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riERSfTy NfO
Otto Seeck
Geschichte des Untergangs der antiken Welt
Zweiter Band
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GESCHICHTE
DES UNTERGANGS
DER ANTIKEN
WELT
VON
OTTO SEECK
ZWEITER BAND
ZWHTE VERMEHRTE UND VERBESSERTE AUFLAGE
19 2 1
STUTTGART
J. B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
Alle Rechte vorbehalten
Druck der J. B. Metzlerschen Bnchdmckerei ia Stattgart
Wilhelm Raabe
zum siebzigsten Geburtstage dargebracht
Inhalt
ITL Di« Verwaltnng des Reiches S«i«e
1. Der Kaiser und seine Offiziere 3
2. Hof und Provinzen 52
3. Das Reich und die Einzelstaaten 112
4. Die Verwaltung der Städte 147
5. Geld und Tribute 194
6. Die neuen Steuern 253
7. Die Erblichkeit der Stänue 303
r/. Reb^on and Sittlichkeit
1. Der Animismus 343
2. Der Sonnenglaube 382
3. Die Religion des Homer 425
Drittes Buch.
Die Verwaltung des Reiches,
S II
Erstes Kapitel.
Der Kaiser und seine Offiziere.
Knechtische Feigheit und mattes Verzagen an der eigenen Kraft, durch die Züchtung vieler Generationen zu den beherrschenden Charakterzügen der antiken Völker geworden, hatten sie ihrem Untergang ent- ö gegengeführt, als ein mächtiger, immer wiederholter Zustrom barbarischer Ansiedler sich in die überzahme Reichsbürgerschaft ergoß und ihrem Blut eine heil- same Beimischung urwüchsiger Wildheit einflößte. Doch mit der Geistesfrische und dem Freiheitssinn
10 der Germanen war auch jene rohe Zuchtlosigkeit, jener Widerwille, sich irgendeinem staatlichen Zwange zu fügen, wie er ihre eigenen Gemeinden von jeher zerrüttet hatte, in das römische Eeich eingezogen und drohte die Ordnung desselben in ein wildes Chaos
15 aufzulösen. Da ist es wohl erklärlich, daß dies tolle Überschämnen des neuerwachten Lebens den Zeit- genos.sen bald furchtbarer erschien, als das langsame Sterben der vorhergehenden Epoche. Unter den Gräueln der kaum unterbrochenen Bürgerkriege, die
20 seit dem Tode des Commodus das Eeich durchtobten, lernte man die frühere müde Euhe zurücksehnen und erhob die Zeit der Antonine, in der man sich ihrer zum letztenmal hatte erfreuen dürfen, zum hoch
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III. Die Verwaltung des Reiches.
gepriesenen Ideal. Die Eückkehr zu ihren Zuständen, so elend sie in Wirklichkeit gewesen waren, wurde daher das Ziel, auf das alle Bestrebungen Diocletians und Constantins sich richteten, und mit sicherem Instinkt schlugen sie dazu gerade den rechten Weg 5 ein, indem sie ihr Volk systematisch wieder zur Knechtschaft erzogen.
Ohne Überlieferungen und Vorurteile, vrie diese Kinder der Eevolution waren, erkannten sie klar, daß sich die Herstellung des Alten nur in ganz neuen 1» Formen erreichen lasse, und diese zu schaffen, haben sie einen bewundernswürdigen Reichtum an kühner Erfindungskraft, den feinsten Scharfsinn im Ent- decken von Auskunftsmitteln für jede Schwierigkeit entwickelt. Keiner der echt römischen Staatsmänner, u auch Servius Tullius und Augustus nicht, hat ein System von Reformen durchgeführt, das so umfassend alle Teile der Verfassung und Verwaltung nach ein- heitlichem Plan umgestaltete, und keiner durfte es tun, weil jeder es für seine Pflicht hielt, seine Neu- 2« Schöpfungen schonend an das Gegebene anzuknüpfen. Diocletian und seine Nachfolger fühlten sich durch keine derartige Rücksicht gehemmt; derb zugreifend, als echte Barbaren, haben sie aUe öffentlichen und pri- vaten Verhältnisse, wie hart diese auch widerstreben 2-) mochten, in die Ordnung hineingezwängt, die ihnen die richtige schien. Das Zeitalter der Revolutionen wurde durch die größte Revolution abgeschlossen, doch was sie bezweckte und erreichte, war Reaktion. Der Byzantinismus ist nur die Fortsetzung und klare Aus- 3^) prägung der Zustände, die tatsächlich, wenn auch hinter freieren Formen versteckt, unter den Anto- ninen geherrscht hatten.
So kehrte der mattherzige Skkvensinn der „guten
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1. Der Kaiser und seine Offiziere. 5
alten Zeit" zurück, aber nicht zugleich die äußere Ruhe, die seine Folgen damals noch erträglich scheinen ließ. Wohl erreichte es Diocletian, daß der überschnelle Wechsel der Herrscher aufhörte; wie im
.-. ersten und zweiten Jahrhundert, so hat sich auch im vierten und fünften eine Reihe von Dynastien auf dem Thron behaupten können, bis ihr letzter Vertrater gestorben war. Doch die Usurpationen dauerten fort, nur daß sie in der Regel nicht erfolgreich waren.
10 Was aber half es dem armen Volke, daß sein Kaiser- haus sich erhielt, wenn die Leiden der Bürgerkriege ihm darum nicht erspart blieben?
Denn die Erziehung zur Knechtschaft, welche der Zweck der ganzen hastigen Reformtätigkeit war,
15 hätte nur dann ihre volle Wirkung üben können, wenn der Bestand der Reichsbevölkerung immer der- selbe geblieben wäre. Aber ihre Entnervung hatte ein neues Hinschwinden zur Folge, und die Lücken mußten immer wieder durch eingewanderte Barbaren
20 ausgefüllt werden, die ungezähmt^n Freiheitsdrang aus ihren Wäldern mitbrachten. Da sie und ihre Nachkommen fast das ganze Heer bildeten, blieb die Pädagogik der Kaiser gerade bei demjenigen Element ihres Volkes wirkungslos, bei dem allein sie nötig
iö gewesen wäre. Während die Zivilbevölkerung immer ängstlicher kriechen lernte, immer widerstandsloser jedes Unrecht über sich ergehen ließ, wurde die Disziplin in der Armee schlechter als je zuvor. Und doch waren jene zuchtlosen Recken noch die einzigen.
3{» die dem matten Römertum etwas Leben einflößten: ihre Überlegenheit trat immer deutlicher darin her- vor, daß die leitenden Stellen mehr und mehr in ihre Hände kamen. So waren die Germanen als Pohtiker und als Krieger ebenso unentbehrHch wie
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4 ni. Die Verwaltung des Reiches.
gepriesenen Ideal. Die Eückkehr zu ihren Zuständen, so elend sie in Wirklichkeit gewesen waren, wurde daher das Ziel, auf das alle Bestrebungen Diocletians und Constantins sich richteten, und mit sicherem Instinkt schlugen sie dazu gerade den rechten Weg 5 ein, indem sie ihr Volk systematisch wieder zur Knechtschaft erzogen.
Ohne Überlieferungen und Vorurteile, wie diese Kinder der Eevolution waren, erkannten sie klar, daß sich die Herstellung des Alten nur in ganz neuen 1« Formen erreichen lasse, und diese zu schaffen, haben sie einen bewundernswürdigen Reichtum an kühner Erfindungskraft, den feinsten Scharfsinn im Ent- decken von Auskunftsmitteln für jede Schwierigkeit entwickelt. Keiner der echt römischen Staatsmänner, i:> auch Servius Tullius und Augustus nicht, hat ein System von Reformen durchgeführt, das so umfassend alle Teile der Verfassung und Verwaltung nach ein- heitlichem Plan umgestaltete, und keiner durfte es tun, weil jeder es für seine Pflicht hielt, seine Neu- 2« Schöpfungen schonend an das Gegebene anzuknüpfen. Diocletian und seine Nachfolger fühlten sich durch keine derartige Rücksicht gehemmt; derb zugreifend, als echte Barbaren, haben sie alle öffentlichen und pri- vaten Verhältnisse, wie hart diese auch widerstreben •>:, mochten, in die Ordnung hineingezwängt, die ihnen die richtige schien. Das Zeitalter der Revolutionen wurde durch die größte Revolution abgeschlossen, doch was sie bezweckte und erreichte, war Reaktion. Der Byzantinismus ist nur die Fortsetzung und klare Aus- 30 ])rägung der Zustände, die tatsächlich, wenn auch hinter freieren Formen versteckt, unter den Anto- ninen geherrscht hatten.
So kehrte der mattherzige Sklavensinn der ..guten
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 5
alten Zeit" zurück, aber nicht zugleich die äußere Euhe, die seine Folgen damals noch erträglich scheinen ließ. Wohl erreichte es Diocletian, daß der überschnelle Wechsel der Herrscher aufhörte; wie im
.-. ersten und zweiten Jahrhundert, so hat sich auch im vierten und fünften eine Reihe von Dynastien auf dem Thron behaupten können, bis ihr letzter Vertreter gestorben war. Doch die Usurpationen dauerten fort, nur daß sie in der Regel nicht erfolgreich waren.
10 Was aber half es dem armen Volke, daß sein Kaiser- haus sich erhielt, wenn die Leiden der Bürgerkriege ihm darum nicht erspart blieben?
Denn die Erziehung zur Knechtschaft, welche der Zweck der ganzen hastigen Reformtätigkeit war,
lö hätte nur dann ihre volle Wirkung üben können, wenn der Bestand der Reichsbevölkerung immer der- selbe geblieben wäre. Aber ihre Entnervung hatte ein neues Hinschwinden zur Folge, und die Lücken mußten immer wieder durch eingewanderte Barbaren
■20 ausgefüllt werden, die ungezähmten Freiheitsdrang aus ihren Wäldern mitbrachten. Da sie und ihre Nachkommen fast das ganze Heer bildeten, blieb die Pädagogik der Kaiser gerade bei demjenigen Element ihres Volkes wirkungslos, bei dem allein sie nötig
2.5 gewesen wäre. Während die Zivilbevölkerung immer ängstlicher kriechen lernte, immer widerstandsloser jedes Unrecht über sich ergehen ließ, wurde die Disziplin in der Armee schlechter als je zuvor. Und doch waren jene zuchtlosen Recken noch die einzigen,
3d die dem matten Römertum etwas Leben einflößten: ihre Überlegenheit trat immer deutlicher darin her- vor, daß die leitenden Stellen mehr und mehr in ihre Hände kamen. So waren die Germanen als Politiker und als Krieger ebenso unentbehrlich wie
6 ni. Die Verwaltung des Reiches.
gefahrdrohend. Die Kaiser wählten aus ihnen ihre einflußreichsten Berater und mußten sie doch immer wieder unterdrücken oder austilgen. Der Kampf gegen das wild kühne Barbarentum, das man doch nicht missen kann, vA-ird so zum Inhalt dieser ganzen Zeit- :, epoche. Soweit es in die friedliche Bevölkerung über- geht, ist er siegreich; durch Ausrottung der Besten und Knechtung der Massen werden auch die neuen Eömer so zahm gemacht, wie es die alten waren, zugleich aber auch so unbrauchbar für Krieg und lo Politik. Doch ein frischer Zustrom, der niemals nach- läßt, bringt neue Kräfte und neue Gefahren, gegen die sich das Kaisertum vergeblich zu wehren sucht.
Ziele und Bestrebungen des neuen Kegiments sind deutlich in den Namen, Formen und Abzeichen aus- 15 gesprochen, mit denen das Kaisertum seit Diocletian seine Würde zum Ausdruck brachte. Um die republi- kanischen Gefühle seines Volkes nicht zu verletzen, indem er die Monarchie olfen verkündete, hatte der erste Augustus jeden Titel, der seine Machtbefugnisse 20 klar und einheitlich bezeichnet hätte, klug vermieden. Am liebsten hörte er sich princcps nennen, weil dieser Name durchaus republikanisch klang und ganz in demselben Sinne schon einem Scipio Africanus, einem Pompeius, ja selbst einem Cicero beigelegt war. 25 Denn was er ausdrückte, war keinerlei gesetzlich formulierte Gewalt, sondern nur das Ansehen des Ersten im Staate, der durch seine Persönlichkeit und durch seine Taten über alle andern Bürger hervor- ragte. Dementsprechend waren die Abzeichen des üo Kaisertums auch nur der Lorbeerkranz und das Pur- purgewand gewesen, wie sie jeder römische Feldherr, dem die Ehre des Triumphes geworden war, als Fest- schmuck tragen durfte. Die göttliche Verehrung schon
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 7
bei Lebzeiten duldete Angustiis in den Provinzen, wo man sie auch früher vielen Prokonsuln erwiesen hatte : in Eom dagegen, wo sie neu war, verbot er sie. So unterdrückte er alles, was ihn äußerlich von den höch- .-> sten Beamten der Eepublik unterscheiden konnte, und in der Hauptsache waren seine Nachfolger diesem Beispiel gefolgt.
In bewußtem Gegensatze dazu sind Diocletian und Constantin bemüht, den Kaiser so augenfällig wie
10 möglich über die ganze übrige Menschheit zu erheben. Dem Perserreiche, in dem der König als Eigentümer des gesamten Landes, alle Untertanen als seine Sklaven galten, entlehnen sie Insignien und Hofzeremoniell und bringen damit zum unverhüllten Ausdruck, daß
15 sie die bedingungslose Verknechtung ihres Volkes als den normalen Eechtszustand des Kelches betrachten. Was Galerius auch in Worten aussprach, daß das persische Staatsrecht zum römischen werden müsse, das kleidete Diocletian in Formen. Seine neue Kaiser-
2u tracht mit ihrem Schmuck von Perlen und Edelsteinen, der Constantin bei seinen Vicennalien (325) noch das königliche Diadem hinzufügte, war orientalisch; ebenso die Sitte, daß der Herrscher nicht erst nach S3inem Tode in den Olymp versetzt, sondern schon
2". lebend als Gott angebetet wurde. Die früheren Kaiser, mit Ausnahme von ein paar halbverrückten Tyrannen, hatten die ansehnlicheren Besuche, die sie empfingen, auf den Mund geküßt, wie man es damals mit seines- gleichen zu tun pflegte; bei den Audienzen Diocletians
30 und seiner Nachfolger mußten die Vorgelassenen, wie vor den Göttern und dem Perserkönig, niederknien und erhielten dann einen Zipfel des Purpurgewandes dargereicht, um ihn demütig an die Lippen zu drücken. Die Herrscher ließen ihre Statuen in den Tempeln
8 III. Die Verwaltung des Reiches.
zur Anbetung aufstellen; man redete sie mit Deine Göttlichkeit (numen tuum) an und nannte alles, was ihnen zugehörte, göttlich, himmlisch, heilig. Zeitweilig wurde es sogar gesetzlich für Gotteslästerung erklärt, an der Würdigkeit eines Beamten zu zweifeln, da dieser .-, seine Ernennung der unfehlbaren Wahl des Kaisers verdanke; ja man ging soweit, die Übertretung irgend- welcher beliebigen Gesetze zum Sacrilegium zu stempeln, weil jedes Gesetz ein Ausfluß des allerhöchsten Willens sei und in ihm daher die Göttlichkeit des Kaisertums lo verletzt werde. Und alles dies, mit einziger Ausnahme des Opfers in den Tempeln, blieb auch unter den christlichen Kaisern bestehen; es entsprach eben so den Anschauungen der ganzen Epoche, daß es den Ge- danken an Gotteslästerung gar nicht aufkommen ließ. i".
Zur Zeit Diocletians waren diese Formen aller- dings noch neu und fremd; und doch gilt von ihnen, was wir von seinem ganzen Regierungssystem sagen mußten, daß es bei aller Neuheit doch nur die Kon- sequenzen der alten Zustände zog. Weil Augustus 20 sich princeps, Diocletian dominus nennen ließ, hat man die beiden Hauptepochen des römischen Kaiser- tums wohl als den Prinzipat und den Dominat vmter- schieden. Aber schon die früheren Kaiser hatten die Anrede ,,Herr"^, die so unrepublikanisch klang, anfangs 25 nur mit Mühe abgewehrt, dann stillschweigend ge- duldet, weil sie ihnen immer wieder aufgedrängt wurde; einzelne von ihnen, wie Domitian und Aure- lian, hatten sogar offiziell den Titel dominus et dev-s angenommen, den ihre Nachfolger dann freilich wieder :5.> ablehnten. Wenn Diocletian dieser Unsicherheit ein Ende machte, so tat er nur, was üIxt kurz oder lang docli unvermeidlich war.
In den Insignien des Kaisertums war kein solclies
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 9
Schwanken eingetreten, weil ihre Bestimmung nur von den Herrschern seihst, nicht, wie die Anrede, mit der man ihnen nahte, zum Teil auch von den Unter- tanen ahhing, die ihre Knechtschaft durchaus zur
r. Schau tragen wollten; in jener Beziehung hätte es also heim alten hleihen können. Doch daß der Kaiser nicht der Erste unter seinesgleichen war, wie das Wort princeps es ausdrückt, sondern daß er ebenso unbeschränkt und despotisch herrschte, wie
10 irgendeiner der orientalischen Könige, war längst unverkennbar zutage getreten. Die Griechen hatten sich daher auch nie gescheut, den verpönten Königs- titel auf ihn anzuwenden, und wenn die Römer dies unterließen, so geschah es wohl nur, weil er ihnen
15 nicht mehr vornehm genug schien ; denn reges hießen ja auch alle die kleinen, ohnmächtigen Königlein der Germanen, mit denen man den Kaiser nicht ver- gleichen durfte. TTnd was bedeutete es, daß der Kultus des lebenden Herrschers von Eom allein ausgeschlossen
2«) bheb, wenn er überall sonst in Blüte stand und der Provinziale sich von der Kaisergewalt auch ganz gläubig ein Bild machte, das sie der Allmacht des höchsten Himmelsherrn beinahe gleichstellte? Wenn also Diocletian und Constantin ihren Despotismus auch
2-"> in den Formen unzweideutig zum Ausdruck brachten, so sagten sie damit keinem Menschen etwas, das ihm neu gewesen wäre. Aber daß man diese Äußerlich- keiten nicht einfach unverändert ließ, wie die früheren Kaiser getan hatten; daß man es der Mühe wert
30 fand, für die längst bestehende Knechtung der Unter- tanen nach einer klaren Ausprägung in neuen Namen und Abzeichen zu suchen, ist gleichwohl höchst charakteristisch für diese Herrscher und ihre ganze Epoche.
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III. Die Verwaltung? des Reiches.
Zu allen Zeiten war es eine Eigentümlichkeit des politischen Radikalismus, nach klaren Formen zu .streben, selbst wenn sie das Gefühl des Volkes be- leidigten und der Sache, die man erreichen wollte, mehr schadeten als nützten. Caesar, der größte Radi- .-. kale des alten Rom, ging unter, weil er sich mit der Königsmacht ohne den Königstitel nicht begnügen wollte, und unsere braven Freisinnigen haben über solche Fragen, wie die Farben des Reichsbanners oder das Recht der Bundesfür.sten, ihre Bildnisse auf die lo Münzen zu setzen, immer ihre feurigsten Reden ge- halten. Diocletian und Constantiu waren gründlich radikal : was Wunder, daß sie es als Herzensbedürfnis empfanden, in ihrem Hofzeremoniell, ihrem Titel und ihrem ganzen Aufputz bis auf den Perlenbesatz der !.'> Schuhe herab die göttliche Weihe des Kaisertums, an die sie selbst glaubten, zur deutlichen Erscheinung zu bringen. Und dies Bedürfnis machte sich um so mehr geltend, je ernster jene übermenschliche Gewalt be- droht war. Die Herrscher des zweiten Jahrhunderts 20 hatten sich der bangen Fügsamkeit ihrer Untertanen gegenüber in ihrer Macht sicher gefühlt und deshalb keineVeranlassung gefunden, an den bewährten Formen derselben etwas zu ändern. Aber seitdem hatte das barbarisierte Heer nicht ohne Erfolg den Versuch ge- 25 macht, den Kaiser in die Stellung germanischer Könige herabzudrücken und unter ihm die Rolle einer Volks- versammlung zu übernehmen, die ihn nach Belieben richten und absetzen konnte. Der neue Dominat sollte ein Protest gegen diese Anmaßung sein; die Formen, :jo welche er sich schuf, waren nichts anderes als ein Zurückgehen auf das alte Wesen der Herrschermacht, das man nur deswegen klarer formulierte, weil es durch die revolutionäre Zwischenzeit in Frage gestellt war.
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1. Der Kaiser und seine Offiziere.
11
Das Offizierkorps war es, das die Gewalt des Kaisers stützte, aber auch bedrohte. Denn einerseits zügelte es die wilde Kriegerschar, soweit sie sich über- haupt noch zügeln ließ, anderseits konnten nur die hohen Offiziere mit einiger Aussicht auf Erfolg die Hand nach der Krone ausstrecken. Sie vermochten im Kriege Kuhm, im steten Verkehr mit den Soldaten deren Gunst zu erwerben und standen doch hoch genug über diesen, um als möghche Kandidaten für den Thron gelten zu können. Die Gefahr steigerte sich, wenn sie von vornehmer Herkunft waren, namentlich wenn sie dem ersten Stande des Reiches angehörten. Denn der gemeine Mann will nicht von seinesgleichen regiert werden und schätzt nichts höher als Vorzüge, die sich durch eine lange Ahnenreihe ver- erbt haben. In den ersten Jahrhunderten wagten da- her auch nur Senatoren nach der Krone zu greifen, und das Mißtrauen der Tyrannen wütete in erster Linie gegen den Senat. Doch als Diocletian zur Regie- rung gelangte, hatte die Ausrottung derer, die zu fürchten waren, schon längst ihre verderblichen Folgen enthüllt. Unter den adeligen Herren fand sich kaum noch jemand, der fähig und bereit gewesen wäre, eine Offizierstelle zu übernehmen, und bald nach den Senatoren waren auch die Ritter, die ihnen an An- sehn und Gefährlichkeit zunächst standen, fast ganz aus dem römischen Heere verschwunden.
In einem früheren Abschnitt (I S. 222) haben wir dargelegt, wie der gemeine Soldat sich im Laufe der Jahrhunderte aus immer tieferen Schichten der Bevölkerung rekrutierte. Anfangs hatt-e man nur die Besitzenden zum Kriegsdienst zugelassen; Marius hatte dann die Werbung an die Stelle der Aushebung gesetzt und die Legionen mit Proletariern gefüllt.
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10 in. Die Verwaltung des Reiches.
Zu allen Zeiten war es eine Eigentümlichkeit des politischen Radikalismus, nach klaren Formen zu streben, selbst wenn sie das Gefühl des Volkes be- leidigten und der Sache, die man erreichen wollte, mehr schadeten als nützten. Caesar, der größte Radi- r, kale des alten Rom, ging unter, weil er sich mit der Königsmacht ohne den Königstitel nicht begnügen wollte, und unsere braven Freisinnigen haben über solche Fragen, wie die Farben des Reichsbanners oder das Recht der Bundesfürsten, ihre Bildnisse auf die lo Münzen zu setzen, immer ihre feurigsten Reden ge- halten. Diocletian und Constantiu waren gründlich radikal : was Wunder, daß sie es als Herzensbedürfnis empfanden, in ihrem Hofzeremoniell, ihrem Titel und ihrem ganzen Aufputz bis auf den Perlenbesatz der i5 Schuhe herab die göttliche Weihe des Kaisertums, an die sie selbst glaubten, zur deutlichen Erscheinung zu bringen. Und dies Bedürfnis machte sich um so mehr geltend, je ernster jene übermenschliche Gewalt be- droht war. Die Herrscher des zweiten Jahrhunderts 20 hatten sich der bangen Fügsamkeit ihrer Untertanen gegenüber in ihrer Macht sicher gefühlt und deshalb keine Veranlassung gefunden, an den bewährten Formen derselben etwas zu ändern. Aber seitdem hatte das barbarisierte Heer nicht ohne Erfolg den Versuch ge- 25 macht, den Kaiser in die Stellung germanischer Könige herabzudrücken und unter ihm die Rolle einer Volks- versammlung zu übernehmen, die ihn nach Belieben richten und absetzen konnte. Der neue Dominat sollte ein Protest gegen diese Anmaßung sein; die Formen, .w welche er sich schuf, waren nichts anderes als ein Zurückgehen auf das alte Wesen der Herrschermacht, das man nur deswegen klarer formulierte, weil es durch die revolutionäre Zwischenzeit in Frage gestellt war.
1. Der Kaiser und seine Offiziere. H
Das Offizierkorps war es, das die Gewalt des Kaisers stützte, aber auch bedrohte. Denn einerseits zügelte es die wilde Kriegerschar, soweit sie sich über- haupt noch zügeln ließ, anderseits konnten nur die 5 hohen Offiziere mit einiger Aussicht auf Erfolg die Hand nach der Krone ausstrecken. Sie vermochten im Kriege Euhm, im steten Verkehr mit den Soldaten deren Gunst zu erwerben und standen doch hoch genug über diesen, um als mögliche Kandidaten für
i't den Thron gelten zu können. Die Gefahr steigerte sich, wenn sie von vornehmer Herkunft waren, namentlich wenn sie dem ersten Stande des Eeiches angehörten. Denn der gemeine Mann will nicht von seinesgleichen regiert werden und schätzt nichts höher
15 als Vorzüge, die sich durch eine lange Ahnenreihe ver- erbt haben. In den ersten Jahrhunderten wagten da- her auch nur Senatoren nach der Krone zu greifen, und das Mißtrauen der Tyrannen wütete in erster Linie gegen den Senat. Doch als Diocletian zur Eegie-
20 rung gelangte, hatte die Ausrottung derer, die zu fürchten waren, schon längst ihre verderblichen Folgen enthüllt. Unter den adeligen Herren fand sich kaum noch jemand, der fähig und bereit gewesen wäre, eine Offizierstelle zu übernehmen, und bald nach den
35 Senatoren waren auch die Eitter, die ihnen an An- sehn und Gefährlichkeit zunächst standen, fast ganz aus dem römischen Heere verschwunden.
In einem früheren Abschnitt (I S. 222) haben wir dargelegt, wie der gemeine Soldat sich im Laufe
30 der Jahrhunderte aus immer tieferen Schichten der Bevölkerung rekrutierte. Anfangs hatte man nur die Besitzenden zum Kriegsdienst zugelassen; Marius hatte dann die Werbung an die Stelle der Aushebung gesetzt und die Legionen mit Proletariern gefüllt.
3 2 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Aber mit ihnen mischten sich noch zahlreiche Jüng- linge der höheren Gesellschaftsklassen, selbst Ritter und Senatoren nicht ausgenommen, und auch der ge- wöhnliche Söldner war Italiker, das heißt, er gehörte zwar dem Abschaum der Bevölkerung an, aber doch 5 einer hochzivilisierten. So lernte er leicht sich der Disziplin fügen und die Fechtkünste des neuen Exer- zierreglements mit Meisterschaft ausüben, und der Soldat, der jetzt das Kriegshandwerk zu seinem J^ebensberuf machte, gewann an technischer Brauch- i» Imrkeit, was er an gesellschaftlichem Ansehn einbüßte. Seit Augustus verschwindet aus der Masse der Ge- meinen auch jene vornehmere Beimischung; das Heer besteht nur noch aus Söldnern, und die Hälfte des- selben wird aus den Provinzialen rekrutiert, die zum ir> größten Teil nicht einmal das römische Bürgerrecht besitzen. Doch diese mmder Berechtigten bleiben als Reiter auf die Alen, als Fußkämpfer auf die Kohor- ten beschränkt ; die Legionen, die den Kern des Heeres bilden, ^-erden noch fast ausschließlich in Italien ge- 2» Avorbcn, und innerhalb dieses Landes ist ein engerer Kreis von Städten, die sich des ältesten Bürgerrechts rühmen durften, zum Werbebezirk der Praetorianer bestimmt. Aber diese Gliederung läßt sich nicht daueriKl aufrecht erhalten, weil aus den bevorzugten 25 Landschaften die Meldungen immer spärlicher werden. Provinziale dringen erst in die Legionen, dann auch in die Garde ein, und endlich besteht das ganze Heer fast unterschiedslos aus Barbaren oder Halbbarbaren, denen römische Disziplin nicht mehr beizubringen ist. s« Eine ganz ähnliche Entwicklung hat sich auch im Offizierkorps vollzogen, und hier sollte sie noch ver- hängnisvoller sein.
Solange man nur Besitzende au-shob, ging es aus
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 13
den Gremeinen hervor, repräsentierte aber trotzdem vorzugsweise die höheren Stände. Denn mochten die Ernennungen durch die Gunst der Feldherren oder durch Volkswahl erfolgen, immer hatten Jünglinge, 5 deren Familien Einfluß und Verbindungen besaßen, die sicherste Anwartschaft. Und an Kandidaten aus der vornehmsten Aristokratie fehlte es nicht. Da eine gewisse Reihe von Dienstjahren' die Altersgrenze für die Bekleidung der Staatsämter etwas herabsetzte,
10 drängten sich im zweiten Jahrhundert vor Christus die Senatorensöhne noch zur Aushebung. Die ersten fünf Jahre mußten sie als gemeine Reiter dienen, wobei ihnen niedrige Arbeiten, wie Schanzgraben oder das Zimmern von Belagerungsmaschinen, zwar
15 erspart blieben, sie aber im Kampfe wacker ihren Mann standen. Erst im sechsten Jahre waren sie zu Offizieren wählbar und pflegten dann Tribunen zu werden, von denen je sechs jede Legion gemeinsam befehligten. In dieser Stellung blieben sie meist noch
20 weitere fünf Jahre, ehe sie sich um ein städtisches Amt bewarben. Wer als Praetor oder Konsul in den Fall kam, ein römisches Heer anzuführen, hatte also regelmäßig schon eine zehnjährige militärische Er- fahrung hinter sich.
25 An anderer Stelle (I S. 263) haben wir ausführ- lich erzählt, wie die Massenmorde der Revolutionszeit die ganze Bevölkerung, am schnellsten aber den römi- schen Adel, zur Feigheit züchteten. Die Folgen machten sich sehr bald im Zurückgehn des militä-
30 rischen Geistes bemerkbar. Im ersten Jahrhundert vor Christus hatte der Zudrang zu den OffiziersteUen so nachgelassen, daß man die Anforderungen be- deutend herabsetzen mußte. Schon nach einjährigem Reiterdienste stand jetzt der Legionstribimat den vor-
14 ni. Die Vei-waltung des Reiches.
nehmen Jünglingen offen, und doch gab es manche, die auf diese Ehre verzichteten. Da die höchsten Staatsämter immer das Kecht zur Heerführung in sich schlössen und dessen Ausübung nicht selten nötig wurde, konnte man von einer gewissen militärischen 5 Ausbildung nicht ganz absehen; doch hielten viele es für genügend, wenn sie sich ein Jährchen oder zwei im Feldlager umgesehen hatten. Hier galten sie zwar als Gemeine, befanden sich aber regelmäßig beim Hauptquartier, kämpften nur noch ausnahmsweise in lo der Front und kehrten möglichst bald zu den auf- regenderen und minder gefährlichen Kämpfen der Hauptstadt zurück. Unterdessen taten die Proskrip- tionen wieder und wieder ihr furchtbares Werk. Und als Augustus Hom den Frieden wiedergab, wagte er es 15 überhaupt nicht mehr, seinem Eeichsadel den ge- meinen Soldatendienst zuzumuten; wenn der künftige Senator eben erst den Kinderschuhen entwachsen war, begann er seine Laufbahn schon gleich als Legions- tribun oder als Praefect einer Untertanentruppe. 2i> Daraus folgt natürlich, daß diese Art von Offiziers- dienst nur noch eine militärische Übung für junge Adelige bedeutete; zur tatsächlichen Führung ihrer Truppenteile waren diese unerfahrenen Jünglinge nicht zu brauchen ; sie mußte in die Hände der Unteroffi- 25 ziere übergehn. Nicht auf den Tribunen und Prae- fecten, wie dies früher gewesen war, sondern auf den Genturionen beruhte jetzt die Kraft des römischen Heeres. Wollen wir daher die Grundsätze darstellen, nach denen Augustus sein Offizierkorps organisierte -m und die dann für drei Jahrhundertc maßgebend blieben, so müssen wir mit jenen Unteroffizieren als dem wesentlichsten Element den Anfang machen. Geninrionen finrlen sich in allen Fußtruppon,
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 15
mögen sie der Garde, den Legionen oder den Unter- tanenkohorten angehören; dagegen treten bei den Rei- tergeschwadern (alae) an ihre Stelle die Decurionen. die sich nur dadurch von ihnen unterscheiden, daß sie 5 je dreißig Mann kommandieren, während der Centurio, wie sein Name besagt, in der Regel hundert unter sich hat. Im übrigen werden ihre Funktionen wohl ziem- lich dieselben gewesen sein. Sie haben ihre Schar im Kampfe anzuführen und im Lager zu beaufsichtigen.
10 Demgemäß stellen sie die Wachen aus; beim Schanz- graben, dem Herstellen der Belagerungsgeräte, den Wege- und Festungsbauten, die regelmäßig durch Soldaten ausgeführt wurden, verteilen und leiten sie die Arbeit : vor allem andern aber sind sie Exerzier-
15 meister. Jene gründliche Ausbildung im Fechten und Manövrieren, die dem römischen Krieger seine hohe Überlegenheit allen barbarischen Heeren gegenüber verlieh, ist also ihr Werk. Auch Ordnung und Zucht müssen sie aufrecht halten und vollziehen die Körper-
20 strafen, die zu diesem Zwecke nötig sind, eigenhändig mit dem Rebstock, der ihr Amtsabzeichen bildet. Den Soldaten waren sie daher meist bitter verhaßt, und fast jeder Militäraufstand pflegte damit zu be- ginnen, daß sie mißhandelt oder gar ermordet wurden.
25 Für um so zuverlässigere Werkzeuge galten sie den Herrschern, die jeden Auftrag, bei dem bedingungs- loser Gehorsam erwünscht war, namentlich auch ihre Mordbefehle, am liebsten durch Centurionen voll- ziehen ließen.
30 So roh und unsau1>er uns manche dieser Dienste
erscheinen mögen, die gesellschaftliche Stellung der Centurionen war darum durchaus keine niedrige. Selbst unter den Gemeinen hatte Augustus eine Art von ständischer Gliederung geschaffen, indem er ver-
16 ni. Die Verwaltung des Reiches.
fügte, daß die Angehörigen der Garde, der Legionen und der Auxiliartruppen sich schon durch ihre Her- kunft unterscheiden sollten: noch notwendiger schien es ihm, zwischen der niedrigen Soldateska und denen, die sie befehligen und ihr deshalb auch imponieren 5 mußten, eine ro,öglichst breite Kluft aufzutun. Ein großer Teil der Unteroffiziere, vielleicht sogar die Mehrzahl, wurde daher den gebildeten Kreisen ent- nommen, und auch diejenigen, welche sich aus der Front emporgedient hatten, stellten eine Elite dar, die 10 sich schon vorher von ihren Kameraden scharf ge- sondert hatte.
Unter den Gemeinen gab es eine bevorzugte Klasse, die man principales nannte; wir werden dies am passendsten durch „Gefreite" übersetzen können, weil 15 eben die Befreiung von den niederen Diensten, wie Graben, Holzhacken, Ziegelstreichen u. dgl. m., ihr gemeinsames Abzeichen bildete. Denn im übrigen erfüllten sie Obliegenheiten von sehr mannigfacher Art. Einige waren Gehilfen der Centurionen, andere 20 trugen die Adler oder die sonstigen Feldzeichen, andere empfingen die Parole und gaben sie weiter, andere waren auch innerhalb der Fußtruppen beritten ge- macht, um Boten- oder Späherdienste zu leisten, andere erfüllten die Pflichten eines Kerkermeisters, andere 25 waren Stallmeister der Offiziere oder befanden sich zu besonderen Aufträgen in ihrer Umgebung. Einen ansehnlichen Teil der Principales bildete auch das Subalternenpersonal des Statthalters und der übrigen Provinzialbeamten, ja in dieser Eigenschaft wurden :» sie sogar in Provinzen abkommandiert, die sonst keine militärische Besatzung hatten. Im allgemeinen gilt der Grundsatz, daß jeder Soldat, dem irgendeine be- sondere Funktion, welcher Art sie auch sein mochte.
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 17
ständig übertragen wurde, damit unter die Gefreiten eintrat.
Ihre Ernennung lag den Offizieren ob und wurde natürlich viel häufiger durch Gunst und Gnade, als
5 durch wirkliches Verdienst bestimmt. Aber gerade darin bot sich ein Mittel, den wenigen Jünglingen der höheren Stände, die sich auch im Anfang der Kaiser- zeit noch zum gemeinen Soldatendienst bereit finden ließen, eine nicht gar zu abschreckende Stellung zu
10 schaffen. Zwar Senatorensöhne und Eitter waren auch als Gefreite nicht mehr zu haben; doch gab es noch einen dritten Adel, auf den man in Eom hochmütig herabsah, der aber in Italien und mehr noch in den Provinzen eine höchst ansehnliche EoUe spielte. Jede
15 Stadt des Eeiches besaß nämlich ihren munizipalen Senat, dessen Mitglieder decuriones hießen und ihre Stellung, wenn auch nicht rechtlich, so doch tat- sächlich auf ihre Kinder zu vererben pflegten, so daß man sie wohl als geschlossenen Stand betrachten
20 konnte. Veteranen, die bereichert durch Kriegsbeute und Geschenke des Kaisers heimkehrten, wurden oft in seine Mitte aufgenommen; waren sie gar Centurionen gewesen, so konnten sie einer höchst ansehnlichen Stellung unter den Vätern ihrer Stadt sicher sein.
25 Mithin konnte dem Decurionensohn der Gedanke nicht fernliegen, sein Glück in der Armee des Kaisers zu versuchen ; doch wollte er nur die Waffe führen, nicht zum verachteten Handwerkerdienst, den der Gemeine oft genug leisten mußte, auch seinerseits herangezogen
30 werden. Diesem berechtigten Wunsche kamen die Offiziere entgegen, indem sie solche Leute gleich als Eekruten zu Principales machten. So bildete sich schon unter den Soldaten ein aristokratisches Element, das freilich nicht sehr zahlreich war; die Mehrzahl Sil 2
18 III. Die Verwaltung des Reiches.
der Grefreiten stammte gewiß aus der Hefe des Volkes. Doch wenn aus ihnen die Centurionen hervorgingen, hatten sie vorher einer Gruppe angehört, die mit Männern des niederen Adels wenigstens durchsetzt war. Ferner machte man gern Praetorianer in den 5 Legionen, Legionare in den Kohorten und Alen zu L^nteroffizieren, so daß sie sich schon durch die vor- nehmere Truppe, der sie früher angehört hatten, über ihre Untergebenen erhoben.
Zudem gab es auch eine beträchtliche Anzahl von lo Centurionen, die gar nicht als Gemeine gedient hatten, sondern gleich mit Unteroffiziersrang in das Heer ein- getreten waren. Wenn ein römischer Ritter sich mit dem Soldatenspiel als Praefect und Tribun nicht be- gnügen wollte, sondern ernsthafte militärische Nei- 15 gungen besaß, ließ er sich gern in dieser Weise an- werben; ja in dem kriegerischen Zeitalter des Trajan kam es sogar vor, daß Jünglinge, die schon Offiziere gewesen waren und sich als solche im Kampfe aus- gezeichnet hatten, noch in das Unteroffizierkorps über- 20 traten, um den Dienst aus dem Grunde zu erlernen. Im übrigen setzten sich diejenigen, welche ihre Lauf- bahn gleich als Centurionen begannen, teils aus Decu- rionensöhnen, teils aus Schützlingen vornehmer Römer zusammen; doch immer waren es Leute, die gute 25 Konnexionen besaßen, denn leicht wurde diese Gunst nicht gewährt. So fanden selbst in dieser niedrigsten Gruppe des Offizierkorps die gebildeten Klassen eine zahlreiche Vertretung und drückten dem ganzen Cen- turionenstande ihr Gepräge auf. so
Freilich konnten diejenigen, welche schon als Re- kruten hundert Mann befehligen und ihre Exerzitien leiten sollten, dieser Aufgabe nicht gewachsen sein. Doch wer alle Vorteile der Centurionenlaufbahn ein-
I
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 19
heimsen wollte, dem stand eine lange Dienstzeit bevor, in der er die mangelnde Erfahrung mehr und mehr erwarb. Der jüngste Unteroffizier erhielt, wenn üim nicht schon gleich bei seinem Eintritt besondere Vor-
9 teile zugebilligt wurden, die sechste Centurie der zahnten Kohorte, d. h. die letzte der ganzen Legion. Schied dann einer seiner Vordermänner aus, so rückte er zur fünften Centurie auf, dann zur vierten, und so weiter bis zur ersten Centurie der zehnten Kohorte.
10 Dann trat er in die neunte über, um hier wieder mit der letzten Centurie zu beginnen. So mußte er nach dem regelmäßigen Gange des Avancements 58 Stufen durchlaufen, ehe er die Stellung des höchsten Centu- rionen, der primipilus hieß, erreichen konnte. Durch
15 Verdienste oder die Gunst seiner Vorgesetzten konnte er freilich auch einige Vordermänner überspringen; doch geschah dies in der Regel, wie bei den Offizieren der deutschen Armee, indem er mit höherem Eange zu einem neuen Regiment versetzt wurde, wenn dort ein
20 Centurio gestorben oder ausgeschieden war. So durch- zogen die Unteroffiziere, denen ein schnelles Aufsteigen beschieden war, eine Provinz nach der andern und kämpften bald unter der glühenden Sonne Ägyptens, bald im Schnee des deutschen Winters. Diente dies
25 einerseits dazu, ihre kriegerische Brauchbarkeit zu steigern, so hatte es daneben auch die zweite Folge, daß gerade die tüchtigsten Centurionen nie mit einer Legion ganz verwachsen konnten und die Kluft, die sie von den Mannschaften trennte, sich stets er-
m weiterte. An den wechselnden Stimmungen, welche die Massen bewegten und oft zu wildem Aufruhr trieben, hatten sie daher keinen Teil, und je weniger sie mit ihren Truppen fühlten, desto schroffer konnten sie ihnen als Vertreter der Autorität begegnen. Selbst
20 ni. Die Verwaltung des Reiches.
bei glücklichem Avancement waren die höheren Cen- turionen immer alte Krieger von reifer Erfahrung, und mitunter kommt es vor, daß ihre Dienstzeit bis zu 58 Jahren ansteigt; denn eine gesetzliche Altersgrenze 20 gab es nicht. Sie waren daher sehr geeignet, die alte 5 gute Tradition der römischen Kriegskunst in ihrem Kreise zu bewahren und durch ihren Unterricht auf immer neue Generationen von Rekruten zu übertragen. Hatte der Centurio auch den Primipilat hinter sich, so erhielt er vom Kaiser ein Geldgeschenk, das 10 anfangs wohl dem doppelten Eitterzensus, später dem anderthalbfachen entsprach, d. h. es belief sich auf die hübsche Summe von 160 000, später 120 000 Mark. In der Eegel war er dann zu alt, um weiterdienen zu können; er zog sich in seine Heimat zurück, um 15 sich hier unter den Ersten der Stadt feiern zu lassen und den Eest seiner Kräfte dem munizipalen Senate zu widmen. Nur wer ungewöhnlich schnell befördert worden war, konnte auch als Primipilaris im Heere bleiben. Neben den wenigen, die ihr Emporkommen 20 ganz außerordentlichen Leistungen verdankten, konnten dies nur solche sein, die nicht als Gemeine eingetreten waren und in der Umgebung der Höchstkomman- dierenden Gunst und Verbindungen besaßen, also Männer der gebildeten Stände. Diese auserlesene 2^ Schar trat jetzt in den Kreis der eigentlichen Offiziere ein, deren Betrachtung wir uns nun zuwenden.
Die niederen Offiziere führen sämtlich den Titel Tribunen oder Praefecten, und ausnahmslos werden Eitter dazu ernannt; doch umfaßt diese einheitliche 30 Standesbezeichnung drei Elemente von sehr ver- schiedener Art. Denn neben den geborenen Eittern, d. h. denjenigen, deren Väter schon Eitter gewesen waren, standen einerseits jene ausgedienten Centn-
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 21
rionen, die durch den Kaiser in den Eitterstand er- hoben waren und technisch viri miUtares hielten, anderseits die jungen Senatorensöhne, die gleichfalls
21 den Rittern zugerechnet wurden, ehe sie durch Be- 5 kleidung der Quaestur in den Senat eintraten. Unter Augustus und seinen nächsten Nachfolgern kamen als vierter Bestandteil noch die barbarischen Fürsten- söhne hinzu; denn auch diese wurden oft mit dem Bürgerrecht und dem goldenen Einge, dem Abzeichen
10 der Ritterwürde, begabt, um dann als Praefecten die Kohorten und Alen ihrer eigenen Volksgenossen an- zuführen. Auf diese Weise haben die Cherusker Armi- nius und sein Bruder Flavus, der Bataver Julius Civilis in römischen Diensten gestanden, um nur die
15 bekanntesten Persönlichkeiten zu nennen. Da sie die Kampfart ihrer Truppe von Jugend auf kannten, waren sie vor allen andern geeignet, sie im Kriege an- zuführen und im Frieden ihre militärischen Übungen zu beaufsichtigen. Doch diesem Vorzug stand der
■20 größere Nachteil gegenüber, daß man sich auf ihre Treue nicht immer verlassen konnte. Schon Augustus L'eß daher einen Teil der Untertanentruppen durch Römer befehligen, und nach dem großen Bataverauf- stande des Jahres ?0 n. Chr., den jene Praefecten
25 anstifteten und leiteten, erhob Vespasian die? zum Prinzip. Seitdem sind selbst die Unteroffiziere der Kohorten und Alen vorzugsweise, wenn auch nicht ausschließlich, römische Bürger ; und aus dem Offizier- korps sind die Barbaren ganz verschwunden, um erst
30 zwei Jahrhunderte später in viel stärkerer Zahl und mit größerer Gewalt wiederzukehren.
Sehen wir von diesen wilden Häuptlingen ab, so sind die niederen Offizierstellen rechtlich allen drei Elementen der Eitterschaft ohne Unterschied zugäng-
22 in. Die Verwaltung des Reiches.
lieh, tatsächlich aber verteilen sie sich unter sie in sehr charakteristischer Weise. Unter den Tribunen der praetorischen Kohorten und der übrigen Besatzung Eoms treten niemals Senatorensöhne, nur ausnahms-r 22 weise geborene Ritter auf; in der Regel sind es 5 Militares. Denn erstens waren diese in langem Dienst erprobt und daher zu Führern einer Eliteschar be- sonders geeignet, zweitens meinte auch der Kaiser-, seine eigene Sicherheit und die Ruhe seiner Hauptstadt eher seinen alten Centurionen anvertrauen zu können, 1» als den Mitgliedern des ehrgeizigen Adels. Wird aber der Tribunat in der Garde als wichtiges Vertrauens- amt behandelt, so dient er in der Legion nur zum Tummelplatz militärischer Bummler. Hier mischen sich junge Senatorensöhne, geborene Ritter und Decurionen 15 mit Ritterrang, um meist nach einem Jahr, oft schon nach sechs Monaten den Dienst wieder zu verlassen; Militares erscheinen unter ihnen äußerst selten, wohl nur, wenn in der hauptstädtischen Besatzung zeit- weilig kein Platz für sie war. Die Legion wurde eben 2» von sechs Offizieren, die kollegialisch zusammenwirkten, befehligt; jeder einzelne war daher entbehrlich, ja eigentlich allesamt, weil das Wesentliche des kleinen Dienstes durch die Centurionen besorgt wurde. So hat denn dieser Tribunat vorzugsweise den Zweck, den ^ Jünglingen des Senats und der Ritterschaft einen oberflächlichen Einblick in das Militärwesen des Reiches zu bieten und den vornehmsten Decurionen einen wohlklingenden Titel zu gewähren. Trotzdem erschienen diese Offiziere den Kaisern nicht überflüssig, so Denn ihre hohe Geburt verlieh ihnen Ansehn in den Augen der Soldkten, und da sie nie so unpopulär waren, wie die Centurionen, konnten sie deren Autorität durch ihr persönliches Eingreifen nicht selten stützen.
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 23
Die Praefecten der Kohorten und Alen standen an praktischer Bedeutung insofern über den Legions- tribunen, als nicht sechs gemeinsam, sondern jeder
2S für sich seine Truppe befehligte. Doch hatten auch 5 sie Centurionen oder Decurionen unter sich, von denen der älteste, gleich dem Primipilus in der Legion, als Vorgesetzter der übrigen galt und für die Mängel eines untaugHchen Offiziers wohl Ersatz bieten konnte. So- weit man sie nicht mit barbarischen Häuptlingen be- 10 setzte, wurden daher diese Stellen ganz ähnlich ver- wandt, wie die Legionstribunate, nur daß Senatoren- söhne unter Augustus selten, später gar nicht mehr in ihnen auftreten. Als auch Jene Barbaren aus ihnen verschwanden, wurden sie fast ausschheßlich zum
15 Übungsfelde der jungen Ritterschaft.
Mit Tribunat oder Praefectur ist die militärische Laufbahn als solche abgeschlossen. Wer noch weiter aufrückt, bekleidet zivile Ämter, die freilich oft mit militärischen Obliegenheiten verbunden sind, manch-
20 mal auch von ihnen unterbrochen werden. Der junge Eitter wie der ausgediente Militaris pflegt jetzt irgend- ein Finanzamt zu übernehmen; der Senatorensohn wird Quaestor, dann Volkstribun oder Aedil, dann Praetor, endlich Konsul. Aber nach der Praetur, mit-
as unter auch kurz vor derselben, schickt ihn der Kaiser meist in eine Provinz, um dort eine ganze Legion zu befehligen, eine Stellung, die sich mit der unserer Divisionsgeneräle vergleichen läßt. Denn dem legatus legionis unterstehen auch die Kohorten und Alen, die
ao seiner Legion beigegeben sind, so daß er ein Heer von mindestens 10 000 Mann kommandiert. Ist der Herr- scher mit ihm zufrieden, so wird er bald zum legatus provincine ernannt, d. h. er übernimmt die Verwal- tung einer Provinz und, falls in dieser ein Heer steht,
24 ni. Die Verwaltung des Reiches.
zugleich den Oberbefehl desselben, wodurch dieLegions- iegaten seine Untergebenen werden. So waren die höchsten Feldherren des römischen Heeres alle in erster Linie Zivilbeamte, für welche die militärischen 24 Pflichten nur neben den richterlichen und admini- 5 strativen standen, und fast keiner von ihnen hatte eine bessere Schule der Kriegskunst durchgemacht, als die sehr ungenügende des Legionstribunats.
Denn daran hielt Augustus fest, die wichtigsten Provinzialkommandos nur mit Senatoren zu besetzen. 10 In weiser Voraussicht scheute er sich, das Kaisertum als zügellose Despotie seinen Nachfolgern zu hinter- lass3n, und nur der Senat schien ihm fähig, die Über- gewalt des Herrschers konstitutionell zu beschränken. Die Stellung, welche die Mitglieder der hohen Körper- 15 Schaft seit undenklichen Zeiten in der Ec^gierung des Reiches einnahmen, durfte daher nicht zerstört werden, indem man ihnen die militärische Macht raubte; selbst die Gefahren, mit denen ihr Ehrgeiz die Person des Kaisers bedrohen konnte, machten Augustus in dieser 2d Überzeugung nicht irre. Nur diejenigen Heerkörper, welche Eom und Italien unmittelbar beherrschten, entzog er dem Senat und übergab sie ritterlichen Ver- trauensmännern. Es waren dies zunächst die Garde, dann die Flotten von Misenum und Eavenna und die 28 Truppen der kleinen Alpenprovinzen, die das Poland in weitem Halbkreise umgaben; dazu kam das Heer Ägyptens, eines Landes, dessen reiche Ernten die Er- nährung Eoms sicherten. So fand die Eitterschaft auch unter denjenigen, welche man die Generale des so Eeiches nennen kann, ihre freilich nicht sehr zahl- reiche Vertretung, und mit ihr die Militares. Denn diesen erprobten Kriegern, deren niedrige Geburt jedes Streben nach der Krone auszuschließen schien, ver-
1. Der Kaiser und seine Offiziere. ' 25
trauten die Herrscher am liebsten die Sicherheit ihrer Person und ihrer Hauptstadt an. Aber auch in den leitenden Stellen der sanatorischen Provinzen war die
25 Tüchtigkeit dieser Leute nicht zu entbehren. Über
.5 jedes Legionslager war daher ein praefectus castrorum gesetzt, der sich als Unteroffizier emporgedient hatte und dann mit dem goldenen Einge beschenkt worden war. Seine Hauptaufgabe war, den täglichen kleinen Dienst, von dem die Legaten nichts verstanden, an-
10 zuordnen und zu beaufsichtigen; doch auch als Führer in der Schlacht trat er oft entscheidend hervor und ergänzte so, was den hochgeborenen Feldherren an Kenntnis und Erfahrung fehlte.
Im allgemeinen wird man aus dem Gesagten er-
15 kannt haben, daß Augustus noch höheren Wert auf die Vornehmheit seiner Offiziere legte, als auf ihre Brauchbarkeit. Jede der drei Gruppen von Befehlenden empfängt ihren wesentlichen Charakter durch einen der drei bevorzugten Stände, die Unteroffiziere durch
20 den Decurionat, die eigentlichen Offiziere durch die Eitterschaft, die Generale durch den Senat. Aber in keiner ist ein Stand rein vertreten, sondern immer mischt er sich mit Bestandteilen aus den niedrigeren Schichten. So ziehen sich namentlich durch alle drei
25 Stufen hindurch die viri militares, nach oben hin immer spärlicher werdend, aber an jeder Stelle von entscheidender Bedeutung. Auf ihrer Kriegskunde be- ruht die Tüchtigkeit des römischen Heeres, das sie in den Waffen üben und, soweit dies möglich ist, zur
30 Disziplin erziehen. Doch sind daneben die hoch- geborenen Offiziere keineswegs entbehrlich, weil ihre Gemeinschaft jene Emporkömmlinge gesellschaftlich hebt und deren Ansehn bei den Truppen stützt.
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26 ' ni. Die Verwaltung des Reiches.
trefflich bewährt; nur ließ sie sich unter den Offi- zieren ebensowenig dauernd erhalten, wie unter den Gemeinen. Auch bei den Adeligen, welcher der drei Stufen sie auch angehören mochten, schwand der 28 kriegerische Geist ihrer Väter allmählich dahin. Wenn 5 Augustus den Männern, die künftig die Heere des Eeiches führen sollten, die Bekleidung des Legions- tribunats zur Pflicht machte und ihnen damit ein kurzes Übungsjahr vorschrieb, so war dies wahrlich nicht zu viel verlangt. Die wenigen Senatorensöhne, denen es 10 mit ihrer militärischen Ausbildung ernst war, er- kannten vielmehr, daß dies lange nicht ausreichte. So ist der junge Trajan, der später als Kaiser die gesunde Freude am Kriegsruhm in seinem Volke wieder- erwecken sollte, zehn Jahre lang als Tribun von einer i-s Provinz in die andere gezogen, und auch Hadrian hat drei Stellungen dieser Art bekleidet. Doch so etwas war seltene Ausnahme; selbst ein zweimaliges Legions- tribunat findet sich nur bei vereinzelten Senatoren. Und bald nach dem Tode des Augustus hören wir von 20 einem braven Jüngling, der zwar kräftig und wohl- gebaut war, sich aber doch dem Dienst entzog, um seine liebe Mutter nicht ein ganzes Jahr lang alleinlassen zu müssen. Ein so rührender Familiensinn scheint in der römischen Aristokratie nicht selten gewesen zu 25 sein; jedenfalls besitzen wir zahlreiche Beispiele, daß Senatoren, wahrscheinlich mit allerhöchstem Dispens, in die Ämterlaufbahn eintraten, ohne ihr Tribunen- jahr durchgemacht zu haben, und im Laufe der Zeit scheinen sie sich zu mehren. Augustus fand für den 39 jungen Nachwuchs des Senats in den Legionen noch nicht genügenden Raum; er besetzte mit ihm zum Teil die Praefecturen der untertänigen Truppen, Ja ein- zelne Alen ließ er von zwei Senatorensöhnen koUegia-
1. Der Kaiser und eeine Offiziere. 27
lisch befehligen, damit keinem, der sich willig zeigte, die Gelegenheit zu jener militärischen Übung fehle. Aber schon unt€r Tiberius gibt es keine senatorischen
27 Praefecten mehr; die 150 Legionstribunate, die das
3 Heer darbot, waren ausreichend, um allen Anwärtern genug zu tun, obwohl noch ein ansehnlicher Teil davon mit Rittern besetzt wurde. Freilich forderte man von diesen, wie von den Senatorensöhnen, nur einen Offiziersdienst und konnte auch nur in Aus-
10 nahmefällen mehr verlangen, weil die Zahl der vor- handenen Stellen sonst nicht gereicht hätte; denn der Zudrang war groß, da ihre Bekleidung als hohe Ehre galt. Den vornehmsten Decurionen, die Eitterrang besaßen, gewährte sie Augustus nur, wenn ihre Vater-
15 Stadt sich durch Ratsbeschluß dafür verwandte, und Claudius, der freigiebiger sein wollte, sah sich ge- zwungen, für diesen Zweck ein Scheintribunat zu schaffen, bei dem durch kaiserliche Gnade Rang und Titel ohne wirklichen Dienst verheben wurden. Doch
20 kaum war die Möglichkeit geboten, in dieser bequemen Weise den Ehrgeiz zu befriedigen, so scheint es für die Offizierstellen, die tatsächlich besetzt werden mußten, an Bewerbern gefehlt zu haben. Claudius selbst suchte ihre Zahl zu heben, indem er von den Rittern, die
25 Zivilämter erlangen wollten, zwei Jahre Dienst for- derte und diese dann auf drei vermehrte; doch ist die letztere Bestimmung von seinen Nachfolgern nicht aufrechterhalten worden. Denn da man zugleich, um dem Mangel abzuhelfen, den Senatorensöhnen gegen-
30 über mit Dispensen sparsamer vrurde, genügte bei den Rittern der zweijährige Dienst, ja bei vielen konnte er wieder auf ein Jahr herabgesetzt werden. Als aber Trajan das römische Heer beträchtlich vergrößerte, da mußten für die Besetzung der vermehrten Offizier-
28 III. Die Verwaltung des Reiches.
stellen energische Maßregeln ergriffen werden. Daß man den Senatorensöhnen ihr Jahr erläßt, kommt jetzt fast gar nicht mehr vor, und mit den drei Diensten der Eitter, die Claudius vorübergehend eingeführt 28 hatte, wird dauernd Ernst gemacht. Doch offenbar 5 empfand man dies als harten Druck, und schon unter Hadrian trat der Rückschlag ein. Die jungen Herren des Eeichsadels, die sich Dispense zu verschaffen wissen, werden wieder zahlreich, und auch die Ritter beginnen ihrem Beispiel zu folgen. Seit dem Ende des 10 zweiten Jahrhunderts werden dann die Jünglinge der beiden höchsten Stände im niederen Offiziersdienst immer seltener, um gegen die Mitte des dritten ganz daraus zu verschwinden.
Etwas länger fanden die hohen Kommandos, die 15 Macht und Ehre brachten, vornehme Bewerber. Doch auf die Dauer war der Zustand nicht zu ertragen, daß gerade diejenigen, bei denen die höchste militärische Entscheidung ruhte, vom Kriegswesen nicht mehr ver- standen, als sich aus schlechten Büchern lernen ließ. 20 Seit die Senatorensöhne sich auch jener dürftigen Vorschule, die der Tribunat noch geboten hatte, mehr und mehr entzogen, starben daher allmählich auch die Legionslegaten aus. Die Lagerpraefecten übernahmen ihre Obliegenheiten, anfangs nur stellvertretend, bis 25 eine geeignete Persönlichkeit gefunden war; da dies aber immer seltener vorkam, wurden sie endlich zu den regelmäßigen Befehlshabern der Legion. Auch in den höchsten Stellen, dem Oberbefehl der Grenz- provinzen, mehren sich schon seit dem Anfang des so dritten Jahrhunderts die Stellvertreter aus den Mili- tares; vereinzelt aber behaupteten sich hier die Sena- toren am längsten. Wenn Diocletian auch diese Aus- nahmen ganz beseitigte, so tat er damit nur, was für
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 29
die Wehrkraft des Reiches unerläßlich war und über kurz oder lang doch geschehen mußte.
Es war nicht das Mißtrauen der Kaiser, was den
29 Adel der Waffenehre beraubte, sondern seine eigene
5 Feigheit und Untüchtigkeit. Denn nicht aus den höchsten Stellen, wo sie allein gefährlich werden konnten, verschwinden die Senatoren zuerst, sondern aus den niedrigsten, in denen sie keinerlei Unheil. wohl aber manchen Xutzen stifteten. Daß die Herr-
10 scher sie hier nur ungern entbehrten, ergibt sich aus einer sehr bezeichnenden Tatsache. Gerade in der Zeit, wo die Legionstribunate der Senatorensöhne selten werden, sind die zweimaligen relativ häufig und werden meist mit Bevorzugungen in der weiteren Ämterlauf-
15 bahn bslohnt. Und seit man beginnt, einzelne Ritter v(:m dreijährigen Dienste zu dispensieren, werden andere zu vierjährigem veranlaßt und erhalten dafür wohl gleichfalls besondere Vergünstigungen. Man wünschte also dem Offizierkorps seinen vornehmen
20 Charakter zu wahren, und als die Anwärtsr spärlich wurden, bewog man die wenigen, die sich noch meldeten, länger im Dienste zu verweilen, weil so wenigstens ein Teil der Lücken noch mit Leuten aus- gefüllt werden konnte, dia sich nicht aus niedrigeren
25 Stellungen emporgedient hatten.
Und wie Senatoren und Ritter sich vom Offiziers- dienste zurückzogen, so hörten wohl allmählich auch die Decurionen auf, sich um Unteroffizierstellen zu bewerben. Konnten sie doch, wenn sie gut« Verbin-
30 düngen hatten, durch kaiserliche Verleihung die viel höhere Würde des Militärtribunats auch ohne die Mühen des Dienstes erlangen; und wie noch heute Ehrenzeichen dieser Art im Laufe der Zeit immer häufiger zu werden pflegen, so war es auch im Römer-
30 ni. Die Verwaltung des Reiches.
reiche. Seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts kommt es vor, daß schon Kinder sich Tribunen oder Prae- fecten nennen dürfen. So verzichtet der Geburtsadel, welchem der drei Stände er auch angehören mag, frei- S9 willig auf die kriegerische Macht, die das Kaisertum 5 ihm eingeräumt hatte, und an seine Stelle treten jene militärischen Emporkömmlinge, die damals wohl schon zum größten Teil angesiedelte Barbaren oder deren Nachkommen waren. Schon früher haben wir ge- sehen, wie der gemeine Soldat sich im Laufe der Zeit 10 immer mehr barbarisierte: etwas langsamer, aber nicht minder vollständig trat dasselbe Ergebnis auch bei dem Offizierkorps ein.
Wenn an die Stelle der jungen Senatorensöhne und Eitter erprobte Krieger traten, so konnte dies 15 der Wehrkraft des Eeiches nur förderlich sein; eine ernste Gefahr aber bedeutete es, daß sich endlich auch für den Centurionat keine geeigneten Anwärter mehr fanden. Wie heute, so hatte auch damals der Unter- offizier mancherlei Schreibereien zu besorgen; An- 20 alphabeten ließen sich also für diese Stellen nicht ge- brauchen. Und ein kompliziertes Exerzierreglement, wie es seit den Tagen des Marius eingeführt und später immer feiner durchgebildet war, genau zu kennen und richtig anzuwenden, erfordert ein Maß 25 von Bildung, das nicht jeder beliebige Barbar er- werben kann. War -doch den Germanen von jeher' alle Disziplin ungewohnt und zuwider gewesen: wie sollten also die Inquilinensöhne, die aus so unruhigem Blut hervorgegangen waren, zu Lehrern und Hütern ao der Disziplin geeignet sein? Schon unter Augustus war die Stellung des Centurionen auch im Frieden nicht ungefährlich gewesen; denn die rohen Scharen, die sein Stock in Ordnung hielt, pflegten ihn bitter zu
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 31
hassen, und jede Militärrevolte bedrohte ihn mit Miß- handlung oder Tod. Hatte er schon die zahmen ita- lischen Soldaten des ersten Jahrhunderts zu fürchten
31 gehabt, wieviel mehr die unbändigen Germanensöhne
5 des dritten! Da sich die besseren Stände des Eeiches keineswegs durch Heldenmut auszeichneten, dankten bald auch die Decurionensöhne für eine eo gefährliche Ehre, und die barbarischen Soldaten, die sie gern über- nommen hätten, waren nicht dafür verwendbar. Denn
10 die kleine Zahl, die sich ein genügendes, wenn auch bescheidenes Maß von römischer Bildung anzueignen vermochte, reichte kaum für die höheren Offizier- steilen aus. Auch als die Legionen schon halbbar- barisch geworden waren, hatten die Kaiser doch daran
15 festgehalten, wenigstens die Centurionen noch aus Italien und den ältesten Bürgerkolonien der Provin- zen, also aus den höchstzivilisierten Teilen des Kelches, zu wählen. Doch seit Septimius Severus hörte auch dieses auf, und unter den Barbaren, auf die man seit-
20 dem angewiesen war, wurden die Männer, die für eine solche Stellung brauchbar waren, immer selte- ner. So schlief der Centurionat langsam ein, ohne wirklich abgeschafft zu werden. In Afrika, das durch seinen sprüchwörtlichen Kindersegen den barbarischen
25 Ansiedlungen wenig Eaum gewährte, kommt er ver- einzelt noch unter Constantin dem Großen vor. Dann verschwindet er auch hier, wie er im übrigen Eeiche schon lange vorher verschwunden war.
Der Verlust, den das römische Heer so erlitt, war
30 unersetzlich. Als Vorkämpfer der Centurie in der Schlacht konnte freilich der höchste Principalis dienen, allenfalls auch die nötigsten Pflichten ihres Konmian- dos im Frieden erfüllen; aber jene sorgfältige Aus- bildung, durch welche die Legionare früher allen Bar-
32 ni. Die Verwaltung des Reiches.
baren so hoch überlegen waren, vermochte er nicht mehr zu leiten. Freilich hatte es seit der Zeit des Marcus auch niedrigere Exerziermeister gegeben, die unter Aufsicht der Centurionen das Drillen des ein- zelnen Mannes besorgten, und diese Campi doctores 6 bestanden anfangs fort und erlangten durch das Weg- fallen ihrer Vorgesetzten eine noch höhere Bedeutung. Aber dies waren, gleich ihren Zöglingen, rohe Bar- baren, die wohl eine Lanze werfen und ein Schwert schwingen konnten, aber mit einem fein ausgebildeten lo Dienstreglement nichts anzufangen wußten. Und auch dieser schlechte Ersatz für den Centurionat mußte im fünften Jahrhundert auf gewisse bevorzugte Truppen beschränkt werden, weil Männer, die ihn leisten konnten, zu selten geworden waren. So kam bald das 15 Exerzieren in Verfall und hatte um die Mitte des fünften Jahrhunderts bei dem größten Teil des Heeres ganz aufgehört. Natürlich übte der Soldat sich noch 82 in den Waffen, wie ja auch sein wilder Stammes- genosse in den Wäldern Germaniens es tat; aber dies 2d geschah ohne Ordnung und S3^stem. Während in den Schlachtberichten des ersten Jahrhunderts immer wieder auf die breite Kluft hingewiesen wird, die den geübten Krieger von dem Eekruten trennt, ist dieser Unterschied im vierten ganz verschwunden. Die Sol- 25 daten des Kaisers sind jetzt rohe Naturkämpfer wie ihre Feinde jenseits der Eeichsgrenzen ; an Kunst und Disziplin überragen sie diese ebensowenig wie an Körperkraft.
Und mit der gründlichen Ausbildung schwand 3» noch manches andere Moment der Überlegenheit. Hatte früher der Soldat seinen Tagemarsch im Fein- deslande beendet, so durfte er sich nicht früher Ruhe gönnen, als bis er ein festes Lager mit tiefem Graben
1. Der Kaiser und seine Offiziere. .33
und starkem Palisadenwall sich selbst geschanzt hatte. Die Barbaren, die jetzt das römische Heer füllten, waren nach ihrer heimischen Art tapfer, aber träge. Auf jene Sicherung verzichteten sie gern, um sich
ö nach dem mühseligen Marschieren recht bald am Feuer dehnen zu können. So waren sie jedem plötzlichen Überfall preisgegeben, und nach verlorener Schlacht fehlte ihnen der befestigte Eückhalt, der die Heere der älteren Zeit so oft noch gerettej: hatte. Und wie
10 der Barbar sich weigerte, Hacke und Schanzpfahl zu schleppen, so drückte ihn bald auch der Brotsack, in dem der altrömische Soldat die Nahrung für mehrere Tage mit sich getragen hatte. Er verlangte, daß sie ihm auf Wagen und Saumtieren nachgeführt werde,
lö vermehrte so den lästigen Troß und setzte sich, falls dieser gefangen wurde oder sich auch nur verspätete, leichtsinnig dem Mangel aus. Veränderte eine Truppe gar die Standquartiere, so mußten Weib und Kind
33 und Habe auf langen Eeihen von Ochsenwagen mit-
20 fahren, so daß ein solcher Marsch einem germanischen Wanderzuge an Schwerfälligkeit nichts nachgab. Und endlich wurden den Soldaten sogar Helm, Bein- schienen und Panzer zum lästigen Gepäck; nur die Eeiterei ließ sie sich noch gefallen; die Fußtruppen
25 verzichteten in der Schlacht auf diesen Schutz, weil er ihnen beim Marschieren unbequem war. Auch in der Bewaffnung unterschied sich das Heer des zivilisierten Eeiches kaum mehr von den Barbarenhaufen, die es bekämpfen sollte.
30 Als Diocletian die Eegierung antrat, war diese
Entwicklung zwar noch nicht zum Abschluß gelangt, aber weit genug vorgeschritten, um ihre verderblichen Folgen erkennen zu lassen. Eückgängig machen konnte sie keine menschhche Gewalt; so blieb denn Sil 3
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34 ni. Die Verwaltung des Reiches.
nichts weiter übrio-, als, was die römischen Soldaten an Tüchtigkeit eingebüßt hatten, durch Vermehrung ihrer Zahl zu ersetzen. Wenn der alte Kaiser von seinen Gegnern beschuldigt wurde, dem ermatteten Eeich eine Militärlast aufgebürdet zu haben, welche ;> die frühere um mehr als das Vierfache überstieg, so ist dies zweifellos starke Übertreibung. Wohl aber hat er schon gleich im Anfang seiner Herrschaft eine beträchtliche Anzahl neuer Legionen, Kohorten und Alen geschaffen, bis er sich überzeugte, daß seine lo Mittel an Geld und Menschen nicht ausreichten, um dem vorhandenen Bedürfnis genug zu tun. Eine wei- tere Vergrößerung der Armee schien ausgeschlossen: aber ließ sich nicht vielleicht durch ihre geschickte Verteilung der gleiche Zweck erreichen? Es kam ja i5 nicht darauf an, daß man auf der ganzen ungeheuren Verteidigungslinie von Britannien bis nach Arabien hinüber überall stark war, wenn es nur gelang, hei jeder Gefahr an dem entscheidenden Punkte schnell 34 überlegene Massen zu vereinigen. Daß er das schwierige 'm Problem des Grenzschutzes von dieser Seite anfaßte und so den richtigen Weg zu seiner Lösung fand, war unter den Leistungen des erfindungsreichen Greises wohl die genialste und wirksamste.
Unter den früheren Kaisern war fast die ganze ir* Armee an den Eeichsgrenzen aufgereiht gewesen : wenn einzelne Legionen, wie in S])anien und Süd- england, tiefer im Innern standen, so war dies durch die Nähe wilder Bergstämme bedingt, die man nicht so vollständig hatte unterwerfen können, um vor ihren -w Plünderungen sicher zu sein. Zur Abwelir der ge- wöhnlichen Raubzüge hätte es einer so starken Macht nicht bedurft; brach dagegen ein großer Völkerkrieg aus, so war sie an keiner Stelle genügend. Außer
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 35
den 10 000 Praetorianeni in Rom besaß man keine Reserve: um den l>edrohten Punkt zu schützen, mußte man die andern Grenzlinien entblößen, und hatte man die nötigen Hilfskräfte aus unendlichen Entfernungen
5 herbeigeführt, so war meist schon ein Unglück ge- schehn. Fast jeder bedeutendere Krieg begann daher mit römischen Niederlagen, und weithin waren die Provinzen verwüstet, ehe man die Scharte auswetzen konnte. Diese Erfahrung hatte man noch im Jahre
10 297 machen müssen. Als der Caesar Galerius von seinem Augustus an den Euphrat kommandiert wurde, um den Angriff der Perser zurückzuschlagen, fand er dort nur eine kleine Macht. In der tollkühnen Zu- versicht, die ihm eigen war, nahm er trotzdem den
i'> Kampf auf, wurde abei- schwer geschlagen. Erst nachdem man aus der Besatzung der Donau Ver- stärkungen herangezogen und Jieue Truppen teils aus Rekruten, teils aus Veteranen gebildet hatte, gelang
35 der Sieg. Um die letzteren unter die Fahnen zurück-
2ii zuführen, hat man ihnen ohne Zweifel besondere Pri- vilegien gewähren müssen. So bildeten sich von selbst bevorzugte Heeresteile, und an sie knüpfte die Reform an, zu der Diocletian auf Grund jener Erfahrung sich entschloß.
25 Er setzte die Grenzwehr auf die bescheidene Zahl
herab, die zur Erfüllung ihrer regelmäßigen Aufgaben erforderlich war, und formierte aus dem freiwerdenden Überschuß große Reserveheere, um sie je nach Be- dürfnis bald hier bald dort verwenden zu können.
^f> Sie standen daher meist im Innern des Reiches, keiner bedrohten Stelle ganz nab, konnten aber dafür mehr als eine in verhältnismäßig kurzer Zeit erreichen. Die Zentren ihrer Aufstellung bildeten unter Diocletian die Residienzen der vier Kaiser, im Osten Xicomedia, das
36 ni. Die Verwaltung des Reiches.
von Donau und Euphrat ungefähr gleich weit entfernt war, nach Westen zu Sirmium, Mailand und Trier. Doch wurden sie auch über zahlreiche andere Städte verteilt, was bei der Zuchtlosigkeit dieser Banden den Bürgern zwar recht lästig war, aber die Verpflegung 5 sehr erleichterte. Da jetzt der Grundsatz aufgestellt wurde, daß die Grenztruppen an ihre Standquartiere gefesselt bleiben oder sich doch nicht weiter von ihnen entfernen sollten, als die Raubzüge der wilden Nach- barn es erforderten, so wurde künftig, auch wenn an 10 einer Grenze schwere Kriege tobten, doch an den anderen keine Veränderung bemerkbar. Jene Lockung zum Angriff, die früher das Wegführen derTruppen auf die nächstwohnenden Feinde ausgeübt hatte, fiel also gänzlich weg. Die Reserven waren bei jedem Kampfe 15 schneller zur Hand und schwächten nicht durch ihren Abzug den gewöhnlichen Schutz der Eeichsgrenzen.
Die Praatorianer, die früher die einzige Armee- 86 reserve gebildet hatten, galten als persönliches Geleite des Kaisers und pflegten nur dort im Felde zu er- 20 scheinen, wo er selbst seine Anwesenheit für nötig hielt. In gleichem Sinne erhielten die Soldaten des neuen Marschheeres den Namen comitatenses, d. h. Hoftruppen. Da aber nach Diocletians Absicht nur die gewöhnlichen Grenzscharmützel seinen Feldherrn 26 überlassen blieben, alle wichtigeren Kriege dagegen durch einen der vier Kaiser geführt werden sollten,, war die Teilnahme der „höfischen Soldaten" am Kampfe nicht mehr, wie früher, Ausnahme, sondern durchgehende Regel. Um so mehr mußte man danach so streben, sie zu Elitetruppen zu machen. Man stellte daher bei der Aushebung höhere Anforderungen an ihre Größe und Körperkraft. Wahrscheinlich war auch ihr Sold höher, ihre Dienstzeit kürzer als bei
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 37
den Grenzheeren, und Soldaten, die sich in diesen ausgezeichnet hatten, wurden zur Belohnung in das Marschheer versetzt. In ganz ähnlicher Weise setzten sich Ja auch die Praetorianer schon seit Septimius
5 Severus aus einer Auslese der Provinzialtruppen zu- sammen. Die Comitatenses Diocletians waren also im wesentlichen eine zeitgemäße Erneuerung der alten Garden, nur daß diese noch nicht ein Zwanzigstel des ganzen römischen Heeres, jene mehr als die Hälfte
10 betrugen, wodurch sie freilich den Charakter einer Garde verloren.
So behielten denn die Praetorianer einstweilen noch ihre bevorzugte Stellung auch den Comitatenses gegenüber; wie man aus dem Grenzheer ins Marsch-
15 beer avancierte, so aus diesem ins Praetorium. Aber dieses begleitete nicht mehr den Kaiser, sondern blieb in der alten Eeichshauptstadt, wo es höchstens noch
37 zum Niederschlagen eines Pöbelaufruhrs benutzt wurde. Es war zur Antiquität geworden und gehörte daher
20 nach Eom, in jene große Eumpelkammer; in der noch zahlreiche interessante, aber unbrauchbare Überlebsel gleicher Art mit Pietät erhalten wurden. In der prak- tischen Eeichspolitik durften sie sich freilich nicht mehr breitmachen wollen. Als die Praetorianer sich
25 herausnahmen, auf ihr filtes Eecht des Kaisermachens zurückzukommen, und den Maxentius auf den Schild erhoben, da endete dies mit ihrer Vernichtung an der Milvischen Brücke.
Auf eine wirkliche Leibwache konnte der Kaiser
30 freilich nicht verzichten, am wenigsten in einer Zeit, wo er meist persönlich im Felde stand und dabei die Launen seiner eigenen Soldaten fast noch mehr zu fürchten hatte, als den Speer des Landesfeindes. Doch eine solche Truppe, die von dem alten Praetorium
38 in. Die Verwaltung des Rtidies.
<>anz unabhängig war, brauchte Diocletian nicht erst zu schaffen ; er überkam sie schon von seinen Vorgängern, Die Entstehung derselben ist so charakteristisch für jene ganze Zeit und sollte zugleich so folgenreich für die weitere Entwicklung des römischen Heerwesens 5 si'in, daß wir etwas länger dabei verweilen müssen.
Die Menschen einer hochkultivierten Zeit, denen doch bei aller Kultur nicht recht wohl in ihrer Haut ist. verfallen oft in den Irrtum, Vollkommenheit und (ilück der Menschheit in einem Zustande zu suchen, 10 (U'V ihrem eigenen entgegengesetzt ist. Je weniger sie von dem Elend der wilden Völkerschaften wissen, desto mehr erscheint ihnen das Leben derselben in s<^Mner primitiven Roheit und vermeintlichen Unschuld als verlorenes Paradies. Der uns wohlbekannte 15 Rousseausche Pessimismus, der bald in den arka- dischen Schäfern, bald in dem „Kanadier, der noch 38 Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte", sein ideal zu finden meinte, beherrschte auch einen großen 'Feil der römischen Kaiserzeit, nur daß hier die Stelle 20 der Huronen Nordamerikas unsere Vorväter ein- nahmen. Als sie ins Reich eingedrungen waren und fast alle beherrschenden Stellungen bald in ihre Hände b]-achten, verwandelte sich jene Bewunderung freilich in grimmigen Haß; sie konnte nur dauern, solange 25 die Bekanntschaft keine gar zu intime war. Aber früher, wo man im Innern des Reiches die blonden Hünengestalten nur vereinzelt zu sehen bekam und sie dann von der Einfalt und Keuschheit ihrtM- Sitten mit Staunen erzählen hörte, erschien ihr Dasein wie so das strahlende Gegenbild römischer Verworfenheit. Di(se Stinunung, die bekanntlich in der Germania des Tacitus ihren klassischen Ausdruck gefunden hat, sti'igerte sieh ein Jahrhundert später in einem ver-
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 39
rückten Tyrannen zu läjjpischer Nacliahmimg alles Deutschen. Caracalla trug eine blonde Perücke, kleidete sich wie ein Germane und zechte Avie ein Germane; ja selbst mit germanischer Keuschheit zu 5 wetteifern fiel ihm zum Schlüsse nicht mehr schwer, da er schon im frühen Jünglingsalter seine Mannes- kraft bis. auf den letzten Rest vergeudet hatte.
