersicht der anatomischen Wissen- schaft; sie bilden den Schwerpunkt des anatomischen Unterrichts. Die Stellen der Prosectoren und Assistenten werden durch Concurs besetzt. Wer sich um das Prosectorat bewirbt, muss promovirter Arzt sein und sich dann einer schriftlichen und mündlichen Prüfung über Anatomie, Histologie, Physiologie und operative Chirurgie unterziehen, ein ana- tomisches und ein histologisches Präparat anfertigen und zwei chirur- gische Operationen an der Leiche ausführen; die Stellen der Assistenten werden ebenfalls im Wettbewerb verliehen und zwar an ältere tüchtige Studenten.

Die Studierenden sind verpflichtet, in den anatomischen Vorlesungen der Prosectoren und Assistenten und bei den Secir -Übungen, auf ' welche täglich drei Stunden verwendet werden, regelmässig zu er- scheinen, und setzen sich manchen Unannehmlichkeiten aus, wean sie es unterlassen.

Frankreich* 443

Die praktische Beschäftigung in der anatomischen Schule nimmt drei Winter in Anspruch; in den beiden ersten wird die normale Anatomie des Menschen, im letzten die chirurgische Operationskunst an der Leiche studiert. Die Studierenden zahlen dafür ein Honorar von 100 Francs. Das reiche Lehrmaterial, die strenge ControUe des Besuches und Fleisses der Schüler, die enge Verbindung zwischen Theorie und Praxis, die Verwerthung der anatomischen Thatsachen für die praktische Heilkunde, besonders für die Chirurgie, und die fort- währende persönliche Unterweisung durch den Lehrer führen zu aus- gezeichneten Besultaten. Die Pariser Studenten der Medicin erwerben im Allgemeinen recht gute Kenntnisse in der Anatomie, welche für ihre weitere fachmännische Ausbildung wie für ihre spätere ärztliche Praxis unschätzbare Vortheile haben.

Für die Professoren, die Hospitalärzte und ihre Assistenten besteht in Paris noch ein besonderes anatomisches Institut, welches mit der für Studenten bestimmten Ecole pratique in keiner Verbindung steht, aber von einem Professor der Anatomie und seinen Assistenten geleitet und zu Sektionen, chirurgischen Operations-Übungen und wissenschaft- lichen Untersuchungen benutzt wird.

Für den Unterricht in der Physiologie, Histologie, Physik, Chemie und den Naturwissenschaften sind Laboratorien, Sammlungen und Arbeitsräume vorhanden; auch das Museum d'histoire naturelle und der botanische Garten dienen diesem Zweck.

Am College de France, sowie an der Ecole normale, einer Bildungs- anstalt für Candidaten des höheren Lehramts, bestehen ebenfalls Lehr- kanzeln für die Physiologie und die Naturwissenschaften. Ihre Inhaber halten Vorlesungen, deren Besuch den Studierenden der medicinischen Facultät leicht ermöglicht wird.

Die 14 Kliniken, welche unter der Leitung der Ordinarien stehen und somit dem ofi&ciellen Unterricht einverleibt sind, sind nicht in einem Krankenhause vereinigt, sondern auf das Hotel Dieu, die Charite, Pitie, die Clinique d'accouchements, das H6pital des enfants malades, HOpital Necker, Cochin und du Midi und die Salpetriere vertheilt. Jeder Studierende der Medicin ist verpflichtet, während der beiden letzten Jahre seiner Studienzeit regelmässig an den ärztlichen Besuchen in einem Krankenhause Theil zu nehmen und kleine Dienste zu verrichten, welche ihm dort übertragen werden. Die Leitung der Assistance publique überweist die Mediciner, die sich zu diesem Zweck bei ihr melden, an die verschiedenen Pariser Hospitäler.

Ähnlich wie in Paris gestalten sich die Verhältnisse an den übrigen medicinischen Facultäten und Schulen Frankreichs.

444 Der medidnische Unterricht in der nettesten Zeit,

Der Studierende der Medicin muss sich beim Beginn seiner tach- männischen Studien darüber ausweisen, dass er eine genügende all- gemeine Vorbildung erworben hat. Es wird aus diesem Grunde verlangt, dass er das Diplom eines Bachelier ös lettres besitzt, welches ungefähr dem Abiturienten -Zeugniss der deutschen Gymnasien entspricht, und ausserdem das Baccalaureat es sciences in Bezug auf die Mathematik und die Naturwissenschaften erlangt hat.^

Die Studienzeit der Mediciner dauert 4 Jahre; sie zerfallt nicht in Semester, sondern in Curse von 2 oder 3 Monaten, welche in einer vorgeschriebenen Keihenfolge besucht werden. Ebenso sind die prak- tischen Arbeiten in der Physik, Chemie und den Naturwissenschaften im ersten Jahre, in der Anatomie, Histologie und Physiologie im zweiten und dritten Jahre und in der pathologischen Anatomie nebst den chirurgischen Operationsübungen und dem Besuch der Kliniken und der Hospitäler (Stage) im vierten Jahre obligat.

Die Prüfungen aus den einzelnen Fächern fanden früher am Schluss jedes Jahres statt. Im J. 1878 wurde dies jedoch aufgehoben und dafür die Einrichtung getroffen, dass 5 Examina abgelegt werden, von denen das erste über Physik, Chemie und Naturgeschichte handelt und am Schluss des ersten Jahres, das zweite die Anatomie, Histologie und Physiologie umfasst und theils im Verlauf, theils am Ende des dritten Jahres erfolgt. Das dritte Examen betriflFfc die chirurgische Pathologie, Geburtshilfe und Operationskunst, sowie die allgemeine Pathologie und die Pathologie der inneren Krankheiten, das vierte die Hygiene, gerichtliche Medicin, Therapeutik, Materia medica und Pharma- kologie und das fünfte besteht in der Untersuchung und Behandlung von Krankheitsfällen in der chirurgischen, internen und geburtshilflichen Klinik und in der Ausführung einer pathologisch-anatomischen Sektion. Desgleichen muss der Candidat seine Kenntnisse in der normalen Anatomie durch die Anfertigung eines Präparats und seine chirurgische Gewandtheit durch die Ausführung einer Operation an der Leiche be- weisen. Endlich ist er verpflichtet, eine Dissertation über ein von ihm gewähltes Thema auszuarbeiten und der Facultät vorzulegen. Hierauf wird er zum Doktor der Medicin promovirt.

Wer das Officiat de sante anstrebt, bedarf eine geringere Allgemein- bildung; es wird verlangt, dass er einen französischen Aufsatz ohne orthographische Fehler anfertigt und über die wichtigsten Thatsachen der Naturwissenschaften, Physik und Chemie Auskunft zu geben vermag. Die Studienzeit für die Officiers de sant6 beträgt ebenfalls 4 Jahre. Der

^ Programme de Texamen baccalaureat es sciences, Paris 1885.

Frankreich. 445

Lehrplan ist ungefähr derselbe wie für die künftigen Doktoren der Medicin, nur treten die theoretisch-wissenschaftlichen Studien, besonders in der Histologie, Physiologie und pathologischen Anatomie mehr zurück. Den gleichen Charakter zeigen auch die Prüfungen, welche sich auf die Hauptfächer beschränken.^

Die französischen Militärärzte wurden früher in Strassburg aus- gebildet, wo sie die Vorlesungen an der dortigen medicinischen Facultät besuchten. Im J. 1872 wurde bestimmt, dass die militärärztlichen Eleven an 11 medicinische Schulen vertheilt und dort mit den übrigen Studierenden zusammen unterrichtet würden; aber 1883 hat man statt dessen für die Militärärzte 2 Ecoles preparatoires du Service de sante zu Bordeaux und Nancy errichtet; ihre Zöglinge nehmen an dem Unter- richt der dortigen medicinischen Facultäten Theil, müssen 5 Jahre studieren und werden von älteren Militärärzten, welche als Repetitoren für die einzelnen Lehrgegenstände wirken, beaufsichtigt und in ihren Studien unterstützt. Wenn sie die letzteren absolvirt und den Doktor- Grad erlangt haben, werden sie zur Vervollständigung ihrer fach wissen- schaftlichen Bildung der mit dem grossen Militär-Erankenhause zu Val de Gräce verbundenen Ecole d'application überwiesen, wo sie durch 8 Monate Dienste im Spital leisten und in der praktischen Heilkunst Erfahrungen sammeln.

Das medicinische ünterrichtswesen Frankreichs hat neben manchen Vorzügen, unter denen die vortreffliche anatomische und klinische Aus- bildung der Studierenden hervorgehoben werden muss, auch einige be- klagenswerthe Mängel. So erscheint es seltsam, dass nach dem Lehrplan das erste Studienjahr vollständig den Hilfswissenschaften der Medicin gewidmet und mit dem Besuch der Vorlesungen über Anatomie erst im zweiten Jahre begonnen wird. Dadurch wird das Studium der Heil- kunde selbst auf 3 Jahre zusammengedrängt, innerhalb deren die Auf- nahme des reichen Unterrichtsstoffes nicht möglich erscheint.

Da die zweite Prüfung, welche über Anatomie und Physiologie handelt, in das Ende des dritten Jahres fallt, und die Vorbereitung dafür die Studierenden bis dahin hauptsächlich beschäftigt, so bleibt für die Ausbildung in der praktischen Heilkunde nicht viel mehr als ein Jahr übrig. Die Verlängerung der gesetzlichen Studienzeit, welche übrigens auch durch die drei letzten Prüfungen herbeigeführt wird, ergiebt sich daraus von selbst.

Ein weiterer Übelstand des medicinischen Unterrichtswesens in

^ Indications sommaires des conditions k remplir pour robtention des grades de docteur en m^decine, d'officier de sante etc., Paris 1884.

446 Der mediGinische Unterricht in der neuesten Zeit.

Frankreich liegt in der Art, wie der Lehrkörper der medicinischen Schulen ausgewählt und zusammengesetzt wird. Der Concurs, die Wett- bewerbung, schützt allerdings mehr, als andere Formen der Besetzung erledigter Stellen vor ungerechten Bevorzugungen, Protektion und Vetter- schaften; auch ist er in Fällen, wo es sich um das Agr^gat, das Amt eines Prosectors oder Assistenten, also um die Zulassung zur akademischen Lehrthätigkeit handelt, im Allgemeinen gewiss berechtigt und ein vor- treflFliches Mittel, die Fähigkeiten und Kenntnisse der einzelnen Can- didaten kennen zu lernen und abzuwägen. Aber die" Beschränkung der Auswahl derselben auf eine bestimmte Zahl erscheint unzweckmässig, da es nicht möglich ist, unter mehreren ziemlich gleichmässig quali- ficirten Bewerbern eine Entscheidung zu treffen, welche den Forderungen der Gerechtigkeit und Billigkeit voUkonmien entspricht, und der wissen- schaftliche Gehalt der Candidaten in den einzelnen Jahren bedeutende Verschiedenheiten aufweist.

Ebenso wenig lässt sich die Eintheilung der Bewerber um das Agregat in die 4 Gruppen nach den verschiedenen Fächern, wie sie gegenwärtig besteht, rechtfertigen; denn manche Disciplin, wie z. B. die Geschichte der Medicin, die Hygiene und die Staatsarzneikunde, kann mit demselben B^cht in die eine wie in die andere Klasse ge- zogen werden. Durch die jetzige Einrichtung wird vielleicht ein Ge- lehrter, der auf seinem Specialgebiet Hervorragendes geleistet hat, der akademischen Lehrthätigkeit femgehalten.

Geradezu schädlich ist die gesetzliche Anordnung, dass die Con- curse för die Stellen der Professeurs agreges an sämmtlichen medicinischen Facultäten und Schulen Frankreichs in Paris stattfinden. Dadurch werden die Candidaten, welche ein Lehramt in den Provinzen anstreben, zu längerem Aufenthalt in Paris und unnöthigen Ausgaben genöthigt, die medicinischen Facultäten und Schulen mit Ausnahme der Pariser in ihrem Ansehen und ihren Interessen geschädigt, indem die Ent- scheidung über wichtige Besetzungsfragen Personen übertragen wird, welche die lokalen Bedürfnisse nicht kennen, und endlich der Pariser Facultät mit den Concursprüfungen eine grosse Last aufgebürdet, die um so schwerer wiegt, als sie durch die Prüfungen der Menge von Studierenden in Paris ohnehin schon allzusehr in Anspruch genommen wird. Aus diesen Gründen wurde schon vor längerer Zeit verlangt, dass die Concursprüfungen nicht blos in Paris, sondern an jeder medicinischen Facultät abgelegt werden, der Lehrkörper jeder me- dicinischen Schule das Kecht erhalte, die Vorschläge für die Besetzung der Stellen, welche an derselben erledigt sind, zu erstatten, und die Candidaten, welche im Concurs die Anerkennung der Examinatoren

Frankreich. 447

erringen, nicht blos an einer Facultät, sondern an sämmtlichen me- dicinischen Schulen zum Lehramt zugelassen werden, ohne dass sie genöthigt werden, sich in jedem Falle wieder einer neuen Prüfung zu unterziehen. ^

Bei der Besetzung der Ordinariate hat man mit Recht den Concurs abgeschafft; denn hier handelt es sich nicht um Leute, deren Tüchtig- keit als Lehrer und Forscher erst erprobt werden muss, sondern um Gelehrte, deren wissenschaftliche Leistungen in den Kreisen der Fach- männer allgemein bekannt sind. Jede medicinische Schule muss dar- nach trachten, für diese Stellen die besten Kräfte zu gewinnen, welche sie erlangen kann.

Es ist daher keineswegs zu billigen, dass die Lehrkörper bei den Vorschlägen, die sie zu diesem Zweck dem Minister unterbreiten, auf die Professeurs agreges, welche an der betreffenden Facultät angestellt sind, beschränkt werden. Diese Massregel führt zu einer lokalen Ab- geschlossenheit der medicinischen Schulen, bei welcher die Gefahr einer geistigen Erstarrung nahe liegt. Gerade der Austausch der Theorien und Lehrmethoden, welcher durch den Wechsel der Lehrkräfte hervor- gerufen und begünstigt wird, erhält das geistige Leben frisch und für jede fruchtbringende Anregung empfänglich. Dagegen mag es bei der jetzigen Einrichtung nicht selten vorkommen, dass ein hervorragender Gelehrter, der an einer kleinen Hochschule in Frankreich thätig ist, einem grösseren Wirkungskreise entzogen wird, in welchem er für die Wissenschaft und den Staat viel Gutes schaffen würde. Es erscheint daher nothwendig, dass die Facultäten in dieser Beziehung von jeder Beschränkung befreit werden und bei ihren Vorschlägen für die Besetzung erledigter Ordinariate die Ordinarien und Agreges sämmtlicher medici- nischen Facultäten und Schulen ins Auge fassen dürfen. Sollte ein Mann, der bisher der akademischen Lehrthätigkeit fern stand, in einem besonderen Falle als der geeignetste Candidat für die Professur erscheinen, so wird man auch diese Wahl billigen. Ausnahmsweise geschah dies z. B., als die i. J. 1870 zu Paris gegründete Professur für Geschichte der Medicin dem ausgezeichneten Kenner der griechischen Heilkunde, Ch. Daeembeeg, übertragen wurde. Man sollte in Frankreich die Verhältnisse und Zustände, welche in dieser Beziehung in Deutschland und Österreich bestehen, studieren und Das, was an ihnen nachahmungs- werth erscheint, auch dort einführen.

* Revue internationale de l'enseignement, Paris 1882, T. HI, p. 126. 533. Dreipus-Bbissac: Rev. int.. Paris 1887, T. XIV, p. 469 u. ff.

448 Der mediöinisohe Unterricht in der nettesten Zeit,

Österreich - Ungarn.

Das medicinische Unterrichtswesen in Österreich wurde erst im 18. Jahrhundert von den mittelalterlichen Formen befreit, welche es in seiner Entwickelung beengt und gehemmt hatten. Dasselbe lag bis dahin gänzlich in den Händen der ärztlichen Zunft, der Vereinigung aller promovirten Ärzte, welche als Facultät bezeichnet wurde; von ihr wurden mehrere Mitglieder zum Lehramt gewählt, die vom Universitäts- Consistorium die Bestätigung empfingen.

In dem letzteren, welches ungefähr unserem heutigen Universitäts- Senat entsprach, hatte der klerikale Einfluss das Übergewicht, nachdem der Jesuiten -Orden in der Sanctio pragmatica v. J. 1623 einen ent- scheidenden Einfluss auf das gesammte Erziehungswesen erlangt hatte.

Die Professoren der Medicin bezogen karge Besoldungen und waren daher genöthigt, sich durch die ärztliche Praxis den noth wendigen Lebensunterhalt zu erwerben. Doch waren auch ihre wissenschaftlichen Leistungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unbedeutend. In einem Bericht über die Universität Wien, welcher i. J. 1688 an die Regierung erstattet wurde, heisst es, „dass in dieser Wienerischen Uni- versität so viel Jahre hero von denen Professoribus in Jure et Medicina gar wenig gehört worden, dass selbige ihre Scienz am Tag gegeben und in Druck hatten ausgehen lassen, als wann die Wienerische Uni- versität in Schlaf liegete oder gar kein solches Studium mehr zu Wien wäre. Da herentgegen kundbar, wie vigilant und embsig die Professores bei anderen hohen Schulen in Teutschland wären, was für schöne Bücher selbige beschreibeten und was für nutzbare opera sie in Druck aufsetzen und publiciren lasseten."^

An den für das Studium der Medicin erforderlichen Lehrmitteln und Instituten fehlte es gänzlich, und selbst die Vorlesungen wurden so unregelmässig gehalten, dass die Nachlässigkeit der Lehrer der Me- dicin 1689 und 1727 von der Eegierung eine Rüge erfuhr. Verschiedene Versuche, welche 1629, 1687 und 1726 zur Beseitigung der vorhan- denen Übelstände unternommen wurden, blieben erfolglos. Im J. 1718 schlug die medicinische Facultät zu Wien vor, die praktische Unter- weisung am Krankenbett, pathologisch-anatomische Sektionen und regel- mässige Secir-Übungen in den Unterricht aufzunehmen, ein CoUegium chymicum, sowie einen botanischen Garten einzurichten, Assistenten und Hilfsärzte an den Krankenhäusern anzustellen, die Besoldungen der

^ Kink: Geschichte der Universität zu Wien, Wien 1854, I, 398.

Ösierreioh^üngam. 449

Professoren zu erhöhen und hervorragende Lehrkräfte von auswärts zu berufen. ^

Aber die Scheu, welche die regierenden Kreise vor dem Wechsel des Systems hegten, und der Mangel an den für die erforderlichen Einrichtungen nothwendigen Geldmitteln verhinderten die Ausführung dieser Vorschläge. Die grosse Kaiserin Maria Theresia, die in den schweren Bedrängnissen und Kriegen, welche ihren Thron erschütterten, die Buhe und Kraft des Geistes fand, um an Verbesserungen der Ge- setzgebung und der Verwaltung zu denken,^ wandte auch diesem Gegen- stande ihre Aufmerksamkeit zu. Sie beauftragte ihren Leibarzt Gerhard VAN SwTETEN, welchcr ihr volles Vertrauen genoss, mit der Unter- suchung der Gebrechen des medicinischen Unterrichts an der Wiener Hochschule. In dem Bericht, den derselbe darüber verfasste, wies er auf die Ursache der Missstände hin, die er in der Abhängigkeit der Universität von der Kirche und der Zunft fand. Er verlangte vor Allem, dass der Staat der unumschränkte Gebieter in seinem Hause sei und das ärztliche Erziehungswesen leite und überwache. Die An- träge, welche er zu diesem Zweck der Kaiserin unterbreitete, erhielten ihre Zustimmung, obwohl sie dabei vielleicht Überzeugungen, die ihr durch Tradition und Erziehung theuer geworden waren, zum Opfer bringen musste.

In dem Beform-Edikt vom 7. Februar 174& wurde bestimmt, dass die Ernennung der Professoren der Medicin fortan nicht mehr vom Universitäts-Consistorium, sondern von der Kaiserin vollzogen, die Ge- hälter derselben in angemessener Weise erhöht und aus den landes- fürstlichen Kassen bezahlt und ihre Dienstleistungen und der gesammte Unterricht von einem Direktor, der die Begierung vertrat, beaufsichtigt werden. In Wien übernahm G. van Swibtbn selbst dieses wichtige Amt; an anderen Facultäten wurde es hohen Sanitätsbeamten übertragen. Sie führten auch den Vorsitz in den Versammlungen der Zunft-CoUegien und bei den Prüfungen der Ärzte, Chirurgen, Apotheker und anderer Klassen des Heilpersonals.

Gleichzeitig wurden die medicinischen Facultäten mit den erforder- lichen Lehrmitteln ausgestattet. In Wien wurden ein botanischer Garten und ein chemisches Laboratorium geschaffen, und die regelmässigen Secir-Übungen und der klinische Unterricht eingeführt. Die Promotiona- Feierlichkeiten, welche wegen der damit verbundenen kirchlichen Cere- monien den beträchtlichen Aufwand von 1000 Gulden verursacht und

* KosAs: Geschichte der Wiener Hochschule, Wien 1843, II, 232.

* V. Arketh: Maria Theresias erste Regierungsjahre, Wien 1863—79, 10 Bde. PuscHMANN, Unterricht. 29

450 Der medicinische Unterrickt in der neuesten Zeit

in Folge dessen viele Studierende genöthigt hatten, sich die Doktor- Würde im Auslande zu erwerben, wurden vereinfacht und auf ausser- ordentliche Fälle beschrankt, und das ganze Prüfungswesen durch genaue Vorschriften geregelt

Nach dem Muster der medicinischen Facultat in Wien wurden bald darauf auch die übrigen medicinischen Facultaten des Reiches reorganisirt und mit Lehrkanzeln und Anstalten versehen. 6. van SwiETEN trat an die Spitze des ganzen Medicinalwesens und erlangte einen Einfluss, der sich auf alle Zweige der Unterrichts -Verwaltung erstreckte.

Mit der Thronbesteigung des Kaisers Josef II. begann eine Periode rasch aufeinander folgender und sich manchmal überstürzender Neue- rungen auf diesem Gebiet. Alle Beschränkungen, welche die Verleihung akademischer Grade an Nicht-Katholiken erschwert hatten, wurden auf- gehoben und derselben jeder religiöse Charakter genommen, die Besol- dungs- und Pensionsverhältnisse der Professoren im Einklang mit den- jenigen der übrigen Beamten geordnet, die akademische Gerichtsbarkeit aufeehoben, die Angehörigen der Universität unter das allgemeine Recht gestellt, und anstatt der CoUegien-Honorare, welche abgeschafft wurden, ein bestimmtes monatliches Schulgeld an den Hochschulen eingefohrt.

Alle Universitäten der Monarchie wurden einander im Range gleichgestellt und ihren Diplomen und Zeugnissen die gleichen Rechte und Privilegien gewährt; doch erhielt dieses Gesetz schon nach wenigen Jahren eine Änderung, indem bestimmt wurde, dass in Wien nur diejenigen Ärzte und Advokaten die Praxis ausüben durften, welche an der Wiener Hochschule die Prüfungen abgelegt hatten.

Mit grossem Eifer beschäftigte sich der Kaiser mit der Verbesse- rung des medicinischen Unterrichts und der dafür vorhandenen Lehr- anstalten. Er beklagte die Vernachlässigung, welche die chirurgischen Studien von den Ärzten erfuhren, und die ungenügende Fachbildung der Wundärzte und erkannte den schwerwiegenden Fehler, der in der Trennung der Chirurgie von der inneren Medicin lag. In der Wieder- vereinigung dieser beiden Zweige der gemeinsamen Wissenschaft, in der Verschmelzung der Ärzte mit den Chirurgen sah er das beste Mittel zur Beseitigung der Gebrechen des medicinischen Unterrichtswesens. Zu diesem Zweck liess er einen Studienplan für diese beiden Klassen von Studierenden der Heilkunde ausarbeiten, welcher eine Studienzeit von 4 Jahren festsetzte und bei geringen Verschiedenheiten von Beiden die Kenntniss aller Theile der Heilkunde verlangte.

Sehr viel trug die Erhebung der militärärztlichen Schule, des Jo- sefinums, zu einer chirurgisch-medicinischen Facultat mit den Rechten

Österreich - Ungarn. 45 1

-und dem Bange einer Universität und ihre Verbindung mit einer chi- rurgischen Akademie dazu bei, dass der Chirurgenstand in wissenschaft- licher und socialer Hinsicht gehoben wurde. Daneben entstand eine Klasse von niederen Landärzten, welche zu einer Studienzeit von zwei Jahren verpflichtet waren, und mit dem Namen der Chirurgen auch die gesellschaftliche Stellung erhielten, welche dieselben bis dahin ein- genommen hatten. Auf diese Weise wurde eine vollständige Umgestal- tung des medicinischen Unterrichtswesens und der socialen Verhältnisse des ärztlichen Standes herbeigeführt, die sich in ihren Grundlinien bis in die neueste Zeit erhalten hat.

Auch mehrere andere Massregeln, wie die Abschaffung des Bacca- laureats und die Aufhebung der Inaugural-Dissertationen, an deren Stelle die praktische Prüfung am ICrankenbett trat, bildeten sehr zweck- mässige Verbesserungen des ärztlichen Bildungswesens.

Die Errichtung des allgemeinen Krankenhauses zu Wien, dessen reiches Lehrmaterial zum Theil dem klinischen Unterricht gewidmet wurde, und die Gründung des Militärspitals, das zu dem gleichen Zweck dem Joseflnum übergeben wurde, ermöglichten die grossartigen Triumphe, welche die Wiener medicinische Schule später feierte. Josef II. schuf ferner das Taubstummen-Institut, das Findelhaus und die Thier- arzneischule in. Wien, und liess in Prag, Graz und anderen grossen Städten der Monarchie Krankenhäuser, welche zum Unterricht der Ärzte verwendet wurden, errichten und in Mailand, Mantua, Prag, Brunn, Olmütz, Pest, Königgrätz, Lemberg, Hermannstadt und anderen Orten ständige Militärspitäler erbauen. „Was immer zur Heilung der erkrankten und verwundeten Mannschaft, zu ihrer Erleichterung und Erhaltung ersonnen werden konnte, das habe ich nie ausser Acht ge- lassen, und jeder einzelne Mann ist mir schätzbar gewesen'^, erklärte er, als er wenige Tage vor seinem Tode Abschied von der Armee nahm.

Die humanitären Schöpfungen des Kaisers, der, auch wenn er irrte, stets von dem aufrichtigen Bestreben erfüllt war, sein Volk glücklich zu machen, geben ihm ein Anrecht auf die Dankbarkeit der Menschen. Sie haben seine politischen Pläne und Thaten überdauert und erzählen heut noch von der Güte und Liebe des edlen Fürsten, der seinem Volk non diu, sed totus lebte, wie es auf dem Denkmal heisst^ das ihm in seiner Residenz errichtet worden ist.^

Die Beaktion, welche seine politische Tendenz bekämpfte, wandte sich gegen seine Massnahmen in der Unterrichtsverwaltung. Es wurde

^ Th. Püschmann: Die Medicin in Wien während der letzten hundert Jahre^ Wien 1884, S. 53 u. ff.

29*

452 Der medieinische Unterricht in der neuesten Zeit,

eine ^^tadien-Eiiiiichtaiigs-Comiiiission^y wie sie genannt wurde , be- rufen, welche den Auftrag erhielt^ das Erziehnngswesen wieder in die Geleise des alten Herkommens zu leiten.

In der Medicin erhob der Znnftigeist sein Haupt und yersuchte, den Einfluss, den er firöher auf den Unterricht der Ärzte besessen hatte, zurück zu erobern. Man verlangte, dass das firuhere Yerhaltniss zwi- schen den Ärzten und den Chirurgen wieder hergestellt, die Chirurgen in eine abhängige untergeordnete Stellung versetzt und die Vereinigung der Chirurgie und der inneren Medicin, welche durch den Studienplan V. J. 1786 herbeigeführt worden war, wieder aufgelöst werde, und be- hauptete, dass diese beiden Gebiete der Heilkunde zu heterogen und umfangreich seien, als dass ein Einzelner beide in gleicher Weise be- herrschen könne. Gegen das Josefinum wurde der Vorwurf erhoben, dass es zu viele Kosten verursache und durchaus nicht den medicini- schen Facultäten der Universitäten ebenbürtig sei Doch gelang es nicht, die Aufhebung desselben durchzusetzen; denn der Staat konnte in den lange andauernden Kriegen, in welche Osterreich damals verwickelt wurde, die einzige Anstalt, welche für den Bedarf an Militärärzten sorgte, nicht entbehren. Auch zeigte die tägliche Erfahrung, wie noth- wendig und wichtig die chirurgischen Kenntnisse waren, und eine Herabsetzung derselben erschien' keineswegs zeitgemäss. Grössere Be- rechtigung hatten die Anklagen, welche sich gegen das Wiener allge- meine Krankenhaus richteten; die Verbesserungen, die dadurch hervor- gerufen wurden, gereichten der Anstalt zum Vortheil.

Am medicinischen Studienplan wurde nichts geändert, obwohl derselbe in manchen Beziehungen reformbedürftig war.^ Dagegen wurden den Professoren genaue Instruktionen für ihr Verhalten ertheilt und die Lehrbücher vorgeschrieben, welche sie ihren Vorlesungen zu Grunde legen sollten. Die Studien-Direktorate wurden aufgehoben, aber schon nach wenigen Jahren wieder eingeführt, bildeten, wie vorher, die Aufsichtsbehörden für die Angelegenheiten der Facultäten und leiteten das Unterrichtswesen.

Im J. 1804 wurde die Studienzeit für die Studierenden der Me- dicin und höheren Chirurgie von 4 auf 5 Jahre erhöht und angeordnet, dass die 3 ersten Jahre der theoretischen Ausbildung, die beiden letzten Jahre jedoch hauptsächlich dem Besuch der Kliniken gewidmet würden. Gleichzeitig wurde daran erinnert, dass Niemand zum Studium der Heilkunde zugelassen werden sollte, der nicht vorher durch 3 Jahre

^ Freimüthige Betracbtangen über den medicinischen Unterricht an der hohen Schale zu Wien, 1795.