Unter den germanischen Sitten war noch eine andere, die mit Grund den Xeid eines römischen 10 Kaisers erregen konnte, die unerschütterliche Treue der Degen gegen ihren Gefolgsherrn. Zu einer Zc-it, wo kurz vorher zwei Herrscher durch ihre Praetorianer umgebracht waren, mußte eine solche Leibwache sehr erwünscht sein. Caracalla bildete sich daher ein Ge- i"' folge ganz nach germanischem Muster; ein großer Teil desselben testand sogar aus Germanen, manche '^ davon kräftige Sklaven, die er ihren Herren ein- fach wegnahm; doch waren auch Römer nicht aus- geschlossen. Wenn der Tyrann von dieser Reiter- -'< schar, die sich ihm mit heiligen Eiden angelobt hatte, Sicherheit für sein Leben erwartete, so sollte er sich freilich täuschen. Gerade aus den Männern, die ihm Zech- und Kampfgenossen zugleich gewesen waren, gingen die Verschwörer hervor, unter deren Schwer- es tern er auf der mesopotamischen El>ene fiel; freilich waren es keine Germanen. Aber die protectores latcris divini, wie man sie nannte, blieben bestehen und ge- wannen erst dann ihre volle Bedeutung, als die drei bevorzugten Stände des Römerreiches sich dem ■^ Kriegsdienst entzogen. Denn Jene treue Schar mußte die Lücken ausfüllen und entwickelte sich so bald zur Pflanzschule des Offizierkorps.
Für die Aufnahme unter die Prot'ectores gab es keine Bedingung der Nationalität oder des Standes.
40 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Es konnten Bürger und Barbaren, Eitter, Centurionen, Gemeine, ja selbst Sklaven sein; nur als kämpf tüchtige Männer mußten sie sich bewährt haben. Durch diese Bedingung waren freilich Senatoren und geborene Eitter so gut wie ausgeschlossen ; nur durch Militares, r, die sich zum goldenen Einge emporgedient hatten, wurde der Eitterstand vertreten. Abgesehen von den G-ermanen, bei denen man Kraft und Tapferkeit als selbstverständlich voraussetzte, rekrutierte sich das Gefolge aus Offizieren, Unteroffizieren oder Gemeinen, lo die sich im Kriegsdienst hervorgetan hatten. Einen Befehlshaber l>esaß es nicht, sondern stand unmittel- bar unter dem Kaiser. Einzelne Männer daraus wurden oft mit kleinen Kommandos betraut, ohne darum die Eigenschaft eines Protectors zu verlieren, selbst wenn lö sie sich zur Erfüllung ilirer Aufgabe vom Hof ent- fernen mußten. Waren sie vorher Gemeine gewesen, 40 so erhielten sie Centurionate, die Centurionen und Eitter rückten in Tribunate oder in Kohorten- und Legionspraefecturen ein. Nur wenn sie zu höheren -i'» Ämtern berufen wurden, schieden sie aus dem Gefolge aus, obgleich ihr Treueid auch dann kaum als er- loschen galt. Als Männer des kaiserlichen Vertrauens stiegen sie wohl nicht selten zu ansehnlichen Stel- lungen, mitunter selbst bis zur Gardepraefectur empor. .i:> Wenn das nicht häufiger vorkam, so lag dies wohl nur daran, daß die germanischen Protectores fast nie, die i'ömisehen nicht immer die erforderliche Bildung be- saßen.
Unter Diocletian oder kurz vor seinem Eegierungs- :!0 antritt führte der Mangel an Offizieren dazu, daß man sie nicht mehr dem Frontdienst entziehen mochte und daher nur noch Gemeine in das Gefolge aufnahm. In- dem man nun die Stellungen eines Offiziers und eines
]. Der Kaiser und seine Offiziere. 41
Protectors für unvereinbar erklärte, zog man daraus auch die Konsequenz, daß, wer zu irgendeinem Kommando befördert wurde, damit aus der Leibwache austrat. So wurde diese zum Mittelghede zwischen 5 Soldatenstand und Offizierkorps. Für dieses bot sie wenigstens einen Teil des Nachwuchses, den man so schmerzlich entbehrt hatte, und zugleich war es kein geringer Vorteil, daß der Kaiser denjenigen, der ein Tribunat oder eine Praefectur übernahm, persönlich
10 kennen und auswählen konnte.
Der Wunsch, noch mehr Offiziersaspiranten zu
gewinnen, bot wohl auch den Grund, warum man das
■ Gefolge bald durch einen neuen Bestandteil erweiterte.
Den alten Protectores traten die Protectores Domestici
15 hinzu, diese nicht nur Reiter, sondern mindestens zur Hälfte auch aus Fußtruppen bestehend. Aus welchen
41 Kreisen sie sich zusammensetzten, ist nicht genügend bekannt; wahrscheinlich waren es junge Leute aus Offiziersfamilien, denen man um der Verdienste ihrer
20 Väter willen gestattete, in dieser bevorzugten Truppe schon gleich ihren ersten Dienst zu leisten. Ihre mili- tärische Ausbildung konnte der Kaiser selbst freilich nicht übernehmen; für sie mußte also ein Leiter und Befehlshaber vorhanden sein, und diese Stellung war
23 es, von der Diocletian auf den Thron berufen wurde. Bald schwand der Unterschied zwischen den eigentlichen Protectores und den Protectores Dome- stici. In beiden Gruppen des kaiserlichen Gefolges mischten sich alte Soldaten, die durch Auszeichnung
30 im Dienst in diese Elite aufgenommen waren, und junge Leute, welche den gleichen Vorzug nur ihrer Abstammung verdankten. Diese Zusammenfassung mochte deshalb praktisch erscheinen, weil so die er- probten Krieger den Neulingen zu Lehrern werden
42 in. Die Verwaltung des Reiches.
konnten und einen zuverlässigen Kern bildeten, dem diese sich anpassen mußten.
Als nach dem Tode Diocletian.s die Kaiser wieder darauf verzichteten, Jeden Krieg persönlich zu führen, wurden die Protectores und die Domestici meist dem 0 Stabe eines der Keichsfeldherrn zugewiesen, um diesem Adjutantendienste zu leisten und sich so auf ihre künftige Offizierstellung vorzubereiten. Die Jünglinge aus dieser vornehmen Truppe machten also eine ganz ähnliche Schule durch, wie früher die Senatoren 10 und Eitter als Legionstribunen, nur daß sie nicht mit einem oder zwei Jahren abgetan war und ihnen dadurch eine viel bessere Ausbildung ge- währte. Aber indem sie den verschiedenen Heeren zukommandiert wurden, mußten sie sich vom Hof ent- 15 fernen und hörten auf, eine Leibwache des Kaisers zu sein. So sah sich Constantin veranlaßt, eine neue 42 zu bilden, anfangs wohl nur eine kleine Schar, die mich ihren w^eißen Uniformen Candidati genannt wurde. Doch gemäß der Neigung für Schein und -zo Prunk, die ihm eigen war, schuf er sich später noch eine neue Garde, die in glänzenderer Form der Reprä- sentation diente. Auf eine Ehrenwache, wie sie früher die einzelnen Kohorten der Praetorianer abwechselnd geleistet hatten, wollte auch er nicht verzichten; für i'> diesen Zweck aber waren inehrere Truppenkör]3er er- forderlich, damit sie sich gegenseitig ablösen könnten. So warb er denn aus Barbaren von hervorragender Schönheit und Körpergröße die sogenannten ftcholae /mlatinac an, jede von 500 Mann wie die früheren ;w Auxiliarkohorten. Diese stattlichen Reiter schmückten den Hof, konnten aber auch im Felde ihren Mann stehen, wenn der Kaiser selbst, wie er pflegte, von ilmiMi umgeben auf den Feind einstürmte.
]. Der Kaiser und seine Offiziere. 43
Xach diesen Xeueruugen gestaltete sich das Avance- ment innerhalb des römischen Heeres folgendermaßen. Wer auf der untersten Stufe beginnen mußte, trat als Eekrut in eine Greuztruppe ein. Hier rückte
.-. er durch das Ausscheiden seiner Vordermänner all- mählich in den Eang der Principales auf und durch- lief dann bei zunehmendem Dienstalter langsam die verschiedenen Grade derselben. Durch hervorragende Leistungen oder die Gunst der Vorgesetzten konnte
lo er freilich auch schneller vorwärts kommen, indem er einige seiner Vordermänner übersprang, wie anderer- seits schlechte Führung mit Degradation zu niedrigeren Stufen bestraft wurde. War er so unter die höchsten Principales eingetreten, ohne darüber alt und grau zu
1.-. werden, so konnte er unter die Comitatenses aufge- nommen werden, wo er dann in derselben Weise von
4J{ unten begann. Wenn er auch hier alle Grade vom tiro bis zum primiceviiis durchgemacht hatte, ohne schon vorher aus der Armee scheiden zu müssen, war
2tt in der Eegel seine Dienstzeit abgelaufen. ^lit dem Titel eines Protector oder Domesticus geschmückt, trat er in das Privatleben zurück, wie in Deutschland flie Hauptleute meist mit dem Charakter des Majors entlassen werden. Xur bei ungewöhnhch schnellem
■j'> Avancement konnte er noch brauchbar genug sein, um wirklich unter die Protectoren aufgenommen zu werden. Erreichte er noch rechtzeitig dies Ziel, so stand ihm wieder das gleiche langsame Aufrücken nach dem Dienstalter bevor, wie in den Grenz- und
^> Marschtruppen. Nachdem er auch diese Laufbahn durchmessen hatte, erhielt er das Kommando irgend- eines Truppenkörpers mit dem Titel trihunus, prae- fectiis oder praepositus, und wurde damit zum Offi^ zier. Wenn er sich in diesen minder bedeutenden
44 in. Die Verwaltung des Reiches.
Stellungen auszeichnete oder gute Protektionen besaß, konnte er endlich auch zum General aufsteigen.
Wie man sieht, führt hier ein ganz regelmäßiger, an keiner Stelle unterbrochener Weg vom Soldaten niedrigster Klasse bis zum höchsten Eeichsfeldherrn :. empor; jede ständische Gliederung ist verschwunden. K^ur insofern hat sich ein Rest davon erhalten, als diejenigen, welche gleich von Anfang an in einen der bevorzugten Truppenteile aufgenommen wurden, eine kürzere Bahn vor sich hatten und daher sicherer zum lo Ziele gelangten. In erster Linie gilt dies von den Offizierssöhnen, die als Protectores ihre Laufbahn be- gannen. Diese bildeten freilich eine Aristokratie im Heer, aber eine sehr junge, die sich mit Senat und Eitterschaft der früheren Zeit gar nicht vergleichen i-. ließ. Denn selten ging ihr Stammbaum über den Großvater hinaus; meist hatten sich erst ihre Väter 44 aus den niedrigen Stufen emporgedient. Abgesehen von diesem neugebackenen Militäradel genoß gerade diejenige Menschenklasse der größten Bevorzugung, 20 auf die der echte Eömer mit der tiefsten Verachtung herabsah; ich meine die Barbaren des Auslandes. Dies war nicht Absicht der Kaiser; denn obgleich sie selbst aus barbarischem Blut entsprungen waren, fühlten .-;ie sich doch als Eömer und hätten diejenigen, als 2.-. deren Stammesgenossen sie gelten wollten, nicht ge- flissentUch herabgesetzt. Aber auch in diesem Falle waren die Verhältnisse stärker als menschlicher Wille.
Schon seit den Zeiten der Eepublik hatte man gewisse Teile der Eeichsbevölkerung, und zwar gerade so die höchst zivilisierten, als untauglich für den Kriegs- dienst betrachtet; Griechen und Orientalen galten meist für zu weichlich, um die Strapazen der Märsche und Biwaks zu ertragen, für zu feige, um in der
]. Der Kaiser und seine Offiziere. 45
Schlacht ihren Mann zu stehen. Dies schloß nicht aus, daß^ auch sie in Fällen dringender Not ausgehoben wurden; doch lieber verzichtete man auf ihre Kriegs- hilfe. Unter dem verderblichen Einfluß des Werbe- 5 Systems (I S. 251) hatten sich die unkriegerischen Gebiete immer vs^eiter ausgedehnt; doch andererseits war durch die Barbarenansiedlungen dem Keiche frisches Blut zugeführt worden, so daß die Ergänzung des Heeres im Anfang des dritten Jahrhunderts ge-
10 ringere Schwierigkeiten machte, als im ersten. Da aber später eine lange Eeihe von Bürgerkriegen die Bevölke- rung aufs neue gelichtet hatte und trotzdem Diocle- tian die Truppenzahl bedeutend vermehrte, ließen sich die Abgänge nicht mehr, wie man es früher getan
15 hatte, nur durch Werbung von Freiwilligen ersetzen. Die Aushebung, zu der man vorher nur in seltenen
4ö Notfällen gegriffen hatte, mußte daher in weiterem Umfange zur Anwendung kommen und erfuhr zu diesem Zwecke jetzt eine feste Kegelung. Denn mag
20 auch an dem System der Heeresergänzung, wie wir es aus den Quellen des vierten und fünften Jahrhunderts kennen, manches durch spätere Gesetze verändert sein, so geht es doch in seinen wesentlichen Grundlagen sicher auf Diocletian zurück.
25 Die Wehrpflicht wurde verschieden geordnet, je
nachdem man sie persönlich erfüllte oder einen Ersatz- mann stellte, was schon seit dem ersten Jahrhundert gestattet war. Die unmittelbare Aushebung fand, wie in früherer Zeit, wenn auch sehr viel häufiger,
30 nur bei eintretendem Bedürfnis statt. Der Kaiser schickte dann Protectoren oder Offiziere in die einzel- nen Provinzen, um die Pflichtigen aufzusuchen und ihre Tauglichkeit zu prüfen. In erster Linie wurden sie dabei auf die Söhne von Veteranen und Soldaten
46 ni. Die Verwaltung des Reiches.
iingewieseii, die schon längst den größten und besten Teil der Legionen gebildet hatten (I S. 253) ; doch, der kaiserliche Dienst, den sie vorher aus freiem Willen erwählt hatten, war ihnen jetzt zur erblichen Pflicht gemacht. Nächstdem sollten diejenigen herangezogen .-. werden, die Aveder als Beamte oder Mitglieder einer öffentlichen Körperschaft dem Reiche oder der Kom- mune dienten, noch als (Triin(ll:)esitzer, Pächter oder Jnquilinen mit dem Boden in fester Verbindung standen. Auf die barbarischen oder halb romanisierten lo Ansiedler, die für die Abgänge des Heeres den brauch- barsten Ersatz geboten hätten, konnte man freilich nicht ganz verzicliten. und von diesen kräftigen G^r- nianensöhnen liätten sich gewiß auch viele gern frei- willig anwerben lassen. Al>er sie waren Eigentum ihrer i5 Grundherrn, und zwar ein sehr Avertvolles, weil ohne ihre Arbeit ein noch größerer Teil der Äcker wüst Vi gelegen hätte. Nahm man Meldungen von ihnen an. so wurde je nach zufälligen Umständen der eine Guts- besitzer vielleicht sehr scliAver. der andere wenig oder 20 gar nicht geschädigt, was der Gerechtigkeit zu wider- sprechen scbien. Diocletian ließ dalier Incpiilineu nur als Stellvertreter für ihre Herren zu und ordnete deren mittelbare Dienst^jUicht, die ja nur eine Ver- mögenslast war, ganz nach Art einer jährlichen Steuer, 20 damit sie sieb nac-li Zeit und Ort möglichst gleich- mäl.iig verteile und so etwas weniger drückend werde. Soweit di'v künftige Soldat sich nicht selber stellte, sondern .uls l<>fsiitzmann gfsteht Avurde. sollte die Aus- hebung alljälirlicli wiederkehren. Doch behielt sich ■'<> der Kaiser vor. in jedem einzelnen Falle die Provinzen zu bestimmen, deren Grundbesitze)- wirklich Eekruten li(d'crn sollti'n. und den id)rigen tlic Ablösung dieser IMlicht in (feld zu gestatten, was bei dem immer
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 4T
zunehmenden Menschenmangel stets als Wohltat enij)- funden wurde. So konnte man Gegenden, deren Be- völkerung sich durch Kriegstüchtigkeit auszeichnete, häufiger heranziehen und doch, wenn ein größeres -. Bedürfnis eintrat, auch zu dem minder brauchbaren Material seine Zuflucht nehmen ; Je nachdem es in den einzelnen Jahren wünschenswert schien, ließ sich bald der Staatsschatz, .bald das Heer stärker vermehren. Für die Rekrutenstellung gab es zwei Formen,
10 die Protostasia und dieProtot_ypia, die vielleicht örtlich nach Provinzen verteilt waren, wahrscheinlicher zur beliebigen Auswahl für die Pflichtigen nebeneinander standen. Nach den Ergebnissen der Schätzung wurde der ländliche Grundbesitz in Einheiten gleichen Steuei'-
i:. wertes eingeteilt, von denen jede einen Mann liefern mußte. Diese sogenannten Capitula waren so um-
47 fangreich, daß nur ausnahmsweise die Güter eines Eigentümers genügten, um für sich allein eine solche Einheit zu bilden: gewöhnlich setzte sie sich aus den
20 Ländereien mehrerer Großgrundbesitzer zusammen, die dann zu einer Zwangsgenossenschaft vereinigt wurden. Die Mitglieder derselben mußten in be- stimmter Reihenfolge die Vorstandschaft übernehmen, um sie dann wahrscheinlich eine Censusperiode, d. b.
2'. fünf Jahre lang, zu führen. Der Capitularius oder, wie das Volk ihn nannte, Temonarius trieb von seinen Genossen einen jährlichen Beitrag ein, dessen Höhe sich für jeden einzelnen nach dem Steuerwert .seines Grundbesitzes bestimmte: liii- das richtige Einlaufen
:><• der ganzen Summe wai- er selbst mit seinem Ver- mögen haftbar. Dann mußte er ein Mitglied ver- anlassen, daß es von seinen Gütern einen leibeigenen 'Pächter stellte, und es durch den größeren Teil des eingekonnneiien Geldes einigermaßen entschädigen.
48 ni. Die Verwaltung des Reiches.
während der kleinere als Wegzehrung dem Eekruten übergeben wurde. Dies waren die Verpflichtungen, deren Gesamtheit man mit dem Namen der Protostasia bezeichnete. Bei der Prototypia hatte der Vorstand der Genossenschaft mit der eingelaufenen Summe 6 einen Freiwilligen zu werben. Aber da dieser nach seinem Belieben die Bedingungen stellen konnte, war das erforderliche Handgeld nicht fest bestimmt und konnte daher von den Mitgliedern der Gemeinschaft oft nicht kontrolliert werden. Hierdurch gab diese lo mittelbare Form der Anwerbung, wo sie an die Stelle der mittelbaren Aushebung trat, vielfache Gelegenheit zu Bedrückung und Unterschleif, weshalb im Jahre 375 die Prototypie aufgehoben wurde.
Diese Eegelung des schwierigen Ersatzgeschäftes is scheint auf den ersten Blick praktisch und gerecht; in ihren Folgen aber erwies sie sich ebenso verhäng- 48 nisvoll für das Heer, wie für das Landvolk. Denn natürlich waren es in erster Linie die harten und un- gerechten Grundbesitzer gewesen, denen ihre Hörigen ao davongelaufen waren, um sich der Werbung zu stellen. Daß ihnen auch diese Zuflucht abgeschnitten wurde, war sehr bequem für den Grundherrn, aber sehr hart für den ländlichen Arbeiter. Und dann waren die- jenigen, welche sich freiwillig meldeten, meist die 25 Kühnsten und Brauchbarsten gewesen, während der Gutsbesitzer, wenn ihm die freie Auswahl blieb, die kräftigeren Leute für sich behielt und nur minder- wertige stellte. Und die Beamten, welche die Aus- hebung zu überwachen hatten, waren gegen ein kleines ao Trinkgeld immer bereit, durch die Finger zu sehen. So bestand denn der römische Teil des Heeres aus den zweifelhaftesten Elementen. Wie nicht wenige sich den rechten Daumen abhackten, um dem Kriegs-
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 49
dienste zu entgehen, so waren unter denjenigen, die sich seufzend der Notwendigkeit gefügt hatten, die Desertionen erschreckend zahlreich. Man mui3te dem Eekruten gleich bei seinem Eintritt ein unvertilghares 5 Mal auf die Haut tätowieren, damit er leicht kenntlich sei und sich nicht in der Bevölkerung verstecken könne. Wer den Flüchtling aufnahm, wurde mit den härtesten Strafen bedroht, und die stete Wiederholung und immer zunehmende Verschärfung der Gesetze,
10 die sich hierauf beziehen, beweist nur zu deutlich, wie oft sie übertreten wurden.
Es ist klar, daß diese Art von Soldaten sich nicht für Elitetruppen eignete. In diese wurden selten die Ausgehobenen, meist die Angeworbenen ein-
15 gestellt, auch wenn sie dies nicht ausdrücklich zur Bedingung ihres Eintritts gemacht hatten, was gewiß
49 nicht selten vorkam. Da aber der Landmann des Eeiches, soweit er nicht freier Bauer war, der Werbung entzogen blieb, wurde jene Gunst vorzugsweise den
20 fremden Barbaren zuteil. So erschloß sich diesen schon von Anfang an der kürzere Weg zu den Offizier- stellen, und ihre Kraft und Kühnheit trug dazu bei, ihn noch weiter zu verkürzen. Es ist also sehr begreiflich, daß im vierten Jahrhundert, als das
•25 diocletianische Aushebungsreglement seine Wirkung tat, die Befehlshaber der römischen Armee, soweit sie nicht dem Militäradel angehören, fast alle Barbaren sind, und auch in jenem Falle stammen sie von Barbaren ab. Ein gefälschter Kaiserbrief, der um das
30 Jahr 410 erfunden ist, zählt den Stab eines berühm- ten Feldherrn folgendermaßen auf: „Dich werden begleiten Hariomund, Haidagast, Hildomund und Cariovist.''' So klingen die Namen, welche damals den tapfersten Mitgliedern eines römischen Offizier- s II 4
50 ni. Die Verwaltung des Reiches.
korps augemessen schienen! Und wie nahe lag nicht die Versuchung, auf jene schlechten römischen Re- kruten in immer weiterem Umfange zu verzichten und mit dem Gelde, das die Grundbesitzer gern an ihrer Statt hergaben, noch mehr tapfere Germanen 5 zu werben. Füllten sich aber auch die Grenztruppen mit Leuten, deren Heimat jenseit der Grenze lag, so Heß es sich kaum verhindern, daß sie die Verbindung mit ihren alten Stammesgenossen zum Schaden des Eeiches aufrecht erhielten. Schon um die Mitte des 10 vierten Jahrhunderts kam es vor, daß die Alamannen vor einem geplanten Überfall durch hohe römische Offiziere ala mannischer Herkunft vorher gewarnt wurden, und am Anfang des fünften öffneten barba- rische Truppen, welche die Pyrenäenpässe verteidigen ^^ sollten, sie freiwilhg dem andringenden Feinde.
Und hierzu kommt noch ein Zweites von kaum 50 geringerer Bedeutung. In jener neuen Ordnung des Avancements, die wir oben dargestellt haben, fehlt die Stufe des Unteroffiziers. Man durchläuft mehrere 20 Truppengattungen von verschiedenem Range, bringt es aber in jeder derselben nur zum Principahs, d. h. zum bevorzugten Gemeinen, um dann plötzlich zum Offizier überzuspringen. Jene Hariomunde und Halda- gaste waren eben wohl imstande, an der Spitze ihrer 25 Schar in den Feind hineinzustürmen und den Soldaten durch ihr Beispiel zu kühnem Angriff zu begeistern, aber nicht mit geduldigem Pflichteifer ihn exerzieren zu lassen, wie dies vom braven Unteroffizier verlangt wird. Unter Constantin dem Großen werden noch 30 einzelne Schlachten durch künsthche Manöver ge- wonnen, die wohlgeübte Truppen voraussetzen; später hört dies auf; es entscheiden nur noch Mut und Über- macht. Und mit dem Centurionen verschwindet auch
1. Der Kaiser und seine Offiziere. 51
die Centuria, d. h. die taktische Gliederung; jedes Korps wird zur plumpen, ungeteilten Masse, wie die Heerkeile der Deutschen es waren, und greift auch, wie diesö, in Keilform an. Damit wurde aber die 5 Legion viel zu groß und ungefüge; denn ein Truppen- körper von annähernd 6000 Mann ließ sich nur da- durch leiten und übersehen, daß er in kleinere Ein- heiten, die alten Kohorten und Centurien, zerfiel. Schon Diocletian scheint daher jede Legion in drei 10 geteilt zu haben, von denen er je eine dem Grenz- heer, je zwei den Comitatenses zuwies. So fiel die ganze Organisation des römischen Heeres, die ihm früher in den Kämpfen mit seinen wilden Feinden ein so hohes Übergewicht verliehen hatte, in sich zu- 15 sammen. Auf alle Vorteile, welche die Kultur der Barbarei gegenüber auch im Kriege besitzt, hatte man notgedrungen verzichten müssen. M Die alte Aristokratie war man freilich aus dem Heere losgeworden, aber die Sicherheit des Thrones 20 hatte nichts dabei gewonnen. Ein adeliger Bewerber um die Krone war den Soldaten zwar der liebste ; fand aber ihre Unzufriedenheit mit dem bestehenden Regi- mente kein Werkzeug dieser Art, so nahmen sie auch mit einem niedrig geborenen General vorlieb, wie 25 Diocletian an sich selbst hatte erfahren können. Daß unter ihm die letzten Senatoren vom Oberbefehl der Heere ausgeschlossen wurden und ganz oder halb barbarischen Militares wichen, nützte also nicht sehr viel. Um die Usurpation auszuschließen oder wenig- st stens zu hemmen, bedurfte es anderer Vorkehrungen, und des Kaisers erfinderischer Geist wußte sie zu treffen. Doch so scharfsinnig sie ersonnen waren, ihren Zweck sollten sie doch nicht erreichen.
Zweites Kapitel.
Hof und Provinzen.
Als einzelne Stadt war Eom in die Geschichte ein- getreten und demgemäß seine Urverf assung auch nur den Bedürfnissen eines kleinen städtischen Gemein- wesens angepaßt. An dieser Verfassung aber hing man mit der zähen Liebe für das Althergebrachte, die den Eömern eigen war; ihre Formen wesentlich 5 umzugestalten, konnte man sich auch dann nicht ent- schließen, als Eom seinen Machtkreis immer weiter ausdehnte und aus der Stadt ein Eeich geworden war. Solange sich dieses auf die Grenzen Italiens be- schränkte, sind daher die Organe der Verwaltung kaum la vermehrt worden. Der Praetor schickte Stellvertreter {praefecti) aus, die einen bestimmten Kreis von Bür- gerstädten bereisen und bald in dieser, bald in jener in seinem Namen und Auftrag Eecht sprechen mußten ; die Konsuln erhielten vier neue Hilfsbeamte, und i.> diesen Quaestoren wurden ihre Wohnsitze in ver- schiedenen Städten der Halbinsel angewiesen, um in den umliegenden Bezirken darüber zu wachen, daß die Befehle der Zentralregierung richtig zur Ausführung kämen. Doch diese neuen Ämter dienten, wie gesagt, 20 nur als Organe der altbestehenden und wurden zudem regelmäßig mit jungen Leuten besetzt, die weder Er- fahrung noch Autorität genug besaßen, um eine tief-
2. Hof und Provinzen. 53
greifende Wirksamkeit zu üben. Der Schwerpunkt der Verwaltung ruhte daher in den einzelnen Städten, die meist eine ganz ähnliche Verfassung besaßen, wie Eom selbst. Diesem mußten sie Heerfolge leisten oder Tri-
5 bute zahlen und hatten auf jede äußere Politik zu seinen Gunsten verzichtet; auf ihrem Gebiete dagegen, das auch das umliegende flache Land mit umfaßte, -^vurde ihrer freien Selbstregierung kaum ein Hinder- nis in den Weg gelegt. Obgleich dies System mehr aus
10 Trägheit und Furcht vor Neuerungen als aus weiser Politik entsprungen war, hat es sich doch, wie später noch ausführlich dargelegt werden soll, im ganzen trefflich bewährt.
In seinem vollen Umfange konnte man es nicht
15 mehr aufrecht erhalten, als durch den ersten punischen Krieg Sizilien, bald darauf auch Sardinien und Corsica dem Eeiche hinzutraten. Die Inseln schi-enen immer- fort von den Flotten Karthagos bedroht; zum Teil wohnten auch in ihrem gebirgigen Innern wilde
20 Völkerstämme, deren Raubzüge man von den zivili- sierten Küstenlandschaften abzuwehren hatte. So wurde hier die stete Anwesenheit von Männern nötig, die gegebenen Falles als Feldherrn auftreten konnten ; Junge Leute in untergeordneter Stellung waren also
25 für die Regierung der neuen Provinzen nicht zu brauchen. Man schuf daher für sie Praetoren, d. li. Beamte, die den Konsuln zwar an Rang untergeordnet, an Machtbefugnissen aber gleich waren. Sie führten die Heere der Republik, handhabten in den unter-
30 tänigen Städten die Gerichtsbarkeit und sorgten dafür, daß die Tribute richtig einliefen. Doch in ihrer inneren Verwaltung waren auch hier die einzelnen Gemeinden kaum minder unabhängig als in Italien. Soweit sie nicht im Bundesverhältnis zu Rom standen
54 ni. Die Verwaltung des Reiches.
oder ausdrücklich für frei erklärt woirden, besaß zwar der Praetor das Kecht zu beliebigen Eingriffen, machte aber nur ausnahmsweise Gebrauch davon. Dann da er selten länger als ein Jahr in seiner Provinz blieb, war er gar nicht imstande, die höchst verwickelten 5 Zustände von Eecht und Verfassung, die in jeder Stadt verschieden waren, klar zu übersehen. Soweit er nicht die Untertanen schikanieren und Geld aus ihrer Tasche ziehen wollte, was allerdings nur zu häufig vorkam, kümmerte er sich daher um ihre inneren 1» Verhältnisse nicht mehr, als er mußte, und das war wenig genug.
Je geringer. die Anforderungen waren, welche die kleine tägliche Einzelarbeit der Verwaltung an die Kräfte der Praetoren stellte, desto umfangreicher 15 konnte man ihre Amtsbezirke gestalten, und gerne machte man von dieser Möglichkeit Gebrauch. Da nach einem Gesetz, das nur in Zeiten dringender Not über- schritten wurde, derselbe Mann nicht zweimal dasselbe Amt bekleiden durfte, waren geeignete Kandidaten 20 für jene wichtigen Stellungen nicht im Überfluß zu finden. Wenige große Provinzen entsprachen daher dem Bedürfnis besser als zahlreiche kleine. So wurde die ganze pyrenäische Halbinsel in nur zwei Provinzen eingeteilt und Sardinen mit Corsica in der Hand 25 desselben Praetors vereinigt. Und waren neue Er- oberungen gemacht, so besann man sich meist noch recht lange, ehe man die Praetoren entsprechend ver- mehrte, so daß fast immer die Zahl der Amtsloezirke größer war als die der dafür verfügbaren Beamten. 30 In die Lücken traten teilweise die Konsuln ein; namentUch wurden Provinzen, in denen schwere Kriege zu führen waren, diesen höchsten Machthabern über- tragen. Im übrigen half man sich, indem man den
2. Hof und Provinzen. 55
Praetoren oder auch den Konsuln, wenn sie außer- halb Eoms ein Heer befehligten, ihr Amt über das gesetzliche Jahr hinaus verlängerte. Auf diese Weise konnten sie zwei, drei und mehr Jahre die Statthalter-
5 Schaft einer Provinz bekleiden; nur führten sie nach Ablauf des ersten den Titel pro praetore oder pro consule, d. h. Stellvertreter des Praetors oder des Konsuln. Als dann Sulla verfügte, daß alle Ober- beamten ihr eigentliches Amts jähr in Eom zubringen
10 und erst mit dem Ende desselben ein auswärtiges Kommando übernehmen sollten, da verschwanden aus der Provinzialverwaltung die Praetoren, und überall traten Prokonsuln und Propraetoren an deren Stelle. Was vorher nur die Bezeichnung des außerordent-
13 liehen Stellvertreters gewesen war, wurde so zum regelmäßigen Amtstitel des Statthalters. Nicht selten verheb man auch den Praetoren, wenn sie nach Ablauf ilires städtischen Amtsjahres in die Provinz abgingen, den vornehmeren Titel pro consule, obgleich sie eigent-
20 lieh pro praetore hätten heißen müssen, und dies ver- allgemeinerte sich immer mehr, so daß gegen Ende der republikanischen Zeit die Begriffe Prokonsul und Statthalter ungefähr zusammenfielen.
Als nach Beendigimg der Bürgerkriege Augustus
2> für seine Gewalt nach Formen suchte, die den Monarchen möghchst wenig von den republikanischen Beamten unterscheiden sollten, da ließ er sich auch zum Prokonsuln ernennen. Auf die Bitten des Senats übernahm er nach einigem bescheidenen Sträuben eine
30 Anzahl von Provinzen, die einer starken Hand für ihre Organisation bedurften oder durch Kriegsgefahr bedroht schienen. Wenn ihm die am meisten gefährde- ten Länder zufielen, so ergab sich daraus von selbst, daß auch die stärksten Heere unter seinen Befehl
56 ni. Die Verwaltung des Reiches.
treten mußten; doch blieben auch den Prokonsuln noch manche Provinzen mit ansehnlicher Truppenmacht. Aber auch diese gingen eine nach der andern in die kaiserliche Verwaltung über, so daß schon unter Caligula der Prokonsulat, soweit ihn nicht der Kaiser :. selbst bekleidete, zu einem durchaus friedlichen Amte geworden war.
Wie wir schon gesehen haben, bedeutete dies keineswegs, daß den Senatoren die kriegerische Ge- walt genommen wurde. Der Kaiser konnte nicht in n) allen seinen Provinzen zugleich sein, ja wenn nicht ganz besondere Umstände seine Anwesenheit zu fordern schienen, war er in keiner, sondern wohnte ruhig in Eom. Er konnte also sein Prokonsulät nur durch Stellvertreter ausüben, die er immer dem Senat ent- i5 nahm. Sie bekleideten zwar ihr Amt im Namen und Auftrage des Kaisers und führten daher nur den Titel von Unterfeldherrn (legati pro praetore) ; tatsächlich aber schalteten sie in ihrer Provinz so frei und unab- hängig, wie dies unter dem Drucke der Despotie über- 20 haupt möglich war. Der Unterschied zwischen Pro- konsuln und Legaten bestand also nur darin, daß die einen nach republikanischer Sitte durch das Los be- stellt, die andern vom Kaiser ernannt wurden; aber auch bei jenen trat in vielen Einzelfällen Ernennung 23 oder Senatswahl auf Vorschlag des Herrschers, was praktisch dasselbe war, an die Stelle der Losung, und endlich wurde sie zur Eegel. Und wie um die Pro- konsulate von Asien und Afrika nur gewesene Kon- suln, um die übrigen nur gewesene Praetoren losen 30 durften, so schieden sich auch die kaiserlichen Pro- vinzen in praetorische und konsularische; d. h. der Herrscher beschränkte sein eigenes Wahlrecht dadurch, daß er es für jede Provinz an eine bestimmte Rang-
2. Hof und Provinzen. 57
klasse des Senates band. Die legati consulares, später auch schlechtweg consulares genannt, zeichneten sich dadurch vor den praetorn aus, daß ihnen die wichtige- ren Amtsbezirke, namentlich die großen Truppen-
5 kommandos, untergeben waren. Dieser Unterschied war
viel wesentlicher, als der zwischen Prokonsuln und
Legaten, ein Überlebsei, das nur in leeren Formen und
Titeln die Erinnerung an frühere Zustände bewahrte.
Die große Ausdehnung einzelner Provinzen war
10 der republikanischen Eegierung bequem gewesen: der kaiserlichen mußte sie gefährlich scheinen. Aber natürlich standen die zahlreichsten Heere in den- jenigen Gebieten, welche am schwersten von den Bar- baren bedroht waren; hier die Einheitlichkeit des
15 Kommandos zu zerstören, indem man die Truppen unter mehrere Statthalter verteilte, wäre also nur der Sicherheit des Herrschers, aber nicht des Eeiches, dienlich gewesen. So begann zwar schon Augustus mit der Verkleinerung der Provinzen, und seine Nachfolger
20 sind ihm auf dem gleichen Wege gefolgt: doch hatte man ihn immer nur vorsichtig und zaudernd be- schritten. In den ersten Zeiten des Prinzipats wurden die Alpenländer, die Italien am unmittelbarsten be- drohen konnten und zugleich am leichtesten zu ver-
25 teidigen waren, in eine Eeihe ganz kleiner Amtsbezirke geteilt, in denen gar keine Legionen, sondern nur Alen und Kohorten standen. Als wenn diese Provinzen für senatorische Statthalter zu unbedeutend wären, übergab man sie ritterlichen Prokuratoren, deren subalterner
30 Ehrgeiz nicht zu fürchten war. Aus den zwei spani- schen Bezirken machte Augustus drei; Gallien, das vorher bald einheitlich verwaltet war, bald unter zwei Prokonsuln gestanden hatte, teilte er sogar in sechs Provinzen, ja er scheute nicht davor zurück, die Ein-
58 ni. Die Verwaltung des Reiches.
lieit des Eheinkommaudos aufzulösen, indem er den nördlichen _ Grenzstrich von dem südlichen als Ger- mania inferior und superior schied. Gleichwohl blieb die Macht der konsularischen Legaten noch immer groß genug, um den späteren Kaisern bald hier bald 5 dort Gelegenheit zu neuen Teilungen zu geben. Als mit Commodus die Dynastie der Antonine ausstarb, gab es nur noch drei Statthalter, die mehr als zwei Legionen unter sich hatten ; denn in Britannien, Oberpannonien und S}Tien standen damals noch je drei. Aber so klein 10 diese Macht im Verhältnis zu derjenigen war, welche einzelne Legaten der ersten Kaiser besessen hatten, er- wies sie sich in den Wirren der folgenden Zeit doch gefährlich. Jene drei Männer griffen alle nach der Krone, und es bedurfte schwerer Bürgerkriege, ehe 15 der eine von ihnen seiner Nebenbuhler Herr wurde.
Nachdem Septimius Severus in jahrelangen Kämpfen endlich dies Ziel erreicht hatte, schritt er alsbald dazu, die beiden Provinzen, in denen ihm Gegenkaiser erstanden waren, ihres Übergewichts zu 20 berauben. Die eine wurde in Britannia inferior und superior, die andere in S3Tia Coele und Phoenice zer- legt. Die Provinz, von der seine eigene Erhebung ausgegangen war, schonte er einstweilen; doch seine Nachfolger, die keine solche Pietät für sie empfinden 25 konnten, drückten auch sie auf die bescheidene Macht der übrigen herab. Bis dahin war Unterpannonien mit einer Legion belegt gewesen, Oberpannonien, wie schon gesagt, mit dreien, von denen je eine in Wien, Carnuntum und Brigetio stand. Erhob sich 30 also der Statthalter dieser Provinz, so konnte er den der anderen durch seine Übermacht zum Anschluß zwingen, ehe sich in Eom Gegenmaßregeln treffen ließen. Daher verschob man die Grenzen der beiden
2. Hof und Provinzen. 59
Nachbarbezirke derart, daß Brigetio mit seiner Legion von dem oberen Pannonien abgetrennt und dem unteren zugelegt wurde. Auf diese Weise erhielt jede Provinz zwei Legionen, und standen ihre Legaten ein-
5 ander in gleicher Stärke gegenüber, so konnte man erwarten, daß die Eifersucht des einen den Ehrgeiz
&9 des andern niederhalten werde. Aber wie der Erfolg lehrte, genügte auch diese Vorsicht nicht: nach dem Tode des Severus wurden die Usurpationen häufiger,
10 als sie je zuvor gewesen waren.
Wenn Diocletian in der Verkleinerung der Pro- vinzen fortfuhr, so tat er nur, was seine Vorgänger auch getan hatten. Aber er schritt nicht, wie sie, nur an solchen Stellen ein, wo eine Gefahr drohte
15 oder ein Bedürfnis sich geltend machte, sondern mit der Prinzipienreiterei, die ihm eigen war, führte er die Maßregel im ganzen Eeiche systematisch durch. Nur solche Provinzen, die schon früher von sehr ge- ringem Umfange gewesen waren, wie Sizilien oder die
20 Seealpen, blieben in ihrer hergebrachten Umgrenzung bestehen; sonst wurden alle halbiert oder selbst ge- drittelt. So vermehrten sich die drei spanischen Pro- vinzen auf sechs, die sechs gallischen auf fünfzehn, das einheitliche Äg}'pten wurde in drei Teile zerlegt.
2r. Während auf diese Weise alle Statthalter zu der gleichen Bedeutungslosigkeit herabsanken, führte der Kaiser unter ihnen doch eine strenge Eanggliederung durch. Damit gewann er die Möglichkeit, die adeligen Herren, denen künftig jede wirkliche Macht versagt
30 bleiben sollte, durch Titel und Würden zu entschädigen. Dies Kleingeld der Hofgunst, das den Herrschern nichts kostet und den Untertanen eine wohlfeile Freude bereitet, ist eben zu allen Zeiten eins der beliebtesten Hilfsmittel der Despotie gewesen.
60 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Den vornehmsten Platz nahmen die Prokonsuln ein; sie waren die einzigen, deren Vorzug vor ihren Kollegen sich nicht allein auf den Titel beschränkte. 6(1 Denn während die übrigen Statthalter immer nur in erster Instanz richten konnten, nahmen sie auch 5 Appellationen von einigen niedrigeren Beamten an, und von ihnen durfte nicht an die Vicare, von denen später noch die Eede sein soll, sondern nur an den Kaiser direkt appelliert werden. Um die Würde des Amtes noch durch seine Seltenheit zu erhöhen, hob 10 Diocletian fast alle praetorischen Prokonsulate auf. Neben denen, die bisher ausschließlich von Konsularen verwaltet worden waren, nämlich in den Provinzen Asien und Africa, blieb nur noch der Prokonsulat von Achaia bestehen, wahrscheinlich um die literarischen 10 und künstlerischen Verdienste Griechenlands durch den hohen Titel seines Statthalters zu ehren. Später zeichnete Theodosius auch Palästina um seiner heiligen Erinnerungen willen in derselben Weise aus. Sollte ein hochgeborenes Männlein mit einem unbedeutenden. 20 aber vornehmen Amt ausgestattet werden, so hat man, wenn zufällig jene Stellen besetzt waren, wohl auch andere Provinzen vorübergehend zu Prokonsulaten er- hoben. Auf den Titel kam dem Herrscher nichts an, und dem Geehrten erschien er doppelt wertvoll, wenn 2.-. er für ihn erst eigens geschaffen wurde.
Der zweite Eang kam den Consulares zu, den Nachfolgern der kaiserlichen Legaten, und von diesen blieb eine recht ansehnliche Zahl bestehen. Auch von den Provinzen, die ihnen vorbehalten waren, schloß :^.'i Diocletian die Praetorier aus, woraus aber nicht folgt, daß jeder Consularis vorher das Konsulat bekleidet haben mußte. Denn damals kam es schon sehr häufig vor, daß die Kaiser Eechte und Würden des Amtes
2. Hof und Provinzen. 61
ohne dieses selbst verliehen. Jedenfalls gehörte diese Art von Statthaltern ausnahmslos der höchsten Eang-
61 klasse des Senates an. Den geringeren Senatoren bhehen nur die wenigen Provinzen, deren Verwalter
5 jetzt den Titel Correctores erhielten, und auch sie wurden mitunter ritterliehen Statthaltern übergeben. Diese wurden jetzt sehr zahlreich, da ihnen die neu- gebildeten Provinzen fast alle zufielen. Die meisten hießen Praesides und standen an Würde unter den
10 Correctores und Consulares, von den Prokonsuln ganz zu geschweigen; doch ihre Macht und Tätigkeit war genau die gleiche. Es kam daher auch vor, daß junge Senatoren zur Verwaltung präsidialer Provinzen be- rufen wurden. Später ist noch eine Eeihe neuer Titel
15 geschaffen worden, namentlich war Justinian in dieser Beziehung sehr erfindungsreich. Aber wenn solche Neuerungen sich auch immer mit höchst prätentiöser Wichtigkeit einführen, so sind sie doch historisch so belanglos, daß ein näheres Eingehen darauf nicht der
20 Mühe lohnt.
Bedeutsamer war, daß auch die Verkleinerung der Provinzen, obgleich ihr Zweck vollständig erreicht war, mit Diocletian nicht zum Stillstande kam. Wenn nämlich auch der Kaiser die Statthalter ernannte, so
•25 wurde die Wahl doch meist durch seine Höflinge geleitet, und für diese bildete der Ämterschacher eine Einnahmequelle, die desto reichlicher floß, je mehr Stellen es zu besetzen gab. So wurden im Laufe der Zeit noch viele neue Provinzen ,von den alten ab-
30 gezweigt, nicht um irgend eines administrativen Be- dürfnisse willen, sondern nur, um der Habsucht der zeitweiligen Machthaber Genüge zu tun. Und waren sie einmal da, so ließen sie sich kaum mehr beseitigen. Denn für jeden abgehenden Statthalter standen immer
62 ni. Die Verwaltung des Reiches.
schon zehn Kandidaten bereit, die auf seine Stelle lauerten, und mancher von ihnen durfte auf Ver- sprechungen einflußreicher Männer pochen. Da nun die Kaiser meist zu gutmütig waren, um solche Er- wartungen zu täuschen und ihre Günstlinge Lügen zu 62 strafen, so konnten sich die Blutsauger der Provinzen wohl vermehren, aber fast niemals vermindern.
Diocletian hatte sich zum Gotte gemacht; aber wo der Aufruhr aus allen Ecken des Eeiches drohte, konnte ihn dies nicht schützen, wenn er nicht auch 10 die Allgegenwart eines Gottes besaß. Etwas zu schaffen, was diese einigermaßen ersetzen konnte, ist daher sein eifriges Bestreben gewesen. Schon daß die Herrscher nicht mehr in Rom wohnten, sondern durch die Provinzen zogen und bald hier, bald dort 15 nach dem Rechten sahen, mußte in diesem Sinne seine Wirkung tun. Aber obgleich ihre Zahl auf vier ver- mehrt war, blieben die Reichsteile, die jeder unter sich hatte, doch viel zu groß, um jeden Beamten im Auge zu behalten, und die erhöhte Zahl der Provinzen 20 erschwerte noch den Überblick. Es mußten Mittel- instanzen eingerichtet werden, welche zwischen der Zentralregierung und den Statthaltern eine Verbindung herstellten und, indem sie diese beaufsichtigten, die Herrscher über ihr Verhalten belehrten. Diese Organi- 25 sation wurde von Diocletian eingeleitet, durch Con- stantin und seine Söhne zu Ende geführt, wozu ihnen die alte Gardepraefectur die wichtigste Handhabe bot.
Der Feldherr, der für die Sicherheit des Kaisers und seiner Hauptstadt einzustehen hatte, war natürlich so zu allen Zeiten der Mann des allerhöchsten Vertrauens gewesen. Daraus ergab sich von selbst, daß er nicht selten mit Aufträgen von Wichtigkeit beehrt wurde, auch wenn sie mit dem Oberbefehl über die Garde
2. Hof und Provinzen. 63
an sich nichts zu tun hatten. Die ungelieure Last der Geschäfte, die dem Beherrscher eines so großen Reiches oblagen, wurde etwas erleichtert, indem derPrae- fect oder die J^aefecten — denn mitunter fungierten
8S zwei nebeneinander — einen Teil davon stellvertretend besorgten. Namenthch die Appellationen, die aus allen Provinzen am Hofe einHefen, pflegte man ihnen zur Entscheidung zu übergeben, und auch wo der Kaiser in erster Instanz einen Spruch zu fällen hatte,
10 traten jene oft für ilm ein. Die Art der Greschäfts- teilung war dabei in keiner Weise geregelt, sondern hing ganz von dem Beheben des Kaisers ab; je tätiger er war, desto mehr erledigte er selbst, je schwächer und untüchtiger, desto weiter dehnte sich die Wirk-
15 samkeit seines Helfers aus, ja nicht selten ist dieser der eigentliche Eegent des Reiches geworden. Aber immer mußte er formell hinter jenem verschwinden: denn was er tat, galt als persönliche Handlung des Kaisers, und das nicht ganz mit Unrecht, weil es in
20 jedem einzelnen Fall auf einem Auftrage desselben beruhte oder doch berulien soUte. Aber als diese Aufträge, wo es sich um juristische Entscheidungen handelte, fast regelmäßig erfolgten, entwickelte sich jenes alter ego des Herrschers allmählich zum ständigen
25 Appellationsrichter, ja diese Tätigkeit nahm einen solchen Umfang an, daß die militärischen Pflichten des Amtes dahinter zurücktraten. Seit dem Anfang des dritten Jahrhunderts ist daher die Eigenschaft, welche vor allen andern zu dieser hohen Stellung
30 befähigt, hervorragende Rechtskunde; die berühmten Juristen, deren Urteile uns das Corpus juris erhalten hat, sind, wie Papinian, Ulpian und Paulus, zum großen Teil Praefecti praetorio gewesen. Da nun gründliche Ausbildung in irgendeiner Wissenschaft
64 ni. Die Verwaltung des Reiches.
damals nicht eben häufig vorkam, sah man sich ver- anlaßt, die Auswahl nicht mehr auf den Eitterstand zu beschränken. Seit das Amt mehr ein gelehrtes als ein militärisches war, machte man es aueh den Senatoren zugänglich, ja es wurde Sitte, denPraefecten, 64 auch wenn er aus niedrigerem Stande hervorgegangen war, in den Senat zu erheben. Wie man bei uns selbst von dem kleinsten Subalternbeamten irgend- eine Art von „Berechtigung" verlangt, nicht aber vom Minister, so war aueh im römischen Eeiche für die lo vornehmste aller Stellungen jede Vorbedingung be- seitigt, außer der des kaiserlichen Vertrauens.
Mit dem Kaisertum vervierfachte Diocletian wahr- scheinlich auch die Praefectur. Zwischen den Augusti und den Caesares scheint nur insofern ein Unterschied 15 bestanden zu haben, als jene nicht nur für sich, son- dern auch für diese die Helfer ernannten oder doch deren Ernennung bestätigten. Die Kompetenz der- selben war örtlich in dem gleichen Sinne beschränkt oder unbeschränkt, wie die der Kaiser selbst. Wir 20 sahen schon (I S, 32), daß jedem von diesen ein Viertel des Eeiches zu gesonderter Verwaltung über- geben war, daß aber diese Teilung nur tatsächlich, nicht rechthch bestand, und so oft ein besonderer Zweck dies erheischte, verändert oder unterbrochen 25 wurde. Der Praefect folgte dem Herrscher, dem er beigegeben war. Jeder einzelne war also dem for- mellen Eechte nach für das ganze Eeich bestimmt und konnte, wenn die Gelegenheit sich bot, an jedem be- liebigen Orte als Helfer des Kaisers tätig sein; regel- 30 mäßig aber verwaltete jeder einen der vier Eeichsteile. Die Appellationen, die aus den Provinzen desselben einliefen, pflegte er zu erledigen, falls der Kaiser sie nicht persönlich an sich zog, was immer geschehen
2. Hof und Provinzen. G5
konnte und auch damals oft geschah. Da der Praefect sich stets in der Umgehung des Herrschers befinden mußte und die Praetorianer in Eoni zurückgebliehen waren, hörte sein Verhältnis zu diesen tatsächlich auf ; (w aber an militärischer Bedeutung büßte sein Amt da- durch nicht ein. Nach Diocletians Absicht sollten zwar die Kaiser ihre eigenen Feldherren sein; aber Avie in der Ausübung der Gerichtsbarkeit, standen ihnen auch in dieser Beziehung die Praefecten als i'i Helfer zur Seite. Machten die Kriegsoperationen eine Teilung des Heeres nötig, so führte der iVugustus oder der Caesar die eine Hälfte, sein Praefect die andare : vor allem aber mußte dieser die Verpflegung der Truppen vorbereiten und überwachen. Aus diesem !"■ Grunde fiel ihm die Verwaltung der Naturalsteuern zu. Alljährlich erließ er eine Verfügung an die Statt- lialter seines Eeichsteils, wieviel an Korn, Wein, Schweinefleisch, Eisen, Kleidern, Pferden jeder zu er- heben habe und wohin die Erträge abzuführen seien. 20 Er bestimmte, wo Magazine angelegt werden sollten und mit welchen Vorräten jedes auszustatten sei. In- dem er so die beiden wichtigsten Tätigkeiten der Statt- halter, die Beitreibung der Steuern und das Eecht- sprechen, jene durch seine Befehle ordnete, dieses -■^ durch seine Eichtersprüche zweiter Instanz refor- 3nierte, gewann er Einblick in die Vorwaltung aller Provinzen und wurde zum Aufseher über ihre Beamten. In seinem Praefecten besaß jeder Kaiser einen wertvollen Gehilfen; aber auch für ihre gemeinsame "•'' Tätigkeit war der einzelne Eeichsteil zu groß. Dio- cletian schuf daher noch andere Aufsichtsbeamte, welche die Praefecten in kleineren Bezirken vertreten sollten, und teilte zu diesem Zwecke das ganze römische Eeich in drcizelm Diözesen ein. die im Laufe des SU 5
66 ni. Die Verwaltung des Reiches.
vierten Jahrhunderts auf fünfzehn vermehrt wurden. Es waren die folgenden:
1) Oriens, der vom Taurusgebirge bis zur großen Syrte reichte. Unter Theodosius dem Großen wurde Ägypten von ihm abgezweigt und zu einer besonderen 06 Diözese gemacht.
2) Asia, die südwestliche Hälfte Kleinasiens.
3) Pontus, die nordöstliche Hälfte.
4) Thraciae.
5) Moesiae, unter Constantin in Macedonia und lo Dacia geteilt.
6) Pannoniae.
7) Italia, aus dem heutigen Oberitalien bestehend, aber nördlich bis zur Donau reichend.
8) Diöcesis Urbis Eomae, die Gebiete südlich vom i.-, Appennin und die drei großen Inseln umfassend.
9) Africa.
10) Hispaniae, denen auch Mauretania Tingitana, das heutige Marokko, zugerechnet wurde.
11) Viennensis, der südliche Teil Galliens. 20
12) Galliae, der nördliche Teil.
13) Brittanniae.
Für jede Diözese setzte Diocletian einen vicarins praefectorum praetorio ein, d. h. einen Stellvertreter der Praefecten. Dieser erfüllte genau die gleichen j-. Obliegenheiten, wie der Praefect selbst, doch konnte seine Aufsicht über die Statthalter eindringender und wirksamer sein, weil immer nur eine kleine Zahl, vier bis zehn, ihm untergeben waren. Wenn allein die Diözese des Orients sechzehn Provinzen zählte, so hatte ■■' dies /seinen besonderen Grund; denn die fünf ägyp- tischen hatten ihren gemeinsamen Praefecten, wie er in alter Zeit bestanden hatte, auch später behalten; unter Diocletian bildete er ein Zwischenglied zwischen
2. Hof und Provinzen. 67
den Statthaltern und dem A''icar, wodurch diesem seine Arbeit sehr erleichtert wurde, und nachher trat er ganz an dessen Stelle. Die Vicare waren alle Eitter und daher von niedrigerem Rang als die Correctoren
67 und Consulares, di« ja dem Senat angehörten; trotz- dem standen sie als Vertreter der Praefecten tatsäch- lich über ihnen ; nur die Prokonsuln waren ihrer Auf- sicht und Appellation entzogen. Erst Valentinian I. nahm sie in den Senat auf und wies ihnen in seiner
10 Eangklassenordnung den Platz zwischen den Prokonsuln und den Consulares an, wodurch ihre Würde einiger- maßen ihrer Machtstellung angeglichen TVTirde.
Die Vicare gewährten nicht nur eine Kontrolle über die Statthalter, sondern auch über die Praefecten
15 selbst, so hoch diese auch über ihnen standen. Ob- gleich sie als Stellvertreter derselben galten und in ihrer Anwesenheit zeitweilig jede Beamtengewalt ver- loren, waren sie von ihnen doch in keiner Weise abhängig, wie sich dies namentlich in der Ordnung
20 der Appellationsgerichtsbarkeit ausprägte. Soweit der Kaiser nicht persönlich eingriff, konnte der Praefect innerhalb seines Reichsteils jeden Prozeß an sich ziehn. Tat er dies aber nicht, so stand es den Parteien frei, ihre AjDpellation an den Vicar oder an den Praefecten
25 zu richten. Der Spruch des letzteren war inappellabel; von dem des ersteren konnte dagegen noch einmal Berufung eingelegt werden, die sich aber nicht an den Praefecten, sondern an den Kaiser wenden mußte. So gewann dieser ein Mittel, um die Richtersprüche der
30 Vicare zu prüfen, und zugleich wurde ihr Amt nicht
der Praefectur untergeordnet, sondern trat innerhalb
der Diözese konkurrierend neben sie. Indem jeder der
beiden Teile immer wieder gezwungen war, in den
• Geschäftskreis des andern überzugreifen, mußte sich
G8 III. Die Verwaltung des Reiches.
zwischen ihnen die Eifersucht ausbilden, die am sichersten zum gegenseitigen Belauern und zur An- geberei führte. Eben dies war der Wunsch des miß- trauischen Diocletian. Auch dem Stadtpraefecten von (<S Rom, der in seinem kleinen Amtskreise einer Ver- 5 Iretung gar nicht bedurfte, stellte er daher einen Vicar zur Seite. In welchem schroffen Gegensatze diese beiden Beamten standen, haben wir schon oben gesehen, w^o wir von dem Aufstande des Maxentius erzählten (I S. 74). Wahrscheinlich hat er den Anlaß m geboten, daß dieses städtische Vicariat später auf- gehoben wurde. Das provinzielle blieb bestehen; nur in Nordgallien, Pannonien und Dacien sind keine Vicare nachweisbar. Auch hier dürften sie beseitigt sein, weil in den Gebieten, die den Angriffen der Bar- 15 baren am meisten ausgesetzt waren, eine zwiespältige Verwaltung, deren Leiter sich gegenseitig belauerten und hemmten, sich früh als unheilvoll erwies. Aber diese Ausnahme hat in Gallien keinen Bestand gehabt ; hier wurden später beide Diözesen zu einer vereinigt 20 und gemeinsam einem Vicar untergeben. Wie der Praefect des äußersten Ostens niemals ein Gebiet be- sessen hatte, in dem er Alleinherrscher gewesen wäre, so trat das gleiche jetzt auch im äußersten Westen ein. Doch dies kann erst verständlich werden, wenn 25 wir die neue Regelung der Praefectur, die erst lange nach dem Tode Diocletian s zum Abschluß kam, ge- nauer dargelegt haben.
Auch in den ersten Jahren Constantins bestand der Grundsatz fort, daß der Praefect zur Person des m Herrschers gehöre, und nur insofern dieser selbst einen bestimmten Reichsteil regierte, auch jener in der Ausübung seiner Gewalt in örtliche Grenzen einge- schlossen sei. Die Zahl der Praefecten wechselte also
2. Hof und Provinzen. G9
mit der Zahl der Kaiser, die einen selbständigen Hof- halt führten. Zu diesen gehörte auch Constantins Sohn Crispus, nachdem er am 1. März 317 zum Caesar ernannt und bald darauf mit der Verwaltung Gallien.-
7-, beauftragt war (IV S. 3). Dieser aber war noch ein Knabe, der für die Handlungen der Eeichsregierung wohl den Namen hergeben, nicht aber sie selbsttätig beschließen und zur Ausführung bringen konnte. So gewann sein Praefect eine ganz andere Stellung, als
10 die der beiden Augusti, Constantin und Licinius: er wurde zum eigentlichen Eegent^u des gallischen Reichsteils. Auch er war an die Person eines Herr- schers gefesselt, doch eines solchen, der gar kein wirk- licher Herrscher war. Tatsächlich hatte diese Prae-
1.". fectur .^ich vom Hofe der Kaiser, die zu befehlen hatten, gelöst, stand mit ilmen nur noch in brief- licher Verbindung und vertrat sie in einer bestimmten Zahl weit entfernter Provinzen.
Diese Einrichtung bewährte sich, oder richtiger.
20 sie gefiel dem Kaiser. Denn noch ehe sie Zeit gehabt hatte, sich zu bewähren, hat er sie mit der eilfertigen Entschlossenheit, die ihm eigen war, auch auf andere Teile des Eeiches ausgedehnt. Schon im J. 320 findet .sich ein Praefect von Africa, wo es gar keinen Caesar
■iö gab. Doch durch das Meer von allen den Provinzen getrennt, die Constantin damals beherrschte, und da- her im Winter fast unzugänglich, schien dieses Gebiet mehr als jedes andere eines Vertreters der höchsten Gewalt zu bedürfen. So ist hier zum erstenmal ein
30 Praefecturbezirk geschaffen, der nicht mit dem Reichs- teil eines bestimmten Herrschers, mochte er Caesar oder Augustus heißen, zusammenfällt. Und bald wurde der africanischen eine italische Praefectur hinzu- o^efÜD-t. dann, nachdem durch den Sieg über Licinius
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III. Die Verwaltung des Reiches.
das ganze Eeich in die Gewalt Constantins gekommen war, auch eine orientalische, in der zwei Praefecten nebeneinander wirkten. Diese Art der Kollegialität taucht dann auch später immer wieder auf, aber ohne sich dauernd zu behaupten. Doch bleibt die An- .-. schauung bestehen, daß dies höchste Amt, ob es am Hofe oder in einem abgetrennten Gebiet verwaltet wird, nach freiem Belieben des Kaisers einheitlich oder kollegial sein kann.
Schon bei seinen Lebzeiten hatte der alte Kaiser 6» seine drei Söhne zu Caesaren ernannt und jedem ein Gebiet von ungefähr gleicher Ausdehnung zu selb- ständiger Verwaltung übergeben. Constantin II. hatte Britannien, die beiden Gallien und Spanien erhalten, Constans Pannonien, die beiden Italien und Africa, is Constantins Asien, Pontus und den Oriens, der damals Ägypten noch mitumfaßte und daher an Umfang zweien der anderen Diözesen gleichgesetzt werden konnte. Die drei übrigbleibenden Bezirke Thracien, Makedonien und Dacien hatte der Augustus sich selbst vorbehalten ; nach seinem Tode sollten sie seinem Neffen Dalmatius zufallen, dem er gleichfalls die Caesarenwürde ver- liehen hatte. So war die Diocletianische Keichsteilung mit geringen Veränderungen wieder aufgelebt. Doch neben vier Herrschern walteten jetzt mindestens sechs Praefecten ihres Amtes. Denn die orientalische Prae- fectur war verdoppelt und von der italischen eine africanische abgetrennt. Aber kaum lag Constantin im Grabe, so wurde Dalmatius durch eine Soldaten- ]"evolte aus dem Wege geräumt, und der vierte Eeichs- 3o teil blieb herrenlos zurück. Da seine Teilung Schwierig- keiten machte, einigten sich die beiden älteren Brüder, ihn in seinem vollen Umfange dem jüngsten, Constans, zu überlassen, der damals (338) erst fünfzehn Jahre
2. Hof und Provinzen
7t) alt war imd daher am wenigstens imstande schien, seine Übermacht gegen die Mitregenten zu miß- brauchen. Hierin sollte man sich freiUch täuschen: schon 340 brach zwischen ihm und Constantin II. ein 5 Krieg aus, der mit der Niederlage und dem Tode des letzteren endete. Die Veränderungen, die so Iti der Eeichsteilung Constantins eintraten, mußt-en auch auf die Gestaltung der Praefectur einwirken.
Die drei Söhne standen den Verfügungen ihres
10 Vaters mit sehr geringer Pietät gegenüber. Wie sie alle Würden und Privilegien, die er munizipalen Größen verliehen hatte, schon gleich nach seinem Tode kurzweg für nichtig erklärten, so beseitigten sie auch alles, was er an der Praefectur geneuert hatte. Sie
15 wurde wieder, wie in der älteren Zeit, an die Personen der Herrscher geknüpft. Die africanische verschwand, und den drei Kaisern entsprachen drei Praefecturen, von denen freilich die orientalische noch von zwei Männern gemeinsam verwaltet Avurde. Doch auch dies
•20 überdauerte den Tod Constantins nur um drei Jahre. Doch um dieselbe Zeit, wo so im Osten die letzte seiner Neuerungen beseitigt wurde, feierte sein Ge- danke, einzelne Praefecturen vom Hofe zu lösen und auf ein bestimmt umgrenztes Gebiet anzuweisen, im
25 Westen seine Auferstehung.
Als Constans zum Kriege gegen seinen ältesten Bruder rüsten mußte, hatte er, um die Bundes- genossenschaft des Constantins zu gewinnen, die thra- cische Diözese an ihn abgetreten (IV S. 46). Mit
30 dem orientalischen Eeichsteil endete daher auch die orientalische Praefectur nicht am Bosporus, sondern am Karasu, und diese sonderbare Begrenzung ist auch später bestehn geblieben. Das ganze übrige Eeich war nach dem Tode Constantins IT. in der Hand de.s
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70 ni. Die Verwaltung des Eeiches.
das ganze Eeich in die Gewalt Constantins gekommen Avar, auch eine orientalische, in der zwei Praefecten nebeneinander wirkten. Diese Art der Kollegialität taucht dann auch später immer wieder auf, aber ohne sich dauernd zu behaupten. Doch bleibt die An- .-; schauung bestehen, daß dies höchste Amt, ob es am Hofe oder in einem abgetrennten Gebiet verwaltet Avird, nach freiem Belieben des Kaisers einheitlich oder kollegial sein kann.
Schon bei seinen Lebzeiten hatte der alte Kaiser 69 seine drei Söhne zu Caesaren ernannt und jedem ein Gebiet von ungefähr gleicher Ausdehnung zu selb- ständiger Verwaltung übergeben. Constantin II. hatte Britannien, die beiden Gallien und Spanien erhalten, Constans Pannonien, die beiden Italien und Africa, i5 Constantius Asien, Pontus und den Oriens, der damals Ägypten noch mitumfaßte und daher an Umfang zweien der anderen Diözesen gleichgesetzt werden konnte. Die drei übrigbleibenden Bezirke Thracien, Makedonien und Dacien hatte der Augustus sich selbst vorbehalten; 2« nach seinem Tode sollten sie seinem Neffen Dalmatius zufallen, dem er gleichfalls die Caesarenwürde ver- liehen hatte. So war die Diocletianische Keichsteilung mit geringen Veränderungen wieder aufgelebt. Doch neben vier Herrschern walteten jetzt mindestens sechs 25 Praefecten ihres Amtes. Denn die orientalische Prae- fectur war verdoppelt und von der italischen eine africanische abgetrennt. Aber kaum lag Constantin im Grabe, so wurde Dahnatius durch eine Soldaten- revolte aus dem Wege geräumt, und der vierte Reichs- 30 teil blieb herrenlos zurück. Da seine Teilung Schwierig- keiten machte, einigten sich die beiden älteren Brüder, ihn in seinem vollen Umfange dem jüngsten, Constans, zu überlassen, der damals (338) erst fünfzehn Jahre
2. Hof und Provinzen. 71
7t> alt war und daher am wenigstens imstande schien, seine Übermacht gegen die Mitregenten zu miß- brauchen. Hierin sollte man sich freilich täuschen: schon 340 brach zwischen ihm und Constantin II. ein
5 Krieg aus, der mit der Niederlage und dem Tode des letzteren endete. Die Veränderungen, die so in der Eeichsteilung Constantins eintraten, mußten auch auf die Gestaltung der Praefectur einwirken.
Die drei Söhne standen den Verfügungen ihres
10 Vaters mit sehr geringer Pietät gegenüber. Wie sie alle Würden und Privilegien, die er munizipalen Größen verliehen hatte, schon gleich nach seinem Tode kurzweg für nichtig erklärten, so beseitigten sie auch alles, was er an der Praefectur geneuert hatte. Sie
15 wurde wieder, wie in der älteren Zeit, an die Personen der Herrscher geknüpft. Die africanische verschwand, und den drei Kaisern entsprachen drei Praefecturcn, von denen freilich die orientalische noch von zwei Männern gemeinsam verwaltet wurde. Doch auch dies
20 überdauerte den Tod Constantins nur um drei Jahre. Doch um dieselbe Zeit, wo so im Osten die letzte seiner Neuerungen beseitigt wurde, feierte sein Ge- danke, einzelne Praefecturcn vom Hofe zu lösen und auf ein bestimmt umgrenztes Gebiet anzuweisen, im
25 Westen seine Auferstehung.
Als Constans zum Kriege gegen seinen ältesten Bruder rüsten mußte, hatte er, um die Bundes- genossenschaft des Constantins zu gewinnen, die thra- cische Diözese an ihn abgetreten (IV S. 46). Mit
30 dem orientalischen Eeichsteil endete daher auch die orientalische Praefectur nicht am Bosporus, sondern am Karasu, und diese sonderbare Begrenzung ist auch später bestehn geblieben. Das ganze übrige Eeich war nach dem Tode Constantins II. in der Hand de.s
72 ni. Die Verwaltung des Kelches.
jungen Constans vereinigt; doch schien es ihm zu groß, um eine ganz einheitliche Verwaltung zu dulden. Er ließ daher die Praefectur seines gefallenen Bruders fortbestehen; der gallische und der italische Reichs- teil blieben unter verschiedenen Praefecten, obgleich ]iur ein Kaiser über ihnen waltete.
Doch die Abgrenzung ihrer Machtgebiete hatte noch lange Zeit nicht die Bestimmtheit, wie unter Constantin dem Großen und dann wieder unter lulian und seinen Nachfolgern. Wie die Kaiser selbst im Reich umherzieh 11, so auch ihre Stellvertreter. Bald l>egleiten sie ihre Herren, bald werden sie von ihnen hierhin oder dorthin abkommandiert, wie eben die Be- dürfnisse der Verwaltung dies verlangen. Kommt es doch sogar vor, daß die Stadtpraefectur von Rom und die Reichspraefectur von Italien zeitweilig in dieselbe Hand gelegt werden. Auch die Umgrenzung der Be- zirke wechselt; so sind die drei Diözesen Pannonien, Makedonien und Dacien zeitweilig mit der italischen Praefectur vereinigt, zeitweilig sind sie unter dem gemeinsamen Namen Illyricum einem besonderen Praefecten untergeben. Erst lulian weist seinen Stell- vertretern — zu seiner Zeit sind es drei — fest be- grenzte Gebiete zu, was sich seitdem auch in der Titu- latur ausdrückte. Erst jetzt gibt es auch offiziell an- erkannt einen Praefectus iiraetorw Galliarum, einen Praefectus praetorio Orientis und einen Praefectus praetorio Italiae. Doch der vollständige Titel des zu- letzt genannten lautet: Praefecius praetorio Italiae, Jlhjrici et xlfricae, worin zum Ausdruck konnnt, daß die drei Ländermassen, die er nennt, ursprünglich ge- sonderte Praefecturbezirke waren. Auch dabei ist es aber nicht geblieben; Gratian, Theodosius, Areadius haben neue Änderungen vorgenommen, die im Zu-
2. Hof und Provinzen. 73
sammenhauge ilirer Regierungen besprochen "werden sollen. Wie die ganze Zeit des sinkenden Altertum.s seit den kühnen Neuerungen Diocletians von einem wilden Drange zu immer wiederholtem Probieren und
:. Experimentieren beherrscht wird, so kommt dies aucli in dem höchsten Amte des Reiches zum Ausdruck.
Vielleicht war es Constans, der die Vicariate vun Nordgallien, Pannonien und Dacien abschaffte. Der Grund dürfte gewesen sein, daß seine zwei Praefecten.
10 wenn sie den Kaiser nicht auf seinen Kriegsfahrten begleiteten, m Trier und Sirmium oder Naissus resi- dierten und wenigstens aus ihrer unmittelbaren Um- gebung der lästige Aufpasser beseitigt werden sollte.
71 Ganz anders ordnete Constantius seinen Reichsteil.
15 der mit der praefectura praetorio per Orientem zu- sammenfiel. Durch den Perserkrieg, der ihm lange Jahre hindurch zu schaffen machte, wurde der Kaiser und mit ihm sein Praefect meist in Antiochia fest- gehalten, hegte aber die Absieht, nach Herstellung
20 des Friedens sich in Konstantinopel niederzulassen. So konnte der höchste Beamte hier zu keiner festen und bleibenden Residenz gelangen und bekam daher gar keinen Immediatbezirk. Von den vier Diözesen behielten Thracien, Pontus und Asien ihre Vieare und
25 anfangs wohl auch der Oriens. Doch ging hier die Verwaltung sehr bald auf die Comitiva Orientis über, ein Amt, bei dessen höchst merkwürdiger Geschichte wir einen Augenblick verweilen müssen.
Schon seit der republikanischen Zeit war es üblich,
30 daß ein Beamter, der einen Richterspruch zu fällen oder sonst eine wichtige Entscheidung zu treffen hatte. seine Verantwortung in folgender Weise entlastete. Er versammelte um sich einen Kreis von Ratgebern, ließ, wenn es sich um einen Prozeß handelte, in ihrer
74 IH- Die Verwaltung des Reiches.
Gegenwart die Zeugen verhören und die Parteien reden oder legte ihnen bei Fragen anderer Art die Gründe für und wider vor, um sein Urteil durch ihre Mehrheit bestimmen zu lassen. Die Zusammen- setzung jenes consüium, wie es technisch hieß, blieb 5 seinem freien Ermessen anheimgegeben; doch wählte man dafür natürlich ansehnliche Leute, da nur so ihre Autorität dem Beamten die nötige Deckung gewähren konnte. Auch Augustus umgab sich mit 72 einer Ratsversammlung ähnlicher Art, benutzte aber 10 auch dieses Mittel, um den Senat zu seinem Mit- regenten zu machen und dessen Mitglieder an allen wichtigen Entscheidungen des Herrschers zu be- teiligen. Er verzichtete auf die freie Wahl seines Konsilium und gestaltete es als Senatskommission, 15 deren Zusammensetzung der Zufall bestimmte. Zu diesem Zweck ließ er jedes halbe Jahr fünfzehn Sena- toren auslosen, denen außerdem die Konsuln und je ein Mitglied der niedrigeren Beamtenkollegien hinzu- traten. Diese Institution hat noch unter Augustus 20 selbst manche Veränderungen erfahren, von denen die wichtigste war, daß der Kaiser auch Männer seines persönlichen Vertrauens als außerordentliche Beisitzer zu den Beratungen heranzog; aber das Grundprinzip blieb noch unter Tiberius bestehen, bis dessen Flucht 25 nach Capri jede unmittelbare Verbindung zwischen Kaiser und Senat löste. Später ist Claudius noch ein- mal darauf zurückgekommen: dann aber verschwindet jene Senatskommission, und die Herrscher nehmen bei der Bildung ihres Konsilium dasselbe Recht freier ao Auswahl auch für sich in Anspruch, das jedem Be- amten von alters her zustand.
Seitdem beruft der Kaiser in seinen hohen Rat, Aver ihm zur Beurtoiluno- der einzelnen Fragen der
2. Hof und Provinzen. 75
Geeignetste scheint; der Bestand des Konsilium kann also bei jeder Sitzung wechseln, was natürlich nicht ausschließt, daß manche Vertrauensmänner regelmäßig- geladen werden. Namentlich wird dies von einzehien
r> tüchtigen Juristen gelten ; denn seit der Niedergang des geistigen Lebens in Eom begonnen hatte, war auch die Rechtskunde nicht mehr Gemeingut aller politisch tätigen Männer, und immer spärlicher wurden die-
73 jenigen, welche gründlich in ihr Bescheid wußten. In
10 der Hauptstadt selbst gab es freilich noch reiche Aus- wahl; wer aber außerhalb Recht zu sprechen hatte, der mußte dafür sorgen, daß in seinem Gefolge ein sachverständiger Berater nicht fehle. So pflegte denn seit der Zeit des Claudius jeder höhere Provinzial-
15 beamte einen rechtskundigen Beisitzer mit sich zu nehmen, der offiziell den Titel comes et assessor oder auch comes schlechthin führte, und ein entsprechender „Begleiter" l^efand sich auch in der Umgebung des Kaisers, wenn er Rom verließ. Auf diese Weise
20 entstand der Comestitel, der seit Constantin eine so umfassende Bedeutung gewinnen sollte, daß er noch heute in dem comte der Franzosen, dem conte der Italiener fortlebt.
Bei den Reisen des Herrschers war der Comes
25 ständiges Mitglied des Konsilium, während dessen andere Teilnehmer wechselten. Er sprach daher nicht nur in juristischen Fragen mit, obgleich diese sein eigentliches Gebiet waren, sondern wurde zum all- gemeinen Ratgeber und Vertrauensmanne des Kaisers.
30 Dies bot Mark Aurel den Anlaß, den Befugnissen des Amtes eine neue Richtung zu geben. Sein Mitregent Lucius Verus hatte die Führung in dem schweren Partherkriege übernommen; doch seine Befähigung als Feldherr war sehr zweifelhaft. Marcus hielt es
7G III. Die Verwaltung des Reiches.
daher für angemessen, ihm einen Kriegsrat an die Seite zu stellen, und kleidete diesen in die Form der Comitiva. Weil die Meinung einer größeren Anzahl mehr Gewicht beanspruchen konnte, als die eines einzelnen, gab er seinem Genossen mehrere Comites r, mit, die alle regelmäßig dem Konsilium beiwohnen sollten; diese aber waren nicht gelehrte Juristen, sondern Senatoren der höchsten Eangklassenj deren kriegerischer Begabung er vertraute. Für den Zweck 74 der Rechtsbelehrung wurde ein anderer Beamter lo ernannt, dem der Titel Consiliarius gegeben wurde. In dieser Form hat sich die Comitiva bis auf Alex- ander Severus erhalten. Sein Nachfolger aber war ein erfahrener Soldat, der sich in seine Kriegführung nicht dreinreden ließ, und zugleich ein Emporkömm- i5 ling, der die vornehmen Herren Senatoren fürchtete und haßte. Er beseitigte daher jene Eatgeber aus seinem Lager, und sie zurückzurufen, war später nicht mehr möglich, weil sich unterdessen der Adel dem Heerdienst entzogen hatte und in militärischen 20 Dingen zu unerfahren geworden war, um im Kriegs- rat brauchbar zu sein. Schon etwas früher war auch der Consiliarius verschwunden; seit die Gardeprae- fectur regelmäßig mit hervorragenden Juristen be- setzt wurde, schienen seine Dienste überflüssig. So 2.-. gab es im kaiserlichen Konsilium kein ständiges Mit- glied mehr, ob der Herrscher in Eom oder in der Provinz verweilte.
Diocletian wählte sich wieder einen rechtsgelehrten Consiliarius; er war zu ungebildet, um Juristische :'•'» Fragen ohne einen Helfer dieser Art zu entscheiden, und zu mißtrauisch, um seinem Gardepraefecten freie Hand zu lassen und auf die persönliche Aufsicht über dessen Rechtsprechung zu verzichten. Im übrigen ver-
2. Hof und Provinzen. 77
änderte er an dem Kronrat nur den Xamen, aber auch dies ist charakteristisch für ihn. In der Zeit des Prinzipats hatte der Herrscher sich von den früheren Staatsbeamten möglichst wenig unterscheiden
.-, wollen und daher die AT'ersammlung seiner Berater, wie jene, Konsilium genannt; Diocletian, der das Kaisertum über alles Menschliche erheben wollte, fand diese Gleichstellung unschicklich. Er schuf daher
75 für diejenigen, welche die Ehre hatten, dem neuen
10 Gott in seinem Heiligtum (sacrarinin) zu nahen, eine unterscheidende Bezeichnung. Neben den Beamten pflegten ihre Eatgeber niederzusitzen, und ebenso war es im Konsiliimi der früheren Kaiser gewesen; jetzt durfte der gemeine Sterbliche nur stehend zu seinem
15 Herrn sprechen. Nachdem die Geladenen sich zu Boden geworfen und den Saum des Purpurgewandes geküßt hatten, wurden die Beratungen damit eint geleitet, daß jeder nach seinem Eange Aufstellung nahm, und nach diesem consistere erhielt die kaiser-
■-'M liehe Eatsversammlung den Xamen consisforiiim. Im übrigen entsprach sie vollständig dem alten Kon- silium, namentlich auch darin, daß die Teilnehmer für jede Sitzung neu bestimmt wurden.
Dies änderte sich unter Constantin. Schon in
25 seiner Frühzeit, als seine Herrschaft noch auf den gallischen Reichsteil beschränkt war, machte er die Beteiligung am kaiserlichen Eat aus einer gelegent- lichen Ehre, die bald diesem, bald jenem erwiesen wurde, zum festen Amt. Dies war etwas durchaus
30 Neues; weil es aber zu jener Zeit als das Eühmlichste galt, das vielgepriesene Altertum wieder zum Leben zu erwecken, knüpfte auch Constantin an die Comitiva an, die vor mehr als siebzig Jahren zu Grabe getragen war. Und wirklich war der Name comcs für die
78 ni. Die Verwaltung des Reiches.
neuen Berater des Kaisers recht, glücklich gewählt. Denn erstens bezeichnete er ja den Keisebegleiter, und seit Diocletian die feste Eesidenz in Eom auf- gegeben hatte, befanden sich die Herrscher immer auf Eeisen und ihr Hof war zu einem Wanderlager ge- worden. Zweitens waren die alten Comites ordent- liche Mitglieder des Konsilium gewesen, und die neuen sollten im Konsistorium die gleiche Stellung ein- nehmen, nur mit dem Unterschiede, daß es neben ihnen keine außerordentlichen Teilnehmer mehr gab. Drit- tens hatten die Comites in der früheren Zeit zuerst als juristische Sachverständige, dann als militärische Be- rater gedient; nach Constantins Willen vereinigten sie beide Obliegenheiten, indem sie dem Kaiser bei der Entscheidung von Prozessen zur Seite standen und zugleich seinen Kriegsrat bildeten. So setzten sie sich denn einesteils aus Zivilpersonen aller Art, anderen- teils aus Militares zusammen; neben den Spitzen des Senats und der Eitterschaft standen barbarische Offi- ziere, die aus dem Stande der leibeigenen Pächter her- vorgegangen oder gar erst über die Eeichsgrenzen ein- gewandert waren. Und wie das alte Konsilium nicht nur in juristischen und militärischen Fragen gehört wurde, sondern bei allen Entscheidungen, für die dem Kaiser eine Beratung überhaupt angemessen schien, so die Comites des Konsistorium. Doch während jenes für den einzelnen Fall immer erst neu gebildet werden mußte, war dieses stetig vorhanden und wurde daher auch regelmäßiger berufen und häufiger befragt.
Die Comitiva war ein Amt und wurde daher, wie alle römischen Ämter, nicht lebenslänglich geführt, sondern nach kurzer Zeit, mitunter schon nach einem Jahre, niedergelegt. Außer der leichten Pflicht, wenn der Kaiser sein Konsistorium befragte, dabeizustehn
2. Hof und Provinzen. 79
und seine Stimme abzugeben, hatte der Comes keine fest bestimmte Amtstätigkeit; doch um so reicher und mannigfacher konnte die unbestimmte werden. Denn die Berater des Herrschers waren natürlich 5 Männer seines Vertrauens; galt es daher irgendeinen Auftrag auszuführen, der nicht in die fest umgrenzte Kompetenz eines anderen Amtes fiel, so betraute er ge- "wöhnlich einen seiner Comites damit. Und in ihrem
77 Kreise waren so verschiedene Elemente vertreten, daß
10 sich für jede Art der staatlichen Tätigkeit, mochte sie kriegerisch, juristisch oder administrativ sein, ge- eignete Personen unter ihnen finden mußten. Nun Avar das ganze Staatswesen damals in der Umbildung begriffen; das Heer, die Finanzen, der Hof, die Pro-
15 vinzialverfassung, alles war aus den gewohnten Bah- nen herausgedrängt und rang nach den endgültigen Formen seiner Neugestaltung; die alten Ämter wollten den veränderten Anforderungen nicht mehr genügen, und neue waren noch nicht in hinreichender Zahl
20 geschaffen. So gab es denn sehr zahlreiche Geschäfte, die Constantin seinen Comites übertragen konnte, und zwar waren dies nicht nur gelegentliche und außer- ordentliche, sondern auch regelmäßig wiederkehrende. Einen betraute er mit der Ausarbeitung seiner Gesetze
25 und Verfügungen, soweit er nicht selbst seinen Stil in ihnen glänzen ließ. Da früher der Quaestor des Kaisers es gewesen war, der dessen Anträge im Senat verlesen und so das augenfälligste Werkzeug seinei- Gesetzgebung gebildet hatte, wurde der Inhaber dieses
30 Amtes, als es sich zu einem ständigen ausgebildet hatte, mit dem Titel comes et quaestor sacri palatii oder auch kurzweg quaestor belegt. Ein zweiter über- nahm die Verwaltung der Domänen und zugleich die Einziehung der Vermögen, die durch Konfiskation
80 III. Die Verwaltung des Reiches.
oder Erbschaft an den Kaiser fielen; er wurde später cumes rerum privatarum genannt. Einem dritten wurde die Aufsicht über das bare Geld und die son- stigen Metallbestände des Schatzes anvertraut; weil die wichtigste Ausgabe, die er zu leisten hatte, in r, den üblichen Geschenken an die Soldaten bestand, bildete sich für ihn der Titel comes sacrarum Im-r/i- tionum. Zwei Comites erhielten das Kommando über die Protectores Domestici, der eine über die Fuß- 7S truppen, der andere über die Eeiterei. So entwickelten lo sich die meisten Hofämter der Folgezeit aus Stel- lungen, die Constantin den Genossen seines Konsi- storiums zu außerordentlicher Verwaltung angewiesen liatte. Zuerst gab es für keines davon eine besondere Bezeichnung; der Aller weltstitel Comes umfaßte Amte]- t5 von jeder denkbaren Wirksamkeit. Als sie aber ständig wurden, erhielten sie allmählich eigene Namen, zuerst vielleicht im Volksmunde, dann auch im offiziellen Sprachgebrauch.
Indem die Zahl der Comites sich so immer ver- 20 mehrte, wurde sie bald für das Konsistorium zu groß. Denn ein Kronrat, der nur aus Vertrauten des Kaisers bestehn soll, darf nicht ins Ungemessene an- wachsen; dies hätte es unmöglich gemacht, daß die Meinung jedes seiner Mitglieder zur Geltung kam. -s. und zugleich die Geheimhaltung seiner Beschlüsse, auf die man im Sinne jener feierlichen Absonderung des Kaisers von seinem Volke großen Wert legte, ernstlich in Frage gestellt. So schied denn zuerst die Mehrzalil der militärischen Comites aus dem Konsistorium aus; :!0 diese plumpen Recken konnten in Rechts- und Vcr- waltungsfragen, wie sie den Hauptinhalt seiner Bo- ratungen bildeten, doch nicht mitsprechen -. und wurde es aiisnahmswciso zum Kriegsrat. so liinderte nichts,
2. Hof und Provinzen. 81
sie als außerordentliche Beisitzer zu laden. Und nach- dem die Comitiva so vieldeutig geworden war und sich zugleich vom Konsistorium gelöst hatt-e, begann der gutmütige Constantin, der jedem seiner Untertanen
.-> gern eine wohlfeile Freude bereitete, sie bald als reine Titularwürde an Menschen aller Art zu verteilen. Mit jedem Amte, das nicht gar zu untergeordnet war, konnte sich der Comestitel verbinden, und viele erhielten
7^ ihn auch ganz ohne Amt. Seit dem Ende von Con-
10 stantins Eegierung spielt er im Eömerreiche unge- fähr dieselbe EoUe, wie der Geheimratstitel in Preußen : er kann alles mögliche oder auch gar nichts bedeuten, wird an Hinz und Kunz verliehen und bezeichnet doch zugleich die vornehmsten Berater der Krone.
15 Schon früh griff die Comitiva auch in die Provinzial-
verwaltung ein. Diocletian hatte die Statthalter unter scharfe Aufsicht gestellt; doch ist es eine alte Erfah- rung, daß bei einem gründlich korrumpierten Beamten- tum derartige Maßregeln nur nützen, solange sie neu
20 sind. Hat man sich erst in sie eingelebt, so sind auch bald die Schleichwege gefunden, um sich ihren Wir- kungen zu entziehen. Schon unter Constantin war dies eingetreten, und da man jetzt eine viel größere Zahl von gierigen Mäulern zu füllen hatte, war die
25 Bedrückung der Untertanen schlimmer, als je vor- her. Dem suchte der Kaiser durch außerordent- liche Kevisionen abzuhelfen, wozu seine Comites die gegebenen Werkzeuge waren. Je einer, mitunter auch zwei, damit sie sich gegenseitig beobachten könnten,
30 wurden schon seit dem Jahre 316 in die einzelnen Diözesen geschickt, namentlich in diejenigen, welche Constantin noch nicht persönlich besucht hatte, um deren Verhältnisse kennen zu lernen und ihm darüber Bericht zu erstatten. Sie sollten die Tätigkeit der Statt- S II 6
82 ni. Die Verwaltung des Reiches.
halter und ihrer Subalternen prüfen, Klagen gegen sie, konkurrierend mit den Praefecten, annehmen und aburteilen, und darauf achten, ob das Volk ihnen in öffentlichen Zurufen Beifall oder Mißbilligung aus- drücke. Um gleich an Ort und Stelle anfechtbare 5 Richtersprüche reformieren zu können, erhielten auch diese Comites Appellationsgerichtsbarkeit, kurz ihre Macht wurde der Praefectur sehr angeglichen, nur mit dem Unterschiede, daß sie keine dauernde war; aber 80 gerade darauf beruhte ihre Wirksamkeit. Sie waren 10 eben nicht die regelmäßigen Eichter, mit denen aus- zukommen man sich seit Jahren gewöhnt hatte, son- dern kamen mit außerordentlichen Vollmachten direkt vom Hofe, wodurch ein Abglanz des kaiserlichen Nimbus auch sie zu umstrahlen schien. Dies war der is Grund, warum Constantin sich auch bei Schlichtung kirchlicher Streitigkeiten gern durch solche Comites vertreten ließ. Seit der Kaiser so unzweideutig für ihre Lehre Partei ergriffen hatte, war den Bischöfen mächtig der Kamm geschwollen; einem gewöhnlichen 20 Eichter unterwarfen sie sich nicht leicht, und hätte der Kaiser immer persönlich in ihre Händel ein- gegriffen, so wäre auch der verbissene Haß der unter- legenen Sekten auf die Person des Herrschers gefallen. Seitdem die Versöhnung, die er auf den Konzil von 25 Nicaea zu stiften gemeint hatte, sehr bald darauf in die Brüche gegangen war, pflegte er daher die Leitung wichtiger Synoden meist jenen außerordentlichen Sendungen zu übertragen, und dies war die Ursache, warum der Comes Orientis, von dem wir ausgegangen 30 sind, zum ständigen Beamten wurde.
In den übrigen Diözesen erschienen die Comites, um schnell wieder zu verschwinden, und wie die Statt- halter mit den Praefecten und ihren Vicaren fertig
2. Hof und Provinzen. 83
wurden, so wußten sie sich bald auch mit jenen Eevi- denten abzufinden, als der erste Schreck ihrer Neu- heit überwunden war. Da so diese Sendungen wirkungs- los geworden waren, haben die Söhne Constantins
5 darauf verzichtet. Nur im Oriens, wo der Arianische Streit nicht zur Euha kommen w^ollte und immer neue Konzilien nötig machte, konnte der Herrscher
81 einen Vertreter, der an Autorität sich über die ordent- lichen Beamten erhob, nicht entbehren. So wurde hier
10 die Comitiva aus einem sehr häufig erneuerten Amte zu einem dauernden. Anfangs hatte daneben noch ein Vicariat bestanden, aber da die Befugnisse der beiden Ämter ungefähr zusammenfielen, wurde das geringere durch das vornehmere bald jeder Wirksamkeit beraubt
15 und zum Schlüsse aufgehoben.
Doch ob der Vorgesetzte des Statthalters Vicar, Praefectus Augustalis oder Comes Orientis hieß, die Aufsicht blieb immer dieselbe, gleich gut für den Kaiser, der von jeder gefährlichen Regung sehr bald
20 Kunde erhielt, gleich schlecht für die Untertanen, zu deren Auspressung sich hoch und niedrig ver- banden. Auch die außerordentlichen Sendlinge ver- schwanden nicht, nur daß man sie nach der Zeit Constantins nicht mehr aus den vornehmen Comites,
25 sondern aus etwas niedrigeren Schichten des Beamten- "'tums wählte. Bald erschien ein kaiserlicher Geheim- schreiber (notariiis) in der Provinz, um dort nach dem Rechten zu sehen und später beim Hofe Bericht zu erstatten, bald kam ein Palatinus, d. h. ein Unter-
30 beamter des Com es sacrarum largitionum oder des Comes rerum privatarum, um die Eintreibung der Rückstände an Steuern oder Pachten zu. beschleunigen und gleichzeitig zu erspähen, was es zu erspähen gab. Man hatte eben an höchster Stelle begriffen, daß die
84 III. Dio Verwaltung des Reiches.
Beaufsichtigung von unten her meist noch wirksamer ist, als die von oben, eine Wahrheit, die übrigens auch Diocletian und seinen Vorgängern nicht ver- borgen geblieben war.
Schon Augustus hatte in den kaiserlichen Pro- 5 vinzen, die Senator ischen Legaten anvertraut waren, diesen die Erhebung der Steuern und Gefälle entzogen und ritterliche Prokuratoren dafür eingesetzt. An 82 Eang standen sie niedriger als die Statthalter, waren ihnen aber doch nicht untergeben, sondern hingen lo direkt vom Kaiser ab. An ihn berichteten sie denn auch fleißig, namentlich über dasjenige, was der Legat selbst verschwieg. Diocletian hatte die Beitreibung der neueingeführten Naturalsteuern zwar den Statt- haltern übertragen, aber für die älteren Gefälle und 13 die Pachten der Domäne blieben die ritterlichen Finanz- beamten nicht nur bestehen, sondern wurden noch ver- mehrt. Was aber viel wichtiger war, die militärischen Obliegenheiten wurden jetzt allen Statthaltern ge- nommen und besondere Ämter dafür geschaffen. 20
Wir haben schon oben dargelegt, wie Senatoren und Eitter sich für das Feldherrnamt, das früher mit der Statthalterschaft untrennbar verbunden war, in immer höherem Grade unbrauchbar erwiesen. Doch andererseits besaßen die Militares, die damals fast 25 alle Barbaren oder Halbbarbaren waren, meist eine zu geringe Bildung, um der richterlichen Tätigkeit in der Provinz gewachsen zu sein. Da man also kaum mehr Persönlichkeiten besaß, welche die Pflichten der früheren Legaten in ihrem vollen Umfange zu erfüllen so vermochten, lag es nahe, sie unter verschiedene Beamte zu verteilen. Schon im Laufe des dritten Jahrhunderts hatte man bei dringender Kriegsgefahr mitunter besondere Feldherrn (dnces) ernannt, die aus
2. Hof und Provinzen. 85
den Militares hervorgegangen waren und unabhängig neben den Legaten standen. Dies war aber jedesmal eine außerordentliche Maßregel gewesen; erst Dio- cletian führte sie mit derselben strengen Systematik
5 durch, wie jene Verkleinerung der Provinzen. Wo es ein stehendes Grenzheer gab, da wurde neben den Statt- halter ein Dux gestellt, der seit der Zeit Constantins
83 nicht selten den Titel Comes rei müitaris erhielt, ohne daß dadurch an seinen Pflichten irgend etwas geändert
10 wurde. Mit der Zivilverwaltung hatte er nichts zu schajffen; er blieb daher auch für die Verpflegung seines Heeres, die mit den Naturalsteuern der Provinz bestritten wurde, auf die Mitwirkung des Statthalters angewiesen, während dieser zum Schutze seines Ge-
lö bietes gegen äußere und innere Feinde sich an den Dux wenden mußte. Auf diese Weise war jeder der beiden führenden Beamten von dem andern abhängig: sie konnten sich aufs empfindlichste hemmen und stören und fanden immer wieder Gelegenheit, sich
20 über einander beim Kaiser zu beklagen.
So meinte Diocletian den Gefahren am sichersten zu begegnen, die von dem Ehrgeiz angesehener Feld- herren der Krone drohten. Nur an der höchsten Stelle blieb einstweilen noch die Militärgewalt mit
2ö der zivilen vereint. Der Praefect war Krieger, Ver- waltungsbeamter imd Eichter zugleich; aber er befand sich fast immer bei Hofe und konnte so, unter die unmittelbarste Aufsicht des Kaisers gestellt, nicht leicht gefährlich werden. Erst unter Constantin wurde
30 dies anders. Da er seine Caesaren schon im Kindes- alter mit der Verwaltung ferner Reichsteile betraute, hätten den Praefecten, die ihnen zur Seite standen, leicht Usurpationsgelüste kommen können. So wurde denn der Grundsatz, die Gewalten zu teilen, wie er in
86 III. Die Verwaltung des Reiches.
den einzelnen Provinzen schon durchgeführt war, auch auf die Zentralstellen ausgedehnt. Bei jedem Kaiser, ob er Augustus oder Caesar war, verlor die Praefectur ihre militärische Macht, und der Oberbefehl über das Marschheer wurde zwei Comites übergeben, von denen 5 der eine die Eeiterei, der andere das Fußvolk be- fehligen sollte. Den ersteren nannte Constantin comes et magister equitum, wohl nach dem Vorbilde jenes 84 magister equitum, der in den glorreichen Zeiten der Kepublik dem Diktator zur Seite gestanden hatte; für lo den anderen wurde nach Analogie dieses Titels der neue comes et magister peditiim geschaffen. Wie der Dux von dem Statthalter seiner Provinz, so blieben auch die Magistri Militum, wie man beide zusammen- fassend nannte, von dem Praefecten abhängig, weil 15 dieser nach wie vor die Verpflegung der Armee in seiner Hand behielt. Und da weder Eeiter allein noch Fußtruppen allein ein operationsfähiges Heer bilden, so war jeder der beiden Feldherrn auf die Unter- stützung seines Kollegen angewiesen und konnte folg- 20 lieh nicht gar zu gefährlich werden.
Wie damals noch die Praefectur, so war auch das neue Magisterium zunächst an die Person des Kaisers gefesselt. Daß er seine Kriege persönlich führen müsse, selbst wenn er, wie Constantins Caesaren, 2.-. Knabe war, blieb einstweilen noch oberster Grundsatz der Politik; nur sollten ihm seine beiden Feldherrn dabei zur Hand gehen. Auf diese Weise heftete sich der Sieg an seinen Namen, und wenn das eigentliche Verdienst daran auch ihnen zukam, so durfte hiervon :w doch nicht geredet werden, und außer wenigen Ein- geweihten erfuhr es keiner. Aber dies ließ sich nur aufrecht erhalten, solange die Zahl der Kaiser so groß war, daß an jeder bedrohten Grenze einer von
2. Hof und Provinzen. 87
ihnen zur Abwehr bereitstehn konnte. Nachdem sie im Jahre 340 wieder auf zwei herabgesunken war, sah man sich gezwungen, den Magistri Mihtum auch selbständige Kommandos zu übertragen, und bei diesen ö mußte natürHch die Sonderung des Fußvolks von der Reiterei aufgegeben werden. Nur in der Titulatur blieb sie teilweise bestehen; doch wie man heutzutage
85 Generale der Kavallerie und der Infanterie zwar dem Namen nach unterscheidet, aber die Heerteile, die
10 jeder von ihnen führt, regelmäßig aus allen Waffen- gattungen zusammengesetzt sind, so war es auch meist bei den Magistri Equitum und Peditum. Zeitweilig gab man jene Scheidung auch im Titel auf und nannte jeden einzelnen rnagister equitum et peditum oder
15 Magister utriusque militiae oder auch kurzweg rnagister militum. Gerade dieses Amt hat später in seiner Or- ganisation die meisten Schwankungen durchgemacht. Denn einerseits war es das gefährlichste und forderte daher immer wieder Maßregeln heraus, um seine
20 Übermacht einzudämmen; andererseits besaßen seine Inhaber oft den beherrschenden Einfluß über den Kaiser und wußten demgemäß auch ihre Befugnisse zu erweitern. Als einen normalen Zustand kann man aber etwa seit der Mitte des vierten Jahrhunderts den
25 folgenden betrachten. Jede Diözese, die von Feinden bedroht ist, besitzt ihren Reichsfeldherrn, der inner- halb ihrer Grenzen das Marschheer unmittelbar be- fehligt und auch das Grenzheer insofern unter sich hat, als die Duces seinen Geboten zu folgen haben. Ob
30 er den Titel rnagister utriusque militiae führt oder den beschränkteren rnagister equitum oder rnagister peditum, ist gleichgültig, da immer beide Truppen- gattungen unter seiner Führung vereinigt sind. Wie die Praefectur, hat sich also auch das Feldherrnamt
88 ni. Die Verwaltung des Reiches.
von der Person des Herrschers gelöst, um einen örtlich umgrenzten Kompetenzkreis zu erhalten. Aber dies ist nur teilweise geschehn; denn je zwei Magister sind auch ferner am Hoflager jedes Kaisers, und hier,* wo dieser selbst der oberste Feldherr ist und jene in die 5 Stellung von Gehilfen zurücksinken, bleibt denn auch die Sonderung von Fußvolk und Eeiterei bestehen. Doch an die Stelle des magister equitum praesentalis 86 und des magister peditum praesentalis treten mitunter auch zwei magistri utriusque militiae praesentales, lo welche beide Waffengattungen so unter sich teilen, daß jeder etwa die Hälfte des kaiserlichen Marschheeres kommandiert. Die Zweizahl aber bleibt auch bei diesen meist erhalten, damit der Herrscher gegen Usurpations- gelüste des einen immer bei dem andern Schutz finden ir, könne. Erst im fünften Jahrhundert, als der Kaiser schon zur hilflosen Puppe in den Händen seiner Eeichsfeldherrn geworden ist, findet dies darin seinen Ausdruck, daß ihre Stellung auch bei Hofe zur ein- heitlichen wird. 20
In den Urzeiten Roms war jeder Bürger zugleich auch Krieger gewesen und jeder Beamte Offizier. Seit Marius hatte sich ein Soldatenstand gebildet, der die Verteidigung des Reiches allein auf sich nahm und die Masse des Volkes ihren friedlichen Beschäf- 25 tigungen überließ; aber an den leitenden Stellen hatte sich doch die Vereinigung von kriegerischer und bürgerlicher Tätigkeit noch erhalten. Doch schon seit dem Anfang der Kaiserzeit begann sie sich zu lockern, und mit Constantin dem Großen war sie ganz so verschwunden. Wie schon früher der Soldat vom Bürger, so war jetzt auch der Offizier vom Beamten durch eine tiefe Kluft geschieden. Noch unter Dio- cletian hatte sich derselbe Mann abwechselnd in rein
2. Hof und Provinzen. 89
zivilen und in ganz oder halb militärischen Stellungen erproben können; seit auch die Praefectur ihrer kriegerischen Bedeutung entkleidet war, sonderten sich die beiden Gruppen wie Öl und Wasser. Es
h gab jetzt im öffentlichen Dienste zwei Laufbahnen, die beide zu den höchsten Würden emporführen konnten, aber sich an keinem Punkte berührten und
87 nur ausnahmsweise den Übergang aus der einen in die andere gestatteten. Eine ähnliche Scheidung be-
10 steht ja auch heute und ist in unserer Zeit unentbehr- lich, weil jede Art des Dienstes ihre besonderen tech- nischen Kenntnisse verlangt und ein Mann sich diese nicht leicht auf mehreren verschiedenen Gebieten aneignen kann. Damals aber fiel dieser Grund weg;
15 denn für den Zivildienst beschränkten sich die An- forderungen auf Lesen und Schreiben, und für den militärischen war auch dies kaum nötig; seit die geordneten Exerzitien wegfielen, erwartete man vom Offizier nur Tapferkeit und Umsicht, aber keine Art
20 des technischen Wissens. Gleichwohl war damals die Trennung vielleicht noch schärfer als heutzutage, weil sie in der Hauptsache mit einem nationalen Unterschiede zusammenfiel. Denn die zivilen Stellungen bekleidete der zahme Eömer, die militärischen der starke Barbar.
25 Offiziell -wurde dies freilich eher verhüllt, als zugestan- den, und wirklich befanden sich unter den Offizieren noch sehr viele, die sich römischer Abkunft rühmten. Aber wenn nicht sie selbst, so waren doch ihre Väter aus der Hefe des Landvolkes hervorgegangen, und dieses
30 bestand zum großen Teil aus angesiedelten Incjuilinen oder deren Nachkommen. Und im Laufe der Zeit prägte sich der barbarische Charakter des Offizierkorps immer deutlicher aus, und auch das scheinbare Kömer- tum verschwand mehr und mehr aus seiner Mitte.
90 III. Die Verwaltung des Reiches.
Bei uns gilt Amtsentsetzung immer als Strafe oder mindestens als Ausdruck allerhöchster Ungnade. In Kom dagegen hatte sich der Begriff des Amtes noch in der Kepublik gebildet, wo fast alle Magistrate mit dem Ahlauf des Jahres wechselten, und wenn .-, auch unter den Kaisern die Fristen meist verlängert wurden, behauptete sich doch die alte Anschauung, daß jede amtliche Tätigkeit ihrem Wesen nach vor- 88 übergehend sei. Man betrachtete es fast als Forderung der Gerechtigkeit, daß jedes Mitglied der herrschenden lo Stä2ide auch tätigen Anteil an der Eegierung erhalte, und dies war nur durch schnellen Wechsel möglich. Dagegen war die große Mehrzahl der Offizier stellen nicht in den Händen eines Geburtsadels, der historische Ansprüche daran erhob, sondern man besetzte sie mit i5 altgedienten Leuten wegen ihrer erprobten Tüchtig- keit. So war es denn hier Regel, daß man ohne jede Unterbrechung vom Protector zum Tribunen, dann zum Dux und Comes rei militaris und endlich zum Magister Militum aufrückte. Aus der zivilen Ämter- m lauf bahn hatte man freilich auch in die militärische die Übung herübergenommen, daß Offiziere der höhe- ren und höchsten Rangstufen entlassen werden konnten, ohne darin eine persönliche Kränkung zu erblicken. Im allgemeinen aber galt der Grundsatz, 25 daß der honor, d. h. das Zivilamt, in seiner Dauer be- schränkt, die militia unbeschränkt sei.
Diocletian hatte den Hof zu einem wandernden Kriegslager gemacht; es lag daher sehr nahe, auch die Hofdienerschaft militärisch zu organisieren. Daß ao ihre Tätigkeit nicht, wie bei den Beamten, eine vor- übergehende war, hatte sie schon früher der Militia angenähert; doch hatte sie nicht aus freien Kriegern des Reiches bestanden, sondern sie war persönliches
2. Hof und Provinzen. 9X
Eigentum des Kaisers, und eben darauf beruhte die Lebenslänglicbkeit ihrer Stellung. Denn wie jeder vor- nehme Mann die Geschäfte seines Hauses durch Sklaven und Freigelassene besorgen ließ, so hatte es
5 auch der Herrscher getan, ohne Eücksicht darauf, daß diese Geschäfte auch für das Eeich von Bedeutung sein konnten. Und wirklich machte es keinen großen
89 Unterschied, ob ein Kassenführer die Millionen des kaiserlichen Schatzes in seinem Verschluß hatte oder
10 das Vermögen des Plinius oder Herodes Atticus, das gleichfalls nach vielen Millionen zählte; ob ein Tür- steher von der Schwelle des Hofes oder von ihren Palästen die Bittsteller abwehrte, die sich hier in kaum geringerer Menge drängten. So hatten zwar von der
15 Dienerschaft des Kaisers viele Einfluß besessen und waren demgemäß von eigennützigen Schmeichlern um- drängt gewesen; aber dies hatten sie mit den Sklaven anderer großer Herren gemein, und von der Schmach der Knechtschaft befreite es sie nicht.
20 Diocletian wollte auch in dieser Beziehung zwischen dem Kaiser und allen Untertanen, wie reich und mäch- tig sie sein mochten, eine unübersteigliche Schranke errichten. Und da nach dem neuen persischen Staats- recht alle Bewohner des Eeiches seine Knechte waren,
i5 so konnte die Pflicht, der Person des menschgewordenen Gottes zu dienen, nur als Vorzug, nicht als Makel erscheinen. Zwar wurden noch immer manche, die zum Hofe gehörten, auf dem Sklavenmarkte gekauft; namentlich galt dies von den zahlreichen Eunuchen,
30 die nach dem Vorbilde orientalischer Harems zunächst die Damen des Kaiserhauses, dann aber auch den Herrscher selbst bedienten. Trotzdem stellte man den Grundsatz auf, daß jeder, der um die geheiligte Person beschäftigt sei, schon dadurch zum freien Mann werde,
92 ni. Die Verwaltung des Reiches.
und charakterisierte die Tätigkeit aller niederen Hof- chargen von den Kassenführern und Schreibern bis herab zu den Köchen und Kammerdienern als Kriegs- dienst (militm). Demgemäß wird die Hofdienerschaft einmal die ,, Helferlegion" des Kaisers genannt, und 5 ihr Vorsteher, der Magister Officiorum, führte unter Diocletian den rein militärischen Titel Tribunus 90 imd ging wahrscheinlich auch aus den Kriegsleuten hervor. Erst Constantin hat ihn zum Zivilbeamten gemacht und den Titel tribumis et magist er off,- m clor um durch com es et magist er officiorum ersetzt. Seitdem wird dieses wichtige und einflußreiche Amt nicht mehr mit Militares besetzt; doch bleibt ihm als Eest seines kriegerischen Ursprungs der Oberbefehl über die Leibwächtertruppen {scholae palatinae), aber ir. nur weil diese gleichfalls dem Hofgesinde zugerech- net wurden.
Denn im allgemeinen wurde bald auch innerhalb der Hofdienerschaft die Scheidung der zivilen und der militärischen Laufbahn durchgeführt, und dies konnte 20 auch gar nicht anders sein, weil jede einer ganz anderen Menschenart zugänglich war. Der wilde Bar- bar, den man zum Leibwächter dang, konnte eben- sowenig schreiben und rechnen, wie die Pflichten eines Friseurs oder Kammerdieners erfüllen, und wer 25 in der Kanzlei oder im „hochheiligen Schlafgemach" zu brauchen war, hatte vor dem rauhen Waffenwerk eine heilige Scheu. Trotzdem bleibt der Name Militia auch für den zivilen Dienst bestehen und mit ihm die Art des Avancements, das dem militärischen genau so nachgebildet ist. Jede Gruppe der Hofdienerschaft bildet ein geschlossenes Korps, dessen Mitglieder, wie die Rekruten einer Legion oder Ala, bei ihrem Ein- tritt an letzter Stelle in die Dienstliste {matriciila)
2. Hof und Provinzen. 93
eingetragen werden. Mit dem Ausscheiden ihrer Vordermänner rücken sie dann langsam auf; doch kann ihr Emporsteigen durch Protektion oder Ver- dienst beschleunigt werden. Den Abschluß dieser
5 Laufbahn bildet die Stellung des primicerius, d. h. des Ersten auf der Wachstafel (cera), auf welcher die Liste geschrieben ist. Und wie der primicerius
91 protectorum, wenn er noch nicht zu alt geworden ist, meist zum Offizier ernannt wird, so kann man nach
10 dem Durchlaufen einer zivilen Militia zur Statthalter- schaft oder irgendeinem anderen zivilen Einzelamt befördert werden, oder wenn jene Militia eine der niedrigeren war, tritt man in eine vornehmere über. Die Angehörigen jener Korps waren ihren regel-
1) mäßigeii Amtspflichten nach Lakaien oder höchstens Schreiber; aber der Glanz, der von der Person des Herrschers ausstrahlte, umgab auch sie mit seinem Widerschein und ließ sie den gemeinen Untertanen gegenüber wie Wesen höherer Art erscheinen. Und
20 das Vertrauen des Kaisers, das sie im unmittelbaren Verkehr mit ihm oft gewannen, verschaffte ihnen nicht nur geheimen Einfluß, sondern machte sie auch in öffentlichen Geschäften zu Trägern seiner Befehle. So waren die Notare, wie ihr Name besagt, an sich nichts
25 weiter als Stenographen, die über die Beratungen des Konsistoriums Protokoll zu führen hatten. Der Comes, der um seine Meinung gefragt wurde und durch seine Abstimmung die Beschlüsse des Herrschers mit beeinflussen konnte, stand also ursprünglich viel höher.
30 Aber er bekleidete sein hohes Amt immer nur kurze Zeit, während der Notar die langen Jahre hindurch, in denen er alle Stellen seiner Militia von der untersten bis zur obersten durchlief, immer wieder den Sitzungen beiwohnte. Er kannte also den Geschäftsgang und
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III. Di« Verwaltung de« Eei«ihefi.
die Pi'äzßdenzfäUe rlel genauer UDd konnte änhai durch eine fiiiehtige Bemerkung, mit dar er im alleT Bescheidenheit die Bej-atungen unterhrach, oft größere Wij'kujig erzielen, als der Comes mit einer glänzenden, aber wenig sachkundigen Kede. So steigen denn die :. Notare nicht nur an tatKächlicher M.acht, sondern auch in ihrer offiziell anei-kannten Würde immer }).öher, und endlich steht ihr Primioerins den ge- Um wohnlichen Ccxmites consistonani im Bange gleikäa. Außerdem aher heiraiat «je dei- Kaiser mit Aufti'ägen in der mannigfachsten Art, mögen diese am Hoi'e oder in den Prorinzen aiiszuführen sein; in dieser Beziehung iTfiten jene Subalternen hald mach Constantins Tode gänzlich in die Stelle ein, die er mit seinen Troj-nehmen Oomites ausgefüllt hatte. Natüi'lich höi'en sie dann n auch auf, als Subalterne betj'achtet zu werden, und Jünglinge des höchsten Adels drängen sich rum Dienst in dem Korjw der Notai'e,
In ähnlicher Weise entwidkelten föch auc^a die übrigen Hof dienste. Ton den kaiseiiichen Tüj'siehem jsi» wurden im Laufe der Zeit die ältesten den Ticaren an Hang gleicligesteXIt, -von den Kammerdienem gar den Pj^okonsiala. Die Würde des Seniitors mat alen Kechten, die sieh daran knüpften, erhielten sie fast alle, wenn sie mit Ehren aus ihrem Koips aus- ni. geschieden waren, wie denn überhaupt ihre PriTilegiem und Immunitäten sich von Jahr ru Jahr steigeiien. Doch dies genauer darzulegen oder gar aUe Jenie Körperschaften aufzuzählen, ist hier nicht der Platz. TCur bei den Agenten in Rebus müssen wir ©t-was Ter- du weilen, weil sie für die Vej"wa]tung des Beidhes eine ganz besondere Wichtigkeit erlangten.
In erster Linie waren sie Botenrater^ die eilige Depesclien vom Hof in die Prorinz und Ton dort ab
2. Hof and Provinzt-ii
den Hof zu befördern hatten. Für diesten Zweck benutzten sie die Pfe^rde der kaiserlichen Pest, die an jeder Station ziun "Wechsln für sie bereitstehn mußten. Hieran anschheßend wählte man aus ihrer Mitte die rurioni cunfus puhlici, denen in den einzelnen Provinzen die Verwaltung des Postwesens überti-agen war. Schon dies war eine Tätigkeit von großer Be-
tl deutung; noch tiefer aber giiff eine andere Pflicht, die sie auf ihren Reisen nebenher erfüllen mußten,
w in alle öfFentlichen und privaten Verhältnisse ein. Ind?m sie alle Teile des Beiches zu Rosse durchzogen, traten sie überall in die unmittelbarste Berührung mit dem Volke und sahen und hörten mehr von dem, was außerhalb des Hofes vorging, als irgend ein anderer
15 Bediensteter des Kaisers. Über diese Eindrücke sollten sie Bericht erstatten, namentlich jedes Unrecht, das sie wahrnahmen, an höchster Stelle denun2deT<en, kurz sie wurden die allgegenwärtigen Spione des Hofes, die jeder haßte und vor denen doch jeder kroch. Und
20 neben dieser gelegentlichen Beaufsichtigung stand dann noch eine fäst geregelte, die je ein Agens in Rebus über jeden Vicar und jeden Statthalter zu üben hatte. Sie knüpft an die sogenannten Officia an, eine Einrichtung, die von Diocletian geschaffen ist und
-• der ganzen Provinzial Verwaltung dieser Spätzeit ihren Charakter gab.
Ofticia hießen auch jene Scharen von Subalternen, die sich um die Person des Kais>ers gesammelt hatten, wie schon der Titel ihres Oberhauptes, des Magister
•'"■' Officiorum, zeigt. Daß ihr langjähriger Dienst ihnen eine größere Sachkunde gewährte, als die sehne;!! wechsehiden Einzelbeamten erwerben konnten, haben wir schon gesehen. Es schien daher nützlich, auch den Provinzialbeamten solche stehenden Korps von
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94 ni. Die Verwaltung des Reiches.
die Präzedenzfälle viel genauer und konnte daher durch eine flüchtige Bemerkung, mit der er in aller Bescheidenheit die Beratungen unterbrach, oft größere Wirkung erzielen, als der Comes mit einer glänzenden, aber wenig sachkundigen Eede. So steigen denn die .-s Notare nicht nur an tatsächlicher Macht, sondern aucli in ihrer offiziell anerkannten Würde immer höher, und endlich steht ihr Primicerius den ge- 92 wohnlichen Comites consistoriani im Eange gleich. Außerdem aber betraut sie der Kaiser mit Aufträgen lo der mannigfachsten Art, mögen diese am Hofe oder in den Provinzen auszuführen sein; in dieser Beziehung treten jene Subalternen bald nach Constantins Tode gänzlich in die Stelle ein, die er mit seinen vornehmen Comites ausgefüllt hatte. Natürlich hören sie dann i5 auch auf, als Subalterne betrachtet zu werden, und Jünglinge des höchsten Adels drängen sich zum Dienst in dem Korps der Notare.
In ähnlicher Weise entwickelten sich auch die übrigen Hofdienste. Von den kaiserlichen Türstehern 20 wurden im Laufe der Zeit die ältesten den Vicaren an Eang gleichgestellt, von den Kammerdienern gar den Prokonsuln. Die Würde des Senators mit allen Rechten, die sich daran knüpften, erhielten sie fast alle, wenn sie mit Ehren aus ihrem Korps aus- 25 geschieden waren, wie denn überhaupt ihre Privilegien und Immunitäten sich von Jahr zu Jahr steigerten. Doch dies genauer darzulegen oder gar alle jene Körperschaften aufzuzählen, ist hier nicht der Platz. Nur bei den Agentes in Rebus müssen wir etwas ver- so weilen, weil sie für die Verwaltung des Reiches eine ganz besondere Wichtigkeit erlangten.
In erster Linie waren sie Botenreiter, die eilige Depeschen vom Hof in die Provinz und von dort an
2. Hof und Provinzen. 95
den Hof zu befördern hatten. Für diesen Zweck benutzten sie die Pferde der kaiserlichen Post, die an jeder Station zum Wechs3ln für sie bereitstehn mußten. Hieran anschliei3end wählte man aus ihrer 5 Mitte die curiosi ciirsus puhlici, denen in den einzelnen Provinzen die Verwaltung des Postwesens übertragen war. Schon dies war eine Tätigkeit von großer Be-
^ deutung; noch tiefer aber griff eine andere Pflicht, die sie auf ihren Reisen nebenher erfüllen mußten,
w in alle öffentlichen und privaten Verhältnisse ein. Indem sie alle Teile des Eeiches zu Eosse durchzogen, traten sie überall in die unmittelbarste Berührung mit dem Volke und sahen und hörten mehr von dem, was außerhalb des Hofes vorging, als irgend ein anderer
15 Bediensteter des Kaisers. Über diese Eindrücke sollten sie Bericht erstatten, namentlich jedes Unrecht, das sie wahrnahmen, an höchster Stelle denunzieren, kurz sie wurden die allgegenwärtigen Spione des Hofes, die jeder haßte und vor denen doch jeder kroch. Und
20 neben dieser gelegentlichen Beaufsichtigung stand dann noch eine fest geregelte, die je ein Agens in Eebus über jeden Vicar und jeden Statthalter zu üben hatte. Sie knüpft an die sogenannten Officia an, eine Einrichtung, die von Diocletian geschaffen ist und
25 der ganzen Provinzialverwaltung dieser Spätzeit ihren Charakter gab.
Officia hießen auch jene Scharen von Subalternen, die sich um die Person des Kaisers gesammelt hatten, wie schon der Titel ihres Oberhauptes, des Magister
30 Officiorum, zeigt. Daß ihr langjähriger Dienst ihnen eine größere Sachkunde gewährte, als die schnell wechselnden Einzelbeamten erwerben konnten, haben wir schon gesehen. Es schien daher nützlich, auch den Provinzialbeamten solche stehenden Korps von
96 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Subalternen beizugeben, die durch dauernden Auf- enthalt in der Provinz mit deren Verhältnissen ver- traut waren und durch ihre Geschäftskenntnis die Un- erfahrenheit ihres Statthalters unschädlich machen konnten. Ganz so schlimm war diese freilich nicht 5 mehr, wie in den Zeiten der Republik. Damals blieb der Provinzialpraetor ein Jahr im Amte, wie seine städtischen Kollegen. Er kam also in ein fremdes 94 Land, von dessen Zuständen er kaum etwas wußte, ja dessen Sprache er oft nicht einmal kannte, und mußte lo es wieder verlassen, wenn er eben erst die notwendig- sten Erfahrungen gesammelt hatte, um einem anderen Neuling Platz zu machen. Den adeligen Herren war eben mehr daran gelegen, daß jeder von ihnen seinen vollen Anteil am Regiment erhielt, als daß die Pro- i5 vinzen gut verwaltet wurden. Gleichwohl waren die Gefahren dieses Sj^stems bald so augenscheinlich ge- worden, daß man die Statthalterschaften nicht selten auf zwei Jahre, mitunter auch auf drei verlängert hatte, und das Kaisertum schritt auf dieser Bahn 2^ weiter. Der kluge Tiberius ließ Legaten, die sich bewährten, sogar lebenslänglich in ihrer Stellung, fand aber damit, wie sich begreifen läßt, bei der römischen Aristokratie wenig Beifall. Und auch für den Kaiser selbst war es nicht ohne Gefahr, wenn •i'> der Statthalter mit seiner Provinz vmd ihrem Heere so verwuchs, daß er jeden Unteroffizier persönlich kannte und der Anhänglichkeit der Soldaten völlig sicher war. So war man denn dazu gelangt, im all- gemeinen drei bis fünf Jahre als die angemessenste so Dauer der Statthalterschaft zu betrachten, obgleich die Praxis unter den einzelnen Regierungen noch viel- fach wechselte.
Drei Jahre waren keine lange Zeit, um sich in
2. Hof und Pro-v-inzen. 97
Verhältnisse einzuleben, die in jeder Provinz ganz ver- schieden und übarall höchst verwickelt waren. Und dabei fand der Statthalt-er bei seinen Subalternen so gut wie gar keine Unterstützung. Denn einen Teil •) brachte er selber mit; diese kannten also die Provinz ebensowenig wie ihr Oberhaupt. Ein anderer Teil wurde ihm aus den Principales der Truppen, die ent-
ii.j weder in seinem Gebiet oder in den benachbarten standen, zur Verfügung gestellt, und diese Leute
10 waren zwar mit den örtlichen Zuständen leidlich ver- traut, aber keine eingearbeiteten Beamten, Je mehr dann das barbarische Element sich im Heere aus- breitete, desto schwerer fiel es, unter den Soldaten noch Männer von solcher Bildung zu finden, daß sie
15 für den Dienst von Schreibern und Eechnungsführern brauchbar waren. So wurde es unvermeidlich, den Statthaltern ein ziviles Hilfspersonal beizugeben, das nach dem Muster der kaiserlichen Officien als Militia organisiert war. Wie früher im Heere, so stieg man
-.20 jetzt im Zivildienst vom Principalis zum Centurio auf und endete seine Laufbahn als Primipilus; doch diese militärischen Xamen hatten ihre Bedeutung gänzlich verloren und bezeichneten nur noch gewisse Eang- stufen innerhalb des Gefolges der einzelnen Beamten.
2.5 Da jede dieser Korporationen an ihre Provinz ge- fesselt war und folglich in allen den Dingen genau Bescheid wußte, die ihre Vorgesetzten immer erst zu lernen hatten, so lag bald der Schwerpunkt der Ver- waltung in ihrer Tätigkeit. Und der Kaiser ließ sich
30 dies nicht Ungarn gefallen und fand für das System gegenseitiger Angeberei, das seit Diocletian überall zur Herrschaft gelangt war, in den Officia neue, höchst brauchbare Organe.
Natürlich war der Statthalter für die Sünden s II 7
08 ni. Die Verwaltung des Reiches.
seijier Untergebenen verantwortlich, aber auch diese für flic Sünden ihres Vorgesetzten. Durch langjährige Routine kannten sie die Gesetze meist viel l>esser als er und waren verpflichtet, ihn auf dieselben aufmerksam zu machen, wenn er sie zu übertreten drohte. Daraus r> erklärt sich eine ganz eigentümliche Erscheinung, die in den Gesetzen der Kaiser seit dem Anfang des vierten Jahrhunderts immer wieder hervortritt. Wird nämlich % ein Beamtenvergehen mit einer Geldstrafe belegt, so ti'itft regelmäßig auch das Officium des Schuldigen die m gleiche oder gar die doppelte Strafe. Die Mitglieder dessel]>en werden also durch ihre eigene Gefahr dazu angehalten, jeden Übergriff ihres Vorgesetzten zu ver- hindern; hierzu aber mußten sie irgendein Mittel besitzen, da sie sonst keine Verantwortung dafür hätte i:. treffen können. Und wirklich befand sich in den meisten Officien \\'enigstens ein Mann, der von der Gunst seines Statthalters ganz unabhängig war, weil er in den unmittelbarsten Beziehungen zum Hofe stand. An ihm konnte also jeder Officiale einen Rückhalt -jo finden und durch ihn an höchster Stelle Klage führen, wenn der Vorgesetzte seine Warnungen nicht beachten wollte.
In den Officia der Beamten rückte der einzelne Mann ganz so wie in den kaiserlichen nach der Reihen- ü:. folge der Dienstliste zu immer höheren Chargen auf. Aber meist war die oberste Stelle nicht durch einen Primicerius eingenommen, sondern die Agentes in Rebus krönten ihre Laufbahn dadurch, daß nach Bccndiouno' ihres Hof- und Postdienstes ie einer als :!<» Princeps an die Spitze eines provinzialen Officiums trat. Die Subalternen, durch die jeder Befehl des Statthalters zur Ausführung kam. erhielten so ihr Oberhaupt in einem erprobten Spion, natürlich zu dem
2. Hof und Provinzen. 99
Zwecke, daß er sein gewohntes Geschäft auch in der neuen Stellung fortsetze. Und seit Theodosius I. durfte kein Officiale anders als durch Vermittlung des Princeps mit irgendeiner Amtshandlung beauf- .5 tragt werden, so daß diesem Untergebenen gegenüber der Vorgesetzte gänzlich machtlos war.
Wir haben hier zunächst von den Statthaltern
91 gesprochen: aber fast jeder andere Beamte von einiger Bedeutung erhielt gleichfalls sein Officium,
10 wenn auch den allerhöchsten, namentlich den Prae- f ecti Praetorio, der Agens in Rebus darin erspart blieb. Aber obgleich ihr Princeps aus der Mitte der übrigen Subalternen hervorging, er und seine geringeren Kol- legen wußten doch alle, daß sie dazu da waren, nicht
15 nur die Befehle ihres Vorgesetzten zu erfüllen, sondern auch diesen selbst zu beobachten. Solange er in Gunst stand, werden sie es allerdings nicht eilig gehabt haben, sich mit Anklagen gegen ihn die Finger zu verbrennen. Dann bemühten sie sich ihrerseits um
20 seine Gunst und drückten zu allem, was er tat, beide Augen zu, damit er es ihren Sünden gegenüber ebenso mache. Aber für jeden Beamten, der gestürzt oder dem Sturze nahe war. \mrde sein Officium zu einer schweren Gefahr, und hatte es selbst kein reines Ge-
25 wissen, so suchte es nur um so eifriger, die eigene Schuld durch Angeberei zu sühnen.
Wie ein König hatte der Prokonsul der Republik in seiner Provinz gewaltet. Keinen hatte er über oder neben sich: solange sein Amt währte, mußte alles ihm
-30 gehorchen, und war es abgelaufen, so konnte man ihn zwar in der Hauptstadt verklagen; aber Eom war weit, ein Prozeß höchst kostspielig und der Ausgang mehr als zweifelhaft. Und gelang es wirklich, römische Richter zu bestimmen, daß sie einen Römer um der
100 III. Dio Verwaltung des Reiches.
verachteten Untertanen willen verurteilten, so deckte der Schadenersatz nie den Schaden, oft nicht einmal die Prozeßkosten, und immer hatte man zu ge- wärtigen, daß ein Bruder oder Vetter des Angeklagten später als Prokonsul in dieselbe Provinz kam und sie 5 für das Schicksal seines Verwandten büßen ließ. So entschlossen sich die Untertanen kaum zu einer Klage, wenn sie niclit ganz zur Verzweiflung getrieben waren ; 98 ein gemäßigtes Plündern durfte sich jeder Statthalter furchtlos erlauben, und selbst die ärgsten Diebe blieben lo nicht selten ungestraft. Wenn trotzdem die Provinzen oft wohlwollend und ehrlich regiert wurden, so lag dies nur an der anständigen Gesinnung, die in der Mehrheit der Senatoren lebendig war. Im Anfang der Kaiserzeit war das sittliche Niveau gesunken, aber 15 die Aufsicht verstärkt. Neben dem Legaten stand der Procurator; beide berichteten über einander nach Eom, und der Kaiser handhabte das Eecht schärfer als republikanische Volksversammlungen und Eichter- kollegien. Unter klugen und achtsamen Herrschern ao hatten es damals die Provinzen am besten gehabt. Wohl mehr aus persönlichem Mißtrauen als aus Für- sorge für seine Untertanen sah Diocletian sich ver- anlaßt, die Vorsichtsmaßregeln systematisch zu häufen. Von allen Seiten wurde jetzt der Statthalter belauert^ 25 von oben durch den Praef ecten und den Vicar, von der Seite durch den Dux und die Finanzbeamten, von unten durch sein Officium mit dem gewerbsmäßigen Spion an dessen Spitze. Schon wieder war ein Grund- satz der kaiserlichen Politik, den man seit Jahrhun- so derten, aber stets in besonnenen Schranken, angewandt hatte, mit echt diocletianischer Starrköpfigkeit in allen seinen Konsequenzen durchgeführt, und was waren die Folgen?
2. Hof und Provinzen. 101
An erster Stelle, daß jene ungeheure Vermehrung
des Bäamtenpersonals die Staatsausgaben furchtbar
steigerte. Wie verhängnisvoll dies für die Finanzen
des Eeiches wurde, werden wir noch in einem späteren
.5 Abschnitt ausführlich darzulegen haben.
Ferner war durch die Officia, die alles kannten und alles besorgten, die Tätigkeit des Einzelbeamten.
99 der ihr Vorgasetzter hieß, so gut wie überflüssig ge- worden. Wenn früher die Kaiser ihre größte Sorg-
10 falt auf die Auswahl der Männer verwenden mußten, denen sie wichtige Stellen anvertrauten, kam jetzt auf die Personen nicht viel mehr an. So werden denn seit dem vierten Jahrhundert oft halbe Kinder in große Statthalterschaften oder ansehnliche Hofämter
lö eingesetzt, bloß um ihren vornehmen Verwandten eine Freude zu machen. Schon Constans, der Sohn Constantins des (xroi3en, soll, um den erschöpften Finanzen etwas aufzuhelfen, die Provinzen gegen bares Geld vergeben haben, und wenn nicht der Kaiser
s^» selbst, so besorgten seine Günstlinge diesen Handel. Man meinte eben auf persönliche Tüchtigkeit des Statthalters verzichten zu können, weil er ja doch von seinem Officium geleitet werde und gegen dessen Willen nichts vermöge. Doch fährt ein Land wahrlich
S5 nicht besser dabei, wenn die Eoutine von einigen hundert Subalternen, als wenn die Einsicht eines aus- erwählten Mannes es regiert.
Und wie waren diese Subalternen geartet ! Schon für die Statthalterposten selbst Männer auszufinden.
30 die ihre Hände rein bewahrten, war niemals ganz leicht gewesen und \vurde in demselben Maße schwerer, wie die Zahl jener Ämter sich vermehrt hatte. Waren sie vollends gar erschachert worden, so forderte eine Art von Gerechtigkeit, daß der Käufer sich für den ge-
102 ni. Die Verwaltung des Reiches.
zahlten Preis aus den Taschen der Untertanen schad- los halten durfte. Doch die Oberheamten waren doch wenigstens zum Teil Männer von adeliger Geburt, der bei vielen auch adelige Gesinnung entsprach; aus welchem Gesindel dagegen setzten sich die Of fielen 5 zusammen ! Hier nahm jeder, was er kriegen konnte, und ihr Vorgesetzter durfte ihnen schon deshalb nicht zu scharf auf die Finger sehn, weil er ihre Rache zu 100 scheuen hatte. Wie arg sie es schon in der ersten Zeit ihres Bestehens trieben, zeigt ein Edikt Con- 10 stantins des Großen, von dem folgendes Bruchstück sich erhalten hat: „Hört jetzt einmal auf, ihr raub- gierigen Hände der Officialen, hört auf, sage ich! Denn wenn sie nach dieser Ermahnung nicht auf- hören, wird das Schwert sie abhaun. Nicht sei kauf- 15 lieh die Tür des Richters, nicht der Eintritt bezahlt, nicht berüchtigt durch Versteigerung an den Meist- bietenden das Gerichtszimmer, nicht sogar der Anblick des Statthalters nur für Geld zu haben. Die Ohren des Rechtsprechenden sollen ebenso den Ärmsten wie den 20 Reichen offenstehn. Fern sei von der Einführung des Klagenden die Plünderei dessen, welchen man den Prinoeps des Officium nennt. Keine Erpressungen sollen di« Gehilfen derselben Principes gegen die Par- teien ausüben; man unterdrücke die unerträglichen 25 rberfälle der Centurionen und der andern Officialen, die Großes und Kleines fordern, und mäßige die un- stillbare Geldgier derer, welche den Streitenden die Akten aushändigen. Immer soll der Eifer des Statt- halters darüber wachen, daß keiner der genannten 30 Menschenart von der Prozeßpartei etwas nehme. Denn wenn sie sich im zivilen Rechtsstreit etwas zu fordern erlauben, so wird die bewaffnete Rüge bei der Hand sein, um Kopf und Hals der Schändlichen abzuhauen.
2. Hof und Provinzen. 103
und jeder, aii dem Erpressung geübt ist, soll das Recht haben, den Statthalter darüber zu unterrichten. Wenn aber dieser ein Auge zudrückt, so eröffnen wir Allen die Klage bei sämtlichen Comites in den Provinzen
.-, oder bei den Praefecti Praetorio, wenn sie näher zu er- reichen sind, damit wir, durch ihren Vortrag l>elehrt, wegen solcher Räubereien die Todesstrafe verhängen."'
101 Dieser wilde Zornesschrei des Kaisers könnte fast lächerlich erscheinen, wenn er nicht so kläglich wäre.
10 Denn offenbar war alles, was Constantin hier ver- bietet, vorher unzähligemal geschehen. Die Ein- führung beim Richter, wenn man einen Prozeß eröffnen wollte, und die Aushändigung der Akten, wenn er beendet war, alles mußte man den Suh- ls alternen bar bezahlen; der Arme, der dies nicht konnte, war klag- und rechtlos. Wenn man sich beim Statthalter beschwerte, so zuckte er die Achseln und suchte sich um die Bestrafung des Schuldigen zu drücken, und ging man weiter an den Comes oder
•20 Praefecten, wie der Kaiser es anbefiehlt, so vrird dieser es kaum anders gemacht haben. Und selbst wenn man die Bestrafung des Übeltäters durchsetzte, kam man doch in den Ruf eines lästigen Querulanten und hatte sich mächtige Feinde gemacht. Und wer
•25 mochte es anzeigen, daß ein Officiale von ihm Trink- gelder verlangt hatte, wenn dies gleich mit Köpfen und Handabhauen gesühnt wurde ! Die übertrieljene Härte der Strafe .schreckte die Ankläger ab und Aveckte das Mitleid der Richter; sie zeigt, wie eingefressen
30 das Übel war, wenn man ihm mit solchen Mitteln zu Leibe gehen mußte; doch selbstverständlich blieben sie ganz wirkungslos. Die Trinkgelder für die Ein- führung in das Gemach des Richters und für die Übergabe der Prozeßakten, die Constantin hier bei
104 III. Die Verwaltung des Reiches.
Todesstrafe verbietet, sind später zu ordnungsmäßigen Sportein geworden. Da alle Versuche, sie zu beseitigen, fehlschlugen, erkannte man sie zum Schlüsse gesetz- lich an und suchte nur durch Aufstellung eines festen Satzes übertriebenen Forderungen vorzubeugen, was •"> natürlich auch nicht gelang. So ist jenes Sportelwesen entstanden, das seit dem vierten Jahrhundert sich immer weiter ausdehnt und furchtl)ar auf den Unter- 102 tanen drückt. Kam es doch soweit, daß man nicht ein- mal seine Steuern bezahlen konnte, ohne denjenigen, lo die sie freundlichst entgegennahmen, noch ein Extra- geschenk zu bieten.
Aber wo blieben diesen Mißbräuchen gegenüber die zahlreichen Auf Sichtsbeamten ? Nun, sie wurden eben auch — zufriedengestellt, und dies kostete den is Provinzen sehr viel mehr, als wenn ihre Statthalter nur für sich selbst gestohlen hätten. Wie sie sich die Agentes in Rebus zu Freunden machten, soll ein kleines Beispiel zeigen.
Ein natürliches Grefühl treibt jeden, sich für 2'^ eine Freudenbotschaft dem Überbringer dankbar zu erweisen. Daß der Agens in Rebus, wenn er als Botenreiter eine solche Nachricht durch die Provinzen trug, dafür ein Geschenk erwartete, ist also sehr begreiflich, namentlich da er anfangs ja nur als Sub- -'^ alterner galt, für den das Annehmen von Trinkgeldern nicht schimpflich war. Doch durch den Eifer der Statthalter steigerten sich diese Geschenke so, daß jeder Agens in Rebus, der das Glück hatte, einen solchen Auftrag zu erhalten, mit einem ganzen Ver- -o mögen heimkam. Schon unter Constantius II. war man glücklich soweit, daß alle Bewohner der Provinz im Verhältnis ihrer Steuereinschätzung zu diesen ,,freiwilligen''"' Gaben beitragen mußten; selbst dem
2. Hof und Provinzen. 105
ärmsten Bauern blieb es nicht erspart, seiner ,, Freude" baren Ausdruck zu geben. Und was mußte nicht alles als Freudenbotschaft gelten ! Nicht nur die Siege der Kaiser kosteten den Untertanen ein schmäh- 5 liches Geld, sondern auch die Nachricht, daß Seine Majestät geruht habe, die Herren X und Y für das nächste Jahr zu Konsuln zu ernennen. Da sich dies
IftS alljährlich wiederholte, gab es, auch wenn gar nichts Besonderes vorgefallen war, doch mindestens einmal
10 im Jahr eine jener Steuerumlagen, die neben den gesetzHchen herliefen und gewiß noch viel unbarm- herziger eingetrieben wurden. Nicht nur durch diesen Mißbrauch waren die Agentes in Eebus zur Geißel der Provinzen geworden; Kaiser lulian jagte daher
15 fast die ganze Bande fort; und die siebzehn aus- erlesenen Leute, die er aus Hunderten allein zurück- behielt, waren eingeschüchtert genug, um unter seiner Eegierung auf alle ,, Geschenke" zu verzichten.
Kaum war er tot, so vermehrte sich wieder die
20 Zahl bis in die Hunderte und das Treiben begann von vorne. Als ein Jahr später Valentinian und Valens ihr erstes Konsulat verkündigen ließen, mußten sie schon gesetzlich verbieten, daß irgendeiner, nament- lich von den armen Leuten, zwangsweise zur Ver-
25 gütung dieser „Freudenbotschaft"' angehalten werde. Bei Übertretungen sollte der Statthalter zwanzig Pfund Gold Strafe zahlen, sein Officium vierzig, das sind mehr als 18 000 resp. 36 000 Mark. Schon die Höhe dieser Summe zeigt, welche energische Ab-
30 schreckung man für erforderlich hielt. Mit diesem harten Verbot ist aber wieder die Erlaubnis verbunden, daß die Vornehmen und Reichen der Provinz nach Belieben Geschenke geben dürfen. Natürlich hörten diese alsbald auf, freiwillige zu sein, und schon vier
106 in. Die Verwaltung des Eeiches.
Jahre später (369) wird ein neues G-esetz über die „Freudenbotschaften" nötig. Danach sollen die Statt- halter den doppelten Betrag dessen, was sie aus solchem Anlaß erpreßt haben, als Strafe bezahlen, ihre Officia den vierfachen. Diese Drohungen wendeten sich leider 5 an die falsche Adresse; denn der Statthalter und sein Officium waren ja nur die Werkzeuge des Agens in Eebus, dem etwas abzuschlagen höchst gefährlich war. Endlich sieht man das auch bei Hofe ein, wo man bisher den Hofbeamten gegenüber große Schonung 10 hatte ;walten lassen. Man verbietet diese Art von Geschenken ganz und bedroht sowohl den Agens in Kebus als auch den Statthalter im Falle der Über- 104 ti'etung mit Konfiskation ihres gesamten Vermögens und das Officium mit einer Strafe von dreißig Pfund 15 Gold (383). Aber schon sechs Jahre später hat man sich überzeugt, daß dies sich nicht aufrechterhalten lasse, und untersagt wieder nur die erzwungenen Geschenke. lustinian endlich gestattet dem Agens in Eebus, für jede Botschaft, auch wenn sie nicht gerade 20 als Freudenbotschaft gelten kann, in jeder Provinz, in der er sie verkündet, sechs Solidi (= 76 Mk.) zu erheben. Aus der Erpressung ist also auch in diesem Fall eine feste Sportel geworden, was natürlich weitere Erpressungen nicht verhinderte. Daß die Pflicht zum 25 Spionieren und Denunzieren sich auch in anderer Form als Geldquelle benutzen ließ und von den Agentes in Rebus eifrig in diesem Sinne ausgebeutet wurde, brauche ich kaum hinzuzufügen.
So wirkte die Beaufsichtigung von unten; wie es so die höheren Instanzen trieben, soll uns ein anderes Beispiel lehren. In der afrikanischen Diözese gab es außer den Finanzbeamten einen Prokonsuln, einen Vicar und einen Du\. der den Titel Comes führte.
2. Hof und Provinzen. 10 7
alles Beamte von ungefähr gleichem Eange, denen die Statthalter der einzelnen Provinzen untergeordnet waren. An Organen zur gegenseitigen Beaufsichtigung fehlte es hier also nicht. Nun hatte im Jahre 363 5 ein maurischer Nomadenstamm einen Einfall in die tripolitanische Provinz gemacht und das Gehiet ihrer Hauptstadt Leptis arg verheert. Da Wiederholungen
105 solcher Angriffe zu erwarten waren, erhat der Eat der Stadt die Hilfe des Comes Eomanus, der seit
10 kurzem die Streitkräfte der Diözese befehligte. Dieser erschien denn auch, sagte aber seinen Schutz nur unter der Bedingung zu, daß die Leptitaner sehr be- deutende Vorräte für die Verpflegung seines Heeres ansammelten und ihm außerdem 4000 Kamele stellten.
lö Xatürlich war dies nur Vorwand, um sich bestechen zu lassen; aber die Bürger, deren Wohlstand durch jene Plünderung arg gelitten hatte, waren so unvorsichtig, seine Andeutungen nicht zu verstehen, und nach vierzigtägigem Warten zog er wieder ab, die Stadt
20 ihrem Schicksal überlassend. Um diese Zeit fügte es sich, daß eben das Konzil der Provinz, eine Ver- sammlung, die aus allen ihren Städten beschickt wurde, zu seiner jährlichen Sitzung zusammentrat. Da kurz vorher Valentinian I. den Thron bestiegen
25 hatte, beschloß man, an ihn eine Gesandtschaft zu schicken, die ihm nicht nur die üblichen Gratulationen und Ehrengaben überbringen, sondern auch die Gefahr des Landes freimütig darlegen sollte. Als er dies erfuhr, schickte der Comes einen Eilboten an seinen
30 Verwandten Eemigius, der als Magister Officiorum beim Kaiser großen Einfluß besaß, und bat ihn aus- zuwirken, daß die Untersuchung der Sache ihm, dem Eomanus selbst, gemeinsam mit dem Vicar, den er gewonnen hatte, übertragen werde. Dies durchzu-
108 III. Die Verwaltung des Reiches.
setzen gelang noch nicht gleich; einstweilen hatten die Gesandten sogar den Erfolg, daß der Militärbefehl in Tripolis dem Comes Africae genommen und auf den zivilen Statthalter der Provinz übertragen wurde. Doch bald wußte Remigius dies rückgängig zu 5 machen, und nachdem die Ent-scheidung des Kaisers längere Zeit hingezögert war, erfolgte sie endlich, wie Eomanus es gewünscht hatte, d. h. er wurde nebst 106 seinem Spießgesellen dem Vicar mit der Untersuchung gegen sich selbst betraut. Da kommt die Nachricht, 10 daß die Mauren wieder in die Provinz eingefallen sind und noch ärger gehaust haben, als das erstemal, ohne daß ein Soldat zur Stelle war. Der Kaiser gerät in Aufregung und sendet einen seiner Notare, um an Ort und Stelle den Sachverhalt kennen zu 15 lernen und ihm Bericht zu erstatten. Während dieser noch unterwegs ist, wird das Land zum drittenmal geplündert; die wilden Feinde wagen sich sogar an die Belagerung von Leptis, weil die Stadt keinen andern Schutz besitzt als ihre Mauern und ihre -i» Bürger, und in ihrer Verzweiflung schicken die Ein- wohner eine neue Gesandtschaft an den Kaiser unter Führung des Jovinus. Kaum ist sie abgegangen, so kommt der Notar nach Afrika und verteilt zunächst ein Donativ an die Soldaten der Diözese, das ihm der 25 Kaiser für diesen Zweck mitgegeben hat. Romanus aber weiß die Empfänger zu veranlassen, daß sie einen ansehnlichen Teil des Geldes in den Händen des Notars lassen, da er ihnen als einflußreicher Mann beim Kaiser nützen könne. So bestochen berichtet er, oo daß alle Klagen der Leptitaner grundlos seien. In seinem Zorne gibt Valentinian sogleich den Befehl. den Hauptrednern der Stadt als Verleumdern die Zungen abzuschneiden, und beauftragt dann denselben
2. Hof und Provinzen. 109
Notar, noch einmal nach Afrika zu reisen und dort gemeinsam mit dem Vicar eine Untersuchung gegen den Gesandten Jovinus und seine Mitschuldigen zu führen. Durch diese Sendung ist der Stadtrat von 5 Leptis so in Schrecken gesetzt, daß er nur noch nach einem Sündenbocke sucht ; man behauptet, von Jovinus aufgereizt zu sein, ihm gar nicht so scharfe Aufträge
107 gegeben zu haben, und endlich ist der Arme ein- geschüchtert genug, um selber zuzugeben, daß er den
10 Kaiser belogen habe. Der unschuldige Gesandte muß sein Haupt auf den Block legen und mit ihm der Statt- halter der Provinz, weil er in gerechter Entrüstung gegen Romanus einen Bericht an den Hof gesandt hatte, der für den Comes beleidigend war und jetzt
15 natürlich gleichfalls für verleumderisch galt. Erst nach einem Jahrzehnt kam durch einen Zufall die Wahrheit an den Tag, und einige dar Schuldigen traf die verdiente Strafe; der Schuldigste aber, Eomanus selbst, entging ihr auch dann, weil wieder ein guter
20 Freund von ihm das Ohr des Kaisers besaß.
Hier handelte es sich um Ereignisse, die weit entfernt vom Hoflager, aber doch im vollen Lichte der Öffentlichkeit vor sich gingen. Ganz Tripolis wußte, was Romanus gesündigt hatte; der Kaiser aber
25 erfuhr es nicht trotz seiner zahllosen Späher. Und diesmal hatte die Vertretung der Provinz und der geschädigten Stadt noch ihre Pflicht getan und sich offen beschwert, mit welchem Erfolge, haben wir ge- sehen. Da ist es nicht zu verwundern, daß man in
30 anderen Fällen noch Ehrengesandtschaften an seine Quäler beschloß und sich für ihre Bedrückungen in prächtigen Reden bedankte. Wer männlichen Freimut zeigte, wie jener arme Jovinus, wurde eben aus- gerottet, und nur ein erbärmlich kriechendes Ge-
1 1 ü III. Die Verwaltung des Reiches.
schlecht blieb übrig, das lieber alles ertrug, als einen mächtigen Beamten zu beschuldigen wagte. War er freilich durch irgendeine Hofintrige gestürzt, so fanden sich Ankläger in Menge; doch solange er das Vertrauen des Kaisers besaß, konnte sich gegen ihn :. kein Widerspruch regen.
Aber selbst wenn jener umfangreiche Apparat, den Diocletian für die Beaufsichtigung der Beamten 1<>8 geschaffen hatte, die erwartete Wirlvung hätte tun können, wäre er doch zum Unheil für das Reich ge- lo worden. Das einzige Gf-ebiet, auf dem sich noch ein armer Rest von selbstlosem Bürgersinn und freier politischer Tätigkeit des einzelnen erhalten hatte, war die Selbstverwaltung der Städte. Zu ihrem_ Gedeihen aber bedurfte sie der großen Provinzen und des wenig 15 zahlreichen Beamtenpersonals, wie sie vor Diocletian bestanden hatten. Ein französischer Praefect kann in seinem kleinen Departement alles, was von öffent- lichem Interesse ist, beobachten und leiten ; wenn al>er ganz Gallien, das über die Grenzen des heutigen Frank- 20 reich weit hinausgriff' und in seinem Umfang etwa hundert Departements entsprach, nur in sechs Pro- vinzen zerfiel, so war eine stetige und tiefgreifende Wirksamkeit des Statthalters ausgeschlossen. Er be- fehligte das Heer seiner Provinz, wenn sie eines 20 militärischen Schutzes bedurfte, übte die höchste Gerichtsbarkeit, sorgte für das Einlaufen der Tribute und griff hin und wieder mit seinen Dekreten in die Verwaltung ein, falls ein außergewöhnlicher Mißstand seine Aufmerksamkeit erregte; aber die tägliche Klein- w arbeit innerhalb der Gemeinden, die zwar \inschein- barer, aber für die Wohlfahrt des einzelnen unendlich wichtiger ist, lag in den Händen gewählter Stadt- beamten. Selbst die kurze Dauer der Statthalter-
2. Hof und Provinzen. Hl
Schäften und die Unerfahrenheit ihrer Inhaber, die Jen? zur Folge hatte, mußte die Selbstverwaltung fördern. Denn je mangelhafter der Prokonsul mit den Zuständen seiner Provinz vertraut war. desto freiere 5 Hand mußte er den einheimischen Gewalten lassen, und wollte er doch mehr reglementieren, als er konnte, .so stiftete er zwar zeitweilig einige A^erwirrung, aber
W9 durch ihre Unausführbarkeit wurden seine Verord- nungen bald von selbst hinfällig. Jetzt waren die
10 Provinzen klein und ihre tatsächUche Verwaltung besorgte eine Schar von Subalternen, die nicht nur jede Stadt genau kannten, sondern auch jedem wohl- habenden und angesehenen Bürger in die Tasche geguckt hatten. Jeder sah sich unter strengster Auf-
15 sieht und fühlte in diesem Bewußtsein seine Selbst- tätigkeit erlahmen. Freilich besaßen auch die herr- schenden Geschlechter der Städte nicht mehr ganz das rege und tatkräftige Interesse an dem Gedeihen ihrer Gemeinde, wie sie es in früheren Zeiten be-
20 währt hatten: unter dem Drucke der Despotie war auch in diesen Kreisen der Bürgersinn erlahmt. Immerhin war von dem gesunden Ehrgeiz und der Freude am politischen Wirken, die in der republi- kanischen Zeit geherrscht hatten, hier noch ein Eest
25 erhalten geblieben, und unt£'r liebevoller Pflege hätte er sich vielleicht entwickeln können. Aber der neue Gott wollte auch darin seinem Vorbild im Himmel ähnlich werden, daß ohne seinen Willen kein Sperling vom Dache fiel. Seine harte Bevormundung, die jede
30 Kleinigkeit von oben her regelte, hat auch das Wenige republikanischer Freiheit, was in der Munizipal- verwaltung die Stürme der Zeit überdauert hatte, zu- erst gelähmt und verstümmelt, dann ganz zerstört.
Drittes Kapitel.
Das Eeich und die Einzelstaaten.
Ein Staat ist das römische Reich erst geworden. 110 seit der Wille des Alleinherrschers alle Glieder des- ■•^Iben in der gleichen Knechtschaft vereinigte; so lange die Republik währte, trägt es vielmehr den Charakter eines Staatenbundes, in dem Rom nur die 5' Hegemonie in Anspruch nimmt. Imperium Romanum bedeutet nichts anderes als römisches Machtgebot; wo man diesem gehorchen mußte, da war römisches Reich. Herodes von Judäa mit den Millionen seiner Untertanen gehörte ihm ebenso an wie die ärmlichste 10 Kleinstadt von Italien, mochte er innerhalb seiner Grenzen auch den unbeschränkten Despoten spielen. Und in derselben Weise waren alle Teile, aus denen sich das Reich zusammensetzte, nicht unabhängig, aber doch mehr oder weniger selbständig. Der Staats- 15 begriff heftete sich eben nicht an das große Ganze, sondern an seine einzelnen Elemente, mochten es Königreiche, wilde Völkerstämme oder Städte sein. Am reinsten und wirksamsten aber trat er in der letzten dieser drei Gruppen zutage, und sie war 20 auch die einzige, die im vierten Jahrhundart noch Bestand hatte. Denn die Königreiche wurden teil« durch das Aussterben ihrer Dynastien, teils wegen
3. Das Eeich und die Einzelstaaten. 113
111 der tyrannischen Mißwirtschaf t, die in ihnen herrsehte, eines nach dem andern beseitigt und in ihre einzelnen Städte aufgelöst. Die barbarischen Stämme aber ver- wandelten sich, als die Kultur bei ihnen festere
5 Wurzeln faßte, gleichfalls in Städte. Die Stadt im antiken Sinne umfaßte ja nicht nur den Eaum, den ihre Mauer einschloß; sondern ein ausgedehntes Land- gebiet, in dem oft zahlreiche Dörfer lagen, wurde ihr zugerechnet und von ihren Magistraten beherrscht
10 oder doch verwaltet. Der Gau eines wilden Volkes konnte also leicht zur Stadt werden, wenn in seiner Mitte eine größere Ortschaft entstand, in der die Regierungsgewalt sich konzentrierte. Dies mußte aber regelmäßig eintreten, sobald die schweifende Lebens-
15 weise, wie sie uns bei den alten Germanen begegnet ist, völlig überwimden war.
Natürlich war der Charakter der Städte ein sehr verschiedener, je nachdem sie vorher Teile eines despo- tischen Königreiches gewesen oder aus barbarischen
20 Ansiedlungen entstanden oder schon als Städte in das römische Eeich eingetreten waren. Nur bei denen, die wir an letzter Stelle genannt haben, hatte jener begeisterte Lokalpatriotismus, der für das römische Munizipalwesen so charakteristisch ist, schon seit den
25 fernen Tagen der Urväter feste Wurzeln geschlagen: aber sie waren das Vorbild, das auch die übrigen nachahmten. Diese Gesinnung hatte sich gebildet, als man auf den Märkten der einzelnen Städte noch große Politik machen konnte; aber da sie den Bürgern
30 zur zweiten Natur geworden war, vermochte sie sich auch innerhalb des großen Eeiches zu behaupten, solange es die staatliche Selbsttätigkeit seiner Teile noch nicht völlig aufhob. Auf diese Weise konnte sie zur Grundlage der örtlichen Verwaltung werden, s II 8
114 III. Die Verwaltung des Reiches.
obgleich sie anfangs das schwerste Hindernis gewesen 112 war, das sich der Ausbreitung des römischen Macht- bereiches entgegenstellte.
Jeder Staat ist eifersüchtig auf seine Unabhängig- keit, und je kleiner sein Umfang, je einfacher seine 5 Zusammensetzung ist, desto mächtiger macht sich in ihm dieser Trieb geltend. Mischen sich Ackerbau, Handel und Industrie, so muß der GTegensatz ihrer Interessen notwendig eine gewisse Lockerung seines Gefüges herbeiführen; wohnen seine Bürger über viele 10 Quadratmeilen zerstreut, so kann nicht jeder einzelne dem andern persönlich bekannt sein; auch ist die unmittelbare Teilnahme am politischen Leben für die Mehrzahl schon durch ihre Entfernung vom Mittel- punkte sehr erschwert. Die italischen Städtchen, 15 gegen welche Rom seine frühesten und schwersten Kämpfe auszufechten hatte, bestanden fast ausschheß- lich aus Ackerbürgern, die alle innerhalb ihres engen Mauerringes lebten. Jedes Ereignis, das ihre Gemeinde betraf, wurde allen in der kürzesten Zeit bekannt; 20 jedes politische Interesse ergriff alle in gleicher Weise, und alle nahmen an der staatlichen Tätigkeit in der A^olksversammlung wie auf dem Schlachtfelde persön- lichen Anteil. Ihre Gesetze beruhten auf ihren Ab- stimmungen, ihre Beamten gingen aus ihrer Wahl 25 hervor, und kein Ehrgeiz konnte seine Befriedigung anders, als durch die Gunst der Mitbürger finden. Fiel der Feind ins Land, so fürchtete jeder Brand und Plünderung; wurde die Stadt erobert, so bedrohten ihn Tod oder Sklaverei. Jeder einzelne fühlte sich 30 daher in viel höherem Grade mit seinem Gemeinwesen verwachsen, als das bei den ausgedehnten Länder- staaten unserer Zeit oder auch bei den weit zerstreuten Volkstämmen der Germanen möglich war. Doch je
3. Das Reich und die Einzelstaaten. 115
113 lebhafter die Gemeinschaft der Mitbürger empfunden wurde, desto engherziger schloß sie sich gegen die Außenwelt ab. Die einzelnen Städte verband weder Ehegemeinschaft noch Freizügigkeit. Da der Staat
ö nur seinen Bürgern den vollen Eechtsschutz gewährte, war der Fremde anfangs vogelfrei, später, als der ge- steigerte Verkehr Milderungen herbeiführte, doch nur von sehr beschränkter Eechtsfähigkeit. Und weil man ihn innerhalb der Stadt als ein minderwertiges Ge-
10 schöpf betrachten durfte, hatte man sich gewöhnt, auch außerhalb auf alles Fremde mit Verachtung herabzusehn. Am schärfsten aber war der Gegensatz zwischen Xachbarstädten, obgleich sie meist dem gleichen Stamme angehörten. Denn wo die Grenzen
15 sich unmittelbar berührten, da gab es die meiste Ge- legenheit zu Konflikten, die oft in erbittert« Kämpfe ausarteten, aber auch in den friedlichen Zwischenzeiten den gegenseitigen Haß immer aufs neue schürten. Diese Nachbarzwiste haben die Unabhängigkeit
20 der Städte um Jahrhunderte überdauert und selbst in der Kaiserzeit noch blutige Katastrophen herbeigeführt. Unter Nero war ein vornehmer Römer so leichtsinnig, den Pompe janern und den Nucerinern, deren Gebiete aneinandergrenzten, gemeinsame Gladiatorenspiele zu
25 geben. Im Amphitheater zu Pompeji, wo die Bürger der beiden Städte vereinigt saßen, kam es bald zu derben Schraubereien zwischen ihnen, und endlich entwickelte sich daraus ein wilder Kampf, bei dem es zahlreiche Tote und Verwundete gab. In fried-
30 hohen Zeiten war dies Ausnahme und" wurde streng von den Kaisern bestraft. Erhob aber im Reiche die Usurpation ihr Haupt und kam es infolgedessen zum Bürgerkriege, so erklärten sich die Nachbarstädte, wo dies irgend tunlich war, für verschiedene Thron-
116 in. Die Verwaltung des Reiches.
Prätendenten und fochten unter dem Vorwande, jede 114 für ihren Kaiser zu streiten, ihre kleinen Eifersüchte- leien mit blutigem Ernste aus. Als Julius Vindex in Gallien gegen Nero aufstand, wurde dies von Lyon und Vienne benutzt, um in aller Form miteinander 5 Krieg zu führen. Auch in Griechenland und Sizilien erwachten die Bruderkämpfe, die seit Jahrhunderten geruht hatten, in den Wirren dieser Zeit von neuem, und in Africa rief die Bürgerschaft von Oea sogar die wilden Garamanten zu Hilfe, um mit ihnen ge- 10 meinsam das Gebiet der Nachbarstadt Tripolis zu verwüsten. Noch unter Septimius Severus war dies nicht anders geworden: in dem Kriege, den er gegen Pescennius Niger zu führen hatte, kämpften im Namen der beiden streitenden Kaiser Nicomedia mit 15 Nicaea, Laodicea mit Antiochia, Tyrus mit Berytus. So hielt man denn auch in jeder Stadt die Bewohner aller umliegenden Städte für das ruchloseste Gesindel, dem jede Schlechtigkeit zuzutrauen sei. Als die Trup- pen des Vitellius Placentia zu stürmen versuchten, 21) ging das dortige Amphitheater in Flammen auf. Da es außerhalb der Mauern lag, wo das wildeste Kampf- getümmel tobte, war dies sehr natürlich; gleichwohl behaupteten die Placentiner, die bösen Nachbarn hätten aus schnödem Neide, weil sie kein so großes 25 und schönes Amphitheater besäßen, das Feuer an- gelegt. So stand man miteinander, nachdem die ge- meinsame Unterwerfung unter den Willen Eoms schon seit vielen Menschenaltern ihre ausgleichende Wir- kung geübt hatte und offene Kriege wenigstens in 30 ruhigen Zeiten wirksam verhinderte: wie viel giftiger muß die Erbitterung gewesen sein, als man auf den Grenzäckern noch das Yieh wegtreiben und das Korn verbrennen konnte, und immer wieder
3. Das Reich und die Einzelstaaten. 117
115 Raub und kleine Scharmützel dem Zorne Xahrung gaben I
In die Mitte solcher streitenden Nachbarstädte war Rom in seinen ersten Anfängen als eine unter
5 vielen hineingestellt. Sie zu einem Reiche zusammen- zufassen, war keine leichte Aufgabe, und viele Ver- suche im kleinen mußten vorausgehen, ehe sie auch im großen gelöst werden konnte.