Osterreieh-Ungam, 453^

an der Universität philosophische Vorlesungen gehört und sich eine genügende Allgemeinbildung erworben habe. Jeder Lehrer musste wöchentlich mindestens eine halbe Stunde darauf verwenden, um sich durch Fragen zu überzeugen, dass seine Schüler den Inhalt seiner Vor- träge verstanden und in sich aufgenommen hatten. Am Schluss eines jeden Semesters fanden öffentliche Prüfungen der Studierenden statt, von deren Erfolg es abhing, ob es ihnen gestattet wurde, die für das folgende Semester bestimmten CoUegien zu besuchen. Ausserdem wurden die Vorschriften für die Approbations-Prüfung, welche am Schluss der Studienzeit abgelegt wurde, verschärft und die Examinatoren ermahnt, dabei streng und gewissenhaft zu verfahren.

Im J. 1810 wurde ein neuer medicinischer Studienplan vorge- schrieben, in welchem diejenigen Fächer, welche inzwischen in den Unterricht aufgenommen worden waren, Berücksichtigung fanden. Dar- nach sollten die Studierenden der Heilkunde während des ersten Jahres die Einleitung in das medicinisch-chirurgische Studium, specielle Natur- geschichte, Botanik und systematische Anatomie, während des zweiten höhere Anatomie und Physiologie, allgemeine Chemie, Pharmacie und Thierchemie, während des dritten allgemeine Pathologie und Therapie, Ätiologie, Semiotik, Materia medica et chirurgica, Diätetik, Keceptirkunst, Geburtshilfe, allgemeine und specielle Chirurgie, die Lehre von den chirurgischen Instrumenten und Verbänden und Ophthalmologie hören, während des vierten und fünften Jahres die Vorlesungen über specielle Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten und die Kliniken besuchen und den Vorträgen über Veterinärkunde, gerichtliche Medicin und Medicinalpolizei beiwohnen. Diejenigen, welche sich zu Landärzten ausbildeten, wurden angehalten, im ersten Jahre die Einleitung in das medicinisch-chirurgische Studium, theoretische Chirurgie, Anatomie, Physiologie, allgemeine Pathologie und Therapie, Materia medica et chirurgica, Diätetik, Keceptirkunst und Bandagenlehre und im zweiten Jahre chirurgische Operationslehre, gerichtliche Medicin, Geburtshilfe und Thierarzneikunde zu hören und die medicinische und chirurgische Klinik zu besuchen. Die Studienzeit derselben wurde später um ein Jahr verlängert. Die Theilnahme an der geburtshilflichen Klinik blieb ebenso wie der Besuch der Vorlesungen über mehrere andere Unter- richtsgegenstände dem freien Ermessen der Studierenden überlassen. Über jedes Hauptfach musste an 5 Tagen der Woche jedesmal eine Stunde vorgetragen werden; dem Unterrieht in der medicinischen und der chirurgischen Klinik wurde die doppelte Zeit gewidmet.

Gleichzeitig wurde dafOr gesorgt, dass der Lehrstoff durch prak- tische Demonstrationen und Arbeiten dem Verständniss näher gebracht

454 Der medidnische ühterrieht in der nettesten Zeit.

wurde. Zu diesem Zweck unternahmen die Studierenden unter der Leitung ihrer Lehrer botanische Excursionen, arbeiteten im chemischen Laboratorium, übten sich im Zergliedern der menschlichen Körper, wohnten den klinischen Sektionen bei und führten chirurgische Opera- tionen an der Leiche aus. Wo noch keine Secir-Anstalten bestanden, wurden dieselben errichtet; doch mussten die Kosten, welche die Be- schaffung des erforderlichen Leichen -Materials verursachte, von den Schülern getragen werden.

Wer sich um die medicinische Doktor -Würde bewarb, war ver- pflichtet, zunächst zwei Krankengeschichten vorzulegen, welche Fälle betrafen, die er selbst in der Klinik behandelt hatte, sich hierauf einer Prüfung zu unterziehen, welche sich über die im Studienplan, genannten TJnterrichtsgegenstände erstreckte, und endlich eine Dissertation zu ver- fassen und Thesen zu vertheidi^en. Das Examen für das Doktorat der Chirurgie unterschied sich davon dadurch, dass anstatt der inneren Medicin die Chirurgie in den Vordergrund trat, und die Candidaten zwei chirurgische Operationen an der Leiche ausführen mussten. Wenn ein Doktor der Medicin auch zum Doktor der Chirurgie promoviren wollte oder umgekehrt, so brauchte er nur eine Erganzungsprüfung abzulegen, welche jene Fächer betraf, die in der früheren zu wenig beachtet worden waren. Geringere Anforderungen wurden an Diejenigen gestellt, welche sich mit dem Titel eines Magisters der Chirurgie be- gnügten. Ähnlich verhielt es sich mit den Landärzten. Ausserdem wurde das Diplom als Augenarzt verliehen, während die Klasse der sogenannten Bruchärzte aufgehoben wurde.

Am Josefinum wurde die Studienzeit 1822 ebenfalls für den höheren Cursus auf 5 Jahre und für den niederen auf 3 Jahre erhöht und dem Unterricht derselbe Studienplan zu Grunde gelegt, welcher an den medicinischen Facultäten eingeführt worden war. Die Anstalt erhielt in Folge dessen das Recht, sämmtliche akademische Grade zu verleihen.

Die Studien-Ordnung v. J. 183.3 brachte keine wesentliche Ände- rung im Unterricht und in den Prüfungen; nur fand die Augenheil- kunde eine grössere Berücksichtigung als bisher.

Im J. 1845 wurde eine Commission von Sachverständigen berufen, welche über die Gebrechen des medicinischen Unterrichts Berathungen hielt und Vorschläge zur Verbesserung desselben machte. Aber bevor darüber eine endgültige Entscheidung getroffen wurde, kam das Jahr 1848, welches eine vollständige Umwälzung der bestehenden Verhält- nisse herbeiführte. Der Lehrkörper der Wiener medicinischen Fäcultät legte dem neu geschaffenen Unterrichts-Ministerium einen Reformplan der medicinischen Studien vor, in welchem zunächst auf den Übelständ

Osterreich - Ungarn, 455

hingewiesen wurde, dass als nkedicinische Pacultät sowohl das Lehrer- Collegium als die Vereinigung sammtlicher Ärzte von Wien bezeichnet wurde und die Professoren von den wichtigsten akademischen Ämtern, wie von denjenigen des Rectors, Dekans, ebenso wie von dem des Direktors der medicinischen Studien ausgeschlossen und im Universitats-Consistorium fast gar nicht vertreten waren. Man verlangte, dass die ordentlichen Professoren, ähnlich wie an den Universitäten Deutschlands, ein Colle- gium bilden, welches dem Ministerium unmittelbar unterstehe, die Fragen des Unterrichts und andere Angelegenheiten selbstständig be- rathe und erledige, die Prüfungen abnehme und akademische Würden ertheile, dass die Lehrkanzeln nicht durch Concurs, sondern durch Be- rufung besetzt werden, dass die Anstellung der Professoren eine stabile sei und ihre Absetzung nur bei ehrenrührigen Vergehen oder fortge- setzter Pflichtversäumniss erfolgen dürfe, dass die ordentlichen und ausserordentlichen Professoren, welche einen im Studienplan vorgeschrie- benen Unterrichtsgegenstand vertreten, vom Staat anständig besoldet werden, „so dass sie von Nahrungssorgen befreit der Wissenschaft und namentlich der . Förderung ihres Faches obliegen können", dass die wissenschaftlichen Institute in einer den Bedürfnissen entsprechenden Weise ausgestattet und dotirt werden, dass Lehr- und Lemfreiheit be- willigt, die Lehrer weder an bestimmte Lehrbücher gebunden, noch die Studierenden genöthigt werden, gewisse Vorlesungen zuhören und ihre fachwissenschaftliche Bildung ausschliesslich an inländischen Hodischulea zu erwerben, dass die Semestral-Prüftingen aufgehoben und die medi- cinischen Rigorosen unter dem Vorsitz des Dekans der Facultät, die Promotionen unter demjenigen des Rectors der Universität stattfinden, dass der Rector, sowie der Dekan aus der Zahl der ordentlichen Pro- fessoren und von diesen gewählt, die Verbindung zwischen der Uni- versität und den Doktoren-Corporationen aufgelöst und der Einfluss der ärztlichen Zunft; auf den medicinischen Unterricht gänzlich besjeitigt werde.

Der Freiherr E. von Feüghtebsleben, der Verfasser der bekannten „Diätetik der Seele", welcher als Dooent der Psychiatrie an der Wiener Hochschule thätig war, wurde aufgefordert, die Leitung des Unterrichts- Ministeriums zu übernehmen; er lehnte jedoch ab, Minister zu werden, weil er, wie er in seiner Selbstbiographie schreibt, „von der Überzeugung geleitet wurde, dass bei dem aus dem Repräsentativ -System hervor- gehenden Ministerwechsel überhaupt und bei unseren damaligen Zu- ständen insbesondere für den Minister an keine folgerichtige Thätigkeit zu denken sei, die gerade in dem Bereich des Unterrichts für das Ge- lingen und Gedeihen einer im Sinne eines grossen Ganzen gedachten

456 Der medidnische UnterridU in der nettesten Zeit,

Reform unerlässliche Bedingung ist", und begnügte sich mit der Stel- lung als ünterstaatssekretär im Xlnterrichts-Ministerium, in welcher er während der kurzen Zeit seiner amtlichen Wirksamkeit eine Menge wichtiger Reformen ins Leben rief. So führte er den naturwissenschaft- lichen Unterricht an den Gymnasien ein, verlängerte die Studienzeit der letzteren um zwei Jahre, indem er die Anordnung traf, dass der philosophische Cursus, den die Studierenden bis dahin an der Universität äbsolviren mussten, mit dem Gymnasium verschmolzen wurde, erwirkte für die Universitäten Lehr- und Lemfreiheit, schaffte die Besetzung der Professuren durch Concurs ab und sorgte dafür, dass die Lehrmittel und Sammlungen des Josefinums, als dasselbe aufgehoben wurde, der Wiener medicinischen Facultät überlassen wurden.

Im J. 1849 wurde das Gesetz über die Organisation der akademischen Behörden^ erlassen, nach welchem die Studienangelegenheiten an den Universitäten von den Professoren-CoUegien der einzelnen Facultäten geleitet werden. Dieselben setzen sich zusammen aus sämmtlichen ordentlichen und so vielen ausserordentlichen Professoren, dass die Zahl der letzteren die Hälfte der ersteren nicht übersteigt, und zwei Ver- tretern der Privatdocenten, welche aber nur eine berathende Stimme erhielten. Den Vorsitz in diesen CoUegien führt der aus der Reihe der ordentlichen Professoren gewählte Dekan, welcher in manchen Be- ziehungen an die Stelle des früheren Studien-Direktors trat, dessen Amt aufgehoben wurde.

In W^ien und Prag wurde den ärztlichen Zünften, den Doktoren- Corporationen, ein Rest von Einfluss auf das medicinische Unterrichts- wesen gewahrt, indem sie auch fernerhin als Theile der Universität betrachtet, als Facultäten bezeichnet wurden und das Recht erhielten, sich einen Dekan zu wählen, der im Professoren-Collegium Sitz und Stimme hatte und bei den ärztlichen Prüfungen mitwirkte. Erst 1873' wurde die vollständige Trennung der Doktoren-Corporationen von den medicinischen Facultäten und der Universität vollzogen.^ Die Doktoren- CoUegien bildeten fortan nur ärztliche Vereine, welche sich mit der Verwaltung ihres Vermögens, der Verleihung einzelner Stipendien u. a. m. befassen, aber keine amtlichen Obliegenheiten haben.

Schon in einem Ministerial-Erlass v. J. 1848 wurde die Aufhebung des niederen Studiums der Landärzte im Princip ausgesprochen.^ Aber der praktischen Ausführung derselben stellten sich manche Schwierig-

^ G. Thaa: Sammlung der für die österreichischen Universitäten gültigen Gesetze und Verordnungen, Wien 1871, I, 69 u. fF.

' Thaa a. a. O. S. 615 u. ff. ^ Xhaa a. a. O. S. 497.

Österreich - Ungarn. 45 7

keiten entgegen. Man masste befürchten , dass durch eine plötzliche Schliessung der für die Ausbildung der Landärzte und niederen Chirurgen vorhandenen Lehranstalten ein empfindlicher Mangel an Ärzten herbei- geführt werden würde, und suchte daher vorher den noth wendigen Ersatz dafür zu schaffen«

Zunächst wurden die Lehr-Curse, welche bis dahin für die Land- ärzte an den Universitäten zu Wien und Prag bestanden, aufgelöst, während die medicinisch- chirurgischen Unterrichtsanstalten zu Graz und Innsbruck später zu wirklichen medicinischen Facultäten erhoben wurden, die den dortigen Universitäten einverleibt wurden. Die übrigen Institute dieser Art, welche in Salzburg, Olmütz, Laibach, Lemberg u. a. 0. existirten, wurden aUmälig geschlossen. Damit hörte die Ausbildung von Ärzten der niederen Kategorie auf.

Von nun an boten nur noch die Universitäten die Gelegenheit zum Studium der Heilkunde. Gegenwärtig besitzen die Hochschulen zu Wien, Prag, Graz und Innsbruck, an welchen die deutsche Unter- richts-Sprache herrscht, die neu errichtete czechische Universität zu Prag, die polnische Hochschule zu Erakau und die beiden ungarischen Universitäten zu Budapest und Klausenburg medicinische Facultäten; den Hochschulen zu Lemberg, Agram und Czemowitz fehlen dieselben.

Das Josefinum wurde, nachdem es 1848 aufgehoben und 1854 wieder eröffnet worden war, nach 1870 abermals geschlossen, weil man der Meinung war, dass es nach der Einführung der allgemeinen Wehr- pflicht nicht an Militärärzten fehlen werde. Diese Voraussetzung er- füllte sich nicht, und die Wiedererrichtung einer militärärztlichen Schule wird eines Tages vielleicht ein Gebot der Noth wendigkeit sein. Eine Militärmacht von dem Range des österreichischen Kaiserstaates bedarf einer Bildungsanstalt für Militärärzte, wie das Beispiel von Frankreich, Preussen und Russland lehrt. Ihre Form und Organisation mag von derjenigen des ehemaligen Josefinums abweichen; aber ihre Existenz liegt im Interesse des Staates und der Armee.

Die Zahl der vorhandenen medicinischen Facultäten steht zu der Grösse und Bevölkerung der österreichisch -ungarischen Monarchie in keinem entsprechenden Verhältniss. Die Frequenz derselben ist in Folge dessen ausserordentlich gross; in Wien betrug die Zahl der Studierenden der Medidn in den letzten Jahren durchschnittlich weit über 2000. Die Ursachen, dieser Erscheinung liegen theils in dem günstigen Ruf, den die dortigen Lehrkräfte und Lehrmittel gemessen, theils in dem Umstände, dass viele arme Studenten in der Grossstadt finanzielle Unterstützungen oder die Gelegenheit zum Erwerb durch Ertheilung von Lektionen oder dgl. zu finden glauben. Schon Peteb

458 Der medidnisGhe Unterricht in der neuesten Zeit,

Teank^ beklagte diese namentlich in Wien sehr verbreitete Sitte, weil die Studierenden der Medicin dadurch ihren eigentlichen Auf- gaben entzogen und zu einer Thätigkeit gedrängt werden, die für ihre fachmännische Ausbildung gänzlich werthlos ist Wenn sie dabei nicht eine hervorragende Begabung besitzen, so scheitern sie an diesen Hinder- nissen und erreichen das Ziel ihrer Studien niemals.

Es ist begreiflich, dass die ÜberfüUung der Hörsäle und Kliniken für das Studium der Heilkunde keineswegs forderlich ist; denn hier gilt es, jedes Objekt, jeden Kranken zu sehen und genau zu beobachten, jedes Experiment mit Yerständniss zu verfolgen. Man hat daher daran gedacht, wie dem Übelstande, dass die vorhandenen Bäumlichkeiten der Zahl der Studierenden nicht genügen, abzuhelfen sei, und zu diesem Zweck den Numerus clausus vorgeschlagen;^ aber die Schwierigkeit, bei der Aufnahme der Studierenden eine Grenze zu finden, welche den Bedingungen der Gerechtigkeit und Zweckmässigkeit entspricht, und. noch mehr die Scheu vor der gewaltsamen Herabdrückung der Wiener Hochschule müssen vor einem solchen Experiment warnen. Die me- dieinisohe Facultät zu Wien darf nicht mit dem Maassstabe einer Landes- hochschule gemessen werden. Ihre Geschichte, ihre Einrichtungen, ihr reiches Lehrmaterial haben ihr einen Weltruf verschafft Sie bildet änen der wenigen Vereinigungspunkte, welche die Angehörigen der verschiedenen Völker der Monarchie zusammenführen, und scheint durch ihre geographische Lage zu der grossen culturhistorischen Aufgabe be- rufen zu sein, dem Orient die wissenschaftliche Medicin Europas zu übermitteln. Die Herabsetzung der Wiener medicinischen Schule wäre, ein Verbrechen gegen den Staat, gegen die Wissenschaft, gegen die Menschheit

Wenn es ihr an den erforderlichen Bäumlichkeiten für die Lehr- institute fehlt, so müssen dieselben erweitert, oder durch die Errichtung neuer Anstalten vermehrt werden. Allerdings werden auch Vorkehrungen nothwendig sein, um ungeeignete Elemente vom Studium fern zu halten, damit die fruchtbringende Saat nicht vom Unkraut unterdrückt wird. Die Erhöhung der CoUegien-Honorare, welche in Osterreich geringer sind als in irgend welchem andern Lande, keineswegs aber blos zur Vermehrung der Einnahmen der Professoren, sondern hauptsächlich zur Vergrosserung und Verbesserung der Unterrichts-Anstalten verwendet werden sollten, die Strenge der Prüfungen und andere Mittel werden diesem Zweck dienen.

» F. Frank a. a. 0. VI, 1, S. 336.

* Th. Billroth: Aphorismen, Wien 1886.

Osterreich - Ungarn. 459

Daneben ist es sicherlich wünschenswerth, dass zur Entlastung der überfüllten medicinischen Facultäten einige neue ärztliche Schulen er- richtet werden, z. B. in Salzburg, wo bereits früher einmal eine Uni- versität bestanden hat,^ die erforderlichen Gebäude und Lehrmittel zum Theil noch vorhanden oder wenigstens leicht zu beschaflFen sind, und die entzückende Anmuth und Gjossartigkeit der landschaftlichen Um- gebung die Studierenden aus weiter Feme, selbst aus dem Auslande, anziehen würde, femer in Brunn oder Olmütz, in Lemberg oder Czemowitz, in Agram und in einem oder zwei Orten Ungarns. Einzelne dieser Städte besitzen bereits mehrere Facultäten, so dass sie durch die Hinzufügung einer medicinischen zu einer Universität vervollständigt werden.

Im J. 1872 wurden neue Prüf ungs Vorschriften für das Studium der Medioin gegeben, nach denen die gesonderten Diplome für die ein- zelnen Zweige der Heilkunde aufhörten. Bis dahin gab es Doktoren der Medicin, Doktoren und Magister der Chirurgie, Geburtshelfer und Augenärzte; doch wurde schon 1848 bestimmt, dass die Diplome in der Chirurgie, Geburtshilfe und Augenheilkunde nur an solche Be-, Werber verliehen werden durften, welche bereits Doktoren, der Mediöiu waren oder, wenn sie der niederen Kategorie der Arzte angehörten, das Magisterium der Chimrgie erworben hatten. Mit der Aufhebung des Standes der niederen Ärzte wurde beschlossen, künftig nur noch eine einzige Klasse von Ärzten auszubilden, welche sämmtlich die gleiche Vorbildung besitzen, denselben Studiengang durchmachen, nach den gleichen Vorschriften geprüft und hierauf zu Doktoren der*ge- sammten Heilkunde promovirt werden, womit das Recht zur Ausübung der Praxis aller Theile der Medicin verbunden ist.

Wer zum Studium der Medicin zugelassen werden will, muss das Gymnasium vollständig absolvirt und das Maturitäts-Examen bestanden haben. Die Studienzeit an der Universität dauert 5 Jahre. Die Prüfungen finden theils während, theils nach derselben statt. Sie beginnen mit den naturhistorischen Prüfungen über Mineralogie, Botanik und Zoologie, welche bereits im Verlauf des ersten Studienjahres abgelegt werden können. Nur Derjenige, welcher dieselben mit Erfolg bestanden hat, darf sich den eigentlichen ärztlichen Prüfungen unterziehen. Die erste, umfasst die Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie und besteht aus einer theoretischen Gesammtprüfong über diese Fächer und der Anfertigung oder Demonstration eines anatomischen und eines mikro-

^ J. Matr: Die ehemalige Universität Salzburg, 1859. L. Spatzenegger: Die Salzburger Universitfit, Salzburg 1872.

460 Der medidnische ünterriM in der nettesten Zeit,

skopischen Präparats, der Ausführung einer chemischen Analyse und der Erklärung physikalischer und physiologischer Apparate. Dieses Examen darf nicht früher als nach Ablauf des zweiten Studienjahres geschehen, während das zweite und dritte Kigorosum erst nach der Beendigung der Studienzeit absolvirt werden kann.

Der Candidat, welcher sich zu den letzteren meldet, ist verpflichtet, durch Zeugnisse nachzuweisen, dass er durch je 4 Semester die me- dicinische und die chirurgische Klinik, und zwar durch je zwei Semester als Praktikant, sowie mindestens je 1 Semester die geburtshilfliche und die ophthalmiatrische Klinik als Praktikant besucht und das erste ßigorosum erfolgreich bestanden hat. Das zweite handelt über all- gemeine Pathologie und Therapie, pathologische Anatomie und Histologie, Pharmakologie und innere Medicin, und besteht aus einer praktischen Prüfung über pathologische Anatomie (am Präparat und an der Leiche), der Untersuchung mehrerer Kranken und einer theoretischen Gesammt- prüfting über alle 4 Disciplinen, Das dritte Rigorosum erstreckt sich über Chirurgie, Augenheilkunde, Gynäkologie und gerichtliche Medicin, und zerfallt in praktische Prüfungen am Krankenbett und an der Leiche, z. B. Untersuchungen der Kranken, Anlegen von Verbänden, Operationen an der Leiche, Übungen am Phantom u. a. m. und in ein theoretisches Examen über sämmtliche 4 Fächer. An diese Prüfungen schliesst sich die Doktor-Promotion und die Erlaubniss zur. ärztlichen Praxis an. '

Als Examinatoren wirken bei den drei ärztlichen Prüfungen die Professoren der betreffenden Unterrichtsgegenstände; ein von der Regierung ernannter Commissar, welcher Doktor der Medicin und ge- wöhnlich ein höherer Beamter des Sanitätsdienstes ist, hat die Aufgabe, die Prüfungen im öffentlichen Interesse zu überwachen. Übrigens wurde das Maass des Wissens, welches dabei verlangt wird, und die Dauer und Form der Prüfungen durch genaue Instruktionen ausführlich erläutert. ^

Ärzte, welche sich dem öffentlichen Sanitätsdienst widmen wollen, müssen den Nachweis liefern, dass sie nach der Promotion noch min- destens zwei Jahre hindurch in einem öffentlichen Krankenhause angestellt waren, oder durch drei Jahre die Praxis ausgeübt, sich psychiatrische Kenntnisse erworben und eine gewisse Fertigkeit in der Ausführung der Vaccination angeeignet haben, und sich dann einer Prüfung über Hygiene und Sanitätsgesetzkunde, gerichtliche Medicin, Pharmakognosie und Toxikologie, Chemie und Veterinärpolizei unter-

^ Thaa a. a. 0. Supplem.-Heft S. 647 u. ff., 690 u. ff.

Österreich - Ungarn, 46 1

werfen, welche theils schriftlich, theils mündlich, theils praktischer Natur ist.^

Eine vortreffliche Einrichtung zur Heranbildung tüchtiger chirur- gischer Operateure besteht an der Wiener Hochschule. Im J. 1807 wurde nämlich die Anordnung getroffen, dass 6 Studierende der Heil- kunde, welche ihre Studien mit ausgezeichnetem Erfolg absolvirt hatten, durch zwei Jahre an der chirurgischen Klinik beschäftigt und in der Ausführung chirurgischer Operationen am todten und am lebenden Körper unterrichtet wurden. Sie bezogen während dieser Zeit bei freier Wohnung ein Jahres-Stipendium von 300 Gulden und übernahmen dafür die Verpflichtung, ihre Kunst im Inlande auszuüben. Die Stände mehrerer Kronländer gründeten ähnliche Stellen für Studierende, welche aus den- selben stammten und sich dort niederlassen wollten. Man hoffte da- durch eine Klasse geschickter und erfahrener Chirurgen heranzubilden, welche später als akademische Lehrer, als Direktoren und Vorstände von Hospitälern und chirurgischen Kranken-Abtheilungen, als Sanitäts- beamte oder in der Privatpraxis in den verschiedenen Theilen der Monarchie eine segensreiche Wirksamkeit entfalten konnten. Gleich- zeitig wurde am Josefinum ein solches Institut errichtet, damit auch das Heer mit geübten Operateuren versehen werde. Als an der Wiener medicinischen Facultät eine zweite chirurgische Klinik gegründet wurde, wurden auch dieser eine Anzahl Studierender zur Ausbildung zu Operateuren zugewiesen. Seit 1870 werden diese Stellen nur auf ein Jahr verliehen; doch kann eine Verlängerung um ein zweites und drittes Jahr auf Antrag des Professors der chirurgischen Klinik ge- währt werden.

Die Bewerber müssen Doktoren der gesammten Heilkunde sein und in einer Prüfung über Anatomie und Chirurgie ihre Begabung für den Beruf eines Operateurs darthun. Nur ein Theil derselben bezieht Stipendien; die übrigen studieren auf eigene Kosten. An keiner der beiden chirurgischen Kliniken darf ihre Zahl grösser als acht sein.

Ähnliche Einrichtungen wurden 1882 an den geburtshilflichen Kliniken der Wiener Hochschule getroffen, um die Heranbildung ge- schickter geburtshilflicher Operateure zu erzielen.

Einige Bedenken, zu welchen das medicinische ünterrichtswesen Österreichs Veranlassung giebt, wurden in der Presse schon oft er- örtert. Zunächst nehmen die Vorlesungen und Prüfungen über die für das Studitim der Heilkunde vorbereitenden Wissenschaften mehr Zeit in Anspruch, als es nach dem Lehrplan der Gymnasien gerechtfertigt

* Reichsgesetzblatt 1873, 29. März, Stück 12.

462 Der medidnisehe ühterrickt in der neuesten Zeit

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erscheint; derselbe widmet nämlich den Naturwissenschaften so viele Unterrichtsstunden, dass man annehmen darf, dass die Studierenden, wenn sie die Universität beziehen, vom Gymnasium eine allgemeine naturwissenschaftliche Vorbildung mitbringen, die wenigstens in Bezug auf die Mineralogie, Botanik und Zoologie so weit reicht, dass es über- flüssig wird, das erste Studienjahr nahezu vollständig auf diese Dis- ciplinen zu verwenden, wie es jetzt häufig geschieht.^

Auch die Einrichtung, dass diese Prüfungen ebenso wie auch das erste Rigorosum in die Studienzeit verlegt werden, hat einige Nach» theile im Gefolge; denn sie veranlasst manche Studierende, die Zeit für die Vorbereitung dazu den Collegien, die sie hören sollen, fortzunehmen. Noch weit schädlicher wirkte in dieser Hinsicht die bisherige Gewohn- heit der Studierenden, ihrer Militärpflicht während der Studienzeit zu genügen. Allerdings wurden sie als militärärztliche Eleven den Garnison- Spitälern zugetheilt, damit sie im Sanitätsdienst verwendet wurden; aber dazu fehlten ihnen die erforderlichen medicinischen Kenntnisse. Sie wurden somit dem systematischen Gange ihrer Studien entrissen, ohne dass sie oder die Armee irgend welchen Nutzen davon hatten. Nach dem neuen Wehrgesetz sind die Studenten der Medicin ver- pflichtet, ein halbes Jahr mit der Waffe und ein halbes Jahr als Ärzte zu dienen. Das erste kann während der Studienzeit und zwar inner- halb eines Sommersemesters, das letzte selbstverständlich erst nach der Beendigung der Studien absolvirt werden. Um deren Unterbrechung durch den Militärdienst mit der Waffe zu vermeiden, ist es wünschens- werth, dass derselbe entweder vor dem Beginn oder nach der Beendigung des Universitäts-Studiums abgemacht wird.

Wenn in Wien darüber geklagt wird, dass der Besuch der Collegien von Seiten der Studierenden unregelmässig ist, so sollte man Vor- kehrungen treffen, um die Ursachen, welche dieser Erscheinung zu Grunde liegen, zu beseitigen. Dass an klinischen Instituten, welche von Hunderten von Schülern besucht werden, die Form der Prakti- kanten-Thätigkeit, wie sie jetzt üblich ist, für die ärztliche Büdung nicht genügt, ist begreiflich; hier könnte man an Einrichtungen denken, ähnlich der Stage an den medicinischen Schulen in Frankreich und England. 2 Ob bei dem Mangel derselben die gegenwärtige Art der Prüfung in der praktischen Heilkunde, bei welcher von einer längeren Beobachtung und Behandlung der vorgestellten Kranken

* Betrachtungen über unser medicinisches Unterrichts wesen, Wien 1886, S. 14. ' Schon P. Frank (VI, Abth. 2, S. 266) wünschte, dass alle Primar-Ärzte des Wiener allgemeinen Krankenhauses klinischen Unterricht ertheilen.

Die deutschen Mittel' u, Kleinstaaten vor d, Oründg. des De/utschen Reiches, 463

abgesehen wird, genügt, um die Befähigung zur Ausübung der ärzt- lichen Praxis zu erkenneu, darf wohl mit Recht bezweifelt werden.

Würde nach der Beendigung der Rigorosen noch eine die wich- tigsten Unterriohtsgegenstande umfassende Schlussprüfung stattfinden, so würde dadurch nicht blos eine Controlle der einzelnen Prüfungen herbeigeführt, sondern zugleich die Möglichkeit geschaffen, einen Total- Eindruck über das Wissen des Candidaten zu gewinnen.

Die österreichische Unterrichts -Verwaltung, welche eifrig bemüht ist, das ärztliche Bildungswesen zu verbessern und durch die Errichtung neuer Lehr-Institute und Lehrkanzeln zu. vervollständigen, wird diese Bemerkungen mit wohlwollender Nachsicht aufriehmen und mit dem Interesse fiir die Sache, durch welches sie hervorgerufen wurden, ent- schuldigen.

Die deutschen Mittel- und Kleinstaaten vor der Gründung des Deutschen Reiches.

Die politische Zerrissenheit des deutschen Reiches und die Auto- nomie der einzelnen Länder desselben führte zur Gründung zahlreicher Hochschulen, von denen manche ein kümmerliches Dasein fristeten. Es mangelte ihnen an Lehrern und an Schülern, und sie besassen weder Lehrmittel noch gesicherte Einnahmen zur Bestreitung der noth- wendigen Bedürfuisse. Sie wurden daher auch nicht sehr vermisst, als sie „theils in Folge eines langen Siechthums, theils durch gewaltsame, mitunter als Vereinigung mit einer anderen Hochschule beschönigte Unterdrückung" aufhörten zu existiren.^

Dieses Schicksal hatten die Universitäten zu Bützow, welche 1789 mit der Hochschule zu Rostock vereinigt wurde, zu Stuttgart, die 1794 mit der Tübinger Universität verschmolz, zu Bonn, welche in demselben Jahre aufgelöst wurde, zu Köln, Trier und Mainz, denen 1798 ein Ende bereitet wurde, zu Bamberg, welche 1803, und zu Dillingen, Fulda und Duisburg, die 1804 aufgehoben wurden. Helmstädt, Rinteln und Altdorf verloren 1809, Frankfurt a/0. 1811, Paderborn 1815, Erfurt 1816, Wittenberg und Ellwangen 1817 und Herbom und Münster, wo jedoch eine theologische und philosophische Facultät zurück- blieb, 1818 ihre Hochschule.

* J. V. Döllinqer: Die Universitäten sonst und jetzt, München 1867.

464 Der medioinisohe Unterricht in der nettesten Zeit,

Die politischen Umwälzungen jener Periode, welche die Landkarte Deutschlands häufig verändert und manche Landestheile bald diesem, bald jenem Staat zugewiesen hatten, übten auch auf das medicinische Unterrichtswesen einen grossen Einfluss aus. Einzelne Universitäten, wie Salzburg, Innsbruck, Würzburg und Freiburg wurden dadurch einem beständigen Wechsel in ihren organisatorischen Einrichtungen unterworfen, der für die Entwickelung des Unterrichts keineswegs för- derlich war.

Bessere Zustände traten erst ein, nachdem der Friede errungen worden war und die durch denselben begründeten Staatsgebilde in Deutschland eine dauernde Form angenommen hatten. Neben den beiden deutschen Grossmächten Österreich und Preussen bestanden fortan die Königreiche Bayern mit den Universitäten zu Landshut, welche bis 1802 in Ingolstadt war und 1826 nach München verlegt wurde, zu Würzburg und Erlangen, Würtemberg mit der Hochschule zu Tü- bingen, Sachsen mit derjenigen zu Leipzig und Hannover mit der Uni- versität Göttingen, die Grossherzogthümer Baden mit den Hochschulen zu Heidelberg und Freiburg, Mecklenburg mit der Universität Rostock, Hessen mit derjenigen zu Giessen, das Kurfürstenthum Hessen mit der Hochschule zu Marburg, und die sächsischen Herzogthümer mit der Universität Jena, das mit Dänemark vereinigte Herzogthum Schleswig- Holstein mit der Hochschule zu Kiel, und eine grosse Anzahl von Staaten, welche keine Universitäten besassen.

Das medicinische Unterrichtswesen gestaltete sich in den verschie- denen Ländern bei manchen Eigenthümlichkeiten im Allgemeinen ziem- lich gleichartig. Die Einrichtungen in Österreich und Preussen dienten, nachdem die Erinnerungen an die Franzosenzeit verklungen waren, den Meisten als Vorbild, wenn auch bisweilen das Streben nach Originalität hervortrat und beachtenswerthe Resultate erzielte.

Über die Bildung der Ärzte in Bayern am Schluss des vorigen Jahrhunderts geben die medicinischen Studienpläne, welche 1774, 1776, 1784 und 1799 für die Hochschule zu Ingolstadt vorgeschrieben wurden, genaue Aufschlüsse.^ Damach wurde von den Studierenden, welche die medicinische Doktor -Würde anstrebten, eine philosophische Vor- bildung und ein dreijähriges Fachstudium verlangt. Alle drei Monate wurden sie geprüft; das der Promotion vorausgehende Examen dauerte 5 Stunden. Seit 1 788 wurde ausser dem medicinischen Doktorat auch dasjenige der Chirurgie verliehen. Aber erst i. J. 1807, nachdem Bayern zu einem Königreich erhoben worden war, wurde angeordnet, dass die

* Prantl a. a. 0. I, 676 u. ff.

Die deutschen Mittel- u. Kleinstaaten vor d. Oründg. des Deutschen Reiches, 465

Promotionen nicht mehr, wie bisher imperiali et pontifida aiictoritale, sondern regia auctoritate vorgenommen wurden.

Unter dem Ministerium Montgelas wurde den Hochschulen Bayerns eine neue Organisation gegeben, welche die Denkweise des Napoleoni- schen Zeitalters wiederspiegelt. Mit einem Federstrich wurde darin die alte historische Eintheilung nach den vier Facultaten beseitigt und statt dessen alle Lehrgegenstande in zwei Klassen geschieden, von denen die eine diejenigen Wissenschaften umfasste, welche zum Begriff der Allge- meinbildung gezogen werden können, die andere die für einen bestimmten Lebensberuf vorbereitenden DisoipJinen enthielt. Jede dieser beiden Gruppen zerfiel in 4 Abtheilungen. Die erste bildeten 1) die Philo- sophie mit ihren Nebenzweigen, 2) die Mathematik und die Natur- wissenschaften, 3) die Geschieht« (Culturgeschichte), 4) die alten und neuen Sprachen; die zweite Klasse bestand 1) aus den für die Bildung des religiösen Volkslehrers erforderlichen Kenntnissen (Theologie), 2) der Kechtskunde, 3) den staatswirthschaftlichen und Oameral-Wissenschaftien und 4) der Heilkunde.

Die Lehrkörper setzten sich zusammen aus ordentlichen und ausser- ordentlichen Professoren und Privatdocenten, „zur Aushilfe, um sie zu Lehrern nachzubilden". Jede Abtheilung wählte ein Mitglied in den Senat, welcher die Angelegenheiten der Universität leitete. Diese Ein- theilung deckte sich mit der früheren insofern, als die erste Klasse die von der philosophischen Facultät vertretenen Fächer enthielt, die zweite aus den übrigen Facultaten gebildet wurde. Sie erhielt sich einige Jahre und ging dann allmälig wieder in die frühere Form über.

Das ärztliche Bildungswesen wurde durch das organische Edikt vom 8. September 1808 geregelt. In demselben wurde angeordnet, „dass nur Derjenige zur ärztlichen Praxis zugelassen werde, der die Prüfungen über den Theil der Heilkunst, den er ausüben will, bestanden hat". Gleichzeitig wurde aber bestimmt, „dass die Wundarzneikunst in Zukunft nur von jenen Individuen ausgeübt werde, welche die Arznei- wissenschaften erlernt haben", und den Universitäten befohlen, „Nie- mandem einen akademischen Grad aus der Chirurgie zu ertheilen, der nicht bereits denselben in der Medicin erworben hat".

Die Studienzeit an der Universität dauerte drei Jahre. Am Schluss eines jeden Semesters fanden Prüfungen über die im Studienplan vor- geschriebenen Disciplinen statt. Fielen dieselben ungünstig aus, so mussten sie wiederholt werden. . Nach der Beendigung der Studien er- folgte ein Examen, bei welchem mehrere Fragen unter Clausur, wenn möglich in lateinischer Sprache, beantwortet, ein Kranker in der Klinik untersucht und behandelt und eine theoretische Gesammtprüfung über

PusciiMANN. Uuterriclit. 30

466 Der medidniscke Unterricht in der neuesten Zeit.

alle Unterrichtsgegenstande abgelegt wurde. Wenn der Candidat nicht blos die medicinische, sondern zugleich die chirurgische Doktor -Würde erlangen wollte, so musste er ausserdem eine chirurgische Operation an der Leiche ausführen und einen Verband anlegen. Mit der Aus- arbeitung einer Dissertation und der Vertheidigung der aufgestellten Thesen waren dann alle wissenschaftlichen Forderungen erfüllt, welche der Promotion vorausgingen.

Aber damit war keineswegs die Berechtigung zur ärztlichen Praxis verbunden, sondern der junge Doktor musste sich zu diesem Zweck noch zwei Jahre in einem Krankenhause oder unter der Anleitung eines vielbeschäftigten Arztes in der praktischen Heilkunst vervoll- kommnen und hierauf einer Prüfung unterziehen, welche aus der Probe- Relation, bei der 10 Fragen aus der internen Medicin, Chirurgie, Ge- burtshilfe, Thierarzneikunde und gerichtlichen Medicin schriftlich unter Clausur beantwortet, ein Krankheitsfall behandelt und eine mundliche Prüfung abgelegt wurde, und der Concurs-Prüfung bestand, welche den Zweck hatte, die tüchtigsten Candidaten herauszufinden, um sie für den Staatsdienst in Aussicht zu nehmen, und sich hauptsächlich auf einige schriftliche Clausur-Arbeiten über Gegenstände der praktischen Medicin beschränkte. Die praktische Befähigung zur Ausübung der Geburtshilfe erwarben die Ärzte in einer Entbindungsanstalt.

Neben den Doktoren der Heilkunde gab es noch Landärzte und Chirurgen, welche in besonderen Lehranstalten unterrichtet wurden.

Eine neue Studien- und Prüfungsordnung für die Studierenden der Heilkunde wurde am 30. Mai 1843 erlassen. In derselben wurde bestimmt, dass sie nach einem zweijährigen Studium an der Universität die Admissions- Prüfung ablegen, welche sich über Zoologie, Botanik, Mineralogie, Chemie und Physik erstreckte. Hierauf begann das eigent- liche medicinische Fachstudium, welches nach einer dreijährigen Dauer, also nach fünQ ährigem Universitätsstudium mit einer Prüfung abge- schlossen wurde, welche in der x'lnatomie die Eröffnung einer der grösseren Höhlen des Körpers und die Demonstration der darin befind- lichen Eingeweide, sowie die Beschreibung eines selbstgefertigten und einiger anderer osteologischer, angiologischer oder neurologischer Prä- parate verlangte, in den übrigen Fächern sich jedoch auf die münd- liche Beantwortung der Fragen, die darüber gestellt wurden, beschränkte. Darauf folgte das Biennium practicum, welches zur Ausbildung in Spe- cialfächern benutzt und hauptsächlich an klinischen Lehranstalten und grossen Krankenhäusern zugebracht werden sollte.

Nach der Beendigung des Biennium practicum geschah die Schluss- prüfung, die an die Stelle der Probe-Relation und der Concurs-Prüfung

Die deutschen Mittet^ ü, Kleinstaaten vor d, Oründg, des Deutschen Beiofies. 467

trat, welche aufgehoben wurden. Der Candidat, welcher sich derselben unterzog, musste durch Zeugnisse nachweisen, dass er in der Klinik 3 interne und 3 chirurgische Fälle behandelt und bei 3 Geburten assistirt habe, und die darüber verfassten Krankengeschichten vorlegen, beyor er zu der Prüfung zugelassen wurde. Die letztere bestand aus

a) einem praktischen Theile, nämlich der Ausführung von 3 chirurgi- schen Operationen an der Leiche, der Anlegung von 3 Verbänden und der Vornahme von 3 geburtshilflichen Operationen am Phantom,

b) einem mündlichen Examen über 1) Anatomie und Physiologie, 2) Pharmakologie und Pharmacie, 3) Allgemeine Pathologie und The- rapie, 4) Specielle Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten, 5) Chirurgie, 6) Geburtshilfe, 7) Veterinärkunde und 8) Gerichtliche Medicin und Sanitätspolizei, und endlich c) aus schriftlichen Cläusur- Arbeiten über Fragen aus denselben 8 Prüfungsgegenständen. Daran schloss sich die Vorlage einer Dissertation, die Vertheidigung der Thesen und der Promotions-Akt. Der Studierende war somit genöthigt, 7 Jahre an der Universität zu studieren, bevor er die medicinische Doktor- Würde erhielt, mit welcher zugleich die Erlaubniss zur Aus- übung der ärztlichen Praxis ertheilt wurde. Auch genügte sie für eine Anstellung im Sanitätsdienst; ein besonderes Examen war dafür nicht nothwendig. Das Prüfungsgeschäft lag vollständig in den Händen der Facultäten.

Die Prüfungsordnung vom 22. Juni 1858 führte anstatt der Ad- missions-Prüfung die naturwissenschaftliche ein, welche schon nach dem ersten Studienjahre abgelegt wurde und wie jene über Zoologie, Botanik, Mineralogie, Chemie und Physik handelte. Das zweite Examen, welches nach einem vierjährigen Fachstudium, also nach einem fünflährigen Aufenthalt an der Universität folgte, unterschied sich von dem früheren dadurch, dass neben der Anatomie auch die innere Medicin, Chirurgie, Augenheilkunde und Geburtshilfe praktisch geprüft wurde, indem der Candidat genöthigt wurde, zwei interne, zwei chirurgische und einen ophthalmiatrischen Krankheitsfall durch 8 Tage zu behandeln, zwei chirurgische und eine Augen-Operation an der Leiche auszuführen, zwei Verbände anzulegen, zwei Schwangere zu untersuchen, zwei geburts- hilfliche Diagnosen und Operationen am Phantom vorzunehmen und bei zwei Geburten zu assistiren. Im mündlichen Examen bildeten die Anatomie und Physiologie selbstständige Prüfungsfacher; die patholo- gische Anatomie wurde mit der allgemeinen Pathologie, die Geschichte

I

der Medicin mit der allgemeinen Therapie verbunden, während die Veterinärkunde, gerichtliche Medicin und Sanitätspolizei wegblieben. Das Biennium practicum wurde auf ein Jahr eingeschränkt, welches

30*

468 Der medioinisohe Unterricht in der nefussten 2kit,

zum Bestich der Vorlesungen über gerichtliche Medicin, Medicinal-Polizei, Psychiatrie und Thierarzneikunde, zur Ausbildung in einzelnen Special- fächern und zur Ausübung der poliklinischen Praktikanten -Thätigkeit verwendet wurde. Manche dienten während dieser Zeit zugleich als Hil&äxzte in einem Hospital oder bei einem Sanitatsbeamten.

Am Schluss des „praktischen Jahres'^ fand die Staatsprüfung statt, welche aber nur in München und zwar einmal im Jahre von einer aus Professoren, Medicinalbeamten und praktischen Ärzten zusammen- gesetzten und vom Ministerium ernannten Commission abgenommen wurde, sich über 1) Specielle Pathologie und Therapie, 2) Chirurgie, 3) Geburtshilfe, 4) Psychiatrie, 5) Staatsarzneikunde und 6) Thierheil- kunde erstreckte und sowohl mündlich als schriftlich geschah. Hierauf erfolgte die ärztliche Approbation.^

Nach der Gründung des deutschen Reiches wurde in den ver- schiedenen Staaten, welche dazu gehören, das medicinische Studium und Prüfungswesen einheitlich geregelt. Sie behielten sich jedoch die gesetzlichen Bestimmungen über die Ausbildung der Ärzte vor, welche sich dem öffentlichen Sanitätsdienst widmen. In Bayern wurde zu diesem Zweck i. J. 1876 eine Verordnung erlassen, nach welcher die Bewerber um eine ärztliche Stelle im Staatsdienst ihre Kenntnisse in der gericht- lichen Medicin, öffentlichen Gesundheitspflege, Medicinalpolizei und Psychiatrie sowohl mündlich als schriftlich und durch praktische Ar- beiten zeigen müssen.

Im Königreich Würtemberg legten die Studierenden der Medicin früher die erste Prüfung am Schluss der Studien ab. Sie war mündlich und schriftlich, fand vor der medicinischen Facultät zu Tübingen statt, und zerfiel in eine naturwissenschaftliche Abtheilung, welche die Zoologie, Botanik, Mineralogie, Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie um- fasste, in einen medicinischen Abschnitt, der über allgemeine und spe- cielle Pathologie, pathologische Anatomie und Heilmittellehre handelte, und einen chirurgischen Theil, welcher die specielle chirurgische Patho- logie, Operationslehre und topographische Anatomie betraf.*

Hierauf folgte ein Jahr der weiteren praktischen Ausbildung, das zum Hospitaldienst und zu wissenschaftlichen Reisen verwendet wurde, und dann das Staatsexamen, welches von dem Medicinal-CoUegium in Stuttgart abgenommen wurde, aus einer medicinischen, chirurgischen und geburtshilflichen Abtheilung bestand und nicht blos schriftlich

* Kegierungsblatt f. d. Königreich Bayern 1808, S. 2189 u. ff., 1843, S. 433, 1858, S. 873.

* V. A. Riecke: Das Medicinalwesen des Königreichs Würtemberg, Stutt- gart 1856.

Die deutschen Mittel- u, Kleinstcuxien vor d, Gründg, des Deutschen Beiches. 469

und mündlich, sondern auch praktischer Natur war, indem Kranke untersacht und behandelt, Operationen an der Leiche ausgeführt und Phantom-Übungen veranstaltet wurden.

Auch im Grossherzogthum Baden wurde die Erlaubniss zur ärzt- lichen Praxis durch die Staatsprüfung erworben, welche grösstentheils theoretisch war und yon einer Commission abgenommen wurde, die sich vorzugsweise aus Mitgliedern des Medicinal-Gollegiums zusammen- setzte. Die Doktor-Promotion war davon ganz unabhängig, geschah an den medicinischen Facultäten, bot nichts weiter als einen leeren Titel und wurde daher von manchen Ärzten gar nicht gesucht.

Im Königreich Sachsen gab es früher ausser den promovirten Ärzten, welche an der Universität zu Leipzig ihre Ausbildung erhielten, noch medicinae practici, Wundärzte und Geburtshelfer, die an der me- dicinisch-chirurgischen Akademie zu Dresden unterrichtet wurden. Die letztere ging 1815 aus dem GoUegium medico-chirurgicum hervor und bestand bis 1864.

Die medicinae practici waren eine niedere Klasse von Ärzten für innere Krankheiten und hatten nur ein sehr beschränktes Niederlassungs- recht. Die Wundärzte durften überall die chirurgische Praxis treiben, die Geburtshilfe jedoch nur dann, wenn sie sich der dafür vorgeschriebenen Prüfung unterzogen hatten. Auch konnten sich die medicinae practici die Legitimation zur Ausübung der chirurgischen und geburtshilflichen Praxis erwerben, wenn sie sich in diesen Theilen der Heilkunde exa- miniren Hessen.

Wer das Gymnasium absolvirt hatte und die Universität bezog, um sich dem Studium der Medicin zu widmen, legte nach dem zweiten Studienjahre das Baccalaureats-Examen, welches ungefähr dem jetzigen Tentamen physicum entsprach, und am Schluss der Studien vor der medicinischen Facultät die mit der Doktor-Promotion verbundene Appro- bations-Prüfung ab, die sich auf alle wichtigen Unterrichtsgegenstände erstreckte und ziemlich hohe Anforderungen stellte.

In den sächsischen Herzogthümem bestanden früher Staatsprüfungen, welche von den Examinations-Commissionen in den Hauptstädten der einzelnen Länder abgenommen wurden. Erst 1862 trafen Weimar, Coburg -Gotha und Altenburg ein Übereinkommen, womach das Prü- fuhgsgeschäft der medicinischen Facultät zu Jena übertragen wurde. Das Examen umfasste die wichtigsten Theile der Heilkunde, war mit praktischen Arbeiten, klinischen Demonstrationen u. dgl. verbunden und endete mit der Verleihung des Doktor-Diploms, auf Grund dessen die verschiedenen Staatsregierungen die ärztliche Approbation ertheilten.

Im Königreich Hannover wurden die Ärzte m der Universität zu

470 Der medidnische UnterriGht in der neuesten Zeit

Göttingen, die auf einer niedrigeren Bildungsstufe stehenden Chirurgen an der Chirurgen-Schule zu Hannover erzogen. Die ersteren machten nach etwa 7 Semestern die Doktorats-Prüfung, welche sämmtliche Hauptfächer der Medicin umfasste, aber keineswegs zur ärztlichen Praxis berechtigte. Die Approbation wurde lediglich durch das Staatsexamen erworben, welches von der von der Regierung ernannten Examinations- Commission abgenommen wurde.

Auch in Mecklenburg ^ existirten früher neben den Ärzten, die an der Universität zu Rostock ausgebildet und promovirt wurden, Chirurgen, welche durch eine Prüfung vor dem Medicinal-CoUegium die mehr oder weniger eingeschränkte Erlaubniss zur Ausübung ihrer Kunst erlangt hatten. Den Doktoren der Heilkunde wurde auf Gr^ind ihrer Zeugnisse von der Regierung die ärztliche Approbation ertheilt. Diese Prüfungsordnung wurde aber noch vor der Einführung der deutschen Reichsgesetze nach dem Muster der preussischen Prüfungsordnung umgeändert.

Im Grossherzogthum Hessen gab es nur eine Klasse von Ärzten. Zum Studium der Medicin wurde nur Derjenige zugelassen, welcher das Gymnasium absolvirt hatte. Die ärztlichen Prüfungen bestanden aus folgenden Theilen: 1) dem naturwissenschaftlichen Examen, welches die Mineralogie, Botanik, Zoologie, Physik und Chemie umfasste, 2) der anatomischen Prüfung, welche theoretisch und praktisch und sehr ein- gehend war, 3) der Schlussprüfung, die sich aus schriftlichen Arbeiten, dem Examen am Krankenbett und der mündlichen Schlussprüfurig zu- sammensetzte, die mit Ausnahme der Anatomie alle Zweige der Heil- kunde in Betracht zog. Hierauf folgte die Anfertigung einer Disser- tation, Vertheidigung der Thesen und Doktor-Promotion, mit welcher das Recht zur Ausübung der Praxis verbunden war.

In den deutschen Staaten, welche keine medicinischen Lehranstalten besassen, wie in Oldenburg, Braunschweig, Hamburg, Lübeck u. s. w. bestanden ebenfalls Prüfungsbehörden, welche sich aus Sanitätsbeamten und angesehenen Ärzten zusammensetzten und die ärztliche Approbation ertheilten.

* DobnblÜth: Darstellung der medicinischen Polizeigesetzgebung, Schwerin 1884.

Prev^sen und das jetzige Deutsche Reich, 4:1 \

Freussen und das jetzige Deutsche Reich.

Die brandenburgisch-preussische Monarchie erlangte im 18. Jahr- hundert eine hervorragende politische und militärische Machtstellung. Die Idee einer kräftigen Staatsgewalt, welche alle Theile der Verwaltung beherrscht und zum Wohl der Gesammtheit leitet, brach sich hier bald Bahn und erfüllte alle Kreise der Bevölkerung. Auch das medicinische TJnterrichtswesen blieb von dieser Tendenz nicht unberührt.

Schon 1725 wurde ein Staatsexamen eingeführt, welches bei der Leichtfertigkeit, mit der damals an manchen Orten ärztliche Diplome verliehen wurden, nothwendig sein mochte.^ Es beschränkte sich übrigens auf die Anatomie und die Beschreibung eines Krankheitsfalles, den der Candidat beobachtet hatte. Dazu kam später ein mündliches Examen über die wichtigsten Theile der Heilkunde. Im J. 1798 wurde bestimmt, dass anstatt der schriftlichen Bearbeitung eines Krankheits- falles zwei Kranke in Gegenwart des Examinators untersucht und durch 4 Wochen behandelt wurden. Die Studienzeit wurde auf mindestens 3 Jahre festgesetzt.

Eine vollständige Organisation des medicinischen Studien- und Prüfungswesens erfolgte i. J. 1825. Darnach unterschied man mehrere Kategorien von Heilkundigen, nämlich promovirte Ärzte, welche nur zur inneren Praxis oder zugleich auch zur Ausübung der Chirurgie berechtigt waren, und Wundärzte erster und zweiter Klasse. Dieselben waren ausserdem zur Ausübung der Geburtshilfe und der Augenheil- kunde legitimirt, wenn sie die dafür erforderlichen Prüfungen abgelegt hatten.

Die promovirten Ärzte wurden an den Universitäten ausgebildet. Sie mussten bei der Immatriculation den Nachweis liefern, dass sie das Gymnasium absolvirt und das Abiturienten -Examen bestanden hatten, sich hierauf durch 4 Jahre dem medicinischen Studium widmen und das letzte derselben zum Besuch der klinischen Lehranstalten benutzen. Es gab folgende Prüfungen: 1) das Tentamen philosophicum, welches 1826 eingeführt wurde, sich über Logik und Psychologie, Physik, Chemie, Mineralogie, Botanik und Zoologie erstreckte und von den Professoren der philosophischen Facultät in Gegenwart des Dekans der medicinischen Facultät abgenommen wurde, 2) das Tentamen medicum und Examen rigorosum, welche in einer schriftlichen Clausur- Arbeit und einem mündlichen Examen bestanden, über alle medicinischen

* L. V. Rönne und H. Simon: Das Medicinalwesen des Preussischen Staates, Breslau 1844, I, 344 u. ff.

472 Der medidnische UnternM in der neuesten Zeit,

Unterrichtsgegenstände handelten und zur Promotion berechtigten, 3) die Staatsprüfung, die nur in Berlin stattfand und das Recht zur ärztlichen Praxis gab.

Während das Tentamen medicum vor dem Dekan, und das Rigo- rosum vor den Professoren der medicinischen Facultät abgelegt wurde, wirkten bei der Staatsprüfung „theoretisch und praktisch wissenschaft- lich gebildete Männer aus allen Zweigen des heilkundigen Wissens" als Examinatoren. Professoren und andere Universitätslehrer sollten vom Prüfungsgeschäft principiell ausgeschlossen und höchstens nur als Prüfer über solche Fächer zugelassen werden, welche sie nicht lehren. Kein Mitglied dieser Examinations-Commission, welche alljährlich vom Mini- sterium ernannt wurde, durfte länger als 2 Jahre seine Funktionen ausüben.

Die Staatsprüfung setzte sich aus mehreren Abschnitten zusammen, von denen der erste die Anatomie, betraf, die Demonstration des Situs viscerum, die Anfertigung eines anatomischen Präparats und die Er- klärung anderer Präparate, welche dem Prüfling vorgelegt wurden, verlangte, der zweite über die innere Medicin handelte und in der Untersuchung und Behandlung von zwei Kranken durch 2 3 Wochen, an welche sich Fragen über andere Krankheitsfälle anschlössen, und einer praktischen Prüfung über Receptirkunst bestand, der dritte sich in ähnlicher Weise mit zwei chirurgischen Krankheitsfallen beschäftigte und der vierte, die mündliche Schlussprüfung, nochmals sämmtliche Lehrgegenstände umfasste und gleichsam als Controlie der voran- gegangenen Prüfungen diente. Hierauf wurde die Berechtigung zur Behandlung der inneren Krankheiten verliehen. Wer auch chirurgische Praxis treiben wollte, war verpflichtet, sich noch einer chirurgisch-tech- nischen Prüfung zu unterziehen, welche zwischen dem zweiten und dritten Abschnitt eingeschaltet wurde und darin bestand, dass der Can- didat ein chirurgisches Thema schriftlich bearbeitete, seine Kenntnisse in der Operationskunst und Instrumentenlehre zeigte, einen Verband anlegte und zwei Operationen an der Leiche ausführte. Wenn dieses Examen vorzüglich ausfiel, so erhielt er das Diplom als Operateur, im 'anderen Falle dasjenige als praktischer Arzt und Wundarzt. Doch wurde der Titel „Operateur" 1855 aufgehoben.

Die Wundärzte der ersten Klasse bedurften einer geringeren Allge- meinbildung und studierten durch 3 Jahre an einer medicinischen Facultät oder einer medicinisch-chirurgischen Lehranstalt; doch wurde ihnen ein Jahr der Studienzeit nachgesehen, wenn sie vorher zwei Jahre hindurch als Chirurgen niederer Kategorie thätig gewesen waren. Sie erhielten die Erlaubniss zur Ausübung der internen und chirurgischen Praxis,

Preussen tmd das jetzige Deutsche Reiek, 473

nachdem sie die Staatsprüfung bestanden hatten. Dieselbe wurde nach den gleichen Grundsätzen geregelt wie diejenige fiir die promovirt-en Ärzte und unterschied sich von ihr nur dadurch, dass sie keine natur- wissenschaftlichen Kenntnisse voraussetzte und geringere Anforderungen an die arztliche Bildung stellte. Sie fand in deutscher Sprache statt, während die Doktoren einen Theil der Prüfung in lateinischer Sprache ablegten.

Die Wundärzte zweiter Klasse erwarben die für ihren Beruf er- forderlichen Kenntnisse theils durch die Unterweisung eines Meisters ihrer Kunst, bei dem sie in die Lehre traten, theils durch den Dienst in den Militärlazarethen und Krankenhäusern oder durch den Besuch einzelner Vorlesungen an einer medicinischen Facultät oder chirurgisch- medicinischen Lehranstalt. In der Prüfung, welche von den Medicinal- Collegien der Provinzen abgenommen wurde, wurde verlangt, dass der Candidat drei Fragen über allgemeine Gegenstände der Physiologie, Materia medica et chirurgica und Eeceptirkunde, über Wiederbelebungs- versuche bei Scheintodten, Hilfeleistungen bei plötzlicher Lebensgefahr, vorläufige Anordnungen beim Ausbruch von Epidemien u. a. m. unter Clausur schriftlich beantwortete, den Situs viscerum demonstrirte, ein anatomisches Präparat anfertigte und andere Präparate, die ihm vor- gelegt wurden, erklärte, eine kleine Operation an der Leiche ausführte, einen Verband anlegte und am Kranken häufig vorkommende chirur- gische Krankheitszustände , wie Entzündungen, Eiterungen, Hernien, Beinbrüche, Verrenkungen, Brand u. a. m. diagnosticirte.

Die Berechtigung zur Ausübung der Geburtshilfe wurde nur an promovirte Ärzte und Wundärzte erster und zweiter Klasse, also an Personen verliehen, welche bereits zur ärztlichen Praxis in gewissen Beziehungen legitimirt waren. Vor der Prüfung, der sie sich zu diesem Zweck unterzogen, mussten sie den Nachweis liefern, dass sie einen vollständigen Cursus der Geburtshilfe absolvirt und zwei Geburten ge- hoben hatten; hierauf wurden sie veranlasst, drei Fragen aus diesem Gebiet schriftlich zu beantworten, ihre Fertigkeit im Touchiren ain Phantom und an der Schwangeren zu zeigen, die Wendung und die Extraktion mit der Zange am Phantom auszuführen und eine münd- liche Prüfung über Geburtshilfe abzulegen.