Jeder moderne Staat ist schon seinem Wesen nach
10 auf die Verwaltung eines umfangreichen Gebietes an- gelegt; macht er Eroberungen, so kommen einfach zu den alten Provinzen neue hinzu, die ebenso oder doch ganz ähnlich regiert werden, wie d?r ursprüngliche Besitz. Dagegen war das römische Herrschaftsgebiet
1' der Königszeit nicht mehr als eine Stadt mit soviel Ackerland ringsum, wie zur Ernährung ihrer Be- wohner ausreichte. Auf diese kleinen Verhältnisse war die ganze Verfassung zugeschnitten, und das Be- herrschen weiter Länderstrecken hätte Anforderungen
2) an sie gestellt, denen sie nicht gewachsen war. So sind denn die ältesten Eroberungen Roms durchgängig Vermehrungen seiner Stadtbevölkerung gewesen, wie sich dies in dem uralten Rechtssatze ausprägt, daß derjenige, welcher das römische Landgebiet siegreich
2". erweitert, auch befugt ist, das Pomerium, d. h. die Grenze der städtischen Besiedlung, vorzuschieben. Denn natürlich konnte die Stadt sich nicht vergrößern, wenn nicht der ländliche Grundbesitz, aus dem sie ihre Nahrung zog, entsprechend ausgedehnt wurde. Jene
30 Vermehrungen bestanden entweder in einem Zuwachs an freien Familien oder nur an Sklaven; danach scheiden sich die ältesten Formen der Eroberung in Synoikismos und Unterwerfung.
Bei dem ersteren treten, wie bei der modernen
118 III. Die Verwaltung des Reiches.
Eroberung, die Besiegten als Mitbürger in den sieg- HS reichen Staat ein; doch müssen beide Teile des Volkes innerhalb desselben Manerringes ihren Schutz finden. Und dies ist für das Fortbestehen der Gemeinschaft notwendig; denn wollte man der einen Gruppe ge- ö. sonderte Festungswerke lassen, so müßte dies un- fehlbar zu ihrem Abfall führen. In jeder Stadt ist eben der Drang nach Selbständigkeit übermächtig und dauert noch lange fort, auch nachdem ihre Bürger in einem andern Gemeinwesen aufgegangen sind. Die lo Gegensätze, die immer Nachbarstaaten trennen, werden durch ihre Verschmelzung nicht mit einem Schlage ausgelöscht, sondern müssen in dauerndem Zusammenwohnen und Zusammenwirken langsam ver- gessen werden. Ist dies geschehen, so erinnert man 15. sich freilich nicht gerne daran, daß die Vereinigung ursprünglich nur eine erzwungene war. Die schön- färbende Geschichtschreibung einer späteren Zeit hat den S3Tioikismos daher auch immer so dargestellt, als wenn er in Friede und Freundschaft zustande ge- 20 kommen wäre; tatsächlich aber konnte er nur durch Blut und Eisen gelingen. Die besiegte Bürgerschaft verzichtete zähneknirschend auf ihre Selbständigkeit, und auch die sieghafte wird sich nur schwer ent- schlossen haben, die Gegner, die man eben erst mit 2rv dem Schwert iii der Faust niedergeworfen hatte, jetzt als Mitbürger anzuerkennen. Wahrscheinlich trat dies nur ein, wenn der Sieg höehst unvollständig war und eine Fortsetzung des Kampfes beiden Teilen ver- derblich zu werden drohte. Und auch dann hätte die 30 erregte Menge sich kaum zu solchen Zugeständnissen bereit finden lassen, wenn nicht ein besonnener Herrscher sie geleitet hätte, der ihren Vorteil besser verstand als sie selbst. So kommen denn Synoikismen
3. Das Reich und die Einzelstaaten. 119
117 in Eom nur während der Königszeit vor ; die einzigen Beispiele bietet die Aufnahme der Sabiner und dann der Albanar in die römische Bürgerschaft. Im ersteren Falle lagen die vereinigten Städte sich so
5 nah, daß Servius Tullius beide in einen gemeinsamen Befestigungsring einschließen konnte; im zweiten mußten die Besiegten die Zerstörung ihrer alten Hei- mat dulden und nach Eom übersiedeln. Ein einheit- liches Volk, das sich über zwei Städte verteilte, war
10 damals eben noch undenkbar.
Viel häufiger war die Form der Unterwerfung. Auch sie vergrößerte die Bevölkerung Eoms, aber nur durch Sklaven. Denn die bezwungene Stadt wurde zerstört, ihr Land, wie die bewegliche Beute,
lö unter die Sieger verteilt, und seine früheren Eigen- tümer mußten es als Knechte für die neuen Herren bebauen. Eroberungen dieser Art vergrößerten also wohl das Territorium Eoms, indem seine vollberech- tigten Bürger neuen Grundbesitz erwarben, aber nicht
20 seine Kriegsmacht. Denn den Sklaven Waffen in die Hand zu geben, die sie vielleicht gegen ihre Herren gekehrt hätten, war zu gefährlich, als daß man solche Mitkämpfer hätte brauchen können. Mithin haben nur die Synoikismen die Wehrkraft Eoms unmittel-
25 bar verstärkt; aber so selten sie waren, genügten sie doch, um es zur mächtigsten Stadt der latinischen Ebene zu machen und seine Vorherrschaft über die klein gebliebenen Nachbarn sicherzustellen.
In einem früheren Abschnitt haben wir dargelegt,
30 wie aus einem Teil der Sklaven halb freie Klienten, aus diesen allmählich freie Plebejer wurden, deren Zahl bald über die der vollberechtigten Bürger hinaus- wuchs. Doch als Eest ihrer früheren Knechtschaft war der Ausschluß vom Kriegsdienst an ihnen haften
120 ni. Die Verwaltung des Reiches.
geblieben, obgleich auch sie sich jetzt als Römer 118 fühlten und ihren eigenen Acker besaßen, den jeder feindliche Einfall bedrohte. Erst die Reform des Ser- vius Tullius hat sie zur Verteidigung ihres neuen Vaterlandes berufen und damit die Wehrkraft Roms :. gewaltig verstärkt. Zwar sollten noch Jahrhunderte vergehen, ehe sie sich die volle Gleichberechtigung mit den Patriziern erkämpften; aber seit das Waffenrecht ihnen verliehen war, galten sie doch schon als römische Bürger. So war die rohe Unterwerfung, wenn auch lo auf weiten Umwegen, schließlich in einen neuen Synoikismos ausgelaufen, und dieser Vorgang, der sich hier noch in engem Rahmen abspielte, sollte vor- bildlich für die Entwicklung des Weltreiches sein. Auch die Einwohner der späteren Provinzen hat Rom i5 dem Rechte nach zu Sklaven gemacht; doch wurden sie schon gleich anfangs als Klienten behandelt und rückten endlich zu gleichberechtigten Mitbürgern auf. Alle Länder, die das Mittelmeer umgeben, waren so am Schlüsse des Altertums in einen gewaltigen 20 Synoikismos zusammengefaßt.
Dies Wort paßt freilich insofern nicht ganz, als es im Sinne der Alten die Gemeinsamkeit des Mauer- ringes voraussetzt. Doch um ein Weltreich gründen zu können, mußten die Römer den Begriff von dieser 25 engen Fessel befreien und sich an den Gedanken gewöhnen, daß Mitbürger auch in verschiedenen Städten wohnen könnten. Auch in dieser Beziehung hat schon die Königszeit den ersten folgenreichen Schritt getan, und zwar geschah dies durch die Grün- m düng von Ostia, die wahrscheinlich nicht sehr lange nach der Reform des Servius erfolgte.
Um die etruskischen Piratenflotten zu beobachten und aufzuhalten, ehe sie nach Rom selbst gelangten.
3. Das Reich und die Einzelstaaten. 121
119 bedurfte man an der Tibermündnng eines befestigten Stützpunktes. Doch hierher eine wirkliche Kolonie zu entsenden, d. h. ein neues Gemeinwesen mit eigener Stadtverfassung zu schaffen, hielt man mit Eecht für
5 gefährlich. Denn viele Beispiele hatten gezeigt, daß der Trieb nach Selbständigkeit, der in allen antiken Städten lebendig war, sieh auch in Gründungen dieser Art zu regen pflegte und sie oft zu erbitterten Feinden der eigenen Mutterstadt machte. So entschloß man
10 sich denn zu einer Ansiedlung, die mit einer Stadt nur den Mauerrin^ gemein hatte, aber keine eigene Ver- fassung besaß. Die Plebejer, die sich hier nieder- ließen, sollten nach wie vor Bürger Eoms bleiben, sich an seinen Volksversammlungen beteiligen und vor
15 seinen Obrigkeiten Eecht suchen. Nur dadurch räumte man ihnen eine Ausnahmestellung ein, daß sie von der gewöhnlichen Kriegspflicht befreit waren; ihr dauernder Aufenthalt an jenem gefährdeten Punkte wurde eben schon an sich als Besatzungsdienst be-
20 trachtet. Städtische Magistrate besaßen sie natürlich nicht, wohl aber militärische Kommandanten, die den Titel praetores, d. h. Feldherren, führten. Es waren ihrer drei, vermutlich weil die Mannschaft von Ostia, wie Volk und Heer des ältesten Eom, sich in drei
25 Tribus gliederte, von denen jeder Praetor eine be- fehligte. Anfangs wurden diese Offiziere jedenfalls durch den König ernannt; bei Gründung der Eepublik mag dies Eecht auf die Konsuln übergegangen sein: doch ist es auch möglich, daß man den Ostiensern
30 selbst die Wahl gestattete und ihnen zu diesem Zwecke eine eigene Volksversammlung gab.
Dies Fort an der Tibermündung nannte man Bürgerkolonie; doch was ihm seine vorbildliche Be- deutung gab, war eben, daß es im antiken Sinne
122 in. Die Verwaltung des Reiches.
keine Kolonie war, sondern nur ein Vorwerk Eoms, 120 ein Teil seiner Bürgerschaft, der abgesondert wohnte, aber politisch mit den Zurückbleibenden in untrenn- barem Zusammenhange blieb. In dieser Gründung lag also der erste Verzicht auf die städtische Um- 3 grenzung des Staates. Einstweilen aber betrachtete man sie nur als Anomalie, die durch ganz besondere Um- stände geboten war; erst als man durch jahrhunderte- lange Erfahrung die Sicherheit gewonnen hatte, daß jene getrennte Verbindung Eom nicht schwächte, son- 10 dern stärkte, hat ihr Beispiel auch auf die weitere Ausgestaltung des Eeiches eingewirkt.
Solange man zu jener Überzeugung noch nicht gelangt war, blieb die Ausbreitung der römischen Bürgerschaft auf den engen Bereich beschränkt, der 15 in den Grenzen einer städtischen Verwaltung gegeben war. Einzelne Kleinstaaten wurden zwar auch später in der alten Weise zerstört und unterworfen ; in der Hauptsache aber schlug die Machterweiterung Eoms schon am Ende der Königszeit einen andern Weg ein. 20 Man nötigte den ISTachbarstädten ein abhängiges Bünd- nis auf, das ihnen im Innern die volle Freiheit ließ, aber jede auswärtige Politik verbot und im Kriege ihre Bürgerwehr unter römischen Oberbefehl stellte. Zuerst hat sich Gabii in dieser Form an Eom ange- 25 schlössen; dann mußten die übrigen Latinerstädte seinem Beispiel folgen; endlich traten auch Gemeinden anderer italischer Stämme bei. So hatte Eom unter seiner Hegemonie schon eine ganz ansehnliche Macht vereinigt, als der Sturz des Königtums und die mit 30 ihm verbundenen inneren Wirren seine Kraft zeitweilig lähmten und diese Erfolge wieder in Frage stellten.
Ihre erste Kraftprobe mußte die Eepublik in einem großen Latinerkriege ablegen, und mit längeren
3. Das Reich und die Einzelstaaten. 123
121 oder kürzeren Unterbrechungen ist ihm noch eine Beihe ähnhcher Kämpfe gefolgt. Ihr Grund war immer wieder jener übermächtige Drang nach Unab- hängigkeit, der selbst dem dürftigsten Städtchen den
ö Verzicht auf die auswärtige Politik als herbe Schmach erscheinen ließ. In diesem Gefühl vergaßen auch die Kolonien, die Eom ausgesandt hatte, der Pietät gegen die Mutterstadt und kämpften in den Eeihen ihrer Feinde. Doch galt dies nur von denjenigen, die
m eine selbständige Verfassung besaßen: Ostia erwies sich immer treu. Und doch hatte man auch ilim Hechte gewähren müssen, die ihm Eom gegenüber eine minder abhängige Stellung gaben. "Wie der Ort an Bedeutung gewann, konnte er einer festen Polizei-
15 gewalt um so weniger entbehren, als das wilde Matro- senvolk, das sich hier sammelte, damals wie heute zu Ausschreitungen sehr geneigt war. So wurden denn Aedilen eingesetzt, die an Eang und Macht noch über den drei Praetoren standen. Für ihre Wahl mußte,
20 falls sie nicht schon früher bestand, jedenfalls eine Volksversammlung geschaffen werden, und vielleicht trat ihr schon damals ein Senat an die Seite, um die neuen Beamten in ihrer Geschäftsführung zu beraten. Auf diese Weise bildete sich hier etwas, das zwar
2-< noch immer nicht als eigentliche Stadt, sondern nur als abgegliederter Teil von Eom galt, aber doch die wesentlichen Kennzeichen eines freien Gemeinwesens, den eigenen Mauerring, die Magistratur, den Senat und die Volksversammlung, schon besaß. Freilich
3(1 blieben deren Befugnisse sehr beschränkt; aber die Organe einer Stadtverfassung waren doch gegeben, und ihre Eechte konnten künftig erweitert werden. Und diese Organisation hatte sich so gut bewährt, daß man das Mißtrauen gegen sie wohl ablegen und
124 III. Die Verwaltung des Reiches.
sie als Vorbild benutzen durfte, um die Herrschaft 122 Eoms auch in strafferer Weise, als das völkerrechtliche Bündnis mit den Latinern gestattete, über weitere Länderstrecken auszudehnen.
Zum ersten Male geschah dies nach dem Latiner- r, aufstand des Jahres 373 vor Christus. Da er schnell niedergeschlagen wurde, hatte er für die meisten Städte, die sich ihm angeschlossen hatten, keine schlimmeren Folgen, als daß sie ihren Vertrag mit Eom unter minder günstigen Bedingungen erneuern lo mußten. Einzig gegen Tusculum, das sich an die Spitze der Erhebung gestellt hatte, hielt man eine härtere Strafe für angezeigt, ohne daß man doch das stammverwandte Volk, das so lange mit Kern im Bunde gestanden hatte, zu Sklaven machen wollte. i5 Nur seine Selbständigkeit beschloß man zu vernichten; doch war sein Gebiet zu groß und zu weit entlegen, als daß man es einfach in die städtische Verwaltung Eoms hätte aufnehmen mögen. Man ordnete daher die Verhältnisse von Tusculum genau nach dem Muster 20 Ostias, und die Bezeichnung municipium, d. h. Lastenträger, welche man jener Stadt zuerst beilegte, hatte nur den Sinn, den einzigen rechtlichen Unter- schied, der sie von der Bürgerkolonie trennte, scharf hervorzuheben. Denn die Tusculaner unterlagen dem 25 Militärdienst und allen bürgerlichen Lasten ähnlicher Art, während die Ostienser davon befreit blieben. Die Praetoren, die nur als Führer der Küstenbesatzung dienten, fielen bei der Binnenstadt, deren Bürger gleich den Eömern selbst in den Legionen ihre Kriegspflieht :?o erfüllten, natürlich weg. Doch erhielten auch die Tusculaner ihre selbstgewählten zwei Aedilen, ihre Volksversammlung und ihren Senat; auch sie galten als römische Plebejer, stimmten mit in den römischen
3. Das Reich und die Einzelstaaten. 125
123 Comitien und führten ihre Prozesse vor den römischen Grerichten. Wieder könnte man von einem Synoikismos reden, wenn nicht gerade dasjenige, wovon dies Wort abgeleitet ist, das Zusammensiedeln, fehlte; jedenfalls .5 traten die Folgen desselben ein. Anfangs fügten sich die Mußrömer widerwillig in die neue Gemeinschaft, doch schon nach wenigen Menschenaltern empfanden sie sie als Glück und Ehre.
In dieser Entwicklung der Stadt zum Eeiche trat
10 schon ein Vierteljahrhundert später (349 v. Chr.) eine neue Phase ein, als Rom zum erstenmal einer fremdsprachigen Gemeinde, dem etruskischen Caere, sein Bürgerrecht aufzwang. Auch sie erhielt die Ver- fassung eines Municipium und durfte sich jedes Jahr,
15 wie Tusculum und Ostia, zwei Aedilen wählen. Doch über diese wurde ein Diktator gesetzt, wahrscheinlich weil man in der stamm fremden Stadt eine schärfere Aufsicht für nötig hielt. Denn anfangs dürfte er wohl ein römischer Zwingvogt gewesen sein, den die
20 Konsuln alljährlich ernannten. Als dann Caere sich soweit romanisiert hatte, daß ein Abfall nicht mehr zu befürchten war, ist er zum städtischen Beamten geworden, der aus eigener Wahl der Bürgerschaft hervorging.
•25 Xoch wichtiger aber war eine zweite Xeuermig,
die ihren praktischen Grund einfach darin hatte, daß die Etrusker eine andere Sprache redeten als die Römer. Man mußte daher die Caeriten von allen bürgerlichen Rechten ausschließen, zu deren Ausübung
30 das volle. Verständnis des Lateinischen nötig war. So stimmen sie weder in den römischen Volksversamm- lungen, noch können sie in Rom Ämter bekleiden; auch zum Kriegsdienst sind sie unfähig, da sie das lateinische Kommando nicht verstehen, und müssen
126 in. Die Verwaltung des Reiches.
ihn deshalb durch eine Wehrsteuer abkaufen. Dies 124 ist das Verhältnis, das man technisch Bürgerrecht ohne Stimmrecht {civitas sine suffragio) nennt. Auch später ist es nur bei fremdsprachigen Gemeinden ein- geführt worden ; doch hat man bei diesen nicht immer 5 auf ihre Wehrkraft verzichtet, sondern bildete aus den größeren eigene Heerkörper und stellte die Bürger der kleineren in die Legionen ein, wo sie die Bewegungen ihrer römischen Nebenmänner nach- machen konnten, auch wenn sie nicht verstanden, was 10 der Offizier befahl. Dies beschränkte Bürgerrecht ist dann im Laufe der Zeit verschwunden, ohne daß wir von einer gesetzlichen Aufhebung desselben hören. Wahrscheinlich wurde es zum Vollbürgerrecht, sobald die fremde Gemeinde sich genügend romanisiert hatte. 15 Erkannte Rom dies an, indem es den städtischen Behörden das Eecht verlieh, sich im offiziellen Ver- kehr der lateinischen Sprache zu bedienen, so scheint damit die betreifende Stadt unter die vollberechtigten Munizipien eingetreten zu sein. Auf diese Weise wird 20 die civitas sine suffragio viel zur Latinisierung Italiens beigetragen haben.
In der ersten Zeit nach der Unterwerfung Caeres hat man es noch für nötig gehalten, in die neu- geschaffenen Munizipien Diktatoren zu schicken; später 25 findet man auch diese Vorsicht überflüssig. Doch werden noch bis auf die punischen Kriege herab eine ganze Eeihe von Städten in das Bürgerrecht aufgenommen, die latinischen in das volle, die fremd- sprachigen in das beschränkte; und immer wird diese 30 Maßregel gegen besiegte Staaten zur Anwendung gebracht, erscheint also nicht als Gunst, sondern als Strafe.
Schon die antiken Schriftsteller wiesen voll Be-
3. Das Reich und die Einzelstaaten. 127
125 wundervmg darauf hin, wie freigiebig Eom im Ver- hältnis zu allen anderen Staaten ihrer Zeit mit der Verleihung seines Bürgerrechtes war, und sahen hierin einen der wichtigsten Gründe für die gewaltige Aus-
r. breitung und unerschütterhche Festigkeit seiner Macht. In dieser Beziehung hatten sie recht; doch ist das Lob, das sie deshalb der Weisheit der Eömer spendeten, ein unverdientes. Seit nicht mehr ein auf- geklärtes Königtum die Politik des Staates leitete, ist
10 das Patriziat, das damals ja noch das einzige Voll- bürgerrecht war, nur einer Familie, den Claudiern, bewilligt worden. Hierin steht Eom weit hinter Athen zurück, ja selbst Sparta ist nicht engherziger gewesen. Aber aus halbfreien KLenten, deren Väter Sklaven
15 gewesen waren, hatte sich eine zweite Klasse von Bürgern gebildet, auf die der stolze Patrizier mit tiefer Verachtung herabsah. Das Eecht dieser erbärm- lichen Plebs dünkte ihn so gering, daß die Verleihung desselben an eine besiegte Latinerstadt ihm als harte
20 Strafe des Aufruhrs erschien. Und nicht anders faßten sie die Unterworfenen auf. Wenn die Tuscu- laner Eömer wurden, so bedeutete dies den staathchen Tod ihres Gemeinwesens, also die größte Schmach und das tiefste Unglück, das ein antiker Mensch sich
25 nächst der Sklaverei denken konnte. Die Stadt, welche eben noch das mächtige Haupt des latinischen Bundes gewesen war, wurde jetzt ein unbedeutender Vorort desselben Eom, das sie erbittert bekämpft hatte. Vor- her hatten ihre Bürger sich selbst Gesetze gegeben
30 und auf ihrem Forum große Pohtik gemacht: jetzt durften sie zwar in der römischen Volksversammlung mitstimmen, doch dieses Eecht hatten sie schon früher besessen, da den Latinern durch ihre Verträge die Teilnahme an den Volksl^eschlüssen zustand. Zudem
128 ni. Die Verwaltung des Kelches.
trennte sie ein meilenweiter Weg von Kom, der ihnen 126 die stetige unmittelbare Beteiligung am öffentlichen Leben, wie sie der Stadtrömer übte, zur Unmöglichkeit machen mußte. Und wenn sie um einer wichtigen Entscheidung willen die lange Wanderung nicht 5 scheuten, so war ihr Einfluß auf das Ergebnis der Abstimmung verschwindend klein. Denn alle Tuscu- laner waren in dieselbe Tribus eingeschrieben, be- lierrschten also von den fünfundzwanzig Abteilungen, deren Mehrheit damals die Entscheidung gab, nur la eine einzige. Freilich besaßen sie in Rom die passive Wahlfähigkeit; aber wie konnte einer von ihnen darauf rechnen, daß er in den Comitien derselben Römer, gegen die er erst kürzlich die Waffen getragen hatte, jemals ein Amt erlangen werde? Nach dieser 15 Richtung sollten freilich ihre kühnsten Hoffnungen übertroffen werden: der Ständekampf trug sie schnell empor. Denn natürlich nahmen diese Mußrömer ihre Stellung auf selten der plebejischen Opposition, und deren Sieg führte schon nach wenigen Jahren einzelne 20 von ihnen auf den curulischen Stuhl. So versöhnten sich die Zwangsbürger allmählich mit ihrem plebe- jischen Recht, als dieses selbst im Werte stieg. Doch hinderte dies nicht, daß jene Freigiebigkeit mit dem Bürgerrecht auch ferner in Übung blieb. Sie war eben •2.> zur alten Gewohnheit geworden und behauptete sicli daher auch unter den neuen Verhältnissen. Daß Rom die Formen fand, um ein großes Reich zu beherrschen, hat es also in erster Linie dem Entstehen der Plebs zu verdanken. 3i>
Sogar die Kolonisten, die Rom selbst in die Fremde sandte, wollten anfangs von ihrem alten Bürgerrecht nichts mehr wissen. Trennten sie sich von der Mutterstadt, so verlangten sie auch, daß
3. Das Reich und die Einzelstaaten. 129
127 ihnen ein neues, selbständiges Gemeinwesen geschaffen werde, dessen Politik sie durch ihre Abstimmungen leiten könnten. Sie bildeten daher latinische Staaten, d. h. solche, die sich des Lateinischen als ihrer ofii- .-. ziellen Sprache bedienten und mit Rom ein gleich- artiges Bündnis schlössen, wie es den alten Latiner- städten aufgezwimgen war. Nur bei denjenigen Kolo- nien, die in Seehäfen tiusgeführt wurden, vermochte man es durchzusetzen, daß sie im römischen Bürger-
I" verbände bheben: doch mußte man ihnen dafür das wertvolle Eecht der Befreiung vom Kriegsdienst zu- gestehen. Einem Staate, der keine nennenswerte Flotte besaß und sich auf allen Seiten von starken Seemächten bedroht sah, konnte die Beherrschung der
10 Küste wichtig genug erscheinen, um ihm diese Ein- buße an tüchtiger Wehrkraft annehmbar zu machen. Gewiß hätte Eom auch diejenigen Kolonien, die es in das Innere Italiens ausschickte, gern zu Bürger- städten gemacht, wenn ihm dies ohne ein solches
- ' Zugeständnis möghch gewesen wäre. Denn während jene Seeplätze ilim immer treu geblieben waren, hatten die latinischen Kolonien in üirem Drange nach Unab- hängigkeit mit den Bundesgenossen, die sich gegen Roms Oberherrschaft auflehnten, regelmäßig gernein-
li-' same Sache gemacht. Doch weder konnte es auf die Kriegshüfe so vieler ansehnlicher Gemeinden ver- zichten, noch die Gründung binnenländi scher Pflanz- städte ganz unterlassen, da ihm diese meist als Zwing- burgen gegen unterworfene Volksstämme dienten. So ' gewährte man ihnen notgedrungen die Selbständig- keit, nach der sie verlangten, obgleich man sich nach 30 vielen Erfahrungen nicht verheimlichen konnte, daß sie höchst gefährhch war.
Bald nach dem zweiten punischen Kriege ändern s II 0
130 ni. Die Verwaltung des Reiches.
sich diese Verhältnisse. Im Jahre 183 v. Chr. werden 128 Parma und Mutina gegründet, die ältesten Bürger- kolonien des Binnenlandes, und 181 lassen sich zum letztenmal römische Bürger in eine latinische Kolonie ausführen. Seit Eom zur Weltmacht geworden ist, r, schätzen die Ansiedler sein Bürgerrecht höher, als die Selbständigkeit ihrer Gemeinde, und dann währt es nicht mehr lange, so beginnen die verbündeten Städte, denen man es vorher als Strafe aufgezwungen hatte, sich eifrig darum zu bewerben. Doch ehe wir die Gründe lo dieses Umschlags darlegen, müssen wir die Stellung der italischen Bundesgenossen noch etwas näher erörtern. Damals, wie zu allen Zeiten, unterschieden sich die verbündeten Staaten dadurch von den eroberten, daß ihre Souveränität unberührt blieb; nur mußten ir» sie auf die Ausübung derselben soweit verzichten, wie dies durch ihren Vertrag vorgeschrieben war. Dessen Bestimmungen konnten höchst verschieden sein je nach der Nationalität der Gemeinde, nach der Stellung, die sie unter ihren Nachbarstaaten einnahm, nach der 2'» Macht, über die sie verfügte, oder nach der Gelegen- heit, die zum Abschluß des Bündnisses geführt hatte. So wissen wir, daß Neapel nicht zur Hilfe im Land- kriege, sondern nur zur Stellung von Schlachtschiffen verpflichtet war. Im übrigen sind wir über den Inhalt 25 der Verträge wenig unterrichtet ; doch scheint es, daß, wie jene Griechenstadt, so auch die anderen fremd- sprachigen Gemeinden entweder gar nicht oder doch nur gelegentlich Heerfolge zu Lande leisteten. Als regelmäßige Helfer Eoms in allen seinen Kriegten n) erscheinen ausscliließlich die Latiner; denn nur mit diesen Bundesgenossen, die in Sprache, Bewaffnung und Kampfart mit den Römern übereinstimmten, konnte die Einheitlichkeit des Heeres gewahrt werden.
3. Das Reich und die Einzelstaaten. 131
129 So sind denn die Verträge, welche die einzelnen lati- nischen Städte mit Kom verbinden, zwar auch nicht ganz gleichförmig, al)er doch in der Hauptsache über- einstimmend. Im Laufe der Zeit müssen sie freilich
ö manche Veränderungen erlitten haben : denn jeder Abfall der Bundesgenossen führte zu einem neuen Vertrage, der anders und minder günstig für die Be- siegten sein mußte als diejenigen, welche ihm voraus- gegangen waren. Doch die Einzelheiten dieser Ent-
10 Wicklung können wir nicht mehr übersehen und be- gnügen uns daher, ihr Schlußergebnis mitzuteilen.
Für jede Stadt ist nach ihrer Größe eine Maximal- zahl von Kriegern angesetzt, die sie auf Forderung der römischen Konsuln zu stellen hat. Gewöhnlich
15 wird sie soweit in Anspruch genommen, daß die römischen Bürger die eine Hälfte der aufgebotenen Truppenmacht, die Latiner die andere bilden. Das Kontingent der einzelnen Gemeinde wird von ihren heimischen Beamten befehligt, die Gesamtheit der
20 Bundesgenossen von römischen Offizieren, den 'prac- fecti socium, welche die Konsuln ernennen. Sie haben das Recht, ihre latinischen Untergebenen körperlich züchtigen zu lassen und selbst die Todesstrafe über sie zu verhängen. Die Gesetzgebung und innere
25 Verwaltung der Städte ist frei, aber nicht unbeein- flußt. Denn in den Verfassungskämpfen, die keinem antiken Staate fremd geblieben sind, ist Rom der natürliche Schiedsrichter und kann es auf diese Art meist durchsetzen, daß die ihm genehme Partei am
30 Ruder bleibt. Der Römer besitzt in jeder latinischen Stadt alle Rechte des Einheimischen und ebenso der Latiner in Rom. Er darf hier sogar an den VollvS- versammlungen teilnehmen, in denen freilich sein Stimmrecht nicht von großer Bedeutung ist. Denn
132 in. Die Verwaltung des Reiches.
nur eine Tribus, die jedesmal vor dem Beginn der 130 Abstimmung ausgelost wird, muß alle Fremden auf- nehmen. Läßt aber ein Latiner sich dauernd in Eom nieder, so braucht er nur seine Einschreibung in die BQrgerliste zu beantragen und erwirbt dadurch s beim nächsten Census ohne jede Beschränkung die Rechte des römischen Plebejers,
Die letztgenannte Bestimmung, so günstig sie aussah, sollte doch für die Gemeinden der Latiner gefährlich werden. Die Vorteile und Genüsse, die das lo große Handelszentrum am Tiber seinen Bewohnern darbot, begannen allmählich das Heimatgefühl der Kleinstädter zu überwinden. Immer größer wurde die Zahl derjenigen, die auf die sieben Hügel über- siedelten und sich in dieCensusliste einschreiben ließen; 15 die Latinerstädte drohten zu veröden und konnten für den Krieg kaum mehr ihren vertragsmäßigen Zuzug stellen. Die gesetzlichen Maßregeln, durch die man diese Entwicklung aufzuhalten suchte, erwiesen sich als nutzlos, und eine Abänderung der Verträge, die 20 jene Freizügigkeit beseitigte, Avar nur durch beider- seitige Zustimmung möglich und ließ sich, wie es seheint, nicht durchsetzen. Als man daher im.. Jahre 268 V. Chr. die Kolonie Ariminum gründete, wurde das Bündnis mit ihr etwas anders gestaltet, als es 25 früher bei latinischen Gemeinden üblich gewesen war. Die Stadt war militärisch von großer Wichtigkeit; denn sie beherrschte die Straße, auf der die gallischen Raubscharen heranzuziehen pflegten. Um ihre Wehr- kraft zu erhalten, wurde ihr daher jenes Ansiedhmgs- so recht nicht mehr verliehen. Doch als Entschädigung erhielt sie den Vorzug, daß alle, die in ihr irgend ein Amt bekleidet und dadurch in den Stadtrat gelangt v\ aren, auch ohne sich in Rom niederzulassen, als
3. Das Reich und die Einzelstaaten. 133
181 römische Bürger gelten sollten. Bei den Mitgliedern des städtischen Senats war am wenigsten zu befürch- ten, daß sie ihrer Heimat den Eücken kehrten; denn dort waren sie die hochangesehenen Leiter des Staates,
5 während sie in Eom unter der namenlosen Plebs ver- schwunden wären.
Durch den Vertrag mit Ariminum wurde ein Grundsatz von hoher Wichtigkeit in das römische Staatsrecht eingeführt. Bisher hatte die Regel ge-
io gölten, daß keiner in zwei Städten Bürger sein könne. Wurde ein Latiner in die Censusliste eingetragen, so hörte damit sein Verhältnis zu seiner Heimatstadt voll- ständig auf, und die Angehörigen der Munizipien und Bürgerkolonien waren schlechtweg römische Bürger :
15 ihre Städte galten gar nicht als Städte im eigentlichen Sinne, sondern nur als Vorwerke der Hauptstadt. Ariminum dagegen blieb eine freie Gemeinde, die mit Rom nur durch ein ewiges Bündnis verknüpft war: trotzdem waren ihre Senatoren Römer und Ariminen-
20 ser zugleich. Hierin lag schon etwas wie ein Reichs- bürgerrecht, neben dem das Gemeindebürgerrecht un- geschmälert fortbestehen konnte, doch blieb es zu- nächst noch Ausnahme. Zwar gab man das ariminen- sische Recht allen latinischen Kolonien, die man später
2'. noch gründete; doch auf die älteren Latinerstädte wurde es nicht ausgedehnt. So blieb es auf eine geringe Zahl von Gemeinden beschränkt, um erst in der Kaiserzeit seine bedeutsamste Wirkung zu üben. Denn damals wurde es vielen außeritalischen Städten, ja
30 manchmal selbst ganzen Provinzen verliehen. Dies hatte erstens die Folge, daß die Staaten, die jetzt zu latinischen gestempelt waren, sich in ihrem ofjEiziellen Verkehr auch der lateinischen Sprache bedienen mußten, was alle mit Freuden taten: zweitens aber
134 ni. Die Verwaltung des Reiches.
ging ihre gesamte Aristokratie in die römische Bürger- 13t Schaft über und stellte so eine Brücke zwischen Italien und den Provinzen her. Und hatten sich dann auch die unteren Bevölkerungsklassen genügend romanisiert, was unter dem beherrschenden Einfluß der oberen 5 sehr schnell einzutreten pflegte, so wurden die Städte auch in ihrer Gesamtheit mit dem Bürgerrechte be- lohnt. Auf diese Weise gestaltete sich das ariminen- sische Recht zu einem höchst wirksamen Hilfsmittel für die Nivellierung des Eeiches, welche das Ziel der lo kaiserlichen Politik bildete.
Die Republik hatte sich noch nicht diese Aufgabe gestellt. Es war eine Aristokratie, die Rom be- herrschte, und ihren Tendenzen entsprach es, die aristokratische Gliederung in höher und minder Be- i5 rechtigte auch im Reiche bestehen zu lassen. Mit dem plebejischen Bürgerrecht war sie freigiebig gewesen, solange sie ihm noch keinen hohen Wert beilegte, und diese Gewohnheit hatte dann noch eine Zeitlang nach- gewirkt, auch nachdem ihre Gründe verschwunden 20 waren. Aber seit auch die Führer der Plebs in die Aristokratie eingetreten waren und ihre Nachkommen sich inuner mehr als Mitglieder eines herrschenden Standes fühlen lernten, wurde man allmählich spar- samer und das in um so höherem Grade, je lebhafter 2.s die abhängigen Staaten nach dem Bürgerrecht ver- langten und dadurch seine Bedeutung auch den führen- den Männern Roms zum Bewußtsein brachten.
Freilich sollte man glauben, daß wenigstens die Latiner kaum Grund gehabt hätten, nach Verände- 30 rungen begierig zu sein. Denn jeder einzelne von ihnen besaß ja in Rom alle bürgerlichen Rechte, mit einziger Ausnahme der Wählbarkeit zu den Staats- ämtern, und doch waren ihre Gemeinden als freie
o. Das Reich und die Eiiizelstaaten. 135
133 Bundesgenossen anerkannt, deren innere Verwaltung ihre volle Unal)hängigkeit bewahrte. Wenn trotzdem auch sie nach dem vollen Bürgerrechte drängten, so beruhte dies namentlich auf den folgenden zwei
5 Gründen.
Der römische Offizier durfte seine latinischen Untergebenen mit Eutenstreichen und selbst mit dem Tode bestrafen. Anfangs war ihnen auch dies mit den Eömern gemein gewesen. Denn das Provokations-
10 gesetz, nach dem der Vollzug körperlicher Strafen durch das Volk in seinen A^ersammlungen genehmigt werden mnßte, galt nur für den Umkreis der Stadt, nicht auch im Uelde. Aber im Anfang des zweiten Jahrhunderts war es auch auf das bürgerliche Kriegs-
1-, beer ausgedehnt worden, während der bundesgenös- sische Kämpfer nach wie vor dem Übermute der Offi- ziere gegenüber schutzlos blieb. Und dieser hatte sich in demselben Maße gesteigert, wie der römische Aristo- krat sich über den Latiner erhaben fühlte und in ihm
j I eine niedrigere Menschenart verachtete.
Vielleicht noch bedeutungsvoller war ein zweiter Grund. Die Machtsphäre Eoms hatte sich unterdessen fast über die ganze bekannte Welt ausgedehnt. Die meisten Staaten hatte es sich bedingungslos unter-
j:. worf en ; mit den übrigbleibenden waren Verträge ge- schlossen, in denen, so verschieden auch sonst ihr In- halt war, eine Bestimmung regelmäßig wiederkehrte: der Eömer erhielt auf dem Gebiete der verbündeten Stadt die unbeschränkte Möglichkeit von Kauf und
■•' Kontrakt und den vollen Eechtsschutz. Dasselbe wurde zwar in der Eegel auch ihren Bürgern in Eom gewährt, so daß beide Teile als gleichberechtigt erschienen; der Vorteil aber lag keineswegs gleich. Denn Eom stand mit unzählicjen Städten im Vertrags-
136 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Verhältnis, diese aber nicht untereinander; in der lU Regel war es sogar ausdrücklich bestimmt, daß sie kein zweites Bündnis schließen dürften, damit sie sich nicht gegen die römische Herrschaft vereinigten. Mithin konnten zwar sowohl der Messanenser als auch 5 der Praenestiner in Rom Handel und Wandel treiben, aber der Messanenser nicht in Praeneste und der Praenestiner nicht in Messana, während dem Römer die ganze Welt offen stand. Was das sagen will, wird man aus folgendem Beispiel wohl am deutlichst/en lo erkennen.
Centuripae, jetzt Centorbi genannt, ist ein dürftiges Xest südwestlich des Ätna, und nach seiner Lage, fern dem Meer und jeder größeren Handelsstraße, sollte man meinen, daß es niemals viel mehr bedeutet habe, is als noch heute. Auch hat es, solange Sizilien noch von Rom unabhängig war, nur Kupfermünzen geprägt und diese so spärlich, daß sich daraus auf eine höchst geringe Einwohnerzahl schließen läßt. Aber in den punischen Kriegen hatte seine Bürgerschaft das 211 Glück, den Römern irgend einen wertvollen Dienst zu leisten; es erhielt dafür das Privileg, daß jeder Centuripiner in allen untertänigen Gemeinden der Insel — denn über die freien konnte Rom selbst nicht in diesem Sinne verfügen — Grundbesitz erwerben 2:. dürfe. Der Erfolg war. daß die Stadt sieh zur reich- sten von ganz Sizilien erhob. Als später jenes Recht hinfällig wurde, ist sie bald wieder in ihren be- scheidenen Rang zurückgetreten. Wenn diese Ver- günstigung, auf eine einzige Provinz beschränkt und :!<• auch hier nicht ganz ausnahmslos geltend, derartige Folgen hatte, so kann man sich denken, wie die viel umfassendere Bevorzugung der römischen Bürger wirken mußte. In jeder Stadt treten Perioden ein,
o. Das Reich und die Einzelstaaten. 131
135 wo durch Mißernten oder finanzielle Krisen der Grund- besitz wohlfeil wird. Der Einwohner derselben Ge- meinde konnte in solchen Fällen nur ausnahmsweise die günstige Konjunktur benutzten, weil er von dem 5 allgemeinen Unglück in der Eegel mitbetroffen war: der Fremde dagegen, in dessen Heimat zur derselben Zeit bessere Verhältnisse herrschten, konnte dann sehr billig wertvolle Güter erstehn, wenn er nur das Eecht dazu besaß. Wie sich auf diese Weise der Grundbesitz
10 der Centuripiner über ganz Sizilien verbreitet hatte. so der römische über das ganze Reich.
Es ist also wohl begreiflich, daß den Latiner- städten diese Vorteile lockend genug erschienen, um ihretwegen auf ihre Selbständigkeit zu verzichten.
1-5 um so mehr, aLs diese durch die römische Oberherr- schaft sehr an Wert verloren hatte. Und in Italien gab es ja nicht nur latinische Xichtbürger; zahlreiche Gemeinden, wie die saninitischen und die bruttischen. die mit noch größerer Hartnäckigkeit als die andern
20 Sich gegen das römische Joch aufgelehnt hatten, waren zu einer viel schlechteren Eechtsstellung herab- gedrückt. So kam es denn im Jahre 90 v. Chr. zu dem Bundesgenossenkriege, in dem sich ganz Italien das römische Bürgerrecht erkämpfte. Die freien
25 Städte, namentlich die latinischen, erhielten es in der Weise, daß sie zu Munizipien gemacht wurden; was früher Strafe gewesen war, hatte sich jetzt in eine Wohltat verwandelt. Wahrscheinlich ist es diese große und plötzliche Vermehrung der Bürgerstädte gewesen.
30 die in ihrer Verfassung eine bedeutsame Änderung herbeiführte.
Die Munizipien und Bürgerkolonien der älteren Zeit besaßen zwar eigene Beamten, doch kamen diesen nur administrative und polizeiliche Kompetenzen,
138 in. Die Verwaltung des Reiches.
keine richterlichen zu. Die Bürger der nahe gelegenen, 1^ wie Ostia und Tusculum, mußten ihre Prozesse in Kom führen; in die entfernteren schickten die Praetoren alljährlich junge Eömer als Stellvertreter (praefecti), um in ihrem Namen Eecht zu sprechen. Dies ging .> an, solange es nur wenige Bürgerstädte gab; seit sie nach Hunderten zählten, konnte man das nötige Richterpersonal nicht mehr aufbringen. Man muß sich eben erinnern, daß Eom damals schon alle Pro- vinzen mit Beamten zu versorgen hatte und doch noch lo einen ansehnlichen Teil seines nicht sehr zahlreichen Adels daheim behalten mußte, um die städtischen Geschäfte zu besorgen und den Senat beschlußfähig zu erhalten. Zudem hatte sich die Selbstverwaltung der latinischen Gemeinden so bequem erwiesen, daß i5 man eher Grund hatte, sie auch auf andere Stadt« auszudehnen, als sie jenen zu rauben. So gewährte man denn allen Munizipien und Kolonien eigene Gerichtsbarkeit, die nur durch eine ziemlich hohe Maximal summe beschränkt wurde; überstieg das Pro- 20 zeßobjekt den Wert ^derselben, so hatte man sich nach Eom zu wenden, das auf diese Weise das Prinzip seiner höchsten Gerichtshoheit den Bürgerstädten gegenüber aufrecht erhielt. Doch hinderte nichts die streitenden Parteien, sich dahin zu einigen, daß sie 25. auch bei Prozessen von größerer Bedeutung an Stelle des gesetzlichen Eichters sich an einen Schiedsrichter wandten, wozu sie dann ihre heimischen Beamten wählen konnten. Jene Stellvertretung der Praetoren blieb nur für solche Ortschaften bestehen, die weder 30 selbst Stadtrechte erhielten noch dem Gebiete einer anderen Stadt zugeteilt waren. Da später bei ihnen allen das eine oder das andere eintrat, verschwanden die Praefecturen schon im Anfange der Kaiserzeit,
o. Das Reich und die Einzelstaaten. 139
l'il und ganz Italien zerfiel in Stadtgebiete, die alle nach Muuizipalrecht verwaltet wurden.
Wir haben die städtische Entwicklung Italiens ausführlich behandelt, weil sie für die provinziale vor-
5 bildlich wurde; bei dieser können wir uns kürzer fassen. Auch diejenigen Provinzen, welche Rom sich zuerst unterwarf, hatten vorher keine einheitlich ge- schlossenen Eeiche gebildet, sondern zerfielen in eine Menge von Kleinstaaten, die untereinander in wildem
10 Hader lagen. So fanden die Römer nirgend ein- mütigen Widerstand, sondern überall schlössen sich ihnen einzelne Staaten an, um mit ihrer Hilfe ihre alten Gegner niederzuwerfen. Dies wirkte auch auf die Organisation der eroberten Länder ein. Denn natürlich
In konnte man den Bundesgenossen, der in dem ent- scheidenden Kriege wertvolle Dienste geleistet hatte, nicht ebenso behandeln wie den besiegten Feind. Da die Verträge der Alten meist auf ewige Dauer ge- schlossen wurden, blieben die Bündnisse auch nach
20 dem Ende des Kampfes bestehen; sie waren durch heilige Eide bekräftigt und standen so unter dem Schutze der Götter, deren Zorn der Bundbrüchige zu scheuen hatte; nur nach beiderseitigem Überein- kommen durften sie abgeändert werden. So blieben
. denn die verbündeten Staaten formell Rom gleich- berechtigt, auch nachdem das umliegende Land zur Provinz geworden war. Trotzdem gehörten auch sie zum imperium Romanum; denn dem Gebote des über- mächtigen Bundesgenossen mußten sie sich fügen,
30 und taten sie es nicht, so ließ sich dies zum Ver- tragsbruch stempeln, der sie aller ihrer Vorrechte beraubt hätte. Doch hatten sie nur die vereinbarte Kriegshilfe zu leisten, und auch diese wurde selten in Anspruch genommen. In ihrer Gesetzgebung und
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III. Die Verwaltunsj des Reiches.
inneren Verwaltung waren sie frei, zahlten keine Tri- 138 bute und brauchten dem römischen Statthalter nicht weiter zu gehorchen, als im Vertrage ausdrücklich vor- geschrieben war. Wenn er sich Übergriffe erlaubte, so waren das Eechts Verletzungen, über die man sich 5 in Eom beschweren konnte; in der Eegel zog man es freilich vor, sie schweigend zu dulden.
Den verbündeten Staaten fast gleichberechtigt waren die freien. Auch sie hatten sich um Eom in irgend einer Weise verdient gemacht und unterschieden m sieh von jenen nur dadurch, daß ihre bevorzugte Stel- lung nicht auf Vertrag, sondern auf freiem Gnaden- geschenk des römischen Volkes beruhte, also auch einseitig verändert werden konnte. Aber so wichtig dies theoretisch war, praktisch kam es nicht in i.-> Betracht. Denn ein freier Staat wurde nicht leicht seiner Eechte beraubt, ohne daß er sich irgend etwas hätte zuschulden kommen lassen ; ein Vergehen gleicher Art konnte aber auch bei dem verbündeten als Vertragsbruch gedeutet w^erden, der Eoms Ver- 20 pfliehtungen aufhob. Wir werden daher im Aveiteren Verlauf unserer Darstellung zwischen diesen beiden Klassen keinen Unterschied mehr machen, sondern alle Staaten, die keine Tribute zu entrichten hatten und der Gerichtsbarkeit des Statthalters entzogen 2.^ wareji, unter der gemeinsamen Bezeichnung der freien zusammenfassen.
Im Gegensatze zu ihnen standen die untertänigen, die mit des Schwertes Schärfe erobert waren oder sich auf Gnade und Ungnade hatten unterwerfen 3i> müssen. Man pflegte sie jetzt weder zu versklaven, wie dies in den ältesten Zeiten Eoms üblich gewesen war, noch ihnen das Bürgerrecht aufzudrängen, wie Tusculum und den übrigen abgefallenen Latinerstädten.
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3. Das Reich und die Einzelstaat-en.
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1;J9 Jenes verboten die milderen Sitten einer weiter vor- geschrittenen E|)oche, dieses die höhere Schätzung des Bürgerrechtes, die seitdem eingetreten war. So hielt man denn an dem uralten Satze des Kriegsrechts
5 fest, daß die unterworfenen Staaten mit ihren Ein- wohnern und aller beweglichen und unbeweglichen Habe in das Eigentum des römischen Volkes über- gegangen seien, brachte ihn aber nur in der folgenden, sehr milden Weise zur Geltung. Bei Privatsklaven
lu war es nicht selten, daß ihr Herr sie gegen Erlegung" eines festen Jahreszinses in tatsächlicher Freiheit leben und auf eigene Rechnung irgend ein kleines Gewerbe betreiben ließ, ohne daß sie dadurch auf- hörten, Sklaven zu sein. Nach Analogie dieses Eechts-
15 Verhältnisses verfuhr man gegen die Bewohner er- oberter Städte. Sie waren zu Sklaven des römischen Staates geworden; doch kam dies nur in einer mäßigen Kopfsteuer zmu Ausdruck; in ihre Privat- verhältnisse griff man nicht weiter ein. Auch ihr
■20 Grundbesitz wurde nicht angetastet, obgleich er for- mell zum ager publicus Roms geworden war; doch ließ man ihn seinen früheren Herren gegen eine nicht sehr hohe jährliche Zahlung in Geld oder Naturalien, die rechtlich als Pacht galt, tatsächlich von einer
25 Grundsteuer in nichts verschieden war. Denn auch die freie Veräußerung des einzelnen Grundstücks hinderte sie nicht, da sie als dingliche Last an ihm haftete und mit ihm auf den neuen Besitzer überging. Und wie die Untertanen in ihren privaten Verhältnissen
30 nur dadurch von den Bürgern der freien Staaten ver- schieden waren, daß sie nach Rom Kopf- und Grund- steuer zahlten, so näherten sie sich ihnen auch in ihren staatlichen Rechten. Das Gebiet, das ein römischer Prokonsul unter sich hatte, war viel zu
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140 ni. Die Verwaltung des Reiches. i
inneren Verwaltung waren sie frei, zahlten keine Tri- 138 bute und brauchten dem römischen Statthalter nicht weiter zu gehorchen, als im Vertrage ausdrücklich vor- geschrieben war. Wenn er sich ÜbergrifEe erlaubte, so waren das Eechtsverletzungen, über die man sich r> in Eom beschweren konnte; in der Regel zog man es freilich vor, sie schweigend zu dulden.
Den verbündeten Staaten fast gleichberechtigt waren die freien. Auch sie hatten sich um Eom in irgend einer Weise verdient gemacht und unterschieden u< sich von jenen nur dadurch, daß ihre bevorzugte Stel- lung nicht auf Vertrag, sondern auf freiem Gnaden- geschenk des römischen Volkes beruhte, also aucli einseitig verändert werden konnte. Aber so wichtig dies theoretisch war, praktisch kam es nicht in i". Betracht. Denn ein freier Staat wurde nicht leicht seiner Eechte beraubt, ohne daß er sich irgend etwas hätte zuschulden kommen lassen ; ein Vergehen gleicher Art konnte aber auch bei dem verbündeten als Vertragsbruch gedeutet werden, der Eoms Ver- -2" pflichtungen aufhob. Wir werden daher im weiteren Verlauf unserer Darstellung zwischen diesen beiden Klassen keinen Unterschied mehr machen, sondern alle Staaten, die keine Tribute zu entrichten hatten und der Gerichtsbarkeit des Statthalters entzogen 2.-. waren, unter der gemeinsamen Bezeichnung der freien zusammenfassen.
Im Gegensatze zu ihnen standen die untertänigen, die mit des Schwertes Schärfe erobert waren oder sich auf Gnade und Ungnade hatten unterwerfen 3» müssen. Man pflegte sie jetzt weder zu versklaven, wie dies in den ältesten Zeiten Eoms üblich gewesen war, noch ihnen das Bürgerrecht aufzudrängen, wie Tusculum und den übrigen abgefallenen Latinerstädten.
3. Das Reich und die Einzelstaaten. 141
l'^ Jenes verboten die milderen Sitten einer weiter vor- geschrittenen Epoche, dieses die höhere Schätzung des Bürgerrechtes, die seitdem eingetreten war. So hielt man denn an dem m-alteu Satze des Kriegsrechts 5 fest, daß die unterworfenen Staaten mit ihren Ein- wohnern und aller beweglichen und unbeweglichen Habe in das Eigentum des römischen Volkes über- gegangen seien, brachte ihn aber nur in der folgenden, sehr milden Weise zur Geltung. Bei Privatsklaven
10 war es nicht selten, daß ihr Herr sie gegen Erlegung eines festen Jahreszinses in tatsächlicher Freiheit leben und auf eigene Eechnung irgend ein kleiiies Gewerbe betreiben ließ, ohne daß sie dadurch auf- hörten, Sklaven zu sein. Nach Analogie' dieses Eechts-
15 Verhältnisses verfuhr man gegen die Bewohner er- oberter Städte. Sie waren zu Sklaven des römischen Staates geworden; doch kam dies nur in einer mäßigen Kojof Steuer zum Ausdruck; in ihre Privat- verhältnisse griff man nicht weiter ein. Auch ihr
■20 Grundbesitz wurde nicht angetastet, obgleich er for- mell zum ager publicus Eoms geworden war; doch ließ man ihn seinen früheren Herren gegen eine nicht sehr hohe jährliche Zahlung in Geld oder Xaturalien. die rechtlich als Pacht galt, tatsächlich von einer
25 Grundsteuer in nichts verschieden war. Denn auch die freie Veräußerung des einzelnen Grundstücks hinderte sie nicht, da sie als dingliche Last an ihm haftete und mit ilim auf den neuen Besitzer überging. Und wie die Untertanen in ihren privaten Verhältnissen
30 nur dadurch von den Bürgern der freien Staaten ver- schieden waren, daß sie nach Eom Kopf- und Grund- steuer zahlten, so näherten sie sich ihnen auch in ihren staatlichen Eechten. Das Gebiet, das ein römischer Prokonsul unter sich hatte, war viel zu
142 ni. Die Verwaltung des Reiches.
groß, als daß er alle Kleinigkeiten der Verwaltung HO selber hätt« besorgen können, und ein wohlgeschultes Personal von Subalternen stand ihm damals noch nicht zur Seite. Es blieb also kaum eine andere Möglichkeit, als daß man die unterworfenen Staaten sich selbst verwalten ließ. Sie behielten daher meist ihr Gebiet und ihre Verfassung, wählten sich ihre Beamten selbst und faßton Beschlüsse in ihren Volks- versammlungen. Freilich blieb den römischen Obrig- keiten das Eecht, nach Belieben einzugreifen; doch dies taten sie auch bei den freien Staaten, obgleich sie hier kein Eecht dazu hatten. Der wesentlichste Unter- schied lag darin, daß in den freien die Eechtsprechung von den Magistraten des Einzelstaates besorgt wurde, in den untertänigen von den römischen Prokonsuln; ir, aber auch dies ließ sich in derselben Weise umgehen, wie in den italischen Munizipien, indem die Parteien sich auf einen Schiedsrichter einigten und sich zur Erlegung einer hohen Pönalsumme verpflichteten, wenn sie gegen den Spruch desselben den Prokonsuln 20 anriefen. Da solchen Verträgen nach römischem Eecht volle Gültigkeit zukam, mußte dieser selbst, falls er ehrlich war, denjenigen, welcher an ihn appel- liert hatte, in die verabredete Buße verurteilen. In der Kaiserzeit dürfte wohl auch den untertänigen Staaten 25 eine beschränkte Gerichtsbarkeit nach dem Muster der Mimizipien verliehen sein, wie ja nach allen Eich- tungen hin eine Angleiehung der Provinzen an Italien erstrebt wurde.
Wir haben schon ol>en darauf hingewiesen, in ao welchen Formen sie sich vollzog. Einerseits wurden aus allen Gauen wilder Völkerschaften und aus allen monarchischen Staaten nach und nach Städte gebildet, deren Verfassungen jener aristokratischen Eepublik,
3. Das Reich uad die Einzelstaaten. 143
141 wie sie in Rom bestanden hatte, mehr oder weniger entsprachen. Anderseits suchte man ihr rechtliches Verhältnis zum Eeiche möglichst auszugleichen, was ebensowohl die Herabdrückung der bevorzugten
5 Staaten, wie die Hebung der zurückgesetzten in sieh schloß. Um jene ihrer Freiheit zu berauben, auch wenn sie unter dem religiösen Schutze eines Vertrages stand, boten die Xachbarzwiste, von denen wir oben geredet haben, wohl die gewöhnlichste Handhabe
10 dar. Denn da die Bundesgenossen Roms alle auf das Recht eigener Kriegführung hatten verzichten müssen, konnten jene blutigen Raufereien der feindlichen Städte nicht mit Unrecht als Vertragsbruch aufgefaßt werden. So sind die freien Gemeinden Griechenlands
15 wegen der Kleinkriege, die sie sich in der Verwirrung des Dreikaiser Jahres geleistet hatten, von Vespasian für untertänig erklärt worden, und Ähnliches wird auch sonst vorgekommen sein. Derartige Strafen hatten allerdings nicht immer Bestand, weil die lau-
20 nische Gunst einzelner Kaiser nicht viel seltener Privi- legien verlieh, als ihr Zorn sie vernichtete. Aber eben dieses Schwanken zwischen Freiheit und Untertänig- keit raubte der Stellung der Gemeinden jene feste rechtliche Grundlage, die sie in republikanischer Zeit
25 besessen hatte, und ließ sie als eine willkürliche er- scheinen, die man nach den Forderungen der Staats- raison oder auch aus Gründen persönlicher Vorliebe und Abneigung beliebig ändern könne. Bei den häufigen Finanznöten des Reiches wird man jedenfalls
30 annehmen können, daß die Städte, denen man neue Tribute auflegte, im allgemeinen zahlreicher waren als diejenigen, welchen man alte erließ.
Die untertänigen Gemeinden beschenkte man, wie wir schon gesehen haben, erst mit dem latinischen
] 44 in. Die Verwaltung des Reiches.
Recht von Ariminum, und wenn dieses seine Wirkung 142 geübt hatte, mit dem Bürgerrecht ; doch konnten beide nur mit einer wichtigen Einschränkung verliehen werden. Der römische Bürger zahlte seit dem Ende des zweiten makedonischen Krieges (168 v. Chr.) -, keine direkte Steuern mehr; die Latiner aber waren Bundesgenossen und als solche von Tributen frei. Da sich dies nicht auf diejenigen Städte ausdehnen ließ, deren Leistungen bisher die Grundlage der Reichs- finanzen gebildet hatten, konnte man ihnen ihre neue lo Stellung nur unbeschadet der früheren Steuerpflicht anweisen. So blieben, auch als Caracalla alle freien Einwohner des Reiches zu römischen Bürgern ge- macht hatte, doch noch wesentliche Reste der alten R/echtsungleichheit bestehen, die sich aber jetzt nur i5 noch auf das Gebiet des Steuerwesens beschränkten. In Rom selbst trug man nur die nicht sehr drückenden indirekten Steuern, deren Erträge im Verhältnis zu den Bedürfnissen des Reiches sehr gering waren. Was die Stadt aufbrachte, reichte noch 20 lange nicht für ihre eigenen Ausgaben, von denen des Kaisers und seiner Heere ganz zu geschweigen. Die prächtigen Bauten, mit denen fast jeder Herrscher ein Andenken seiner Regierung in der Welthauptstadt zu hinterlassen strebte, die Spiele undVolksvergnügungen, 25 vor allem die Kornverteilungen, durch welche die lungernde Menge erhalten wurde, verschlangen einen höchst ansehnlichen Teil dessen, was die Provinzen einbrachten. Rom hatte sie unterworfen und meinte daher, jetzt ein wohlbegründetes Anrecht auf den Er- so trag der blutigen Kämpfe zu haben, die es in früheren Jahrhunderten hatte ausfechten müssen. Und kein Bürger des Reiches fand diesen Anspruch ungerecht; er wurde aufrecht erhalten und befriedigt, selbst als
3. Das Reich und die Einzelstaawn. 145
Hg die Kaiser ihre Eesideiiz nicht mehr in Eom hatten, wenn auch nicht in so verschwenderischer Weise wie früher. In dieser Beziehung dauerte die Unterwerfung des Weltkreises unter eine Stadt auch im vierten Jahr- 5 hundert fort und \\'urde von den Unterworfenen seihst freudig anerkannt, seit auch sie sich römische Bürger nennen durften.
Italien und diejenigen Städte der Provinzen, die ihm durch kaiserliche Gnade gleichgestellt oder his
10 auf Caracalla frei geblieben waren, trugen vor Dio- cletian zu den Ausgaben des Reiches gleichfalls nur durch indirekte Steuern bei; doch konnten sie der direkten wohl nicht immer entbehren. Denn darin standen sie hinter Rom zurück, daß sie für ihre
15 städtischen Bedürfnisse aus eigenen Mitteln zu sorgen hatten. Wie die Bundesgenossen früher als politisch unabhängig gegolten hatten, so blieben ihre Nach- kommen finanziell unabhängig, obgleich sie unter- dessen römische Bürger geworden waren.
■20 Die dritte und zahlreichste Gruppe, die aus den
untertänigen Staaten hervorgegangen war, trug so- wohl die Lasten des Reiches und der Hauptstadt, als auch die des eigenen Gemeinwesens. Daß die einzelne Stadt, die dem Kaiser und seinem Heere ihren Schutz
25 vor barbarischen Plünderungen verdankte, auch zum Unterhalt dieser Verteidiger das ihrige beitrug, hätte keiner ungerecht finden können, wären nicht so viele Städte von dieser Pflicht befreit gewesen, die da- durch um so schwerer auf den übrigbleibenden
•w drückte. Auch dies aber war durch Jahrhunderte- langen Brauch so zur Gewohnheit geworden, daß jeder es natürlich fand, bis der kühne Geist Diocletians auch auf diesem Gebiete die Urvätersitte über den Haufen warf.
s II 10
146 III. Die Verwaltung des Reiches.
Aus den Stadtbürgern waren Reichsbürger ge- 144 worden, doch wäre es für das Reich wie für die Städte ein GKick gewesen, wenn sie zugleich Stadtbürger in der alten Weise hätten bleiben können. Aber jener hingebende Bürgersinn, der den Mann mit allem, was 5 er konnte und besaß, in den Dienst seines Gemein- wesens stellte, hatte nur in der abgeschlossenen Enge der Stadtstaaten gedeihen können und erlahmte mehr und mehr, als sie sich zu gleichberechtigten Teilen eines Weltstaates entwickelten. Wie die Nachbar- lo kriege aus den uralten Zeiten voller Freiheit und Un- abhängigkeit sich noch unter der Kaiserherrschaft in jenen lächerlichen Städtefehden fortsetzten, obgleich jeder vernünftige Grund für sie geschwunden war, so blieben freilich noch starke Reste jenes alten Bürger- i"> Sinnes bis in späte Zeit erhalten. Doch besaßen sie nicht mehr die Kraft, um dem Sturme von Gewalt- tätigkeiten, der mit den diocletianischen Neuerungen über sie hereinbrach, auf die Dauer standzuhalten.
Viertes Kapitel.
Die Verwaltung der Städte.
145 Als einst Sparta und Athen ihren großen Streit um die Fülirung der Hellenen ausfochten, da fielen die Entscheidungen nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch in den Parteikämpfen, die das Innere
ö jeder griechischen Stadt erfüllten. Denn stets waren die Demokraten athenisch gesinnt, die Aristokraten spartanisch, und ob die einen oder die andern ihre Prinzipien durchzusetzen vermochten, das pflegte da- rüber zu entscheiden, welchem der beiden Gegner ihre
10 Stadt sich anschloß. Dies ist typi.sch für die Ent- wicklung aller Staatensysteme der antiken Welt: über- all griffen innere und äußere Politik ineinander über, und je nachdem die Verfassungen zweier Staaten über- einstimmten oder sich widersprachen, standen sie sich
15 sympathisch oder antipathisch gegenüber. Auch für die Römer, solange sie ihre Herrschaft noch meist in der Form des Bündnisses ausdehnten, mußte" es daher von Wichtigkeit sein, daß diejenigen Staatswesen, über die sie Einfluß gewannen, sich ihrem eigenen
20 anähnelten. Doch sind sie dabei niemals Prinzipien- reiter geworden und in öde Gleichmacherei verfallen; dies hätte schon ihr tief gewurzelter Respekt vor dem Überlieferten nicht geduldet. Am schonendsten
148 ni. Die Verwaltung de« Rdche^.
verfuhr man gegen die griechischen Staaten, die auf 146 große historische Erinnerungen zurückblicken konnten ; denn diese waren auch den Römern teuer, weil sie ja ihren Geist vorzugsweise an den Werken der grie- chischen Literatur genährt hatten. Die spartanische 3 Verfassung, die Piaton undXenophon gepriesen hatten, die athenische, aus der die Eeden des Demosthenes erwachsen waren, hätte keiner ihrer Politiker vor- witzig anzutasten gewagt, und auch in Städten von geringerem Ruhme begrüßten die römischen Herren id es mit pietätvoller Freude, wenn ein Einheimischer sie auf Institutionen aufmerksam machte, die sich noch aus grauer Vorzeit erhalten hatten. Man änderte daher nicht leicht mehr, als man ändern mußte ; haben doch sogar despotische Monarchien sich Jahrhunderte- i5 lang innerhalb des römischen Reiches behaupten können, dafern nur ihre Herrscher, was Rom befahl, treu imd eifrig zur Ausführung brachten. Nach und nach aber schwanden diese Anomalien, und wenn auch in den Formen der Verfassungen eine verwir- 2i> rende Mannigfaltigkeit erhalten blieb, in ihrem Wesen wurden sie unter dem Einfluß der gemeinsamen Ober- herrschaft so ziemlich gleich.
Wie in Rom selbst, ehe es der kaiserlichen Allein- herrschaft verfiel, so ist auch in den abhängigen 25 Städten die Macht unter drei Faktoren verteilt, die Magistratur, den Rat und die Volksversammlung. An dieser können alle Bürger teilnehmen, die das er- forderliche Alter erreicht haben und im Besitze der Ehrenrechte sind. Sie gilt als der eigentliche Souverän so und entscheidet durch ihre Abstimmungen die wich- tigsten Fragen der Politik und Verwaltung, soweit die römischen Behörden sie nicht ihrer eigenen Ver- t'ii>nin<2- vorbehalten oder doch die Gültigkeit der Be-
4. Die Verwaltung der Städte. 149
147 schlösse von ilirer Zustimmung abhängig gemacht haben. Vor allem aber wählt das Volk die Beamten, die regelmäßig nicht länger als ein Jahr ihre Stellung behaupten. Sie sind die ausführenden Organe des 5 Gre mein Wesens, dürfen aber keine Entscheidung fällen, die über den Kreis der gewöhnlichen Tagesgeschäfte hinausgeht, ohne vorher den Rat zu befragen. In diesem bilden den Grundstock die abgetretenen Magi- strate, die so mit den Erfahrungen, die sie während
10 ihrer Amtsführung gesammelt haben, ihre Nachfolger unterstützen. Sitz und Stimme in der leitenden Körperschaft bleibt ihnen lebenslänglich, ja in ge- wissem Sinne kann man fast sagen, daß sie erblich sind. Denn die Mitglieder besitzen in der Regel ge-
15 nügenden Einfluß, um es durchzusetzen, daß auch ihre Söhne zu Beamten gewählt werden und dadurch in den Rat gelangen. So bildet dieser den demokra- tischen Volksversammlungen gegenüber ein konser- vativ-aristokratisches Element und Ijewahrt durch
20 seine gleichbleibende Zusammensetzung unter den wechselnden Beamtenkollegien die Traditionen der Vergangenheit.
Dies sind die Grundzüge, die in fast allen Städten des Kaiserreiches wiederkehren. Ein noch genaueres
25 Abbild des republikanischen Rom aber bieten die- jenigen, welche durch die Zentralgewalt gegründet sind oder doch ihre Verfassungen von ihr erhalten haben, d. h. die Kolonien und Munizipien. Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob sie bürgerlich
30 oder latinisch, ob vor oder nach Augustus entstanden sind; nur Einzelheiten sind dadurch verändert worden, das Hauptschema bleibt immer das gleiche. Den latei- nischen Reichsteil beherrscht es fast ausschließlich, weil die römische Eroberung hier überall auf bar-
150 ni. Die Verwaltung des R«iches.
barische Völkerschaften gestoßen Avar, denen man ihre 148 Städte erst hatte schaffen müssen, und auch in den griechischen Osten ist es durch die Militärkolonien der Kaiserzeit verpflanzt worden. Freilich bleibt es hier ebenso Ausnahme, wie im Westen die Städte ■> von alter und deshalb eigentümlicher Verfassung. Aber auch auf diese hat es seinen Einfluß ausgeübt, und je mehr das Reich sich dem Untergange nähert, desto ähnhcher werden sich alle seine Gemeinden auch in den äußeren Formen ihrer Verwaltung. Es wird lo flaher angemessen sein, dieses Normalschema hier otM'as genauer darzustellen, wobei wir uns nur an die gemeinsamen Züge halten und von den Abweichungen, die sich bald hier, bald da nachweisen lassen, ganz absehen werden. 15
Die ansässige Bevölkerung der Stadt zerfällt, auch • von den Sklaven abgesehen, in einen regierenden und einen regierten Teil. Den ersteren bilden die Stadt- l)ürger, die von Bürgern entweder abstammen oder rechtsgültig freigelassen sind; ausnahmsweise verleiht 20 auch die Volksversammlung auf Antrag der Beamten das Bürgerrecht, doch geschieht das nur bei solchen, die sich Verdienste um die Gemeinde erworben haben. Die Regierten scheiden sich wieder in zwei Gruppen. Die eine bilden diejenigen, welche man technisch die 25 Attribuierten nennt, wilde Völkerschaften, die Rom einer zivilisierten Stadt als Untertanen zugewiesen hat, um sie durch deren Magistrate in Ordnung halten zu lassen. Während diese Klasse sich nur in solchen Gegenden findet, wo Barbarei und hohe Kultur sich m anmittelbar berühren, ist die andere über das ganze Reich zersti'eut. Es sind die sogenannten Incolae, d. h. Leute, die nicht das Bürgerrecht der Gemeinde besitzen, in der sie wohnen, zum größten Teil also
4. Die Verwaltung der Städte. 151
14a zugewanderte Fremde und deren Nachkommen. Ihre private Kechtsfähigkeit richtet sich nach der Stelkmg, die sie innerhalb des Eeiches einnehmen; der römische Bürger, in der Kaierzeit auch der Latiner, geniei3t den :, gleichen Eechtsschutz, wie der Gemeindebürger; wer jenen bevorzugten Klassen nicht angehört, steht unter dem beschränkteren Fremdenrecht, selbst wenn seine Vorfahren schon seit mehreren Generationen in der Stadt ansässig sind. Er ist eben Bürger derjenigen
10 Gemeinde, aus der sie eingewandert sind, falls sich die- selbe noch nachweisen läßt; im anderen Falle gilt er als heimatlos. Dies Rechtsverhältnis hat dem Evan- gellsten vorgeschwebt, wenn er Joseph, den Gatten der Maria, obgleich er schon lange in Nazareth haust,
1.-. doch kraft seiner Abstammung von David Bethlehem als „seine Stadt'' betrachten läßt. Politische Eechte fehlen dem Attribuierten ganz; der Incola besitzt, aber nur falls er römischer Bürger oder Latiner ist, ein beschränktes Stimmrecht in den Volksversammlungen ;
2n in den Rat und zu den Stadtämtern kann nur der Gemeindebürger gewählt werden. An den kommunalen Lasten dagegen haben alle drei Gruppen, soweit nicht einzelne ihrer Mitglieder durch persönliche Privilegien geschützt sind, den gleichen Anteil.
25 In der Volksversammlung entschied, wie in Rom,
nicht die Majorität der Köpfe, sondern der Stimm- abteilungen, die bald Curien, bald Tribus hießen. Nur eine davon, die jedesmal ausgelost wird, steht jenen bevorzugten Incolae offen. In geheimer Abstimmung
3« entscheidet das Volk über die Fragen, welche die höchsten Beamten ihm vorlegen; denn nur diese .sind befugt, es zu berufen und Anträge zu stellen. Unter ihrem Vorsitz werden auch ihre eigenen Nach- l'olger und die übrigen Magistrate alljährlich gewählt,
152 III- Die Verwaltung des Reiches.
und sie sind berechtigt und verpflichtet, jeden Kandi- ir»ft daten, der den gesetzHchen Anforderungen nicht ent- spricht, aus eigener Machtvollkommenheit zurück- zuweisen. Diese waren je nach Zeit und Ort ver- schieden, immer aber wurde persönliche Unbescholten- 5 heit und ein Vermögen verlangt, das genügte, um für die Gemeindegelder, die durch die Hände des Be- amten gingen, ausreichende Bürgschaft zu leisten. Als niedrigste Summe werden 100 000 Sesterzen, das sind 20 000 Mark, genannt ; doch mag in sehr kleinen 10 Städten der Satz auch bescheidener gewesen sein.
Jedes Amt wird gleichzeitig von zwei Männern verwaltet, die ganz dieselbe Kompetenz haben und nur deshalb nebeneinander gestellt sind, damit jeder das Publikum vor der Willkür des andern schützen 15 könne; denn kei-ner kann eine Amtshandlung gültig vollziehen, wenn sein Kollege oder ein höherstehender Magistrat dagegen Einspruch erhebt. Die Gerichts- barkeit und Verwaltungshoheit liegen in den Händen eines Paares, das den römischen Konsuln nachgebildet 21) ist. Doch hielt die Welthauptstadt es für unschicklich, wenn abhängige Kleinstädte sich derselben Namen bedienten, mit denen sie ihre höchsten Obrigkeiten bezeichnete. Wie die munizipalen Senate sich ordo, ihre Mitglieder decuriones nennen mußten, so er- 2-5 hielten auch jene Konsuln den anspruchsloseren Titel von Zweimännern für die Eechtsprechung (dvoviri iure dicundo). Diese besaßen nach jeder Eichtung hin die oberste Leitung ihrer Stadt; sie vertraten die- selbe Eom und seinen Beamten gegenüber, verfügten 30 über die städtischen Gelder und richteten über Bürger, Attribuierte und Incolae, soweit nicht die Höhe des Prozeßgegenstandes oder ein persönliches Privileg der verklagten Partei die Sache an den Statthalter zu
4. Die Verwaltung der Städte. 153
151 bringen zwang. Jedes fünfte Jahr besaßen sie außer- dem zensorische Gewalt, erneuerten die Listen der Bürgerschaft und des Ordo, schätzten das steuerbare Vermögen aller Ansässigen und verpachteten die
ö Ländereien und Gefälle der Stadt für das kommende Lustrum. Wegen dieser besonderen Obliegenheiten galten die duoviri quinquennales, wie sie genannt wurden, für vornehmer als die regelmäßigen Ober- beamten und wurden daher meist aus denjenigen ge-
10 wählt, welche den gewöhnlichen Duovirat schon be- kleidet hatten. Die zweite etwas niedrigere Gruppe der Beamtenschaft bildeten die beiden Aedilen; ihnen stand die Polizeigewalt zu, der auch die Fürsorge für die Kornversorgung der Stadt und die Regelung der
13 Marktpreise zugerechnet wurde. Die untersten Magi- strate w^aren die zwei Quaestoren, die unter Oberauf- sicht der Duoviri die Kassenverwaltung führten. Sie pflegten auch an Jahren die jüngsten zu sein; denn in der Regel bekleidete man zuerst die Quaestur, stieg
20 dann nach kurzem amtlosen Zwischenraum zur Aedi- lität und später ebenso zum Duovirat und zur Quin- quennalität empor, natürlich immer unter der Voraus- setzung, daß die Volksversammlung demgemäß ihre Stimmen abgab.
25 Aus denjenigen, welche irgend ein Amt bekleidet
hatten, setzte sich der Ordo zusammen, ging also mittelbar aus Volkswahlen hervor. Aber da er auf eine feste Ziffer, gewöhnlich hundert, normiert war und diese durch die Zahl der abgetretenen Beamten nicht
;io erreicht wurde, hatten die Quinquennalen die Pflicht, die leergebliebenen Stellen aus den übrigen Gemeinde- bürgern zu besetzen. Diese Befugnis war übrigens nicht so wichtig, wie sie auf den ersten Blick erscheint, weil der Einfluß der Decurionen sich nach Rang und
] 54 III. Die Verwaltung des Reiches.
Würde abstufte, und wer noch nicht auf eine öffent- 152 liehe St-elkmg zurückblicken konnte, daher sehr wenig im Kate der Stadtväter bedeutete. Denn die Debatte vollzog sich nicht in der Weise, daß jeder, der etwas zu sagen hatte, sich zum Worte melden konnte. -. sondern der Duovir, welcher den Vorsitz führte, rief einen nach dem andern auf und mußte sich dabei an die Eeihenfolge halten, in der die Namen der Decurionen in der Eatsliste standen. Hier aber füllten die quinquennulicii, d. h. diejenigen, welche vorher lo Quinquennalen gewesen waren, die ersten Stellen : dann folgten die gewöhnlichen Duoviralicii, dann die Aedilicii, dann die Quaestoricii und erst ganz am Schlüsse diejenigen, welche noch zu keinem Amte ge- wählt waren. Es waren also immer die Vornehmsten, i> welche die Verhandlungen einleiteten und die ent- scheidenden Anträge stellten; wenn die Umfrage an die Jüngsten kam, war die Zeit meist schon so weit vorgeschritten, daß sie kaum mehr sagen konnten als ein kurzes: ,,Ich stimme dem oder Jenem zu." Nur 3<> bei der schließlichen Abstimmung kamen sie als bloße Ziffern in Betracht. Aber daß diejenigen, welche zuerst sprachen und dadurch der ganzen Debatte ihre Richtung gaben, immer wüirdige Greise waren und die fragenden Beamten an Erfahrung und Sachkennt- 2.-. nis meist übertrafen, trug vor allem dazu bei, dem Ordo seine Bedeutung zu geben. Er w^urde daher der jährlich wechselnden Magistratur gegenüber zum Träger der Überlieferung, zum Schützer der alten guten Vätersitte. In welchen Fällen die Duovirn ->> seinen Rat einholen mußten, war zum Teil gesetzlich vorgesclirieben; doch blieb ihrem freien Ermessen noch inmier ein weiter Spielraum. Sie brauchten ihn also nicht bei allen iliren Amtshandlungen zu fragen;
4. Die Verwaltung der Städte. 155
15S taten sie es aber, so waren sie an seine Entscheidung gebunden, und selten wurde es unterlassen, wo ein Zweifel über die richtige Art des Vorgehens möglich war. So erhob sich der Rat zum eigentlichen Be-
5 herrscher der Stadt, und die Beamten sanken zu seinen ausführenden Organen herab.
Die Zügel der Regierung besonnen zu führen und sich nie entschlüpfen zu lassen, wäre eine so viel- köpfige Gemeinschaft allerdings kaum imstande ge-
10 wesen; doch benutzte sie als Träger ihrer Gewalt eine ständige und lebenslängliche Kommission, die meist aus zehn Männern bestand und, weil ihre Namen in der Ratsliste an erster Stelle standen, die decemprimi genannt wurde. Die meisten von ihnen waren die-
u, jenigen, welche das zensorische Amt bekleidet hatten ; da aber deren Zahl nicht ausreichte, wTirde sie durch die Quinquennalen, die selbst dazu berufen waren, nach dem Ende ihrer Tätigkeit in das Kollegium einzutreten, jedes fünfte Jahr vervollständigt, indem
20 sie so viele DuoviraHcii hinzuwählten, daß die Zehn- zahl erreicht wurde. Da die Magistrate, wie wir so- gleich sehn werden, in allen wächtigeren Amtshand- lungen von der Zustimmung der Decemprimi abhängig waren, so wird auch diese Ergänzung ihrer Zahl durch
■zö Mehrheitsbeschlüsse des Kollegiums bestimmt worden sein. Die Kommission des Ordo ging also nicht aus dessen eigenen Wahlen hervor, sondern zum größten Teil aus Volkswahlen, insofern durch diese die Quin- quennalen bestellt wnirden, zum kleineren aus Coop-
30 tation. Doch ob die Decemprimi ihre Stellung der gesamten Bürgerschaft, ob dem vornehmsten Teil des Rates verdankten, in beiden Fällen konnte kein Zweifel sein, daß sie alle andern Mitglieder der Ge- meinde an Einfluß überragten; Hierdurch eigneten
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sie sich iii hohem Maße, den römischen Obrigkeiten IM gegenüber ihre Stadt zu vertreten. Sie wurden daher gerne zu Gesandtschaften nach Rom benutzt, und hatte der Prokonsul mit einer Gemeinde seiner Provinz irgend etwas zu verhandeln, so beschied er zu diesem 5 Zwecke deren Magistrate und Decemprimi vor sich ; denn er konnte sicher sein, daß, was diese wollten, auch der Wille von Rat und Bürgerschaft sein werde. Da sie auf diese Weise der römischen Regierung eine sehr bequeme Handhabe boten, hat sie es durch- lo gesetzt, daß auch in den meisten Städten des grie- chischen Ostens solche Ratskommissionen eingeführt wurden, obgleich sie den dortigen Verfassungen ur- sprünglich fremd gewesen waren. Und wie nach außen, so vertraten sie auch im Innern ihrer Ge- v, meinde die Gesamtheit des Ordo, indem sie, wo dessen Berufung nicht angemessen schien, an seiner Statt den Magistraten als Beirat dienten. Namentlich in allen finanziellen Fragen, wie das Umlegen und die Er- hebung der Steuern, die Verpachtung der städtischen -in Grundstücke und Gefälle, die Anlage und Verwen- dung des Bar Vermögens, das der Gemeinde durch Schenkungen oder auf andere Weise zufloß, waren die Beamten an dem Mehrheits]>eschluß der Decemprimi gebunden; hatten diese doch meist den Zensus geleitet 2.-. und waren daher über die Leistungsfähigkeit der Stadt als Ganzes, wie ihrer einzelnen Bürger genauer als jeder andere unterrichtet. Durch diese strenge Aufsicht wurde freilich die Finanzverwaltung der Städte weder ehrlicher noch gewissenhafter. Denn :;» es ist eine wohll>ekannte Beobachtung, daß jede Verantwortung desto leichter wiegt, auf je mehr Schultern sie sich verteilt; keiner empfindet sich eben mit seiner ganzen Person für dasjenige liaft-
4. Die Verwaltung der Städte. 157
l,w ^^ar, wofür noch so und so viel andere mit ihm haften.