Zur Ausübung der Augenheilkunde war jeder Arzt imd Wundarzt berechtigt, welcher die chirurgische Praxis betreiben durfte. Ein be- sonderes Examen über AugenheUkunde war daher nur für diejenigen Ärzte vorgeschrieben, denen ein chirurgisches Diplom fehlte. Es bestand darin, dass 2 oder 3 Fragen über die Anatomie und Physiologie des Auges schriftlich beantwortet^ einige Augenoperationen an der Leiche

474 Der medidnische Unterricht in der neuesten Zeit.

gemacht, die Eenntniss der erförderlichen Instrumente dargelegt und ein mündliches Examen über Augenheilkunde abgelegt wurde.

Im öffentlichen Sanitätsdienst wurden nur promovirte Ärzte und Wundärzte erster Klasse angestellt, welche zur Ausübung aller Theile der ärztlichen Praxis befugt waren. Die ersteren wurden Physici, die letzteren forensische Wundärzte genannt. Die Bewerber um Stellen dieser Art mussten 4 Aufgaben aus der gerichtlichen Medicin schriftlich bearbeiten, wozu ihnen ein Zeitraum von mehreren Monaten gewährt wurde, eine gerichtsärztliche Obduktion vornehmen, eine Apotheke visi- tiren, ihre diagnostischen und therapeutischen Kenntnisse in der Thier- heilkunde praktisch bekunden und eine Prüfung über Staatsarzneikunde ablegen. Im Jahre 1850 wurde angeordnet, dass nur diejenigen Ärzte, welche in der Staatsprüfung das Prädicat „vorzüglich" erhalten hatten, sofort nach der Approbation zum Physikats-Examen zugelassen wurden, während die übrigen damit einige Jahre warten mussten.

Dieses durch seine verschiedenen Combinationen sehr complicirte Prüfungssystem hatte manche tTbelstände im Gefolge. Es schied die Ärzte in eine Menge von Gruppen, zwischen denen Competenz-Conflikte kaum zu vermeiden waren, setzte die Facultäten herab, kränkte die Universitätslehrer durch ein ungerechtfertigtes Misstrauen, indem es dieselben grundsätzlich vom Prüfungsgeschäft beim Staatsexamen aus- schloss, überbürdete die Examinationsbehörde, welche dabei thätig war, ernannte Personen zu Prüfern, welche zu diesem Amt nur selten be- fähigt und geeignet waren, und nöthigte die Prüfungs-Candidaten zu einem längeren Aufenthalt in Berlin, der mit vielen Unkosten ver- bunden war.

Diese Gründe in Verbindung mit der fortschreitenden Entwicke- lung der Medicin führten unter dem Druck des nach Gleichstellung und Gleichberechtigung ringenden Zeitgeistes zu einer theilweisen Um- gestaltung des medicinischen Studien- und Prüfungswesens. In den Jahren 1848 und 1849 wurden die medicinisch- chirurgischen Lehr- anstalten zu Breslau, Greifswald, Münster und Magdeburg, welche bis dahin neben den medicinischen Facultäten zur Ausbildung der Wund- ärzte gedient hatten und erst wenige Jahrzehnte vorher gegründet worden waren, aufgehoben und beschlossen, dass künftig keine Ärzte dieser Art mehr erzogen wurden.

Das Gesetz vom 8. Oktober 1852 bestimmte, dass es fortan nur eine einzige Klasse von Ärzten geben sollte, welche sich allen Prü- fungen unterziehen mussten und daher auch die Berechtigung zur ärzt- lichen Praxis in sämmtlichen Zweigen derselben erhielten. Sie wurden nur an den Universitäten ausgebildet und mussten das Tentamen

Pr&u8sen tmd das jetzige Deutsche Beiok. 475

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philosophicum, das Tentamen medicum und Examen rigorosum und endlich die Staatspnifung ablegen. Die letztere setzte sich zusammen aus den einzelnen Abtheilungen derselben, welche bisher für die pro- movirten Ärzte und Wundärzte vorgeschrieben waren; doch wurde der chirurgisch-klinische Abschnitt mit der chirurgisch-technischen Prüfung verschmolzen, und das geburtshilfliche Examen als besondere Abtheilung in die Staatsprüfung aufgenommen. Dieselbe bestand also aus dem anatomischen, medicinischen, chirurgischen und geburtshilflichen Examen und der Schluss-Prüfung, zu welcher nur Derjenige zugelassen wurde, der die vorhergehenden mit Erfolg bestanden hatte.

An dieser Prüfungsordnung wurden später einige durch die wissen- schaftlichen Bedürfnisse geforderte Veränderungen vorgenommen. So erhielt die anatomische Prüfung i. J. 1856 durch die Aufnahme der Physiologie eine andere Gestalt und bestand aus einem anatomischen Theile, nämlich einem osteologischen und einem splanchnologischen Extemporale (Situs viscerum) und der Anfertigung eines Nervenpräparats, und einem physiologischen Abschnitt, welcher zugleich die Histologie umfasste.

Im Jahre 1861 trat an die Stelle des Tentamen philosophicum, wel- ches aufgehoben wurde, das Tentamen physicum, bei welchem die Ana- tomie, Physiologie, Physik, Chemie und die beschreibenden Naturwissen- schaften, also die Mineralogie, Zoologie und Botanik, die 5 Prüfungsfacher bildeten. Es sollte unter der Leitung des Dekans der medicinischen Facultät stattfinden und nach dem zweiten Studienjahre abgelegt werden.

Im Jahre 1860 wurde angeordnet, dass jeder Candidat bei der Mel- dung zum Staatsexamen den Nachweis liefere, dass er die chirurgische und die medicinische Klinik durch je zwei Semester als Praktikant besucht hat.

Das Examen rigorosum blieb als Facultäts-Akt neben der Staats- prüfung in unveränderter Form bestehen.

Von den Universitäten, welche Preussen im Anfang unseres Jahr- hunderts besass, schienen einige wegen ihres spärlichen Besuches und der Nähe anderer, günstiger gelegener Hochschulen überflüssig zu sein. So zählte i. J. 1805 die Universität zu Erfurt bei 41 Lehrern nur 21 Studenten und diejenige zu Duisburg bei 12 Lehrern gleichfalls 2 1 Studenten ; stärker besucht waren die Hochschulen zu Prankfurt a/0., welche 1797 bei 21 Lehrern 174 Studierende hatte. Erlangen, wo 40 Lehrer und 202 Studenten waren, Königsberg mit 26 Lehrern und 346 Studenten und Halle mit 48 Lehrern und 762 Studenten.

Nachdem die Universitäten zu Duisburg und Erfurt aufgehoben. Erlangen au Bayern abgetreten und Wittenberg mit Halle, Frankr

476 Der medioinische Unterricht in der nmieaten Zie/U,

fürt a/0. mit Breslau verschmolzen worden war, blieben von den alten Hochschulen nur Königsberg, Halle und Breslau übrig, wo aber erst 1811 eine medioinische Facultät errichtet wurde. Dazu kamen die Universität zu Greifswald, welche mit Schwedisch-Pommern unter die preussische Herrschaft gelangte, und die zu Berlin und Bonn, welche neu gegründet wurden.

Die Berliner Hochschule trat i. J. 1810 ins Leben, während der Staat in Folge der Niederlagen von Jena und Auerstädt um die Hälfte seines früheren Umfanges verkleinert und zum Theil von feindlichen Truppen besetzt war. Es war sicherlich eine bewunderungswürdige Erscheinung, dass man in einer solchen Zeit allgemeiner Niedergeschlagen- heit daran denken konnte, der Wissenschaft Tempel zu errichten; sie zeigt, welchen Muth, welche moralische und intellektuelle Kraft man besass, und wie fest und sicher man auf die Wiedererhebung des Staates hoffte und baute. ^ Die medioinische Facultät der Universität Berlin entwickelte sich aus dem GoUegium medico-chirurgicum, an welchem, i. J. 1806 vor dem Ausbruch des Krieges bereits 18 ordent- liche und 2 ausserordentliche Professoren lehrten. Sie übernahm einen Theil ihrer Lehrkräfte und Lehranstalten und sorgte dafür, dass die- selben durch die Berufung hervorragender Gelehrter, wie Bjxl, Hüfe- LAKD, BuDOLPHi u. A. Und durch die Vermehrung der wissenschaftlichen Institute ergänzt und vervollständigt wurden.

Die militärärztliche Bildungsanstalt zu Berlin, welche 1795 auf Göboke's Veranlassung eine vortreffliche Organisation erhalten hatte, ^ wurde mit der Universität in der Weise verbunden, dass ihre Zöglinge an dem Unterricht, der dort ertheilt wurde, Theil nahmen. Dieselben schieden sich in solche, welche zu promovirten Ärzten ausgebildet wurden, und in solche, welche den Lehrcursus für die Wundärzte erster Klasse absolvirten. Nach der Aufhebung der letzteren Kategorie des Heilpersonals hörte auch die Ausbildung derselben für die Armee auf. Die Anstalt besteht heut als Convikt unter militärärztlicher Leitung. Die Studierenden erhalten vom Staat freie Wohnung, unentgeltlichen Unterricht und zum Theil sogar finanzielle Unterstützungen während ihrer Studien und übernehmen dafür die Verpflichtung, später eine ge- wisse Anzahl von Jahren in der Armee zu dienen. Die Überwachung der Studierenden wird Militärärzten übertragen, welche sich durch

* RuD. Köpke: Die Gründung der Friedrich- Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1860.

* J. D. E. Pbeuss: Das K. Preuss. medicinisch-chirurgische Friedlich -WÜ- helms-Iustitut zu Berlin, Berlin 1819, S. 23 U. ff*

Preussen tmd das jetzige Deiäscke Beioh. 477

Begabung und Geschicklichkeit auszeichnen; sie begleiten die Zöglinge in die Vorlesungen, wiederholen mit ihnen den Inhalt derselben und erhalten auf diese Weise die Gelegenheit, ihre eigenen medicinischen Kenntnisse zu befestigen und zu erweitern. Unsere Wissenschaft ver- dankt dieser Einrichtung manchen hervorragenden Forscher und Uni- versitätslehrer.

Die jüngste der preussischen Universitäten ist diejenige zu Bonn, welche i. J. 1818 gegründet wurde. Sie war ein Bedürfniss für die westlichen Provinzen, welche von den östlichen räumlich getrennt waren und ausser der theologisch-philosophischen Lehranstalt zu Münster keine Hochschule besassen.

Die politischen Ereignisse von 1866 hatten die Vermehrung der preussischen Universitäten um diejenigen zu Göttingen, Kiel und Mar- burg zur Folge, welche mit Hannover, Schleswig-Holstein und Kur- hessen unter die preussische Staatsverwaltung kamen. Als nach den glorreichen Siegen von 1870 das Elsass wieder mit Deutschland ver- einigt wurde, wurde die Universität Strassburg nach dem Muster der deutschen Hochschulen reorganisirt und in die Zahl derselben auf- genommen. Ihre Ausstattung mit reichen Lehrmitteln und hervor- ragenden Lehrkräften haben ihr bald einen bevorzugten Platz unter ihnen verschafft.

Mit der Errichtung des Norddeutschen Bundes, welcher durch den Eintritt der süddeutschen Staaten i. J. 1871 zum Deutschen Reiche er- weitert wurde, erfolgte eine einheitliche Organisation des medicinischen Studien- und Prüfungswesens. Auf Grund des §. 29 der Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 wurde der Beschluss gefasst, dass fortan nur die Centralbehörden derjenigen Bundesstaaten, welche eine oder mehrere Universitäten haben, befugt sind, die Approbation zur Ausübung der ärztlichen Praxis zu ertheilen, und zwar nur solchen Personen, welche die ärzi liehe Staatsprüfung bestanden haben. ^

Dieselbe kann an jeder zum Deutschen Reich gehörigen Universität abgelegt werden. Die Prüfungs-Commissionen werden von dem vor- gesetzten Ministerium alljährlich ernannt; sie bestehen aus Fachmännern aller Zweige der Heilkunde, vorzugsweise den Professoren und Docenten der betreffenden medicinischen Facultäten und einem Vorsitzenden, der die Verhandlungen leitet und überwacht. Die Medicinal-GoUegien und Examinations-Commissionen, welche bisher in den Hauptstädten der verschiedenen Bundesstaaten die ärztliche Staatsprüfung abgenommen hatten, stellten diese Thätigkeit ein, und das medicinische Staatsexamen

H. Eulenbebq: Das Medioinalwesen in Preussen, Berlin 1874, S. 309 u. ff.

478 Der medidnisehe ühterrioht in der nettesten Zeit

wurde eigentlich in eine von den Staatsbehörden beaufsichtigte Facultäts- prüfang umgewandelt.

Wer sich derselben unterziehen will, muss den Nachweis fuhren, dass er das Gymnasium absolvirt, das Tentamen phjsicum bestanden, die klinische Praktikanten-Thätigkeit durchgemacht und bei vier Ge- burten assistirt hat. Dagegen ist er nicht mehr, wie früher, verpflichtet, das Examen rigorosum abzulegen und die Doktor-Würde zu erwerben. Allerdings blieb den Facultäten das Recht, dieselbe nach einer voraus- gegangenen Prüfung zu verleihen; aber dies kann ebensowohl nach dem Staatsexamen geschehen als vor demselben und ist nur noch ein altes Herkommen, nicht mehr eine gesetzlich vorgeschriebene Ein- richtung.

Die Staatsprüfung wurde in fünf Abschnitte eingetheilt. Der erste umfasste die Anatomie, Physiologie und pathologische Anatomie und bestand in der Demonstration eines osteologischen und eines splanchno- logischen und der Anfertigung eines Nerven-Präparats, in der Lösung einer histologischen und einer physiologischen Aufgabe und der An- fertigung und Erklärung eines histologischen Präparats, in der Sektion einer Leiche mit Angabe der pathologisch-anatomisclien Ergebnisse und der Herstellung eines pathologisch-histologischen Präparats; die zweite Abtheilung betraf die Chirurgie und Augenheilkunde und verlangte, dass der Candidat zwei Kranke durch 8 Tage behandelte, die Fälle schriftlich bearbeitete, eine akiurgische, mit der Ausführung einer Operation an der Leiche verbundene Aufgabe, sowie eine Aufgabe über Frakturen und Luxationen löste, einen Verband anlegte und einen Augenleidenden untersuchte und behandelte; der dritte Abschnitt be- schäftigte sich in der gleichen Weise mit der inneren Medicin und forderte neben , der Behandlung zweier Krankheitsfälle die Beantwortung mehrerer Fragen aus der Materia medica, Toxikologie und ßeceptir- kunst; der vierte Abschnitt betraf die Geburtshilfe und Gynäkologie und verlangte die Leitung einer Geburt, die Behandlung der Wöch- nerin und die Ausführung von geburtshilflichen Operationen am Phantom; die mündliche Schlussprüfung endlich, welche den fünften Abschnitt bildete, erstreckte sich über allgemeine und specielle Pathologie, Chirurgie, Geburtshilfe, Materia medica, Staatsarzneikunde oder Hygiene. Die Auf- gaben wurden zum Theil durch das Loos bestimmt. Wer die Staats- prüfung mit Erfolg ablegte, erhielt das Recht, sich Arzt zu nennen, aber nicht den Doktor-Titel.

Will er den letzteren erlangen, so muss er denselben von irgend einer medicinischen Facultät erwerben. Die Bedingungen, unter welchen dies geschieht, sind an den einzelnen Orten verschieden. Die wissen-

Preussen und das jetzige Deutsche JReieh. 479

schaftlichen Anforderungen bestehen im Allgemeinen in einer münd- lichen Prüfung über die wichtigsten Fächer der Heilkunde, in der Ausarbeitung einer Dissertation in deutscher Sprache anstatt in latei- nisdier, wie dies früher üblich war, und in der Vertheidigung der aufgestellten Thesen.

Mehrere wichtige Änderungen in diesem Prüfungssj^stem brachten die Verordnungen vom 2. Juni 1883. Zunächst wurde bestimmt, dass die Mineralogie als Prüfungsgegenstand aus dem Tentamen physicum fortgelassen werde, weil alle Regierungen und Facultäten darin überein- stimmten, „dass die Mineralogie von allen Zweigen der Naturkunde dem künftigen Arzt am fernsten liegt und derselbe das Wenige^ was er aus dieser Disciplin wissen muss, in den Vorlesungen über Chemie und Arzneimittellehre erfährt." Auch die Prüfung in der Zoologie und- Botanik wurde eingeschränkt und angeordnet, dass sie zusammen nur als ein Prüfungsgegenstand betrachtet und nur eine Note über beide Fächer ertheilt werden soll. Man ging dabei von der Überzeugung aus, dass der Botanik und Zoologie ein gleiches Gewicht für das medicinische Studium und eine gleiche Berechtigung für den me- dicinischen Lehrplan wie der Physik und Chemie, ganz abgesehen von der Anatomie und Physiologie, in keiner Weise zugestanden werden könne, dass es ungerechtfertigt erscheint, von einem Studierenden der Medicin im vierten Semester neben genügenden Kenntnissen in der Ana- tomie, Physiologie, Physik und Chemie auch noch befriedigende Leistungen auf den ganz ungemein ausgedehnten Gebieten der Botanik und Zoologie zu verlangen, und geradezu unmöglich ist, dass derselbe in diesen beiden Wissenschaften den Anforderungen eines Fachprofessors ohne Vernach- lässigung der für seine Zukunft viel wichtigeren übrigen Fächer Genüge leistet. Aus diesen Gründen wurde sogar der Antrag gestellt, die Prüfung über Zoologie und Botanik den Studierenden der Heilkunde überhaupt zu erlassen, jedenfalls aber nicht von den Vertretern dieser Fächer, sondern von einem Mitgliede der medicinischen Facultät vornehmen zu lassen. Diese Erwägungen führten zu dem Beschluss, dass der Prüfling in der Zoologie hauptsächlich die Kenntniss der Grundzüge der ver- gleichenden Anatomie und Physiologie, und in der Botanik eine Über- sicht über die systematische Pflanzenkunde, namentlich mit Rücksicht auf die officinellen Pflanzen, und eine Kenntniss der Grundzüge der Anatomie und. Physiologie der Pflanzen besitzen soll.

Selbstverständlich werden Personen, welche an einer deutschen Uni- versität das Doktor-Diplom in den Naturwissenschaften erworben haben, von der Prüfung in. diesen Fächern im Tentamen physicum;^ dispensirt. Dasselbe ist mündlich und mit keinen praktischen Arbeiten verbunden..

480 Der mediciniache Unterrieht in der neuesten Zeit.

Gleichzeitig wurden die Bedingungen für die Zulassung zur Staats- prüfung verschärft und eine andere £intheilung derselben eingeführt. Der Candidat muss gegenwärtig, wenn er sich dazu meldet, nachweisen dass er mindestens 9 Semester anstatt, wie früher, nur 8 den me- dicinischen Studien gewidmet und je zwei Semester an der chirurgischen, medicinischen und geburtshilflichen und ein Semester an der ophthal- miatrischen Klinik als Praktikant thätig gewesen ist, und dass min- destens 4 Semester verflossen sind, seitdem er dsß Tentamen physicum abgelegt hat Im Jahre 1887 kam hierzu noch die Forderung, dass er sich die zur Ausübung der Impfung erforderliche Fertigkeit erwor- ben habe.

Die Staatsprüfung zerfallt in folgende Theile: 1) Normale Anatomie, 2) Physiologie, 3) Pathologische Anatomie und allgemeine Pathologie, 4) Chirurgie und Augenheilkunde, 5) Innere Medicin und Heilmittellehre, 6) Geburtshilfe und Gynäkologie und 7) Hygiene. In der Anatomie, Physiologie und pathologischen Anatomie prüft nur ein Examinator, in den übrigen Fächern dagegen zwei. Der Inhalt der Prüfung er- scheint nur in einzelnen Abschnitten, z. B. in der Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe, gegen früher ein wenig vermehrt Wenn der Examinand in einem Fach durchföUt, so muss er sich darin nach einem bestimmten Zeitraum nochmals prüfen lassen; versäumt er dies, so verlieren auch die übrigen, bereits erfolgreich bestandenen Theile der Prüfung ihre Geltung.

Einzelne Bestimmungen dieser Prüfungsordnung müssen Bedenken erregen. Hierher gehört zunächst die Fixirung der Studienzeit auf 9 Semester, während schon vor Jahrzehnten dieser Zeitraum in mehreren Bundesstaaten auf 10 Semester bemessen war. Die medicinische Wissen- schaft hat seitdem an Umfang und Tiefe sehr bedeutend gewonnen, und die Anforderungen, die an das Wissen der Ärzte gestellt werden, sind daher nicht vermindert, sondern im Gegentheil ausserordentUch vermehrt worden. Will man überhaupt eine bestimmte Studienzeit festsetzen, so sind 10 Semester das Mindeste, was gefordert werden kann.

Dazu kommt, dass das Semester, welches gegenwärtig zum Waffen- dienst verwendet wird, gewöhnlich in die gesetzliche Studienzeit fallt und in dieselbe eingerechnet wird. Dieses Zugeständniss ist keineswegs gerechtfertigt, da die Studierenden während der Erfüllung ihrer Militär- pflicht durch Aufgaben, welche sie körperlich und geistig vollständig in Anspruch nehmen, vom Studieren abgehalten werden.

Befremden erregte die Verordnung, dass die medicinischen Studien lediglich an den Universitäten des Deutschen Reiches absolvirt werden müssen. Für Juristen, welche später als Staatsbeamte thätig sind,

Pr&ussen v/nd das jetzige Deutsche E&ich. 481

würde eine derartige Bestimmung begreiflich erscheinen; den künftigen Ärzten, deren Beruf einen internationalen Charakter hat, sollte es ge- stattet werden, auch ausländische Hochschulen zu besuchen, wenn sie dadurch ihre Bildung vervollständigen uad ihren Gesichtskreis er- weitern.^ Gerade das deutsche Volk hat sich bisher dadurch aus- gezeichnet, dass es sich gegen die geistigen Bewegungen der übrigen Völker nicht verschloss, sondern deren Errungenschaften in sich aufnahm.

Eine eigenthümliche Stellung nimmt das Doktorat zum me- dicinischen Prüfungssystem in Deutschland ein. Da es weder zur ärztlichen Praxis berechtigt, noch eine Bedingung für die Zulassung zur ärztlichen Staatsprüfung ist, so erscheint es eigentlich überflüssig. Will man mit der Aufrechthaltung des Doktor-Titels den Gewohnheiten des Volkes entgegenkommen, so muss man denselben Jedem verleihen, der das ärztliche Staatsexamen bestanden hat. Soll er aber eine Aus- zeichnung für hervorragende wissenschaftliche Leistungen sein, so ist es nothwendig, dass die Anforderungen an das Wissen Derjenigen, welche sich darum bewerben, wesentlich erhöht werden.

Eine ausserordentlich glückliche und zweckmässige Einrichtung ist es, dass das Prüfungsgeschäft hauptsächlich den Facultäten, deren Mit- glieder durch ihre Sach- und Personalkenntniss ohne Zweifel dazu am meisten berufen sind, anvertraut und dabei doch der Staatsbehörde der berechtigte Einfluss gewahrt wird, den sie im Interesse der Bevölkerung ausüben kann und soll.

Manche Einzelheiten der Prüfungsordnung könnten vielleicht ver- bessert werden. So mag es zweifelhaft sein, warum in den Prüfungs- gegenständen der praktischen Heilkunde zwei Examinatoren erforderlich sind, während für die übrigen je einer genügt, da dadurch das an manchen Orten nur spärlich vorhandene klinische Material über Gebühr in Anspruch genommen wird, zwei gleichwerthige Examinatoren kaum irgendwo zu finden sind, und die Überwachung oder ControUe des einen Prüfers durch den andern hier ebenso wenig als in den Disciplinen der theoretischen Medicin nothwendig erscheint.

Auch die jetzige Form des letzten Abschnitts der Staatsprüfung befriedigt nicht. Mit dem gleichen Recht, wie die Hygiene, könnten auch die Psychiatrie, die gerichtliche Medicin, die Thierheilkunde und andere Fächer den Anspruch erheben, unter die Prüfungsgegenstände aufgenommen zu werden.

Gegenüber diesen kleinen Mängeln, deren Richtigkeit übrigens

^ K. Koester: Die Freizügigkeit der Studierenden der Medicin, Bonn 1884.

PuscHMAN-V, Unterricht. 31

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482 Der medieimsche Unterricht in der neuesten Zeit.

vielleicht noch zu erproben ist, besitzt das medicinische Untemchts- wesen Deutschlands so viele Vorzüge, dass es in andern Ländern mit Recht als musterhaft gilt und nachgeahmt wird.

Italien.

In der Lombardei und Venetien war das medicinische Unterrichts- wesen früher vollständig nach österreichischem Muster organisirt. Die medicinischen Facultäten zu Padua und Pavia standen in regem Ver- kehr mit den Universitäten der übrigen Kronländer des österreichischen Kaiserstaates und verdankten ihnen manche wissenschaftliche Anregung und Förderung. Die Fürsten aus dem österreichischen Herrscherhause richteten, wie Lodee^ bemerkt, „ihr Augenmerk auf eine gute Ein- richtung und Erhaltung der öffentlichen medicinischen Anstalten".

Im Kirchenstaat dauerte das medicinische Studium, nach einer Verordnung des Pabstes Leo XII. v. J. 1824 vier Jahre; hierauf folgte die Promotion zum Doktor der Medicin. Wer sich mit dem Doktorat der Chirurgie begnügte, studierte ein Jahr weniger und beschäftigte sich hauptsächlich mit den für seinen künftigen Beruf erforderlichen Unterrichtsgegenständen. Mit der Promotion war nicht die Berechtigung zur ärztlichen Praxis verbunden, sondern es wurde dazwischen noch das Biennium practicum eingeschaltet, welches zum Besuch der Kliniken und zum Hospitaldienst benutzt wurde.

In Toscana bestand die Einrichtung, dass die Mediciner 4 Jahre an der Hochschule zu Siena oder Pisa studierten und sich hierauf zur Fortsetzung ihi::er Studien nach Florenz begaben, wo sie in den mit dem Ospedale di S. Maria nuova verbundenen Instituten Gelegenheit erhielten, sich in der Heilkunst weiter auszubilden und zu vervoll- kommnen. Die Collegien, welche an der Universität besucht werden mussten, waren vorgeschrieben. Prüfungen, welche am Schluss eines jeden Jahres stattfanden, entschieden darüber, ob der Studierende zu den Vorlesungen des folgenden Jahrganges zugelassen wurde. Nach der Beendigung der gesammten Studienzeit legte er in Florenz das Staatsexamen ab, welches aus einem mündlichen theoretischen und einem praktischen klinischen Abschnitt bestand. Hierauf folgte die Aus-

^ E. V. LoDEu: Über ärztliche Verfassung und Unterricht in Italien i. J. 1811, Leipzig 1812.

Italim. 488

arbeitung und Vertheidigung von Thesen, die Doktor-Promotion und die Erlaubniss zur ärztlichen Praxis.

Ähnlich war es in andern Staaten Italiens. Der Einfluss Öster- reichs und Prankreichs, welcher sich auf yielen Gebieten der Verwaltung geltend machte, zeigte sich auch in den Einrichtungen des medicinischen Studienwesens.

Als sich die nationalen Hoffnungen Italiens erfüllten und die einzelnen Theile desselben zu einem politischen Gemeinwesen vereinigten, wurde eine einheitliche Organisation der medicinischen ünterrichts- verwaltung ermöglicht. Dieselbe erfolgte bereits aml6. November 1859 und war der erste Spatenstich einer grossen Cultur- Arbeit, deren Früchte mehr und mehr an das Tageslicht treten.

Gegenwärtig besitzt Italien 17 vom Staat und 4 von den Städten oder Landschaften erhaltene Universitäten. Die .Staatsuniversitäten werden in diejenigen erster und zweiter Ordnung geschieden. Zu der ersten Klasse gehören die Hochschulen zu Rom, Neapel, Turin, Bologna, Padua, Pavia, Pisa und Palermo, zur zweiten diejenigen zu Genua, Modena, Parma, Macerata, Siena, Cagliari, Sassari, Catania und Messina. Die letzteren sind zum Theil unvollständig, d. h. nicht mit sämmtlichen Facultäten versehen und besitzen weniger Lehrkanzeln und eine ge- ringere Zahl von Studierenden, als die ersteren. Die sogenannten freien Universitäten befinden sich zu Perugia, Urbino, Camerino und Ferrara. Ausserdem kommt noch das Institute superiore zu Florenz in Betracht, welches ebenfalls mit klinischen und anderen medicinischen Anstalten verbunden ist und Gelegenheit zum Studium der Heilkunde bietet.

Überall fehlen die theologischen Facultäten, da die Ausbildung des Klerus i. J. 1873 den Universitäten genommen und den bischöflichen Seminarien übertragen wurde. Man unterscheidet vier Facultäten, nämlich die juristische, medicinische, mathematisch-naturwissenschaft- liche und linguistisch-historische.

Das Studium der Medicin dauert 6 Jahre. Die Studierenden müssen sich bei der Immatriculation über ihre Vorbildung ausweisen. Wenn sie das Gymnasium und das Lyceum, welches etwa den drei oberen Klassen des deutschen Gymnasiums entspricht, nicht absolvirt und auch keine gleichwerthige Bildung erworben haben, so werden sie nur zum Besuch der Vorlesungen, aber nicht zu den Prüfungen und zur Promotion zugelassen. Den Studierenden wird ein Studienplan empfohlen, keineswegs jedoch vorgeschrieben. Sie werden nur in den wichtigsten Fächern der Heilkunde geprüft, und zwar geschieht dies unmittelbar, nachdem sie den Cursus darüber absolvirt haben. Das Examen wird von dem Professor, welcher den Gegenstand lehrty und

31*

484 Der medidnisehe Unterricht in der neuesten 2jeit.

zwei ihm beigeordneten Fachmännern abgenommen. Nachdem sie die einzelnen Special-Prüfungen über die verschiedenen Unterrichtsfacher, die sowohl theoretisch, als auch, wie z. B. in der descriptiven und der pathologischen Anatomie, Chirurgie, internen Medicin und Geburtshilfe, praktischer Natur sind, im Verlauf ihrer Studienzeit bestanden haben, erhalten sie das Recht, die ärztliche Praxis auszuüben. Um das Doktorat zu erlangen, muss der Arzt eine Dissertation verfassen und mehrere Thesen vertheidigen.