In jeder antiken Stadt galt es als Bürgerpflicht, an der Politik regen Anteil zu nehmen, und wer ö sich durch Reichtum oder den Ruhm seiner Ahnen auszeichnete, wäre als niedrig denkender Mensch ver- achtet worden, wenn er nicht nach einer leitenden Stellung gestrebt hätte. Diese Gesinnung hatte sich in den Zeiten der Freiheit und Selbständigkeit aus-
10 gebildet, bewahrte aber auch imter der römischen Herrschaft noch lange ihre alte Kraft. An eine Be- werbung um die hauptstädtischen Ämter, die Jetzt zu Reichsämtern geworden waren, konnte, solange die Republik sich erhielt, der Provinziale nie, der italische
15 Munizipale nur ausnahmsweise denken; zur Befriedi- gung ihres Ehrgeizes sahen sie sich also auf die Gunst ihrer engeren Mitbürger angewiesen. Die öffentliche Wirksamkeit in den Ämtern ihrer Gemeinde und. wenn deren Zeit abgelaufen war, in Ordo und Yolks-
20 Versammlung blieb daher das vornehmste Interesse jedes angesehenen Mannes, und jeder hätte es als schimpflich betrachtet, für diese Zwecke irgend ein Opfer an Zeit oder Geld zu scheuen.
Es ist allbekannt, wie sich in Rom die x^edilen
25 nicht selten ruinierten, um durch verschwenderischen Aufwand bei den Spielen, die zu ihren Amtspflichten gehörten, die Gunst des Volkes zu gewinnen und sich seine Stimmen für die Bewerbung um Praetur und Konsulat zu sichern. Von diesen ehrgeizigen Zwecken
30 ging die öffentliche Freigiebigkeit aus; doch da sie natürlich hoch bewundert und gepriesen wurde, ent- wickelte sie sich zur dauernden Gewohnheit, die man auch ohne unmittelbaren Zweck weiterübte. Der römische Senator fütterte nicht nur zahllose arme
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Klienten, er führte auch auf eigene Kosten staatliche 15fi Bauten aus, stiftete Tempel, Bäder und Theater oder veranstaltete bei seinen Familienfesten Speisungen des Volkes und öffentliche Spiele. Und durch die gleichen Mittel, wie die vornehmen Herren in Rom, .^ suchten die angesehenen Männer der Provinz sich in ihren Städten Euhm zu erwerben. Kam es doch vor und wahrscheinlich nicht selten, daß untertänigen Staaten Kapitalien geschenkt oder hinterlassen wurden, aus deren Zinsen sie ihre Tribute bezahlen konnten; m sie wurden also nur durch private Wohltätigkeit finanziell den freien Staaten gleichgestellt. Von zwei Ostiensern aus der Zeit des Augustus und des Marcus, vor denen der eine wahrscheinlich ein Nachkomme des andern war, da sie Ijeide den gleichen Namen i-'> I'ublius Lucilius Gamala trugen, ist uns die Liste der Aufwendungen, die sie für ihre Heimat gemacht haben, noch vollständig erhalten. Der erste hat ein marmornes Tribunal und vier Tempel neu erbaut, einen reparieren lassen. Außerdem stiftete er auf dem 20 Fleischmarkt Normalgewichte gemeinsam mit einem Kollegen, ließ eine Straße pflastern, gab Spiele, ohne das von der Stadt dafür angewiesene Geld zu ver- wenden, bewirtete seine Mitbürger zweimal mit einem Frühstück, einmal mit einem Mittagessen an 2"> 217 Tischen und schenkte endlich der Gemeinde noch eine bare Summe von über 3000 Mark. Sein ferner Nachkomme baute ein öffentliches Bad, das abge- brannt war, von neuem, reparierte drei Tempel und eine Schiffswerft, stiftete wieder Norraalmaße und -ge- :5o wichte, gab ein Gladiatorenspiel aus eigenen Mitteln und leistete zu denjenigen Spielen, die er auf Stadt- kosten zu geben hatte, beträchtliche Zuschüsse. Dem gesunkenen Wohlstande des zweiten Jahrhunderts ent-
4. Die Verwaltung der Städte. 159
157 sprechend, sind die Leiötungen des Urenkels viel be- scheidener, als die seines Vorfahren, bleiben aber für den Bürger einer Kleinstadt, wie Ostia es damals war, noch immer sehr ansehnlich. Und was nament-
ö lieh bemerkenswert ist, wir sehen hier, wie die Frei- giebigkeit zu städtischen Zwecken zwei Jahrhunderte lang in demselben Geschlecht erblich bleibt und in Jeder Generation von den Einkünften des gleichen Familienvermögens die Gemeinde ihren reichen Anteil
1" beanspruchen darf. Und was wollten die Spenden der obskuren Gamalas in Ostia gegen das ]>edeuten, was der jüngere Phnius für seine Heimat Comum oder gar Herodes Atticus für Athen geleistet hat I Denn solche Opferfreudigkeit war nicht etwa Ausnahme,
15 sondern jeder gab, so viel er konnte, und nicht selten mehr als das. In Amisus hatte um das Jahr 100 n. Chr. ein Decurione fast sein ganzes Vermögen auf solche Weise verschwendet und konnte später nur durch ein Geldgeschenk, das ihm die dankbare Stadt ihrerseits
20 gemacht hatte, die Würde seines Standes aufrecht er- halten. Und da das Recht der Kaiserzeit für Fälle dieser Art ausdrückliche Bestimmungen treffen mußte, können sie nicht vereinzelt gewesen sein.
Gewiß sind diese erstaunlichen Geldopfer zum Teil
25 durch recht kleinliche Eitelkeit veranlaßt worden. Dem älteren jener beiden Gamalas hat die vStadt Ostia alle Ämter verliehen, die sie überhaupt zu vergeben hatte; sie hat ihm zwei Statuen errichtet, eine bronzene und eine vergoldete, und nach seinem Hinscheiden
:io eine öffentliche Leichenfeier veranstaltet. Ähnliche Ehrungen sind auch seinem Nachkommen zuteil ge- worden, und natürlich rechnete jeder darauf, der für seine Gemeinde recht tief in den Beutel griff. Aber wenn dies auch einer der hauptsächlichsten Gründe
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für jene kolossale Freigiebigkeit war, liegt doch etwas 158 Großes in der freudigen Hingebung, mit der jeder Mann von Eeichtum und Ansehn sich selbst und sein Vermögen in den Dienst seines Gemeinwesens stellte. Im späteren Altertum ist nie die leiseste Eegung des .> Kommunismus bemerkbar geworden, weil überall der kleine Mann durch Stiftungen von Bädern und Unter- haltungsgeldern für arme Kinder, durch Spiele und öffentliche Speisungen an den Schätzen des Reichen seinen Anteil genoß. Für die Bedürfnisse der Gesamt- lo heit wurde durch privates Kapital und private Tätig- keit reichlicher, wenn auch nicht besser gesorgt, als heutzutage durch Staat und Gemeinde, und die klein- sten iSTester füllten sich mit Bildsäulen und Pracht- bauten, deren Trümmer noch jetzt unser Staunen er- i";. regen und über die frühere Bedeutung der Stadt, der sie angehören, oft die größten Täuschungen hervorrufen. Doch dieser opferbereite Gemeinsinn hatte auch seine Kehrseite; derselbe Ehrgeiz, der zu jenen Aus- gaben veranlaßte, führte auch zu den heftigsten 20 Parteikämpfen innerhalb der einzelnen Städte. Mit welchem Eifer man jedes Jahr die Wahlen vor- bereitete, zeigen die Mauerinschriften von Pompeji. Für seinen Kandidaten agitiert dort jedes Gewerk und jeder Verein; verfügt ein Bürger über einen zahl- 2.> reichen Anhang, so läßt er mit großen roten Buch- staben an die Straßenecken schreiben, für wen seine Freunde stimmen sollen, und selbst einzelne Frauen suchen in dieser Weise die Wahlen zu beeinflussen. Es kam vor, daß durch die Streitigkeiten der Bewerber 30 monatelang keine Volksversammlung zustande kam und die Gemeinde zeitweilig aller Beamten entbehrte, und oft werden diese Zwiste zu blutigen Raufereien Anlaß gegeben haben, v Hieraus erklärt es sich, daß
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159 die Kaiser in manchen Provinzen alle Vereine auf- lösten und keine neuen mehr zu gründen erlaubten; denn jeder, welchem Zweck er auch dienen mochte, griff alsbald in die Zwergpolitik seiner Stadt ein und 5 schürte die inneren Unruhen. In Nicomedia wollte Trajan nicht einmal eine freiwillige Feuerwehr dulden, obgleich ein großer Brand ihre Notwendigkeit erst kurz vorher erwiesen hatte. Selbst Wohltätigkeits- vereine, die zur Unterstützung der Armen Geld
10 sammelten, gestattete er in derselben Provinz nur föderierten Städten, weil er sie diesen nicht ohne Kechtsbruch verweigern konnte; den übrigen blieben sie untersagt. Zeitweilig durfte in einzelnen Städten gar keine Volksversammlung stattfinden, ohne daß
15 man vorher bei dem Statthalter um Erlaubnis nach- gesucht hatte. Doch im ganzen war dies Parteitreiben wohl mehr unbequem als gefährlich; jedenfalls bewies es, wie lebhaft die ganze Bürgerschaft sich an der Eegierung ihres Gemeinwesens beteiligte, und darf
20 daher als ein Zeichen gelten, daß in dem hinsterben- den Eiesenkörper des Eeiches die alte stürmische Jugendkraft noch nicht ganz erloschen war. Doch trug jene halbstaatliche Gemeindeordnung andere Keime in sich, deren Entwicklung sehr gefährlich
^5 werden mußte.
Zunächst ist es an sich klar, daß eine Verwaltung, deren Personal sich jedes Jahr erneuert, nicht gut sein kann. Kaum hatte der Beamte sich in seine Pflichten etwas eingearbeitet, so mußte er einem
30 Nachfolger Platz machen, der wieder die ganze Un- kunde des Neulings mitbrachte. Zwar pflegten Quae- stur und Aedilität dem Duovirat voranzugehn, so daß derjenige, welcher die höchste Leitung seiner Stadt übernahm, schon eine Vorschule in den niederen Sil 11
162 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Ämtern durchgemacht hatte. Aber keines derselben 160 bereitete genügend auf das nächstfolgende vor, weil sie ja alle verschiedene Obliegenheiten besaßen, und immer lagen dazwischen amtfreie Jahre, in denen man wieder vergaß, was man in der kurzen Verwaltungs- 5 praxis gelernt hatte. Ein gewisses Korrektiv für die Unerfahrenheit der Beamten gewährten die Decem- primi; doch werden diese alten Herren, deren Ehrgeiz längst befriedigt war, sich auch nicht überanstrengt haben, wo es nur fremde Amtsführung zu leiten, lo fremde Verantwortung zu decken galt. So fiel denn die Erledigung der meisten Geschäfte subalternen Schreibern zu, die oft nur städtische Sklaven waren, aber durch die Dauer ihrer Anstellung viel besser Bescheid wußten, als ihre jährlich wechselnden Vor- i5 gesetzten. Unberührt von jenem vornehmen Patrio- tismus, der die leitenden Männer beseelte, und frei von jeder eigenen Verantwortung, wirtschafteten diese einflußreichen Unterbeamten meist in ihre eigene Tasche und machten die Verwaltung der Städte zu 20 einer ebenso feilen und parteiischen, wie die römische selbst es war. Die städtischen Eechnungen waren nie in Ordnung, und den Eintragungen der öffentlichen Ausgaben und Einnahmen wurde nur eine sehr zweifel- hafte Beweiskraft zugeschrieben. Übrigens waren auch 25 die gewählten Magistrate keineswegs über jeden Ver- dacht erhaben. Daß der brave Spießbürger über seine Obrigkeit weidlich zu schimpfen pflegte, bedeutet nicht viel, das ist auch bei uns der Brauch; ernster aber war die Art des Tadels. Man beschuldigte nicht, so wie es heute üblich ist, ihre Unfähigkeit, sondern ihre Unterschleife. Diese waren eben so gewöhnlich, daß man es kaum noch der Mühe wert fand, sie zu verbergen. Wenn man in Spielen, öffentlichen
4. Die Verwaltung der Städte, 163
161 Speisungen und kostbaren Bauten sein halbes Ver- mögen verschleuderte, glaubte man ein gutes Eecht zu haben, durch dasselbe Amt, bei dem man sich ruinierte, die Einbuße auch wieder zu ersetzen.
5 Übrigens wurde auch jene großmütige Ver-
schwendung meist an der falschen Stelle getrieben, wozu die Eitelkeit der Beamten wohl noch mehr bei- trug, als ihr Mangel an Sachkenntnis. Denn jeder strebte danach, daß seine Leistungen für die Stadt
10 möglichst augenfällig und glänzend seien, und sorgte wenig um ihre unscheinbaren, wenn auch noch so dringenden Bedürfnisse. In Eom hatten die Aedilen Millionen für prächtige Spiele ausgegeben; Tausende von Sklaven, die sie bezahlt hatten, ließen sie als
15 Gladiatoren oder Tierkämpfer hinschlachten ; aber erst in der Zeit des Augustus kam einer von ihnen darauf, aus ein paar hundert Leuten seines Gesindes eine Feuerwehr zu bilden, obwohl diese Einrichtung für die Weltstadt ganz unentbehrlich war und das Lösch-
20 wesen immer zu den Kompetenzen der Aedilität ge- hört hatte. Und ganz ähnlich ging es auch in den Provinzialstädten: Nicomedia besaß um das Jahr 100 n. Chr. viele Prunkgebäude, die ganz oder teil- weise aus privaten Mitteln errichtet waren, aber
25 keinen einzigen Feuereimer. Während die Bevölkerung der Gemeinden stetig zurückging, wurden doch Tempel und Theater, Bäder und Turnhallen immer zahlreicher und prächtiger, als ginge jeder Decurio geflissentlich darauf aus, sich selbst und die Nachwelt über die
30 sinkende Bedeutung seiner Stadt zu täuschen.
Noch viel bedenklicher war der Einfluß, den diese Art der Verwaltung auf die Finanzen der Städte aus- übte. Die Führung der Kasse war den Quaestoren, also den jüngsten und unerfahrensten unter den Be-
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amten, anvertraut; daß sie selten in Ordnung war, 162 ergibt sich daraus von selbst. Da aber jeder Magistrat große Summen aus seinem Privatvermögen der Ge- meinde opferte, hielt der Ordo es meist für angezeigt, bei kleinen Defekten und Unklarheiten ein Auge zu- 5 zudrücken. Es war daher gar nicht leicht, seiner Stadt eine Zuwendung zu machen, aus der sie eine dauernde Einnahme bezog; schenkte man ein Kapital, damit sie die Zinsen verwende, so hatte es sich bald verkrümelt; wies man ihr Grundbesitz an, so wurde 10 der Acker schlecht oder gar nicht bebaut. Bei öffent- lichem Gute galt nachlässige Verwaltung durchaus für das Normale und Selbstverständliche, und gerade die private Freigiebigkeit war es, die hieran die meiste Schuld trug. 15
Es ist niemals gut für ein Gemeinwesen, wenn es den größten Teil seiner Bedürfnisse aus zufälligen und unberechenbaren Einnahmen deckt. Denn sie machen es unmöglich, ein klares Budget aufzustellen, und hindern so jede vorschauende und besonnene 20 Finanzpolitik. Was sollte man sich auch mit strenger Wirtschaftlichkeit plagen, wenn man in der Not immer damit rechnen konnte, daß irgend ein patriotischer Bürger einige Tausend oder selbst ein paar Millionen schenken werde? Es war daher ganz gewöhnlich, daß 2s man große und prunkvolle Bauten unternahm, ohne sich darum zu kümmern, ob die Mittel zu ihrer Beendigung reichen würden. Später ließ man sie dann halbfertig liegen und fing irgend etwas Neues an, wozu oft genug private Interessen und Machi- so nationen mitwirken mochten. Denn begann man z. B. ein Theater zu bauen, so fanden sich alsbald Ehr- geizige, die für den Fall seiner Vollendung die glänzendsten Versprechungen machten. Der eine ver-
4. Die Verwaltung der Städte. 165
163 pflichtete sich, ihm eine Säulenreihe hinzuzufügen, der andere Wandelhallen daranzubauen, der dritte umsonst eine Vorstellung geben zu lassen u. dgl. m. War man doch, wie dies in . der menschlichen Natur 5 liegt, mit Verheißungen noch viel freigiebiger, als mit Geschenken, die man sogleich blank und bar auf den Tisch zu zahlen hatte. Aber jedes Versprechen dieser Art besaß volle Eechtskraft, und seine Erfüllung konnte erzwungen werden, sobald die Bedingung ein-
10 trat, an die es geknüpft war. Bei vielen aber stellte sich bald die Reue ein, und es war ihnen sehr lieb, wenn sie dadurch ihrer Verpflichtung entbunden wurden, daß der Bau niemals zustande kam. Und Ge- meinden, die in so hohem Grade auf private Spenden
15 angewiesen waren, konnten sich privaten Einflüssen
unmöglich entziehn. Wie unheilvoll diese auf die
Finanzen einwirkten, zeigt eine Verordnung Trajans,
. daß keine Stadt einzelnen ihrer Bürger Geldgeschenke
aus dem öffentlichen Säckel machen dürfe. Wenn es
20 nötig war, einem solchen Mißbrauch auf gesetzlichem Wege entgegenzutreten, so kann man sich denken, welchen Umfang er angenommen hatte. Man war eben in Geldsachen höchst gemütlich, und wie man jeden Augenblick Geschenke empfing, so wollte man
25 sie mitunter auch anständig erwidern.
Gewiß war es recht hübsch und angenehm, wenn man aus privaten Mitteln seine Wasserleitungen bauen oder gar die jährliche Steuersumme nach Eom be- zahlen konnte. Doch freiwillige Spenden haben die
80 Eigentümlichkeit, daß sie in guten Tagen reichlich fließen, aber ausbleiben, wenn allgemeine Not eintritt und man sie gerade am dringendsten brauchte. Sind die Finanzen wohlgeordnet, so kommt man mit einiger Sparsamkeit über solche schwere Zeiten hinweg;
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bei der Mißwirtschaft aber, die in den Städten des 161 Eeiches herrschte, mußten sie regelmäßig Schulden machen, und zwar meist zu Wucherzinsen. So waren sie fast alle in höchst bedrängter Lage und machten immer wieder ein Eingreifen der römischen Eegierung 5 nötig, um ihre zerrütteten Verhältnisse einigermaßen zu ordnen.
Noch schlimmer aber war die moralische Ein- wirkung, welche dies ewige Schenken und Geschenke- nehmen auf die Bevölkerung ausübte. Die Gemeinden 1» wie die einzelnen verloren ganz das stolze Bewußtsein, für ihre Pflichten aus eigener Kraft einstehn zu müssen, und jenes kriechende Kliententum, dessen unheilvolle Wirkungen wir an anderer Stelle beleuchtet haben (I S. 313), verbreitete sich über das ganze 15 Eeich. Denn natürlich beschenkte jeder, der es dazu übrig hatte, nicht nur seine Stadt, sondern auch die ganze Bande von freigelassenen und freigeborenen Glücksjägern, die auf seine Tasche lauerten. Und wie jeder arme Mann seinen Lebenszweck darin fand, 20 einen leistungsfähigen Patron zu gewinnen, so hatte auch jede Gemeinde unter den Vornehmen der Haupt- stadt und des Hofes ihre Patrone, denen sie durch Statuen und Ehrendekrete schmeichelte, um dafür reiche Stiftungen oder rechtliche Vorteile zu erlangen. 25 Auch das Städtewesen des Eeiches, so großartig es ausgebildet war, wurde so zum Übungsfelde für Gunst- buhlerei und knechtische Gesinnung.
Aber welches auch die Mängel dieser Städtever- waltung sein mochten, für das römische Eeich war 30 sie notwendig, weil damals auch der kühnste Eeformer sich eine andere gar nicht hätte vorstellen können. Besoldete Bürgermeister und Stadträte, wie wir sie heute kennen, wären damals allgemeiner Verachtung
4. Die Verwaltung der Städte. 167
165 begegnet; denn wer politisch tätig "war, mußte nach den Anschauungen der Zeit ein Mann sein, der, im Besitze eines ausreichenden Vermögens, auf niedere Lohnarbeit verzichten konnte. Wenn man heimlich 5 durch Erpressung und Unterschleif seinen Beutel füllte, so begegnete man in der öffentHchen Meinung großer Duldsamkeit, weil dies etwas Altgewohntes war; aber öffentlich einen anerkannten Sold zu beziehen, galt nur bei den Subalternen für anständig. Doch
10 auch der Eeichste konnte nicht seine ganze Zeit un- entgeltlich der Gemeinde widmen, und hätte er es ge- wollt, sein Opfer wäre nicht angenommen worden, weil es so und so viele Mitbürger von den Ehren ausgeschlossen hätte, nach denen sie begierig ver-
15 langten. So war lebenslängliche Bekleidung der vor- nehmeren Stadtämter ein für allemal unmögHch, und mit der jährigen bheben die Übelstände, die wir vor- hin aufgezählt haben, untrennbar verbunden. Doch wie gesagt, man hatte sich an sie gewöhnt und muJjte
20 sie schon deshalb ertragen, weil man nichts anderes an die Stelle setzen konnte. Um so verhängnisvoller drohte es zu werden, daß auch diese Verwaltung, so gut oder schlecht sie war, allmählich den Dienst versagte.
25 Der Patriotismus, der ihre treibende Kraft bildete,
war nur deshalb so stark und opferfreudig, weil er noch in einer Zeit wurzelte, wo man die Stadt als Staat empfand. Anfangs hatte er sich nicht selten gegen Eom gewendet, und auch nachdem man gelernt
30 hatte, sich fügsam der Übermacht zu beugen, be- trachtete man sie doch als etwas Fremdes, gegen das noch lange Zeit der staatliche Selbsterhaltungstrieb der Gemeinde einen heimlichen Kampf fortsetzte. Doch je hoffnungsloser dieser wurde, desto mehr er-
168 ni. Die Verwaltung des Reiches.
lahmte die Freude an einer politischen Betätigung, die 166 keine großen Ziele mehr vor sich sah. Und als die Kaiserherrschaft ihre ausgleichende Wirksamkeit be- gann und der Provinziale sich allmählich als Eeichs- bürger fühlen lernte, da hörte er auf, in dem Stadt- 5 bürgertum das einzige Feld für seine öffentliche Tätig- keit zu erblicken. Allerdings war es auch jetzt nur einer verschwindend kleinen Zahl vergönnt, ihren Ehrgeiz im Dienste des Kaisers und des Eeiches zu befriedigen; aber dieses Ziel war doch erreichbar ge- lo worden, und was wollte gegen den Glanz einer ritter- lichen oder gar senatorischen Stellung die Quinquen- nalität und der Duovirat bedeuten ? In Lykien ist uns noch das Grabmal eines reichen Provinzialen erhalten, in das er, geschmacklos genug, mehrere Dutzend is Ehrendekrete hat einmeißeln lassen. Was sie an ihm rühmen, sind keine großen Taten, sondern nur das viele, viele Geld, das er teils seiner Heimatstadt, teils anderen Gemeinden oder auch der ganzen Provinz gespendet hatte. Keine Ehren aber schätzt er höher 20 als die Gesandtschaften, die nach Eom geschickt wurden, um seine Freigiebigkeit zu preisen, und sorg- fältig verzeichnet er die kaiserhchen Antworten darauf, obgleich sie weiter nichts enthalten, als daß Seine Majestät von den Tugenden und Leistungen des Herrn 25 Opramoas allergnädigst Kenntnis genommen habe. Man sieht es deutlich, der munizipale Ehrgeiz findet seine Befriedigung nicht mehr in der engen Heimat, sondern schielt gierig nach dem Kaiserhofe und prahlt am liebsten mit dessen Gunstbezeigungen, so mager 30 sie auch ausfallen mögen. Der Biedere, mit dem wir es hier zu tun haben, sah sich dadurch noch zu Auf- wendungen für seine Stadt und Provinz getrieben; mancher Klügere aber mochte meinen, daß sich das
4. Die Verwaltung der Städte. 169
167 Geld vorteilhafter in Eom selbst anlegen lasse, und wird sich damit kaum getäuscht haben. Denn um unter den vielen Nullen des Senats und der Ritter- schaft eine Eolle zu spielen, dazu brauchte man auch 5 kein Genie zu sein; ein sehr dicker Geldsack genügte, wenn man ihn nur geschickt und mit dem nötigen Scheine der Vornehmheit zu verwenden wußte. So wurden die größten Vermögen und wohl auch die besten Köpfe dem munizipalen Dienst entzogen, um
10 in den des Eeiches überzutreten; und wenn mancher, der es bei Hofe zu etwas gebracht hatte, auch später noch durch Einfluß und Geld seine Heimat unter- stützte, viele mußten schon deshalb karger sein, weil die Stellung im römischen Senat in demselben Maße,
15 wie er die städtischen Ordines an Würde übertraf, auch an den Beutel größere Anforderungen stellte.
Constantin fügte dem Senat am Tiber einen zweiten am Bosporus hinzu; Diocletian vervierfachte die Hofhaltung und vermehrte dennoch das Personal
20 jeder einzelnen. Und zugleich wurden die besoldeten Subalternen, soweit sie den Obrigkeiten des Eeiches, namentlich dem Kaiser selbst, dienten, nicht nur reich und mächtig, sondern auch hochgeehrt. Hatte der Decurione bisher mit Verachtung auf sie herabgesehn,
25 so wurde ihre Stellung jetzt ein lockendes Ziel des Ehrgeizes für ihn; denn auch sie bahnte den Weg zu Eitterschaft und Senat. So öffnete sich fast mit einem Schlage eine große Anzahl von Kanälen, um von den Mühlen der Städte, die man schon lange nur
30 noch mühsam im Gang erhielt, das Wasser abzuleiten. Und wenn jene Ämter und Würden, wenigstens in ihren oberen Stufen, von den Pflichten des Ordo be- freiten, so war dies ein Grund mehr, die Decurionen übermächtig anzuziehen. Denn die munizipalen Ämter,
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zu denen man sich früher gedrängt hatte, waren längst 168 zu einer kostspieligen Last geworden, die weder Macht noch Ehre brachte.
Auch hieran war, so seltsam dies klingen mag, zum Teil die Hebung der Provinzen schuld, in der 5 das Kaisertum das Ziel seiner Politik erblickte. Denn mit je größerer Fürsorge man die Schäden des Städte- wesens aufdeckte und zu heilen suchte, desto tiefer griff man von oben in die innere Verwaltung der Gemeinden ein. Damit aber band man den muni- 10 zipalen Beamten die Hände, und das Wirken im Ordo wurde, wenn auch nicht überflüssig, so doch lang- weilig, weil ihm jede Tätigkeit, die über den ge- wöhnlichen Kleinbetrieb der alltäglichen Geschäfte hinausging, durch die Reichsbehörden abgeschnitten 15 war. Gewiß war die strengere Aufsicht, welche die Kaiser einführten, nicht unbegründet, um so weniger als sie gerade bei dem Punkte einsetzte, der am meisten besserungsbedürftig war, nämlich bei den Finanzen. Die römische Eepublik hatte sich um den 20 Haushalt der Städte nicht viel gekümmert; fiel es einem Prokonsuln ein, so ließ er sich einmal ihre Kassenbücher vorlegen; doch bei dem schnellen Wechsel der Statthalter blieben dies gelegenthche Ein- griffe, die nie zu konsequenter Beaufsichtigung wurden. 25 War es doch vielen der hohen Herren des Senats ganz lieb, wenn die Städte Schulden machten; denn meist waren sie es, die das nötige Geld hergaben, und flössen die Wucherzinsen nicht in ihre eigene Tasche, so kamen sie den römischen Rittern zugute, die sie dafür 30 in Rom mit ihrem weitreichenden Einfluß unter- stützten. Bei dem ungeheuren Reichtum, der in den Händen der Senatoren zusammenströmte und dessen Anlage in Grundbesitz kaum noch lohnend war, be-
4. Die Verwaltung der Städte. 171
169 grüi3ten sie es mit Freuden, daß sich ihnen hier eine einträglichere Verwendung ihrer Kapitalien darbot. Unter den Kaisern hörten die Provinzen auf, den römischen Beherrschern nur als milchende Kühe zu
5 dienen; doch in das zerrüttete Budget der Städte einige Ordnung zu bringen, war nicht möglich ohne die schärfsten Eingriffe in ihre Selbstverwaltung. Immer wieder kamen die Statthalter oder auch eigens dazu ernannte kaiserliche Vertrauensmänner, um ihre
10 Bücher zu revidieren. Wollten privilegierte Gemeinden sich dieser Aufsicht entziehen, indem sie höflich auf ihr Recht der Unabhängigkeit verwiesen, so wurden sie ermahnt, nur diesmal ihre Rechnungen vorzulegen; es solle ihren Freiheiten kein Präjudiz daraus er-
15 wachsen. Aber natürlich blieb es nicht bei dem einen Äfale, sondern was anfangs Ausnahme gewesen war, wurde bald zur Regel. Anleihen zu machen, wurde den Städten ganz verboten; neue Steuern durften sie nur mit Erlaubnis des Kaisers einführen; selbst für
20 jeden Neubau, der nicht aus privaten Schenkungen, sondern mit öffentlichem Gelde errichtet werden sollte, bedurften sie seiner Genehmigung. Manche Gemeinden hielten es für vorteilhaft, sich dem Kaiser dadurch in Erinnerung zu bringen, daß sie jedes Jahr eine
25 Gratulationsgesandtschaft an ihn abschickten, die heil- loses Geld kostete. Wenn der Statthalter solche törichte Ausgaben hinderte, so war dies ohne Zweifel sehr vernünftig; aber als Bevormundung empfand man es doch. Und daß man die Aufführung von Bau-
30 werken, die entsprechende Gebäude anderer Städte in den Schatten stellen sollten, selbst aus privaten Mitteln ganz verbot, durchschnitt die Sehnen des munizipalen Ehrgeizes, der ja im Wetteifer mit den Nachbar- gemeinden eine seiner mächtigsten Triebfedern fand,
172 III. Die Verwaltung des Reiches.
und wenn man ihre feindliche Eifersucht durch solche 170 Verordnungen mindern wollte, verfehlten sie jeden- falls ihren Zweck. Ruhe zu schaffen nach den Stür- men der Bürgerkriege betrachtete eben das Kaisertum als seine Hauptaufgabe, aber was es schuf, war „die 5 Euhe eines Kirchhofs". Denn wenn man freie Städte zu untertänigen machte, weil sie ihre Freiheit etwas gar zu lebhaft ausgenutzt hatten, wenn man die Volks- versammlungen untersagte, die Vereine auflöste, so vermied man damit zwar manchen Krawall, aber er- 10 stickte auch jeden Eest politischen Lebens,
Die Freiheit der städtischen Obrigkeiten wurde noch mehr beschränkt, seit unter Trajan die curatores civitatum auftreten. Es waren dies Beamte, die der Kaiser ernannte, um dauernd die Finanzen der Städte 15 zu beaufsichtigen. In der Eegel wählte man dazu vornehme Herren, Senatoren oder römische Eitter, die schon durch ihr persönliches Ansehn und die Furcht vor ihrem Einfluß die Ordines in Abhängigkeit hielten. Mitunter dehnte sich ihre Macht über mehrere 20 Städte, manchmal selbst über ganze Provinzen aus; gewöhnlich aber hatte jeder nur eine zu besorgen und lernte dadurch alle Verhältnisse derselben aufs Ge- naueste kennen. Anfangs wurdeh sie nur ausnahms- weise ernannt, wahrscheinlich für solche Gemeinden, 25 deren Budget so sehr in Unordnung gekommen war, daß nur langjährige Sparsamkeit, für die der Curator sorgen mußte, es wieder ins Gleichgewicht bringen konnte. Doch im Laufe der Zeit werden sie immer zahlreicher, und endlich fehlte wohl in keiner Stadt so dieser Aufsichtsbeamte. Für die Finanzen allein war er bestellt, aber welcher Zweig der Verwaltung hängt nicht mit den Finanzen zusammen? So bot sich immer wieder die Gelegenheit zu Übergriffen, und die
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171 Ordines waren zu knechtisch und verängstigt, um einem Manne von Rang und Einfluß gegenüber ihre Selbständigkeit zu wahren. Zum Glück konnte er sich nicht in alles persönlich einmischen, weil er in 5 Eom oder doch außerhalb seiner Stadt zu wohnen pflegte; der Verkehr mit ihm war daher meist ein brieflicher, was übrigens nicht verhinderte, daß jede Kleinigkeit, die irgendwie die Gemeinde belasten konnte, seiner Entscheidung unterbreitet wurde.
10 Im Laufe des dritten Jahrhunderts verändert das
Amt seinen Charakter. In demselben Maße, wie der römische Adel geistig herabkam, wuchs bei ihm der Standeshochmut und zugleich die Scheu vor ernster Arbeit. Dies hatte, wie es scheint, die Folge, daß
15 die Kandidaten für das Amt eines Curators spärlich vnirden. Die hohen Herren, denen die stolzesten Würden des Eeiches offenstanden, hielten sich für zu gut, um sich mit dem Budget erbärmlicher Klein- städte zu plagen, und die unscheinbare Tätigkeit,
20 Eechnungen zu revidieren und die Notwendigkeit kommunaler Ausgaben zu prüfen, wurde ihnen lang- weilig. Dies zwang die Kaiser, bei der Besetzung der Curatorstellen in niedrigere Schichten hinab- zugreifen, und in einer Gemeinde nach der andern
25 ersetzten Decurionen aus der Mitte ihres eigenen Ordo die Senatoren und Eitter. Einerseits steigerte dies die Bedeutung des Amtes; denn seit der Curator in derselben Stadt lebte, die seiner Fürsorge anvertraut war, konnte er stetiger und umfassender in die Ver-
30 waltung eingreifen und wurde dadurch zum eigent- lichen Leiter der Gemeinde, neben dem ihre Jahres- magistrate zu bloßen Statisten herabsanken. So war denn einem Manne, den die kaiserliche Ernennung hoch über seine Mitbürsrer erhob und der doch nach
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Traditionen und Interessen zu ihnen gehörte, die 172 Führung übergeben; die längere Dauer seines Amtes gab ihm Gelegenheit, die nötige Gesehäftskenntnis zu erwerben, und daß es in erster Linie auf die Finanzen hingewiesen war, konnte den Städten auch nur zum 5 Heile werden. Doch diese Neuerung kam zu spät, um noch den Segen stiften zu können, den man in einer früheren Zeit von ihr hätte erwarten dürfen. Denn bald darauf wurden die Provinzen durch Diocletian so verkleinert, daß es den Statthaltern lo mit Hilfe ihres sehr vermehrten Subalternenpersonals möglich war, die Verwaltung jeder einzelnen Gemeinde aufs schärfste zu beaufsichtigen und die Tätigkeit ihres Curators völlig lahm zu legen. Und zugleich war das Ansehn des Decurionenstandes tief gesunken, i5 und ein Mann, der ihm angehörte, besaß nicht die Möglichkeit, seine Stellung einem kaiserlichen Be- amten gegenüber aufrecht zu erhalten und dessen tjbergriffe abzuwehren. Als dann gar der Hof auf die Ernennung der Curatoren verzichtete und ihre Wahl 20 den Ordines überließ, war das Schicksal des Amtes besiegelt. Eine Ehre, die man der geheiligten Person des Kaisers verdankte, stand eben hoch über allem, was das Vertrauen der eigenen Mitbürger gewähren konnte, und bald waren die Curatoren so tief herab- 25 gekommen, daß sie selbst zur notariellen Beurkundung von Schenkungen zu schlecht schienen. Denn von einem kleinen Stadtbeamten, der sich scheu vor jedem Mächtigen duckte, war es leicht zu erzwingen, daß er seine Akten fälschte oder doch ihre Glaubwürdig- so keit preisgab.
Nicht wenig hat zum Niedergange des Amtes bei- getragen, daß ihm im Jahre 365 ein anderes konkur- rierend an die Seite trat. Zu allen Zeiten war es vor-
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gekommen, daß eine Stadt, die einen Rechtsstreit zu führen hatte, sich durch den Rat oder die Bürger- schaft einen Anwalt wählte, der gewöhnlich — denn auch andere Titel kommen vor — defensor civitatis
5 genannt wurde. Dies war kein Amt, sondern nur eine vorübergehende Tätigkeit, da sie mit der Entscheidung des Prozesses naturgemäß ihr Ende fand. Doch wer sich einmal bewährt hatte, an den wandte man sich gern auch zum zweiten und dritten Male, und schon
10 im Anfang des 4. Jahrhunderts war es dahingekom- men, daß es kaum noch Städte gab, die eines ständigen Rechtsbeistandes entbehrten. Nach diesem Vorbilde
173 setzte Constantius II., als er 361 den Senat von Con- stantinopel dem römischen völlig gleichstellte, in den
15 Provinzen defensores senatus ein ; doch sollten sie nicht nur Prozesse führen, sondern die Privilegien des neuen Reichsadels in jeder- Beziehung gegen die Übergriffe der Statthalter schützen. Es lag eben im Geiste jener Zeit, der Macht derjenigen, die ohnehin schon über-
20 mächtig waren, immer neue Stützen zu geben, während man den Schwachen noch tiefer herabdrückte. Aber auch dieses Bestreben rief hin und wieder Reaktionen hervor. War doch jene ruhige Kontinuität der Regie- rungsgrundsätze, welche die frühere Kaiserzeit aus-
25 zeichnet, seit Diocletian in ein unsicheres Hin- und Her tasten umgeschlagen, bei dem fast jeder Herrscher andere Wege einschlug, als sein Vorgänger gegangen war. So fand denn auch Valentinian I., daß das niedere Volk noch mehr eines Schützers bedürfe, als
30 der höchste Adel, und schuf daher sehr bald nach seiner Thronbesteigung (365) nach dem Muster der defensores senatus das neue Amt der defensores plehis. Aus der Stellung des defensor civitatis war es heraus- entwickelt und wird auch später oft nach ihm benannt.
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Da dieser durch seine juristische Erfahrung und die Dauer seiner Tätigkeit den jährlich wechsehiden Stadt- beamten überlegen war, hatte er schon früher nicht nur die Prozesse seiner Gemeinde geführt, sondern war auch bei Streitigkeiten ihrer Bürger untereinander 5 als der berufenste Schiedsrichter angerufen worden. Als defensor plehis wurde ihm jetzt in den kleinen Streitigkeiten des niederen Volkes die endgültige Ent- scheidung übertragen; handelte es sich um größere Objekte, iso sollte er dessen Schutz gegen übermächtige lo Gegner vor den ordentlichen Gerichten übernehmen. Anfangs scheint der Kaiser diese neuen Beamten für jede Stadt selbst ernannt zu haben, doch 368 übertrug er dies zunächst für Illyricum, das in seinem Eeichs- teil von seiner damaligen Eesidenz am weitesten ent- i5 fernt war, dann wohl auch für die anderen Diözesen, den Eeichspraefecten. Dem Decurionenstande, der damals schon ohnmächtig und verachtet war, durfte der Gewählte nicht angehören; er mußte irgend ein Eeichsamt bekleidet haben, das hoch genug war, um 20 ihm nicht nur den städtischen Magistraten, sondern auch den Provinzialstatthaltern gegenüber Einfluß und Ansehn zu gewähren. Ursprünglich war seine Aufgabe nicht viel mehr, als was in seinem Titel aus- gesprochen ist, d. h. die Verteidigung des Armen und 25 Schwachen gegen mächtige Unterdrücker. Doch war es längst üblich geworden, daß derjenige, welcher in 174 der Stadt die vornehmste Stellung besaß, in alles drein- reden durfte und bei allem gefragt wurde, ob es in seine Kompetenz gehörte oder nicht. So riß der so Defensor die ganze Gemeindeverwaltung an sich und drängte den Curator ebenso zurück, wie dieser es früher mit den Duoviri gemacht hatte, aber nur um bald auch seinerseits dessen Schicksal zu erleiden.
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Anfangs hatte es die Defensoren gekitzelt, in jeden Amtskreis überzugreifen und alle Eechte, die es in ihrer Gemeinde auszuüben gab, in ihre Hände zu bringen; doch war es ihnen höchst unbequem, als
5 jene Eechte zu Pflichten wurden. Je weiter ihre Tätigkeit sich durch ihre eigene Schuld ausgedehnt hatte, desto schwerer lastete sie auf ihrer Trägheit. Die höchsten Spitzen des Reichsadels hatten sich schon von Anfang an zu dem Amte nicht hergegeben, und
10 bald wurde es auch den mittleren Schichten lästig. Als lebenslängliches war es gedacht; doch mußten sich die Kaiser bequemen, erst in vereinzelten Fällen den Eücktritt zu gestatten, dann, als diese sich mehrten, seine Dauer auf fünf und endlich gar auf
15 zwei Jahre zu beschränken. Man konnte nicht mehr für jede einzelne Stadt ihren Defensor bestellen, sondern mußte mehrere zusammenfassen. Auch mit der Forderung, daß nur Leute von Eang und Er- fahrung an die Spitze der Gemeinden treten dürften,
20 nahm man es nicht mehr zu genau ; in Ermangelung geeigneter Kandidaten, wählte man Jünglinge oder Männer geringen Standes, die sich selbst vor dem Hochmut der Mächtigen nicht schützen konnten, ge- schweige denn das Volk ihrer Stadt. Denn während
25 die ansehnHchen Leute sich zurückzogen, drängten sich niedere Streber mit Eifer zu einem Posten, der
176 es dem Gewissenlosen leicht genug machte, seinen Beutel zu füllen. Um diese zu verhindern, durch Bestechung des Praefecten oder seiner Günstlinge
30 solche Ämter zu erschleichen, ließ Theodosius I. die Defensoren durch die Städte selbst erwählen und be- hielt dem Hofe nur die Bestätigung vor. Aber nach den Anschauungen jener Zeit stand ein gewählter Beamter weit unter denjenigen, die der Kaiser oder 8 11 12
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auch sein Praefect ernannt hatte. So wurde der Defensor zum Curator und den Duoviri geworfen ; alle drei Ämter bestanden nebeneinander fort und hatten vorgeschriebene Pflichten zu erfüllen, aber wirkliche Macht über die Stadtverwaltung übte keines mehr aus. 5
Derjenige, welcher jetzt die führende Stellung ge- wann, war kein anderer als der christliche Bischof. Auch er verdiente ja den Titel eines defensor plehis oder sollte ihn doch verdienen; denn der Schutz des Schwachen gehörte unstreitig zu seinen religiösen 10 Pflichten, und diese zu erfüllen, war er eher im- stande, als irgend ein weltlicher Beamter. Wer die Macht dazu besaß, schund und quälte jeden niedriger Stehenden nach Herzenslust, ohne sich irgend ein Gewissen daraus zu machen; den geheiligten Leib des u Bischofs aber schützte der Aberglaube, daß Gott für seine Verletzung unerbittlich Eache nehmen müsse. So hat man denn die unglücklichen Decurionen nicht nur wegen leichter Vergehen, sondern auch wenn sie die Steuerforderungen des Eeiches nicht befriedigen 20 konnten, mit Bleiknuten gepeitscht oder der Folter unterworfen, während die Bischöfe vor jeder schmerz- " haften Leibesstrafe sicher waren und selbst für Heilig- tumsschändung, Mord und Zauberei selten mehr zu fürchten hatten als Amtsentsetzung und milde Ver- 25 bannung. Und selbst diese Strafen konnten nur auf Beschluß einer Synode verhängt werden, so daß die 176 höhere Geistlichkeit allen weltlichen Eichtern ganz unabhängig gegenüberstand. In Schriften, die für die breiteste Öffentlichkeit bestimmt waren, erlaubten 30 sich daher selbst verbannte Bischöfe Schmähungen gegen den Kaiser, die jeden andern auf den Scheiter- haufen gebracht hätten und auch heutzutage durch seliwere Kerkerstrafen gebüßt werden müßten. Je
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knechtischer alles vor der „göttlichen'" Person des Herrschers auf dem Bauche kroch und in jedem höheren Beamten einen Ahglanz ihres Himmelslichtes verehrte, desto größere Bewunderung mußte solcher
5 Freimut erregen, obgleich er kaum gefährlich war. So hatte die Geistlichkeit die Massen des Volkes hinter sich und wurde zur kühnen Vertreterin der Unterdrückten gegen grausame Willkür. Es ist all- bekannt, wie Ambrosius von Mailand den Kaiser
10 Theodosius, als er einen Massenmord in Thessalonica angeordnet hatte, vom Gottesdienste zurückwies und ihn erst wieder in seine Kommunion aufnahm, nach- dem er sich einer Kirchenbuße unterzogen hatte, die freilich in Anbetracht des ungeheuren Frevels milde
16 genug war. Der Heilige besaß eben die Klugheit, das Prinzip zu wahren und doch dem Übergewaltigen nicht mehr zuzumuten, als was er sich noch gefallen ließ.
Dieselbe Vorsicht beobachtete die hohe Geistlich-
20 keit auch sonst, und meist eine noch viel größere; der Mut des Ambrosius hätte keine so überschwäng- liche Bewunderung erregt, wenn er nicht Ausnahme gewesen wäre. Wie hätte auch in einem Zeitalter, dessen unterscheidendes Kennzeichen moralische Feig-
25 heit war, der Klerus allein die Ansteckung vermeiden können? Bezeichnend in dieser Hinsicht ist das Ver-
177 halten des Bischofs Synesius von Ptolemais, der noch zu den kühnsten und freiesten Geistern seiner Zeit gehörte. Im Jahre 407 hatte der Statthalter Androni-
■30 cus sein Amt durch hohe Bestechungen erkauft und suchte das Geld, das er zu diesem Zwecke sich erst hatte borgen müssen, durch furchtbare Bedrückungen von Volk und Ordo wieder herauszuschlagen. Er er- findet soo:ar neue Marterwerkzeuge, da ihm die alten
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nicht wirksam genug scheinen, und läßt einen Decu- rionen, den er eingesperrt hat, weil er von zehntausend Goldstücken, die er dem Fiskus schuldig ist, tausend nicht gleich bezahlen kann, fünf Tage ohne Nahrung bleiben. Alles läuft hilfesuchend zum Bischof, von dem s allein man Schutz erhofft. Er sucht durch christliche Ermahnungen auf den Tyrannen einzuwirken, kann aber nichts erreichen. Trotzdem wagt er nichts anderes zu tun, als daß er seine mächtigen Freunde in Con- stantinopel brieflich angeht, sie möchten für die Ab- lo berufung des Andronicus tätig sein. Selbst als dieser das Asylrecht des Altars aufhebt und ein Edikt dar- über, das heftige Drohungen gegen die Geistlichkeit enthält, au den Kirchentüren anschlagen läßt, glaubt Synesius dies dulden zu müssen. Da läßt der Statt- i.s halter seinen Groll an einem Decurionen aus, der ihm einen vorteiUiaften Heiratsplan zerstört hat, indem er seinen persönlichen Feind wegen eines geringen Ver- gehns entsetzlich foltern läßt. Auch jetzt äußern der Bischof und sein Klerus nur dadurch ihre Miß- 20 billigung, daß sie sich um. den Gemarterten ver- sammehi und mitleidsvoll seinen Qualen zuschauen. Aber schon dies betrachtet Andronicus als Beleidigung und ruft höhnisch seinem Opfer zu: „Umsonst hast du auf die Kirche gehofft ! Keiner soll meinen Händen 25 entrinnen, auch wenn er die Füße Christi selbst um- fassen könnte!" Erst jetzt wird über ihn der Kirchen- V& bann verhängt, aber nicht wegen seiner weltlichen Verbrechen, sondern nur, weil Synesius in jenen Worten eine Gotteslästerung erblickt. Alsbald kriecht m der Statthalter zu Kreuze; er zeigt sich reuig und verspricht Besserung. Der Bischof läßt sich erweichen und suspendiert einstweilen sein Dekret. Da wird wieder ein angesehener Decurione wegen einer Steuer-
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schuld so grausam gepeitscht, daß er an der Miß- handlung stirbt, und dieser Mord führt endlich dazu, daß die Exkommunikation in Kraft tritt. Bald darauf wird Andronicus abberufen und vor Gericht gestellt: 5 aber sehr zur Unzeit erinnert sich jetzt die Kirche daran, daß es Christenpflicht sei, denen wohlzutun. die uns beleidigen und verfolgen. Synesius legt selber für den Angeklagten Fürbitte ein und erlangt ihm. wenn auch nicht volle Begnadigung, so doch eine
10 Milderung der verwirkten Strafe.
Dies Beispiel ist nach mehr als einer Richtung charakteristisch für die Eolle, welche die Kirche in der Verwaltung der Städte und Provinzen zu spielen begann. Sie schützt die Bedrückten zunächst nur
15 durch fromme Ermahnungen, denen die Beamten des Kaisers soweit Folge geben, wie dies ihnen selbst gut scheint. Aber wenn sie in die weltlichen Dinge auch nur schüchtern eingreift, sobald ein kirchliche.-; Vergehen vorliegt, entfaltet sie ihre volle Macht.
-20 Andronicus hätte seine Tyrannei ungestraft weiter- üben können, wäre ihm nicht in der Hitze ein recht unschuldiges Wort entschlüpft, das sich bei gutem Willen als Lästerung deuten ließ. Doch schon die Drohung mit dem Kirchenbann läßt den Übermütigen
-2-5 sich ducken, und als jener endlich ausgesprochen wird, ist sein Schicksal besiegelt. Doch dieselbe Kirche, die
179 ihn gestürzt hat, läßt schwächliches Mitleid an die Stelle der Gerechtigkeit treten und bittet den Sünder von der wohlverdienten Strafe los.
30 Aber so scheu und behutsam der Bischof in diesem Fall auch auftritt, im Vergleich zu der Stellung, in der sie sich nur ein halbes Jahrhundert früher befand, hat sich die Gewalt der Kirche mächtig gehoben. Athanasius war gewiß keine schüchterne Xatur : gleich-
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wohl bekennt er selbst, sogar dem Curator seiner Stadt zum Gehorsam verpflichtet zu sein, und niemals hat er €s gewagt, über einen Beamten des Kaisers den Bann zu verhängen, so viel Gelegenheit ihm auch dazu geboten war. Wovor um das Jahr 350 noch der » mächtige Bischof von Alexandria zurückscheute, das konnte 407 Synesius in seinem kleinen Ptolemais ohne alle Gefahr unternehmen. Und dennoch meint auch dieser, die weltlichen Pflichten des Episkopates noch nicht genügend wahrzunehmen. In der Predigt, durch m welche er die Exkommunikation des Andronicus ein- leitet, entschuldigt er sich vor seiner Gemeinde, daß er als Philosoph, der immer nur über seinen Büchern gesessen habe, von den Geschäften der Stadt so wenig verstehe, und bittet sie, einen Kundigeren an seine 1.5. Stelle zu wählen. Schon damals also empfand man es als Recht und Pflicht des geistlichen Oberhauptes, in Verwaltung und Justiz energisch einzugreifen. Da die Grenzen der Bistümer mit denen der Stadtgebiete zu- sammenfielen, dehnte es seine Gewalt über den gleichen 20 Raum aus, wie die städtischen Magistrate. Überall mußte es mit diesen zusammenwirken und wurde so in demselben Maße, wie ihnen die Macht verloren ging, zu ihrem natürlichen Erben. Nachdem aber der Bischof die Herrschaft tatsächhch an sich gerissen 2s hatte, wurde sie auch von der Gesetzgebung anerkannt.
Den ersten Schritt auf diesem Wege hatte schon 18& Constantin der Große getan. In den Zeiten der Ver- folgung war unter den Christen die Anschauung ent- standen, daß es gegen ihre brüderliche Gemeinschaft 3i> verstoße, wenn sie ihre Streitigkeiten vor die Beamten des Kaisers brächten, die sie als Werkzeuge heidnischer Bedrückung verabscheuten. Nun stand es nach römi- schem Rechte jedem frei, Zivilprozesse nicht durch
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den staatlich anerkannten Richter, sondern durch einen privaten Schiedsrichter entscheiden zu lassen, wenn nur die Parteien sich über die Wahl desselben einigen konnten. Brach also ein Rechtsstreit zwischen Christen ö aus, so pflegten sie ihn dem Spruche ihres Bischofs zu unterwerfen, der so innerhalb seiner Gemeinde das Richteramt übernahm. Da jedes andere Verfahren für sündhaft galt, hielt es der fromme Kaiser für religiöse Pflicht, den bestehenden Zustand auch zum
10 gesetzlichen zu machen. Nicht nur erkannte er die Entscheidungen der Bischöfe an, sondern verbot auch Jede Appellation von ihnen, so daß sie in dieser Be- ziehung über die Statthalter und selbst die Vicare gestellt wurden. Allerdings blieb ihre Macht auf die-
15 jenigen Fälle beschränkt, in denen sich beide Parteien ihr freiwillig unterwarfen. Jeder konnte also auch den staatlichen Richter anrufen, und seit dieser nicht mehr zugleich ihr Verfolger war, hörten die Christen allmählich auf, dies als Sünde zu betrachten. Doch
20 im allgemeinen hegte man zu den Bischöfen größeres Vertrauen, und wer ehrlich an sein Recht glaubte, mußte ihr Gericht schon deshalb bevorzugen, weil es dem Prozeß mit einem Schlag ein Ende machte und nicht den endlosen Instanzenweg offen ließ. So mußte,
25 je mehr das Christentum sich ausbreitete, auch die Wirksamkeit der bischöflichen Gerichtsbarkeit zuneh-
181 men, wodurch die statthalterliche sehr eingeschränkt, die munizipale ganz vernichtet wurde.
Auch in die Verwaltung der Städte wird ihr
30 Bischof schon früh eingegriffen haben, aber anfangs wohl mehr dui-ch seine persönliche Autorität, als kraft eines anerkannten Rechtes. Denn natürhch konnte er die Beamten ermahnen, wenn sie etwas taten, was er für ungesetzlich oder auch nur für schädlich hielt,
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und falls sie sich nicht fügten, beim Statthalter Klage führen. Das sind Befugnisse, die jeder Beliebige sich anmaßen durfte, die aber, von der Autorität des geist- lichen Oberhauptes gestützt, zu wichtigen Eechten werden konnt-en. Wie dieser Prozeß sich vollzog, läßt 5 sich im einzelnen nicht mehr verfolgen; doch im sechsten Jahrhundert ist er schon so weit vorgeschrit- ten, daß der Bischof nicht nur in allen Wahlversamm- lungen seiner Stadt den Vorsitz führt, sondern auch die Eechnungen des Curators gemeinsam mit den 10 Decemprimi revidieren muß.
So wurde die Macht der Jahresbeamten, welche die Gemeinde selbst sich wählte, anfangs durch zahl- reiche Verordnungen beschränkt, ging dann auf die ernannten Vertrauensmänner des Kaisers und endlich 15 auf den Vertreter der Kirche über. Und bei dem Curator wie bei dem Defensor wiederholt es sich, daß eben dann ihr Einfluß schwindet, wenn sie aus er- nannten Beamten zu gewählten werden. Noch ein zweites ist bei dieser Entwicklung sehr zu beachten. 20 Zuerst beschränken sich die Eingriffe in die kommu- nale Selbstverwaltung fast ganz auf das Gebiet des Finanzwesens; im vierten Jahrhundert aber tritt dieses in den Hintergrund zurück, und die Tätigkeit der neuen Machthaber geht von dem Schutze der Schwachen 25 aus. Um den städtischen Haushalt brauchte man sich eben nicht mehr zu sorgen, weil unterdessen die 182 Decurionen mit ihrem ganzen Vermögen für die öffentlichen Gelder haftbar gemacht waren ; aber nicht nur ihnen selbst, sondern auch der großen Masse 30 wurde dies zum Unheil. Früher hatte Jeder Eeiche; und Vornehme es als schöne Pflicht betrachtet, sich beim Volke beliebt zu machen, und daher durch Stiftungen für seine Bedürfnisse, durch Spiele für sein
4. Die Verwaltung der Städte. 185
Vergnügen gesorgt. Jetzt schädigte man seltener die Gemeindekasse, weil dies dem eigenen Beutel Gefahr gebracht hätte, aber wer die Macht dazu hatte, preßte die hilflose Menge ans. Unter dem Drucke der 5 pekuniären Forderungen, welche die neue Gesetz- gebung an ihn stellte, wurde der mimizipale Herren- stand aus dem wohlwollenden Versorger des kleinen Mannes, der er früher gewesen war. zu dessen härte- stem Bedrücker. 10 Auch die Entwicklung des Decurionats von einer
hohen Ehre zur schweren Vermögenslast, der jeder sich nach Kräften zu entziehen sucht, hat eine lange Geschichte, die wir hier von ihren Anfängen her wenigstens in den Hauptzügen verfolgen müssen. Su- is lange die römische Eepublik sich behauptete, wurden die munizipalen Beamten, die nach ihrem Eücktritt den Ordo bildeten, zwar nicht besoldet, doch waren ihnen auch keine pekuniären Leistungen auferlegt. Freihch mußte, wer sich um ein Amt bewarb oder 20 durch Wahl der Quinquennalen in den Eat eintrat. den Nachweis führen können, daß sein Besitz dem Werte von mindestens 100 000 Sesterzen entsprach. Doch vnirde dies nur deshalb verlangt, damit man für die öffentlichen Gelder, die den städtischen Be- 25 hörden durch die Hände gingen, eine gewisse Bürg- schaft besitze; große Aufwendungen ließen sich aus 18S den Zinsen von 20 000 Mark nicht machen. Denn bei dem Fuße von 6 Prozent, der damals der gewöhn- liche war, betrugen sie nur 1200 Mark, was knapjt 30 ausreichte, um die Familie eines Decurionen an- ständig zu erhalten. War ein Beamter wirklich reich, so machte er sich freilich eine Ehre daraus, einen Teil seines Wohlstandes der Stadt zugute kommen zu lassen ; doch war das freier Wille, nicht Pflicht. Aller-
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dings führte es dazu, daß der Vermögende bei den Wahlen bevorzugt wurde, weil der Pöbel von ihm glänzendere Spiele, die Stadt öffentliche Denkmäler oder Geldgeschenke erwarten konnte. So trieb der Ehrgeiz auch den Ärmeren, es dem Eeichen womög- 5 lieh gleichzutun, selbst wenn er dabei sein Kapital angreifen oder sogar Schulden machen mußte, und die Stimme des Publikums pries diese Art von Ver- schwendung als hohe Bürgertugend. Auf diese Weise wurde es zur allverbreiteten Sitte, daß derjenige, lo welchen das Volk zum Beamten gewählt hatte, sich für diese Ehre auch durch bare Leistungen dankbar erwies. Und je mehr die Wirksamkeit der kommu- nalen Magistrate von oben her beschränkt wurde, je weniger sie daher durch fruchtbare Arbeit ihrem is Gemeinwesen dienen konnten, desto höheren Gold- glanz mußten sie ihrem Amtsjahr geben, wenn sie ihm in der Bürgerschaft eine ehrenvolle Erinnerung sichern wollten.
Schon um die Zeit von Christi Geburt scheint dies 20 als Druck empfunden zu sein; denn wenn auch Geld- sjDenden rechtlich noch nicht gefordert wurden, so ist doch die Sitte stärker als das Gesetz. Wenn Augustus in Bithynien und wohl auch in anderen Provinzen die Altersgrenze für die Bekleidung der Stadtämter vom 35 einunddreißigsten Jahre auf das dreiundzwanzigste herabsetzte, so ergibt sich daraus zweierlei: erstens 184 daß man auf Erfahrung und persönliche Tüchtigkeit nicht mehr zu sehen brauchte, mit andern Worten, daß die Arbeitsleistung der Beamten wenig bedeutete; so zweitens daß die Kandidaten spärlich wurden, denn dies ist immer der Grund, wenn man die Anforde- rungen mindert. In die spanischen Stadtrechte, die am Ende des ersten Jahrhunderts gegeben sind, mußte
4. Die Verwaltung der Städte. 187
man schon einen Paragraphen aufnehmen, der dem Mangel an Bewerbern abhelfen sollte. Melden sich genau ebenso viele, wie Stellen zu besetzen sind, so wird die Volkswahl zur leeren Formalität ; denn die 5 Stimmen können nur dem einzigen Kandidaten ge- geben werden, der für jedes Amt vorhanden ist. Wird aber auch diese notwendige Zahl nicht erreicht, so hat der wahlleitende Duovir für jede leerbleibende Stelle eine geeignete Person vorzuschlagen; diese kann wieder
10 eine andere nennen iind die eine dritte, so daß, wenn alle von diesem Rechte Gebrauch machen, die Ab- stimmung des Volkes unter dreien die Entscheidung gibt. Natürlich ist derjenige, auf welchen sie fällt, verpflichtet, die Wahl anzunehmen, widrigenfalls er
15 irgend eine hohe Geldstrafe zu erwarten hat. Man kann also schon zur Bekleidung der Stadtämter ge- zwungen werden, wenn freiwillige Bewerber nicht vor- handen sind.
Wer so wider Willen zu einer „Ehre'" gekommen
20 war, mochte sich deswegen natürhch nicht in Un- kosten stürzen. Aber durch den Ehrgeiz früherer Jahrhunderte waren Spenden an die Stadt zu einer so regelmäßigen Übung geworden, daß die Gemeindekasse sie nicht mehr entbehren konnte. So sah man sich
•2r, denn veranlaßt, dasjenige, was bisher nur die Sitte geboten hatte, durch gesetzlichen Zwang zu befestigen.
185 Für jede kommunale Würde wurde je nach ihrer Höhe eine bestimmte Minimalsumme festgesetzt, die jeder, ob er freiwillig dazu gelangte oder gezwungen, not-
30 wendig erlegen mußte. Wer in Bithynien ohne Amt in den Ordo eintrat, bezahlte, um ein Beispiel anzu- führen, je nach dem Reichtum und der Größe seiner Stadt 4000—8000 Sesterzen (800—1600 Mk.) ; wirk- liche Ämter kosten natürlich mehr. Selbst in dem
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III. Die Verwaltune des Reiches.
ärmlichsten Neste konnte, wer die ganze Ehrenlauf- bahn durchmachte, kaum unter 5000 Mark davon- kommen und hatte dann noch das erbauliche Gefühl, äußerst schäbig gewesen zu sein, weil er nicht mehr gegeben hatte, als gefordert wurde und nötigenfalls 5 auch erzwungen werden konnte. Und doch war das- jenige, was die Gemeinde ihnen abnahm, bei den ärmsten Decurionen nicht weniger als ein Viertel ihres Vermögens. Und diese kolossale Leistung verteilte sich nicht etwa in kleinen Raten über einen längeren lo Zeitraum, sondern das einzelne Amtsjahr mußte jedes- mal eine Summe tragen, die ein mäßig begüterter Mann aus seinen Zinsen nicht bestreiten konnte. Immer wieder mußte man das Kapital angreifen, von dem die Familie lebte; hatten ein paar Generationen i5 daran gezehrt, so hörte die Möglichkeit auf, die Lücken durch Sparsamkeit wieder auszufüllen; die liegenden Gründe mußten verkauft werden, das Vermögen sank unter das Maß herab, welches dem Decurionen vor- geschrieben war. und die Stadt war um einen Eats- herrn ärmer.
Die einzelne Familie, die so in die Plebs hinab- gestoßen wurde, mochte man bedauern: doch für die Stadt als Ganzes bedeutete sie nicht viel. Als aber die Einbußen sich wiederholten und steigerten, begann man sie doch auch in der Verwaltung zu empfinden. Jener Zwang, bei jeder neuen Würde eine bestimmte Summe zu spenden, ist nicht in allen Städten zugleich eingeführt: ungefähr aber kann man als die Zeit, in der er sich durchsetzte, die Wende des ersten und zweiten Jahrhunderts bezeichnen. Und schon eine Generation später betteln die Städte darum, daß den Attribuierten, auf die man früher stolz hcrabgeblickt hatte, das volle Gemeindebürcferrecht verliehen werde.
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4. Die Verwaltung der Städte.
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damit man sie zu den Lasten des Decurionates mit- heranziehen könne. Natürlich läßt man auch die Incolae nicht frei ausgehn, ja viele von ihnen werden von zwei Städten in Anspruch genommen, von der- 5 jenigen, welcher sie nach ihrer Abstammung an- gehören, und von der anderen, in der sie ihren Wohnsitz haben. Endlich wird jeder zum Ordo ge- preßt, der das nötige Vermögen besitzt, um seinen Ansprüchen zu genügen; selbst Weiber und Kinder
10 zieht man heran, und gierig forschen Decurionen und Statthalter, ob nicht irgend jemand noch über sehn ist, dem man die städtischen Ämter aufhalsen könnte. Denn wer dies irgend kann, entzieht sich ilmen, und nicht den Decurionenpflichten unterworfen zu sein,
15 wird zum kostbaren Privileg.
Diese Entwicklung kommt zwar erst durch die Gesetzgebung Diocletians und Constantins zum Ab- schluß, aber schon lange vorher läßt es sich beob- achten, wie der Trieb, sich in städtischen Ämtern
20 hervorzutun, immer schwächer wird. Den sichersten Maßstab dafür bieten die Iterationen des Duovirats. Zweimal das Konsulat zu bekleiden, war für den Römer die höchste denkbare Ehre, zu der es kaum einer von vielen tausend Senatoren brachte. Auch
25 der Kleinstädter schätzte die Wiederwahl zum höchsten Amte seiner Gemeinde anfangs nicht viel geringer :
187 unter der Republik scheint sie sehr selten und nur bei hochverdienten Männern vorgekommen zu sein. Dao:egen wird sie im ersten Jahrhundert der Kaiser-
*• zeit zu einer ganz gewöhnlichen Erscheinung; sie galt eben noch immer als erstrebenswertes Ziel, aber da sich weniger Bewerber um den Duovirat fanden, wurde ^ie einer größeren Zahl erreichbar. Gegen Ende dieses Zeitraums tritt jener Zwang ein, der die Stadt-
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188 in. Die Verwaltung des Reiches.
ärmlichsten Neste konnte, wer die ganze Ehreulauf- bahn durchmachte, kaum unter 5000 Mark davon- kommen und hatte dann noch das erbauliche Gfefühl, äußerst schäbig gewesen zu sein, weil er nicht mehr gegeben hatte, als gefordert wurde und nötigenfalls .5 auch erzwungen werden konnte. Und doch war das- jenige, was die Gemeinde ihnen abnahm, bei den ärmsten Decurionen nicht weniger als ein Viertel ihret^ Vermögens. Und diese kolossale Leistung verteilte sich nicht etwa in kleinen Eaten über einen längeren 10 Zeitraum, sondern das einzelne Amts jähr mußte jedes- mal eine Summe tragen, die ein mäßig begüterter Mann aus seinen Zinsen nicht bestreiten konnte. Immer wieder mußte man das Kapital angreifen, von dem dje Familie lebte; hatten ein paar Generationen 15 daran gezehrt, so hörte die Möglichkeit auf, die Lücken durch Sparsamkeit wieder auszufüllen; die liegenden Gründe mußten verkauft werden, das Vermögen sank unter das Maß herab, welches dem Decurionen vor- geschrieben war. und die Stadt wai- um einen Rats- 20 herrn ärmer.
Die einzelne Familie, die so in die Plebs hinab- gestoßen wurde, mochte man bedauern; doch für die Stadt als Ganzes bedeutete sie nicht viel. Als aber die Einbußen sieh wiederholten und steigerten, begann ss man sie doch auch in der Verwaltung zu empfinden. Jener Zwang, bei jeder neuen Würde eine bestimmte 186 Summe zu spenden, ist nicht in allen Städten zugleich eingeführt; ungefähr aber kann man als die Zeit, in der er sieh durchsetzte, die Wende des ersten und i^ zweiten Jahrhunderts bezeichnen. Und schon eine Generation später betteln die Städte darum, daß den Attribuierten, auf die man früher stolz herabgeblickt hatte, das volle Gemeindebürfiftn-rccht verliehen werde.
4. Die Verwaltung der Städte. 189
damit man sie zu den Lasten des Decurionates mit- heranziehen könne. Natürlich läi^t man auch die Incolae nicht frei ausgehn, ja viele von ihnen werden von zwei Städten in Anspruch genommen, von der- 5 Jenigen, welcher sie nach ihrer Abstammung an- gehören, und von der anderen, in der sie ihren Wohnsitz haben. Endlich wird jeder zum Ordo ge- preßt, der das nötige Vermögen besitzt, um seinen Ansprüchen zu genügen; selbst Weiber und Kinder
10 zieht man heran, und gierig forschen Decurionen und Statthalter, ob nicht irgend jemand noch über sehn ist, dem man die städtischen Ämter aufhalsen könnte. Denn wer dies irgend kann, entzieht sich ihnen, und nicht den Decurionenpflichten unterworfen zu sein,
15 wird zum kostbaren Privileg.
Diese Entwicklung kommt zwar erst durch die Gesetzgebung Diocletians und Constantins zum Ab- schluß, aber schon lange vorher läßt es sich beob- achten, wie der Trieb, sich in städtischen Ämtern
20 hervorzutun, immer schwächer wird. Den sichersten Maßstab dafür bieten die Iterationen des Duovirats. Zweimal das Konsulat zu bekleiden, war für den Römer die höchste denkbare Ehre, zu der es kaum einer von vielen tausend Senatoren brachte. Auch
25 der Kleinstädter schätzte die Wiederwahl zum höchsten Amte seiner Gemeinde anfangs nicht viel geringer;
187 unter der Republik scheint sie sehr selten und nur bei hochverdienten Männern vorgekommen zu sein. Dagegen wird sie im ersten Jahrhundert der Kaiser-
ao zeit zu einer ganz gewöhnlichen Erscheinung; sie galt eben noch immer als erstrebenswertes Ziel, aber da sich weniger Bewerber um den Duovirat fanden, wurde sie einer größeren Zahl erreichbar. Gegen Ende dieses Zeitraums tritt jener Zwang ein, der die Stadt-
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III. Die Verwaltung des Reiches.
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ämter bald ihrer Würde berauben sollte; doch konnte man von keinem beanspruchen, daß er ein einmal bekleidetes Amt zum zweitenmal übernehme. Wenn es jemand tat, so war dies freier Wille; doch stand der Befriedigung eines solchen Ehrgeizes, falls man » ihn noch hegte, kein Hindernis mehr entgegen, weil man in den meisten Fällen keinen Mitbewerber zu fürchten hatte. Gleichwohl gehen die Iterationen jetzt ganz erstaunlich zurück. Ich kenne etwa 90 Beispiele, die sich datieren lassen; davon gehören dem ersten lo Jahrhundert etwa 70 an, dem zweiten 16, dem An- fang des dritten 3 ; später hören sie gänzlich auf. Seit jener Zwang sich geltend machte, nahm also die Zahl derjenigen, die häufiger Ämter bekleideten, als sie müßten, furchtbar ab. Da diese kaum mehr als Ehre 10 gelten konnten und zugleich durch die Beschränkungen, welche die Kaisergesetze ihnen auferlegten, auch keine freie und erfolgreiche Tätigkeit mehr erlaubten, hatten sie eben allen Eeiz verloren. Wer jetzt noch, ohne dazu gezwungen zu sein, ein Stadtamt übernahm, der 20 betrachtete dies als eine Handlung der Freigiebigkeit, durch die er anderen Mitgliedern des Ordo eine Last ersparte.
Denn der Trieb, reiche Spenden zu geben und sich dafür als Wohltäter seiner Stadt preisen und ss bewundern zu lassen, hörte noch lange nicht auf. Mochten auch die befohlenen Leistungen, denen der 188 ärmere Decurione sich seufzend unterzog, nicht mehr für ehrenvoll gelten, wer das Gold mit offener Hand wegwerfen konnte, erwarb dadurch noch immer Ruhm 3* und Ansehn. Jene Statuen und Ehrendekrete, die Antrieb und Preis der munizipalen Freigiebigkeit waren, finden sich noch bis über die Mitte des dritten Jahrhunderts; dann aber brechen sie plötzlich ab. Die
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4. Die Verwaltuncr der Stadt»-
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Inschriften des vierten preisen nur noch die Kaiser und hohe Eeichsbeamte, nicht mehr den opferbereiten Decurionen. Wie bestimmend jene immer wieder- holten Geschenke für den gesamten Haushalt der
5 Städte waren, haben wir oben schon dargelegt; ihr Wegfallen muß daher von tiefgreifenden Folgen ge- wesen sein.
Diese Wandlung wird durch viele Gründe bedingt sein, unter denen der Sieg des Christentums wohl
10 nicht die letzte Stelle einnimmt. Das antik-heidnische Sittengesetz hatte die höchste Aufgabe des Mannes in opferfreudiger Hingabe an seinen Staat gesehn; die neue Lehre kannte diesen nur als die von Gott ein- gesetzte Obrigkeit, der man sich in passivem Gehorsam
15 zu beugen hatte; daß auch selbsttätiges Wirken zum Heüe der Gesamtheit eine Tugend sei, ist dem neuen Testament ganz unbekannt. Anstatt reicher Geschenke an die Gemeinde, die den Hochmut des Gebers nähren, empfiehlt sie stille Almosen an Krüppel und Bettler.
20 Und wenn diese Art der Freigiebigkeit ihr für ver- dienstlicher galt, so bot sie zugleich den Vorteil, viel minder kostspielig zu sein. Fühlte aber auch jetzt noch eia vermögender Mann den Wunsch, sein An- denken durch eine große Stiftung zu verewigen, so
25 brachte er sie nicht mehr seiner Stadt dar, sondern der Kirche, die arbeitscheues Gesindel damit ernährte.
189 Wie der Bischof die Verwaltung der Gemeinde an sich riß, so auch die Einkünfte, die ihr früher in so reichem Maße zugeflossen waren.
30 . Noch wirksamer aber war das Herabkommen des Decurionenstandes, das keinem freudigen Ehrgeiz mehr Kaum ließ. Der Zwang, die Ämter zu bekleiden, drückte nicht nur auf dem, der ihn erfuhr, sondern auch auf denen, die ihn ausübten. Denn die unfrei-
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190 ni. Die Verwaltung des Reiches.
ämter bald ihrer Würde berauben sollte; doch konnte man von keinem beanspruchen, daß er ein einmal bekleidetes Amt zum zweitenmal übernehme. Wenn es jemand tat, so war dies freier Wille; doch stand der Befriedigung eines solchen Ehrgeizes, falls man i ihn noch hegte, kein Hindernis mehr entgegen, weil man in den meisten Fällen keinen Mitbewerber zu fürchten hatte. Gleichwohl gehen die Iterationen jetzt ganz erstaunlich zurück. Ich kenne etwa 90 Beispiele, die sich datieren lassen; davon gehören dem ersten lo Jahrhundert etwa 70 an, dem zweiten 16, dem An- fang des dritten 3 ; später hören sie gänzlich auf. Seit jener Zwang sich geltend machte, nahm also die Zahl derjenigen, die häufiger Ämter bekleideten, als sie mußten, furchtbar ab. Da diese kaum mehr als Ehre i& gelten konnten und zugleich durch die Beschränkungen, welche die Kaisergesetze ihnen auferlegten, auch keine freie und erfolgreiche Tätigkeit mehr erlaubten, hatten sie eben allen Reiz verloren. Wer jetzt noch, ohne dazu gezwungen zu sein, ein Stadtamt übernahm, der so betrachtete dies als eine Handlung der Freigiebigkeit, durch die er anderen Mitgliedern des Ordo eine Last ersparte.
Denn der Trieb, reiche Spenden zu geben und sich dafür als Wohltäler seiner Stadt preisen und a bewundern zu lassen, hörte noch lange nicht auf. Mochten auch die befohlenen Leistungen, denen der 188 ärmere Decurione sich seufzend unterzog, nicht mehr für ehrenvoll gelten, wer das Gold mit offener Hand wegwerfen konnte, erwarb dadurch noch immer Ruhm u und Ansehn. Jene Statuen und Ehrendekrete, die Antrieb und Preis der munizipalen Freigiebigkeit waren, finden sich noch bis über die Mitte des dritten Jahrhunderts; dann aber brechen sie plötzlich ab. Die
4. Die Verwaltung der Städte. 191
Inschriften des vierten preisen nur noch die Kaiser und hohe Reichsbeamte, nicht mehr den opferbereiten Decurionen. Wie bestimmend jene immer wieder- holten Geschenke für den gesamten Haushalt der
5 Städte waren, haben wir oben schon dargelegt; ihr Wegfallen muß daher von tiefgreifenden Folgen ge- wesen sein.
Diese Wandlung wird durch viele Gründe bedingt sein, unter denen der Sieg des Christentums wohl
10 nicht die letzte Stelle einnimmt. Das antik-heidnische Sittengesetz hatte die höchste Aufgabe des Mannes in opferfreudiger Hingabe an seinen Staat gcsehn; die neue Lehre kannte diesen nur als die von Gott ein- gesetzte Obrigkeit, der man sich in passivem Gehorsam
15 zu beugen hatte; daß auch selbsttätiges Wirken zum Heüe der Gesamtheit eine Tugend sei, ist dem neuen Testament ganz unbekannt. Anstatt reicher Geschenke an die Gemeinde, die den Hochmut des Gebers nähren, empfiehlt sie stille Almosen an Krüppel und Bettler.
20 Und wenn diese Art der Freigiebigkeit ihr für ver- dienstlicher galt, so bot sie zugleich den Vorteil, viel minder kostspielig zu sein. Fühlte aber auch jetzt noch ein vermögender Mann den Wunsch, sein An- denken durch eine große Stiftung zu verewigen, so
25 brachte er sie nicht mehr seiner Stadt dar, sondern der Kirche, die arbeitscheues Gesindel damit ernährte.
189 Wie der Bischof die Verwaltung der Gemeinde an sich riß, so auch die Einkünfte, die ihr früher in so reichem Maße zugeflossen waren.
ao . Noch wirksamer aber war das Herabkommen des Decurionenstandes, das keinem freudigen Ehrgeiz mehr Raum ließ. Der Zwang, die Ämter zu bekleiden, drückte nicht nur auf dem, der ihn erfuhr, sondern auch auf denen, die ihn ausübten. Denn die unfrei-
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willigen Bewerber, die, falls Mangel an freiwilligen war, der Duovir bestimmte, mußten nach dem Gesetze „geeignet" sein, imd waren sie dies nicht, so traf den Vorschlagenden die Verantwortung. Dies bedeutete nichts anderes, als daß sein Beutel herhalten mußte, 5 falls das Vermögen des Kandidaten für die Leistungen, die ihm zugemutet wurden, nicht ausreichte. Und Je mehr der Ordo verarmte, je seltener also die „geeigneten" Persönlichkeiten wurden, desto schwerer drückte die Last der Nomination, wie man jene Er- 10 nennung von Bewerbern und die mit ihr verbundene Haftbarkeit technisch nannte. Um sie von sich ab- zuwälzen, entschlossen die Duovirn sich bald, ihre Auswahl nur nach einem Mehrheitsbeschlüsse des Ordo zu treffen, wodurch die Verantwortung diesem is in seiner Gesamtheit zufiel. Wenn er so der Volks- versammlung die Beamtenwahlen tatsächhch entzog, .so bedeutete dies nicht, daß die Decurionen sich in ein wertvolles Souveränitätsrecht eindrängten, sondern daß sie eine lästige Pflicht widerwillig auf sich nahmen. 20 Denn zu wählen im alten Sinne gab's nichts mehr, weil es kaum noch vorkam, daß zwei Bewerber sich für dieselbe Stelle meldeten ; man hatte nur noch zu entscheiden, wer am wenigsten hart davon betroffen Avurde, wenn man ihm die Kosten eines Amtes zu- 25 mutete. Die Haftpflicht der Nomination war damals noch erträglich; denn man war über die Vermögens- 190 läge jedes Bürgers genügend unterrichtet, um ihm nichts Unmögliches aufzubürden, und täuschte man sich dennoch, so konnte die Einbuße, über den ganzen so Ordo verteilt, für den einzelnen Decurio nicht gar zu tlrückend sein.