Die Lehrkörper der medicinischen Facultäten bestehen aus ordent- lichen und ausserordentlichen Professoren, welche sich nur durch die Höhe der Besoldung, die sie beziehen, unterscheiden, aus Incaricati, die einen Lehrauftrag für ein bestimmtes Specialgebiet haben, und Privat- docenten. Die Besetzung der Professuren geschieht gewöhnlich durch Concurs, der entweder in schriftlichen und mündlichen Prüfungen be- steht oder sich nur auf die Vorlage der wissenschaftlichen Arbeiten beschränkt. In Fällen, in denen ein Gelehrter von anerkanntem Ruf in Frage kommt, sieht man von der Bewerbung gänzlich ab und be- setzt die Lehrkanzel auf dem Wege der Berufung.^

Spanien und Portugal.

Auch in Spanien hat man aufgehört, die Berechtigung zur Aus- übung der Praxis für einzelne Theile der Heilkunde zu ertheilen. Gegenwärtig giebt es dort nur eine Klasse von Ärzten, die Licenciados en medicina y chirutgia, neben welchen nur noch ein niederes chirur- gisches Hilfspersonal existirt, zu welchem die Practicantes (Heildiener) und die Dentistas gezählt werden.

Wer das Studium der Medicin beginnt, muss sich über eine all- gemeine wissenschaftliche Vorbildung ausweisen und den akademischen Grad eines Bachiller en artes besitzen. Die ärztlichen Studien werden an den Universitäten absolvirt, sind aber nicht obligat. Medicinische Facultäten bestehen an den Hochschulen zu Madrid, Barcelona, Gra- nada, Salamanca, Santjago de Compostela, Sevilla, Cadix, Valencia, Valladolid und Saragossa. Die Studierenden widmen das erste Jahr der Studienzeit den Naturwissenschaften, der Physik und Chemie, und

* Tommasi-Crudrm in der Riv. clin. di Bologna 1876. Regio decreto No. 2621, Roma 1884.

Spanien und Portugal, 485

die folgenden 6 Jahre den medieinischen Fächern. Hierauf unterziehen sie sich einer aus drei Abschnitten bestehenden Prüfung, von denen der erste theoretisch ist und sich über alle Disciplinen der Heilkunde erstreckt, die beiden anderen praktischer Natur sind und theils am Krankenbett, theils an der Leiche stattfinden.

Der Candidat erwirbt damit die Licenz zur ärztlichen Praxis, nicht aber die Doktor -Würde. Wenn er die letztere anstrebt, so ist er ver- pflichtet, seine Studien um ein Jahr zu verlängern, welches zur Ver- vollständigung der ärztlichen Bildung und zum Besuch von Vorlesungen über Geschichte der Medicin, medicinische Geographie, Hygiene, Bio- logie u. a. m. verwendet wird, und dann eine Dissertation zu verfassen und Thesen zu vertheidigen. Der Doktor-Titel wird nur an Ärzte verliehen, welche ein reges wissenschaftliches Streben zeigen, gewährt jedoch keine Vorrechte für die Praxis und wird nur von Denjenigen verlangt, welche sich um die Professuren oder höheren Stellungen im öffentlichen Sa- nitätsdienst bewerben.

Portugal hat eine medicinische Facultät zu CoXmbra und zwei medicinisch- chirurgische Lehranstalten zu Lissabon und Porto. Sie unterscheiden sich darin von einander, dass die erstere mit Lehrmitteln und Lehrkanzeln reicher ausgestattet ist, als die letzteren, und allein das Recht besitzt, den Doktor-Titel zu verleihen. Die Schule zu Lis- sabon geniesst wegen des grossen Hospitals, welches ihr zu Lehrzwecken eingeräumt ist, den Ruf, dass sie eine vorzügliche Ausbildung in der praktischen Heilkunst, besonders in der Chirurgie, gewährt.

Es giebt gegenwärtig nur noch eine Klasse von Ärzten, nachdem die Kategorie der Licenciati minores, welche ein sehr beschränktes Recht zur Praxis besassen, aufgehoben worden ist

Zum Studium der Heilkunde wird nur Derjenige zugelassen, welcher in einer Prüfung gezeigt hat, dass er eine gewisse Allgemeinbildung besitzt. Der Besuch der Collegien ist obligat. Der Lehrplan nimmt 5 Jahre in Anspruch. Am Schluss eines jeden Jahres finden Prüfungen statt, von deren Ausfall die Versetzung in die höhere Klasse abhängig ist. Die Prüfungen sind sowohl theoretisch als praktisch und zum Theil sehr genau; so wird z. B. verlangt, dass der Candidat 10 Kranke durch 20 Tage selbstständig behandelt. Nach der erfolgreichen Beendigung derselben wird die Licenz zur ärztlichen Praxis, ertheilt.

Der Doktor-Titel ist der Ausdruck einer tieferen wissenschaftlichen Bildung; er wird z. B. von Denjenigen gefordert, welche an der medi-

486 Der msdicmische Unterricht in der nettesten Zeit.

cinischen Facultät zu Colmbra die Lehrthätigkeit ausüben wollen. Um denselben zu erlangen, muss der Bewerber noch ein Examen ablegen und eine Dissertation vorlegen. Als Examinatoren wirken die Professoren. Die Lehrkanzeln werden durch Concurs besetzt.^

Holland und Belgien.

In Holland wurden früher verschiedene Arten von Ärzten aus- gebildet, welche theils zur inneren, theils zur chirurgischen Praxis be- rechtigt waren und sich entweder nur auf dem Lande oder überall niederlassen durften. Sie erwarben ihre fachmännischen Kenntnisse sowohl an den Universitäten als an den ärztlichen Fachschulen, welche mit einigen Hospitälern verbunden waren.

Im Jahre 1865 wurde das Gesetz erlassen, dass die Ärzte fortan nicht mehr für einzelne Zweige der Heilkunst legitimirt werden, sondern alle Theile derselben betreiben und ein unbedingtes Niederlassungs- Recht besitzen. 2 Gleichzeitig wurden die Hospitalschulen aufgehoben und die Erziehung der Ärzte den medicinischen Pacultäten übertragen.

Gegenwärtig besitzt Holland neben den drei Universitäten zu Leiden, Utrecht und Groningen, welche vom Staat erhalten werden, noch die städtische Hochschule zu Amsterdam, die aus dem Athenaeum, einer höheren Lehranstalt, deren Geschichte bis 1632 zurückreicht, entstanden und 1877 zu einer Universität erhoben worden ist.*

Wer sich dem Studium der Medicin widmet, muss die höhere Bürgerschule oder das Gymnasium absolvirt haben oder durch eine Prüfung den Nachweis liefern, dass er eine genügende Vorbildung be- sitzt. Die Studienzeit dauert gewöhnlich 6 Jahre.

Die Berechtigung zur ärztlichen Praxis wird nur durch die Staats- prüfung erworben, welche von Examinations-Commissionen abgenommen wird, zu deren Mitgliedern die Lehrer der verschiedenen medicini- schen Facultäten ernannt werden. Dieser Prüfung gehen das erste und zweite naturwissenschaftliche Examen voraus, von denen sich jenes mit der Physik, Chemie und Botanik, dieses mit der Anatomie, Physiologie und Gewebelehre, Pharmakognosie und allgemeinen Pathologie beschäftigt.

^ B. A. Sebra de Mibabeau: Memoria historica e commemorativa da facul- dade de medicina, Coimbra 1872.

^ Das Medicinalwesen im Königreich der Niederlande, Haag 1870. ^ Revue intemat. de Tenseignement, Paris 1881, I, 77 u. ff.

Holland tmd Belgien, 487

Die Staatsprüfung selbst zerfällt in einen theoretischen Theil, der über pathologische Anatomie, Pharmakodynamik, specielle Pathologie und Therapie, Hygiene, theoretische Chirurgie und Geburtshilfe handelt, und in ein praktisches Examen am Krankenbett, an der Leiche u. s. w. Vor demselben muss der Candidat den Nachweis liefern, dass er durch zwei Jahre klinischen Unterricht genossen und mindestens 12 Geburten, von denen 2 mit Hilfe der ärztlichen Kunst vollzogen worden sind, beigewohnt hat.^

Unabhängig davon wird das Doktorat der Heilkunde von den me- dicinischen Facultäten verliehen; von den Bewerbern wird verlangt, dass sie das humanistische Gymnasium absolvirt haben. Die; Doktorats- Prüfungen berücksichtigen nicht blos die ärztliche Tüchtigkeit, sondern auch die medicinische Gelehrsamkeit; sie haben eine gründlichere All- gemeinbildung zur Voraussetzung und gehen sowohl auf die Natur- wissenschaften als auf die eigentlichen medicinischen Disciplinen tiefer ein, als dies im Staatsexamen der Fall ist. Das Doktorat der Heil- kunde gewährt daher ebenfalls das Kecht zur Ausübung der ärztlichen Praxis. ^

Wesentlich verschieden von dem medicinischen Unterrichtswesen Hollands ist dasjenige Belgiens, welches manche Ähnlichkeiten mit dem französischen zeigt. Doch giebt es in Belgien keine Officiers de sante, keine Ärzte niederen Grades, sondern nur eine Klasse von Ärzten, welche an den Universitäten ausgebildet werden.

Von den vier Hochschulen des Landes werden zwei, nämlich zu Gent und Lüttich, ^ vom Staat erhalten, die anderen beiden jedoch nicht Die Universität zu Löwen trägt einen confessionellen Charakter und wird vom Klerus geleitet und unterstützt; die Hochschule zu Brüssel, welche i. J. 1834 von der liberalen Partei ins Leben gerufen wurde, verdankt der Stadt und einigen reichen Gönnern die Mittel zu ihrem Unterhalt.

Dem ärztlichen Studium geht in den meisten Fällen der Besuch des Gymnasiums voraus, welches binnen 7 Jahren vollständig absolvirt wird. Die medicinischen Studien beginnen mit den Naturwissenschaften, der Physik, Chemie und Philosophie. Der Studienplan wird im All- gemeinen durch die Prüfungen bestimmt, indem die zu einem Examen

* Geneeskundige Wetten, ZwoUe 1882, Gesetz vom 28. Dez. 1878.

* Wet van d. 28. April 1876, tot regeling van het hooger onderwijs, ZwoHe 1884.

^ A. LE Boy: L'aniversit6 de Liöge, 1869.

488 Der medidnische Unterricht in der nettesten Zeit.

gehörenden Prüfungsgegenstände zusammen belegt werden. Der Unter- richt erhält dadurch die Form einer handwerksmässigen Vorbereitung für die Prüfung, ähnlich wie in den medicinischen Schulen Englands.

Das erste medicinische Examen handelt über descriptive und ver- gleichende Anatomie, Physiologie, Embryologie, Histologie und Pharma- kologie, ist mit praktischen Demonstrationen verbunden und wird die Candidaten-Prüfung genannt. Für das die Berechtigung zur ärztlichen Praxis gewährende Doktorat der Heilkunde werden drei Prüfungen verlangt, von denen die erste die allgemeine Pathologie und Therapie, specielle Pathologie der inneren Krankheiten und pathologische Ana- tomie, die zweite die chirurgische Pathologie, Geburtshilfe, Hygiene und gerichtliche Medicin betrifft;, und die dritte sich über die Klinik der internen und chirurgischen Leiden, der Augenkrankheiten, Geschlechts- Qrg;ane und Hautleiden, auf die praktische Geburtshilfe und chirurgische Operationskunst erstreckt und theils theoretisch, theils praktisch ist. Als Examinatoren wirken jetzt ausschliesslich die Professoren der be- treffenden Facultät, während früher Prüfungs-Commissionen gebildet wurden, die sich zur Hälfte aus Professoren derselben und zur Hälfte aus denjenigen einer anderen Facultät zusammensetzten. Man befolgte dabei den Grundsatz, dass die Lehrer der Staats- Universitäten mit denen der freien Hochschulen zu Examinationsbehörden verbunden wurden, um auf diese Weise eine wünschenswerthe Gleichartigkeit der ärztlichen Bildung zu erzielen.

In Brüssel existirt ausserdem noch eine Central-Prüfungs-Commis- sion, welcher sich diejenigen Examinanden vorstellen, denen die wissen- schaftliche Vorbildung mangelt; denn der Zutritt zu den Fachstudien und zur Universität steht Jedem frei, der lesen und schreiben kann. Bei der Meldung zu den ärztlichen Prüfungen wird nur der Nachweis gefordert, dass der Candidat zwei Jahre hindurch die chirurgische und interne Klinik und ein Jahr die geburtshilfliche Klinik besucht hat

Die Lehrer-CoUegien bestehen aus ordentlichen und ausserordent- lichen Professoren und Agreges speciaux, welche für drei Jahre ernannt werden, eine kleine Besoldung erhalten und an die Stelle der früheren Charges de cours getreten sind.

Schweiz.

Früher hatte jeder Canton seine besonderen gesetzlichen Bestim- mungen über die Zulassung zur ärztlichen Praxis. Einige Cantone

Schweiz. 489

forderten ein Staatsexamen, welches vor einer aus dortigen Ärzten ge- bildeten Prüfungs-Commission abgelegt wurde; in anderen genügte das Zeugniss, dass es bereits in einem anderen Cantone oder Lande be- standen worden war, oder ein medicinisches Doktor-Diplom; in einzelnen verzichtete man auch darauf und gestattete Jedem die Praxis, welcher die Befähigung dazu zu besitzen vorgab. Erst 1867 kam ein vom Bundesrath genehmigtes Übereinkommen der meisten Cantone zu Stande, nach welchem die an den Schweizer Universitäten bestandenen ärzt- lichen Prüfungen überall anerkannt werden und zur Praxis berechtigen.

In keinem Lande existiren im Verhältniss zu seiner Bevölkerung so viele Hochschulen und höhere Lehranstalten, als in der Schweiz. Neben den Universitäten zu Basel, Zürich und Bern,^ an welchen in deutscher Sprache gelehrt wird, bestehen die Hochschule zu Genf und die Akademien zu Lausanne und Neufchatel, an denen die französische Unterrichtssprache herrscht.

Medicinische Facultäten haben die vier Universitäten und seit kurzer Zeit auch die Akademie zu Lausanne. Die Universitäten zu Zürich, Bern und Genf sind erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts ge- stiftet worden, und ihre medicinischen Facultäten haben sich aus me- dicinisch- chirurgischen Lehranstalten entwickelt. In Bezug auf ihre Lehrkräfte und Lehrmittel stehen sie jetzt ihren deutschen Schwester- Anstalten ebenbürtig zur Seite.

Die ärztlichen Prüfungen sind nach deutschem Vorbild eingerichtet und werden in Basel, Bern, Zürich, Genf und Lausanne abgelegt. Die Prüfungs-Commissionen werden aus Lehrern der medicinischen Facul- täten und geprüften Praktikern zusammengesetzt und vom Bundesrath für die Dauer von 4 Jahren ernannt. Die Prüfungen zerfallen in die naturwissenschaftliche, welche sich über Physik, Chemie, Botanik und Zoologie nebst vergleichender Anatomie erstreckt, die anatomisch-phy- siologische, die mindestens ebenso schwierig ist als in Deutschland, und in die eigentliche ärztliche Fachprüfung, die gleich der vorhergehenden theils praktisch, theils mündlich oder schriftlich ist und die patholo- gische Anatomie, innere Medicin, Chirurgie, Geburtshilfe und Gynäko- logie, Augenheilkunde, gerichtliche Medicin und Hygiene, Arzneimittel- lehre und Psychiatrie umfasst.^

Bemerkenswerth ist, dass die Bedingungen für die Zulassung zu den ärztlichen Prüfungen strenger sind als in anderen Ländern, indem vom Bewerber der Nachweis verlangt wird, dass er Vorlesungen über

* Ed. Müllee: Die Hochschule Bern von 1834—1884, Bern 1884.

* Verordnung der eidgenöss. Mediciualprüfongen vom 19. März 1888,

490 Der medidnisohe Unterricht in der Tievssten Zeit,

die wichtigsten Fächer der Heilkunde gehört, an den praktischen Ar- beiten Theil genommen und nicht blos je 2 Semester in der mediei- nischen, chirurgischen und geburtshilflichen und 1 Semester in der ophthalmiatrischen, sondern auch 1 Semester in der psychiatrischen Klinik und in der Poliklinik als Praktikant gewirkt hat.

Die Doktor-Promotion ist von der ärztlichen Prüfung getrennt und wird von den medicinischen Facultäten auf Grund eines Examens und einer Dissertation vollzogen.

Dänemark, Norwegen und Schweden.

In Dänemark ist der medicinische Unterricht ähnlich wie in Deutschland und Österreich organisirt. Die Studierenden der Heilkunde müssen, wenn sie die Universität zu Kopenhagen beziehen, das Matu- ritäts-Zeugniss eines dänischen Gymnasiums vorlegen; sie beschäftigen sich dann zunächst mit dem Studium der Philosophie, den Naturwissen- schaften, der Physik und Chemie und werden in diesen Gegenständen geprüft. Erst darnach beginnen die eigentlichen medicinischen Fach- studien.

Die Prüfungen, welche das Eecht zur Ausübung der ärztlichen Praxis verleihen, finden vor der medicinischen Facultät im Beisein von Gensoren statt, die von der Regierung ernannt werden und ihr Urtheil über die Befähigung des Candidaten abgeben. Sie bestehen aus einem schriftlichen Theil, nämlich drei Clausur- Arbeiten über Gegenstände der praktischen Heilkunde, einem praktischen Abschnitt, der sich aus einer anatomischen Arbeit, der Untersuchung und Behandlung mehrerer Kranken und der Ausführung einer chirurgischen Operation an der Leiche zusammensetzt, and einer mündlichen Prüfung über die wich- tigsten Fächer der Heilkunde.

Den Doktor-Titel, welcher nach der Anfertigung einer Dissertation von wissenschaftlichem Werth verliehen wird, streben im Allgemeinen nur diejenigen Ärzte an, welche den akademischen Lehrberuf ergreifen oder in den öffentlichen Sanitätsdienst eintreten wollen. Jeder Doktor der Medicin darf an der Universität Vorträge halten. Die Professuren werden durch Concurs besetzt.

Dänemark, Norwegen und Schweden, 491

Nahezu vollständig gleich liegen die Verhältnisse in Norwegen. Auch hier ist es üblich, dass die Ärzte sich mit der Licenz zur Praxis begnügen und nur selten um die Doktor -Würde bewerben.

Das Land besitzt eine Universität in Christiania, welche 1811 ge- gründet und 1815 vervollständigt wurde. Die Immatriculation setzt die erfolgreiche Absolvirung des Gymnasiums voraus. Das Universitäts- Studium beginnt für sämmtliche Facultäten mit der Vervollständigung der allgemeinen wissenschaftlichen Vorbildung; es werden darauf 2 bis 3 Semester verwendet, während welcher der Studierende Zeit hat, sich für einen bestimmten Beruf zu entscheiden. Die medicinische Studien- zeit dauert gewöhnlich 7 Jahre und wird durch die Prüfungen in drei Abschnitte eingetheilt. Der erste umfasst die Zoologie, Botanik, Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie; die zweite Abtheilung betrifft die Pharmakologie und Toxikologie, allgemeine und specielle Pathologie und pathologische Anatomie, chirurgische Pathologie, Ophthalmologie und Dermatologie, und die dritte beschäftigt sich mit der klinischen Praxis, gerichtlichen Medicin und Hygiene ; die Prüfungen sind sowohl münd- lich und schriftlich, als praktischer Natur.

Wer dieselben mit Erfolg besteht, ist zur ärzthchen Praxis be- rechtigt. Die Doktor- Würde wird nur für aussergewöhnliche wissen- schaftliche Leistungen verliehen und ist mit dem Recht, an der Universität zu lehren, verbunden. Im J. 1888 gab es in Norwegen nicht mehr als 14 Doktoren der Medicin.

In Schweden wird der medicinische Unterricht an den medicinischen Facultäten der Universitäten zu Upsala und Lund und am medicinisch- chirurgischen Carolinischen Institut zu Stockholm ertheilt, welches 1750 gestiftet wurde und jetzt hauptsächlich zur Ausbildung in den klinischen Fächern dient.

Von den Studierenden wird das Maturitäts-Zeugniss des humanisti- schen Gymnasiums verlangt. Der Studiengang der Mediciner ist un- gefähr der gleiche wie an den deutschen Hochschulen; nur wird wegen der langen Dauer der Ferien mehr Zeit auf die verschiedenen Unter- richtsgegenstände verwendet. Gewöhnlich vergehen 9 bis 10 Jahre vom Austritt aus dem Gymnasium bis zum Beginn der ärztlichen Praxis.

Der Studierende beschäftigt sich zunächst durch 3 Semester mit der Physik, Chemie, Botanik und Zoologie und legt darüber eine Prüfung ab. Hierauf tritt er aus der philosophischen in die medicinische Facultät über und widmet ungefähr 4 Jahre dem Studium der Anatomie,

492 Der medidnisGhe Unterricht in der nettesten Zeit.

Physiologie, medicinischen Chemie, Histologie, Pharmakologie und all- gemeinen Pathologie. Zur Theilnahme an den Secir-Übungen, an den praktischen Arbeiten in den physiologischen, chemischen, histologischen und pathologischen Laboratorien ist er verpflichtet, während der Besuch der theoretischen Vorlesungen, welche unentgeltlich stattfinden, seinem Belieben anheimgestellt wird. Die Prüfung, welche diesen Theil der Studienzeit zum Abschluss bringt, umfasst die genannten Fächer nebst der Geschichte der Medicin und ist theils mündlich, theils praktisch.

Die folgenden Semester verwendet der Candidat der Medicin, wie er fortan" genannt wird, zum Besuch der klinischen Institute und über- haupt zur Ausbildung in der praktischen Heilkunst. Er muss dabei auch verschiedenen Specialfächern, wie der Psychiatrie, der Pädiatrik und Syphilidologie seine Auftnerksamkeit zuwenden und den patholo- gischen und forensischen Sektionen, sowie den hygienischen Übungen beiwohnen. Das Examen über diese Wissensgegenstande, welches ge- wöhnlich erst 3 4 Jahre nach der Candidaten-Prüfung abgelegt wird, giebt die Berechtigung zur ärztlichen Praxis.

Die medicinische Doktor -Würde ist nur für diejenigen Ärzte vorge- schrieben, welche als akademische Lehrer oder im höheren Sanitätsdienst thätig sein wollen; sie wird auf Grund einer wissenschaftlichen Ab- handlung und nach Vertheidigung der darin aufgestellten Thesen ver- liehen, jedoch nur von den beiden Universitäten, nicht vom Carolinischen Institut. Dagegen ist das letztere befagt, die Candidaten- und Licen- tiaten-Prüfung abzunehmen und die ärztliche Approbation zu ertheilen.

Russland.

Noch im vorigen Jahrhundert bezog Eussland seine Ärzte haupt- sächlich aus dem Ausland. ^ Allerdings wurde schon unter Peter dem Grossen i. J. 1706 in Moskau eine Schule zur Ausbildung von Chirurgen errichtet, welche mit dem dortigen Hospital verbunden wurde und ein anatomisches Theater und einen botanischen Garten erhielt.

Die erste Universität mit einer medicinischen Pacultät entstand 1755 ebenfalls in Moskau. Dagegen verdiente die mit der Akademie

* W. M. V. Bichteb: Geschichte der Medicin in Eussland, Moskau 1817, in, 91 u. ff. A. Brückner: Die Arzte in Eussland bis z. J. 1800, St. Peters- burg 1887. J. TsoHisTo witsch: Geschichte der ersten jnedicinischen Schulen in Eussland, St. Petersburg 1883.

Bussland. OrieeherUand u. die christL Ländfir der Balkmi-Halbinsel. 493

der Wissenschaften zu St. Petersburg verbundene Universität diesen Namen nicht, sondern war eigentlich nur ein Gymnasium mit einigen juristischen Cursen; sie wurde übrigens wenig besucht und zählte unter der Leitung der Fürstin Daschkow i. J. 1783 nur 2 Studenten.^ Im 19. Jahrhundert wurden die medicinischen Facultäten der Universitäten zu Kiew, Charkow und Kasan errichtet, an welchen in russischer Sprache unterrichtet wird; die polnische Universität zu Warschau wurde eben- falls russificirt. Die jüngste Hochschule wurde im September 1888 zu Tomsk in Sibirien und zwar zunächst nur als medicinische Facultät eröffnet. Ausserdem gehören zum russischen Reiche die Universitäten zu Helsingfors in Finnland, an welcher die schwedische, und diejenige zu Dorpat, an der die deutsche Unterrichtssprache herrscht. ^ Dazu kommt noch die medicinisch-chirurgische Akademie in Petersburg, an welcher die Militärärzte erzogen werden.

Jeder, der sich dem ärztlichen Beruf widmet, muss das Gymnasium absolvirt haben, bevor er zu den Fachstudien zugelassen wird. Die Studienzeit dauert 5 Jahre. Ausser den ControUprüfungen, welche über die Vorlesungen, welche besucht werden, handeln, wird ein dem deutschen Tentamen physicum entsprechendes Examen in der Mitte der Studien- zeit abgelegt; am Schluss der Studien folgt das ärztliche Approbations- Examen, das sich über alle wichtigen Fächer der Heilkunde erstreckt und nicht blos mündlich, sondern auch praktischer Art ist. Höhere wissenschaftliche Anforderungen werden an diejenigen Ärzte gestellt, welche nach der Approbation den Doktor-Grad erwerben.^

Griechenland und die christlichen Länder der

Balkan - Halbinsel.

Die Universität zu Athen wurde 1837 unter dem Könige Otto errichtet und nach deutschem M?uster organisirt. Bei der Immatriculation wird das Maturitäts-Zeugniss eines griechischen Gymnasiums verlangt. Die medicinischen Studien nehmen gewöhnlich 5 Jahre in Anspruch, von denen das erste auf die Hilfswissenschaften verwendet wird. Am

^ Graf D. A. Tolstoi in den Beiträgen zur Kenntniss des russ. Reiches, Petersburg 1886, S. 217.

' Die deutsche Universität Dorpat, Leipzig 1882.

* Allgem. Statut der K. russ. Universitäten vom 23. August 1884, Peters- burg 1884.

494 Der medidnische UfUefrriokt in der nefueatm Zeit

Schluss desselben findet die Vorprüfung statt, welche sich über Physik, Chemie und Naturgeschichte erstreckt. Das Doktor-Examen handelt über normale Anatomie, Physiologie, allgemeine Pathologie, Materia medica, innere Medicin, Chirurgie, Geburtshilfe, gerichtliche Medicin und Hygiene, ist aber nicht mit praktischen Demonstrationen verbunden. Nach der Promotion folgt noch ein Jahr der praktischen Ausbildung und dann das praktische Examen, welches hauptsächlich in der Be- handlung von Kranken, in der Ausführung von Operationen an der Leiche u. a. m. besteht und die Berechtigung zur Ausübung der ärzt- lichen Praxis verleiht.

In Rumänien bestand früher nur eine militärärztliche Lehranstalt, deren begabteste Schüler zur Vollendung ihrer Studien an ausländische Hochschulen geschickt wurden. Gegenwärtig besitzt das Land zwei Universitäten zu Bukarest und Jassy, von denen jede mit einer me- dicinischen Facultät ausgestattet ist.^ Mit der ersteren ist eine pharma- ceutische Lehranstalt verbunden; auch besteht in Bukarest eine Thier- arzneischule. Von den Studierenden der Medicin wird vorausgesetzt, dass sie das Gymnasium absolvirt haben. Die Studienzeit an der Uni- versität dauert 5 Jahre. Die Prüfungen erstrecken sich auf sämmtliche Fächer, sind sowohl theoretisch als praktisch und werden von den Pro- fessoren abgenommen. Sie finden ihren Abschluss mit der Verleihung des Doktorats, welches zur Ausübung aller Theile der ärztlichen Thätigkeit berechtigt.

Die serbische Hochschule zu Belgrad besitzt bis jetzt noch keine medicinische Facultät.

^ Revue Internat, de Tenseignement, Paris, IV, p. 251 u. ff.

Schlussbetrachtungen.

Es liegt nahe, auf Grund des reichen Materials von Thatsachen, welche das medicinische TJnterrichtswesen in den verschiedenen Zeiten und Landern beleuchten, die Frage aufzuwerfen, wo dasselbe am zweck- mässigsten eingerichtet ist. Aber beantworten lässt sie sich ebenso wenig, als diejenige nach der besten Staatsverfassung oder Religion. Während für das eine Volk die republikanische Form am meisten ge- eignet erscheint und sich durch Jahrhunderte bewährt hat, bedürfen andere Nationen der Monarchie, vielleicht sogar der Despotie.

Ähnlich ist es mit den Einrichtungen des medicinischen Studien- wesens. Die allgemeinen Culturzustände, die historischen Traditionen, die geographische Lage des Staates, die finanziellen Verhältnisse und der Charakter seiner Bevölkerung sind dabei von grosser Bedeutung.

Aber es wird gestattet sein, hier einige allgemeine Gesichtspunkte zu erörtern, welche, wenn auch nicht überall durchführbar, doch jeden- falls beachtenswerth und anzustreben sind.

Was zunächst die allgemeine wissenschaftliche Vorbildung des Jüngers der Heilkunst betriflPb, so muss unter allen Umständen daran festgehalten werden, dass sie nicht hinter derjenigen der übrigen ge- lehrten Stände, der Theologen, Juristen, Philologen u. a. m. zurücksteht.

Der Arzt soll jenes Maass von allgemeinem Wissen besitzen, welches in dem Lande, in dem er lebt, den höchsten Anforderungen entspricht. Welcher Art aber dieselben sind und welche Wissenschaften sie umfassen, richtet sich nach dem Begriff der Allgemeinbildung, der nach Zeit und Ort verschieden ist.

Da er sich in den meisten heutigen Culturstaaten unter dem Ein- fluss des Humanismus entwickelt hat, so bilden das Studium des Alter- thums und der dazu fahrenden lateinischen und griechischen Sprache seine wesentliche Grundlage. Allerdings erfuhr dieses Bildungssystem, welches im 16. Jahrhundert volle Berechtigung hatte, schon im 17. und 18. Jahrhundert wesentliche Einschränkungen. Der Aufschwung der Naturwissenschaften und die Entwickelung einer nationalen Literatur drängten andere Bildungs-Elemente in den Vordergrund. Wo dieselben

496 Schhisshetracktungen.

nicht mit dem bisherigen System verschmolzen wurden, da begann ein Zwiespalt zwischen dem antiken und dem modernen Bildungs-Ideal, der im Verlaut' der Zeit an Schroffheit zugenommen hat.

Die Anhänger des ersteren erklären, dass der pädagogische Werth der Literatur des Alterthums hauptsächlich in ihren sprachlichen Formen zu suchen sei, deren Erlernung den Verstand schärfe und die Denk- kraft übe. Wenn diese Annahme richtig ist, so muss es doch Bedenken erregen, dass man darauf 8 oder 9 Jahre des Lebens verwendet Der Zweck, der damit angestrebt wird, steht in keinem vernünftigen Ver- hältniss zu der Zeit, die man ihm widmet. Jedenfalls aber darf man fragen, ob der mühsame langwierige Weg durch die linguistischen Klippen der lateinischen und griechischen Literatur der einzige ist, der zu diesem Ziel führt. Es gab zu allen Zeiten und giebt noch heute eine Menge von Leuten, die sich durch Klugheit auszeichnen, obwohl sie niemals die lateinische oder griechische Sprache erlernt haben, und umgekehrt. Warum sollten nicht auch andere Wissenschaften, beson- ders die Mathematik, geeignet sein, den Verstand zu entwickeln und zu schärfen?

Ein gutes Unterrichtssystem muss trachten, die Zucht des Geistes zu bewerkstelligen, ohne dass dabei die Bedürfnisse des Lebens voll- ständig vernachlässigt werden. Dass die humanistischen Gymnasien mit ihren Studienplänen diese Aufgabe nur zum Theil erfüllen, ist be- kannt.^ Daraus entspringen die meisten Vorwürfe, welche gegen sie erhoben werden.

Man verlangt vor Allem eine grössere Berücksichtigung der Realien beim Unterricht, weil dies nicht blos im Interesse der künftigen Ärzte und Naturforscher, sondern auch der Theologen, Juristen und über- haupt aller Personen liegt, deren Berufsthätigkeit dem praktischen Leben angehört. In den meisten Ländern hat man diesen Forderungen Rech- nung getragen, indem man entweder die humanistischen Gymnasien durch die Aufnahme neuer Lehrgegenstände nach dieser Richtung um- gestaltete oder durch die Hinzufügung von parallel laufenden Real- klassen zu Unterrichtsanstalten mit gemischtem Charakter erweiterte. In Deutschland wurden zu diesem Zweck die Realschulen errichtet, von denen ein Theil durch die Erweiterung ihrer Lehrziele allmälig in Real- gymnasien umgewandelt worden ist, die sich von ihren humanistischen Schwester-Anstalten vorzugsweise dadurch unterscheiden, dass in ihnen

* Bezold und Esmabch in d. Tägl. Rundschau 1885, No. 286, 1886, No. 68. Th. Puschmann in der Tägl. Rundschau, Berlin 1886, No. 168. 169. E. Haeckel: Realgymnasium und Formalgymnasium m d. Tägl. Rundschau 1887, No. 152. W. Pbeyeb: Naturforschung und Schule, Stuttgart 1887.

Sohliissbetraehtungen, 497

der Unterricht in der griechischen Sprache wegfallt und die dadurch gewonnene Zeit den Naturwissenschaften u. a. m. gewidmet wird.

Es unterliegt keinem Zweifel , dass das deutsche Realgymnasium in seiner jetzigen Gestalt eine bessere Vorbildung für das Studium der Medicin gewährt, als das humanistische Gymnasium; gleichwohl blieb den Schülern des ersteren die Zulassung zu demselben bisher versagt und ausschliesslich den Abiturienten des humanistischen Gymnasiums vorbehalten. An Versuchen, auch denjenigen des Real-Gymnasiums die Zulassung zu den medicinischen Studien zu erwirken, hat es nicht ge- fehlt. Die preussische Staatsregierung zog in dieser Angelegenheit sowohl die medicinischen Facultaten als die praktischen Ärzte zu Bath; aber die Antworten, welche sie von ihnen erhielt, lauteten in ihrer überwiegenden Mehrzahl far die Realschulen nicht günstig. Von den 9 medicinischen Facultaten Preussens, welche 1869 ihre Gutachten über die Zulassung der Realschul-Abiturienten zum Studium der Medicin abgaben, sprachen sich nur 4 (Göttingen, Greifswald, Kiel und Königs- berg) dafür aus, während 4 (Berlin, Breslau, Halle und Marburg) da- gegen auftraten und 1 (Bonn) gar keine Meinung äusserte. Von den 163 ärztlichen Vereinen Deutschlands, die 1879 um ihr ürtheil befragt wurden, erklärten sich nicht mehr als 3 unbedingt und 3 mit gewissen Beschränkungen dafür, 7 andere gleichfalls, aber nur unter der Be- dingung, dass den Abiturienten der Realschulen auch der Zutritt zu den übrigen Facultaten eröfl&iet wird, während die übrigen 150 dagegen stimmten, 98 davon allerdings unter der Voraussetzung, dass die humanistischen Gymnasien einer Reform unterzogen würden.

Die Gründe, welche dabei massgebend waren, lagen aber keines- wegs darin, dass man der altclassischen Bildung den Vorzug gab, sondern lediglich in den Rücksichten auf die gesellschaftliche Stellung des ärzt- lichen Standes. Man durfte mit Recht befürchten, dass dieselbe beein- trächtigt wird, wenn für die Ärzte eine wissenschaftliche Vorbildung für ausreichend erklärt wurde, die nach einer sehr verbreiteten Ansicht einen geringeren Werth besitzt als diejenige, welche für die übrigen gelehrten Stände für nothwendig befunden wurde. Leider beging man dabei an einzelnen Orten den Fehler, dass man sich nicht auf die Anführung dieses einzigen Grundes beschränkte, sondern zu gleicher Zeit die Realschulen beschuldigte, dass sie kein ideales Streben hätten und Oberflächlichkeit und Einseitigkeit erzeugten: Anklagen, welche von betheiligter Seite natürlich eine scharfe Zurückweisung erfuhren.^

* P. WossiDLO im Pädagogischen Archiv, Stettin 1880, H. 2. E. Speck: Die Berechtigung der Realschul-Abiturienten zum Studium der Medicin im Pä- dagogischen Archiv 1883, H. 9. 10.

PuscHiCANN, Unterricht. 32

498 Schlussbeiraohtungen,

Die Frage der Zulassung der Abiturienten der Realgymnasien zu den Universitätsstudien kann allerdings nur in der Art gelöst werden, dass man ihnen alle Facultäten eröffnet und damit ihre Allgemein- bildung als gleichwerthig mit derjenigen der humanistischen Gymnasien anerkennt; Dies fordert die Gerechtigkeit, da der Lehrplan des Real- gymnasiums demjenigen des humanistischen ebenbürtig ist; es ist zu- gleich eine Pflicht gegenüber den Jünglingen, welche nicht zum Studium der alten Sprachen veranlagt sind. Oder ist es zu rechtfertigen, dass man Jemandem, der bei einer ausgezeichneten Begabung für die Natur- wissenschaften vielleicht ein vortrefflicher Arzt werden würde, diesen Weg versperrt, weil er nicht so viele griechische oder lateinische Sprach- kenntnisse besitzt, als die Philologen für seinen künftigen Beruf für erforderlich erachten?

Die üniformität der Allgemeinbildung ist allerdings für die schema- tisirende Schulgelehrsamkeit sehr bequem, indem sie ihr gleichsam als geistiger Gradmesser dient; aber noth wendig und naturgemäss ist sie gewiss nicht. Die Verschiedenheit der Neigungen und Anlagen weist darauf hin, dass es nicht blos eine einzige Art der Geistesbildung giebt.

In mehreren Ländern hat man das Bifurcal-System an den Gym- nasien eingeführt und den Schülern beider Kategorien den Zutritt zur Universität gewährt. In Deutschland sträubt man sich noch dagegen, obwohl man sich in den einsichtigen und unparteiisch urtheilenden Kreisen der Erkenntniss nicht verschliesst, dass die Einheit der Vor- schule auf die Dauer unhaltbar ist.

Schon seit langer Zeit hat das humanistische Gymnasium aufgehört, die einheitliche Vorschule für die gebildeten Kreise überhaupt zu sein; denn die polytechnischen Hochschulen und einzelne Klassen des höheren Beamtenthums wurden den Abiturienten der Realschulen zugänglich gemacht, und die für die Erziehung des Officierstandes bestimmten Kadetten -Anstalten verzichteten auf die humanistische Bildung und nahmen den Lehrplan der Realgymnasien an. Die Gleichstellung der Realgymnasien mit den humanistischen und die Gleichberechtigung ihrer Abiturienten wird daher nicht zu einer Trennung der Studierenden führen, wie von mancher Seite behauptet wird, sondern im Gegentheil die Annäherung aller Gebildeten auf der Grundlage einer wenn auch nicht gemeinsamen, so doch gleichwerthigen Vorbildung anbahnen.

Es ist klar, dass die günstigen pädagogischen Erfolge, welche die lateinische Schule und das humanistische Gymnasium ehemals erzielten, nicht auf dem Inhalt des Lehrstoffes, sondern auf der gründlichen Ver- arbeitung desselben beruhten. Jemehr ihr Studienplan durch die Auf- nahme neuer Unterrichtsgegenstände von diesem Grundsatz abweichen

Sohlussbetraehttmgen, 499

musste, desto häufiger wurden auch die Klagen über die mangelhafte und verfehlte Ausbildung der Schüler. Heut erstrecken sie sich auf sämmtliche Unterrichtsgegenstände, und selbst die alten Sprachen sind davon nicht ausgenommen. Am deutlichsten tritt dies an den öster- reichischen Gymnasien hervor, welche, um die Einheit der Vorschule zu retten, die Lehrziele des humanistischen mit denjenigen des Real- gymnasiums zu vereinigen suchen und dabei noch mit den aus der Vielsprachigkeit des Landes entspringenden Schwierigkeiten zu kämpfen haben.

Die eingehende Beschäftigung mit einem abgegrenzten Wissens- gebiet erzeugt Gründlichkeit: eine Charakter-Eigenschaft, die der Jugend anerzogen werden muss. Ob man aber die alten oder die neuen Sprachen, die Mathematik oder eine andere Wissenschaft zu diesem Zweck benutzt, dürfte in Bezug auf den Erfolg,^ welcher angestrebt wird, vielleicht gleichgültig sein und sollte sich allein nach den Bedürfnissen der Zeit und nach den Neigungen und Talenten des Individuums richten.

An dieser Stelle mögen noch einige Bemerkungen erwähnt werden, welche sich ebenso sehr gegen die Real-Gymnasien als gegen die humanisti- schen Gymnasien richten. Zunächst ist die Überladung ihrer Lehrpläne mit Unterrichtsstunden vom sanitären Standpunkt durchaus nicht zu billigen. Wenn Knaben und Jüngüage genöthigt werden, wöchentlich 32 Stunden auf der Schulbank zu sitzen und ausserdem vielleicht noch mehrere Stunden täglich für die Anfertigung der häuslichen Schul- aufgaben zu verwenden, so muss dies auf die Entwickelung ihres Körpers schädlich wirken. Die zunehmende Kurzsichtigkeit der Schüler, ihre bleichen Wangen und engbrüstigen Gestalten liefern dafür über- zeugende Beweise. An keiner Klasse des Gymnasiums darf die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden höher als 24 bis 26 sein, wenn man den Körper gesund und den Geist frisch erhalten will Dem Knaben muss die Zeit zu seiner Erholung gewährt und zugleich die Möglichkeit geboten werden, seine individuellen Anlagen zu entfalten.^

Daran schliesst sich der Wunsch an, dass dem Turnen und über- haupt den körperlichen Übungen an den Schulen mehr Zeit gewidmet werden möge, als dies bisher der Fall war. Es muss freilich anerkannt werden, dass gerade in dieser Hinsicht in den letzten Jahren viel ge- schehen ist; aber es bleibt noch Manches zu thun übrig, bevor die Forderungen der Hygiene erfüllt sind.

^ Zeitung f. d. höhere Unterrichtswesen Deutschlands, Leipzig 1883, No. 48. Hasemank: Die Überbüidung der Schüler, Strassburg 1884. Centralbl. f. allgem. Gesundheitspflege, her. v. Finkelnbubg, Jahrg. III, H. 7. 8. Vergl. a. P. Frank a. a. 0. VI, Th. 3, S. 260.

32*

600 ScMmsbetroMungen,

Ein grosser Fehler der Gymnasien Deutschlands und vieler anderer Länder besteht in der Vernachlässigung des Anschauungs-TJnterrichts. Sie füllen das Gedächtniss, üben den Verstand und entwickeln die Denkfähigkeit; aber sie unterlassen es, die Beobachtungsgabe zu wecken und die Sinnesthätigkeit zu schärfen. Sie verzichten damit auf ein wirksames Mittel der Geistesbildung, welches für manche Berufskreise, wie für denjenigen des Ingenieurs, des Arztes oder Naturforschers, eine hohe Bedeutung hat Es erscheint daher wünschenswerth, dass der Unterricht in der Geographie, der Mathematik und den Naturwissen- schaften mit praktischen Demonstrationen verbunden und die vor- getragenen Thatsachen sinnlich veranschaulicht werden. Auch der Zeichnen-Unterricht lässt sich dazu verwerthen. Die Lehrmittel-Samm- lungen müssen durch Abbildungen, Modelle u. dgl. m. vermehrt und auf jede Weise dafür gesorgt werden, dass neben dem Verstände auch die Sinne beschäftigt werden.^

In vielen englischen Colleges, ebenso wie in manchen Schulen der Schweiz und Schwedens findet man Werkstätten für mechanische Hand- arbeiten, in denen die Schüler die Gelegenheit erhalten, sich im Ge- brauch der Hände und Werkzeuge zu üben. Wenn diese Einrichtungen richtig geleitet werden, so bereiten sie den Zöglingen grosses Ver- gnügen und noch grösseren Nutzen, indem sie ihnen die für das prak- tische Leben unentbehrliche Geschicklichkeit verschaflfen. Welchen jammervollen Anblick bietet mancher Gelehrte, Kichter oder Geistliche, der kaum im Stande ist, einen Bleistift zu spitzen, ohne dass er sich in die Finger schneidet! Es ist bemerkenswerth, dass solche Figuren fast nur in Deutschland und jenen Ländern vorkommen, in denen dieser Theil der Jugenderziehung gänzlich übersehen wird.

Endlich regt die Organisation der Gymnasien zu der Frage an, ob es vom pädagogischen Standpunkt richtig und zweckmässig erscheint, Knaben von 10 Jahren mit Jünglingen von 19 Jahren in derselben Schule zu vereinigen und sie der gleichen Disciplin, den gleichen Ge- setzen zu unterwerfen. In Süddeutschland und Österreich wurde der Gymnasial-Cursus früher in zwei Hälften getheüt und für jede der- selben eine besondere Schul- Anstalt errichtet; in Italien ist dies noch jetzt der Fall.^ Die Eintheilung in ein Ober- und Unter-Gynmasium hat zur Voraussetzung, dass in jeder dieser beiden Anstalten ein ab-

1 V. HuETER im Päd. Arch. 1879, H. 9. W. Flemmino im Päd. Arch. 1883, No. 7. J. Rosenthal: Die Vorbildung zum Universitätsstudium im Päd. Arch. 1885, H. 4. Lunge in der Zeitschr. des Vereins deutscher Ingenieure, JBd. 29, S. 854 u. ff.

* Auch der ministerielle Gesetzentwurf, welcher den Verhandlungen über

Schlussbetrachtungen, 501

geschlossenes Lehrziel verfolgt und erreicht wird. Sie bietet den Vor- theil, dass sie für diejenigen Schüler, welche das Gymnasium verlassen, bevor sie dasselbe absolvirt haben, einen natürlichen harmonischen Abschluss schafft; sie werden auf diese Weise davor bewahrt, dass sie mit einer abgehackten unbefriedigenden Bildung ins Leben treten. Zu gleicher Zeit wird damit ein vernünftiger Anhaltspunkt für die All- gemeinbildung Derer gegeben, welche sich dem niederen Beamten-Dienst widmen, eine Fachschule besuchen wollen u. a. m.

Wenn dem Unter-Gymnasium die Aufgabe ertheilt wird, in einem fünflährigen Cursus den Schüler im Gebrauch der Muttersprache zu üben und auszubilden, wobei das Studium einer zweiten Sprache, z. B. der lateinischen, unentbehrlich erscheint, mit den Elementen der Mathematik und den wichtigsten Thatsachen und Lehren der Religion, Geschichte, Geographie und der beschreibenden Naturwissenschaften bekannt zu machen und durch den Zeichnen-Unterricht in der sinnlichen Be- obachtung zu festigen, also mit einer formalen und sachlichen Allgemeinbildung auszustatten, sollte in dem Ober-Gymnasium der humanistische oder realistische Charakter der Geistesbildung einen deut- lichen Ausdruck erhalten.

Dasselbe könnte derartig organisirt werden, dass diese beiden Richtungen in Parallel-Klassen vertreten werden, deren Schüler in den meisten Lehrgegenständen, z. B. in der Muttersprache, in der Religion, Geschichte und Geographie, den modernen Sprachen und Zeichnen, ver- einigt und nur getrennt werden, damit die eine Abtheilung in der griechischen und lateinischen Sprache, die andere in der Mathematik und den Naturwissenschaften unterrichtet wird.^ Ähnliche Einrichtungen bestehen, z. B. an den dänischen, schwedischen und norwegischen Gymnasien. Doch müssen den Abiturienten dieser beiden Abtheilungen des Ober-Gymnasiums selbstverständlich die gleichen Rechte gewährt und der Zutritt zu sämmtlichen Pacultäten gestattet werden.

Während in den meisten Culturstaaten durch gesetzliche An- ordnungen dafür Sorge getragen wird, dass die Ärzte eine allgemeine wissenschaftliche Vorbildung besitzen, denkt man nirgends daran, wie wichtig es ist, dass nur gesunde Menschen sich diesem Beruf widmen. Es erklärt sich dies aus der Vernachlässigung, welche die körperliche Erziehung in unserem modernen Culturleben überhaupt erfahrt.

In der bayerischen Medicinal-Ordnung v. J. 1808 wurde befohlen,

die Reorganisation der höheren Schulen zu Grunde gelegt wurde, welche vom 16. April bis 14. Mai 1849 in Berlin stattfanden, verlangte eine solche Einrichtung. * Th. Puschmann in der Deutschen medicinischen Wochenschrift, Berlin 1883, No. 49. E. Rindfleisch in der Tägl. Rundschau 1887, No. 209.

502 ScMussbelrachtungen.

„zu den medicinischen Studien nur solche Subjekte zuzulassen, welche ohne Gebrechen des Körpers und der Sinne" sind. Jünglinge, welche mit chronischen Lungenleiden, Herzfehlern und andern organischen Erkrankungen behaftet sind, oder über eine unvollkommene oder fehler- hafte Sinnesthätigkeit klagen, sollten vom Studium der Heilkunde ab- gehalten werden; denn sie werden bei der Untersuchung und Behandlung der Kranken und überhaupt in ihrer gesammten ärztlichen Thätigkeit gehemmt, unterliegen den verschiedenen schädlichen Einflüssen und sind nicht im Stande, den erhofften Segen zu stiften. Zum Studium der Medicin und der Thätigkeit des Arztes gehört ein gesunder und kräftiger Körper. Die Krankheit verbittert das Gemüth und raubt den Lebensmuth ; wie nothwendig braucht diesen der Arzt für sich und für Andere! Seine Seelenstimmung spiegelt sich oft in dem Befinden seiner Kranken wieder.

Der Studiengang der Mediciner hat sich durch die Gewohnheit und die wissenschaftlichen Bedürfnisse in den einzelnen Ländern ziem- lich gleichartig gestaltet. Er beginnt mit den Naturwissenschaften, den sogenannten Hilfsfachern und der Anatomie und Physiologie, richtet sich also zunächst auf den Bau und die Funktionen des Menschen und seine Stellung in der Natur. Der Studierende sollte aber von der Vorschule so viele naturwissenschaftliche Kenntnisse mitbringen, dass er nicht genöthigt wird, an der Universität mit den Elementen der Mineralogie, Botanik und Zoologie zu beginnen, sondern sich darauf beschränken darf, diese Wissenschaften in ihren Beziehungen zur Medicin zu betrachten.

Da die Physik und Chemie am Gymnasium nur oberflächlich be- rührt werden können, die Kenntnisse auf diesen Gebieten für das Ver- ständniss der einzelnen Theile der Heilkunde unentbehrlich sind, und die reichen Lehrmittel der Hochschule die beste Gelegenheit zum Studium derselben bieten, so muss sich der Studierende der Medicin damit sehr eingehend beschäftigen.

Die Anatomie und Physiologie sind gleichsam die Grundsäulen der ärztlichen Bildung. Sie müssen mit erschöpfender Gründlichkeit behandelt und sowohl durch die mit Demonstrationen und Experimenten verbundenen Vorträge als durch die Betheüigung an praktischen Ar- beiten zum dauernden geistigen Eigenthum des Schülers gemacht werden. Die Betrachtung der anatomischen Verhältnisse vom ver- gleichenden, topographischen und chirurgischen Standpunkt controllirt und befestigt das in den Vorlesungen über systematische Anatomie und durch die Secir-Übungen erworbene Wissen, und die Histologie ver- vollständigt es in Bezug auf den feineren, nur mit dem bewaffneten

SMiLssbetracktungen. 503

Auge erkennbaren Bau der einzelnen Theile des Körpers. Wenn die Physiologie im Hinblick auf ihre hohe Bedeutung für die praktische Heilkunde gelehrt wird, so wird dadurch das Interesse des Studierenden für die Thatsachen dieser Wissenschaft wesentlich erhöht. Mit der Embryologie schliesst der erste Theil des medicinischen Studiums, der sich mit den normalen Verhältnissen und Zuständen des Körpers befasst.

Beim Studium der eigentlichen Heilkunde gilt es zunächst, eine Einsicht in das Wesen der Krankheiten und Krankheitszustände zu gewinnen. Die Vorlesungen über allgemeine und specielle Pathologie geben Aufschluss darüber. Die pathologische Anatomie zeigt die für die Krankheiten charakteristischen Veränderungen an der Leiche, und die experimentelle Pathologie lehrt ihre Entstehung und ihre gegen- seitigen Beziehungen.

Leider ist es an manchen Hochschulen dahin gekommen, dass die theoretischen Vorlesungen über die inneren Krankheiten, die Chirurgie, Augenheilkunde, Geburtshilfe und andere Theile der praktischen Heil- kunde für unnöthig gehalten werden. Allerdings mögen breit aus- gesponnene, ins Einzelne gehende Vorträge darüber auf Anfänger einen verwirrenden und ermüdenden Eindruck machen; für sie ist eine kurze gedrängte Übersicht der wichtigsten Thatsachen ausreichend. Aber diese ist unerlässlich, bevor der klinische Unterricht beginnt, dem die weitere Ausführung des Lehrstoffs überlassen wird.

Auch müssen demselben die CoUegien über Arzneimittellehre und Pharmakodynamik, allgemeine Therapie, Diätetik und Balneologie voran- gehen. Sehr zweckmässig ist es, wenn die Studierenden die Herstellung der Recepte in einer Apotheke oder einem pharmaceutischen Labora- torium praktisch erlernen, wie dies in dem Reisingerianum in München der Fall ist.

Der diagnostische Cursus und die propädeutische Klinik machen den Studierenden mit den gebräuchlichen Untersuchungs -Methoden be- kannt und lehren an einfachen, leicht zu durchschauenden Fällen, wie die Krankheit erkannt und behandelt wird. Die propädeutische Klinik füllt eine Lücke aus im medicinischen Studienplan, ist aber wohl nur an grossen ärztlichen Schulen ein unumgängliches Bedürfniss und lässt sich auch nur dort einrichten, wo man über ein grosses Kranken- material verfügt und die Menge der Schüler eine Trennung derselben in mehrere Abtheilungen wünschenswerth macht.

Die chirurgische Klinik setzt ausser Anderem die Kenntniss der chirurgischen Instrumente und die Fertigkeit in der Anlegung von Verbänden voraus und verlangt, dass der Studierende die Ausführung der Operationen an der Leiche lernt und selbst übt. Für die Ophthal-

504 Soklussbetraoktungen,

miatrische Klinik ist die Bekanntschaft mit der Anwendung des Augen- spiegels und die Betheiligung an einem Operations-Cursus nothwendig. Die geburtshilflichen Kenntnisse werden in der diesem Zweck gewid- meten Klinik und durch die Operations-tTbungen, welche am Phantom veranstaltet werden, erworben. Der Besuch der Special-Kliniken für Psychiatrie und Nervenleiden, Hautkrankheiten und Geschlechtsleiden, Erkrankungen des Kehlkopfes und des Gehörorgans, für Kinderkrank- heiten u, a. m. müssen den letzten Semestern der Studienzeit vorbehalten bleiben.

Die Studierenden der Kliniken scheiden sich in Auscultanten und Praktikanten, d. i. in Anfänger, welche am Unterricht nur einen recep- tiven Antheil nehmen, und in Vorgeschrittenere, die bei der Unter- suchung und Behandlung der Kranken mitwirken. Die letzteren er- halten Gelegenheit zur fortdauernden Beobachtung der Krankheitsfalle und werden dadurch mit den kleinen Verrichtungen bekannt gemacht, welche zur Krankenpflege gehören.

An den klinischen Unterricht schliesst sich die poliklinische Thätig- keit an, welche den tTbergang zur ärztlichen Praxis bildet. Wo den poliklinischen Instituten ein Theil der Armenpraxis übertragen ist, lernt der Praktikant dadurch die Ansprüche kennen, welche an den behandelnden Arzt gestellt werden, und gewinnt jene Sicherheit in der Beurtheilung der Sachlage, die für seine selbstständige Wirksamkeit nothwendig ist

In das Ende der Studienzeit gehören ferner die Vorlesungen über gerichtliche Medicin, Hygiene, Sanitätspolizei und Medicinalgesetzgebung, Medicinalstatistik, Thierheilkunde und vergleichende Medicin, medicini- sche Geographie und Geschichte der Medicin.

Die beiden letzten Unterrichtsgegenstände werden nur noch an wenigen Hochschulen gelehrt Während die Juristen, Theologen, Phi- lologen, die Architekten, Künstler, Officiere, kurz alle höheren Berufs- klassen sich eifrig mit der Geschichte ihrer Wissenschaft oder Kunst ^ beschäftigen, glauben die Ärzte in ihrer Mehrzahl, dass sie aus der Geschichte der Heilkunde nichts lernen können. Sie wissen nicht, wie viele Entdeckungen und Erfindungen nochmals gemacht werden mussten, weil sie im Verlauf der Zeit vergessen worden waren; die Geschichte der plastischen Operationen bietet ein drastisches Beispiel dafür.

Aber das Studium der Geschichte der Medicin ist nicht blos für die ärztliche Forschung nützlich und nothwendig; es hat auch einen

^ Die Thierärzte in Deutschland müssen seit 1883 ihre Kenntnisse in der Geschichte ihrer Wissenschaft im Examen zeigen ; aber von ihren höher stehenden CoUegen, welche dem Menschen ihre ärztliche Fürsorge widmen, verlangt man keine derartige historische Bildung.

SdüusahetracMungen. 505

hohen ethischen Werth für die Erziehung des Studierenden, indem es ihn Achtung und Bewunderung vor den Bestrebungen und Leistungen unserer Vorfahren lehrt, und es vervollständigt endlich seine Allgemein- bildung, so dass er die Dinge gleichsam von einer höheren Warte zu überschauen vermag. Es ist daher eine Pflicht der Unterrichtsbehörden, diesem Fach eine wohlwollendere Aufinerksamkeit zu widmen, als dies bisher geschehen ist.

Noch vor wemgen Decennien wurde Geschichte der Medicin an den Universitäten zu Berlin, Breslau, Halle, Königsberg, Greifswald, Marburg, Göttingen, Heidelberg, Würzburg, Erlangen, München, Strass- burg, Bern, Prag und Wien gelehrt, und heut sind es höchstens zwei oder drei derselben, an denen noch Vorlesungen darüber gehalten oder vielleicht auch nur angekündigt werden. Obwohl Männer, wie Bbücke, DU Bois-Reymond, Chaecot, Helmholtz, Hyetl, Viechow, Wundee- liiCH, ZiEMssEN u. A. auf den Werth und die Bedeutung der Geschichte der Medicin hinweisen, unterlässt man es doch, die Schüler darauf auf- merksam zu machen, und erachtet es für überflüssig, Lehrer dafür zu erziehen und anzustellen. Selbst Billeoth, der es einst „für eine Ehrensache der grösseren medicinischen Facultäten erklärte, dass sie dafür sorgen, dass Vorlesungen über Geschichte der Medicin in ihren Katalogen nicht fehlen", ^ sieht jetzt darin nur eine überflüssige Deko- ration und tritt dagegen auf, dass der Lehrer dieses Faches ein voll- berechtigtes Mitglied des medicinischen Professoren-CoUegiums ist, weil er die, Arbeitsleistung desselben nicht für ebenso gross als diejenige der Vertreter anderer Fächer hält. Aber die Aufgabe des deutschen Professors besteht nicht allein in der Lehrthätigkeit; er muss auch als Forscher an der Erweiterung und Vertiefung seiner Wissenschaft ar- beiten. Hier erwartet den Historiker der Medicin ein weites, noch wenig bebautes Feld der Thätigkeit.

Auch die medicinische Geographie, welche als Unterrichtsgegenstand mit der Geschichte der Medicin verbunden werden kann, stellt dem Lehrer und Forscher eine Menge von Aufgaben, welche bei dem zu- nehmenden Verkehr mit fremden Welttheilen zur Lösung drängen.

Es ist schwer, zu bestimmen, in welcher Zeit die ärztliche Fach- bildung erworben wird. Dies hängt von der Begabung und dem Fleiss des Studierenden, den Lehrkräften und Lehrmitteln und manchen an- deren Umständen ab.

Wenn dem Studierenden bei der Auswahl der CoUegien kein Zwang

* Th. Billroth: Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften, Wien. 1876, S. 80. Wiener Klinische Wochenschrift, 1888, No. 36, 6. Dec.

506 Schlussbetrachtungen.

auferlegt und die Freiheit gelassen wird, seine Kenntnisse zu erwerben, wie und wo er will, so wird dabei vorausgesetzt, dass derselbe als ver- nünftiger und besonnener Mann den Rathschlägen, die ihm in dieser Hinsicht von Sachverständigen ertheilt werden, Folge leistet. Wenn er dies aber aus Unverstand oder Leichtsinn unterlässt, so hindert ihn nichts daran. Die Folgen zeigen sich in den Lücken seiner Bildung, zu deren Ausfüllung ihm vielleicht in seiner späteren Studienzeit die Gelegenheit fehlt. Geschieht es erst in der ärztlichen Praxis, so müssen die Kranken, welche ihm in die Hände fallen, dafür büssen.