Dies änderte sich erst unter Diocletian. .Vis er .sein Heer bedeutend vergrößerte und zugleich die
4. Die Verwaltung der Städte. 193
Zahl der Keichsbeamten um ein A^ielfaches vermehrte, mußte er die Kosten durch eine neue Auflage decken, der die Steuerkraft des armen Volkes nicht gewachsen war. Decurionen aber mußten sie erheben und hatten 5 alles, was sich nicht eintreiben ließ, aus ihrer Tasche zu ersetzen. Hatte man ihr Vermögen früher schon der Stadt dienstbar gemacht, warum sollte das Eeich jetzt, wo es in Not war, nicht auch auf dies all- bereite Hilfsmittel zurückgreifen? Auch jene Steuer-
10 erheber wurden durch den Ordo gewählt, und wieder übernahm er für sie die Lasten der Xomination, die aber in diesem Falle jeden Wohlstand seiner Mitglieder vernichten mußten.
Um dies zu erklären, ist es erforderlich, daß wir
15 auf die Steuerpolitik der Kaiser etwas näher eingehn. Da sie aber nur durch die damalige Zerrüttung des Münzwesens verständlich wird, muß unsere weitere Betrachtung von diesem beginnen.
S II 13
Fünftes Kapitel.
Geld und Tribute.
Das Münzwesen der ersten Kaiserzeit, wie es 191 durch Augustus seine endgültige Gestaltung erhielt, hätte jeden Bimetallisten unserer Tage begeistern können; von einer Knappheit des Geldes konnte hier nie die Eede sein. Denn es gab nicht nur eine 5 doppelte, sondern eine vierfache Währung, insofern man in vier Metallen prägte und in jedem derselben Zahlungen bis zu den höchsten Beträgen annehmen mußte. Es waren das Gold, Silber, Kupfer und Messing. Die Münzen der drei ersten Metalle ent- lo hielten gar keine Legierung, sondern wurden so rein hergestellt, wie dies der Technik des Altertums über- haupt möglich war; ihr Feingehalt steigt daher bis auf 99 Prozent und bleibt niemals sehr weit dahinter zurück. Man wußte eben, daß Beimischungen ge- 15 ringeren Wertes sich schwer kontrollieren ließen, und wollte dem Publikum die Möglichkeit gewähren, ohne jedes andere Hilfsmittel als die Wage die Vollwertig- keit jedes Stückes prüfen zu können. Das Messing be- stand zu vier Fünfteln aus Kupfer, zu einem Fünftel so aus Zink. Es wurde benutzt, um den Sesterzen und seine Hälfte zu schlagen, der bis auf Diocletian herab die Einheit der offiziellen Eechnung bildete. Sein
5. Geld und Tribute. 195
192 Goldwert betrug anfangs 22,84 Pfennig deutscher Währung, sank aber schon unter Nero auf 20,3 herab, um dann auf dieser Höhe zu bleiben, solange das Münz- wesen des Reiches seine Ordnung noch bewahrte. Wo
5 es nicht auf sehr große Genauigkeit ankommt, kann man daher im ersten und zweiten Jahrhundert 5 Sesterzen unserer Mark gleichsetzen.
Das Goldstück, denarius aureus oder- kurzweg aureus genannt, galt 100 Sesterzen. Sein Gewicht
10 war auf 1/40 des römischen Pfundes = 8,185 Gramm angesetzt, so daß es 22,84 Mark entsprach.
Der silberne Denarius vertrat 4 Sesterzen und sollte V84 Pfund = 3,9 Gramm wiegen. Das Ver- hältnis des Silbers zum Golde betrug also 1:12; doch
15 war der Denar um ein Unbedeutendes leichter geprägt, so daß es sich in der Münze auf 1:11,91 stellte.
Das kupferne As, von dem auch Halb- und Viertelstücke geschlagen wurden, galt V4 Sesterzen. Das ganze Münzwesen ist also sehr klar und bequem
20 nach dem Dezimalsystem geordnet, neben das eine
durchgehende Viertelang der kleineren Einheiten tritt,
woraus sich folgende Gleichungen ergeben:
1 Aureus = 25 Denare = 100 Sesterzen = 400 As.
1 Denar = 4 Sesterzen = 16 As.
25 1 Sesterz = 4 As.
Obgleich man nach Sesterzen rechnete, bildete
doch der Aureus den tatsächlichen Wertmesser, durch
den die Geltung der niedrigeren Münzsorten gestützt
und aufrecht erhalten wurde. Zwar Scheidemünze
30 im modernen Sinne waren auch diese nicht ; denn dazu gehören zwei Erfordernisse: 1. das Geldstück muß zu einem höheren Werte ausgegeben sein, als seinem Metallgehalt entspricht; 2. keiner darf ver- pflichtet sein, mehr als eine Destimmte, nicht sehr
196 ni. Die Verwaltung des Reiches.
hoch bemessene Summe von diesem imterwertigen 193 Gelde in Zahlung zu nehmen. Nun fehlt aber, wie schon gesagt, das zweite dieser Kennzeichen bei allen römischen Münzen, und auch das erste wenigstens beim Denar. Denn wenn auch sein Nennwert um 5 ^/4 Prozent über dem Metall wert stand, so war doch dieser Unterschied viel zu gering, um bemerkt zu werden. J^am es doch vor, daß die einzelnen Stücke derselben Prägung viel größere Differenzen aufwiesen, weil die antike Münztechnik noch nicht die Gleich-. 10 mäßigkeit des Gewichtes erreichen konnte, die wir heute verlangen. Selbst die Goldmünzen weichen oft um ein Zehntel Gramm voneinander ab, und bei den wohlfeileren Metallen war man noch nachlässiger in der Justierung. Aber wenn auch der Denar als voll- i5 wertig gelten konnte, Sesterz und As waren hoch über ilirem Metallwerte, vielleicht gar auf das Doppelte desselben angesetzt, entsprachen also in dieser Be- ziehung unserer Scheidemünze und brachten alle Ge- fahren derselben mit sich. 20
Noch im neunzehnten Jahrhundert hat man es mehrfach beobachten können, daß eine Eegierung, v/enn sie sich in schwerer Geldklemme, befand, ihr durch massenhafte Ausgabe von Scheidemünzen abzu- helfen suchte. Nun scheint es zwar ein recht gutes 25 Geschäft zu sein, wenn man für 100 000 Mark Kupfer kauft und es dann durch die billige Operation des Prägens in 200000 Mark verwandelt; aber dies Mittel- chen hilft nur für den Augenblick und steigert bald die Schwierigkeiten, die es heben sollte. Vermehrtes so Angebot drückt die Preise; wird also eine große Menge neuer Münzen auf den Markt geworfen, so muß das Geld selbst billiger werden, d. h. alles, was man dafür kaufen kann, wird teurer. Naürlich gilt
5. Geld und Tribute. 197
194 dies nicht ausnahmslos; z. B. kann das Steigen der Kornpreise durch ungewöhnlich gute Ernten ver- hindert oder gar in ein Sinken verwandelt werden. In diesem Falle steht eben ein gesteigertes Angebot dem
5 andern gegenüber, wodurch das Gleichgewicht wieder hergestellt wird. Doch dies und Ähnliches sind vor- übergehende Erscheinungen ; auf die Dauer ändern sie nichts an dem Gesetz, daß starke Vermehrung des Geldes die entsprechende Erhöhung aller Preise nach
10 sich ziehen muß. Gibt also die Regierung mehr Münze aus, so kommt sehr bald der Zeitpunkt, wo sie nicht mehr damit kaufen kann, als mit dem früheren ge- ringeren Bestände.
Allerdings tritt diese Folge auch bei der Ver-
1.5 mehrung des vollwertigen Geldes ein. So hat die Entdeckung immer neuer Gold- und Silberlager in Amerika, Australien und Afrika schon seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts alle Preise in die Höhe getrieben. Aber so viele neue Quellen sich auch
20 eröffnet haben, die Edelmetalle bleiben doch selten und können nicht über die beschränkte Menge hinaus vermehrt werden, welche die Natur uns darbietet. Dagegen kann jeder Staat so viel Scheidemünze prägen lassen, wie in seinem Belieben steht; die Gefahr wirt-
2ö schaftlicher Erschütterungen ist also bei dieser viel größer und allgemeiner.
Dazu kommt noch ein zweiter Nachteil, welcher der Scheidemünze eigentümlich ist. .Jenes Zuströmen von Gold und Silber, wie es mit der Entdeckung
30 Amerikas begonnen hat, drückte zunächst den Wert der Metalle selbst herab und dann erst mittelbar auch den des Geldes, weil es ja aus jenem entwerteten Metall bestand und bestimmte Gewichtseinheiten des- .selben repräsentierte. Der Wert der Scheidemünze
198 in. Die Verwaltung des Reiches.
beruht nicht auf ihrem Metallgehalt, sondern auf der 195 Erklärung des Staates, daß seine Kassen sie zu einem festen Satze annehmen werden, und auf dem Befehl an alle seine Bürger, ein gleiches zu tun. Wird sie ungebührlich vermehrt, so steigen mit allen übrigen 5 Waren auch die Metalle im Preise. Mithin wird das vierzigstel Pfund Gold, aus dem ein Aureus geschlagen wird, bald teurer zu verkaufen sein, als für die 100 Se- sterzen, deren Nennwert dem seinen entspricht. Da nun die Staatskasse zwischen 1 Aureus und 100 Se- lo sterzen keinen Unterschied macht, so zahlt man an sie natürlich in Scheidemünze und bringt den Aureus zum Goldschmied, der 110 oder 120 Sesterzen dafür gibt. So kommt es, daß hochwertiges Geld, wo minder- wertiges daneben umläuft, meist in den Schmelztiegel is getrieben wird und aus dem Verkehr verschwindet. Was der Eegierung durch die Steuern zufließt, ist also fast nur die schlechte Münze, wodurch der Vorteil, den sie früher durch die Vermehrung derselben erreicht hatte, mehr als aufgewogen wird. 20
Diese Folgen lassen sich nur dadurch vermeiden, daß der Staat sich weigert, die Scheidemünze zu dem- selben Werte anzunehmen, wie er sie ausgegeben hat, also eine offenbare Unehrlichkeit gegen seine Unter- tanen begeht. So hatten es die ägyptischen Könige 25 gemacht. Sie prägten als Wertmünze ein silbernes Vierdrachmenstück, dem 24 Kupferobolen entsprechen sollten. Als aber diese in zu großer Menge ausge- geben und dadurch im Werte gesunken waren, wurde verfügt, daß gewisse Steuern nur in Silber bezahlt 30 werden dürften. Wollte man statt dessen Kupfer geben, so lehnten "es die öffentlichen Kassen zwar nicht ab, nahmen es aber nur zu einem Kurse, der unter seinem Nennwerte stand. Auf diese Weise blieb
5. Geld und Tribute. 199
196 das silberne Tetradrachmon vor dem Einschmelzen be- wahrt, aber man gelangte dazu, daß es 26^/4 Obolen galt, ein höchst unbequemes Verhältnis, das dem kleinen Marktverkehr viele Schwierigkeiten bereitet 5 haben muß. Diese Zustände lernte Augustus kennen, als er nach der Schlacht bei Actium Ägypten in Besitz nahm. Hier veränderte er sie nicht, weil das Volk sich schon durch lange Gewohnheit damit abgefunden hatte; auch hätte eine Neuregelung der Münzverhält-
10 nisse der Staatskasse, die durch den Bürgerkrieg schon sehr erschöpft war, neue Opfer zugemutet. Doch mit dem praktischen Sinne, der ihm eigen war, zog er aus dem Beispiel Ägyptens eine Lehre, die dem übrigen Reich zugute kommen sollte.
15 Wenn absolute Herrscher, wie die Ptolemäer es
gewesen waren, frei über die Ausgabe der Scheide- münze verfügen, so ist es kaum zu vermeiden, daß der eine oder der andere damit Mißbrauch treibt. Augustus nahm daher nur die Prägung von Gold und
20 Silber für sich in Anspruch; Messing und Kupfer überließ er dem Senat, wodurch der Gewinn, den ihre Münzung abwarf, nicht dem kaiserlichen Schatze, sondern der römischen Stadtkasse zugute kam. Diese hatte verhältnismäßig geringe Ausgaben zu leisten
25 und war zu gut gestellt, um zweifelhafter Hilfsmittel dafür zu bedürfen. Ob eine neue Prägung nötig oder nützlich sei und in welchem Umfange, darüber ent- schied jedesmal der versammelte Senat, der sich nicht leicht zu übereilten Schritten hinreißen ließ, und wenn
30 er es dennoch tat, durch den Herrscher korrigiert werden konnte. So umgab Augustus die Kupfer- prägung mit allen Kontrollen, welche die römische Verfassung darbot, und schützte sie ängstlich vor sich selbst und seinen Nachfolgern.
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Diese Vorsicht trug ihre Früchte. In beschränkter 197 Menge ist Kleingeld unentbehrlich, und niemand fragt nach seinem Metallgehalt, solange es nur zum Wechseln der Gold- und Silberstücke und zur Be- sorgung der kleinst-en Einkäufe dient. Daß das r, Messing von 100 Sesterzen nur halb soviel kostete, wie das Gold eines Aureus, hinderte nicht, daß beides zu gleichem Werte genommen v.'urde. Denn wollte jemand damit ein Geschäft machen, daß er auch große Summen nicht mit Gold oder Silber, lo sondern mit unter wertigem Gelde bezahlte, so mußte er Tausende von Bronzestücken ansammeln, und diese gab der Verkehr nicht ohne weiteres her, weil er ihrer bedurfte. Wird das Kleingeld selten, so tritt eben wieder das Gesetz von Angebot und Nachfrage 15 in Kraft und steigert seinen Preis noch über den Nennwert hinaus; man hätte also ein Agio dafür zahlen müssen, wie dies gegenwärtig in der Türkei geschieht, und dadurch wäre der Gewinn jenes un- soliden Geschäftes wieder verschlungen worden. Man so konnte daher unbedenklich gestatten, daß auch die größten Summen in Sesterzen oder Assen gezahlt werden durften, weil es praktisch unmöglich war, von dieser Erlaubnis übertriebenen Gebrauch zu machen. Denn der Senat handhabte sein Münzrecht immer mit 25 der erforderlichen Sparsamkeit; z. B. hat er während der dreimonatigen Eegierung des Otho nicht ein einziges Stück in Messing oder Kupfer ausgegeben. Er prägte eben nicht fortlaufend, sondern nur wenn ein Bedürfnis nach Kleingeld bemerkbar war, und so vermochte so den Wert desselben dauernd aufrecht zu erhalten.
Das Gebiet der kaiserlichen Willkür blieb auf Gold und Silber beschränkt, und hier machte sie
5. Geld und Tribute. 201
198 sich, wenn auch zuerst noch schüchtern, gleich von Anfang an geltend. Der große Caesar war es gewesen, der den Aureus auf ^'40 Pfund normiert hatte; und schon unmittelbar nach seinem Tode begannen die
5 Triumvirn in den Finanznöten der Bürgerkriege sich dadurch kleine Vorteile zu verschaffen, daß sie ein weniges vom Gewichte jedes einzelnen Stückes ab- knappen ließen. Anfangs mochte dies kaum bemerkt werden, weil auch bei ehrlicher Prägung die Münzen
10 nie ganz gleichmäßig ausfielen; als aber noch unter Augustus der Aureus von 8,185 Gramm allmählich auf 7,8 gesunken war, da kam der Unterschied schon dem Werte von 80 Pfennigen gleich, und dies genügte, um die älteren und schwereren Stücke zum Schmelz-
15 tiegel zu verdammen. So sank das Goldstück langsam weiter, am schnellsten durch die leichtsinnige Ver- schwendung des Xero, der es von 7,6 Gramm, auf 7,3 herunterbrachte. Die späteren Kaiser haben sein Ge- wicht bald um eine Kleinigkeit erhöht, bald wieder
20 davon abgeknappt, so daß es von Xero bis auf Cara- calla mit kleinen Schwankungen sich auf dem durch- schnittlichen Werte von 20 Mark erhält.
Das Silber hat man zwar noch ungleichmäßiger geschlagen, aber selten davon abgeknappt, weil dies
25 bei seinem geringeren Werte wenig Gewinn brachte. Doch hatte schon Antonius in der Not seines letzten Krieges den Denaren etwa 15 Prozent Kupfer bei- gemischt, ein höchst gefährliches Beispiel, das freilich zunächst noch ohne Nachahmung blieb. Denn Augu-
30 stus und seine nächsten Nachfolger hielten auf reines Korn, weil nur dieses dem Publikum eine sichere Kontrolle des Münzwertes möglich machte. Gleichwohl blieben die legierten Stücke des Antonius im Verkehr ; doch mischten sie sich unbeachtet mit dem besseren
202 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Gelde, und da sie nicht zahlreich genug waren, um 199 dieses vom Markte zu verdrängen, brachten sie keinen unmittelbaren Schaden. Nur ließ sich hieraus der bedenkliche Schluß ziehen, daß schlechte Münze in der guten unbemerkt verschwinde, und bald fand sich 5 einer, der sich diese Lehre zunutze machte.
Als Nero das Gewicht des Goldstückes auf V45 Pfund verringerte, setzte er auch den Denar von V84 auf V96 Pfund herab, d. h. von 3,9 auf 3,4 Gramm. Dies geschah weniger in gewinnsüchtiger Absicht, als 10 um das alte Verhältnis der beiden Münzarten, das durch das Sinken des Aureus gefährdet war, aufrecht zu erhalten. Davon aber erwartete man einen Vorteil für die kaiserliche Kasse, daß man dem Silbergeide ein wenig Kupfer beimischte. Da es sich noch auf die he- 15 scheidene Menge von 5 — 10 Prozent beschränkte, blieb diese Verschlechterung des Geldes im Publikum wahrscheinlich ganz unbemerkt. Gerade dadurch aber fanden die späteren Kaiser sich ermutigt, auf dem- selben Wege weiter zu gehn. Auch hier, wie bei dem 20 Leichterwerden der Goldmünze, ist der Fortschritt kein stetiger; es scheint, daß man je nach der Finanz- lage bald mehr bald weniger Kupfer den Denaren hinzutat. Vom Tode des Nero bis auf Pius schwankt die Legierung zwischen 7 und 25 Prozent hin und her. 25 Durch den großen Marcomannenkrieg des Marcus Aurelius, der auch an die Geldmittel des Reiches die höchsten Anforderungen stellte, wird sie bis über 30 Prozent erhöht; unter Severus steigt sie dann so hoch, daß weniger als die Hälfte des Münzmetalls noch 30 aus Silber besteht. Bis zu diesem Zeitpunkt aber scheint das bessere und das schlechtere Geld sich unterschieds- los gemischt zu haben, nur daß man natürlich die aller- besten Stücke nach und nach sammelte und einschmolz.
5. Geld und Tribute. 203
200 In der Literatur, die ja aus dem ersten und zweiten Jahrhundert noch in reicher Fülle erhalten ist, findet sich über dies Schwanken des Münzgehaltes keine Klage, ja kaum eine flüchtige Bemerkung;
5 wären nicht die Geldstücke selbst auf uns gekommen, so wüßten wir fast nichts davon. Das Publikum hat also den Wechsel des Denarwertes gar nicht beachtet, und dies ist nicht so sehr zu verwundern, wie es den Anschein hat. Daß das Silberstück unterwertig ge-
10 worden war, hatte eben für den inneren Verkehr keine Folgen, weil man es nicht wegen seines Metall- gehaltes, sondern einfach als Fünfundzwanzigstel des Goldstückes nahm. Es war eben auch zur Scheide- münze herabgesunken, behauptete aber als solche ganz
15 ebenso seinen Wert, wie Sesterz und As es taten. Man war ganz im Stillen, ohne daß jemand es bemerkt hätte, aus der Doppelwährung in die einfache Gold- währung hinübergeglitten. Denn vollgültige Wert- stücke waren nicht mehr, wie unter Augustus, Denar
20 und Aureus, sondern nur noch der letztere allein, während alle anderen Münzen einzig als seine Teil- stücke ihre Geltung bewahrten.
Wenn man aus einem Pfund Silber nicht mehr 84 Denare, sondern weit über hundert schlug, so hätte
25 dies allerdings eine bedeutende Vermehrung des Geldes und folglich eine allgemeine Steigerung der Preise herbeiführen müssen, wenn nicht ein anderes Moment dem entgegengetreten wäre. Heutzutage ist die verfügbare Menge des Edelmetalls in ununter-
30 brochenem Steigen begriffen; denn was durch Ab- nutzung und chemischen Verbrauch, durch Schiff- bruch und andere Zufälle verloren geht, ist sehr wenig im Verhältnis zu den Massen, die täglich neu aus der Erde gefördert werden. In der römischen Kaiserzeit
204 ni. Die Verwaltung des Reiches.
war dies anders. Die bekannten Bergwerke und Gold- 201 Wäschereien waren durch, jahrhundertlangen Gebrauch erschöpft und neue wurden selten erschlossen. Denn es gab keine kühnen Entdecker, deren Forschungs- reisen die Schätze ferner Weltteile zugänglich machten, 5 sondern man blieb auf den Machtbereich der römischen Herrschaft beschränkt, der sich schon seit Trajan nicht mehr erweitert hatte. So hörte denn der berg- männische Betrieb zwar nicht ganz auf, aber seine Erträge waren nicht bedeutend und verringerten sich 10 immer mehr. Und diesem schwächeren Zustrom stand ein viel stärkerer Abgang gegenüber. Zunächst wirkte hier die Sitte des Schätzevergrabens, die im Altertum eine traurige Verbreitung besaß. Denn die Unsicher- heit des Besitzes, mochte sie durch Einfälle der Bar- 15 baren, durch Bürgerkriege oder durch tyrannische Obrigkeiten verursacht sein, trieb immer wieder dazu, die Wertmetalle in der Erde zu verstecken; und wurde dann ihr Eigentümer durch Krieg oder Mord dahin- gerafft, so blieben sie oft jahrhundertelang verloren. 20 Man weiß ja, wie diese geheimnisvollen Schätze, die ein glücklicher Zufall bald diesem, bald jenem in den Schoß warf, die Phantasie des ganzen Mittelalters be- schäftigt und zu mancher Art tollen Zauberspukes Anlaß gegeben haben, und noch jetzt vergeht kaum 25 ein Jahr, ohne daß ein neuer Schatz zutage käme. Der Verlust an Edelmetallen, den das Altertum auf diese Weise erlitt, läßt sich kaum hoch genug an- schlagen, und durch den lebhaften Orienthandel trat ihm ein noch größerer hinzu. Denn weil das Keich 30 keine Industrie besaß, deren Erzeugnisse man als Gegengabe für die Kostbarkeiten des Ostens hätte bieten können, mußte man sie immer mit barem Gelde bezahlen. Im ersten Jahrhundert schätzte man die
5. Geld und Tribute. 205
202 Summe, die Indien allein jedes Jahr aus dem römi- schen Gebiete bezog, auf mindestens 55 Mil- lionen Sesterzen. Dazu kamen dann noch Armenien und Persien, woher man die Eunuchen als kostbare
5 Sklaven für den Dienst vornehmer Frauen bezog, Arabien mit seinem wohlriechenden Eäucherwerk, das für den Opferdienst unentbehrlich war, China, dessen Seidenstoffe hoch im Preise standen, und manches andere Land. So schwoll der Abflui3 von Gold und
10 Silber weit über dasjenige hinaus, was man aus den erschöpften Bergwerken neu gewann. Indem aber die Edelmetalle seltener wurden, mußte der Wert des Geldes in demselben Maße oder gar in noch höherem steigen, wie er durch die Gewichtsverminderung des
15 Goldstücks und die Vermehrung der Silberdenare sank. Gewiß waren diese Maßregeln nicht durch kluge wirtschaftliche Erwägungen, sondern nur durch die zeitweiligen Geldbedürfnisse eingegeben; aber ohne daß ihre Urheber es wußten und beabsichtigten, wirk-
20 ten sie höchst zweckmäßig, indem sie den allgemeinen Niedergang der Preise, den die Verminderung der Edelmetalle hätte herbeiführen müssen, verhinderten oder doch aufhielten.
Xur für den Außenhandel schuf der Kupferbeisatz
25 der Silbermünzen Schwierigkeiten. Tacitus erzählt uns, daß die Germanen die republikanischen Denare vor den kaiserlichen bevorzugten. Er selbst schreibt dies nur einer grundlosen Vorliebe für das Alte und Gewohnte zu; doch unsere barbarischen Ahnen waren
30 klüger, als ihr Geschichtschreiber merkte. Unter den Münzen, die Kaiserbildnisse trugen, bestanden eben viele aus unreinem Silber. Da nun die Germanen die Gesichter der einzelnen Herrscher nicht unter- scheiden, noch weniger jeden Denar auf seinen Fein-
206 ni. Die Verwaltung des Reiches.
gehalt prüfen konnten, wiesen sie alle zurück, die das 203 Gepräge des Kaiserkopfes verdächtig machte, oder nahmen sie doch nur zu einem geringeren Werte. Doch diese Unbequemlichkeit belästigte nur den kleinen Bruchteil der Bevölkerung, der jenseits der 5 Grenzen Geschäfte machte, und bei der ungeheuren Ausdehnung des Eeiches, das fast alle seine Bedürf- nisse aus eigener Produktion bestreiten konnte, war der Außenhandel, der kaum einen Umsatz von 20 Mil- lionen Mark erreicht haben dürfte, im Verhältnis zum 10 Binnenhandel sehr unbedeutend. Und daß dieser durch die Münzverschlechterung einstweilen noch nicht litt, dafür gibt uns Tacitus den besten Beweis, insofern er gar nicht versteht, warum die Germanen den alten Denar lieber nahmen als den neuen. 15
Wenn man jenseits der Eeichsgrenzen am Kurse des Denars verlor, so mußte dies freilich die Folge haben, daß man im Außenhandel vorzugsweise mit Goldmünzen bezahlte, die zwar auch nicht ganz voll- wichtig, aber doch von reinem Korne waren. So 20 strömte die eigentliche Wertmünze ins Ausland, wäh- rend das schlechte Geld meist zurückblieb. Doch scheint sich dies erst spät fühlbar gemacht zu haben, weil die große Ausdehnung des Eeiches und die Ge- ringfügigkeit seines Grenz Verkehrs jenen Prozeß ver- 25 langsamte. Denn ein Ausfuhrverbot für Gold ist nicht vor dem Jahre 370 erlassen worden, und gewiß hätte man schon früher versucht, dem Verschwinden der Wertmünzen durch Maßregeln dieser Art vorzu- beugen, wenn man ihre Abnahme als gefährlich 30 empfunden hätte.
So hatte der Leichtsinn Neros dem Münzwesen des Eeiches mehr Nutzen als Schaden gebracht ; im all- gemeinen konnte man auch später mit dem römischen
5. Geld und Tribute. 207
204 Gelde zufrieden sein. Dies prägt sich auch darin aus, daß man bis zum Anfang des dritten Jahrhunderts zwar Schrot und Korn bald verbesserte, bald wieder verschlechterte, aber das Münzsystem als solches keiner 5 bewußten Veränderung unterzog. Man fand eben, was man hatte, gut und brauchbar und hielt daher jede Neuerung für überflüssig. Aber unter Caracalla v.'ird dies anders. Zwar daß er den Aureus auf V50J . den Denar wahrscheinlich auf ^'120 <ies Pfundes
10 herabsetzte, bedeutet nicht viel; es war dies nur ein weiteres Abknappen, wie es uns schon früher, nament- lich unter Xero, begegnet ist. Doch wenn er plötzlich Doppeldenare zu schlagen begann und das zwar in solcher Masse, daß sie bald den ganzen Geldumlauf
15 beherrschten, so wissen wir zwar nicht, was sein zerrüttetes Hirn sich dabei gedacht hat, doch beweist es klärlich, daß Schäden im Münzwesen bemerkbar geworden waren und man irgend eine Art der Abhilfe für erforderlich hielt. Wahrscheinlich war es soweit
20 gekommen, daß man 25 Denare nicht mehr für einen Aureus annehmen wollte, was mit dem Zusammen- bruche des ganzen bisherigen Münzsystems gleich- bedeutend war.
Auch andere Kennzeichen weisen nach derselben
25 Eichtung hin. Solange die Legierung sich in mäßigen Grenzen hält, werden zwar die ganz reinen Denare der vorneronischen Zeit meist eingeschmolzen oder wandern ins Ausland; aber zwischen den Stücken von größerem oder kleinerem Kupfergehalt unterscheidet
30 man kaum. In den Schätzen, die bis auf Septimius Severus vergraben sind, erscheinen sie bunt gemischt und werden daher auch im gewöhnlichen Marktver- kehr zu gleichem Werte genommen sein. Man konnte es den Stücken eben nicht ansehn, ob sie neunzig oder
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siebzig Prozent Silber enthielten; auch wurde ihr 205 Metallwert dadurch nicht viel mehr beeinflußt, als durch die übliche Ungleichmäßigkeit der Prägung. Als aber Severus den Kupferzusatz auf mehr als die Hälfte steigerte, mußte dies schon an der Farbe des 5 Denars bemerkbar werden. Die schlechtesten Münzen sonderten sich leicht von den besseren, und diese wanderten bald in den Schmelztiegel; aus den späteren Schätzen sind sie daher fast ganz verschwunden. In derselben Weise werden aber auch die Aurei sich 10 aus dem Verkehr zurückgezogen haben; sie wurden eifrig gesammelt und aufbewahrt; im inneren Handel sah man sie nicht mehr, und wer sie für das Ausland brauchte, der mußte sie mit hohem Aufgelde kaufen. Ebenso hat man es im neunzehnten Jahrhundert erst is in Österreich, dann in Rußland, Italien und Griechen- land beobachten können, wie alles Wertgeld vom Markte verschwand, wenn der Zwangskurs dem Publi- kum ein unterwertiges Zahlmittel aufdrängte.
Daß Caracalla das Gewicht des Aureus herab- 20 setzte, hatte vielleicht den Nebenzweck, ihn durch diese Minderung seines Wertes wieder kursfähig zu machen. Aber falls er diese Absicht hegte, hat sie sich nicht erfüllt. Schon unter seinem Nachfolger Macrinus schwankt im Verlaufe einer Regierung, die 25 nur vierzehn Monate währte (217—218), das Gewicht der Goldstücke zwischen 7,44 und 6,47 Gramm; das bedeutet einen Wertunterschied von 2^/4 Mark. Es ist klar, daß man Münzen, die so bedeutende Diffe- renzen zeigten, nur mit der Wage in der Hand an- 30 nehmen konnte; sie wurden also behandelt wie Roh- metall, d. h. sie hatten aufgehört, Geld zu sein. Sehr bald scheint man dies auch offiziell anerkannt zu haben. Unter Alexander Severus (222 — 235) werden
5. Geld und Tribute. 209
•j06 noch Beamtengehalte in Gold bezahlt; freilich ist dies eine Vergünstigung, die nur für besondere Verdienste gewährt wird. Der Aureus hat also dem Silbergelde gegenüber schon einen höheren Kurs, wird aber doch :. noch als gesetzliches Zahlmittel betrachtet. Dement- sprechend sind die Goldmünzen Alexanders zwar nichts weniger als gleichmäßig geschlagen, lassen aber doch noch einen bestimmten FuJ3 erkennen. Unter Maxi- minus Thrax (235 — 238) dagegen finden sich Aurei
10 von 6 Gramm, von 5,72, von 4,98, von 4,65 und von 3,42. Sie differieren also um mehr als 2^/2 Gramm, d. h. um einen Wert von 7 Mark, und zwar handelt es sich nicht um gesonderte, deuthch unterscheidbare Münzeinheiten, sondern die höheren Gewichte gehn
15 so allmählich in die niedrigeren über, daß man die Abweichungen unmöglich durch den Augenschein, sondern nur mit der Wage feststellen kann. Wer in dieser Weise prägt, kann gar nicht mehr die Absicht haben, daß die- betreffenden Münzen als Umlauf smittel
20 dienen sollen. Wahrscheinlich schlug man das Gold nur noch zu Festgeschenken, die nach Siegen, bei den Geburtstagen der Kaiser und ähnlichen Gelegen- heiten unter die Soldaten verteilt wurden. Denn da diese sich meist aus den Grenzprovinzen, zum Teil
25 auch schon aus den freien Barbarenländern rekru- tierten, war es ihnen angenehm, wenn sie bei ihrer Rückkehr in die Heimat Wertstücke besaßen, die auch außerhalb des Eeiches gern genomnaen wurden. Übrigens waren viele jener Goldstücke gar nicht dazu
■i\) bestimmt, für irgend welche Käufe ausgegeben zu werden; denn wie die Löcher und Ösen, mit denen sie schon im Altertum versehn sind, deutlich zeigen, sollten sie an Bändern um den Hals getragen werden, dienten also dem rohen Schmuckbedürfnis der Bar- S II 14
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baren, aus denen damals das römische Heer bestand. 207 Mithin trug der Aureus sein Gepräge nur noch zur Zierde; die Eigenschaft einer wirkUchen Münze hatte er seit Caracalla eingebüßt.
Ehe dies eintrat, war der verschlechterte Denar 5 eine Scheidemünze gewesen, die nur als Teilstück des Aureus ihren Wert behielt. Der neue Doppel- denar hatte diese Anlehnung verloren; trotz seines schwankenden Gehaltes mußte er jetzt als wichtigstes Umlaufsmittel selbständig den Markt beherrschen. Und 10 dies schien dadurch erleichtert zu sein, daß der Aureus aus dem Verkehr ganz verschwunden war. Denn Kursschwankungen eines Zahlmittels sind nur dann klar erkennbar, wenn es sich mit einem anderen ver- gleichen läßt. Steht in unserem Kurszettel die Notiz, 15 der italienische Papierfrank stehe auf 90, so bedeutet dies, daß er auf 90 Prozent des Goldfranken ge- schätzt wird, d. h. er wird mit diesem in bezug auf seinen derzeitigen Marktwert verglichen. Fehlt ein solcher Maßstab, der bis zu einem gewissen Grade 20 für stabil gelten kann, so prägt sich das Sinken des Geldwertes nur in dem Steigen der Preise aus, und dieses erfolgt sehr langsam und ungleichmäßig, weil eben bei jeder einzelnen Ware noch andere Faktoren es zurückhalten oder auch beschleunigen können. Das 25 Sinken des Denars war in seinem Verhältnis zum Aureus zum Ausdruck gekommen; seit dieser keine feste Größe mehr war, mußte es viel minder be- merkbar werden, und dies war nicht nur ein schein- barer, sondern auch ein wirklicher Vorteil. Denn so falls man einem Zahlmittel sein Schwanken nicht gar zu deutlich anmerkt, steigert dies das allgemeine Vertrauen zu ihm und gibt ihm dadurch tatsächlich eine festere Haltung. Aber wenn auch das Reich als
5. Geld und Tribute. 211
208 ganzes neben dem Denar nur den Aureus als Wert- messer gekannt hatte, so gab es in den einzelnen Provinzen und Städten zahlreiche Geldsorten, in denen Kursschwankungen zwar keinen allgemeinen, aber 5 doch einen lokalen Ausdruck finden konnten.
Als das Deutsche Eeich gegründet war, gehörte es zu den ersten Maßregeln seiner Gesetzgebung, daß es im Münzwesen Einheit schuf. Das römische hat es in dieser Beziehung viel minder eilig gehabt. So
10 lange die Eepublik sich erhielt, wünschte man gar nicht, die Provinzialen dem Eömer wirtschaftlich gleichzustellen; und als die Kaiser das Werk der Nivellierung begannen, war die eigene Münze vielen der abhängigen Staaten zu einer lieben Gewohnheit
15 geworden, an der man nicht ohne Not rühren mochte. War man doch um so weniger geneigt, ihnen dies letzte Zeichen der Selbständigkeit zu nehmen, als es, wie wir sogleich sehen werden, dem Eeiche finanzielle Vorteile brachte. Jener Unterschied des Westens und
20 des Ostens, den wir schon in den Stadtverfassungen beobachten konnten (S. 149), trat übrigens auch auf dem Gebiete des Münzwesens hervor. In Afrika, Spanien, Gallien und den Donauländern war man meist auf Barbaren gestoßen, die ebensowenig ein
25 klares Geldsystem, wie eine wohlgeordnete Eegierung besaßen. Gleich der italischen Städteordnung war auch die römische Münze bei ihnen eingeführt worden, und wenn man ihnen anfangs noch hier und da Be- sonderheiten gestattete, so verschwanden diese schon
■w im Beginne der Kaiserzeit. Im griechischen Osten dagegen hatte fast jede Stadt mit ihrer eigentümlichen Verfassung auch ihr besonderes Münzrecht bewahrt, das freilich bald auf die Ausgabe von Kiipfergeld eingeschränkt wurde. Dieses galt nur innerhalb des
212 ni. Die Verwaltung de^ Reiches.
l)etiefienden Stadtgebietes und wurde höchstens noch jJOft in den nächsten Nachbargemeinden, wenn auch wahr- scheinhch nicht ohne Kursverlust, angenommen. Wie über das ganze Finanzwesen der Städte, so hatte der Statthalter auch darüber zu wachen, daß die Prägung s solide gehandhabt werde. Gab der Ordo schlechtes Geld aus, so konnte es vorkommen, daß es für wert- los erklärt und seine Annahme verboten wurde; die Bürger, in deren Hände die Münzen gekommen waren, hatten dann den Schaden zu tragen. Da so die Ge- ii> fahr jeden Privaten traf, sahen die Gemeinden sich zur höchsten Vorsicht gezwungen und hielten ihr Geldwesen in leidlicher Ordnung.
Neben dieser lokalen Kupferprägung steht eine provinziale in Silber, die meist die gleiche Münze, 15. wie sie vor der römischen Besitzergreifung herrschend gewesen war, auch weiter fortführt. Gewisse Statt- halter haben nämlich das Recht, eine Wertmünze zu schlagen, die innerhalb ihrer Provinz gesetzliches Zahlmittel ist. Doch können auch die Steuern nach 20 Rom damit bezahlt werden, und eben hierin liegt der Vorteil, den die kaiserliche Kasse aus dieser Sonder- prägung zog. Denn der schuldige Betrag wird durch- aus in Sesterzen oder, was im wesentlichen dasselbe bedeutet, in Denaren angesetzt und die Provinzial- 2r> münze zu der römischen in ein Verhältnis gebracht, das ihrem Metallwerte nicht völlig entspricht. So sollte, um ein Beispiel anzuführen, der Cistophorus der Provinz Asia nur drei Denare gelten, obgleich diese auch in ihrer ältesten und besten Gestalt zu- *> sammen nur 11,7 Gramm wogen, während Jener 12,64 enthielt. Empfing also die Reichskasse 100 Cistophoren für 300 Denare, so konnte sie aus dem Silber 347 sehlagen, was kein schlechtes Geschäft
5. Geld und Tribute. 213
210 war. Freilich durften die Untertanen ihre Zahlungen auch in römischem Gelde leisten; doch sorgte man wohl dafür, daß nicht zuviel davon in den be- treffenden Provinzen umlief, so daß sich die nötigen
ö Summen nicht ohne Agio zusammenbringen ließen. Denn da die Eeichsmünze jedes Metalls in allen Provinzen zu ihrem vollen Nennwerte genommen werden mußte, so hielt sich der Marktpreis des Denars auf der Höhe eines drittel Cistophorus, mochte
10 auch sein Silbergehalt niedriger sein. Und weil er im ganzen Reiche gangbar war, besaß er ja auch eine größere Brauchbarkeit als die provinzialen Silber- münzen, was für seinen geringeren Metallwert wohl Ersatz bieten konnte.
i.i Durch das mächtige Gebot des Kaisers gestützt,
behauptete sich dies Verhältnis, solange die Wert- differenz eine kleine war. Aber das Reichssilber wurde immer schlechter; und zugleich prägte man es in größeren Massen, so daß es sich über die Provinzen
20 verbreiten und auch dort zum herrschenden Zahl- mittel werden konnte. Sobald dies aber eintrat, wurde natürlich das bessere Provinzialsilber eingeschmolzen ; man bezahlte die Tribute in Denaren, und der Gewinn, den man bisher aus jenem gezogen hatte, ging ver-
2.5 loren. Das wäre noch zu ertragen gewesen; doch der Doppeldenar, den Caracalla eingeführt hatte, sank immer tiefer, und endlich ließ sich sein Nennwert auch dem lokalen Kupfergelde gegenüber nicht mehr aufrecht erhalten. Was anfangs Scheidemünze gewesen
30 war, wurde jetzt zum relativ stabilen Wertmesser, in dem die Kursschwankungen des Reichsgeldes ihren Ausdruck finden konnten.
Die endgültige Katastrophe des römischen Münz- wesens trat unter Gallienus ein (253 — 268). Damals
214 ni. Die Verwaltung des Reiches.
erhoben sich in allen Ecken des Keiches Usurpatoren, ilt und jeder von ihnen brauchte Geld, um seine An- sprüche durchzusetzen. So suchten sie denn ihre spärlichen Mittel dadurch zu vermehren, daß sie immer mehr Kupfer dem Doppeldenar beimischten, s^ und die Regierung in Rom folgte ihrem Beispiel. Der Silbergehalt, der vorher noch 40 Prozent betragen hatte, sank in weniger als fünfzehn Jahren bis auf 5 Prozent herab. Nur dadurch konnte man der Münze noch einen trügerischen weißen Schein geben, lo daß man sie in Säuren kochte. Auf diese Weise wurde auf der Oberfläche das Kupfer weggefressen und es bildete sich eine dünne Silberumhüllung, die freilich im Umlauf sehr schnell abgegriffen wurde. Daher ist in unseren Münzsammlungen dies Weißkupfer, wie i.> man es technisch nennt, nur bei Exemplaren von außergewöhnlich guter Erhaltung von dem gewöhn- lichen Kupfer zu unterscheiden; an Metallwert stand es freilich noch immer zehnmal so hoch. Denn da Kupfer sich zum Silber wahrscheinlich wie 1:200 2i> verhielt, mußte schon eine sehr geringe Beimischung des edleren Stoffes eine bedeutende Wertsteigerung herbeiführen. Aber der Sesterz, der ein Achtel des Doppeldenars darstellen sollte, wog fünfmal mehr als dieser, hätte also seinen halben Wert repräsentiert, 25- selbst wenn er nicht aus Messing, sondern nur aus Kupfer bestanden hätte, und in ähnlicher Weise hatt« sich das Verhältnis zum As verändert. Denn der vorsichtige Senat war mit denjenigen Münzen, deren Prägung ihm übertragen war, nicht der Ver- so schlechterung des Silbergeldes nachgefolgt, sondern hatte sie immer auf ansehnlicher Höhe erhalten. Die Stücke, welche anfangs nur Scheidemünze sein sollten, waren also in ihrem Metallgehalt weit über ihren
5. Geld und Tribute. 315
212 Nennwert hinausgewachsen, wenn man diesen nach dem Doppeldenar bemaß. Daraus folgt, daß auch sie das Schicksal des Aureus und der alten besseren Denare teilten und aus dem Verkehr verschwanden. 5 Bald schränkte der Senat seine überflüssige Prägung ein und hörte endlich ganz damit auf. Und nicht anders ging es mit der lokalen Kupferprägung; in den meisten Städten schlief sie allmählich ein, um endlich durch Aurelian (270 — 275), wo sie noch vorhanden
10 war, aufgehoben zu werden. Ägypten war die einzige Provinz, die ihre Sondermünze auch jetzt noch be- hielt, wahrscheinlich aus keinem anderen Grunde, als weil sie ebenso schlecht und wertlos war, wie die Reichsmünze, und gerade darum sich neben ihr be-
15 haupten konnte.
Sehen wir von dieser Ausnahme ab, so war die Währung des Eeiches jetzt so einheitlich geworden, wie dies überhaupt nur denkbar ist; denn was sich im tatsächlichen Umlauf befand, war nur eine einzige
20 Münzgattung, jener weißkupferne Doppeldenar. Eine kleinere Scheidemünze, um ihn zu wechseln, brauchte man nicht mehr, da sein Wert auf weniger als 4 Pfennige herabgesunken war. Natürlich waren alle Preise dementsprechend in die Höhe gegangen; was
25 man früher mit fünf Sesterzen bezahlt hatte, kostete jetzt über hundert. Aber dieser Aufschlag war nur solange peinlich empfunden worden, wie er noch in stetem Wachsen war und die Marktpreise daher immer- fort wechselten. Seit der Doppeldenar seinen tiefsten
30 Stand erreicht hatte, mußten sie nach einigem Schwanken wieder zu ihrer normalen Festigkeit zurückkehren. Denn der Silbergehalt der Münze war 80 gering geworden, daß, wenn man ihn noch weiter herabgesetzt hätte, selbst das Weißsieden kaum mehr
216 III. Die Verwaltung des Reiches.
möglich gewesen wäre. Ohne zum reinen Kupfer 2IS überzugehn, konnte man sie also nicht mehr ver- schlechtern, wodurch ihr Wert, so niedrig er auch war, doch wieder zu einem festen wurde. Die besseren Stücke waren eben eingeschmolzen, und die schlech- 5 testen beherrschten den Markt und bestimmten die Preise. So war man zu einer leidlich gleichmäßigen Währung gelangt und konnte sich mit ihr einleben. Der Unterschied gegen früher bestand nur darin, daß man für denselben Gegenstand eine größere Menge lo von Geldstücken zahlen mußte, und da jeder, der etwas zu verkaufen hatte, auch seinerseits mehr empfing, war dies leicht zu ertragen.
Nur für Großzahlungen war die geringwertige Münze sehr schlecht geeignet. Denn um eine Summe 15 im Wert von 1000 Mark zu entrichten, brauchte man mindestens 25 000 Doppeldenare, die einzeln her- zuzählen höchst unbequem gewesen wäre. Man ver-^ einigte sie daher in großen Säcken, deren jeder 3125 Stücke enthielt und folglich 25 000 Sesterzen 20 repräsentierte. Jene Beutel wurden wahrscheinlich gleich auf dem kaiserlichen Münzamte gefüllt, ver- siegelt und mit einem Stempel versehn, der die Eichtigkeit ihres Inhalts beglaubigte. So konnten sie uneröffnet von Hand zu Hand gehn, wodurch man 25 sich die Mühe des Zählens ersparte. Nach dem Sacke (f Ollis), in dem sie bei allen größeren Zahlungen gegeben und genommen wurden, erhielten die Doppel- denai"e bald im Volksmunde und dann auch in der offiziellen Terminologie den Namen Folles, mit dem mi auch wir sie künftig bezeichnen wollen. Für den Auslandhandel war die Keichsmünze freilich in keinei- Gestalt zu brauchen, weil ihr Gehalt an Edelmetall zu schwer kontrollierbar war: doch konnte man sich
5. Geld und Tribute. 217
214 leicht helfen, indem man mit rohem Grold oder Silber nach dem Gewicht bezahlte.
So war der Zustand des Münzwesen, nachdem man die schlimme Übergangszeit durchgemacht hatte,
.■> zwar nichts weniger als musterhaft, aber doch erträg- lich geworden. Sehr schwer getroffen waren nur die Kapitalisten, die vor der Münzverschlechterung des Gallienus Gelder ausgehehen hatten, und mancher von ihnen mag zum armen Manne geworden sein. Denn
10 jeder war verpflichtet, die Münze, die Bild und Um- schrift des Kaisers trug, zu ihrem vollen Nennwerte anzunehmen. Wer also 1000 Sesterzen in altem Gelde geborgt hatte, konnte sich mit 1000 Sesterzen in neuem von seiner Schuld lösen, obgleich er damit
15 nach dem wirklichen Werte nur ein Achtel dessen wiedergab, was ihm geliehen war. Entsprechendes gilt natürlich von allen Zinszahlungen, wodurch auch der Haushalt der Städte große Einbußen erlitt. Denn sie alle hatten ja Schenkungen und Vermächtnisse in
20 barem Gelde empfangen, deren Zinsen für ganz be- stimmte Zwecke verwendet werden sollten. Dazu konnten sie nicht mehr reichen, seit ihr Wert auf ein Achtel seines früheren Betrages herabgesunken war. oder wenn die Schenkung noch auf die Zeit vor
25 Severus zurückging, sogar auf ein Zwölftel oder Zwanzigstel. Noch größere Verluste aber trafen das Eeich selbst, und zwar lag dies an der ganz eigen- tümlichen Ausbildung, welche das System seiner direkten Steuern im Laufe der letzten Jahrhunderte
■vt erfahren hatte.
Um diese Entwicklung zu verstehen, müssen wir wieder bis in die Urzustände des römischen Staates zurückgreifen. In der Königszeit und den ersten Jahrhunderten der Republik waren die öffentlichen
218 in. Die Verwaltung des R«iches.
Ausgaben höchst gering. Die Wahlbeamten empfingen 215 kein Gehalt, und als Büttel, Ausrufer, Schreiber u. dgl. m. dienten ihnen wahrscheinlich ihre Klienten, die sie unterhielten. Die Bauten des Staates wurden durch Fronden hergestellt, welche die Bürger ent- 5 weder selbst oder durch ihre Sklaven leisteten. Ein Heer war im Frieden nicht vorhanden, und zum Kriege mußte der Ausgehobene sich aus eigenen Mitteln bewaffnen und, soweit ihn nicht die Beute ernährte, selbst für seinen Unterhalt sorgen. Nur die lo 1800 Eeiter bekamen die Kosten des Pferdes ersetzt, aber nicht durch den Staat, sondern durch die be- güterten Witwen, Greise und Kinder, welche die Ver- teidigung des Landes, da sie ihr nicht in Person dienen konnten, mit ihrem Vermögen unterstützten, is So blieben eigentlich nur die Ausgaben für den Kul- tus übrig, die in ordentliche und außerordentliche zer- fielen. Denn gewisse Opfer, Spiele oder andere gottes- dienstliche Leistungen mußten unabänderlich Jahr für Jahr wiederholt werden ; andere wurden nur gelegen t- 20 lieh dargebracht, etwa zur Erfüllung von Gelübden oder zur Feier von Siegen und freudigen Ereignissen ähnlicher Art. Diese außerordentlichen Kosten wurden regelmäßig mit außerordentlichen Einnahmen be- stritten, wie Kriegsbeute, Straf Zahlungen oder Prozeß- 25 gewinn; die ordentlichen dagegen waren auf staat- lichen Grundbesitz fundiert, der alle fünf Jahre an den Meistbietenden verpachtet wurde. »Für denselben Zeit- raum wurden dann auch die Lieferungen, welche für die jährlich wiederkehrenden Kulthandlungen nötig 30 waren, an den Mindestfordernden vergeben. Natürlich mußten diejenigen, welche bei diesen Versteigerungen als Bieter zugelassen wurden, genügende Sicherheit stellen, daß sie ihre Verpflichtungen ordnungsmäßig
5. Geld und Tribute. 219
J18 erfüllen würden. War ein einzelner nicht dazu im- stande, weil eine zu große Summe in Frage kam, so taten sich Gesellschaften zusammen, die Gefahr und Gewinn unter ihre Mitglieder teilten. Diese Staats-
5 pächter und Staatslieferanten nannte man puhlicani. Dieses Puhlikanensystem, wie man es technisch nennt, besaß den Vorteil großer Sicherheit und Stetig- keit. Auf fünf Jahre voraus waren die notwendigen Ausgaben und die Einnahmen, durch die sie gedeckt
10 wurden, so gut wie unerschütterlich festgestellt. Man brauchte sich nicht zu sorgen, daß ein Schwanken der Preise die Opfertiere verteuern oder den Ertrag der staatlichen Grundstücke herabdrücken könne; denn für jeden Schaden dieser Art stand der Publi-
15 kane mit seiner Bürgschaft ein. Freilich tat er es nicht umsonst; er wollte ja ein Geschäft machen und hatte daher sein Angebot so gestellt, daß auch unter ungünstigen Verhältnissen noch immer genug für ihn herauskam. Man erkaufte jene Sicherheit also mit
20 teurem Gelde. Aber solange das regelmäßige Ein- kommen des Staates so gut wie ausschließlich aus seinem Grundbesitze floß, ließ es sich kaum in anderer Form als durch Verpachtung flüssig machen. Und da die einlaufende Summe die Ausgaben überstieg,
25 brauchte man bei diesen nicht sparsam zu sein, son- dern konnte den Publikaneu den Gewinn, den sie auch an ihnen machten, gönnen. Wäre es doch für die vornehmen Herren Beamten höchst unbequem gewesen, wenn sie sich um die Viehpreise hätten
■M) bekümmern und die Opfertiere auf ihre sakrale Brauchbarkeit prüfen müssen. Für jene kleinen Ver- hältnisse war also das Puhlikanensystem ganz passend; seine Gefahr lag nur darin, daß man es auch auf die größeren einer späteren Zeit übertrug. Und wirk-
220 ni. Die Verwaltung des Reiches.
lieh hatte die bequeme G-ewohnheit, immer nur mit 217 festen Ziffern zu rechnen, so tiefe Wurzeln geschlagen, daß man mit echt römischer Zäliigkeit an ihr fest- hielt, auch als sie Millionen verschlang.
Zwar auf die Vermögenssteuer, die einzige direkte, s welche der römische Bürger zahlte, ließ sich das Publikanensystem nicht anwenden. Seit man den Soldaten Lohn und Verpflegung gab und die Kriege angefangen hatten, Geld zu kosten, hatte man zu jenem Hilfsmittel greifen müssen: doch wandte man lo es nur in den schwersten Kriegsnöten an. Da also die Steuer nicht jährlich wiederkehrte, sondern nur ausnahmsweise erhoben wurde, konnte man sie auch nicht auf eine Eeihe von Jahren in Pacht geben. Als man aber im Jahre 353 v. Chr. die erste dauernde is Steuer einführte — es war eine Abgabe von den Frei- lassungen, die 5 Prozent des Wertes der betreffenden Sklaven betrug — , da mußten alsbald wieder die Publi- kanen heran. Und so ging es mit allen regelmäßigen Einnahmequellen, die sich dem Staate öffneten; war 20 ihr Ertrag schwankend, so verwandelte man ihn auf je fünf Jahre in einen festen, indem man ihre Aus- beutung den Pächtergesellschaften übertrug.
Als nun Kom seinen Landbesitz über die Greuzeii Italiens hinaus erweiterte, wurden den untertänigen 25 Städten aller Provinzen Kopf- und Grundsteuern auf- erlegt. Diese konnte man von Anfang an festlegen, und das zwar nicht nur für fünf Jahre, sondern für alle Folgezeit, was den römischen Machthabern gewiß das bequemste war. Man brauchte eben nur die Ein- 30 wohiierzahl und den Bodenwert jedes Stadtgebietes abzuschätzen und nach dem Ergebnis jede Gemeinde als ganzes mit einer bestimmten Summe zu belasten, die sie Jahr für Jahr unabänderlich nach Rom ab-
5. Geld und Tribute. 381
•jlS zuführen hatte. Die Bürgerschaft durfte dann selbst durch ihre Beamten und ihren Rat die Repartition und Erhebung der Steuern besorgen; für die richtige Zahlung des Gesamtbetrages konnten die römischen ö Obrigkeiten die Decemprimi als Vertreter des Ordo verantwortlich machen. Daß man neue Eroberungen nicht selten in dieser Weise ausnutzte, ist zwar nicht ausdrücklich überliefert, doch weisen manche Spuren darauf hin. Xach diesem System kamen Überschüsse
\i) den Städten selbst zugute, wofür sie aber auch die Ausfälle zu tragen hatten. Sie befanden sich also dem Reiche gegenüber in einer ganz ähnlichen Stellung wie die Publikanengesellschaf ten, außer daß diese nur durch das eigene Angehot, das sie alle fünf Jahre
1-5 ändern konnten, jene durch den feststehenden Befehl der herrschenden Stadt gebunden waren. Mithin wurde die Steuerlast leichter, wenn Bevölkerungsziffer und Bodenwert stiegen, schwerer, wenn sie abnahmen. Doch hatte eine Gemeinde durch Pestilenz oder Kriegs-
20 not gelitten oder war auf andere Weise herabge- kommen, so ließ sich der römische Senat wohl auch zu Erleichterungen erbitten. Auch stifteten mit- unter patriotische Bürger ein Kapital, aus dessen Zinsen die Forderungen des Reiches gedeckt werden
■y- sollten, wodurch manche untertänige Stadt von der Grund- und Kopfsteuer ganz oder teilweise entlastet wurde.
Die Kopfsteuer wurde vielleicht überall auf diese Art erhoben, und auch von der Grundsteuer dürfte
3 i das gleiche gelten, soweit sie in barem Gelde hezahlt wurde. Doch zur Verpflegung der Hauptstadt brauchte man auch Korn, und dies Bedürfnis wuchs, als nach den Gesetzen des Gajus Gracchus es der armen Be- völkerung Roms erst unter dem Marktpreis verkauft.
222 ni. Die Verwaltung dea Reiches.
dann gar umaonst verteilt wurde. In einigen Pro- 219 vinzen bestand daher die Grundsteuer in einem ali- quoten Teil der Ernte, der je nach dem Ertrage der- selben in seiner Höhe wechselte. So zahlte Sizilien einen Zehnten, Ägypten und Afrika den fünften, 5 andere Provinzen den siebenten Teil. Hier handelte es sich also wieder um schwankende Summen, und wieder traten daher die Publikanen ein, nur daß in diesen Fällen ihr Angebot nicht auf so und so viel Sesterzen gestellt war, sondern auf so und so viel 10 Scheffel Korn, die sie sich jährlich zu liefern ver- pflichteten. Natürlich boten sie nicht mehr, als auch bei einer schlechten Mittelernte durchschnittlich herauskam; nur bei entschiedenem Mißwachs konnten sie ein Jahr oder das andere Schaden leiden, doch 15 mußte dieser im Verlaufe ihrer fünfjährigen Pacht- zeit immer wieder in Vorteil umschlagen. Daher suchten die Städte nicht selten die Naturalsteuern ihres Gebietes durch ihre Decemprimi selbst zu pach- ten, und wenn sie überboten wurden, zahlten sie dem- 2« jenigen, welchem die Erhebung zugeschlagen war, mit- unter ein Abstandsgeld, damit er seine Eechte auf sie übertrage. Denn wenn auf diese Weise der Vorteil auch oft verloren ging, so schützten sie sich doch vor den Bedrückungen der Publikanen, die in den Pro- 2s vinzen schlimm genug waren. Wahrscheinlich hätten die Städte schon unter der Eepublik die Pacht ihrer ^ Grundsteuern ganz an sich gebracht, wenn sie dazu die Unterstützung der römischen Behörden gefunden hätten. Aber die Herren des Senats, die jedes Jahr so bald für sich, bald für ihre Söhne und Anhänger um Wahlstimmen zu betteln hatten, mochten die einfluß- reiche Unterstützung der großen Kapitalisten nicht verlieren und sorgten daher nach Kräften, daß ihnen
5. Geld und Tribute. 223
226 ein so gutes Geschäft, wie die Steuererhebung es war. nicht auf die Dauer entzogen werde.
In der Kaiserzeit fiel dieser Grund weg. Der absolute Herrscher betrachtete den römischen Ritter
5 ebenso als seinen Untertanen wie den armen Pro- vinzialen, und hatte keine Ursache, dem einen auf Kosten des andern die Tasche zu füllen. Und dazu kam, daß bald auch die Steuerpacht anfing, eine Last zu werden, und die Kreise des Großkapitals,
10 die ihren Einfluß auch am Hofe bewahrten, sich ihr eher entzogen, als danach strebten. Dies war folgender- maßen zugegangen: Bei der stetig fortschreitenden Abnahme der Bevölkerung versagten dem Boden die Arbeitskräfte; die Ernten gingen zurück und mit
15 ihnen der Betrag des Zehnten, Siebenten oder Fünften, aus denen die Grundsteuer sich zusammensetzte. Der Kaiser aber konnte seine Ausgaben nicht in dem- selben Verhältnis einschränken; denn mochten auch am Hofhalte kleine Ersparnisse möglich sein, das
20 Heer, das den Hauptteil der Steuern verschlang, konnte nur vermehrt, nicht vermindert werden, weil im Fortschritte der Zeit die Barbarengefahr wuchs. Man half sich, wie das der kaiserlichen Verwaltung geläufig war, durch brutale Gewalt. Blieben, wenn eine Ein-
25 nahmequelle des Eeiches versteigert wurde, die höch- sten Angebote hinter demjenigen zurück, was in der vorhergehenden Pachtperiode gezahlt worden war, so zwang man einfach die früheren Publikanen, die Ein- treibung zu den bisherigen Bedingungen wieder zu
30 übernehmen. Man entschuldigte dies mit der Begrün- dung, da sie vorher vom Reiche Vorteil gezogen hätten, sei es ganz gerecht, wenn sie jetzt auch eine kleine Einbuße trügen. Natürlich waren die Kapitalisten anderer Meinung; die freiwilligen Meldungen zur
224 in. Die Verwaltung des Reiches.
Staatspacht wurden seltener, und nicht immer fanden 221 sich Leute, die man zwingen konnte. Um die Bieter nicht abzuschrecken, sahen die Kaiser sich wiederholt zum Erlaß von Verordnungen gezwungen, welche das gewaltsame Festhalten der Publikanen nach Ablauf 5 ihres fünfjährigen Vertrages untersagten. Aber wenn man dies Verbot mehrmals wiederholen mußte, so ist eben dies ein Zeichen, daß es immer wieder übertreten wurde. Die Statthalter und Prokuratoren wußten eben, daß sie Gefahr liefen, die allerhöchste Gunst 10 zu verscherzen, wenn sie aus ihren Provinzen nicht mindestens ebensoviel herausschlugen, wie ihre Vor- gänger getan hatten, und scheuten vor keiner Un- gesetzlichkeit zurück, um dies Ziel zu erreichen. War ilmen doch wohlbekannt, daß nicht leicht jemand den 15 Mut faßte, sie zu verklagen, und daß der Kaiser selbst bei Delikten, die seiner Kasse zugute kamen, gern ein Auge zudrückte. Daß jener Zwang nur zeit- weilig half und künftige Verpachtungen nur noch mehr erschwerte, kam den dringenden Forderungen 20 des Augenblicks gegenüber wenig in Betracht.
Unter diesen Umständen war es natürlich höchst willkommen, wenn auch jetzt noch die Städte selbst auf ihre Grundsteuer boten, und taten sie das nicht, so konnte man sie am leichtesten dazu zwingen. In 25 ihren Decemprimi besaßen sie ein Kollegium, das meist aus den wohlhabendsten Männern der Gemeinde bestand und daher wohl geeignet war, um die nötigen Sicherheiten für einen Pachtvertrag mit dem Kelche zu bieten. So wurden denn diese wie eine Gesellschaft 30 von Publikanen behandelt, d. h. sie hatten für die Er- hebung der Steuern zu sorgen und waren mit ihrem Vermögen für richtige Zahlung der Gesamtsumme haftbar. Natürlich konnte bei ihnen nicht davon die
5. Geld und Tribute. 225
222 Rede sein, daß sie alle fünf Jahre niedrigere An- gebote hätten stellen dürfen; da höhere nicht zu er- w^arten waren, legte man den Betrag, den das Reich jedes Jahr von der einzelnen Stadt zu fordern hatte, 5 ein für allemal gesetzlich fest. Gleichzeitig -wurde wohl auch in den meisten Provinzen, wo dies noch nicht geschehen war, die Naturalsteuer in Geld um- gesetzt. Wo sie bestehen bheb, weil man sie für den Unterhalt Roms brauchte, wie in Afrika und Ägypten,
10 da erhob man nicht mehr, wie früher, einen Fünften des jährhchen Ertrages, sondern rechnete ihn nach niedrigem Durchschnitt in eine feste Summe von Scheffeln um, die unabhängig von dem Ergebnis der Ernte jedes Jahr nach Rom zu schicken war. So
15 hatte man die Stetigkeit des Budgets nicht nur her- gestellt, sondern beträchtlich gesteigert; die wesent- lichsten Positionen desselben schienen nicht nur für je fünf Jahre, sondern für alle Folgezeit festgelegt. Allerdings war dies auf Kosten der Städte und
20 ihrer Decemprimi geschehn, in deren Händen jetzt die Verwaltung der Kopf- und Grundsteuer zusammen- lief. Die Summe, die sie aus beiden an den Kaiser entrichten mußten, stand fest, aber ebenso auch der Betrag, der von jedem Kopfe und jedem Morgen
25 Acker erhoben werden durfte. Ging also die Be- völkerung oder der Umfang des bebauten Landes zurück, so durften sie nicht von jedem der übrigbleiben- den Steuerobjekte entsprechend mehr einfordern, son- dern mußten den Ausfall aus ihrer Tasche decken.
30 Auf zehn wohlhabende Männer verteilt, lastete diese Verpflichtung anfangs nicht gar zu schwer; jedenfalls kam sie nicht in Betracht gegenüber den Ausgaben, welche die Stadt für ihre eigenen Bedürfnisse den Decurionen abforderte. Doch hätte sie mit dem Fort- S II 15
226 nr. Die Verwaltung des Reiches.
schreiten der Entvölkerung drückend werden können, 22l|
wenn nicht die Zustände des Münzwesens die Leistungen aller Städte, die ihre Steuern nicht in Naturalien, sondern in Geld zu zahlen hatten, fast auf nichts herabgedrückt hätten. Denn natürlich konnten die 5 festen Summen, die ihnen gesetzlich aufgelegt waren, nur in einer bestimmten, unveränderlichen Zahl von Sesterzen ihren Ausdruck finden. Wenn also der Sesterz in seinem Werte von 20 Pfennigen auf ^/2 Pfennig sank, so bedeutete dies, daß sie nur noch lo ein Vierzigstel ihrer früheren Steuer bezahlten, ob- gleich der Betrag nominell der gleiche geblieben war. Die Kaiser hatten zur Münz Verschlechterung gegriffen, um dadurch ihre Einkünfte zu vermehren ; der Erfolg aber war, daß gerade derjenige Teil derselben, der is bisher als der sicherste und stabilste gegolten hatte, jetzt zusammenschmolz wie Schnee im Frühling.
Dieser Kalamität half Aurelian (270 — 275) teil- weise ab, indem er verfügte, das Wort sestertius solle den Doppeldenar, nicht mehr wie bisher, das Achtel 20 desselben bedeuten. Damit war es ausgesprochen, daß alle Verpflichtungen, die auf so und so viel Sesterzen angesetzt waren, natürlich auch die der Städte, künftig in derselben Zahl von Doppeldenaren gelöst werden müßten; indem so der Follis als offizielle Eechnungs- 25 einheit an die Stelle des Vierteldenars trat, wurden alle Forderungen, mochten sie dem Staate oder Pri- vaten zustehn, auf ihren achtfachen Betrag erhöht. Der Kaiser mochte dies nicht für ungerecht halten: denn da der Silbergehalt der Münze in wenigen Jahren 30 von 40 auf 5 Prozent gesunken war, also tatsächlich ein Achtel des früheren betrug, wurde durch die neue Wertung dem Sesterzen nur diejenige Geltung zurückgegeben, die er nicht etwa unter Augustus oder
5. Geld und Tribute. 227
224 auch nur unter Marcus^, sondern noch beim Regie- rungsantritt des Gallienus besessen hatte. Was Aure- lian verordnete, bezweckte also nur die Herstellung eines Geldwertes, der vor weniger als zwanzig Jahren 5 wirklich bestanden hatte; das Publikum aber sah in dieser Maßregel eine unerhörte Tyrannei. Gewiß hatte es bemerkt, daß in der letzten Zeit alle Preise emporgeschnellt waren; aber wie dies mit der Metall- mischung der Münze zusammenhing, konnten die
10 wenigsten berechnen. Und außerdem gab es Ja zahl- reiche Schulden, die erst unter Gallienus oder selbst später aufgenommen waren, und bei diesen war ihre Verachtfachung allerdings eine schreiende Ungerech- tigkeit. So brach denn in Rom ein Aufstand aus,
15 dessen Unterdrückung nicht weniger als 7000 Men- schen das Leben kostete, und Tumulte, wenn auch von geringerer Bedeutung, wird es wahrscheinlich auch in vielen anderen Städten gegeben haben. Doch Aure- Han setzte seinen Willen durch und brachte dadurch
20 die Geldsteuern der Gemeinden zwar nicht auf ihren ursprünglichen Betrag, aber doch auf ein Fünftel desselben, was gegenüber den Zuständen der letzten Zeit schon eine bedeutende Verbesserung des kaiser- Hchen Einkommens bedeutete.
25 Die Neuerung Aurelians hatte den Vorteil, daß
die offizielle Rechnungseinheit, die ja immer der Sesterz gewesen und geblieben war, Jetzt mit dem- jenigen Geldstück zusammenfiel, das sogut wie ausschließlich den Verkehr beherrschte. Allerdings
30 stand hierzu die neue Beutelrechnung in keinem sehr passenden Verhältnis, da Ja der einzelne Sack die unbequeme Zahl von 3125 Sesterzen enthielt. Doch konnte man diese zu einer runden machen, indem man sie durch 100 000 As ausdrückte ; denn der neue
228 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Sesterz zerfiel jetzt in 32 As, wie früher der Doppel- 225 denar. Diese Eegelung der Geldverhältnisse war die Ströme von Blut, mit denen sie Aurelian bezahlt hatte, vielleicht nicht wert; nachdem sie aber durch- gekämpft war, konnte man mit ihr leidlich zufrieden s sein. Was man notwendig brauchte, gaben die Steuern wieder her, ohne die Decurionen doch gar zu schwer zu drücken; die Münze hatte einen festen Wert, weil sie nicht mehr schlechter werden konnte, und Kurs- schwankungen blieben ihr erspart, da sie der einzige lo Wertmesser war und jene daher in keiner andern Eechnung ihren Ausdruck finden konnten. Aber welche Mängel dies Geldsystem auch haben mochte, jedenfalls war es angezeigt, einstweilen nicht daran zu rühren, damit das wirtschaftliche Leben sich von i5 den schweren Erschütterungen, die es in letzter Zeit erlitten hatte, wieder erholen könne. Doch zum Un- glück für das Eeich waren seit dem Tode Aurelians noch nicht zehn Jahre vergangen, als Diocletian zur Kegierung kam, der, so klug er war, doch die Weisheit 2» des stillen Abwartens niemals hat erlernen können. Daß die Weißkupferstücke des Follis ein ganz erträgliches Geld darstellten, hat der Kaiser selbst anerkannt, indem er es in den ersten zwölf Jahren seiner Eegierung trotz der beiden Münzreformen, die 25 in diese Zeit fallen, unverändert ließ. Freilich waren zwei Ubelstände damit verbunden: erstens machte es jede Großzahlung sehr unbequem, und zweitens wurde es im Auslande natürlich nicht genommen, so daß der Handel über die Grenzen des Eeiches hinaus sich 3» zum reinen Tauschverkehr gestalten mußte. Dies erklärt es, warum Diocletians Neuerungen bei dem Metall einsetzten, das im Großhandel die Hauptrolle spielt; denn schon sehr bald nach dem Antritt seiner
5. Geld und Tribute. 229
226 Regierung schuf er eine Goldmünze von fest nor- miertem Gewicht (285). Wenn er dafür das Pfund in 70 Teile teilte, also eine Zahl wählte, die sich weder dritteln noch vierteilen läßt und ein Metallquantum
5 ergibt, das mit römischen Gewichten nicht einmal wäg- bar war, so läßt dies nur eine Erklärung zu. In Nicomedia, wo die neue Münze beschlossen wurde, be- zahlte man damals ein Pfund Gold mit 21 000 Folles. Da man nur nach Weißkupfer rechnete, mußte das
10 Goldstück, wenn es als Geld umlaufen sollte, eine runde Zahl von Folles repräsentieren, und die konnten bei dem angenommenen Verhältnis nur 300 sein, womit seine Normierung auf 1/70 Pfund = 4,68 Gramm gegeben war.
15 Das neue Großgeld wurde gewiß von den Handel-
treibenden freudig begrüßt und lebhaft begehrt; denn ohne Zweifel entsprach es einem Bedürfnis. Doch eben dies mußte zur Folge haben, daß in kurzem die Goldmünze höher im Kurse stand, als ein Siebzigstel
20 Pfund ungemünzten Goldes gestanden hatte. Zudem steigert eine starke Münzprägung ja auch den Preis des Metalles selbst, insofern sie einen ansehnlichen Teil desselben in Anspruch nimmt und seiner früheren Verwendung entzieht. Endlich ist es sehr fraglich,
25 ob der Kaufpreis des Goldes, der in Nicomedia ge- golten hatte, sich auch den Verhältnissen der anderen Städte und Provinzen angemessen erwies. Denn seit die Edelmetalle die Eigenschaft des Geldes verloren hatten und zur reinen Ware geworden waren, mußte
30 ihre Wertung nach den Forderungen des Marktes, die in den weit entlegenen Teilen des großen Reiches sehr verschieden sein konnten, sich auch höchst mannig- fach gestalten. Dies hatte die Stetigkeit des Münz- wesens nicht beeinträchtigt, solange man zu der
230 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Prägung des Eeiches Vertrauen hegte und daher jedes 221 Geldstück einfach nach seinem Nennwerte nahm und gab. Aber seit einem halben Jahrhundert hatte man sich gewöhnt, das Goldstück nach Gewicht und Kurs- wert zu handeln, nicht als Münze umlaufen zu lassen, & und diesen Brauch konnte ein Ukas des Herrschers nicht ohne weiteres beseitigen. So mußte die Wertung des Siebzigstel auf 300 Folles bald ins Wanken kommen, und eine Münze, die zu dem allgemeinen Wertmesser nicht in einem unveränderlichen Ver- lo hältnis stand, konnte den Markt nicht halten. Sie verschwand wahrscheinlich bald in den Geldschränken der Bankiers, und wer ihrer für den Auslandhandel bedurfte, mußte sie mit hohem Agio kaufen.
Diocletian konnte seine Eeform nicht für ganz lä verfehlt halten, schon weil sein neues Geld jedermann so willkommen war; doch daß er etwas dabei ver- sehn habe, mußte ihm trotzdem einleuchten, und wie das in seiner Art lag, war er gleich wieder zu neuen Plänen bereit. Für das Altertum hegten er 20 und seine ganze Zeit die größte Bewunderung, und daß das Münzwesen damals in guter Ordnung gewesen war, iStand ja auch tatsächlich fest. Warum sollten sich nicht durch Nachahmung jenes Vorbildes die ver- rotteten Zustände der bösen neuen Zeit heilen lassen? 25 Seine Hofgelehrten sagten ihm, daß einst eine Münze aus reinem Silber, die V96 Pfund wog, das hauptsäch- lichste Umlaufsmittel gewesen war. Ein ebensolches Geldstück wieder schlagen zu lassen, schien keine Schwierigkeiten zu haben. Weiter erfuhr er, daß die so verschiedenen Münzmetalle in dem Verhältnis ausge- geben waren, das wir S. 195 erörtert haben, nämlich: 1 Goldstück = 25 Silberstücke = 100 Messingstücke
= 400 Kupferstücke.
5. Geld und Tribute. 231
228 Eies ließ sich nicht ganz unverändert wiederholen, weil man mit den Münzen zu rechnen hatte, die sich im Umlauf befanden. Aber der Silbergehalt des FoUis verhielt sich zu ^/ge Pfund reinen Silbers ungefähr wie 5 1:16, d. h. wie das alte As zum alten Denar. Man konnte also die Zwischenstufe des Messingsesterzen beseitigen und das Weißkupferstück ganz passend an die Stelle des reinen Kupferas setzen. Schwieriger gestaltete sich die Regelung des Verhältnisses zwischen
10 Gold- und Silbermünze. Daß ^s/gg Pfund Silber zu viel war, um mit einem Siebzigstel Pfund Gold geglichen zu werden, mußte der Kaiser einsehn. Doch konnte er sich nicht entschließen, das kaum erst ausgegebene Geld wieder einzuziehen, und es zu
15 Teilstücken einer neuzuprägenden größeren Gold- münze zu machen, war deshalb ausgeschlossen, weil sich 1/70 zu keiner anderen Bruchzahl des Pfundes außer dem unmögUchen Fünfunddreißigstel in ein bequemes Verhältnis setzen läßt. So griff er denn zu
20 einem höchst seltsamen Auskunftsmittel. Er machte das Goldstück zwar schwerer, aber nur so viel, daß die Differenz gegen die älteren Münzen nicht gar zu bemerkbar hervortrat, und während diese sehr regel- mäßig Justiert waren, ließ er das neue Geld zu 60
25 Stücken aus einem Pfunde nur nach einem Durch- schnittsgewicht schlagen, über das einzelne Exemplare sich ebensosehr erhoben, wie andere dahinter zurück- blieben. Auf diese Weise näherte er die leichtesten Sechzigstel den Siebzigsteln so sehr an, daß sie von
30 diesen selbst mit Hilfe der Wage kaum zu scheiden waren, und machte zugleich beide Münzsorten in der Größe des Umfangs und allen Äußerlichkeiten der Prägung einander zum Verwechseln ähnlich. Dies kann keinen anderen Zweck gehabt haben, als daß
233 ni. Die Verwaltung des Reiches.
beide unterschiedslos nebeneinander umlaufen und als 229 gleichwertig genommen werden sollten. Wahrschein- lich wurden auch die kaiserlichen Kassen dahin instruiert, alle Goldstücke, die Diocletians oder Maxi- mians Bildnis trugen, soweit sie unbeschnitten waren, 5 als volle Sechzigstel gelten zu lassen.
Diese Münzordnung wurde schon im Jahre 286 eingeführt. Die Gleichungen, die ihr zugrunde lagen, waren nach der Absicht des Kaisers folgende: 1 Pfund Gold = 60 Goldstücke = 1500 Silberstücke 10
= 24 000 Folles (913,59 Mark). 1 Goldstück = 25 Silberstücke = 400 Folles
(15,22 Mark). 1 Silberstück = 16 Folles (60,9 Pfennig). Danach hätte der Follis einen Goldwert von 3,8 Pfennig 15 repräsentiert, wenn die Goldmünze, an die er sich als Teilstück anlehnen sollte, nicht zu ungleichmäßig gewesen wäre, um irgend eine feste Wertung zu dulden. Ein Sechzigstel des Pfundes bedeutet 5,45 Gramm; aber da man nicht genau justieren, sondern 20 nach einem Durchschnittsgewicht prägen sollte, er- hoben sich einzelne Stücke bis zu 6,1, während andere auf 4,85 herabsanken; und dazu kamen dann noch die Siebzigstel mit 4,68 Gramm. Der Wertunterschied zwischen diesen ältesten Goldstücken und den schwer- 25 sten Sechzigsteln steigerte sich also bis auf 4 Mark, und doch sollten sie nach der Verfügung des Kaisers alle für gleichwertig genommen werden.
Unter gewöhnlichen Umständen hätte dies zur Folge haben müssen, daß entweder das neue Geld ein- so geschmolzen wurde oder das alte zum Schaden des Fiskus massenhaft in die Staatskassen einlief; doch scheint in den ersten Jahren noch keins von beiden eingetreten zu sein. Der Grund lag wohl darin, daß
5. Geld und Tribute, 233
230 die Goldmünze sehr begehrt und der Markt durch die Siebzigstel, die man nur während eines Jahres geprägt hatte, noch nicht gesättigt war. Man schmolz die Sechzigstel also nicht ein, weil sie als Münzen
5 trotz der Gleichstellung mit ihren leichteren Ge- nossen noch immer mehr wert waren, denn als Roh- metall; man ließ die Siehzigstel nicht mit über- mäßiger Geschwindigkeit den kaiserlichen Kassen zu- strömen, weil sie für den Handel noch nicht entbehrt
10 werden konnten. Wahrscheinlich hat die Reform von 286 sogar den Erfolg gehabt, daß die Goldmünze wirklich in den Marktverkehr eintrat. Das schwerste Geld wird sich zwar auch ferner verborgen haben oder ins Ausland abgeflossen sein; doch während
15 bisher auch die Großzahlungen nur in Weißkupfer geleistet wurden, verwendete man jetzt dazu die Siehzigstel, weil sie unterwertig geworden waren. Dies gilt auch von ihrem Verhältnis zum FoUis. Denn da die neue Wertung desselben zu V400 Goldstück im
20 Hinblick auf das Sechzigstel beschlossen war, mußte sie trotz des niedrigeren Kurses für das Siebzigste! entweder passend oder gar noch etwas zu hoch sein. Diocletian sah also plötzlich seine Goldstücke, die sich bisher so scheu vom Markte ferngehalten hatten,
25 lustig kursieren, und da man ja nach ihrem äußeren Anschein nicht erkennen konnte, daß es nur die- jenigen waren, welche er zum allmählichen Ver- schwinden verurteilt hatte, so mußte er seine Reform für sehr gelungen halten.