Nirgends wirkt die unumschränkte Lemfreiheit so schädlich, als in dem Studium der Medicin; denn hier werden dadurch Gesundheit und Leben der Menschen aufs Spiel gesetzt. In einzelnen Ländern und zwar gerade in solchen, welche sich freiheitlicher Institutionen rühmen, hat man deshalb auf die Lemfreiheit verzichtet und den Stu- dierenden der Medicin einen Studienplan vorgeschrieben, welcher genau eingehalten wird. Auch in Deutschland und Österreich ist dieselbe wenigstens soweit eingeschränkt worden, dass von den Studierenden bei der Meldung zur Prüfung der Nachweis verlangt wird, dass er durch mehrere Semester die wichtigsten Kliniken besucht hat. Es wäre zweck- mässig, derartige Bestimmungen auch für andere Theile des medicini- schen Unterrichts, welche für die ärztliche Bildung unentbehrlich sind, zu erlassen. Oder ist es denkbar, dass Jemand die Anatomie und Physiologie auf andere Weise, als durch die persönliche Unterweisung eines Lehrers, erlernen kann? ^

Dringend geboten ist es, dass die Studierenden regelmässig und aufmerksam am Unterricht Theil nehmen und den Lehrstoff in sich aufnehmen.^ An kleinen Hochschulen, wo Lehrer und Schüler sich persönlich näher treten, ergiebt sich dies von selbst; die Gefahr, dass die Studierenden dem Unterricht fern bleiben, ist vorzugsweise nur an grossen Universitäten vorhanden. Doch ist eine ControUe der Studenten hier mit solchenSchwierigkeiten verbunden, dass man davonabstehen muss.»

Die Erfolge des Unterrichts werden gesichert, wenn die Studieren- den durch gelegentliche Fragen zur aktiven Theilnahme daran heran- gezogen werden, wie dies jetzt in den mit praktischen Demonstrationen verbundenen Fächern gebräuchlich ist. Noch mehr wird dazu beitragen, wenn im unmittelbaren Anschluss an die Vorlesungen am Schluss jeder

^ Die Klagen über den unregelmässigen Besuch der Vorlesungen fehlten früher ebensowenig als heut. Schon Vicq. d'Azyb erklärte: „Die Studenten schreiben sich in die CoUegien ein, aber sie kommen nicht hinein." S. Gbuner's Almanach f. Ärzte, Jena 1791, S. 142.

* G. ScHMOLLEB im Jahrbuch f. Gesetzgebung, Leipzig 1886, H. 2, S. 286 u. ff.

Schlttssbetraehtimgen. 507

Woche ein Disputatorium veranstaltet wird, bei dem die Studierenden in Gegenwart ihres Lehrers oder seines Assistenten den Lehrstoff, der ihnen vorgetragen wurde, besprechen und über Irrthümer und Dinge, die ihnen unverständlich geblieben sind, aufgeklärt werden. Diese mehr nach der Schule als nach der Akademie geartete Form des Unterrichts hat sich an den militärärztlichen Bildungsanstalten bewährt und ist auch an den Universitäten eingeführt worden, wo sie in den philolo- gischen, historischen und juristischen Seminarien, in den wissenschaft- lichen Kränzchen und Vereinigungen geübt wird.

Dem gleichen Zweck wird es auch dienen, wenn es dem Studie- renden gestattet wird, nach der Beendigung des Lehr-Cursus über jeden Unterrichtsgegensfcand, also unter dem frischen Eindruck desselben, vor dem Lehrer oder seinem Vertreter eine Prüfung abzulegen. Die Zeug- nisse, die ihm darüber ausgestellt werden, würden ein werthvoUer Rechenschaftsbericht über seine Studienzeit sein und den Examinatoren, welche über seine Befähigung zur ärztlichen Praxis entscheiden sollen, ein vorläufiges Urtheil über seine fachmännische Bildung gestatten.

Die ärztliche Approbations-Prüfung muss sich über alle Theile der Heilkunde erstrecken und jene Summe von Kenntnissen verlangen, welche für den Arzt unentbehrlich sind. Wenn nach dem Abschluss des ersten, die naturwissenschaftliche Vorbildung umfassenden Abschnitts der medicinischen Studienzeit ein Examen über Naturgeschichte, Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie abgenommen wird, so sollte auch die Bestimmung getroffen werden, dass Niemand zu den Vorlesungen über die eigentliche Heilkunst zugelassen wird, bevor er jenes Examen bestanden hat. Versäumt er dies, so raubt ihm die Vorbereitung dazu später die Zeit, die er für seine ärztliche Bildung bedarf.

Bei den Prüfungen, welche der ärztlichen Approbation vorausgehen und nach der Beendigung der Studienzeit stattfinden, wird auf die praktischen Beweise der Tüchtigkeit mit Recht ein grosses Gewicht gelegt; denn die Erklärung anatomischer Präparate, die Vornahme von Leichen-Sektionen, die Untersuchung und Behandlung der Kranken, die Ausführung chirurgischer und geburtshilflicher Operationen u. a. m. bieten dem Candidaten Gelegenheit, zu zeigen, dass er von dem ärzt- lichen Wissen, das er sich erworben hat, den erforderlichen praktischen Gebrauch zu machen versteht.

Die Fragen, welche dabei gestellt werden, streifen vielleicht auch die übrigen Kenntnisse des Prüflings; aber sie sind zu sehr von zu- fälligen Umständen abhängig, als dass sie zu einem sicheren Urtheil über seine ärztliche Gesammtbildung genügen. Dazu ist ein mündliches Schluss-Exanien nothwendig, welches die Ergebnisse der vorangegangenen

508 Schkissbetraehtungen.

praktischen Prüfungen ergänzt und berichtigt und alle Fächer in Be- tracht zieht.

Zu Examinatoren in den einzelnen Prufungsgegenständen sind ohne Zweifel Personen, welche darin als Lehrer wirken, mehr geeignet, als solche, die dem betreffenden Wissensgebiet femer stehen. Nur wer dasselbe vollständig beherrscht, weiss passende Fragen zu stellen und den Werth der Antworten richtig zu beurtheüen. ^ Es ist daher am besten, den Lehrer-CoUegien der medicinischen Facultäten und Schulen das Prüfungsgeschäft zu überlassen. Doch verlangt es die Autorität des Staates, dass er als Mandatar der Gesellschafk auch diesen Zweig der ünterrichtsverwaltung überwacht und dafür Sorge trägt, dass Ärzte gebildet werden, welche den Aufgaben ihres Berufs gewachsen sind. Damit erledigt sich zugleich die Frage, ob die Arzt« in Bildungs- anstalten, welche vom Staat geleitet werden, oder in solchen, die von ihm unabhängig sind, erzogen werden sollen. Dem Staat muss in jedem Falle der Einfluss auf das Studien- und Prüfungswesen zugestanden werden, den er im Interesse der Bevölkerung ausüben muss.

Wenn es sich bei der ärztlichen Approbations-Prüfiing hauptsächlich darum handelt, festzustellen, ob der Prüfling die für die ärztliche Praxis nothwendige Befähigung besitzt, so sollte man bei der Verleihung des Doktorats höhere wissenschaftliche Anforderungen stellen und verlangen, dass der Bewerber um diese akademische Würde seine ärztlichen Col- legen an Kenntnissen überragt Die Prüfung, in welcher er diesen Nachweis führt, wird daher in die einzelnen Disciplinen der Heilkunde tiefer eingehen und auch manche Fächer berühren, welche, wie z. B. die Geschichte der Medicin und die medicinische Geographie, in der Approbations-Prüfung nicht berücksichtigt werden, weil sie für die ärzt- liche Bildung zwar wünschenswerth, aber nicht unentbehrlich sind.

Desgleichen muss darauf gesehen werden, dass als Doktor-Disser- tationen nur Arbeiten angenommen werden, welche einen wissenschaft- lichen Werth besitzen. Mit Recht hat man fast überall aufgehört, zu verlangen, dass sie in lateinischer Sprache geschrieben werden; denn „in dem ausgetretenen Geleise dieses in seiner modernen Gestalt ver- armten Idioms verbirgt sich trefflich die eigene Unklarheit der Begriffe und die Dürftigkeit der Gedanken; Gemeinplätze, die im deutschen Gewände unerträglich wären, klingen doch etwas vornehmer in der lateinischen Umhüllung", wie J. v. Döllingee schreibt.^

Wenn der medicinische Doktor-Titel eine Auszeichnung für wissen- schaftliche Verdienste ist und die geistige Elite des ärztlichen Standes

* Pbünelle: Discours des 6tudes de m^decine, Paris 1816, p. 21.

* J. V. Döllinoer: Die Universitäten sonst und jetzt, München 1867, S. 16.

ScMussbetroGhiungen, 509

bezeichnet, so darf man verlangen, dass die Erwerbung desselben eine unerlässliche Vorbedingung für Jeden ist, der eine hervorragende Stellung im öffentlichen Sanitätsdienst, im militärärztlichen Corps oder in der Leitung eines Krankenhauses anstrebt oder die Lehrthätigkeit an einer medicinischen Facultät oder Schule ausüben will.

Im tTbrigen sollte die letztere Jedem freistehen, der auf irgend einem Wissensgebiet verdienstvolle Leistungen aufweisen kann und dadurch sowohl wie durch seinen Charakter die Gewähr bietet, dass er der Anstalt, an welcher er wirken will, zum Nutzen und zur Ehre gereichen wird. Wenn durch die Anstellung und Besoldung der Lehr- kräfte, welche die Vollständigkeit der ärztlichen Bildung erheischt, für die nothwendigen Bedürfhisse einer medicinischen Schule gesorgt worden ist, kann es ihr nur wünschenswerth und vortheilhaft sein, dass der Unterricht durch Gelehrte, welche sich freiwillig und ohne Anspruch auf Entgelt der Lehrthätigkeit widmen, bereichert wird. Der Privat- Docent erhält nur das Recht, zu lehren, darf aber nicht dazu verpflichtet werden, so lange er nicht einen bestimmten Lehr- Auftrag hat und damit eine Lücke im Lehrplan ausfüllt. Seine Thätigkeit bildet die Vorbereitung für das Lehramt, zu welchem er, wenn er sich als Lehrer und Forscher auszeichnet, später berufen wird. Aber dieses Ziel wird nur von Einzelnen erreicht; denn dazu gehört Geist, Geduld und Geld. Wer über diese drei Dinge nicht verfügt, sollte darauf verzichten, einen Beruf zu ergreifen, der ihm nur trügerische Hoflhungen vorgaukelt, deren Erfüllung er vergeblich erwartet.

Mit Recht werden bei der Besetzung der erledigten Professuren vorzugsweise die Privat-Docenten berücksichtigt; denn dadurch sichert man sich vor der Gefahr, dass Derjenige, welchem das Lehramt über- tragen wird, dazu nicht geeignet und befähigt ist. Es ist ein Wagniss, Jemanden damit zu betrauen, der in der Lehrthätigkeit noch keine Übung und Erfahrung besitzt.

Geringe Berechtigung hat die Scheidung der Professoren in ordent- liche und ausserordentliche, wie sie an den Hochschulen Deutschlands und anderer Länder üblich ist. Die ausserordentlichen Professoren stehen den ordentlichen im Range und in der Besoldung nach und haben ausser dem Titel oft kaum irgend welche Vorrechte vor den Privat-Docenten. In diese Kategorie werden die Vertreter der sogenannten Nebenfacher, ferner einzelne Lehrkräfte, welchen die Ergänzung und Vervollständigung eines Hauptfaches obliegt, und jene Privat-Docenten eingereiht, die den Professor-Titel als Belohnung für ihre Verdienste erhalten haben.

Ohne Zweifel liegt eine Ungerechtigkeit darin, dass man einen

510 Sehlussbefy'oehtungen.

Lehrer dafür bestraft, dass er seine Kräfte einem Unterrichtsgegenstande widmet, welcher nicht zu dem täglichen Brot des Berufs gehört. Wenn es sich dabei um Männer handelt, die zu den Zierden der Wissenschaft zählen, so ist es nicht blos hart, sondern auch unvernünftig. Man sollte ihre selbstlosen Bestrebungen anerkennen und fordern, nicht aber durch ungerechte Kränkungen herabsetzen und lähmen.

Gegen die Gleichstellung der Vertreter der Nebenfacher mit den- jenigen der Hauptfacher wird geltend gemacht, dass ihre Lehrthätigkeit nicht in demselben Grade in Anspruch genommen wird; aber dieselbe kann doch nicht gleich der Arbeitsleistung eines Tagelöhners nach der Zahl der darauf verwendeten Stunden abgeschätzt werden.

Vor Allem ist es sehr schwer, zu bestimmen, welche Disciplinen der Heilkunde als Nebenfächer im medicinischen Unterrichtsplan zu betrachten sind. Früher wurde sogar die Geburtshilfe, die Augenheil- kunde und die pathologische Anatomie dahin gerechnet. Die Meinungen sind getheilt, ob manche Zweige der Medicin, wie z. B. die Histologie, die gerichtliche Medicin, die Dermatologie, die Laryngologie u. a. m. als Haupt- oder Nebenfächer gelten müssen. Es wird dabei auch auf die Verhältnisse der Schule ankommen; denn es ist selbstverständlich, dass medicinische Facultäten, wie diejenigen zu Paris, Wien oder Berlin, nicht mit dem gleichen Maass gemessen werden dürfen, als kleine ärztliche Schulen. Hier muss auf manche Einrichtung, auf manche Lehrkanzel verzichtet werden, die dort nothwendig und unentbehr- lich ist.

Schon der Frankfurter Congress und der Jenaer Reformverein verwarfen die Eintheilung der Professoren in Ordinarien und Extra- Ordinarien und erklärten, dass es vemunftgemäss nur zwei Klassen der akademischen Lehrer geben soll, nämlich Professoren und Privat- Docenten. Die ersteren üben die Lehrthätigkeit im Auftrage der Schule aus und werden dafür besoldet; die letzteren betheiligen sich daran aus freiem Willen und erhalten für ihre Dienstleistungen keine Ent- schädigung. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass einzelnen Privat- Docenten als Anerkennung ihrer Leistungen der Professor-Titel verliehen wird; doch dürfen sie dabei nur dem Namen nach, nicht aber im Range und in den Rechten zu Professoren vorrücken.

Die Professoren bilden das Lehrer-CoUegium, welches die An- gelegenheiten der Facultät oder Schule leitet und besorgt. Jedes Mit- glied desselben hat bei den Berathungen und Abstimmungen die gleichen Rechte, mag es der Vertreter eines sogenannten Hauptfaches oder einer engbegrenzten Specialität sein; denn über allgemeine Unterrichts- Angelegenheiten kann sich Jeder von ihnen ein Urtheil bilden, und

Schlussbetraehtimgen, 511

in Fragen, welche ein einzelnes Fach angehen, wird die Meinung des Sachverständigen den gebührenden Einfluss ausüben.

Durchaus unbegründet ist die Befürchtung, dass durch die grosse Zahl der Mitglieder des Lehrer-CoUegiums „das Interesse an dem Ge- sammtwohl der Facultät abgestumpft wird". Die Verhandlungen der Parlamente, in denen Hunderte von Volksvertretern aus allen Theilen des Landes zusammenwirken, zeigen, dass dies möglich ist, ohne dass dadurch „die Einheit des Handelns aufgelöst wird". Viel näher liegt die Gefahr, dass bei einer kleinen Mitgliederzahl des Lehrer-CoUegiums die Verhandlungen einen familiären Charakter annehmen, und persön- liche Rücksichten mehr, als es dem Interesse der Gesammtheit ent- spricht, ins Gewicht fallen.

Die Überlegenheit des Geistes, die Eigenschaften des Charakters und die wissenschaftlichen Leistungen rufen zwischen den Mitgliedern eines CoUegiums Unterschiede hervor, welche eine wohlthätige Wirkung äussern.

Ebenso natürlich und berechtigt sind die Verschiedenheiten in der Besoldung der Lehrer; die Verdienste um die Wissenschaft, die Erfolge und die Dauer der Lehrthätigkeit kommen dabei in Betracht. Dagegen sind die übermässigen Ungleichheiten im Einkommen der Professoren, welche durch die CoUegien-Gelder geschaffen werden, nicht zu ver- theidigen; denn die Zahl der Hörer hängt hauptsächlich davon ab, ob der Unterrichtsgegenstand für die Prüfung gebraucht wird, und ist nur selten das Verdienst des Lehrers. Trägt er eine Wissenschaft vor, welche geringe Verbreitung findet, so wird er, selbst wenn er eine glänzende Rednergabe, eine machtvolle Persönlichkeit und einen Welt- ruf besitzt, nur einen kleinen Kreis von Schülern um sich sammeln. Die Studenten sind genöthigt, in erster Linie diejenigen Studien zu treiben, von denen sie die Begründung ihrer Lebens-Existenz erwarten. Sie deshalb eines verflachenden Materialismus anzuklagen, ist thöricht; denn sie erfüllen damit eine Pflicht gegen sich selbst und gegen ihre FamUie. Aber nicht weniger sinnlos ist es, wenn man die Lehrer, welche auf diese Verhältnisse keinen Einfluss besitzen, dafür belohnt oder bestraft, indem man ihnen grössere oder geringere CoUegien- Honorare zuweist.

Diese Ungleichheiten lassen sich auch kaum durch eine etwaige Vermehrung der Arbeitsleistung rechtfertigen, wie C. Hasse gezeigt hat;^ denn sie verändert sich nicht wesentlich, ob 2 oder 200 Zuhörer anwesend sind.

Die Einrichtung, die CoUegien-Gelder den Lehrern zu überweisen,

^ C. Hasse: Die Mängel deutscher Universitätseinrichtungen und ihre Besse- rung, Jena 1S87, S. 28 u. ff.

512 Sehhissbetrachtungen.

ist auch vom ethischen Standpunkt verwerflich. Der ideale Beruf des Lehrers wird herabgesetzt, wenn die geschäftliche Seite desselben der- artig in den Vordergrund tritt. „Man spiegelt sie uns zwar als die- jenige Belohnung vor, auf die das glückliche Talent des thätigen Mannes überall In der Gesellschaft einen unbestrittenen Anspruch hat. Allein es ist dies keine würdige, sondern eine herabwürdigende Be- lohnung des Lehrers."^

Der Staat hat die Pflicht, diesen Zustanden ein Ende zu machen. Er darf verlangen, dass die Schulgelder, welche die Besucher der von ihm unterhaltenen ünterrichtsanstalten zahlen, zum Besten derselben ver- wendet werden. Wieviel könnte zur Vermehrung der Lehrmittel, zur Unterstützung wissenschaftlicher Arbeiten, zur Erhöhung der Be- soldungen und überhaupt zur Heilung des grossen Fehlers geschehen, an welchem, wie Walter Peery im englischen Unterhause erklärte, die deutschen Universitäten leiden, nämlich des Mangels an Geld, wenn die Einnahmen aus den CoUegien-Geldem zu selchen Zwecken ver- wendet würden?

Eine weise Unterrichtspolitik wird die Lösung dieser Frage an- bahnen, mit Schonung der erworbenen Rechte des Einzelnen durch- führen und sich dadurch den Dank des deutschen Volkes verdienen, welches seine Universitäten liebt und jeden Schatten, der ihr reines Bild trübt, schmerzlich empfindet

Keine menschliche Einrichtung ist frei von Mängeln, Im Eingen nach Verbesserung und Vervollkommnung des Bestehenden liegen die Aufgaben des Lebens. Auf welchem Gebiet ist dieses Streben aber mehr berechtigt und geboten, als dort, wo es sich um die Erziehung der Ärzte handelt, von deren Wissen und Können die Gesundheit und das Leben der Menschen abhängt?

„Das kostbarste Kapital der Staaten und der Gesellschaft ist der Mensch. Jedes einzelne Leben repräsentirt einen bestimmten Werth. Diesen zu erhalten und bis an die unabänderliche Grenze möglichst intact zu bewahren, dies ist nicht blos ein Gebot der Humanität; es ist auch in ihrem eigensten Interesse die Aufgabe aller Gemeinwesen." Mit diesen Worten verkündete der früh verstorbene, unglückliche Kron- prinz Eudolf von Österreich eine Staatspolitik, die wie das Evangelium der Zukunft klingt.

^ H. J. y. Wessenbebg: Die Eeform der deutschen Universitfiten, 2. Aufl., Würzburg 1866, S. 39. Auch P. Frank (a. a. 0. VI, Th. 1, S. 290 u. flf.) sprach sich gegen die CoUegien-Honorare aus. Die Gründe, welche der Minister Jos. Unger in der Sitzung des österr. Abgeordn.-Hauses vom 28. Jänner 1876 dafür vor- brachte, konnten mich von der Zweckmässigkeit dieser Einrichtung nicht überzeugen.

Register.

Abano, Pietro v., 179.237. Abdana Saracenus 168. Abdel-Letif 137. 147. Abderrhaman 135. Abella 169. Abercrombie 395. Abernethy 415. Abulfarag 131. 137. Abulkasem 138. 139. 140.

141. Acbilleus 31. Achillini 247. Ackermann 317. Adalberon 167. Adala 168.

Adalbert v. Mainz 179. Adauson 369. Addison 395. Adelmus 171. Adhad ed Daula 146. Aegidius v. Corbeil 170.

177. 180. Aeneas Sylvias 242. Aeschrion 79. 84. Aetius 128. Afflacius 172. 177. Agathias 133. Agenio, 0. 206. Agrate, M. 271. Agricola, Georg 246. A^ricola, Hud. 243. Ahron 133. Aichholtz 275. Aiffel, Job. 210. Alberti 249. 271. Albertini 308. 333. Albertus Magnus 237. Albinus 79. Albinus, B. S. 337. 338.

385. Albrecht V. von Bayern

261. Alcuin 161. 163. 164. PuscHHANN, Unterricht.

Alexander von Macedo- nien 15. 61. 62.

Alexandei!^ (von Damas- kus) 80.'

Alexander Severus 83. 110. 111.

Alexander Trallianus 128.

Alexander III., Pabst 235.

Alexander VI., Pabst 189.

Alexippos 58.

Alfons VIII. V. Spanien ' 194.

Algizar 143.

Alhazen 136.

Ali Abbas 138. 151.

Ali Ben Issa 146.

Alibert 395.

Alkibiades 43.

Alkinani 132.

Alkmaeon 38.

Alkon 106.

Alphanus 167. 177.

Alpini, P. 254.

Amici 382.

Ammann 304.

Ammianus 63. 96.

Ammonios 68. 96. 98.

Amontons 293.

Ampere 380.

Anaxagoras 39.

Andral 388. 394.

Andreas von Karystus 67.

Andromachus 89. 111.

Anglicus, Cardinal 187.

Anjou, Carl v. 219.

Annesley 395.

Anseimus von Hivelberg 179.

Anthimus 156.

Antoninus Pius 95. 109.

Antyllus 97. 99.

ApoUon 29. 73.

ApoUonius 96.

Apulejus 128. Aquapendente, Fabrizio

ab 249. Arago 291. 380. Aranzio 249. 2^3. Archagathos 75. 110. Archelaos 43. Archimatthaeus 171. 177. Arculanus 201. Ardern, J. 226. 229. Aretaeus 93. 94. 128. 428. Arfvedson 378. Argelata, Peter v. 2 10. 225. Aristophanes 33. 43. Aristoteles 39. 44. 45. 48.

49. 61. 65. 88. 133. 134.

245. 280. 381. Arktinos 30. Aselli, G. 299. 337. Asklepiades 75—77. 88. Asklepios 29—37. 42. 44.

73. Asoka 14. Astruc 214. 317. ^thenaeus 78. Attalus III. 69. Auenbrugger 308. 392. Augustis, Quiricus de 212. Augustus 109. Austriffildis 160. d'AvelTino-Caracciolo 362. Avempace 151. Avenzoar 138. 140. 153. Averroes 138. 151. 152. Avicenna 138. 140. 151.

152. 201. 279.

Bacchios von Tanagra 67 Bachtischua 134. 145. 153 Bacpn, Koger 237. Bacon von Verulam 284

318. 319. 364, Badia 300.

33

514

Register,

Baer, K. E. v. 373. 386. Baerensprung 395. Baglivi 302. Baillou 260. Baker, A. 338. Baiard 398. Baidinger 317. Balthasar de Tuscia 197. Baraillon 433. Barbarus 80. Barth, Jos. 338. 355. Barthez 383.

Bartholinus 285. 299. 309. Bartholomaeus 177. Bartholomaeus Anglicus

237. Basedow 395. Basilius 124. 125. Bateman 395. Bathurst 300. Batsch 372. Baudeloque 436. Baudot 433. Bauhin 257. 275. Baverius 238. Bayle 394. Baynard 311. Beaumont 388. Beaiivais, Vincenz v. 237. Beauvais de Pr^aux 433. Becher 288. Becher, J. 332. Becquerel 388. Beda 129.

Beer, G. J. 355. 405. Beethoven 366. Ibn el-Beithar 138. 154. Abu Bekr 130. Bell 385. 389. 390. Bellini 296. 299. 304. Belon 246. Bencio, H. 237. Benedetti, A. 230. 254.

261. 272. Benedictus Crispus 165. Benedikt 119. 162. Benesch de Waitmuel 196. Benevieni 309. Bennet 311. Bent 318. Berengar von Carpi 206.

247. 271. Bergmann 288. Beringer 345. Bemard 88.

Bemard, Cl. 388. 389. 394. Bernhard, hl. 180. Berres 385. Bertapaglia, L. 225.

Bertharius 162. 165.

Berthollet 376.

Berti 289.

Bertin 296.

Bertuccio 206.

Berzelius 877. 378.

Bessarion 241.

Bichat 383. 386.

Bidloo 336.

Biett 395.

Billroth 505.

Birkman 329.

Bischof, J. R. 395.

Bischoff, Th. 386.

Black 375.

Blasius 401.

Blin 433.

Blondlot 388.

Blumenbach 87. 366. 372.

383. 386. Blundell 404. Bodenstein, Ad. v. 283. Boeck, K. W. 395. Bogr, L. 407, Boerhaave 306. 308. 317.

342. 355. BoSthus 80. 105. Bohemund 167. Bohn 304. Bonacciuoli, L. 257. Bonjean 440. Bonifaz VIII., Pabst 206. Bonet 309. Bonn 386. Bonnet 304. 371. de Boot 307. Bordeu 308. 383. Borelli, Alf. 293. 295. 299.

302. 306. Borgia, Lucrezia 256. Borgognoni 224. 227. Borsieri 345. Böse 292. Botallo 252. . Bottoni, A. 278. Bouillaud 394. Bourgois, L. 356. Boyer 387. Boyle, Rob. 285. 287. 288.

290. 311. Braid 400. Brambilla 339. Branca 229. 255. Brandis 311. . Braun, A. 369. Breschet 385. Bretonneau 394. Brewster 381. Bright 395.

Brisseau-Mirbel 369. Brissot, P. 258. Broussais 382. Brown, J. 382. 383. Brown, R. 369. Brücke 505. Brünninghausen 401. Brunhilde 157. Brunner 296. Bruno, G. 318. Bruno v. Longoburgo 224. Brunschwyg, Hieron. 282. Buch, L. V. 368. Buchhom 406. Budd 395. Buddha 14. Budhadaso 15. Bulaeuiä 160. Buffon 305. 339. 371. Burdach 366. Burke 423. Burzweih 121. Buschius 242.

Caelius Aurelianufi 93.

128. Caelius Aurelius 162. Caesar 109. 422. Caesarius v. Heisterbach

180. Calcar, J. 271. Caldani 303. Calenda, Costanza 169. ' Calmeil 395. Calvin 264. Camerarius 286. 316. Camper, P. 304. 337. 371. Canamusali 141. Canani 247. 271. de CandoUe 369. Cantimpr^, Thomas von

230. Canton, J. 293. Cardanus, Hieron. 246. Carl IV., Kaiser 188. 196.

196. Carl V., Kaiser 259. Carl IX. von Frankreich

184. 278. Carlisle 377. Carminati 301. Carret 437.

Carus, K. G. 366. ?72. 390. Cascellius 103. Casper 408. Cassebohm 298. 313. Casserio 249. 271. Cassiodor 119. 161. Cassius Felix 128.

Begister,

515

Cato 71. 72. 74. 75. 83.

123. 157, Cavendish 288. 875.. Caventon 398. Cellini, Benyenuto 271. Celsus 68. 78. 85^ 96. 98.

100. 1Q8. 173. 289. 253. 428.

Celtes, Conr. 243. Cesalpini 246. 269. Cesi, Fe4erigo 320. Cesio, C. 336, Cbabas 16.

Chalid Ben Jazid 132. Chamberlen 315. Ohanak 135. Charaka 6—13. 135. Charcot 505, Oharmis 105. Charondas 56. Chassaignac 401. Chauliac, Guy v. 203. 206.

210. 224. 228. 229. 230.

231. 238. Chi^ussier 383. Cheiron 29., 31. Cheselden 314, 315« 836. Chevalier .382. Chiarugi 395. Childebert 125. » Chirac 300. Chladni 382. Chopart 313. 401. 436. Christispn 408. Chrysippos 64. 65. lOhrysolaras 241. Chrysostomus 123. Cicero 1. 75. 240. 422. Ciucci 314. Civiale 314. 403. Claudius 112. 123. Cleland 405. Clemens V., Pabst 183. "Clemens VI., Pabst 216. .Clemot 403. Clocquet 400. Cockburn 308. Cole, W. 299. Colombo, R. 250. 270. 274.

298 Fr^re Come 314. Commodus 81. Comte, Ä. 367. de Condillac 318. Conolly, J. 396. Conrad von Schiverstadt

198. Conring 330. Constantin 83.

Constantin Africanus 166.

177. Copho 170. 177. Corra 146. 153. Corradi, A. 207. Cortona, Pietro da 336. Oornarus Dipm. 283. Cortesi 256. Corvi, G. 237. Oorvisart 392. 394. 436. Cotugno 298. Cowper, W. 297. Crassus 75. Cranach, Lucas 243. Crato von Crafftheim 283, Cronstedt, A. v. 368. Cruikshank 377. Cruveilhier 395. CuUen "382. Cumano, M. 225. Curio 279. Curri^ 311. Cusanus, Nicol. 246. Cuvier 372. 373. Cyrus 16. Czolbe 367.

Daguerre 381. Dalton 376. 377. Damokrates 89. Dante 237. Daran 314. Daremberg 244. 447. Darius 16. 38. 56. Darwin, E. 333. Darwin, Ch. 374. Daschkow 493. Daubenton 339. Daviel 315.

Davy, H. 377. 378. 400. Deisch 358. Deleau, L. 405. Delpech 403. 404. Demetrius 111. Demetrius von Apamea 67. Demetrius Pepagomenus

129. Demokedes 38. 56. Demokrit 40. 76. 318. Demosthenes 100. Demours 298. Deroldus 167. Deeault 433. Descartes 291. 318. 390. Desfosses 398. Desiderius 167. Despars, J. 237. Deventer, H. v. 314. van Deyl, 882.

Deymann 338. Dhanvantari 11. Diaulus 106. Dieffenbach 403. 404. Diogenes 39. Diokles von Karystus 66. Dionis 314. 356. Dionysios 43. Dioskorides 90. 128. 161.

269. Dodonaeus 261. Dodart, D. 301. 304. DöUinger 366. 372. DöUinger, j. v^ 413. 503. Dolaeus 311. de Dondi 237. Donatus 160. Dorothea Sibylla v. ßVieg

357. Douglas, J. 296. Drakon 43. Drebbel 289. Drelincourt 298. Ibn Dschpldschol 141. du Biois-Reymond 505. Duchenne 395. Dürer, Albrecht 243. 271. Dufay 292. 339. Dumas 378. 888. 404. Dupuytren 403. Durand 98. Dus6 316. Dutrochet 370. 388. Dutthagamini 14. Duverney 298. 304. 305.

337.

Eberle 388. Ebers 17. 18. 21. Echter, Jul. v. Würzburg

263. Egeberg 403. Ehrenberg 372, 386. Ehrenritter 355. Eir 157. Elinus 168. Eliot 432. Elisa 25. Elolathes 38. Else 312. Empedokles 39. Ennana 16.

Enricus de Padua 168. Epikur 88. Epimarch 38. Epione 30. Epiphanius 63. Erasistratos 64—67. 78. !Erasmus y. Rotterdam 243 .

33*

51G

Register,

Erastus 279. Ermerins 46. Eros 103. Errards, Ch. 336. Eschasseriaux 433. Esquirol 395. Estienne, Ch. 271. d'Estouteville , Cardmal

236. Eudemos 67. Eudemus (der Philofeoph)

80. Euelpistus 96. Euenor 58. Euklid 134. 422. Euler, Leonh. 291. Eunapios 70. Euripides 43. 44. 422. Euryphon 42. Eustachio 248. 250. 271.

Fabiola 124. 125.

Fabricius 372.

Fabry v. Hilden 313. 356.

Fabrenheit 293.

Falcucci, Nie. 237.

Faloppio 248. 274.

Falret 395.

Fannius 103.

Fantoni 314.

Faraday 378. 380.

Fechner 367.

Ferdinand III. v. Spanien 194.

Ferdinand , der Katho- lische 207,

Ferdinand II. von Medici 293.

Ferrein 304.

Feuchtersieben, v. 455.

Fichte 366.

Filkin 313.

Flourens 388. 389. 4C0.

Floyer 311.

Fludd 289.

Fohmann 385.

Folz 238.

Fontana 309. 336.

Fontano 273.

Forat Ben Schannatha 1 32.

Förster 371.

Fothergill 309.

Fourcroy 376. 433. 436.

Foville 395.

Fracastorio 260.

Francke 324. 328.

Franco, P. 253. 254. 257.

Frank, Peter 336. 338. 360. 393. 4Ö8. 458.

Franklin 293.

Franz I. von Frankreich

262. 277. 280. Fraunhofer 381. B82. Freidank 268. Freind 128. 160. 317. Frerichs 395. Fresnel 291. 381. Fried 358. Friedrich L, Kaiser 185.

205. Friedrich II., Kaiser 174.

176. 182. 185. 200. 204.

219. 224. 256. Friedrich, der Weise, von

Sachsen 262. Froriep 387. Fuchs, C. H. 395.

Gaertner 369.

Galen 18. 25. 45. 65. 66.

69. 79—99. 103. 104.

105. 111. 112. 121. 122.

128. 132. 137. 161. 163.

170. 174. 201. 203. 204.

210. 247. 250. 253. 279.

329. 362. 389. 428. Galilei 289. 293. Gall 390. 395. Gallici, Job. 198. Gallot 433. Garbo, Dino di 188. 201.

237. Gariopontus 168. 177. Gassendi 290. 318. Gasser 297. Gaub 342. Gauss 381. Gautier d'Agoty 337. Gavarret 388. Gay-Lussac 377. 378. 380. Gaza, Th. 241. Geber 137. Geiger 398. Oelliuä 63. 107. Gen^a 3S6. Georgios von Trapezünt

241. Gerbert d'Aurillac 163.

179. V. Gersdorf 252. 282. Gessner, Conr. 246. Gevicka, Nicolaus de 197. Gibbon 124. Giliani, Aless. 206. El Mansur Gilavun 148. Gilbertus, Anglicus 237. Girard 31. Girtanner 382.

GiBuIf 166.

Givaka Komarabhakka 14. ^

Gladstone 409.

Glauber 287.

Glftucon 161.

Glaukias 58. 68.

Glisson 296. 302. 303. 307.

Gmelin 878. 388.

Gölnitz 191.

Gönguhrolf 157.

Görcke 476.

Goethe 130. 345. 366. 369.

Gordon 287.

Gorgias 96.

Graaf, R. de 297.

de Gradibus 210. 237. ^•

Graefe, C. F. 404.

Graefe, A. v. 405. 406.

Grapheus , Benvenutus 230. 237.

Gray, St. 292.

Gregoire 316.

Gregor v. Nazianz 124.

Gregor v. Tours 126.

Gregory, J. 291.

Grew 285.-

Griesinger 395.

Griffon 256.

Grimaldi 291.

Grimaud 383.

Gruithuisen 403.

Grüner 317.

Guaineri, A. 237.

Guama, Rebecca 169.

Guericke, O. v., 289. 292.

Guglielmini 285.

Gnglielmus de Bononia 168.

Guglielmus de Rävegna 168.

Guidi 271.

Guillemeau, J. 257. 271.

Guillotin 433.

Guinter v. Andernach 272.

Guiscard 167.

Guislain 395.

Guizot 157.

Guntram 160.

Gustav Adolf von Schwe- den 322.

Guttenberg 244.

Guyot 313.

Hadrian 109.

Hagn, A. de 308. 342 344.

Haeser 129.

Hahn 311.

Hadji Khalfa 134. 151.

Register.

517

Haldin 136.

Hakim Bümrillah 144.

Haies, St. 299. 310. 370.

Halevy, Juda 178.

More Hall 291.

Hall^ 433.

Haller 166. 295. 302. 305. 310. 314. 317. 332. 337. 338. 342. 347. 382.

Harn 305.

Hamann 367.

du Hamel 288. 295. 370.

Hammer-Purgställ 143.

Härder 301.

Hare 423.

Harting 290.

Hartmann v. d. Aue 167. 180.

Hartnaek 382.

Hartsoeker 305.

Harun al Raschid 134.

Harvey 298. 299. 305. 309. 415.

Hasse, C. 511.

Hauy 368.

Havers, Cl. 295. 336.

Hazon 334.

Hebra, F. 395.

Hedschadscli 132.

Hegel 366. 367.

Heinrich I. 163.

Heinrich VI., Kaiser 227.

Heinrich IV. von Frank- reich 184.

Heinrich VIII. von Eng- land 350.

Heister, Lor. 357.

Heliodor 97. 98. 99.

Helios 29*

Helm 388.

Helmholtz 382. 406. 505.

Helmont 287. 306.

Henke, A. 408.

Henle 386.

Henshaw 300.

Hensler 317.

Heraklides 68. 76.

Heraklit 39.

Herder 366.

Heribrand 163.

Hermann, J. 372.

Hermanus Coiitractus 179.

Hennann v. Treysa 198.

Hermes 103.

Hero 96.

Herodikos 54.

Herodot 29.

Herophilos 64. 65. 66. 68.

Hesiod 29.

Hesse 398. Heurne, 0. v. 341. Heurteloup 403. Hewson 300. Hieronymus 124. Highmore 295. Hikesios 67. St. Hilaire, G. 372. Hildegard, . hl. 165. Hildegard, Kaiserin 160. Himly 406. Hippokrates 1. 29. 37. 39.

40—61. 96. 128. 133.

134. 161. 162. 163. 174.

201. 203. 222. 279. 329.

428. Hisinger 377. Hodgson 394. Hoffmann F., 288. 306.

311. 324. 340. 343. 348.

354. Holbein, Hans 243. Homberg, W. 288. Homer 29. 58. 71. 422. Honein 135. 153. Honestis, Christoph de

212. Honorius III., Pabst 235. Hooke, Rob. 286. 291.

292. 295. 296. Hope 394. Horaz 72. 422. Horekowicz, Dudith von

258. Horenburg, E. 357. Hrabanus Maurus 164.

165. HrafnSweinbiömsson 158. Hufeland 476. Hugo 189. Humboldt, Alex. v. 371.

377. Hume, D. 318. Hunczovsky 346. Hundt, Magnus 210. Hunter, J. 310. 315. 335.

371. 372. 373. 393. Hunt^r, W. 297. 337. 338. Huschke 385. 390. Hutschinson, J. 389. Hütten, Ukich von 242.

259. Huygens 285. 291. 292. Hygieia 30. 36, 73. Hyginus 103. Hyrtl 274. 505.

Jackson 400. Jacobi 395.

Jacobus Evang. 126.

Jacobus Foroliviensis 201.

Jäger, F. 406.-

Janssen 290.

Jaso 30.

Jenner 397;

Jesensky 275.

Ikkos 54.

Ingenhouss 370.

Ingigerd 158.

Ingvar 158.

Innoeenz III., Pabst 191i.

217. Johann 163. Johannes Actuarius 129.

279. Johann v. Böhmen 184. Joh. Friedrich v. Sachsen

263. Jon 43. Josef II., Kaiser 336. 352.

353. 355. 361. 395. 450.

451. Josef 166. Josua 166. Isa ben Ali 140. Isidor V. Sevilla 129. de risle, R. 368. Ismael ben Elisa 25. Israeli 154. Itard 405. Julian 125. 128. Julius lU., Pabst 265. Julius von Braunschweig

263. Juncker, Joh. 345. Jussieu 339. 369. Justinian 119.

Kafur 148. Kallisthenes 58. Kant 362. 366. 367. Karl der Grosse 134. 160.

161. 163. Karlstadt 283. Karneades 67. Kasimir von Polen 198. Kay, J. 350. Kempelen 304. Kepler 245. 246. 303. Kergaradec, Lejumeau de

392. Kerckring 295. 296. 305.

310. KesraNuschirvan 120. 133. Ketham 211. de Keyser 338. Kielmeyer 366. 372. 373. Kieser 366.

518

Begister.

Kirchhoff 381.

Klaproth 376.

Klein, J. Th. 286.

Kleist 293.

Klinkosch 295.

Klopstock 328.

Knox 423.

Köhler 32.

KöUiker 386.

Konr 157.

Konrad, König 177.

Konrad, Cardinal 180.181.

Kopemikus 245.

Kopp 375.

Koyter 249. 271. . .

Kramer, W. 405.

Kratevas 68.

Kratzenstein 304.

Krinas 106.

Ktesias 42.

Kühlewein 46.

Kunkel 288.

Kyper, A. 341. 342.

liabrosse 339. Lacoste 433. Lactantius 245. , Ladmiral, J. 337. Laennec 392. Laguna 255.

Lairesse, Gerard de 336. Lamarck 372. .373. Lamballe, Jobert de 407. Lamettrie 319. Lancisi 297. 308. 309, 310.

338. 342. 346. Lanfranchi 224.225. 228. Lange, F. A. 319. . Langenbeck 404. Laplace 290. 381. Larrey 401. 402. Laskaris, K. 241. Lassüs 436. Latham 394. Latini, Br. 237. Latreille 372. Lavoisier 289.375. 376.433, Leake 357. Le Blon 337. Leclerc, Dan. 317. Leclerc, L. 149. Le Dran 313. Leeawenhoek 286. 295.

296. 297. 299. 300. 305.

310. . Legallois 389. Lehmann 388. Leibnitz 305. 318. 319.

321. 328.

Lelli, E. 336.

Lemnius 278.

Leo XIL, Pabst 482.

Leo Africanus 134. 150.

Leopold, Kaiser. 320.

Leopold V.. V. Österreich 227.

Lepsiufl 17.

Lequin, Nie. 314.

Leroy d'EtioUes 403.

Lessing 328. 366.

Leukippos 40.

Levasseur 433. .

Levret 316.

Leyer, G.. 329,

Leyser, A. 280.

Libanius 117.

Libavius 287.

Lichtenstein 371.

Lieberkühn 335.

Liebig 379. 388. 400.

Lieutaud 332. 338.

Link 369.

Linn6 286. 310. 368. 371.

Lionardo da Vinci 242. 246. 270. 271. 293.

Lisfranc 401.

Littre 46.

Livius Eutychus 111,

Lobstein 393./

Locke, J. 318.

Longinus 128.

Lonicerus, Adam 235.

Lorrain, Claude 317.

Lotichius 326.

Lotze 367.

Louis 312.

Louis, P. A. 395.

Lower 296.. "

Lucian 98.

Lucius 80. .

Lucrez 76. 107.

Luder, P. 242.

Ludwig, Ch. G. 308.

Ludwig der Fromme 160.

Ludwig der Einfältige 167.

Ludwig IX. V. Frankreich 205.

Ludwig XI. V. ^'isankreich 268.

Ludwig XII. V.Frankreich 27.7.

Ludwig. XIII. V. Frank- reich 339. 340.

Ludwig XIV. V. Frank- reich 182. 314. 321.

Ludwig XVI. V. Frank- reich 345.

Ludwig XVIII. V. Frank- reich 438. Lurcz, H. 198. 236. Luther 239. 267. 283. Lyell 373. . Lykurg 58. Lykus 84..

Mac.Dowell 407.

Macer Floridus ,165.

Machaon 30. 31.

Macrizl 140. 147. 148. 1^0.

Maggi 252.

Magendie 388. 390. .

Magnus 111.

Magnus 378.

Mahan 134.

Mahon, P. A. 0. 436.

Maimonides 138. 140. 151.

152. 178. Malacame 387. Malpighi 285, 286. 295.

296. 297. 299. 300. 304.

305. Malus 381. AI Mamuü 134. 135. Manfred 177. Mankah 135. Manlius.Cornutus 105.. AI Mansur 133. Mantias 67. Marat 433. Marhod.165..

Marcellus Empiricus 128. Marche, Marg. de la 356. Marchettis 302. Marcus Marci v. Kronlan(|

291. . . Marcus Antonius 75. Marcus Aurelius 80, Mar^schal 348. . Marggraf 288. Maria Theresia, Kaiserih

449. Marianus 132. Marileif 160.. Marinud 84> Mariotte 289. 290. 304. Maristania, Ibn el 147. Marshall Hall 390. Martial 95. 103. 106. Martianus 205. Martin V., Pabst 195. Martin v. Wallsee 198. Martinez 336. Mascagni 395. Masona 124. Matthysen 402. Maundeville, Joh. v. 2.16.

Register,

519

Maurus 177.

Maximilian L, Kaiser 262. Äiayer, J. R. 389. Mayor 392. Mayow 302. Mazza 168. 170. Meckel 372. 393. Medici, Cosimo v. 274. Medici, Lorenzo de 190. Medici, Maria v. 356. Megenberg, Kunrat V. 237. Meges 96. Meghavana 15. Meibom 297. 330. Mein 398. Meissner 398. Melanchthon 239. 263. 283. Melanchthon, Siegm. 279.

283. Meletins 129. Mende 408. Mendelssohn 152. Menekrates 89. Menghini 300. Menokritos 59. Mercuriade 169. Merida, Paulus y. 231. Mersenne 290. Mesuö 134. 146. Meti-odoros 38. 59. 65. Meyen 369. Meyer, E. 90. 143. 153.

160. 165. 166. Mezler 317. Michelangelo 242. 270. Michelet 314. Middeldoipf 401. Mirevelt, Mich. 338. Mistichelli 301. Mithridates 68. 69. Mitscherlich 378. 379. Mittelhäuser 358. Moehsen 317. Mohammed 130. 152. Mohammed Ben Ali Ben

Farak 151. Mohl, H. 369. 370. Mohs 368. Moldenhawer 369. Moli^re 362. Molyneux 299. Mommsen 102. Mondeville, Henri de 203.

224. 238. Mondino 206. 210. 247. Le Monnier 293. Monro 325. Montagna, Ben. 211. Montaigne 362.

Monte, G. da 278. Monteggia 407. de Montespan 356. Montgelas 465. Morand 313. Moreau 402. Morel 312. 395. Moreland 292. Morgagni 310. 336. 338. Morley, David 179. Morveau , Guyton de

376. Moses 22. Mottawakl 146. Moulin, A. 299. Mozart 366. Muawija 132. Müller, O. F. 372. Müller, Joh. 372. 386. 390.

393. Mulder 141. Munk 152. Murillo 317. Musa 109. 112. Musandinus 177. Muscio 88. Musculus 267. Musschenbroek 293. Myrepsus, Nicolaus 129.

212.

Nachmanides 178.

Naiegeli 370.

Napoleon I. 437.

Nasse, Chr. F. 395.

Nebsecht 21.

Nees V. Esenbeck 366.

Neckam, Alezander 165.

Nero 111.

Newton 290. 291. 293. 303.

Nicephorus 134.

Nichol 358.

Nicholson 377.

Nicolaus 160.

Nicolaus Praepositus 177.

212. 230. Nicolaus IV., Pabst 182. Nicolaus V., Pabst 242. Niepce 381. Nikander 68. Niketas 129. Nikon 79.

Ninon de TEnclos 341. Nollet 388. Nufef, J. 257. Numa 72. 101. Numesianus 80. Nureddin 147.

Oberhäuser 382.

Oddo, M. 278.

Odhin 157.

Oersted 366. 380.

Ohm B80. 382.

Oken 366. 373.

Olympios 98.

Omar 131.

Onasilos 58.

Orfila 408.

Oribasius 128. 156.

Origines 120.

Orlandus 188.

Orosius 118.

Ortolf V. Bayerland 238.

Oseibia, Ibn Abu 134.

138. 141. 146. 148. Oslander 358. 407. Othman 130. Othmar 126.

Otto V. Griechenland 493. Ovid 281. 422.

Paaw, P. 249. Palfyn 315. Pallas 371. Pallavicini 205. Palucci 355. Panakeia 30. 36. Pander 373. 386. Pandukabhayo 14. Panum 404. Panvilliers 433. Papin 292, Paracelsus 258. 259. 283.

286. 306. 307. Par6, A. 251.252. 253. 254.

255. 257. 281. 312. 313. Park 313. Parrhasios 270. Pascal 289. Passarotti, B. 271. Patroklos 31. Paula 124. Paulsen 328. Paulus Aegineta 129. 173.

253. Pecquet 289. 299. Pelletier 398. Pelops 79, 84. Perikles 43. 242. Perrault 304. Peny, W. 512. Peter der Grosse 335. 492. Peters, H.« 340. Petit 312. 315. Petrarca 178. 240. 281. Petroncellus 177. Petrus 160. 166.

520

Register.

Petrus Lemonensüi 193.

Peucer, C. 283.

Peyer 296. 301.

La Peyronie 348.

Pfolspeundt, H. 227. 230.

Phaenarete 54.

Phidias 43.

Philinos 68.

Philipp (v. Akarnanien) 58.

Philipp der Schöne von Frankreich 203. 225.

Philipp August V. Frank- reich 170.

Philipp der Kühne 205.

Philipp Wilhelm v. Ora- nien 313.

Philiakus 95.

Philolaos 38.

Philon 89.

Philostratos 54. 95.

Philoxenos 67. 96.

Photius 129. 134.

Piedimonte, Franc, de 237.

Pindar 29.

Pinel 383. 395. 396. 436.

Piorry 392.

Pirchpach, C. 283.

Pirkheimer, W. 243.

Pirogoff 402.

Pitcairn 300. 306. 421.

Placilla Augusta 125.

Platearius 177.

Piaton 43. 45. 46. 52. 54. 59. 60. 61. 88. 318.

Platter 211. 218. 261. 267. 271. 273. 274. 275. 280.

Plencicz 310. 345.

Plinius 67. 72. 78. 82. 99. 101. 104. 106. 128.

Plössl 382.

Plutarch 72. 103. 107.

Podalirios 30. 31.

Poggendorff 289.

Pois, Jean de 236.

Polybos 43. 44.

Poly kleitos 44.

Polykrates 57.

Pontus 168.

Porta, G. 246.

Portal 317. 338.

Pott 314. 315. 415.

Pourfour du Petit 298.

Poussin, Nicol. 317.

Pravaz 399.

Praxagoras 64.

Prevost 404.

Priestley 375. 378.

Pringle 311. 342.

Prochaska 390.

Profatius 181. Proust 376. Prudentius 118. Psellus 129. Puccinotti 166. Purkinje 295. 386. 389.406. Purmann, M. G. 351. Pyrrhon 67. Pythagoras 38. 245.

Quatrem^re 143. Qucsnay 300. Quintus 79. 84. Quittenbaum 403.

Kachid Eddin Ihn Aszuri

151. Rafael Sanzio 242. 270. Kageniirid 166. Ramus, P. 278. Ranuccius 188. di Rapallo, B. 253. Rasori 382. Rathke 386. Rau, J. J. 354. Ray, J. 286. Rayer 395. Redi, F. 286. 305. Regters, T. 338. Reichert 386. Reiff, W. 256. Reil, J. C. 383. 395. 476. Remak 386. 395. Rembrandt 317. 337. 338. Remelin, Joh. 336. Renan, £. 419. Renaudot, Th. 343. Reni, G. 269. 317. Renzi, S. de 166. 168. 169.

219. Reoval 160. Reuchlin 243. Reussner 307. Rhazes 99. 138. 140. 146.

154. 201. 268. Richardus 207. Richelieu 343. Richer 163. 167. Richter, A. G. 353. 355. Ricord 395. Ridley, H. 297. 309. Ristorio d'Arezzo 237. Riva, G. 339. Rivinus, Q. 296. Robiquet 398. Rochlitz, Dedo v. 227. Rodolfus 167. Roederer 359. Röschlaub 382.

Röslin, E. 256. Roger 174.

Rokitansky 367. 393. 395. Rolando 173. Rolfink, W. 332. Romberg 395. Rondelet 246. 273. Roonhuyse, H. von 315.

357. Rosa, Salvator 317. Rose 378. Rosenmüller 387. Rossi de 271. Rousseau 319. Rousset 254. Rubens 317. Rudbeck 299. Rudolf, Kronprinz von

Oesterreich 512. Rudolphi 372. 476. Rueff, J. 256. Rufus 42. 84. 86. 93. 170. Ruggiero 173. Rumford 381. Runge 398. Ruysch, F. 295. 296. 297.

335. 337. 357.

Sabatier 434. 436. Sabinus 263. Sabur Ben Sahl 146. Saladin v. Asculo 212. Saleh ben Baleh 135. Saliceto, Wilhelm v. 205.

224. Salimbeni 205. Salisbury, Joh. de 18Q..

191. 203. Salles 433. Salomon 24.

Salomonus Ebraeus 168. Salvianus 118. Samachschari 142. Sanchez, R. 342. Sanctorius 289. 301* 308. Sandifort 338. Sanson 403. Santo, Mariano 253. Santorini 297. 298. 336. Sarto, Andrea del 271. Satyrus 79. 84. Savary 292. Saviard 312. Savigny 314. Savonarola 237. Scarpa 385. 406. Schacht, L. 342. Schaprout, Chasdai 178. Scheele 288.

Register.

521

Scheiner 303. Schelling 366. Scherer 388. Scheuchzer 369. Schiller 366. Schimper 369. Schieiden 370. Schmid, K. 165. Schmidt, Ad. 355. 405. Schmucker 312. 313. Schneider, C. V. 295. Schönlein 394. Schopenhauer 366. Schrevelius, E. 341. Schröder v. d. Kolk 395. Schultze, M. 386. Schulze, J. H. 317. 330. Schwann 370. 386. Schweigger 378. 380. Scipio Africanus 101. Scottus, Michael 168. Scoutetten 401. Scribonius Largus 89. Seckendorff 328. le Secq, Rob. 282. Sedillot 403. Seebeck 380. S^guin 398. Seleucus 95. Seleukos, Nikator 65. Selligue 382. Semmelweiss 407. Senac 296. 309. Senebier 370. Seneca 71. 107. ScnfFt 325. Serapion 68. Serenus Samonicus Qu.

128. Sergius 80. 133. Serres 395. Sertürner 398. Servet 248. 250. 258. 264.

281. 298. Servin 282. Seth, Simon 129. Seutin 402. Severus 80. Sextius Niger 89. Sextus Placitus Papyren-

sis 128. Siebold 357. Siebold C. C. 325. 854. Siegemund, Justine 357. Siegmund, Kaiser 284. Sigrdrifa 157. Sigurdr 157.

Simon v. Genua 100. 237. Simon, G. 407.

Simon, 0. 403.

Simpson 400. 401.

Sims, Marion 407.

Sinclair 289.

Sivert 334.

Sixtus IV., Pabst 208.

Skoda 392. 394.

Slevogt 316.

Sloane, H. 339.

Snell 291.

Snorri Sturluson 158.

Sobieski, Joh. 335.

Sobki 153.

Sömmering 339. 385. 390.

Sofia, S. di 209. 237.

Sokrates 43. 54. 61.

Solano de Luques 308.

Solingen, Com. 313.

Sonnerat 371.

Sophokles 43.

Soranus 44. 100. 101. 118.

128. 163. Sostratus 96. Soubeyran 400. Soupart 401.

Spallanzani 301. 305. 310. V. d. Spigel 249. 271. Spinoza 152. 318. Sprengel 32. 166. Spurzheim 395. Stahl 288. 307. 324. 383. Stainpeis, M. 201. 202.

211. 214. Stalpert v. d. Wiel 311. Stengel 329. Steno, N. 285. 295. 296.

297. 298. 301. 302. Stephanus 132. Sterne, L. 358. Stertinius 106. 111. 112. Steubing 327. Stevinus 289. Stilling, B. 385. Stobaeus 65. Stobbe 330. Störck, A. 311. Stokes 394. StoU, M. 334. 338. 344.

345. 392. Strabo 110. Straten, W. v. d. 842. Stratokies 95. Stratonicus 79. Stromeyer 403. Stryk 328. Suidas 81. Susruta 7—12. Swammerdam 286. 296.

300. 305.

Swieten, G. van 342. 344.

355. 449. 450. Swift 319. Sydenham 307. Sylvaticus, Matth. 211.

237. Sylvius 248. 281. Sylvius (de le Boe) 306.

307. 342. Syme 401. 402. Symmachus 95. Symmachus, Pabst 217.

Tacitus 156.

Tagliacozzi 255. 256. 404.

Talbot 381.

Taranta 237.

Tardieu 408.

Tartaglia 246.

Tenon 433.

Tertullian 76.

Teta 21.

Tetulus Graecus 168.

Textor 402.

Thaddaeus , Florentinus

185. 237. 268. Thaün, Philipp von 165. Theden 312. Themison 77. Thenard 878. Theodocus 132. Theodorich 120. Theodorich 11. 160. Theodorus Priscianus 102.

103. 128. Theokrit 64. Theophanes 98. Theophanes Nonnus 129. Theophilus Protospatha-

rius 170. Theophrastos 90. Theopompos 41. Thessalos 43. 58. 84. 104. Thibault 281. Thilenius 315. Thomasius 324. 828. Thrita 28. Thukydides 43. Tiedemann 372. 885. Timon 69. Tizian 271.

Touche, G. de la 855. Toumefort 839. Tomamira 237. della Torre 237. 270. Torricelli 289. Torrigiano 237. Toth 17. Toynbee 405.

522

Register.

Traube 392. 394. 395. Tribunus 121. Triller 317. Trithemius 243. Trost, Com. 338. Trotuls 169. 174. Trousseau 394. Truchsess, 0. v. 263. Trusianus 201. Tryphon 96. Tudela, Benjamin von

170. 179. Tulp 315. 337. 338. Ibn Tulun 147. Turquet de Mayeme 287.

üarda 21.

Ulrich von Wörtern berg

275. Unger 370.

Valens 111. Valentin 386. Valentinian 111. 117. 126. Valleix 395. Valleriola 261. de la Vaili^re 856. Vallisneri 306. Valsalva 298. 304. 309.

338. Valverde de Hamusco 27 1 . Varignana, B. 237. Varolio 249. 271. Varro Terentius 78. Vasco de Gama 260. Vauquelin 376. Veiel 402. Velasquez 317. Velpeau 387. Venel 314. Vesalius 247. 248. 249.

250. 259. 271. 272. 273.

274. 275. 278. 281. Vespasian 109.

Vetter 393. Vicq d'Azyr 372. Vieussens 296. 297. 298.

300. 309. 332. Villanova, Amald v. 179.

230. 235. 237. Vindicianus 128. Virchow 122. 215. 217.

393. 505. Visconti, G. 189. Vitalis Ordericus 167. Vitolf 158. Vogel, R. A. 345. Volkmann 388. Volta 377. 379. Voltaire 318. 319.

Wagner, R. 386. Waimar 166. Walafridus Strabo 163.

165. Waidenburg 389. Wall 292. Wallace 374. Wallerius 368. Walter, J. G. 335. Walter 211. Walther 197. Wandelaer, J. 337. Warner 312. Weber, Ed. 389. Weber, E. H. 388. Weber, W. 389. Weikard 325. Weiss 368. Weitbrecht 295. Welcker 87. El Welid Ben Abd-cl-

Malik 145. Wentzel 315. 355. 405. Wepfer, J. J. 297. 309.

311. Werlhof 307. 324. 338.

343.

Werner, A. G. 368.

Wescher 59.

Whartou 296.

Whistler 307.

White 313. 402.

Whytt 303.

Wilhelm von Bayern 266.

Wilhelm d. Eroberer 167.

Wilhelm von Montpellier 179.

Winkler, J. H. 292.

Wilde, W. R. 405.

Willan 395.

Willis 297. 302. 303. 306. 307. 311.

Wilson, E. 395.

Winslow 296. 334.

Wintarus 160.

Wintrich 392,

Wirsung 296.

Wöhler 378. 379. 388. i Wolff, C. F. 306. ; WolflP, Christiaa 319.

WoUaston 377. 381.

Wood, A. 399.

Woolhouse 315.

Worcester 292.

Worm, 0. 295.

Wrisberg 298.

Wunderlich 392. 393. 505.

Würtz, F. 282.

Wüstenfeld 143. 144. 153.

Xenokrates 92. Xenophon 58. 422.

Young 381.

Yperman, J. 226. 229.

Zerbi, G. 247. Zeuxis 67. Ziemssen 505. Zinn 298.

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