30 Freilich mit dem Silberstück, in dem er am
treuesten das viel bewunderte Altertum nachgebildet hatte, sah es gleich von Anfang an bedenklich aus. Wenn man ^Vge Pfund Silber einem Sechzigstel Pfund Gold gleichsetzte, so ergab dies ein Verhältnis der
334 III. Die Verwaltung des Eeiches.
beiden Metalle von 1:15,62; außerdem sollte das 231 Silberstück 16 Folles gelten. Die erstere Wertung war unter allen Umständen zu niedrig, die zweite wenigstens nach den damaligen Geldkursen. Zwar hatte man in der früheren Kaiserzeit 16 Kupferas 5 ohne Anstand für eine Silbermünze genommen, die der Diocletianischen an Gewicht gleichstand, und der Follis war durch seinen, wenn auch geringen, Silber- gehalt dem As an Metallwert bedeutend überlegen. Aber dieses war eine Scheidemünze, die in mäßigem lo Betrage ausgegeben, unbedingtes Vertrauen genoß, während jener den ganzen Markt überschwemmte und als Wertmünze gelten wollte, obgleich man niemals wußte, wieviel Edelmetall das einzelne Stück enthielt. Und eben weil das neue Silbergeld allen willkommen 15 war und man im Laufe des letzten Jahrhunderts den Maßstab der Schätzung für Wertmünze ganz ein- gebüßt hatte, drückte es den Kurs des Weißkupfers noch weit unter seinen Metallwert hinunter. So wollte das Silber nie recht in Umlauf kommen, und nach 20 wenigen Jahren verschwand auch das Gold wieder. Denn nachdem die alten Siebzigstel allmählich von den Staatskassen eingezogen und an ihrer Stelle Sechzigstel ausgegeben waren, erwies sich der offizielle Ansatz des Follis für diese als zu hoch. Da er nichts- 25 destoweniger gesetzliche Währungsmünze blieb und selbst die größten Zahlungen in den bekannten Beuteln geleistet werden konnten, so zahlte man eben nicht in Silber und Gold, sondern diese versteckten sich nach wie vor bei den Bankiers, um nur für den 30 Auslandliandel hervorgeholt zu werden. Im Markt- verkehr würden also die Eeformen Diocletians kaum etwas verändert haben, wenn nicht der Kursverlust der Follis gegen die Münzen aus reinem Metall seine
5. Geld und Tribute. 235
232 wirkliche oder vermeintliche Unterwertigkeit auch der Masse des Volkes zum Bewußtsein gebracht und so die Preise, die sich ja noch immer in Weißkupfer ausdrückten, in die Höhe getrieben hätte.
5 Wenn die Herstellung der vorseverischen Münz-
verhältnisse nicht ganz gelungen war, so meinte Diocletian, dies könne nur daran liegen, daß er das Altertmn nicht genau genug nachgeahmt habe. Er gab daher im Jahre 296 dem Follis auch den
10 Umfang und das ungefähre Aussehn des alten As, aber ohne auf seine Silberbeimischung zu verzichten; denn da er seinen Kurs steigern wollte, konnte er seinen Metallwert nicht verringern. Dieser stand jetzt dem Nennwerte mindestens gleich, ja vielleicht über-
15 traf er ihn sogar um eine Kleinigkeit, und da die neuen Stücke fast dreimal so schwer waren wie ihre älteren Vorgänger, mußte dies auch dem Publikum deutlich genug in die Augen fallen. Der Follis hätte also sein gesetzliches Verhältnis zur Gold- und Silber-
20 münze ohne Zweifel behaupten können, wenn nicht gleichzeitig eine Maßregel rücksichtslosester Tyrannei das Vertrauen zu dem Gelde des Kaisers völlig unter- graben und so den Kurs desselben weit unter seinen tatsächlichen Wert herabgedrückt hätte.
25 Als Diocletian das Gewicht der Goldmünze von
Vto auf i/eo Pfund erhöhte, hatte er die neuen Stücke den alten möglichst ähnlich gemacht, damit sie im Verkehr nicht unterschieden würden. Da dies sich nicht bewährt hatte, schlug er bei der Eeform der
30 Weißkupfermünze den entgegengesetzten Weg ein. Hatte auf den leichteren Folles das Kaiserbildnis immer die Strahlenkrone getragen, so wurde dieser Kopfschmuck auf den neuen schwereren streng ver- mieden; an die Stelle der wechselnden Kückseiten,
236 ni. Die Verwaltung des Reiches.
die jene mit der Gold- und Silbermünze gemein 233 gehabt hatten, trat bei diesen das unabänderlich wiederholte Bild des Genius populi Romani. So besaß man auch unabhängig von Gewicht und Größe deutliche Kennzeichen, die jede der beiden Gattungen 5 scharf zu charakterisieren erlaubten. Dies benutzte der Kaiser, um gesetzlich zu verfügen, daß nur die Stücke mit dem Genius künftig in Zahlung gegeben und genommen werden dürften, diejenigen mit der Strahlenkrone dagegen vom Verkehr ausgeschlossen lo sein sollten. Dies bedeutete nicht etwa, daß man das alte Geld einzog, um es durch neues zu ersetzen — da dieses einen höheren Metallwert besaß, wären dadurch der Staatskasse Opfer aufgelegt worden, die sie in ihrer damaligen Not nicht tragen konnte — , 15 sondern Diocletian erklärte schlechtweg den früheren Follis für ungültig und beraubte damit alle, die sich ein Sümmchen zurückgelegt hatten, ihrer sauren Er- sparnisse. Denn wäre die Gold- oder Silbermünze vom Markte verbannt worden, so hätte sie eingeschmolzen 20 noch immer ihren Wert bewahrt; bei dem Weißkupfer dagegen war das Metall nur dann dem Geldstücke ungefähr gleichwertig, wenn man seinen Gehalt an Silber von dem Kupfer abschied, und dies war eine weitläufige Operation, die sich nur bei großen Quanti- 25 täten ohne Verlust ausführen ließ. Wer nur wenige hundert Stücke besaß, konnte sie im besten Falle für einen Spottpreis an einen Unternehmer losschlagen, der das Einschmelzen der alten Münzen fabrikmäßig betrieb. So wurde gerade der Arme am schwersten 3o getroffen, und eine furchtbare Erregung bemächtigte sich des ganzen Volkes, die sich in Ägypten sogar bis zur offenen Empörung steigerte.
Hier hatte sich auch nach Aurelian die alte
5. Geld und Tribute. 237
234 Provinzialmünze erhalten und stellte noch immer das hauptsächlichste Umlaufsmittel dar. Als jetzt auch sie verboten und durch den schweren Follis ersetzt werden sollte, erhoben sich die Alexandriner und
5 wählten einen gewissen Achilleus zum Kaiser, der unter dem Xamen Lucius Domitius Domitianus die Kegierung antrat. Er zeigte Diocletian den Weg, den er bei seiner Münzreform hätte einschlagen sollen. Das alte liebe Geldstück der Ägypter prägte er weiter,
10 zugleich aber auch die neue Münze mit dem Genius popiili Romani; wahrscheinlich setzte er beide in ein Verhältnis zueinander, indem er jenes zum Halb- stück von diesem erklärte. Welchen Erfolg dieser Vermittlungsversuch gehabt hätte, läßt sich freilich
15 nicht übersehen, da ihm unter der kurzen Herrschaft des Usurpators nicht die Zeit blieb, um sich zu be- währen. Denn bald zog Diocletian mit Heeresmacht heran und unterdrückte den Aufstand. Freilich gelang dies erst, nachdem er fast sieben Monate lang
20 Alexandria hatte belagern müssen, während zugleich die Perser an den Grenzen drohten. Und dies war nicht das einzige Blut, das um des neuen Follis willen vergossen wurde.
Hätte Diocletian die Absicht gehabt, seinem Volke
25 die Unsicherheit des Weißkupfergeldes recht deutlich vor Augen zu stellen, so hätte er dazu keinen besseren Weg einschlagen können, als den jener vermeintlichen Keform. Wenn der Kaiser das Geld, das er selbst vorher mit seinem Bilde hatte schlagen lassen, jetzt
30 mit einem Federstrich in nutzlose Stückchen schlechter Metallmischung verwandelte, so konnte keiner dafür stehn, daß nicht künftig er selbst oder einer seiner Xachfolger mit den neu ausgegebenen Weißkupfer- münzen ebenso verfahren werde. Man kam ihnen
238 ni. Die Verwaltung dea Reiches.
daher mit dem größten Mißtrauen entgegen, und ihr 235 Kurs sank noch tiefer, als er hei den schlechteren Stücken mit der Strahlenkrone gestanden hatte. So trat denn eine schnelle Steigerung aller Preise ein, die sich immer dort am drückendsten geltend machte, 5 wo einer der vier Herrscher persönlich erschien. Denn da ein großer Teil des Heeres jetzt nicht mehr an der Reichsgrenze stand, sondern im Gefolge der Kaiser durch die Provinzen zog, wurde durch die Ankunft des Hoflagers namentlich in den kleineren lo Städten die Menschenzahl so stark erhöht, daß die Nachfrage nach allen Lebensbedürfnissen ansehnlich stieg, wodurch natürlich die Preise beeinflußt wurden. So kostete Diocletian der Unterhalt seiner Soldaten mehr als je zuvor, und daran war, wie er meinte, nur is der schändliche Geiz der Untertanen schuld, die ihre Waren nicht mehr für das Geld hergeben wollten, das sonst immer dafür gezahlt worden war. Diesem ge- meinen Laster mußte eine Regierung, die auf Moral etwas hielt, energisch entgegentreten, und der Kaiser 2) tat es durch das berüchtigte Preisedikt, das im Jahre 301, also sehr bald nach jener verfehlten Münzreform, erlassen wurde.
In einer Einleitung, die von sittlicher Entrüstung über die böse Welt und ihre schmähliche Habgier 25 trieft, legen die Kaiser dar, sie hätten zwar lange dem Steigen der Sünde schweigend zugesehn, in der Hoffnung, daß die schlechten Menschen endlich von selbst in sich gehn würden; da sie aber trügerisch gewesen sei, müßten sie als Väter des Menschen- 30 geschlechtes die Besserung ihrer entarteten Kinder tatkräftig in die Hand nehmen. Sie beabsichtigten nicht die Preise zu bestimmen; denn wenn jemand billiger verkaufen wolle, als das Edikt vorschreibe,
5. Geld und Tribute. 239
236 so sei seinem Edelmute durchaus keine Schranke gesetzt. Wer aber teurer verkaufe, der habe den Kopf verwirkt. „Doch meine keiner, daß dies eine Härte sei, da jeder sich ja leicht genug der Gefahr 5 entziehen kann, wenn er Bescheidenheit wahrt. Der- selben Gefahr aber wird auch derjenige unterworfen sein, der aus Gier zu kaufen der Habgier des Ver- kaufenden gegen dieses Gesetz zustimmt. Auch der wird von dieser Strafe nicht frei bleiben, der für
10 Unterhalt und Gebrauch nützliche Waren besitzt, aber nach dieser Beschränkung für gut befindet, sie zurück- zuhalten ; denn die Strafe müßte für den noch schwerer sein, der Mangel bewirkt, als der die Preise dieses Gesetzes antastet." Dann folgt ein unendlich langes
15 Verzeichnis, in dem für alles, was sich bezahlen läßt, vom Kohlkopf bis zum Seidenkleide, von der Arbeit des Taglöhners bis zimi Unterricht des juristischen Professors ein höchster Preis festgesetzt wird. Ob jener Lehrer ein Mann von Weltruf oder ein kleiner
20 Winkeladvokat ist, macht keinen Unterschied; ebenso- wenig, ob die Waren en gros oder en detail abgegeben werden; auch sollen die Preise nicht für heute und morgen gelten, sondern auf dem Markte jeder Stadt wurden sie in Stein gehauen, um für ewige Zeiten
25 die Kichtschnur des Verkehrs zu bilden. Kurz der
würdige Gesetzgeber beweist nach jeder Eichtung hin,
daß er von den Bedingungen des Handels, die er
regeln "wdll, auch nicht den dunkelsten Begriff hat.
Zugleich mit den Preisen für alles Bezahlbare
30 wurde auch das Zahlmittel einer Neuordnung unter- worfen, jetzt schon der vierten in den sechzehn Jahren, die Diocletian bis dahin regiert hatte. Endlich glaubte er entdeckt zu haben, worin seine Nachahmung des Altertums fehlgegangen sei. Das Rezept mußte ja
240 ni. Die Verwaltung des Reiches.
doch richtig sein; wenn seine Anwendung nichts 237 half, konnte dies nur daran hegen, daß ein paar wesenthche Ingredienzen vergessen waren. Das Ver- hältnis, in dem man die wichtigsten Münzen der vier Metalle in' jener besseren Zeit ausgebracht hatte, war 5 gewesen :
1 : 25 : 100 : 400. Dabei war unzweifelhaft das Wesentlichste, daß das Goldstück auf 100 Sesterzen angesetzt war; die Ziffern 25 und 400 waren nur durch Viertelungen entstanden, 10 die als nebensächliche Teilungen das Dezimalsystem unterbrachen. Diocletian dagegen hatte von jenen vier Verhältniszahlen nur drei herübergenommen: ■
1 : 25 : 400. Gerade diejenige Zahl, auf welche es ankam, war ihm 15 also durch die Finger geglitten. Das sollte ihm nicht Avieder passieren; jetzt wollte er den Stein, den er als Bauherr früher verworfen hatte, zum Eckstein machen. Er stellte daher seine neue Münzordnung ganz auf das Dezimalsystem, neben dem wieder eine 20 Viertelung hergehn sollte. Das Silberstück, das übrigens in seinem Gewichte von Voe Pfund unver- ändert blieb, sollte als Viooo des Goldpfundes gelten und deshalb fortan miliar cnse heißen; seinerseits zer7 fiel es in 100 kleine Weißkupferstücke, die den Namen 25 centenionales erhielten. Da man den Follis auch in seiner neuen, schwereren Gestalt nicht als Vi 6 (^es Sil- berstücks nehmen wollte, wurde er auf ^/25 desselben herabgesetzt, wodurch der Centenionalis zu seinem Viertelstück wurde. Den Beutel mit Weißkupfergeld 30 hatte Diocletian bei seinen früheren Münzordnungen ganz unberücksichtigt gelassen, obgleich er für größere Summen das wichtigste Zahlmittel geblieben war. Jetzt konnte auch er in das System eingeordnet
5. Geld und Tribute. 241
288 werden, indem er zu einem Achtel des Goldpfundes erklärt wurde.
Noch in einer andern Beziehung erlaubte dieses Münzsystem dem Beispiel des bewunderten Altertmns 5 zu folgen. Nach seinem Vorbilde hatte Diocletian früher das Goldstück 25 Silberstücken gleichgesetzt, war aber dabei auf ein Verhältnis der beiden Metalle wie 1 : 15,62 gekommen, das nicht nur mit ihrem tatsächhchen Wert im Widerspruche stand, sondern
10 auch, was in seinen Augen vielleicht noch mehr galt, der guten alten Zeit fremd gewesen war. Nun hatte man um das Jahr 100 n. Chr. das Silbergeld in einem Verhältnis zur Goldmünze von 1 : 10,31 ausgebracht, freilich bedeutend über seinem Werte, was aber Dio-
15 cletian nicht wissen konnte. Und fast genau dasselbe (1 : 10,42) ergab sich, wenn man ^°°%6 Pfund Silber mit einem Pfunde Gold gleichsetzte. Auch nach dieser Eichtung hatte man also jetzt das Wesentliche des alten Vorbildes nachgeahmt.
20 Allen diesen Treffhchkeiten des neuen Planes gegenüber konnte es für Diocletian nicht in Betracht kommen, daß das goldene Sechzigstel sich dem System nicht einfügen ließ; denn wie wollte man die Ziffern 60 imd 1000 in irgend ein passendes Ver-
25 hältnis bringen? Der Kaiser half sich, indem er Fünfzigstel schlagen heß und sie wieder durch eine ungleichmäßige Durchschnittsprägung in die Sechzig- stel überleitete, wie diese früher in die Siebzigstel. So ergab sich folgendes System:
30 1 Pfund Gold = 50 Goldstücke = 1000 Miliarensia = 25 000 Folles = 100000 Centenionales (913,59 Mark). 1 Goldstück = 20 Miliarensia = 500 Folles = 2000 Centenionales (18,27 Mark). s II 16
242 ni. Die Verwaltung des Reiches.
1 Miliarense = 25 Folles = 100 Centenionales (91,36 m
Pfennig) , 1 Follis = 4 Centenionales (3,65 Pfennig). Der Beutel Weißkupfergeld galt ein Achtel Gold- pfund = 6V4 Goldstücke = 125 Miliarensia = 3125 5 Folles = 12 500 Centenionales, fügte sich also in das System nicht eben tadellos hinein. Doch war er ein so verbreitetes Zahlmittel, daß man auf ihn Rücksicht nehmen und die kleine Unebenheit dulden mußt«.
Diocletian hatte Todesstrafe auf die Übertretung 10 seines Preisedikts gesetzt, und zwar sollte sie nicht nur den geldgierigen Verkäufer treffen, sondern auch den zu geduldigen Käufer, der sich die Preise des- selben gefallen ließ, ja selbst denjenigen, der Waren besaß, aber nicht auf den Markt brachte. Und wirk- 15 lieh hat man frisch drauflos geköpft, bis die Zahl der Straffälligen so groß wurde, daß selbst die kalte Grau- samkeit des Tyrannen vor ihrer Hinrichtung zurück- schreckte. Die Preise aber, die er hatte hinunter- drucken wollen, waren noch viel höher aufgeschnellt. 20 Denn da kein Kaufmann, der sich nicht ruinieren wollte, ein Geschäft machen konnte, ohne seinen Hals zu wagen, mußte die hohe Gefahrprämie die Ware selbstverständlich noch mehr verteuern. So sah sich der Kaiser nach kurzer Zeit gezwungen, das Edikt 25 wieder aufzuheben, und mit ihm sank auch die Münz- ordnung dahin, die seine Grundlage gebildet hatte.
Das gleiche Silberstück, das früher ^'25 des gol- denen Sechzigstels hatte darstellen sollen, war jetzt als ^/2o des Fünfzigstels eingeschätzt. Diese Wertung 30 war in demselben Maße zu hoch, wie die frühere zu niedrig. Hatte es sich vorher ängstlich vom Markte ferngehalten, so überschwemmte es ihn jetzt, und hätte als unterwertige Münze das Fünfzigstel bald ver-
5. Geld und Tribute. 243
240 drängen müssen, wenn das Sechzigstel dies nicht schon allein besorgt hätte. Denn da beide ohne Unterschied genommen werden sollten, wanderte natürlich das schwerere Goldstück aus dem Münzamt gleich in den
5 Schmelztiegel. Diocletian selbst mußte sich über- zeugen, daß es sich nicht im Verkehr erhalten ließ, und hörte daher schon im Jahre 303 mit der Prägung der Fünfzigstel auf, um zu den Sechzigsteln zurück- zukehren. Da man aber nicht nach Goldpfunden,
10 sondern nach Goldmünzen zu rechnen pflegte, so blieb das Verhältnis, in das diese zum Silber- und Weiß- kupfergelde gesetzt waren, auch weiter bestehen. Man zählte 20Miliarensia und SOOFolles auf ein Sechzigstel, wie man sie auf ein Fünfzigstel hätte zählen sollen,
15 und das ganze schöne Dezimalsystem war damit über den Haufen gestürzt. Aber eben weil dies neue Münz- verhältnis nicht durch die zweifelhafte Weisheit der Gesetzgebung geschaffen war, sondern sich von selber durchgesetzt hatte, wäre es vielleicht zu erhalten ge-
-20 wesen, wenn nicht die Nachfolger Diocletians ihm die Probe auf seine Dauerbarkeit erspart hätten.
Ihre Neuerungen begannen bei der Goldmünze, und zwar ging die Anregung dazu von den Zuständen Britanniens aus. Als Carausius im Jahre 286 die
■25 Insel vom übrigen Eeiche losriß, war hier eben erst der Siebzigstelfuß eingeführt worden, und diesen be- hielt er bei, ohne die münzpolitischen Experimente, an denen Diocletian später seinen Scharfsinn übte, mitzumachen. Da der Usurpator und sein Nachfolger
30 Allectus zehn Jahre lang ihre Unabhängigkeit be- haupten konnten, gewann jene leichteste Goldmünze die Zeit, um auf ihrem Gebiete festen Fuß zu fassen, woraus sich von selbst ergibt, daß sie die schwerere, die nach dem Gesetze doch nur den gleichen Wert
244 ^11. Die Verwaltung des Kelches.
repräsentieren sollte, als sie später einzudringen ver- 241 suchte, nicht neben sich aufkommen ließ. Als nun nach der Abdankung Diocletians Constantius nach Bri- tannien übersetzte, um gegen die Picten und Scoten seinen letzten Sieg zu erfechten, da mußte sich ihm & die Beobachtung aufdrängen, daß die Sechzigste!, so- bald sie auf die Insel gelangten, spurloä verschwanden und nur die Siebzigste! sich auf dem Markte zu halten vermochten. Dies ist wahrscheinlich der Grund ge- wesen, warum er noch kurz vor seinem Tode zum lo ältesten Diocletianischen Goldfuß zurückkehrte, und sein Sohn ist diesem Beispiel gefolgt, nur daß er an die Stelle des Siebzigstels das Zweiundsiebzigstel setzte. Dadurch brachte er erstens sein Goldstück in ein be- quemes Verhältnis zum duodezimalen römischen Ge- is wichtsystem, zweitens erreichte er es, daß seine Münze nicht merklich schwerer war, als die leichtesten der abgegrifEenen Siebzigste! und durch diese nicht vom Markte verdrängt werden konnte. Da zur Einziehung und Umprägung der alten Münzen in jenen bedrängten 20 Zeiten das Geld fehlte und die Währung der bri- tannischen Diözese sich nicht auf die Dauer von der des Festlandes isolieren ließ, konnte ein Herrscher, der die Geldverhältnisse der Insel kannte und auf sie Rücksicht nehmen mußte, kaum anders verfahren. 25. Denn die Siebzigste! zu Teilstücken der Sechzigste! zu degradieren, war schon deshalb nicht möglich, weil sie sich äußerlich von diesen gar nicht unterschieden. Wenn sie sich aber gesetzlich nicht anders definieren ließen als nach ihrem Gewicht, so hätte eine Minde- 3» rung ihres Nennwertes dazu geführt, daß man auf dem Markte alle Goldstücke mit der Wage hätte prüfen müssen, sie also aufgehört hätten, gangbares Geld zu sein.
5. Geld und Tribute. 245
242 So entstand der Constantinisehe Solidus, der mit seinem Gewicht von 4,55 Gramm einen Goldwert von 12,69 Mark darstellte und ihn auch wirklich enthielt, da er nicht nach unsicherem Durchschnittsgewicht, 5 sondern so genau geschlagen wurde, wie die Technik jener Zeit dies irgend gestattete. Seine Schöpfung war ein wohlerwogener, echt reformatorischer Gedanke, dem dauernder Erfolg denn auch nicht gefehlt hat; und daß er bei seiner ersten Durchführung den kaiser-
10 liehen Kassen einigen Vorteil brachte, wird Constantin in seinen chronischen Geldnöten auch nicht unwill- kommen gewesen sein. Die Zweiundsiebzigstel von den Sechzigsteln klar zu scheiden, und wie das Normal- gewicht der beiden Münzen zu fordern schien, jene
15 auf Ve '^on diesen anzusetzen, war nicht recht tunlich. Denn die Solidi waren gut justiert, die Diocletia- nischen Münzen auf ein Durchschnittsgewicht aus- gebracht, und da die meisten Exemplare, die dasselbe überschritten, bald eingeschmolzen wurden, blieb die
20 Mehrzahl der im Verkehr befindlichen Stücke da- hinter zurück. Für ^/g dieser geringeren Sechzigstel war der Solidus also zu schwer und wäre, wenn ihn die Staatskassen nur zu diesem Betrage genommen hätten, seinerseits im Schmelztiegel verschwunden. So
25 zog es Constantin vor, den Spieß umzudrehen. Er prägte seine Münzen den Sechzigsteln täuschend ähn- lich, ja er schlug sogar mit ganz denselben Typen und in denselben Prägestätten Solidi und Sechzigstel nebeneinander, so daß sie sich durch nichts als die
30 kleine Gewichtsdifferenz unterscheiden ließen. Offen- bar war die Absicht, beide als gleichwertig kursieren zu lassen und, bis die leichteren Münzen die schwereren verdrängt hätten, den Vorteil zu genießen, daß die Staatskassen aus fünf alten Stücken, die sie einnahmen.
246 III. Die Verwaltung des Reiches.
sechs neue machen konnten, die sie zu dem gleichen 245 Nennwert ausgaben. Es war ein reines Geschäftchen, das freilich auf Kosten der Mitregenten ging, da sie auch ferner die Sechzigstelprägung fortsetzten. Doch bei dem gespannten Verhältnis, das zwischen den Be- s herrschern der verschiedenen Eeichsteile obwaltete, glaubte Constantin auf seine Kollegen keine Eücksicht nehmen zu müssen. Warum waren sie auch so eigen- sinnig, sich seinem neuen und unstreitig praktischen Goldfuße nicht anzuschließen ! In seinem verbissenen lo Widerstände gegen den übermächtigen Nebenbuhler ist Licinius noch bis zu seinem Sturze (324) bei der Sechzigstelprägung stehn geblieben, und erst die Alleinherrschaft Constantins brachte dem Keiche die einheitliche Goldwährung, die dann Jahrhunderte- is lang unverändert fortbestehen sollte. Noch heute hat sich in unserm Worte „Sold" eine unverstandene Er- innerung an den Solidus Constantins erhalten.
Ob jemals der Kurs des Silber- und Weißkupfer- geldes so tief gesunken ist, daß rfian das Zweiund- 20 siebzigstel, wie früher das Sechzigstel, für 20 Milia- rensia und 500 Diocletianische Folles hätte ausgeben können, wissen wir nicht. Der Versuch scheint nur in Britannien gemacht zu sein und auch dort nur kurze Zeit. Auf dem Festlande schlichen sich ja die Solidi 2s anfangs nur verstohlen unter die Sechzigstel ein mit dem Anspruch, ihnen gleichwertig zu sein, und als sie zu zahlreich geworden waren, um die Täuschung aufrechterhalten zu können, da war eine neue Münz- verschlochterung eingetreten, die jedes rationelle Ver- 30 hältnis zwischen den drei Metallen aufzugeben zwang.
Nachdem die Praetorianer den Maxentius auf den Thron erhoben hatten, wurden sie, wie sich von selbst versteht, fürstlich dafür belohnt. Gleich darauf
5. Geld und Tribute. 247
244 brauchte der Usurpator neue Summen, um die Sol- daten des Severus und dann des Galerius zu bestechen, und während der ganzen Dauer seiner Regierung ließ er sich angelegen sein, die Truppen durch kostbare
5 Spiele zu amüsieren und ihren Eigennutz durch stets erneute Geldgeschenke an sich zu fesseln. Für alle diese Ausgaben sah er sich nur auf die geringen Hilfs- mittel Italiens angewiesen, und mochte er durch außerordentliche Steuern und Zwangsanleihen auch
10 das irgend Mögliche zusammenpressen, das nötige Geld zu beschaffen war doch nicht leicht. So griff denn Maxentius zu derselben Auskunft, wie seinerzeit Gallienus. Die schweren FoUes Diocletians waren auf ein Normalgewicht von 10 römischen Skrupeln oder
15 11,37 Gramm angesetzt, doch der Grundsatz des alten Kaisers, nicht das einzelne Stück genau wiegen zu lassen, sondern nur nach ungefährem Durchschnitt zu münzen, wurde bei dem wertlosesten Metall natür- lich am unbedenkHchsten angewandt. So erhoben sich
20 denn einzelne Stücke über 14 Gramm, während andere noch unter 8 zurückblieben. Maxentius nun schlug die Folles, die er für die Befriedigung seines Heeres brauchte, in der Art, daß er das minimale Gewicht der Diocletianischen zu seinem maximalen machte.
25 So reihten sich seine schlechteren Münzen den besseren seines Vorgängers in unmerklichen Übergängen an und waren auch äußerlich, da sie fast dasselbe Ge- präge trugen, schwer von ihnen zu unterscheiden. Die ersten Anfänge dieser unterwertigen Prägung
30 hätten also den Kurs des Follis kaum herabgedrückt; denn bei Münzen, deren Gewicht schon früher so ungleichmäßig gewesen war, kam es auf eine kleine Steigerung der Differenzen nicht sehr an. Aber nach- dem dieser gefährliche Weg einmal beschritten war.
248 ni. Die Verwaltung des Reiches.
ging man darauf weiter und weiter, so daß die leich- 24» testen Folles zuletzt bis auf 3,5 Gramm herabsanken. Natürlich fanden sich. Spekulanten, die es als vorteil- haft erkannten, die schwereren Stücke zu sammeln und einzuschmelzen, und bald verschwanden sie aus 5 dem Verkehr. Denn auch die übrigen Kaiser sind dem Beispiel des Maxentius schnell gefolgt und koanten auch gar nicht anders handeln. Denn da seine Folles, in großen Mengen geprägt, massenhaft in ihre Eeichsteile eindrangen und sich der Kurs des lo Geldes immer nach den leichtesten Stücken richtet, so mußten die schlechten Münzen des Kollegen, indem sie sich mit ihren besseren mischten, auch diese un- fehlbar im Werte herabdrücken. Es war also das Ver- nünftigste, was sie tun konnten, wenn sie neben dem 15 unvermeidlichen Übel auch den Vorteil mitnahmen, den die Ausgabe leichteren Geldes zunächst ihren Kassen brachte. Wieder verschwanden die Münzen aus Edelmetall, und eine einheitliche Währung, die aus dem allerschlechtesten Gelde bestand, hätte sich 20 zum zweiten Male durchgesetzt, wie es im dritten Jahr- hundert geschehen war, wenn nicht die Steuerpolitik der Kaiser dies verhindert hätte.
Die regelmäßigen Zahlungen des Staates, soweit sie nicht in Naturalien geleistet wurden, ließen sich 25 mit Folles bestreiten. Aber nach glänzenden Siegen, bei Thronbesteigungen, Eegierungs Jubiläen und ähn- lichen Festen beanspruchten die Soldaten ein Ge- schenk, das in Gold und Silber bezahlt werden mußte. Denn da ein großer Teil von ihnen aus Barbaren be- so stand, die jenseit der Grenzen angeworben waren und nach abgedienter Zeit in die Heimat zurückkehren wollten, so durfte ihr Sparpfennig nicht in Weiß- kupfer bestehen, das außerhalb des Eeiches so gut wie
5. Geld und Tribute. 249
246 wertlos war. So sahen sich schon Maxentius und Galerius gezwungen, Steuern auszuschreiben, die nicht in jeder beliebigen Münze bezahlt werden konnten, sondern teils in Gold, teils in Silber zu entrichten 5 waren, und die anderen Herrscher sind ihrem Beispiel gefolgt. Dies hinderte das Edelmetall, sich in den Geldschränken der Eeichen zu verstecken oder über die Reichsgrenzen abzuströmen, da immer wieder eine ansehnliche Masse den kaiserlichen Kassen zugeführt
10 werden mußte. Dem Gesetze nach galt es gleich, ob man in Münze oder in Barren zahlte; aber die erstere bot eine bequeme Gewichtseinheit, nach der man die Höhe der Steuern für den einzelnen normieren und sie ohne zeitraubendes Wägen entrichten konnte. So waren
15 Solidus und Miliarense zwar nicht unentbehrlich, aber
doch für Regierung und Publikum angenehm. Die
Münzung des Goldes hat man daher immer fortgesetzt
und die des Silbers nur vorübergehend unterbrochen.
Daß sie im täglichen Verkehr von Hand zu Hand
20 gingen, wie in der ersten Kaiserzeit, hatte freilich sein Ende gefunden. Diocletian hatte sich noch gemüht, das Münzwesen des Reiches zur Einheit zu gestalten, bei der jede der drei Geldarten als Teil- stück oder Multiplum in einem festen Verhältnis zu
23 den anderen stehn und alle nach ihrem Nennwerte auch bei den größten Zahlungen unterschiedslos genommen werden sollten. Seit aber die neue Münz- verschlechterung des Maxentius den Kurs des Follis wieder herabgedrückt und alle Preise verschieden
30 gestaltet- hatte, je nachdem die Ware in Gold und Silber oder in Weißkupfer bezahlt wurde, hatte man auf jenes Bestreben verzichtet. Die drei Metalle schieden sich im Verkehr wie Öl und Wasser; ein Münzsystem, das sie untereinander verbunden hätte,
250 III. Die Verwaltung des Keiches.
gab es nicht mehr, und dies wurde von der Regierung 247 auch offiziell anerkannt. Denn in jedem derselben schrieb sie Steuern aus, und es war nicht gestattet, das eine dabei durch das andere zu ersetzen, falls nicht besondere Erlaubnis dafür gegeben wurde. Dabei galt 5 als Einheit der Rechnung bei Gold und Silber das Pfund reinen Metalls, beim Weißkupfer der Beutel von 3125 Folles. Nur diese also wurden nach der Zahl genommen, Solidus und Miliarense galten nur als Teile des Pfundes und konnten zurückgewiesen lo werden, wenn sie dem erforderlichen Gewicht nicht entsprachen. Hatte jemand eine Straf summe oder eine Steuer in Gold zu bezahlen, so kaufte er Solidi oder Barren für soviel Folles, wie ihr derzeitiger Markt- preis betrug. Wenn man andererseits für die Be- i5 friedigung seiner täglichen Lebensbedürfnisse kein Kleingeld mehr im Hause hatte, so ging man nicht etwa mit einem Goldstück zum Kaufmann und ließ sich auf die Ware herausgeben, sondern man trug seinen Solidus zum Bankier, verkaufte ihn dort zum 20 Tageskurse und zehrte von dem erhaltenen Weiß- kupfer, bis ein neues Geschäft gleicher Art nötig wurde. Außer bei Steuern und Straf Zahlungen wurde mit dem Goldstück nur wie mit einer Ware gehandelt, nicht wie mit einer Münze bezahlt. 25
Constantin ließ sich diesen Zustand gefallen, weil er daran verzweifelte, einen besseren schaffen zu können. Seine Söhne waren minder entsagungsvoll; sie hatten die Erfahrungen der diocletianischen Zeit schon vergessen und strebten daher wieder nach neuen 30 Münzsystemen, um wieder an dem Versuche zu schei- tern. Und ebenso hat fast jeder der folgenden Kai- ser andere Gesetze gegeben und andere Geldstücke schlagen lassen, ohne daß der bestehende Zustand eine
5. Geld und Tribute. 251
248 wesentliche Änderung erlitt. Wer in einem großen Münzkabinett die Reihen der Kaiserzeit durchsieht, dem werden sich folgende Beobachtungen ganz un- mittelbar aufdrängen. Von Augustus bis auf Sep-
5 timius Severus wechseln nur die Münzbilder; die Stücke bleiben unter allen Herrschern die gleichen. Denn daß Unterschiede vorhanden sind, lehren nur die Wage und die chemische Analyse, nicht der Augen- schein; die Mehrzahl der Untertanen wird es gar nicht
10 bemerkt haben. Seit Caracalla tritt der Doppeldenar auf und verdrängt langsam die anderen Münzen, ohne daß diese durch einen gesetzgeberischen Akt abge- schafft würden. Er selbst geht immer sichtbarer aus Silber in Weißkupfer über, bleibt aber im Gepräge der
15 Kopfseite, das den Kaiser als Sonnengott mit der Strahlenkrone oder die Kaiserin mit der Mondsichel zeigt, sich dauernd gleich. In den ersten drei Jahr- hunderten ist also nur eine absichtliche Veränderung bemerkbar; im übrigen vollzieht sich der Verfall des
20 Münzwesens still und naturgemäß, mehr unter dem Drucke der Verhältnisse, als durch bewußte Maß- regeln der Herrscher. Seit Aurelian wird dies plötz- lich anders. Fast unter jeder Eegierung, deren Dauer nicht gar zu kurz ist, tauchen neue Formate oder
25 Wertzahlen auf. Auch auf diesem Gebiete ist die träge Ruhe der früheren Kaiserzeit einem unsteten Neuern und Probieren gewichen. Mit welchen Er- schütterungen diese immer wiederholten Experimente den Geldmarkt heimgesucht haben, läßt sich noch
30 an manchen Anzeichen wahrnehmen und soll an seiner Stelle hervorgehoben werden, soweit dies nötig ist, um den allgemeinen Gang der Weltereignisse zu er- klären. Denn jede vorübergehende Geldkrise zu unter- suchen, mag sie zeitweilig auch noch so drückend
252 ni. Die Verwaltung dea Reiches.
gewesen sein, können wir nicht als unsere Aufgabe 249 betrachten. Doch die Veränderungen des Münzwesens, die sich von Gallienus bis auf Constantin den Großen vollzogen, haben eine weitere Bedeutung gehabt und bedurften daher einer genaueren Darstellung. Denn 5 indem sie den Wert des Geldes ganz unsicher machten, bewirkten sie jene eigentümliche Ausbildung der Naturalsteuern, welche die Volkswirtschaft des vierten und fünften Jahrhunderts bestimmte. Der unerträg- liche Druck, den sie ausübten, hat vielleicht am lo meisten dazu beigetragen, die Energie der Unter- tanen zu lähmen, die Einwohnerzahl des Eeiches noch mehr herabzusetzen und es seinem Untergang entgegenzutreiben.
Sechstes Kapitel.
Die neuen Steuern.
250 Auch als alle Bewohner des Reiches zu Unter- tanen des Kaisers geworden waren, blieb der Anspruch der Stadt Eom, die Welt, die sie unterworfen hatte, für ihre Zwecke auszubeuten, davon unberührt. Xament- 5 lieh in der Kornversorgung der Hauptstadt, der annona urbis, wie man sie technisch nannte, trat dies hervor. Ihr dienten die Naturalsteuern von Ägypten und Afrika, die Privilegien der Kornschiffer und zahlreiche andere Veranstaltungen. Erwiesen sich aber die ge-
10 wohnlichen Maßregehi unzureichend, um eine Teue- rung zu verhindern, so trat alsbald der uralte Rechts- satz in Kraft, daß die Provinzen das wohlerworbene Eigentum Roms seien und zu seinem Vorteil beliebig ausgebeutet werden könnten. Es wurden ihnen dann
15 neben ihren gewöhnlichen Steuern außerordenthche Kornlieferungen auferlegt, deren Höhe sich nach dem Bedürfnis bestimmte und daher jedesmal verschieden sein konnte. Das Ausschreiben solcher Leistungen nannte man indictio, weil sie auf besonderer „Ansage"
20 des Kaisers, nicht auf einem immer gleichen Gesetz beruhten; die Steuer selbst hieß annona^ weil sie der annona urhis diente. Sie lastete ausschließlich auf dem ländhchen Grundbesitz; denn ein schleuniges
^54 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Beschaffen von Getreide konnte man nur von den- 251 jenigen beanspruchen, die es selber produzierten. Für jede Stadt der betroffenen Provinzen wurde das Quantum bestimmt, das auf ihr Gebiet entfiel, und •die Decemprimi für dessen Lieferung verantwortlich 5 gemacht. Ob sie selbst die Erhebung leiteten, ob diese auf die geringeren Decurionen oder auch auf andere Einwohner übertragen wurde, hing von der Ver- fassung der einzelnen Gemeinde ab.
Da sie einen Zuschlag zu den ordentlichen Steuern lo bedeutete, wurde die Indictio immer sehr schwer empfunden, und dies um so mehr, als sie einzutreten pflegte, wenn in Eom Kornmangel drohte, also meist in Zeiten des Mißwachses. Man mochte den Druck dadurch ein wenig mildern, daß man sie nur den Pro- i5 vinzen auflegte, die sich über ihre Ernte nicht zu be- klagen hatten; denn über das ganze Reich brauchte sie sich nicht zu erstrecken, weil Art und Umfang der Erhebung für jeden Fall durch kaiserliches Edikt ge- regelt wurden. Doch wenn man nur einzelne Länder 20 der Annona unterwarf, schrie man hier um so lauter, daß die andern Provinzen bevorzugt würden. Für- sorgliche Herrscher suchten daher diese harte Steuer nach Möglichkeit zu vermeiden; doch wiederholte sie sich trotzdem oft genug, um nicht dauernd außer 25 Übung zu kommen.
Noch schwerer konnten die außerordentlichen Leistungen werden, wenn ein Krieg das Eeich zwang, seine Kräfte über das gewöhnliche Maß anzuspannen. In den Provinzen, die das Heer durchzog, requirierte so man Lastvieh, dessen Lieferung wieder nach Stadt- gebieten umgelegt und durch die allberciten Decem- primi beschafft woirde. Überanstrengt und schlecht behandelt, gingen die Tiere meist zugrunde, und gab
6. Die neuen Steuern. 255
252 man sie doch ihren Eigentümern zurück, so werden sie kaum noch brauchbar gewesen sein. Natürhch waren auch die Kriege oft von Indictionen begleitet; denn daß man, wo es den Unterhalt des Heeres galt,
5 noch weniger Eücksicht auf die Steuerzahler nahm, als wenn man nur für den Pöbel der Hauptstadt zu sorgen hatte, verstand, sich von selbst und war auch ganz berechtigt.
Diese gelegentliche Belastung der Provinzen war
10 immer schwer, aber doch erträglich, solange sie, auf die dringendsten Notfälle beschränkt, eine seltene Ausnahme blieb. Als aber seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts überall die Usurpation sich regte und jeder neugebackene Kaiser die Kräfte des Grebietes,
15 das ihm Untertan war, rücksichtslos ausnutzte, um seiner Nebenbuhler Herr zu werden, da muß der Druck furchtbar gewachsen sein. Solange der Streit um die Krone währte, konnte man den Soldaten, sie auf bessere Zeiten vertröstend, die Löhnung allenfalls
20 schuldig bleiben, aber zu essen mußten sie haben. Da waren die Indictionen, die nicht Geld, sondern Korn einbrachten, das gegebene Hilfsmittel. Als dann die Münze immer mehr verschlechtert und ihr Wert ganz unsicher wurde, als das Geld, das man durch die
25 regelmäßigen Tribute der Städte bezog, infolge- dessen seine Kaufkraft fast verlor, da waren die Naturalien der Annona, die immer gleich brauchbar blieben, um so willkommener. Die Indictionen häuften sich und erschöpften immer mehr die Kräfte der
30 Provinzen.
In dieser Zeit scheint sich ein Wechsel in der Form der Besoldungen vollzogen zu haben, der bald das Steuerwesen entscheidend beeinflußte. Seit dem Ende des ersten Jahrhunderts empfing der Legionär
256 in. Die Verwaltung des Keiches.
1200 Sesterzen (= 240 Mk.) jährlich; Nahrung, 25S Kleider und Waffen wurden ihm geliefert, aber der Betrag seines Verbrauches von der Löhnung abgezogen. Trotzdem reichte sie aus, um nicht nur ihn selbst, sondern auch seine Familie zu unterhalten; denn auch 5 ehe Severus den Soldaten eine legitime Ehe gestattete, lebten wohl die meisten im Konkubinat, das kaum weniger kostspielig war. Als nun der Geldwert herab- ging, wird man den Sold gewiß nicht entsprechend erhöht haben; was zur Verschlechterung der Münze lo führte, waren Ja finanzielle Bedrängnisse, die keine neue Belastung des Budgets gestatteten. Doch der Soldat mußte nicht nur leben, sondern auch bei guter Laune erhalten werden, weil man seinen aufrühre- rischen Sinn damals mehr als je zuvor fürchtete; den i5 Unterhalt seiner Familie durfte man daher nicht schmälern. Wahrscheinlich half man sich, indem man dasjenige, was er für sich und die Seinen brauchte, ihm zu dem früher üblichen Preise lieferte, obgleich es in der neuen Weißkupfermünze das Zehn- und 20 Zwanzigfache kostete. Im Laufe der Zeit dürfte sich ein bestimmtes Normalmaß des Verbrauches fest- gesetzt haben, das regelmäßig von der Besoldung in Abzug kam, etwa derart, daß man von den 100 De- naren, die der Legionär alle vier Monat empfangen 25 sollte, 75 oder 80 für Lebensmittel, Bekleidung und Abnutzung der Waffen in der Staatskasse zurück- behielt und nur die übrigen 20 oder 25 bar auszahlte. An den gleichen Summen wird man festgehalten haben, auch als sie längst nicht mehr das gleiche so galten. Dies bedeutete tatsächlich nichts anderes, als daß die Löhnung nicht mehr in Geld, sondern in Naturalien gezahlt wurde; denn der Überschuß, den der Soldat noch herausbekam, war durch die Münz-
6. Die neuen Steuern. 257
254 Verschlechterung auf den Wert von wenigen Pfennigen herabgesunken. Aber solange für seine Bedürfnisse ausreichend gesorgt war, konnte er sich das gefallen lassen, um so mehr als es ihm dennoch an barem Gelde 5 nicht fehlte. Mußte sich doch der Kaiser die Sicher- heit seines Thrones erkaufen und war daher nicht karg mit Geschenken, die in blankem Golde aus- bezahlt wurden. Doch solche Donative konnten ver- teilt werden, wenn ein Sieg reiche Beute gebracht
10 oder ein anderer Zufall die Staatskasse vorübergehend gefüllt hatte. Sie waren daher leichter aufzubringen, als eine regelmäßige Soldzahlung, für die man Zeit und Gelegenheit nicht frei wählen durfte. Nur bei der Thronbesteigung und bei den Eegierungsjubiläen,
15 welche die Kaiser in jedem fünften Jahr zu feiern pflegten, waren diese Gaben unvermeidlich, und oft wurde dann ihre Beschaffung schwer genug. Aber wie viele Kaiser gab es im dritten Jahrhundert, die ihr fünftes Jahr erreichten?
20 Als Diocletian die Eegierung antrat, bestanden
also die Bezüge der Soldaten in Naturalverpflegung und freiwilligen Geldgeschenken. Die letzteren waren regelmäßig, wenn auch von sehr verschiedener Höhe, soweit sie durch jene fünfjährige Feier bedingt
25 wurden; im übrigen schlössen sie sich an Thron- wechsel, Siege und kaiserliche Familienfeste an. Da- neben gab es unter Diocletian auch noch einen wirk- lichen Sold, doch scheint dieser sehr niedrig gewesen zu sein. Denn als er bald darauf verschwand, erschien
iw diese Neuerung so unwesentlich, daß sie in unseren Quellen nicht einmal erwähnt wird. Hatte der Soldat ausgedient, so forderte er auch jetzt, daß der Staat für sein Alter sorge. Aber da es wüstliegendes Acker- land im Überflusse gab, war die Ansiedlung der 8 II 17
258 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Veteranen nur insofern eine finanzielle Last, als man 25^ ihnen eine Geldsumme zur Beschaffung des Inventars geben mußte.
Für den jährlichen Bedarf eines Soldaten an Lebensmitteln wurde ein einheitliches Maß aufgestellt, r, das man gleichfalls mit dem Namen Annona bezeich- nete. Jede solche Einheit umfaßte Weizen oder Brot, Schweine- und Hammelfleisch, Salz, Wein, Öl und Essig, alles in festen Eationen. Wer es zu einer höheren Stufe des Dienstes gebracht hatte, erhielt zwei Anno- lo nae, damit er seine Familie, die bei dem gemeinen Soldaten wohl ärmlich genug gestellt war, besser er- nähren könne. Bei den Offizieren steigerten sich dann die Zahlen nach ihrem Eange. Dies hatte zunächst wohl den Grund, daß die vornehmeren Militärs Skia- \r, ven, Freigelassene und anderes Dienstpersonal unter- halten mußten ; doch konnte man, was über den Bedarf hinausging, auch verkaufen und so sein bares Ein- kommen vermehren. Und wie für den Mann, so war auch für das Pferd und die sonstigen Lasttiere eine 20 bestimmte Einheit des Jahresverbrauches festgesetzt, die man Capitum nannte. Der gemeine Reiter empfing eine Annona und ein Capitum; bei den höheren Charge ii vermehrten sich diese ebenso wie jene.
Vielleicht schon unter Diocletian, jedenfalls im 25 Laufe des vierten Jahrhunderts wird dann die Zah- lung in Naturalien auch auf die Beamtengehalte aus- gedehnt. Teils bestehen sie in einer angemessenen Zahl von Annonae und Capita; daneben wird aber auch die Amtstracht geliefert und alles andere, was m man zum standesgemäßen Leben braucht, bis zum Silbergeschirr der Tafel und den Sklaven und Kon- kubinen, deren der Beamte für sein persönliches Be- hagen zu bedürfen glaubt. Von diesen Gebrauchs-
6. Die neuen Steuern. 259
256 gegenständen werden einzelne nur hergeliehen und müssen bei Niederlegung des Amtes zurückgegeben werden, andere gehen in den dauernden Besitz de? Empfängers über. iVngesehene Leute, die im Dienste 5 des Kaisers standen, mußten, um ihre Würde aufrecht- zuerhalten, freilich auch über bares Geld verfügen. Wirkliche Gehalte waren daher nicht ganz zu ent- behren ; doch konnten sie in demselben Maße herab- gesetzt werden, wie das Eeich unmittelbar für die Be-
10 dürfnisse seiner Beamten sorgte.
Daß dies System sparsamer war, als die frühere Geldwirtschaft, läßt sich mit gutem Grunde bezweifeln. Denn der Bedarf an Naturalien ließ sich nicht für jeden einzelnen genau berechnen; da man aber nicht.
15 weniger geben durfte, als nötig war, gab man lieber etwas mehr, und der Überschuß wurde verschwendet oder zu Schleuderpreisen verkauft. Nicht selten mußten auch die Steuererheber, die das Getreide eingesammelt hatten und es dann unter die Truppen verteilten, die
20 Eolle der Käufer übernehmen, d. h. sie wurden von den Offizieren gezwungen, statt der Naturalien, mit deren Übermaß diese nichts anzufangen wußten. Geld zu geben, und hielten sich dann ihrerseits an den Steuerzahlern schadlos. Ja mitunter dekretierte
25 der Kaiser oder sein Praefect, daß die eingelaufenen Wein Vorräte, die sich unnütz in den staatlichen Kellern anhäuften, unter die Grundbesitzer einzelner Diözesen verteilt und von ihnen zu einem festgesetzten Preise gekauft werden müßten, ob sie dafür eine Verwendung
30 hatten oder nicht. Mochten sie den Steuerkfätzer nicht trinken, so konnten sie ihn ja weggießen. So wurden selbst die Überschüsse der Naturalsteuer zu einer neuen Last, und die Untertanen waren härter geflrückt als je zuvor: der Staat vergeudete seine
260 in. Die Verwaltung des Reiches.
beste Kraft, bloß um sein bares Geld zu sparen. Und 257 doch wäre jedes andere Verfahren unter Diocletian und seinen Vorgängern sehr schwierig, ja vielleicht unmöglich gewesen. Denn das bare Einkommen des Reiches beruhte vorzugsweise auf den festen Tributen •> der Städte, deren Wert durch die Münz Verschlechte- rung furchtbar herabgegangen war. Und neue Geld- steuern auszuschreiben, wäre deshalb sehr gewagt ge- wesen, weil bei dem ewigen Schwanken der Kurse keine Münze eine feste Werteinheit darstellte und man ic- daher niemals wissen konnte, wie weit die Kaufkraft der Summen, die man erhoben hatte, reichen werde. Man blieb also am besten bei den bequemen Indik- tionen. Wieviel Korn, Wein, Fleisch und Soldaten- mäntel man im kommenden Jahre brauchen werde, i5- ließ sich annähernd berechnen, aber nicht, wieviel sie dann kosten würden. So nahm man denn, was man brauchte, ohne zu zahlen, und aus Vorsicht noch etwas mehr, als man brauchte. Und auch der Bauer selbst gab lieber her, was sein Acker trug, als das blanke &> Geld, das er mit großer Zähigkeit festzuhalten pflegt. Daß die Naturalsteuer durch die Verschwendung, die sie notwendig im Gefolge hatte, viel größere An- forderungen an ihn stellte, als eine Geldsteuer getan hätte, merkte er wohl kaum. Und wenn überflüssige 25 Kornvorräte sich in den staatlichen Speichern ange- sammelt hatten und nun unter jeder Bedingung ver- kauft werden mußten, so nahm er den Druck, den dies auf seine Preise ausübte, als etwasUnvermeidliches hin. Mithin wäre die Aufhebung der Indiktionen so- sogar unpopulär gewesen, wenn man die neuen Geld- forderungen an ihre Stolle gesetzt hätte, welche durch eine solche Maßregel unvermeidlich geworden wären. Diocletian hatte das Heer vergrößert, die Zahl
6. Die neaen Steaern. 261
258 der Ämter beträchtlich vermehrt. Bei der schweren Geldnot der Zeit wird ihm dies kaum anders möglich gewesen sein, als indem er die Besoldung in Naturalien noch weiter ausdehnte. Da konnte er auf die In- 5 diktionen natürlich nicht verzichten, vielmehr stellte er sie in den Mittelpunkt des gesamten Steuerwesens. Vorher hatten sie wohl meist nur einzelne Provinzen betroffen : jetzt wurden sie gleichmäßig über das ganze Eeich ausgedehnt; vorher waren sie zwar häufiger vor-
ao gekommen, als den Untertanen lieb war, hatten aber doch immer als Ausnahme gegolten : jetzt wiederholten sie sich Jahr für Jahr mit solcher Kegelmäßigkeit, daß eine neue Form der Zeitrechnung an sie an- knüpfen konnte. Hatten sie früher einen Zuschlag
1.5 zu den ordentlichen Tributen bedeutet, so kamen jetzt diese der Annona gegenüber kaum noch in Betracht. In einer Beziehung war diese Maßregel not- wendig und gerecht; sie unterwarf zum erstenmal alle Städte des Eeiches mit einziger Ausnahme von
20 Eom selbst einer gleichmäßigen direkten Steuer. Schon oben (S. 139) haben wir dargelegt, wie die Bildung des Reiches aus zahlreichen Staaten, die sich unter ganz verschiedenen Bedingungen an Rom an- geschlossen hatten, eine sehr ungleiche Rechtsstellung
25 für die einzelnen Gemeinden herbeiführte. Italien als das beherrschende Land und die freien Städte in den Provinzen, die als Bundesgenossen die Römer bei ihren Eroberungen unterstützt oder ihnen sonst Dienste geleistet hatten, brauchten nur für ihre eigenen kom-
30 munalen Bedürfnisse zu sorgen; Tribute zu zahlen, galt als ein Zeichen der Knechtschaft und wurde nur denjenigen zugemutet, die man mit des Schwertes Schärfe unterworfen hatte. Dies hatte einen Sinn ge- habt, solange die Empfängerin eine Stadt war, welche
262 in. Die Verwaltung dea Reiches.
die andern Städte durch ihre Zahlungen als Gebieterin 25> anerkannten. Seit aber die Steuern dem Kaiser zu- flössen, der mit ihnen die Bedürfnisse des ganzen Reiches zu befriedigen hatte, war jene Bevorzugung großer Teile desselben eine schreiende Ungerechtig- 0 keit. Freilich wurde sie nicht als solche empfunden, weil man sich seit Jahrhunderten daran gewöhnt hatte. In einer Zeit, die so in den Erinnerungen der Ver- gangenheit lebte, wie das sinkende Altertum, erschienen die Verdienste ferner Ahnen als ein wohlbegründeter 10 ßechtstitel,den anzutasten für pietätlos gegolten hätte. Und die Herrscher brauchten dies nicht zu tun, weil auch die untertänigen Gemeinden ihren altgewohnten Zustand als selbstverständlich betrachteten und an ihren Tributen nicht gar zu schwer trugen. Diese 15. aber genügten dem Bedürfnis, solange die Verwaltung sparsam war; und gelangte ein Verschwender auf den Thron, so kam er schneller und müheloser zu Geld, wenn er von den Millionären des Senats ein paar hinrichten ließ und ihre Vermögen einzog, als wenn 20 er für Hunderte von freien Städten die angemessenen Steuerquoten hätte berechnen müssen. Aber wenn diese Gemeinden auch nicht steuerpflichtig waren, zur Annona wird man sie doch schon früher herangezogen haben. Denn sie war ja kein Tribut, den man als 2.5 schimpflich hätte betrachten können, sondern eine außerordentliche Beihilfe, die Rom oder seine Heere nur in dringender Not in Anspruch nahmen, und in solchen Fällen der beherrschenden Stadt und ihrem Kaiser Opfer zu bringen, war auch für die Bundes- so genossen Ehrenpflicht. Wenn also Diocletian die be- vorzugten Städte seinen Indiktionen unterwarf, so brach er damit nicht ihre alten Privilegien, sondern macht« nur zur Regel, was als Ausnahme auch früher
6. Die neuen Steoern. 263
269 wohl oft genug vorgekommen war. Ihre Befreiung von den Tributen blieb unberührt; doch diese be- deuteten nicht mehr viel, &eit das Geld in seinem Werte so herabgegangen war. Wo sie aber in Natura-
5 lien bezahlt wurden, wie in Äg3'pten und Afrika, da bemaß der Kaiser die Annona entsprechend niedriger, so daß ein gewisser Ausgleich der Lasten durch das ganze Reich herbeigeführt wurde.
Die Vorrechte Roms hat freilich auch Diocletian
10 nicht anzutasten gewagt. Zwar daß die große Mehr- zahl seiner Bevölkerung der Indictio nicht unterlag, hatte es mit allen übrigen Städten gemein. Die Steuer wurde ja in Produkten der Landwirtschaft erhoben und ruhte daher nur auf denjenigen, die aus der Er-
15 Zeugung derselben ihren Unterhalt zogen; sie traf zwar die Stadtgebiete, doch die Bewohner der Städte selbst nur soweit, als sie ländliche Grundbesitzer waren. Der Römer aber blieb nicht nur steuerfrei, sondern wurde auch nach wie vor aus den Steuern
20 des Reiches gefüttert. Doch dies ließ sich nicht ändern, wenn man die Hunderttausende, die von den staatlichen Kornspenden lebten, nicht dem Hungertode preisgeben oder zur Auswanderung zwingen wollte. Gewiß wäre es dem Reiche nur zum Segen gewesen,
25 wenn man die Lungerer, die sich müßig in den Straßen Roms herumtrieben, dazu gezwungen hätte, ihr Brot zu verdienen, indem sie die verödeten Äcker Italiens wieder urbar machten. Doch die Hauptstadt, auf deren Glanz jeder Reichsbürger stolz war, mit
30 einem Schlage zu entvölkern und den größeren Teil ihrer Gebäude in Ruinen sinken zu lassen, dazu war selbst Diocletian nicht radikal genug. Es war schon ein großer Fortschritt, wenn von den Provinzen, die ihr früher alle dienstbar gewesen waren, jetzt nur
264 ni. Die Verwaltung des Iveiches.
eine kleine Zahl für ihren Unterhalt bestimmt wurde. 311 Der Kaiser teilte Italien in zwei Diözesen; die nörd- liche, Italia schlechthin oder auch regio annonaria genannt, entrichtete die gewöhnliche Annona nach Mailand an den Hof Maximians; der südliche Teil, 5 dioecesis tirhis Romae oder regio suburhicaria, hatte für die Hauptstadt zu sorgen, indem er ihr teils Wein, teils Schlachtvieh, Brennholz oder Kalk für ihre Be- dürfnisse stellte. Getreide hat man hier, wie es scheint, anfangs nicht erhoben; dafür mußte noch immer das 10 kornreiche Afrika sorgen. In Süditalien war der Weizenbau so zurückgegangen, daß die Kaiser nicht nur Kom, sondern auch Puteoli, Tarracina und wahr- scheinlich noch anderen Städten viele Tausende von Scheffeln als jährliches Geschenk zuwiesen, damit sie 15 ihre Bevölkerung ernähren könnten. Erst Maxentius v/ird die Annona auch über die suburbicare Eegion ausgedehnt haben; denn während der Zeit, wo Afrika ihm verloren war, konnten die Steuern des nördlichen Italien nicht ausreichen, um sein großes Heer zu 30 erhalten.
Doch welche Ausnahmen auch bestehen blieben.
im allgemeinen wurde schon von Diocletian der
t Grundsatz durchgeführt, daß alle Städte, wie sie von
der Verwaltung und Verteidigung des Keiches den 25
gleichen Vorteil hatten, so auch ungefähr die gleichen
Opfer dafür bringen sollten. Und auch im einzelnen
suchte er die Lasten, die er freilich bedeutend erhöht
hatte, wenigstens gerechter zu verteilen. Seit die
Tribute ein für allemal auf eine feste Summe für so
jede Gemeinde angesetzt waren, hatte das Reich kein
Interesse mehr daran gehabt, die Steuerkraft der
Städte einer genauen Kontrolle zu unterwerfen. Von
einem Zen.sus, der eine ganze Provinz, geschweige
6. Die neuen Steuern. 265
262 denn das ganze Keich umfaßt hätte, war nicht mehr die Kede gewesen. Die Führung der Bürgerlisten und die Einschätzungen innerhalb der Stadtgebiete, nach denen die Tribute umgelegt wurden, überließ man
5 den kommunalen Obrigkeiten, in erster Linie den Decemprimi, die sich dieser wichtigen Aufgabe mehr schlecht als recht entledigten. So hatte man denn auch die Mengen von Naturalien, welche bei den In- diktionen zu entrichten waren, nach Gutdünken und
10 ungefährer Schätzung über die eineinen Städte ver- teilen müssen, da man eine genügende Kenntnis ihrer Leistungsfähigkeit nicht mehr besaß. Die Folge waren natürlich Klagen und Eeklamationen, welche die Eintreibung der Steuern aufhielten und die unzu-
16 reichende Grundlage ihrer Verteilung enthüllten, ohne ihr doch eine neue, bessere zu gewähren. Diesem Mangel abzuhelfen, betrachtete Diocletian als eine seiner ersten Aufgaben. Doch um einen allgemeinen Eeichszensus, wie er ihn plante, zur Durchführung
20 zu bringen, mußte er erst im ganzen Eeiche unbe- strittener Herrscher sein, und es dauerte lange Jahre, ehe er dies Ziel erreichte.
Als Diocletian wenige Monate nach seiner Thron- besteigung in der Schlacht bei Margus den Widerstand
25 des Carinus besiegt und auch über den Westen des Eeiches die Herrschaft gewonnen hatte, blieb doch Gallien noch im Aufstande. Dieser wurde zwar durch Maximian schnell gedämpft; aber noch während des Kampfes fiel Britannien unter Führung des Carausius
30 ab (286), und gleichzeitig usurpierte der Caesar, den sich Diocletian selbst zum Helfer bestellt hatte, die Augustuswürde, und lange Zeit blieb das Verhältnis zwischen den Mitregenten ein drohend gespanntes. Erst im Winter 288/89 wurde auf dem Kongresse
266 ni. Die Verwaltung des Reiches.
von Mailand die Einigkeit wieder hergestellt, und in 26S den Besprechungen, welche die beiden Kaiser dort hielten, scheinen auch die Normen für den künftigen Zensus festgestellt zu sein. Denn noch 289 wurde er nach jahrhundertelanger Unterbrechung zum ersten 5 Male wieder abgehalten, obgleich ihm einstweilen Britannien noch entzogen blieb. Erst 296 wurde die Insel unterworfen, aber gleichzeitig erhob sich Alexandria und konnte erst nach langer Belagerung im Frühjahr 297 erobert werden. Dieser Kampf hatte 10 die wichtige Folge, daß er Diocletian veranlaßte, monatelang in Ägypten zu verweilen, und ihn hier mit einer Steuerverfassung bekannt machte, die schon unter den Ptolemäern eine höchst sorgfältige Ausbil- dung erfahren hatte und den schlecht geregelten Zu- 15 ständen der andern Provinzen wohl zum Muster dienen konnte. Der Kaiser hat sie nicht eigentlich nach- geahmt, aber doch von ihr so manche Anregung empfangen. Und diese zu verwenden, bot sich ihm als- bald die Gelegenheit. Denn jetzt endlich, nachdem er 20 schon das dreizehnte Jahr seiner Herrschaft ange- treten hatte, gehorchte ihm das ganze römische Maeht- gebiet, und ein wirklich allgemeiner Reichszensus war möglich geworden. Noch 297 wurde er begonnen und zugleich ein Gesetz erlassen, daß er sich künftig in 25 jedem fünften Jahr wiederholen solle. Seitdem hat in allen Jahren, deren Zahlen nach christlicher Zeit- rechnung mit 2 oder 7 endigen, d. h. 302, 307, 312, 317 usw., eine Schätzung begonnen und ist in den darauffolgenden Jahren abgeschlossen worden. Die so Normen, nach denen sie anzustellen war, sind wahr- scheinlich zum Teil schon 289 festgesetzt worden, fanden aber erst jetzt ihren endgültigen Abschluß. Die Bewohner der Städte und was sie an barem
6. Die neuen Steuern. 367
264 Gelde und mannigfachem Hausgerät, an städtischen Gebäuden und städtischen Sklaven besaßen, gingen den Reichszensus nichts an. Soweit sie überhaupt ge- zählt und geschätzt wurden, geschah dies nach wie
& vor durch die Decemprimi, die» von ihnen die alten Tribute zu erheben hatten. Die neue Schätzung sollte eben nur einer gerechteren Verteilung der Annona dienen und blieb daher, wie diese, auf den ländlichen Grundbesitz beschränkt. Doch das Land an sich war
10 kaum etwas wert, wenn man nicht die Arbeitskräfte besaß, um es auszunutzen. Bei der damaligen Ent- völkerung des Eeiches lag trefflicher Boden nicht selten wüst oder gab, mangelhaft bestellt, nur sehr geringe Ernten ; dagegen konnte in den wenigen Land-
15 Schäften, die noch eine größere Menschenzahl auf- wiesen, auch ein Acker von mäßiger Güte durch inten- sive Bebauung reiche Erträge bringen. Die Höhe der Steuer, die man einem Grundstück abverlangen kennte, mußte also noch mehr auf die Dichtigkeit
20 seiner Bevölkerung, als auf den eigentlichen Boden- wert Rücksicht nehmen. So gelangte Diocletian dazu, die Annona, obgleich sie immer Grundsteuer gewesen war und auch von ihm noch als solche betrachtet wurde, doch zugleich zur Kopfsteuer zu machen; doch
25 wurde diese nur von dem Teil der Bevölkerung er- hoben, der durch seine Arbeit den Ertrag des Bodens erhöhte. Ihr unterlag der Bauer, der mit eigener Hand den Pflug führte, aber nicht der Grundbesitzer, der in der Stadt wohnte und sein Gut an Kleinpächter
30 ■ ausgetan hatte oder durch Sklaven bebauen ließ; doch jene Kleinpächter und Sklaven waren wieder Steuerobjekte. Natürlich bezahlten der Bauer und der Kolone für sich selbst, während für den Sklaven durch seinen Herrn bezahlt wurde; doch sonst galten alle
268 nr. Die Verwaltung des Reiches.
drei in bezug auf die Annona gleich, insofern jeder ?B5 von ihnen eine ländliche Arbeitskraft darstellte.
Der Zensus sollte in der Weise die Steuerkraft des gesamten Eeiches und seiner einzelnen Teile fest- stellen, daß er für jedes Stadtgebiet eine Summe von 5 Werteinheiten des ländlichen Grundbesitzes ermittelte. Diese galten im steuertechnischen Sinne für gleich, d. h. von jeder Einheit wurde als Annona dieselbe Menge von Naturalien entrichtet. Natürlich konnte diese Kegel nicht ohne Ausnahmen sein; war z. B. 10 eine Provinz von den Barbaren verheert oder hatte sie durch Mißwachs gelitten, so wird man ihr ohne Zweifel Erleichterungen gewährt haben. Im allge- meinen aber bot jene angenommene Gleichwertigkeit der einzelnen Steuerobjekte eine sehr bequeme Hand- u habe dar, um die Leistungen, deren der Kaiser be- durfte, schnell und mühelos über die Provinzen des Eeiches zu verteilen. Ergab der Zensus, um beliebige Zahlen zu nennen, im ganzen 6 Millionen Einheiten und brauchte man an Weizen 50 Millionen Scheffel 30 zum Unterhalt des Heeres und der Beamten, so schrieb die Indictio je 10 Scheffel für die Einheit aus. Der Überschuß von 10 Millionen wurde dann benutzt, teils um die Ausfälle zu decken, die durch Steuernachlässe für einzelne Provinzen oder durch 5* säumige Zahler entstanden, teils um eine Eeserve für unvorhergesehene Bedürfnisse zu bilden. Denn daß man bei diesem System nicht ohne Überschüsse wirt- schaften konnte, versteht sich von selbst und ist oben schon in seiner Bedeutung dargelegt worden. »
Obgleich jede der Einheiten die gleiche Last zu tragen hatte, wurden sie in den einzelnen Diözesen je nach deren besonderen Verhältnissen doch sehr verschioden bemessen. Ägypten und Afrika bezahlten
6. Die neuen Steoeni. 269
26S auch ihre alten Tribute in Naturalien, hatten also an der Erleichterung, welche das Herabgehen des Münz- wertes in den mit G^ldsteuern belasteten Provinzen herbeigeführt hatte, keinen Anteil gehabt. Und jene
5 Tribute beliefen sich auf ein volles Fünftel des Er- trages, den nach mäßiger Schätzung eine Durch- schnittsernte zu hefern pflegte. Da man bei der Be- rechnung des jährlich wiederkehrenden Satzes das Saatkorn und die übrigen Produktionskosten nicht in
10 Abzug gebracht hatte, wird von dem Reinertrage des Ackers nicht weniger als ein Drittel dem Reiche zu- geflossen sein. So drückend diese Steuer auch war, scheute sich Diocletian doch nicht, sie durch den Zu- schlag seiner Indiktionen noch zu erhöhen; doch mußte
15 die Annona hier freilich niedriger angesetzt werden, als in den andern Diözesen. Das geschah in der Form, daß man beim Zensus die ländlichen Arbeitskräfte und das Vieh unberücksichtigt ließ, also nur das Land selbst schätzte, und bei diesem die Steuereinheiten
>o größer bemaß, als dies sonst üblich war. Aus ähn- lichen Gründen kamen Verschiedenheiten dieser Art auch in andern Diözesen vor, im allgemeinen aber waren die Grundsätze, nach denen jene Einheiten be- stirmnt wurden, folgende.
»5 Die Namen, die man ihnen in den einzelnen
Diözesen gab, weichen gleichfalls voneinander ab; in mehreren aber findet sich in diesem Sinne das Wort Caput, dessen wir uns durchgängig bedienen wollen, weil es uns das bezeichnendste scheint. Denn mit
30 Ausnahme von Ägypten und Afrika dient in allen Ländern des Reiches, von denen wir nähere Kunde haben, der Arbeitswert des männlichen „Hauptes" als das Normalmaß der Steuereinheit. Auf jedem Manne, der persönlich den Acker bebaut, mag er kleiner
270 III. Die Verwaltung des Reiches.
Grundbesitzer, Pächter oder Sklave sein, lastet also die 267 Annono eines Caput. Dieser Einheit sind zwei Weiber gleichgesetzt, ebenso eine bestimmte Anzahl von Vieh- häuptern und bestimmte Maße bebauten Landes. Bei diesem bemißt man den Umfang des Caput einerseits r, nach der Art des Anbaues, anderseits danach, ob der Boden eben oder gebirgig ist. So galten in Syrien als Einheit 5 Morgen Weinberg oder 20 Morgen Acker- land oder 225 Ölbäume. Ist das Land gebirgig, so macht dies beim Weinbau keinen Unterschied; bei lo Ölbäumen steigert es die Zahl auf das Doppelte; beim Ackerlande werden drei Stufen unterschieden, so daß entweder 20 Morgen oder 40 oder 60 die Einheit bilden können. In Italien scheinen die entsprechen- den Maße 25, 50 und 75 Morgen gewesen zu sein. i5 Daß man Grundstücke von diesem Umfang einem männlichen Haupte gleichsetzen konnte, ist wohl der deutlichste Beweis, wie furchtbar das Land entwertet und wie hoch im Gegensatze dazu die Arbeit im Preise gestiegen war. Die Weide und mit ihr alles wüst- 20 liegende Land wurde beim Zensus nicht berücksich- tigt, weil es durch die Steuer, die auf dem Vieh ruhte, schon mittelbar getroffen war. Die Wiesen waren be- sonders eingeschätzt, da von ihnen nicht die gewöhn- liche Annona entrichtet, sondern Heu für die Pferde 25 des römischen Heeres erhoben wurde.
Bei dieser Art der Einschätzung wurde der Pächter und der kleine Grundbesitzer viel schwerer gedrückt als der große. Nehmen wir z. B. an, ein verheirateter Bauer nenne 20 Morgen Ackerland der ersten Güte so sein eigen, so würde dies ^n Caput ergeben, dem noch er selbst als zweites Caput und seine Frau als ein halbes hinzuträten. Er hätte also für sein Gütchen 2V2 Steuereinheiten zu zahlen, was auf die einzelnen
^i. Die neuen Steuern. 271
288 Morgen verteilt Vs ausmachen würde. Wer dagegen 2000 Morgen mit 50 Sklaven bewirtschaftete, ent- richtete 150 Einheiten, d. h. nur 2/40 auf den Morgen. Nach dem Flächenmaße berechnet, verhält sich also
5 in diesem Falle die Leistung des Bauern zu der des Großgrundbesitzers wie 5 : 3. Und hatte jener noch zwei erwachsene Kinder, einen Sohn und eine Tochter, die ihm bei der Arbeit halfen, so wurde er auf 4 Capita eingeschätzt, und jenes Verhältnis steigerte
10 sich auf 8:3. Jene seltsame Kombination von Kopf- und Grundsteuer war durch Menschenmangel hervor- gerufen, mußte ihn aber in ihren Konsequenzen noch schwerer machen. Denn indem sie nur auf die Leute- not der Großgrundbesitzer Rücksicht nahm, erdrückte
15 sie den kleinen Mann unter der Last der Steuern, und wenn dieser nicht in der Lage ist, seine Familie leidlich unterhalten zu können, wird auch eine gesunde Völksvermehrung unmöglich.
Wie -schwer gerade die Kopfsteuer auf der Be-
20 völkerung lastete, ergibt sich am deutlichsten aus folgender Tatsache: Hat eine Provinz durch Kriegs- not gelitten oder scheint sie aus andern Gründen besonderer Erleichterungen würdig, so ist es immer dieser Teil der Steuerlast, der ihr zuerst abgenommen
25 oder doch herabgesetzt wird. Als im Beginn von Diocletians Regierung die Bagauden Gallien ver- wüsteten, wurde namentlich der Viehstand schwer geschädigt; hier blieb er daher bei der Schätzung unberücksichtigt, ein merkwürdiges Zeichen dafür.
80 wie auch die Kaiser selbst erkannten, daß er unter dem Drucke der Steuer sich nicht auf seine frühere Zahl werde erheben können. Unter Constantin wurde Palästina um seiner heiligen Vergangenheit willen in- sofern Ägypten und Afrika gleichgestellt, als alle
272 ni. Die Verwaltung des Reiches.
lebenden Häupter, die Menschen wie das Vieh, Be- 2(59 freiung erlangten und nur noch der Grund und Boden eingeschätzt wurde. Bald darauf wurde das gleiche Privileg über die ganze orientalische Diözese aus- gedehnt, weil sie im Perserkriege des Constantius am 5 schwersten gelitten hatte. Als die Völkerwanderung sich über Thracien ergossen hatte, beseitigte Theo- dosius I. auch hier die Kopfsteuer, und in Asien wurde sie später, vielleicht nach den Verwüstungen der Gothen unter Arcadius, insoweit aufgehoben, daß 10 ihr künftig nur noch Sklaven und Vieh, nicht mehr die freien Häupter unterlagen. Im Jahre 386 wurde sie dann für das ganze Reich auf weniger als die Hälfte herabgesetzt, indem Theodosius bestimmte, vier Weiber sollten künftig auf ein Caput, fünf 15 Männer auf zwei gerechnet werden.
Auch darin waren die Grundsätze der diocletia- nischen Schätzung ungerecht, daß sie die Güte des Bodens nicht genügend unterschieden. Fünf. Morgen Weinland galten immer gleich, ob sie Krätzer trugen 20 oder einen jener Edelweine, für die reiche Kenner auch damals die höchsten Preise zahlten. Bei der Höhe der Steuer tat man am besten, wenn man billige Sorten gar nicht mehr zog oder doch ihren Anbau so weit einschränkte, daß der Preis bedeutend in die 25 Höhe ging. Dem armen Manne wurde also sein Haus- trunk ganz ungebührlich verteuert. Und beim Acker- lande war die Schätzung nicht viel besser. Man unter- schied ja nicht fetten und mageren, schweren und leichten Boden, sondern nur ebenen und gebirgigen; so und bei diesem stieg die Einheit gleich auf den doppel- ten und dann auf den dreifachen Umfang. Wenn aber 20 Morgen ebensoviel zu zahlen hatten wie 60, so konnte es leicht kommen, daß der Anbau des
6. Die neuen Steuern. 273
270 schlechteren Landes infolge seiner geringeren Be- steuerung mehr Gewinn brachte, als der des besseren. So wurde das Volk systematisch dazu getrieben, die landwirtschaftliche Produktion herabzusetzen. Es war 5 oft vorteilhaft, Weinpflanzungen in Kornfelder zu ver- wandeln und den schlechteren Ackerboden zu bebauen, während der bessere wüst blieb. Unter diesen Um- ständen mußten Wert und Menge der erzeugten Nah- rungsmittel sinken, was wieder einer Vermehrung der
10 Bevölkerungsziffer hinderlich war.
Allerdings hatte Diocletian gute Gründe, nur solche Kennzeichen für die Abschätzung des Bodens aufzustellen, die auf den ersten Blick wahrnehmbar und keiner weitläufigen Untersuchung bedürftig waren.
15 Ob das Land mit Weinstöcken, Ölbäumen oder Körner- frucht bestanden, ob es eben oder gebirgig war, dar- über konnte kein Streit sein; höchstens über die Grenz- linie, bei der die erste Güte des Bodens aufhörte und die zweite oder dritte begann, waren Zweifel denk-
20 bar. Gewiß bot schon dieser Umstand der Bestech- lichkeit der Beamten Anhaltspunkte genug, um reichen Grundbesitzern das Erkaufen einer niedrigeren Ein- schätzung möglich zu machen; doch diese Gelegen- heit wäre noch viel häufiger geworden, wenn man
25 feinere und minder augenfällige Unterschiede des Bodens zur Wertbestimmung benutzt hätte. Was aber noch wichtiger war, eine gewissenhafte Bonitierung hätte sehr viel Zeit erfordert, und für die kostspieligen Neuerungen, die Diocletian in Heerwesen und Ver-
30 waltung durchführte, mußten die Mittel so schnell, wie dies irgend tunlich war, flüssig gemacht werden. Der Eeichszensus durfte daher kein zu verwickeltes Geschäft sein, sondern mußte sich in wenigen Monaten ausführen lassen.
S II 18
274 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Das Verfahren dabei war denn auch im höchsten 271 Grade oberflächlich. Die Beamten, die jedes fünfte Jahr ernannt wurden, durchzogen nicht etwa das flache Land, um Menschen und Vieh zu zählen und die Grundstücke in Augenschein zu nehmen, sondern ihre 5 ganze Tätigkeit spielte sich auf den Märkten der Städte ab. Hier versammelten sich die Grundbesitzer der Umgegend, um auf die Fragen des Censitors mündlich über den Zustand ihres Landes, über die Zahlen der arbeitsfähigen Häupter und über den lo Umfang ihres Viehstandes Auskunft zu geben. In der Hauptsache beruhte also der Zensus auf Selbst- einschätzung; doch traute man keinem zu, daß er die volle Wahrheit sagen werde. Nachbarn und Skla- ven mußten daher Zeugnis ablegen, und oft spielte i5 sogar die Folter ihre traurige Eolle, um Nachrichten über Dinge zu erpressen, die sich den Schätzungs- beamten, wenn sie nur selbst aufs Land hinaus- gegangen wären, gar nicht hätten verbergen lassen. Unter dem Drucke dieser Quälereien bekannte sich der 20 Arme nicht selten zu einer größeren Steuerpflicht, als ihm tatsächlich zukam, während der Eeiche, den seine angesehene Stellung schützte, manches von seinem Besitze zu verheimlichen wußte. Denn regten sich Zweifel, bei denen man nicht gleich zur Folter greifen 25 wollte, so gaben meist die kommunalen Obrigkeiten, die mit den Verhältnissen ihrer Stadt vertraut waren, die endgültige Entscheidung, und daß sie nicht leicht gegen einflußreiche Mitbürger aussagten, versteht sich von selbst. Auf diese Weise spielten, namentlich so die Decemprimi und ihre subalternen Schreiber, die Tabularii, bei jedem Zensus eine unheilvolle Eolle, bedrückten den kleinen Mann und erleichterten den Eeichen. Übrigens sahen es die Censitoren des Kaisers
6. Die neuen Steuern. 275
272 al? ihre Hauptaufgabe an, die Steuerkraft der Städte als Ganzes festzustellen; die Verteilung der Lasten auf die einzelnen Grundbesitzer überließen sie gern den Decemprimi und ihren Tabularii.
5 Auf diese Weise erhielt jedes Stadtgebiet des
Eeiches eine runde Summe von Capita zugeschrieben, deren Steuerbetrag es die nächsten fünf Jahre hin- durch aufzubringen hatte. Verminderten sich die Zahlen der ländlichen Arbeiter oder des Viehs, oder
10 blieben Stücke Landes, die zur Zeit des letzten Zensus ncch bebaut gewesen waren, unterdessen wüst liegen, so nahm das Reich darauf keine Rücksicht. Der Kaiser mußte eben mit einer festen Ziffer von Ein- heiten rechnen können, wenn er die Aufbringung
15 dessen, was Heer und Beamte brauchten, angemessen über seine Städte verteilen wollte. War er in frei- giebiger Stimmung, so ließ er sich wohl einmal er- bitten, ein paar tausend Capita von dem Soll einer Gemeinde abzustreichen; doch auch dies kam meist
20 nur den Reichen zugute. Denn natürlich waren es wieder Decemprimi und Tabularii, welche die Er- leichterung unter die einzelnen Steuerzahler repar- tierten, und jene Herren berücksichtigten vor allem ihre guten Freunde und Standesgenossen. Herrscher
25 von wirtschaftlichem Sinne und richtigem Verständ- nis für die Bedürfnisse des Volkes waren daher- mit Gunstbezeigungen dieser Art sehr sparsam, um so mehr als diese natürlich einen desto härteren Druck für die übrigen Städte herbeiführten. Fühlte sich also
30 eine Gemeinde durch ihre Einschätzung überlastet, so war die Aussicht sehr gering, vor dem nächsten Zensus Erleichterungen durchzusetzen, und auch dieser brachte nur ausnahmsweise die gewünschte Abhilfe. Denn jeder Censitor wagte die Gunst des Kaisers, wenn er
276 in. Die Verwaltung des Reiches.
in seinem Schatzungsbezirke weniger Capita heraus- 273 rechnete als sein Vorgänger. So wurde der Eückgang der Bevölkerungsziffer nach Möglichkeit verschleiert, indem man die Verstorbenen in der Liste weiterführte und ihre Kopfsteuer den Besitzern der Güter, auf 5 denen sie gelebt hatten, oder auch den Decurionen ihrer Heimatstädte aufbürdete. Eine Herabsetzung der Summe erreichte man daher nicht leicht auf andere Weise, als wenn neben den gewöhnlichen Censi- toren auch Inspektoren oder Peraequatoren ernannt lo wurden, zwei Arten von Beamten, die sich nur durch Eang und Titel, aber nicht in ihrer Tätigkeit unter- schieden. Sie hatten die Aufgabe, nicht nur in den Städten die Selbsteinschätzungen entgegenzunehmen, sondern aufs flache Land hinauszugehn und sich durch 15 eigene Prüfung zu überzeugen, wieviel davon noch bebaut sei und wieviel wüst liege. Da sie meist auf Petitionen der Städte abgesandt wurden, erwartete der Kaiser von ihnen nichts anderes, als daß sie die Zahl der Capita herabsetzen würden; sie konnten 20 es daher tun, ohne seine Ungnade zu fürchten. Doch solche Wohltäter erschienen nur in langen Zwischenräumen und nahmen sich nur derjenigen Städte an, für deren Gebiet sie besondere Aufträge hatten. 25
Die Decemprimi waren früher auch für das rich- tige Einlaufen der Annona verantwortlich gewesen; aber seit die Indictio sich alljährlich wiederholte, konnte man ihnen diese Last nicht mehr aufbürden; diückten doch schon die alten Tribute schwer genug 30 auf ihnen. So mußte denn jetzt der Ordo in seiner Gesamtheit für jene eintreten. Alljährlich wählte er aus seiner Mitte diejenigen, welche im künftigen Jahre die Erhebung der Annona zu besorsfcn hatten
6. Die neuen Steuern. 277
274 und die Ausfälle aus ihrem Vermögen decken mußten, wie die Decemprimi bei den Tributen. Im allgemeinen befolgte man dabei eine feste Eeihenfolge, die nur in den seltenen Fällen unterbrochen wurde, wenn ein
5 Decurio sich aus Freigiebigkeit von selbst zur Über- nahme der Last bereit erklärte. Häufiger kam es vor, daß man sich ihr zu entziehen versuchte, und konnte man nachweisen, daß ein Kollege von größerem Ver- mögen oder älterer Zugehörigkeit zum Ordo über-
10 gegangen war, so ließ sich durch Appellation an den Statthalter ein Aufschub erreichen. Völlige Los- sprechung gewährten nur Armut oder besondere Pri- vilegien, wie sie die Zugehörigkeit zu einem befreiten Stande und vom Kaiser verliehene Ämter und Würden
15 begründeten. War der Besitz des Steuererhebers nicht groß genug, um dasjenige, was von der ge- forderten Summe nicht eingekommen war, daraus zu erlegen, so trat das Eecht der Xomination in Kraft, d. h. die Gesamtheit der Decurionen mußte, weil sie
20 einen „Ungeeigneten" gewählt hatte, den Schaden tragen. So war die kaiserliche Kasse unter allen Umständen gesichert, mochten auch die Ordines dar- über zugrunde gehn.
Jene Haftbarkeit ist übrigens nicht so aufzufassen,
25 als wenn der Erheber für jeden säumigen Zahler hätte eintreten müssen. Nur wenn die Steuerobjekte untergegangen waren, weil die Äcker wüst lagen und Menschen und Vieh sich nicht mehr auffinden ließen, mußte sein Vermögen herhalten. Soweit er Schuldner
30 namhaft machen konnte, von denen die Steuerreste noch beizutreiben waren, hielt man sich an diese. Sie zu drangsalisieren war die Pflicht der sogenannten Exactoren, deren Tätigkeit begann, wo die der eigent- lichen Steuererheber (susceptores) aufhörte. Auch
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III. Die Verwaltunof des Reiches.
jene wurden zunächst aus den Decurionen gewählt; 275 doch konnte bei dieser schwierigeren Aufgabe auch der Statthalter mit seinen Subalternen eintreten. Dazu kamen noch Sendlinge des Praefecten oder des Hofes, die zuerst nur ausnahmsweise, dann alljährlich er- 5 schienen und für die Provinzen fast immer eine schwere Belästigung waren, weil sie neben den Ge- schäften des Staates regelmäßig auch ihr Geschäftchen machen wollten. Handelte es sich um Lieferungen, die einem benachbarten Truppenteil zu leisten waren, lo so schickte wohl auch dieser einen Soldaten ab, der m.it roher Gewalt seine Forderungen durchsetzte und sich hoch dafür bezahlen ließ, wenn er nicht mehr nahm, als er sollte und durfte. Was die kleinen Leute schuldig waren, kam so bald zusammen; denn i5 sie hungerten lieber, als daß sie Peitsche und Folter ertrugen. Wurden diese doch sogar gegen die De- curionen angewandt, wenn sie ihren Verpflichtungen nicht rechtzeitig nachkamen. Die hartnäckigen Steuer- schuldner waren daher meist nicht die Armen, sondern 20 die Mächtigen und Einflußreichen, an welche die brutale GcAyalt sich nicht heranwagte. War dann einige Zeit vergangen, so wurden die nicht ein- gelaufenen Naturalien, weil der Kaiser sie jetzt nicht mehr brauchte, in Geld umgerechnet, und zwar meist 25 nach einer sehr milden Schätzung. Und von Zeit zu Zeit, bei Thronbesteigungen, Jubiläen und ähnlichen Gelegenheiten, erließ wohl auch die Gnade des Herrschers alle Steuerschulden, was dann immer den- jenigen zugute kam, die es am wenigsten nötig so hatten. Daß der Kaiser die Besitzungen vornehmer Günstlinge von allen Staatslasten befreite, ja daß selbst einzelne Statthalter sich erkühnten, ihren guten Freunden die Steuer zu schenken, kam gleichfalls
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6. Die neuen Steuern.
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276 vor und belastete dann um so schwerer die Armen und Niedrigen, die keine einflußreichen Verbindungen besaßen.
So war das Steuersystem, das Diocletian geschaffen
5 hatte, nach jeder Eichtung hin für das Eeich unheil- voll, aber für den Kaiser sehr bequem. Denn es ge- währte einen schnellen Überblick über die Leistungs- fähigkeit jeder Provinz und Stadt und erlaubte jedes staatliche Bedürfnis in einer Weise zu befriedigen, die
10 den Druck, so hart er war, wenigstens mit einiger Gleichmäßigkeit über alle Länder des Eeiches ver- teilte. Doch eben diese leichte Handlichkeit des un- geheuren Apparates war ein neues Unglück. Denn sie verführte die Herrscher, ihre Bedürfnisse nicht
15 nach gegebenen Einnahmen zu richten, sondern, was ihnen angenehm und nützlich schien, ohne weiteres von den Untertanen zu fordern. Jedes Jahr ging eine Urkunde in alle Welt, die bestimmte, wieviel von jedem Caput zu erheben sei und in welcher Form
20 dies zu geschehen habe. Denn das hatte ja die neue Indictio von dem außerordentlichen Charakter der alten bewahrt, daß sie jedesmal angesagt wurde und daher nicht auf eine feste Summe von Leistungen gestellt war, sondern alljährlich mit neuen Forde-
25 rungen kommen durfte. ISTatürlich machte man von dieser Möglichkeit nicht immer Gebrauch, sondern ließ es meist beim alten, so daß eine gewisse Norm sich ausbilden konnte, was als regelmäßige Leistung, was als außerordentliche zu gelten habe. Gleichwohl
30 lag in jener Freiheit eine große Versuchung für die Kaiser, die ihre gefährliche Wirkung nicht verfehlen konnte.
Schon gleich nach der Abdankung Diocletians sollte sie sich geltend machen. Er selbst war sparsam
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278 ni. Die Verwaltung des Reiches.
jene wurden zunächst aus den Decurionen gewählt; 275 doch konnte bei dieser schwierigeren Aufgabe auch der Statthalter mit seinen Subalternen eintreten. Dazu kamen noch Sendlinge des Praefecten oder des Hofes, die zuerst nur ausnahmsweise, dann alljährlich er- 5 schienen und für die Provinzen fast immer eine schwere Belästigung waren, weil sie neben den Ge- schäften des Staates regelmäßig auch ihr Geschäftchen machen wollten. Handelte es sich um Lieferungen, die einem benachbarten Truppenteil zu leisten 'waren, lo so schickte wohl auch dieser einen Soldaten ab, der irAt roher Gewalt seine Forderungen durchsetzte und sich hoch dafür bezahlen ließ, wenn er nicht mehr nahm, als er sollte und durfte. Was die kleinen Leute schuldig waren, kam so bald zusammen; denn i5 sie hungerten lieber, als daß sie Peitsche und Folter ertrugen. Wurden diese doch sogar gegen die De- curionen angewandt, wenn sie ihren Verpflichtungen nicht rechtzeitig nachkamen. Die hartnäckigen Steuer- schuldner waren daher meist nicht die Armen, sondern 20 die Mächtigen und Einflußreichen, an welche die brutale Ge\Yalt sich nicht heranwagte. War dann einige Zeit vergangen, so wurden die nicht ein- gelaufenen Naturalien, weil der Kaiser sie jetzt nicht mehr brauchte, in Geld umgerechnet, und zwar meist 25 nach einer sehr milden Schätzung. Und von Zeit zu Zeit, bei Thronbesteigungen, Jubiläen und ähnlichen Gelegenheiten, erließ wohl auch die Gnade des Herrschers alle Steuerschulden, was dann immer den- jenigen zugute kam, die es am wenigsten nötig so hatten. Daß der Kaiser die Besitzungen vornehmer Günstlinge von allen Staatslasten befreite, ja daß selbst einzelne Statthalter sich erkühnten, ihren guten Freunden die Steuer zu schenken, kam gleichfalls
6. Die neuen Steuern. 279
276 vor und belastete dann um so schwerer die Armen und Niedrigen, die keine einflui3reichen Verbindungen besaßen.
So war das Steuersystem, das Diocletian geschaffen 5 hatte, nach jeder Eichtung hin für das Eeich unheil- voll, aber für den Kaiser sehr bequem. Denn es ge- währte einen schnellen Überblick über die Leistungs- fähigkeit jeder Provinz und Stadt und erlaubte jedes staatliche Bedürfnis in einer Weise zu befriedigen, die
10 den Druck, so hart er war, wenigstens mit einiger Gleichmäßigkeit über alle Länder des Eeiches ver- teilte. Doch eben diese leichte Handlichkeit des un- geheuren Apparates war ein neues Unglück. Denn sie verführt« die Herrscher, ihre Bedürfnisse nicht
15 nach gegebenen Einnahmen zu richten, sondern, was ihnen angenehm und nützlich schien, ohne weiteres von den Untertanen zu fordern. Jedes Jahr ging eine Urkunde in alle Welt, die bestimmte, wieviel von jedem Caput zu erheben sei und in welcher Form
20 dies zu geschehen habe. Denn das hatte ja die neue Indictio von dem außerordentlichen Charakter der alten bewahrt, daß sie jedesmal angesagt wurde und daher nicht auf eine feste Summe von Leistungen gestellt war, sondern alljährlich mit neuen Forde-
25 rungen kommen durfte. Natürlich machte man von dieser Möglichkeit nicht immer Gebrauch, sondern ließ es meist beim alten, so daß eine gewisse Norm sich ausbilden konnte, was als regelmäßige Leistung, was als außerordentliche zu gelten habe. Gleichwohl
30 lag in jener Freiheit eine große Versuchung für die Kaiser, die ihre gefährliche Wirkung nicht verfehlen konnte.
Schon gleich nach der Abdankung Diocletians sollte sie sich geltend machen. Er selbst war sparsam
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genug gewesen, um das geringe Bedürfnis nach Geld, 277 das ihm seit der Durchführung jenes Naturalsystems noch blieb, mit den alten Tributen der Städte, den Pachten der Domänen, dem Ertrage der kaiserlichen Bergwerke und was er sonst noch von baren Ein- 5 künften hesaß, leidlich befriedigen zu können. Aller- dings hatten Justizmorde und Konfiskationen mitunter aushelfen müssen, aber neuer Geldsteuern hatte er nicht bedurft. Schon unter Galerius wurde dies anders. Für die kostbaren Veranstaltungen, mit denen er sein 10 zwanzigjähriges Jubiläum feiern wollte, namentlich für die Geschenke, die bei dieser Gelegenheit den Sol- daten zugedacht waren, reichte das gewöhnliche Ein- kommen nicht, und alsbald griff er zu der bequemen Steuermaschine Diocletians, um, wie früher Korn und 15 Wein, so jetzt auch Gold und Silber nach Capita aus- zuschreiben. Damit aber war der Grundsatz auf- gegeben, daß ausschließlich Naturalien durch Indictio gefordert werden sollten, und da nur auf ihm die Be- freiung der städtischen Bevölkerung von der Schätzung 20 beruhte, erschien auch diese jetzt sinnlos. Schon beim Zensus vom Jahre 307 wurden daher nicht nur, wie es bisher geschehen war, die ländlichen Grundstücke mit ihrem Inventar an Menschen und Vieh, sondern auch die Städter und ihr Besitz nach Capita eingeteilt, 25 ja selbst Eom war von dieser Gefahr bedroht, als der Aufstand des Maxentius es erlöste. Da dieser zugleich die Einheit des Kelches aufhob und alle Mitregenten zu dem ältesten Augustus Galerius in Gegensatz brachte, wurde dessen neue Schatzungsordnung nur so auf den Eeichsteil angewandt, den er selbst unmittel- bar beherrschte. Hier konnte sie ihre Probe ablegen, ehe auch die übrigen Kaiser sich ihrer bemächtigten, und in den vier Jahren, die sie in Geltung war, erwies
6. Die neuen Steuern. 281
278 sie sich so unerträglich, daß selbst der ärgste Tyrann nicht mehr auf sie zurückzukommen wagte.
Galerius hatte den Grundsatz Diocletians bei- behalten, daß jedes Caput bei der Indictio gleich 5 belastet werden sollte, weil er ihm gerecht und billig schien; daß jetzt, wo es durch seine Verfügung neben den ländlichen Capita auch städtische gab, ein Unter- schied gemacht werden müsse, leuchtete seinem plumpen Verstände nicht ein. So verlangte er denn
10 von dem Bauern neben den üblichen Naturalien auch Gold und Silber, was er nicht besaß, und von dem Städter Korn und Wein, die er für die Steuer erst kaufen mußte. Der Kaiser mochte, hoffen, daß eben diese Ankäufe das bare Geld unter die Landbevölke-
15 rung bringen würden, das sie zur Befriedigung seiner neuen Forderungen brauchte. Doch wenn auch diese Verteilung der städtischen und ländHchen Güter bis zu einem gewissen Grade eintreten mochte, so ging sie doch kaum mit der Geschwindigkeit vor sich, welche
20 die Erhebung der Steuern erheischte. So taten denn wieder Geißel und Folter ihr Werk, und das bloß, damit der Kaiser die Bequemlichkeit habe, jedes Caput, welcher Art es auch sein mochte, als gleich- wertig zu behandeln, und sich nicht mit einer ver-
25 schiedenen Ausschreibung der Steuern für Stadt und Land zu plagen brauche.
Auch Maxentius brauchte sehr viel Geld und war nicht minder rücksichtslos in dessen Beschaffung. Doch außer den Konfiskationen, die in solchen Nöten
30 immer schnelle, wenn auch nicht dauernde Hilfe brachten, wandte er eine ganz andere Form der Er- pressung an. Er ließ sich das nötige Gold in erster Linie von den Senatoren Eoms, nächstdem von anderen reichen Grundbesitzern in der Form frei-
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williger Gaben darbringen, um es dann unter seine 279 Soldaten zu verteilen. Hierbei war eine neue Schätzung nicht erforderlich, da es sich ja nicht um Steuern, sondern um angebliche Geschenke handelte, deren Höhe der Tyrann nach freiem Belieben ohne Rück- 5 sieht auf das Vermögen der Spender bestimmen kennte. Aber wenn diese Räubereien auch jedem Rechtsgefühl Hohn sprachen, für die Bevölkerung waren sie minder verderblich, als die unsinnige Zen- susordnung des Galerius. Denn während diese vor 10 allem auf dem armen Bauern lastete, trafen jene nur die Reichsten, die ein tüchtiges Schröpfen schon ver- tragen konnten. Lag doch ein großer Teil ihres Besitzes in entfernten Provinzen, wo er der Herr- schaft des Tyrannen entzogen war, so daß auch 15 durch die ärgsten Plünderungen desselben ihr Wohl- stand zwar geschmälert, aber nicht ganz vernichtet werden konnte. Die Beobachtung, daß das Aus- pressen der Senatoren sehr viel Geschrei, aber im Grunde doch wenig Schaden verursacht hatte, wird 20 später auch Constantin veranlaßt haben, für seine Geldnöte bei dem römischen Senat die nächste Hilfe zu suchen; doch tat er dies, wie sich bei ihm von selbst versteht, in gesetzlichen Formen.
Schon gleich nach der Eroberung Roms scheint 25 er für die Senatoren eine besondere Steuer eingeführt zu haben, die nach der Gründung Constantinopels auch auf den dortigen Senat ausgedehnt wurde. Man erhob sie in drei Stufen, in welche die Pflichtigen nach dem Umfang ihres Grundbesitzes eingeschätzt so wurden. Die niedrigste hatte alljährlich zwei Beutel Weißkupfergeld, die mittlere vier, die höchste acht zu zahlen. Wie hoch diese Sätze in unserem Geldo waren, läßt sieh für die Zeit Constantins nicht be-
6. Die neuen Steuern. 283
280 stimmen, weil der damalige Kurs der kleinen Münze unbekannt ist. Später hat man den höchsten Satz mit einem Pfunde Gold geglichen, wonach die Steuer in ihren drei Stufen 228, 457 und 913 Mark ent- 5 sprach. Dies war ein Zuschlag zur gewöhnlichen Annona, welche die Senatoren, wie alle Grundbesitzer, nach Capita zu entrichten hatten; aber da sie meist von allen Eeichsbürgern die größten Vermögen be- saßen, war er nicht ungerecht. Seine Wirkung wird
10 eine ähnliche gewesen sein, wie sie heutzutage durch die Progression der Einkommensteuer hervorgerufen wird. Allerdings war diese Auflage viel weniger rationell, da sie nur durch den senatorischen Stand, nicht durch den Besitz als solchen bestimmt wurde;
15 verarmte ein Senator, so konnte sie sehr drückend werden. Theodosius I. schuf daher einen niedrigeren Minimalsatz von sieben Solidi (= 89 Mark), während die drei alten Sätze für die höher Begüterten be- stehen blieben. Doch auch nach der Ordnung Con-
20 stantins konnte, wer überhaupt den senatorischen Zensus besaß, wohl seine 200 — 300 Mark über die Steuer hinaus bezahlen, die auch dem ärmsten Bauern auferlegt war.
Was die Staatskasse auf diese Art empfing, gs-
25 nügte in Verbindung mit den früheren Einnahme- quellen den gewöhnlichen Bedürfnissen. Doch alle fünf Jahie wollte das Heer sein Donativ haben, das zwar als freiwilliges Geschenk von beliebiger Höhe sein konnte und auch tatsächlich sehr verschieden
30 bemessen wurde, aber niemals so niedrig sein durfte, daß es den Unmut des Soldaten erregte. Bei seiner Thronbesteigung versprach Julian jedem Gemeinen fünf Solidi in Gold und ein Pfund Silber, was zu- sammen 127 Mark ausmacht; da jener Kaiser nichts
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\veniger als ein Verschwender war und auch den Sol- 281 dalen kurz genug hielt, darf jene Summe als niedriger Durchschnitt angesehen werden. Berechnen wir nun, daß das gesamte Heer des Reiches nach den Vermeh- rungen, die es durch Diocletian erfahren hatte, kaum 5 weniger als eine halbe Million Köpfe zählte, daß ferner die Offiziere und Principales viel reicher be- dacht wurden als der Gemeine, und daß außerdem auch Hofbeamte, Senatoren und andere Würdenträger sehr ansehnliche Goldgeschenke erhielten, so werden 10 wir die Ausgaben, die jene fünfjährigen Jubiläen jedesmal verursachten, auf mindestens 70 Millionen Mark schätzen dürfen. Allerdings brachten solche Feste auch außerordentliche Einnahmen mit sich. Die Gesandtschaft, welche die Gratulation des Se- 15 nats darbrachte, übergab zugleich ein Geschenk, das im Jahre 385 die Summe von 1600 Pfund Gold (= 1700 000 Mark) erreichte und auch vorher nicht viel niedriger gewesen sein wird. Die Ordines der einzelnen Städte übersandten goldene Kränze, die mit- 20 unter einen Metallwert von 25 000 Mark darstellten und natürlich gleich in die Münze wandern mußten. So reich aber diese Gaben auch waren und so schwer sie namentlich die armen Decurionen drückten, jene ungeheure Ausgabe vermochten sie doch nicht zu 25 decken.
Um dieser Not abzuhelfen, schuf Constantin schon 314, als für das nächste Jahr seine Decen- nalien bevorstanden, eine neue Steuer, die in Gold und Silber erhoben wurde und den Namen des 30 „fünfjährigen Beitrags" (Instralis collatio) erhielt. Er kam dabei auf den Gedanken des Galerius zurück, die städtische Bevölkerung stärker, als es durch die alten Tribute geschah, zu den Ausgaben des Pieiches
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282 heranzuziehn, gestaltete ihn aber in ganz eigentüm- licher Weise um. Der Zensus blieb auf das flache Land beschränkt und diente, wie Diocletian es ein- geführt hatte, nur für die Umlage der Annona. Was 5 die Bewohner der Städte betrifft, so verschonte man die großen Grundbesitzer unter ihnen mit neuen Lasten; denn einerseits wurde ihr ländliches Eigen- tum schon von der Indictio getroffen, anderseits ge- hörten die meisten zum Ordo und hatten daher als
10 Steuererheber zeitweilig die Ausfälle des geforderten Betrages zu ersetzen. Auch der Masse des städtischen Bettelvolkes, das von den öffentlichen Kornspenden oder der Gnade der E eichen lebte, konnte man keine Steuern abverlangen. So blieben nur die Handel-
15 treibenden übrig; denn dieser Begriff wurde in so weitem Sinne gefaßt, daß er alle einschloß, die überhaupt etwas verkauften. Auf diese Weise fielen nicht nur die Handwerker darunter, sondern selbst die Buhldirnen und Lustknaben, die ihren eigenen
20 Leib zu Markte trugen. Selbst der Landwirt wurde, falls er die Erträge seines Gutes selber in der Stadt feilbot, als Handeltreibender angesehn und mußte neben der Annona auch noch die lustralis collatio zahlen. Erst luHan hat die Kolonen der Senatoren
25 und Decurionen von dieser Pflicht befreit, und Valen- tinian I. dehnte dies auf die gesamte Landbevölke- rung aus, aber nur soweit sie ausschließlich ihre selbstgezogenen Produkte verkaufte. Die Höhe der Steuer bestimmte sich, wie es scheint, teils nach dem
30 Handelskapital, teils nach dem Umsatz, den der ein- zelne in seinem Geschäfte machte. Um sie richtig zu verteilen, mußte in jeder Stadt ein Verzeichnis der Pflichtigen geführt werden, in das die Decemprimi alle Handeltreibenden mit Angabe ihrer Leistungs-
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fähigkeit einzutragen hatten. Die Steuer hieß fünf- 283 jährig, weil dies dem Zeitrauni entsprach, der die einzelnen Jubiläen desselben Kaisers zu trennen pflegte; tatsächlich aber wiederholte sie sich in viel kijrzeren Zwischenräumen. Denn erstens wurde sie 5 auch bei jeder Thronbesteigung erhoben, die dann immer eine neue Eeihe begann; zweitens gab es mehr als einen Kaiser, und jeder feierte, wenn sie nicht zufällig an demselben Tage angetreten waren, wie die beiden ältesten Söhne Constantins, seine lo Jubiläen für sich; drittens endlich wurden mitunter auch Feste eingelegt, die eigentlich nicht in die Reihe gehörten. So beging Constantin der Große seine Vicennalien zuerst am Anfang seines zwanzigsten Eegierungsjahres in Nicomedia und wiederholte sie is dann am Ende desselben in Eom; und als Constan- tius IL zum erstenmal die Ewige Stadt betrat, da gab er diesem Besuch eine höhere Weihe, indem er die zwanzigjährige Wiederkehr des Tages feierte, an dem er durch den Tod seines Vaters selbständiger Herrscher 20 geworden war. Dies war durchaus ungewöhnlich, weil man derartige Jubiläen sonst immer nur an den Tag anknüpfte, an welchem man zuerst den Purpur genommen hatte; doch wer konnte den despotischen Gebieter hindern, seine Feste auch einmal so zu 25 feiern, wie sie eigentlich nicht fielen? Man konnte also jedes fünfte Jahr die Steuer mit Sicherheit er- warten, aber niemals wissen, ob sie nicht auch früher kam. Gerade diese Unregelmäßigkeit machte die lustralis collatio äußerst drückend. Bei der großen so Härte, mit der sie beigotrieben wurde, soll sie nicht selten dazu geführt haben, daß Eltern ihre Kinder in die Sklaverei verkauften oder ihre Töchter der Prostitution preisgaben, nur damit der Kaiser seine
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284 Feste feiere und die Soldaten ihr Geschenk nicht ent- behrten.
Doch so hart die Geldforderungen Constantins auch sein niochten, der eigentliche Krebsschaden des
5 Beiches, der seine Kräfte verzehrte und es langsam seiner Auflösung entgegentrieb, blieb doch jenes System von Naturalsteuern, wie Diocletian es ge- sehafEen hatte. Es zog bei den Beamten die Ge- wohnheit groß, sich alles, was ihnen für die Zwecke
10 des Staates nötig oder nützlich schien, einfach liefern zu lassen, und ließ bald den Gedanken, daß der Kaiser bei seinen Untertanen etwas für Geld kaufen solle, fast ungeheuerlich erscheinen. Schon Diocletian selbst hatte die Paläste und Hallen, an denen er
15 seine unermüdliche Baulust ergötzte, beinahe kosten- los ausgeführt, indem er sowohl das Material als auch die Arbeiter und Gespanne von den Gemeinden seines Reichsteils stellen ließ. Und war später eine Brücke zu bauen, eine Poststation in guten Stand zu
20 setzen, für die Soldaten Brot zu backen, eine kaiser- liche Viehherde an ihren Bestimmungsort zu treiben, kurz irgend eine Arbeit im öffentlichen Interesse zu tun, so legte sie der Statthalter beliebigen Einwoh- nern seiner Provinz unentgeltlich auf. Von alters her
25 war es der Stolz der römischen Krösusse gewesen, wenn sie fast nichts zu kaufen brauchten, sondern alle Bedürfnisse ihres Haushalts durch die Produktion ihrer eigenen Sklaven befriedigen konnten (I S. 314). Jetzt wollte der Kaiser nach dem Muster des Perser-
30 königs als Eigentümer des Reiches und seiner Bürger gelten (S. 7) und ließ diese seine Sklaven umsonst für sich arbeiten, damit auch er als der reichste Guts- besitzer nichts mehr kaufen müsse. Der Beamte er^ hielt sein Gehalt, der Soldat seine Gold- und Silber-
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geschenke, denn jenem wollte man wohl und dieser 285 war zu fürchten; sonst aber war bares Geld für die Verwaltung des Eeiches beinahe überflüssig geworden. Die Übel, welche der Zustand des Münzwesens ver- anlaßt hatte, drückten also fast nur die Untertanen; 5 soweit sie den Kaiser selbst berührten, war Diocletian ihnen höchst wirksam entgegengetreten, aber nur um schlimmere Übel damit heraufzubeschwören.
Zunächst waren diese Fronleistungen schon durch ihre Unregelmäßigkeit und die Willkür, mit der sie 10 umgelegt wurden, äußerst lästig. Die Güter der hohen Beamten wurden daher bald gesetzlich von ihnen befreit, und wer sonst Gunst und Ansehn besaß, den verschonte man auch ohne Gesetz. Desto öfter mußte der Arme und Ohnmächtige herhalten. Es 15 konnte vorkommen, daß man mitten in der Ernte- zeit den Bauern vom Felde holte, damit er an einem Straßenbau schaufele oder das Vieh des Kaisers hüte; oder man spannte ihm auch die Ochsen vom Pfluge, um sie ihm später mager und abgetrieben zurück- 20 zugeben. Und mußte der Untertan dem Staate fronen, so meinte der Beamte das gleiche auch für seine persönlichen Zwecke beanspruchen zu dürfen. Jeder Subalterne nahm von dem Bauern Sklavendienste in Anspruch, und daß man Gesetze dagegen erließ, wird 25 wenig geholfen haben.
Aber hätte man diese willkürlichen Bedrückungen auch vermeiden können, ein sehr schwerer Fron- dienst blieb mit dieser Art der Besteuerung untrenn- bar verbunden, der Transport der Naturalien an ihren 30 Bestimmungsort, der mitunter noch kostspieliger war, als die Steuer selbst. Denn um Bestechungen zu erpressen, forderten die Beamten nicht selten, daß die Lieferung an weit entfernten Orten oder zu un-
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286 gelegener Zeit geschehe. In der Regel aber wurden von denjenigen Landgütern, in deren Nähe sich Truppenlager befanden, Getreide, Heu und Wein un- mittelbar an die militärischen Verpflegungsbeamten 5 abgeführt ; von den übrigen Grundstücken war der Steuerbetrag in die Stadt zu schaffen, in deren Gebiet sie lagen. Hier nahmen ihn die Decurionen in Empfang, um mit einem Teil den Unterhalt der Soldaten und Zivilbeamten zu bestreiten, die sich in 10 der Provinz befanden; ein anderer Teil floß dem Praefecten des betreffenden Gebietes zu, der seine weitere Verwendung regelte. Die weiten Transporte, die für diese Zwecke nötig waren, wurden, soweit sie sich zu Lande bewegten, auf die Grundbesitzer um- 13 gelegt. Gelangte man an das Meer oder an große schiffbare Ströme, so mußten die Mitglieder der erb- lichen Schiffergilden sie weiter befördern, natürlich gleichfalls ohne Entgelt. Nur ausnahmsweise, nament- lich unter Julian, der sich des bedrückten Steuer- 20 Zahlers am tatkräftigsten annahm, wurde ihm die Transportlast durch das staatliche Fuhrwesen abge- nommen oder doch erleichtert. In der Regel wurden nicht Getreide und Wein, welche die Hauptmenge des Steuer er träges bildeten, sondern nur Güter von ge- 25 ringer Masse und hohem Wert, wie Gold, Silber und Kleiderstoffe, durch die kaiserliche Post befördert. Doch so wenig diese auch für den Nutzen des Reiches leistete, trug sie doch zum Ruin der Bevölke- rung fast noch mehr bei, als Annona und lustraUs ■M collatio. Weil es nicht, wie bei uns eine Wohlfahrts- einrichtung, sondern eine der schwersten Staatslasten war, müssen wir auch das römische Postwesen in diesem Zusammenhange besprechen.
Privatbriefe sind im Altertum nie anders als auf s II 19
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privatem Wege befördert worden. Trat jemand eine 287 Eeise an, so nahm er von Freunden und Bekannten Briefe an solche Personen mit, die entweder an seinem Bestimmungsort oder an den Stationen seiner Straße wohnt-en. Wer keinen fand, der ihm diese r. Gefälligkeit erweisen konnte, oder nicht die Zeit hatte, auf eine derartige Gelegenheit zu warten, mußte einen Sklaven mit seinem Brief auf Eeisen schicken oder für teures Gold einen Boten werben. Da diese immer zu Fuße wanderten, war die Korre- lo spondenz ebenso langsam wie kostspielig, und so ist es für den gemeinen Untertanen auch während der ganzen Kaiserzeit geblieben. Nur für sich selbst und seine hohen Beamten schuf der Herrscher einen schnelleren Nachrichtendienst. Schon Augustus grün- i5 dete an den großen Straßen, die Kom mit den Hauptorten der Provinzen verbanden, in kurzen Ab- ständen eine Eeihe von Botenstationen, an denen kräftige Fußgänger immer bereitstehn mußten. Diese trugen die Depeschen, die ihnen eingehändigt -lo wurden, bis zur nächsten Station, um sie dort einem neuen Boten zu übergeben, der sie wieder zur nächsten Station brachte, bis sie so, von Hand zu Hand gehend, endlich an ihre Adresse gelangten. Auch die Korrespondenz des Kaisers wurde also nur -25 zu Fuße befördert; doch daß man den Aufenthalt vermied, den bei gewöhnlichen Briefträgern Nacht- lager, Mahlzeiten und sonstige Erholungspausen her- vorrufen mußten, ließ sie damals schon erstaunlich schnell erscheinen. Wenn trotzdem noch Augustus so selbst eine Maultierpost an die Stelle der wechselnden Botenläufer setzte, so geschah dies nicht zum Zwecke der Beschleunigung, sonderii aus einem andern Grunde. Die Briefträger, die Privatleute einander zusandten,
6. Die neuen Steuern. 291
288 kamen selbst von dem Orte her, aus dem sie ihre Bot- schaften brachten, und konnten daher, wenn man sie ausfragte, den Inhalt derselben mündlich ergänzen. Auch der Kaiser wünschte mit Augenzeugen der Er- 5 eignisse, die ihm gemeldet wurden, persönlich zu reden, um etwas mehr über seine Provinzen erfragen zu können, als die Beamten ihm schrieben. Er beseitigte daher die Ablösung der Boten und erreichte eine Be- schleunigung ihrer Eeise dadurch, daß er ihnen Wagen 10 stellte und auf den Stationen immer frische Zugtiere zum Wechseln der Bespannung bereithalten ließ. So beförderte die kaiserliche Post nicht mehr unmittelbar Briefe, sondern Personen, die freilich in der Eegel Briefträger waren. Doch konnte sie natürlich auch 1.5 für die Reisen der Beamten und ihrer Angehörigen benutzt werden, was aber nur ausnahmsweise geschah. Denn wenn diese vornehmen Herren keine Eile hatten, schleppten sie ein so zahlreiches Personal an Sklaven, Freigelassenen und Untergebenen mit sich, 20 daß die wenigen Maultiere, welche die einzelne Station unterhielt, diesen Anforderungen nicht hätten genügen können.
Trotz dieser Einschränkung kostete i\.nkauf und Unterhalt der Zugtiere, die sich über ein so ausge- 25 dehntes Straßennetz verteilen mußten, viele Millionen. Man gelangte daher bald zu der Ansicht, daß der Vorteil, die Nachrichten aus der Provinz einige Tage früher zu empfangen, solcher Ausgaben nicht wert sei, und ließ auch die kaiserlichen Boten wieder zu 30 Fuße laufen. Nur wenn außergewöhnliche Eile Not tat, gestattete man ihnen, durch die Decurionen der Städte, die sie berührten, Fuhrwerk requirieren zu lassen; doch war dazu ein besonderer Erlaubnis- schein des Kaisers erforderlich- So waren die Kosten
292 ni. Die Verwaltung deä Reiches.
von der Staatskasse abgewälzt und in Fronleistungen 289 der Untertanen verwandelt, und gerade dies scheint dazu geführt zu haben, daß das öffentliche Fuhr- wesen an Ausdehnung gewann. Solange man auf ■ die geringe Zahl von Tieren angewiesen war, die der 5 Kaiser auf den Stationen unterhielt, konnten allenfalls die Beamten selbst, aber nicht ihr Gefolge befördert werden, und ohne die gewohnte Schar von Sklaven mußte der vornehme Römer auf so viele Bequem- lichkeiten verzichten, daß er von jener Gelegenheit 10 nicht ohne Not Gebrauch machte. Requiriertes Zug- vieh konnte man dagegen haben, soviel man wollte, wenn nur der Herrscher es erlaubte, und dieser öffnete sein Ohr meist leichter den Bitten seiner Umgebung, als den fernen Klagen der bedrückten 15 Untertanen. So wurden schon gegen die Mitte des ersten Jahrhunderts die Fronfuhren zu einer schweren Last, namentlich für Italien, wo Briefboten und reisende Beamte aus allen Provinzen zusammen- strömten. Hier wurden sie daher im Jahre 96, 20 jiachdem unter dem tyrannischen Regimente Domi- tians der Druck seinen Höhepunkt erreicht hatte, durch Nerva ganz aufgehoben. Doch nachdem man sich an einen schnelleren Nachrichtendienst gewöhnt hatte, erschien es bald unerträglich, daß selbst die 25 dringendsten Botschaften von der Alpengrenze an nur durch Fußgänger weitergetragen wurden, und schon Trajan stellte die Requisitionen wieder her. Hadrian, dessen treft'liche Finanzverwaltung eine Stei- gerung der Ausgaben gestattete, kam dann auf die so augusteische Einrichtung zurück und nahm damit die Last des Fuhrwesens nicht nur Italien, sondern auch den Provinzen ab. Wie es scheint, ordnete er die Post in der Weise, daß die Besorgung jeder
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290 Station einem Publikanen auf je fünf Jahre über- tragen wurde, der dann gegen eine Pauschsumme Beschaffung und Unterhalt der Zugtiere übernahm. Unter den späteren Kaisern tritt ein Schwanken ein;
5 bald sieht man sich durch Geldnot gezwungen, zu den Fronfuhren zurückzukehren, bald erleichtert man die Untertanen wieder nach dem Vorbilde Hadrians. Einen bleibenden Zustand hat erst Diocletian ge- schaffen, aber einen solchen, der für den Wohlstand
10 der Provinzen vernichtend war.
Allgegenwart des Kaisertums war das Ziel, auf das sein Streben sich vor allem richtete. Ihr mußte auch die Post dienen, insofern es nur durch sie erreichbar war, daß der Herrscher in möglichst kurzer
1.5 Zeit alles wußte, was im weiten Eeiche vorging. Ihre Wirksamkeit wurde daher beträchtlich ausgedehnt, ihre Schnelligkeit erhöht. Die Depeschen wurden nicht mehr im Maultierwagen bestellt, sondern durch Eeiter auf hurtigen Pferden, die sie an jeder Station
20 wechselten. Und wie einst Augustus sich nicht mit den Briefen seiner Statthalter begnügt hatte, sondern die Boten persönlich zu sehn verlangte, damit er sie über die Zustände der Provinzen, aus denen sie her- kamen, aushorchen könne, so wurden auch unter
25 Diocletian die Briefträger zu den Augen und Ohren des Kaisers. Von den Spionagediensten, welche diese Agentes in rebus leisteten, und von ihren Folgen für das Eeich haben wir ja schon an anderer Stelle gesprochen (S. 9i. 104). Doch auch die Herrscher
30 selbst reisten fortwährend im Eeich umher, und das mit zahlreichem Gefolge ; auch sie wollten schnell vor- wärts kommen und nicht immer mit denselben ab- getriebenen Tieren fahren. Durch die Einführung der reitenden Pferdepost wurden also die Maultiere auf
294 ni. Die Verwaltung des Reiches.
den Stationen nicht entbehrlich, sondern mußten eher 291 noch vermehrt werden. Und für das Gepäck und die Masse des Trosses, der beim Hoflager dauernd nicht zu entbehren war, aber nicht so geschwind zu reisen brauchte, bedurfte man der Esel und schwerer 5 Ochsenwagen, bei denen man das Zugvieh gleichfalls von Zeit zu Zeit wechseln wollte. Alles dies mußte angeschafft werden, und weil es einmal da war, be- nutzten es auch die Beamten mit ihren Familien und Untergebenen; ja selbst den Heereszügen wurden 10 Fuhrwerke der Ochsenpost beigegeben, bald nur für die Kranken und Maroden, bald auch für Frauen und Kinder der Soldaten. So steigerte sich der Gebrauch der Post wohl auf das Zehnfache und mit ihm natür- lich die Kosten, nur daß sie der Kaiser nach dem is neuen System der Naturalwirtschaft nicht mehr in Geld zu bezahlen brauchte.
Früher hatte man zwischen Staatspost und requi- riertem Fuhrwerk gewechselt; jetzt wurde ein ge- mischtes System beliebt, derart, daß auf den abge- 20 legeneren Nebenwegen Fronfuhren benutzt wurden, auf den großen Hauptstraßen, auf denen sich der Verkehr vom und zum Hoflager vorzugsweise bewegte, feste Stationen mit einer vorgeschriebenen Zahl von Zugtieren angelegt waren. Publikanen, welche deren 2.% Verwaltung übernommen hätten, ließen sich jetzt nicht mehr finden; doch wie man die Erhebung der Steuern von freiwilligen Staatspächtern auf ge- zwungene Decurionen übertragen hatte, so auch die Besorgung der Postämter. An ihre Tasche stellte m dieser Dienst freilich keine Anforderungen, sondern nur an ihre Mühwaltung; doch hatten sie auch kein anderes Einkommen davon, als das sie sich auf unred- licliem Wege verschafften. Und an Gelegenheit, sich
6. Die neuen Steuern. 295
292 bestechen zu lassen, fehlte es nicht ; denn natürlich mußten die Grundbesitzer sowohl die Tiere als auch ihr Eutter umsonst liefern, und bei der Annahme konnte man überstreng sein oder durch die Finger 5 sehn. So waren die Fronden, bei denen man sein Vieh doch nur zeitweilig hergeben mußte, zu der milderen Form der Bedrückung geworden, und wollte man eine Provinz entlasten, so hob man, im Gegensatze zu der früheren Zeit, in ihr die Staatspost auf. Um ihr
10 Material zu schonen, hielt man noch immer an dem Grundsatze fest, daß sie nicht ohne einen Erlaubnis- schein benutzt werden dürfe, den nur der Kaiser, seine Praefecten und der Magister officiorum als Vorge- setzter der Agentes in rebus ausstellen konnte; doch
15 scheint diese Bestimmung sehr häiifig übertreten zu sein. Denn trotz der strengsten Befehle wagten die armen Decurionen, die den Stationen vorstanden, es kaum, einem einflußreichen Manne, der Fuhrwerk von ihnen verlangte, nein zu sagen. Und wie man
20 öffentliches Gut immer zu verschleudern pflegte, so wurden auch die Zugtiere schlecht gefüttert, abge- trieben, ja mitunter sogar zu Tode gehetzt. Die Eegie- rung selbst nahm an, daß kein Tier bei der Behand- lung, die es auf der Post erfuhr, länger als vier Jahre
25 brauchbar sein könne, und verordnete daher, daß all- jährlich der vierte Teil erneuert werden solle. Aber oft reichte dies nicht aus, um die Lücken, die im Laufe des Jahres in dem vorgeschriebenen Bestände ein- traten, wieder auszufüllen, und dann mußten die
30 Grundbesitzer eben mehr stellen. Dabei ist zu er- wägen, daß wohl Eindvieh und Esel, aber nicht Pferde und Maultiere regelmäßig auf den Gütern vorhanden waren, da man die beiden letzteren nicht zur ländlichen Arbeit verwendete, sondern nur als Luxustiere hielt.
29 G ni. Die Verwaltung des Reiches.
Viele miiJoten sie also erst kaufen, wenn sie der Post 298 ihre Steuer zu entrichten hatten. So gab der Land- niann nicht nur Naturalien, sondern auch bares Geld her, damit die Eegierung das ihre sparen könne. Und die jälirlich wiederkehrenden Opfer an Eseln und 5 Ochsen verminderten immer mehr das ländliche Inven- tar und brachten so dem Ackerbau, der schon ohne- hin daniederlag, empfindlichen Schaden. Auf diese Weise wurde die Post zur ärgsten Landplage. Ihr Be- trieb ist daher, wie die Kräfte der Steuerzahler allmäh- 10 lieh abnahmen und dieser Last immer weniger ge- wachsen waren, nach und nach zusammengeschrumpft und im Laufe des sechsten Jahrhunderts fast ganz beseitigt worden.
Mit dieser Aufzählung sind die Forderungen, die is Diocletian und seine Nachfolger an ihre ermatteten Untertanen stellten, noch lange nicht erschöpft. Jene ungeheure Vermehrung des Heeres und der Beamten- schaft wäre, mit dieser Plötzlichkeit durchgeführt, selbst für ein reiclies Land kaum zu bestreiten ge- 20 wesen ; nachdem in langen Bürgerkriegen das Eeich verarmt und verödet war, überspannte sie seine finan- zielle Leistungsfähigkeit in einer Weise, die notwendig seinen wirtschaftlichen Ruin herbeiführen mußte. Der Kaiser forderte eben, was er für seine Zwecke zu 20 brauchen meinte; wie die Steuerzahler es herbei- schafften, war ihre Sache. Und je nachdem die Be- dürfnisse wechselten, konnte der Betrag der Leistungen in einem Grade schwanken, der für den sorgsamen Hausvater jede MögHchkeit, den Bedarf für die 30 kommenden Jahre vorauszuberechnen und danach seinen Verbrauch einzurichten, gänzlich vernichtete. Änderte sich doch in Gallien innerhalb weniger Jahre die Summe der Steuern, die auf dem einzelnen
6. Die neuen Steuern. 297
294 Caput lasteten, im Verhältnis von 25 : 7. Das Geld, das später die Statthalter als Ablösung ihrer Natural- bezüge von ihren Provinzialen erhoben, vermehrte sich im Laufe der Zeit gar im Verhältnis von
5 13:120. Als im Jahre 330 Constantinopel ein- geweiht wurde, steigerten die Summen, welche diese Feier im Verein mit der Ausschmückung der neuen Stadt kostete, im orientalischen Reichsteil die Lasten so hoch, daß sie den Wert des Bodens, auf dem sie
10 ruhten, teilweise überstiegen. Das bezeugt eine Klage- schrift, die uns aus dieser Zeit erhalten ist. Eine Ägypterin hat ein Grundstück an eine andere nur dafür verkauft, daß diese ihr den Steuerbetrag des laufenden Jahres, soweit sie ihn schon erlegt hat,
15 zurückerstatte und natürlich den Rest, sowie die Lasten künftiger Jahre ihrerseits trage. Die Käuferin aber will diesen Vertrag, so günstig er aussieht, später nicht erfüllen und läßt sich daraufhin ver- klagen. Offenbar hatte sie bei genauerer Prüfung sich
20 überzeugt, daß das Land seine Jahressteuer kaum wert war. Wenn schon die Grundbesitzer so gedrückt waren, wie mußten erst die Pächter leiden, die neben der Steuer für ihr eigenes Caput und die Häupter ihrer Familie und ihres lebenden Inventars noch ihre
25 Pacht zu erlegen hatten !
Natürlich entzog man sich diesem Druck, soweit man irgend konnte.. Wer dem Kaiser persönlich nahestand, suchte sich Privilegien zu erwirken, die ihn ganz oder teilweise von den Staatslasten befreiten.
30 Wer die Macht besaß, um den Decurionen Furcht ein- zujagen, bezahlte einfach nicht, wenn sie die Steuern einsammeln kamen. Der arme Bauer verschrieb sein Gütchen einem dieser Mächtigen, damit er ihn vor den Steuererhebern schütze, und bebaute sein
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früheres Eigentum nur noch als Pächter des Eeichen. 295 Etwas besser fuhr er, wenn Soldaten bei ihm in Einquartierung lagen, obgleich sie sonst durchaus keine bequemen Gäste waren ; denn sie fanden sich schon für ein billiges bereit, die Decurionen mit 5 offener Gewalt abzuwehren. Diese aber mußten die vorgeschriebenen Summen beschaffen und hielten sich daher an den Bauern schadlos, die keine solche Protektion hatten finden können. Die notwendige Folge dieses Steuersystems war, daß schon unter lo Diocletian die Flucht des Landvolks nach den Städten eine furchtbare Ausdehnung gewann. Und da man ilir, wie später noch dargestellt werden soll, durch Gesetze entgegentrat, flohen sie in die Berge und wurden Eäuber, oder sie schlössen sich auch den Bar- 15 baren an, als diese sich schon in größeren Scharen im Kelche niedergelassen hatten. So blieben die Äcker unbebaut, und weite Strecken fruchtbaren Landes wurden zur Wüste.
Nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge hätte 20 dies zur Folge haben müssen, daß bei jedem neuen Zensus so und so viel Capita weniger in die Listen eingetragen wurden; man wäre also gezwungen ge- wesen, entweder auf jedes der übrigbleibenden den Steuersatz noch weiter zu erhöhen oder die Staats- 25 ausgaben beträchtlich herabzusetzen. In seiner treuen Fürsorge für die gequälten Untertanen hat Kaiser lulian das letztere getan, mußte aber zu diesem Zwecke ein ganzes Heer von Beamten wegjagen, und begreiflicherweise entschlossen andere Herrscher sich so dazu nicht leicht. Vielmehr war die Regel, daß die Zahl derjenigen, die Staatsgehalte empfingen, immer höher anwuchs. Denn je ärger der Privatmann ge- schunden wurde, desto mehr drängte jeder danach,
6. Die neuen Steuern. 299
296 zu einem Ämtchen zu gelangen, das ihn aus dem I'nterdrückten zum Unterdrücker machte, und diesem gewaltigen Andrang zu widerstehen, dazu gehörte größere Charakterstärke, als die meisten Kaiser be-
5 saßen. Schon an anderer Stelle (S. 61) haben wir gesehen, wie die Zahl der Provinzen immer zunahm, und wenn ein Günstling den Herrscher bat, irgend ein Officium um einen Kopf zu verstärken, damit einer seiner Schützlinge darin Platz finden könne,
10 wurde ein Gesuch, das so bescheiden klang, nicht leicht zurückgewiesen. Aber solche Bitten kamen immer wieder, und die Ziffern der Officia wuchsen weit über das Bedürfnis und noch weiter über die Steuerkraft des Eeiches hinaus. Man mußte den
15 Satz, der auf das einzelne Caput entfiel, bis ins Un- erschwingliche erhöhen; doch um nicht selbst über die Last zu erschrecken, die sie dem Untertanen auf- bürdeten, fanden die Kaiser bald ein Mittelchen, das sie glücklich über die Zahl der vorhandenen Capita
20 betrog und ihnen so die Steuer für jedes derselben kleiner erscheinen ließ.
Schon Aurelian hatte verfügt, daß Grundstücke, die ihre früheren Herren im Stiche gelassen hätten, unter die Decurionen der betreffenden Stadt verteilt
■25 Averden sollten, damit diese nach dreijähriger Steuer- freiheit ihre Lasten trügen. Dies war gegen den früheren Zustand eine Erleichterung gewesen. Denn was von der einmal festgesetzten Steuersumme der Gemeinde nicht einlief, hatten ja die Decurionen,
30 wenn sie Decemprimi wurden, ohnehin aus ihrem eigenen Vermögen ergänzen müssen, ohne daß sie da- durch Eigentümer der versagenden Güter geworden waren. Durch die Neuerungen Diocletians nahm aber die Zahl der verlassenen Grundstücke so sehr zu und
300 ni. Die Verwaltung des Reiches.
die Hoffnung, aus ihnen noch den Betrag der Steuer 297 herauszuwirtschaften, wurde so aussichtslos, daß man die Übernahme der ganzen Masse den Decurionen allein nicht mehr zumuten konnte. Constantin ver- dammte daher auch die übrigen Grundherren dazu, .5 mit wüstliegenden Ländereien ihres Stadtgebietes wider ihren Willen beschenkt zu werden. Die dreijährige Steuerfreiheit für solchen erzwungenen Besitz blieb damals noch bestehen, scheint aber in den Finanz- nöten der späteren Zeit auch noch abgeschafft zu sein. 10 So wurde denn den Inspektoren die Aufgabe, nicht nur wertlos gewordenes Land von den Zensuslisten zu streichen, sondern, wo möglich, Gutsbesitzer aus- findig zu machen, die leistungsfähig genug waren, um neben ihrem alten Steuerbetrage auch noch für so 15 und so viel Capita unbrauchbaren fremden Bodens zu bezahlen. Natürlich wagte man sich mit diesen Zuschlägen nicht an reiche Magnaten heran, die sie wirklich hätten vertragen können, sondern man ruinierte die wenigen Leute des Mittelstandes, die noch 20 nicht auf andere Weise ruiniert waren. Diocletian liatte den Zensus neu eingerichtet, um seine Natural- steuern gerechter verteilen zu können ; soweit er aber diese Absicht erreicht hatte, wurde sie durch die An- rechnung jener wüsten Capita wieder vernichtet. Denn 25 sie waren ja nichts als Scheinwerte, deren Weiterfüh- rung in den Listen die tatsächlich vorhandene Steuer- kraft nur verhüllte. Der Kaiser hatte die Freude, daß die Zahl der Einheiten, nach denen man seine Forde- rungen umlegte, auf dem Papier nicht gar zu sehr ab- so nahm, und die Inspektoren den Vorteil, daß die ganz willkürlicheBelastung,die so in ihreHand gegeben war, ihnen Gelegenheit bot, vornehmen Herren einen.Gef allen zu erweisen und sich von reichen bestechen zu lassen.
6. Die neuen Steuern. 301
298 Es versteht sich von selbst, daß solche Steuern nur mit der furchtbarsten Grausamkeit beizutreiben waren. Man begnügte sich nicht damit, das Vermögen des säumigen Schuldners zu konfiszieren; wenn es
5 die Forderungen des Staates nicht deckte, unterwarf man auch seinen Leib den ausgesuchtesten Foltern, um Wertstücke, die er möglicherweise versteckt haben konnte, so zu entdecken oder auch einen mitleidigen Freund zu veranlassen, daß er für ihn bezahle. Valen-
10 tinian I. ging soweit, daß er Pflichtige, aus deren barem Elend nichts herauszupressen war, einfach hin- richten ließ. Dem Gesetze nach sollten die Decurionen von körperlichen Züchtigungen befreit sein; doch wo es sich um Steuerfragen handelte, nahm man auf dies
15 Standesprivileg selten Eücksicht; wurde doch von sehr frommen Kaisern selbst das Asylrecht der Kirchen aufgehoben, wo es Steuerschuldner zu drangsalieren galt. Wir sahen schon, wie einzelne Statthalter die Decurionen, welche ihre Verpflichtungen nicht bis
20 auf den letzten Heller erfüllten, zu Tode peitschen oder auch im Kerker halb verhungern ließen (S. 180). So mancher suchte vor solchen Quälereien im Selbst- morde "Rettung, und wer irgend konnte, entzog sich dem Ordo. Wie die Pächter von ihren Feldern flohen,
25 so die Decurionen aus ihren Städten. Während ertrag- reiches angebautes Land als Wüste liegen blieb, fanden Einöden, die kaum noch Menschen ernähren konnten, neue Bewohner, nur weil sie von Steuern frei waren. Die fressende Beamtenschaft wuchs von Jahr zu Jahr
30 an, aber derjenigen, die sie erhalten sollten, wurden immer weniger.
Xur Sparsamkeit und Milde. konnten den Verfall aufhalten; die Kaiser Jener Zeit aber waren gewohnt, jeder Krankheit des Staates mit Gewaltmitteln zu
302 III. Die Verwaltung des Reiches.
Leibe zu gehn. Da Bürger und Bauern, deren Steuern das Eeich erhielten, sich ihrer nützlichen Tätigkeit entzogen, griff man wieder zur plumpen Gesetzgebungsmaschine, um sie durch Zwang an ilire 299 Pflichten zu fesseln. So bildete sich jene erbliche :> Bindung an den Stand, die der Gesellschaft des sinkenden Eömertums ihr Gepräge gab. Ihr Zweck war im eigentlichsten Sinne konservativ; denn sie wollte ja die Bevölkerung möglichst in dem Zustande erhalten, in dem sie sich damals befand. Und doch lo bedeutete sie eine grauenvolle Revolution, die alles dem Staate dienstbar machen wollte, aber indem sie das Volk zur Verzweiflung trieb, endlich auch den Staat selbst vernichtete.
Siebentes Kapitel.
Die Erblichkeit der Stände.
390 Als das Weltreich sich bildete, war die Rechts- stellung derjenigen, welche ihm angehörten, je nach- dem sie römische Bürger, Latiner und sonstige Bun- desgenossen oder Untertanen waren, eine sehr ver-
5 schiedene gewesen ; aber diese Abstufungen des höheren und geringeren Rechtes gliederten die Bevölkerung mehr geographisch als ständisch. Denn jene Vorteile oder Nachteile trafen die Staaten, die in den Macht- kreis Roms eintraten, in ihrer Gesamtheit: jeder Syra-
10 kusaner, mochte er Bürgermeister oder Lastträger sein, galt als Untertan, jeder Messanenser als Bundes- genosse. In Rom selbst waren, seit der Kampf der Patrizier und Plebejer sein Ende gefunden hatte, alle Bürger, an deren Abkunft und Lebensführu'ng kein
15 Makel klebte, zu allen Ämtern wählbar und auch in jeder anderen Beziehung vor dem Gesetze gleich. Und indem die Hauptstadt dafür sorgte, daß die Verfassungen der abhängigen Staaten der ihrigen ähnlich wurden (S. 147), verbreitete sie auch diesen
20 demokratischen Grundsatz über die ganze römische Welt. Seit dem Beginne der Kaiserzeit schwinden auch jene geographischen Rechtsunterschiede oder schrumpfen zu bedeutungslosen Überlebseln ein, und
304 III. Die Verwaltung des Reiches.
im Jahre 212 werden alle freien Bewohner des Eeiches 301 zu römischen Bürgern. Aber während noch jene Ausgleichung sich vollzieht, bereitet sich langsam eine neue ständische Gliederung vor, die im vierten Jahrhundert zum Abschluß kommt. Das Eeich be- ö ginnt als eine Verbindung rechtsungleicher Staaten, deren Bürger untereinander rechtsgleich sind; es endet als einheitliches Herrschaftsgebiet, in dem die ein- zelnen Schichten der Bevölkerung durch unübersteig- liche Schranken gesondert werden. lo
Allerdings war auch im republikanischen Eom die Gleichheit der Bürger nur gesetzlich, nicht tat- sächlich anerkannt gewesen. Dem Eechte nach war jeder zu den Ämtern wählbar; aber nur wer einer senatorischen Familie angehörte, besaß die einfiuß- is reichen Verbindungen, welche die Wahlen zu ent- scheiden pflegten. Wie selten es einem „neuen Menschen" gelang, in diese geschlossenen Kreise ein- zudringen, ist allbekannt. Und eine ganz ähnliche Aristokratie, wie der römische Senat es war, be- 20 herrschte auch die abhängigen Staaten. Denn auch hier waren ohne Zweifel die meisten Eatsherrn ver- wandt oder verschwägert, und solange die städtischen Ämter noch Wert hatten, bemühte sich jeder Decurione darum, daß der Sohn eines Kollegen gewählt wurde, 25 der Fremde durchfiel. So gab es wohl in allen Städten des Eeiches einen erblichen Amtsadel, obgleich in den Gesetzen nichts davon zu lesen stand; aber diese Ab- geschlossenheit hatte damals einen ganz anderen Sinn als in der letzten Kaiserzeit. Ursprünglich ließen 30 Senat und Ordo nicht leicht einen zu, der nicht mit ihren Mitgliedern in Familienverbindung stand; später öffneten sie, wie Dantes Hölle, ihre Tore weit für jeden Eintretenden, aber wer einmal darin war,
7. Die Erblichkeit der Stände. 305
302 wurde mit seiner ganzen Nachkommenschaft nicht wieder herausgelassen. Solange jene Erblichkeit nur tatsächlich bestand, war sie eine freiwillige, um deren Aufrechterhaltung sich alle Genossen eifrig bemühten ; 5 seit sie gesetzlich geworden war, empfand man sie bald als harten Zwang.
Am wenigsten gilt dies noch vom römischen Senat, dem anzugehören zwar auch so manchem lästig wurde, aber doch zu allen Zeiten ein hohe Ehre blieb.
10 Der große Caesar scheint den Plan gehegt zu haben, aus ihm eine Notabelnver Sammlung zu machen, die, aus freier Wahl des Herrschers hervorgegangen, die hervorragendsten Männer aller Provinzen umfaßte. Doch in Eom war man so gewohnt, nur die altein-
15 gesessenen Familien als ebenbürtig zu betrachten, daß diejenigen, welche „die gallischen Hosen ausgezogen hatten, um das Hemd mit dem breiten Purpurstreif anzulegen", mit bitterem Hohn empfangen wurden. Augustus wollte aus dem Senat ein Gegengewicht zur
20 Übermacht des Kaisertums schaffen ; für diesen Zweck aber mußte er auch der öffentlichen Meinung als eine Körperschaft von zweifelloser Vornehmheit gelten. Soweit es anging, sollte er daher aus den alten Familien zusammengesetzt und für die Zukunft Sorge
25 getragen werden, daß seine Mitglieder auch ihrer
Abstammung nach die Ersten des Reiches waren.
.Doch seit es jedem klar geworden war, daß man nicht
mehr in Senat und Volksversammlung, sondern nur
noch im kaiserlichen Kabinett wirkliche Politik
30 machte, war eine Stellung, die große Kosten auf- erlegte und doch nicht mehr, wie früher, Macht ver- lieh, für viele nicht mehr lockend. Und außerdem hatte sie sich in den Bürgerkriegen als eine höchst gefährliche Ehre erwiesen; wüteten doch die Pro- s II 20
306 III. Die Verwaltung des Reiches.
skriptionen nur unter denen, die aus der Masse her- 308 vorragten. Und seit die Alleinherrschaft hergestellt war, hatten diejenigen, welche dem Kaiser an Würde zunächst standen, auch am meisten von seinem Miß- trauen zu fürchten. Da nun jene Massenmorde stets 5 gerade die Mutigsten weggerafft hatten, regte sich in dem feigen Überrest nur zu oft der Wunsch, alle Gefahren einer zu hohen Stellung zu vermeiden, indem man in der namenlosen Menge untertauchte. Hatte man in den Zeiten der Republik um die Staatsämter, 10 durch welche man in den Senat gelangte, jedes Jahr in heißen Wahlkämpfen gestritten, so fehlte es schon unter Augustus nicht selten an Bewerbern, obgleich er die gesetzliche Altersgrenze für ihre Bekleidung beträchtlich herabsetzte. Freilich mußte er dafür 15 eine andere Vorbedingung stellen, die früher noch unbekannt gewesen war.
Von alters her galt Broterwerb durch Handel oder Gewerbe für den Senator als unanständig; doch war dies kein Hindernis gewesen, daß auch ganz 20 vermögenslose Leute sich um die Ämter bewarben, ob- gleich sie an den Geldbeutel sehr hohe Anforderungen stellten. Man machte eben Schulden und rechnete darauf, sie aus den Taschen der Untertanen zu be- zahlen und noch sehr viel mehr, als man zu einem 25 ■standesgemäßen Leben brauchte, übrig zu behalten. Seit der Begründung der Monarchie wurden aber die Statthalter unter schärfere Aufsicht gestellt und die Beraubung der Provinzen, wenn auch nicht unter- drückt, so doch wesentlich eingeschränkt. Wer Ämter 30 bekleiden wollte, mußte also jetzt das Vermögen dazu besitzen, nicht nur den Kredit, daß er es künftig zusammenscharren werde. Augustus verfügte daher, daß keiner ferner Senator sein könne, der nicht
7. Die Erblichkeit der Stände. 307
S04 einen Besitz im Werte von mindestens einer Million Sesterzen (= 220 000 Mk.) nachweisen könne; doch milderte er die Härte dieser Bestimmung, indem er verarmten Männern von adeliger Geburt, die ihm
5 dessen würdig schienen, so viel schenkte, wie ihnen zu der erforderlichen Summe fehlte. Aber bei den Söhnen von Senatoren, die ein genügendes Vermögen besaßen und sich doch den Ämtern entziehen wollten, griff er zu sanfter Nötigung. Denn eines zwingenden
10 Gesetzes wird es wohl kaum bedurft haben, weil der entschiedene Wunsch des Kaisers für den servilen Adel jener Zeit schon Zwang genug war. Hatten früher fast nur hochgeborene Jünglinge zu den Ämtern gelangen können, so m u ß t e jetzt jeder hoch-
15 geborene Jüngling, der keine triftige Entschuldigung vorzubringen hatte, sich darum bewerben, damit dem Senat sein vornehmer Charakter gewahrt bleibe. Im ersten Jahrhundert kamen noch Ausnahmen vor, aber da sie meist den Unwillen des Kaisers erregten, ver-
20 schwanden sie nach und nach, und was sich so zur allgemeinen Sitte entwickelt hatte, war zur Zeit Dio- cletians schon Gewohnheitsrecht geworden.
Dieser erbliche Nachwuchs genügte freilich nicht, um den Senat vollzählig zu erhalten. Das hätte schon
25 der Kindermangel verhindert, der in den höchsten Ständen ja am meisten verbreitet war, von den zahl- losen Bluturteilen der Kaiser ganz zu geschweigen. Der Herrscher machte daher auch Jünglinge von geringerer Herkunft zu Quaestoren, wodurch sie in
30 die niedrigste Eangstufe der Senatoren eintraten und dann ihren neuen Stand auf ihre Söhne vererbten. Eeife Männer teilte man meist den höheren Klassen derer zu, die schon die Aedilität oder gar die Praetur bekleidet hatten, was ihnen die tatsächliche Führung
308 III. Die Verwaltung des Reiches.
dieser Ämter und derjenigen, die nach der gesetzlichen 30& Eeihenfolge niedriger standen, ersparte {adlecti inter aediUcios, inter praetorios). So waren die „neuen Menschen'' im Senat viel zahlreicher, als sie in repu- blikanischer Zeit gewesen waren, und bald werden die 5 Mitglieder der alten Familien in der Minderheit ge- blieben sein; doch wurde dadurch die Vornehmheit der Körperschaft kaum gemindert. Denn wer in sie eintrat, hatte immer vorher der Eitterschaft angehört, die als zweite Stufe des römischen Adels in hohem \o Ansehn stand und, seit die Kaiser eine Reihe der wichtigsten Ämter mit Rittern zu besetzen pflegten, an politischer Macht dem Senat nichts nachgab.
Ursprünglich hatte man diejenigen Ritter genannt, die berechtigt waren, ihre Militärpflicht innerhalb des is Bürgerheeres zu Rosse zu erfüllen. Ihre Anzahl war, da die Masse der Reiterei von den Bundesgenossen gestellt wurde, während des größten Teiles der repu- blikanischen Zeit auf 1800 Köpfe beschränkt; zu dieser auserwählten Truppe zu gehören, konnte daher 20 als seltener Vorzug gelten. Wenn die Censoren die vakant gewordenen Stellen ausfüllten, wählten sie da- zu immer die Vornehmsten der ganzen Bürgerschaft. Die Senatoren besaßen daher regelmäßig das Ritter- pferd, bis ein Gesetz im Jahre 129 v. Chr. bestimmte, 2S daß, wer in den Senat eintrat, darauf verzichten müsse. Seitdem gehörten nur noch ihre Söhne, ehe sie zu einem Amt gelangten, den 18 Centurien an, und neben ihnen standen die reichsten und angesehensten Bürger, die es außerhalb des herrschenden Standes gab. 3»
Anfangs hatte man von den Rittern noch ver- langt, daß sie zum Reiterdienst im Felde tauglich seien; wer durch Alter oder Krankheit diese Eigen- schaft verlor, mußte sein Pferd abgeben. Da sie aber
7. Die Erblichkeit der Stände. 309
306 mehr als Stand, denn als Truppenteil in Betracht kamen, hatte schon die Eepublik zeitweilig auf diese Forderung verzichtet, und in der Kaiserzeit fiel sie gänzlich weg. War man einmal Eitter geworden, so
5 blieb man es lebenslänglich, falls man nicht in den Senat übertrat. Doch konnte man auch wegen ehren- rührigen Verhaltens oder wegen Verarmung aus der Körperschaft ausgestoßen werden; denn der Eitter mußte nicht nur von fleckenlosem Eufe sein, sondern
10 auch ein Vermögen besitzen, das ihm ohne niedere Arbeit standesgemäß zu leben erlaubte ; das gesetzliche Minimum betrag 400000 Sesterzen (= 90 000 Mk.). Auch sollten seine Vorfahren bis ins dritte Glied frei- geborene Männer sein, ein Erfordernis, von dem man
15 übrigens mitunter absah. Doch geschah dies nur bei Freigelassenen des Kaiserhauses, die bei ihrem Herrn in besonderer Gunst standen, so daß auch die aus dem Sklavenstande hervorgegangenen Eitter Leute von politischer Wirksamkeit und großer Macht zu sein
20 pflegten. Wer in die Liste des zweiten Standes ein- getragen oder daraus gestrichen werden solle, darüber entschied allein der Kaiser. An die Ziffer 1800 band er sich nicht mehr; doch wenn er die Eitterschaft auch auf einige Tausend vermehrte, blieb ihre Zahl
25 im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung des großen Eeiches doch klein genug, um den Besitz des goldenen Einges, der ihr Abzeichen bildete, als höchst seltene Ehre erscheinen zu lassen. Sie wurde nur persönlich verliehen, blieb aber den Söhnen von Eittern nicht
30 leicht versagt, falls nicht ihr Vermögen unter die vorgeschriebene Summe herabgesunken war. So zeigte auch dieser kaiserliche Briefadel eine Tendenz zur Erblichkeit, doch ist sie niemals, wie bei dem Senat, rechtlich bindend geworden.
310 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Der Grund liegt darin, daß der Goldring nur 307 Eechte verlieh, keine Pflichten auflegte, welche die erbliche Fesselung der Eitter an ihren Stand für die Zwecke der Kaiser hätten förderlich erscheinen lassen. Von der Aushebung für den gemeinen Reiterdienst & waren sie schon durch Augustus befreit worden ; selbst die Stellung eines Unteroffiziers schien jetzt unter ihrer Würde, so daß diejenigen, welche Centurionen werden wollten, vorher auf ihren Ritterrang verzichten mußten, um ihn erst als Primipilen zurückzuerhalten (S. 20). i» Dagegen wurden die niederen Offizierstellen aus- schließlich mit Rittern besetzt und ebenso alle Staats- ämter, die nicht den Senatoren vorbehalten waren. Doch niemals wurde deren Bekleidung eine erzwungene und brauchte es nicht zu sein, weil sie beträchtliche 15 Einkünfte brachten und es daher nicht leicht an Kandidaten fehlte. Ja ihrer wurden mehr, als den Rittern lieb war, seit durch Diocletian auch die aus- gedienten Officialen das Recht erhielten, sich um solche Ämter zu bewerben; und wer von diesen am Hofe 20 tätig gewesen war, hatte durch seine persönliche Be- kanntschaft mit dem Kaiser selbst oder dessen höchsten Ratgebern die besten Aussichten, bevorzugt zu werden. Hatten sich die Ritter aus dem Militärdienst selbst zurückgezogen (S. 27), so wurden sie aus dem zivilen 25 allmählich verdrängt. Auf diese Weise verloren sie für das Reich jede Bedeutung; nur in der großen Anti- quitätensammlung der Hauptstadt wurden sie noch bis gegen das Ende des vierten Jahrhunderts konserviert, um einmal jährlich in feierlicher Parade über den 30 Markt aufs Capitol zu ziehen, womit ihre öffentliche Tätigkeit erschöpft war. Später ist auch diese Zere- monie verschwunden, wahrscheinlich weil die Kaiser es nicht mehr der Mühe wert fanden, die Ritterliste
7. Die Erblichkeit der Stände. 311
308 stetig zu ergänzen, sondern die kümmerlichen Eeste des zweiten Standes langsam aussterben ließen. Wer einen Rang besitzt, der unmittelbar auf den senato- rischen folgt, wird zwar noch im sechsten Jahrhundert
5 römischer Eitter genannt, doch bezeichnet diese Be- nennung nur noch eine Stufe in der Skala der Ämter und Würden, nicht mehr einen Stand des Eeiches.
Viel zäher hat sich der Stand der Senatoren be- hauptet, weil er nicht nur Würde, sondern auch Bürde
10 war. Die Forderung des hauptstädtischen Pöbels, durch kostbare Spiele unterhalten zu werden, schien durch ihr Altertum so geheiligt, daß selbst der Eadi- kalismus Diocletians und seiner Nachfolger sie nicht zu versagen wagte. Die Pflicht zu ihrer Befriedigung
15 war es, die nicht nur dem römischen Senat seine Exi- stenzberechtigung erhielt, sondern auch dazu führte, daß ein zweiter nach seinem Vorbilde in Constantinopel geschaffen wurde. Wer Sohn eines Senators war, mußte je nach der Höhe seiner Einschätzung entweder nur
20 die Quaestur bekleiden oder auch Praetur und Con- sulat. Da die administrativen und richterlichen Be- fugnisse dieser Ämter bis auf ein paar leere Forma- litäten verschwunden waren, durfte man sich schon als Kind dieser Verpflichtungen entledigen; bis zu
25 einem bestimmten Lebensalter aber mußten sie erfüllt sein. Die Leistungen, die damit aufgelegt wurden, waren rein pekuniäre; man mußte eben Spiele geben oder das Geld, das sie gekostet hätten, auf ein Bau- werk oder sonst einen öffentlichen Zweck verwenden,
30 den oft der Kaiser bestimmte. Vornehme Herren von großem Vermögen waren auch jetzt noch eitel genug, mit jenen Volkslustbarkeiten tollen Prunk zu treiben; bei einzelnen steigerten sich die Ausgaben für eine Praetur bis auf 40 Zentner Gold, das sind mehr als
313 ni. Die Verwaltung des Reiches.
31/2 Million Mark. Die Mehrzahl aber empfand diese 309 erzwungene Freigiebigkeit als Last, entzog sich ihr nach Möglichkeit oder suchte daran zu sparen. Auch für die Leistungen der Senatoren, wie schon früher für die der Decurionen, wurden daher Minimalgrenzen 5 gesetzlich festgestellt. In Constantinopel betrugen sie für die Praetur je nach der Steuerstufe, in die der Pflichtige eingeschätzt war, ungefähr 2400, 3200 oder 4000 Mk., also eine sehr beträchtliche Summe. Suchte man sich den Spielen zu entziehen, indem man sich 10 von der Hauptstadt fernhielt, so wurden sie auf öffent- liche Kosten ausgerichtet und das Geld dann von dem Flüchtling auf dem Wege der Exekution eingetrieben; außerdem hatte er nach einem Gesetze Constantins noch als Strafzahlung 50 000 Scheffel Weizen für die 15 Ernährung der Stadt zu spenden, was eine Ausgabe von etwa 50 000 Mk. darstellte. Kechnet man diesen hohen Anforderungen noch die ansehnliche Steuer hin- zu, die jeder Senator außer der gewöhnlichen Annona bezahlen mußte (S. 282), so wird man begreifen, daß 20 der Kaiser allen Grund hatte, den Eeichsadel, soweit es ging, auf seiner Kopfzahl zu erhalten.
Die Erblichkeit des Standes, die für diesen Zweck mit aller Strenge durchgeführt wurde, hatte man früher in der Art zur Geltung gebracht, daß der 25 Kaiser jeden Senatorensohn, der körperlich und geistig zur Bekleidung von Ämtern geeignet war, erst zum Quaestor, dann zum Praetor und endlich zum Consuln ernannte und ihm die Pflichten seiner Stellung zu- diktierte. Aber da jener nicht mehr in Eom wohnte, 30 verlor er bald den Überblick über Personal und Lei- stungsfähigkeit der einzelnen senatorischen Familien, weshalb Constantin im Jahre 336 jene Wahlen dem Senat übertrug. Nur die Bestimmung derjenigen
7. Die Erblichkeit der Stände. 313
310 Consuln, die am 1. Januar antraten, behielt sich auch ferner der Kaiser vor; denn dem Jahre den Xamen zu geben und bei jeder Datierung, die in seinen Zeitraum fiel, noch nach Jahrhunderten genannt zu
5 werden, erschien der Eitelkeit als ein so hoher Vorzug, daß der Herrscher auf seine Verleihung nicht ver- zichten mochte. Dagegen hörten Quaestor, Praetur und dasjenige Consulat, das erst im Laufe des Jahres übernommen und nicht für die Datierung benutzt
10 wurde, jetzt völlig auf, für Ehren zu gelten. Ließen sie sich doch nicht mehr als Gunstbezeigungen des höchsten Herrn der Erde auffassen; die Senats wähl aber erteilte keine Würde, sondern bezweckte nur, die Last der Spiele so umzulegen, wie sie am wenigsten
15 drückend war.
Auch jetzt hätten allein die Söhne der Senatoren die Lücken nicht ausfüllen können, die alljährlich der Tod in die Reihen der hohen Körj^erschaft riß. Aber indem die Eitterschaft aufhörte, die „Pflanzschule des
20 Senats" zu bilden, entstand in der Hofdienerschaft eine neue, die an Fruchtbarkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Denn wer in den vornehmeren Officia seine Zeit ausgedient hatte, trat damit in den höchsten Stand des Reiches ein. Er selbst wurde zwar meist
25 von dessen Lasten befreit, obgleich auch dies nicht zu allen Zeiten geschah; doch nach dem Rechte der Erbhchkeit mußten seine Kinder sie tragen, falls nicht auch sie zu einem Hofdienst gelangten. So ist der Senat wohl eher angewachsen, als in seiner ZifEer
30 zurückgegangen, und durch die Verteilung auf eine größere Zahl blieben seine Lasten erträglich.
Auch die weitere Ausdehnung des Erbzwanges knüpfte zunächst an die Bedürfnisse der Hauptstadt an. Für deren Ernährung zu sorgen, hatte die Reichs-
314 ni. Die Verwaltung des Keiches.
regierung stets als eine ihrer Hauptaufgaben betrach- 311 tet. Die beiden Gewerbe, die vorzugsweise diesem Zwecke dienten, die Kornschiffer und Bäcker, waren daher von alters her zu Gilden zusammengeschlossen und mit mannigfachen Privilegien ausgestattet worden, 5 um möglichst viele zum Ergreifen dieser Berufe anzu- locken. Eine gewisse Tendenz zur Erblichkeit wird auch ihnen von jeher eigen gewesen sein. Denn da das Kapital der Schiffer größtenteils in ihren Fahr- zeugen, das der Bäcker in ihren Werkstätten und 10 Arbeitersklaven angelegt war, konnten ihre Kinder, wenn sie ihr Vermögen erbten, es nicht leicht gewinn- bringender verwenden, als indem sie ihr Geschäft fortsetzten. Um ihre Innungen zu ergänzen, dürfte daher kein Zwang nötig gewesen sein, bis Diocletian 15 die Schiffer zum unentgeltlichen Transport der fis- kalischen Güter verpflichtete und mit ihrem ganzen Besitz für deren richtige Ablieferung haftbar machte. Bei der großen Ausdehnung, die diese Leistung durch die Naturalsteuern gewann, muß sie bald ebenso kost- 20 spielig wie lästig geworden sein, und dazu kam, daß seit der Usurpation des Maxentius die Ausübung der Schiffahrt auch noch gefährlich wurde. Denn die Be- herrscher der anderen Eeichsteile betrachteten damals Italien als feindliches Land, und wer von dorther 25 an ihren Küsten landete, kam leicht in den Verdacht der Spionage und war dann der Folter, wenn nicht gar der Hinrichtung ausgesetzt. So wurden diejenigen, welche sich zur Fortsetzung der Seefahrten ent- schlossen, immer seltener, und da zugleich wiederholte 30 Hungersnöte in Rom wüteten (I S. 95), mußte der Tyrann auf Abhilfe sinnen. Er zwang eine Anzahl Senatoren, das Schiffergewei'be zu ergreifen, und er- ließ wahrscheinlich zugleich ein Gesetz, daß keiner
7. Die Erblichkeit der Stände. 315
312 es bei Lebzeiten niederlegen dürfe und nach dem Tode seine Söhne das Geschäft übernehinen müßten. Da bei den Tumulten, die der Hunger hervorrief, sich die Volkswut natürhch zunächst gegen die Bäcker
5 wandte, war auch deren Beruf jetzt von schweren Gefahren bedroht. Auch sie versuchten, sich davon zurückzuziehn, und dies gab, wie es scheint, den An- laß, daß Maxentius sie in derselben Weise, wie die Schiffer, erblich an ihre Innung fesselte. Es war der
10 erste Schritt auf einem höchst gefährlichen Wege. Bei den Senatoren war die Erblichkeit nur durch den milden Druck des kaiserlichen Wunsches begünstigt, nicht durch Zwangsgebote eingeführt worden; hier dagegen griff die plumpe Faust der Gesetzgebung
15 ein, um einen Stand, der dem Eeiche nützlich war, unvermindert zu erhalten. Die anderen Verfügungen des Tyrannen wurden mit seinem Sturze hinfällig; diese aber lag so sehr im Geiste der ganzen Zeit, daß Constantin sie nicht nur aufrecht erhielt, sondern
20 nach ihrem Beispiel auch gegen andere Stände ver- fuhr, deren Bedeutung für das Staatswohl noch größer war.
In erster Linie kam hier der Decurionat in Be- tracht. Die meisten unterwarfen sich ihm schon seit
25 mehr als einem Jahrhundert nur mit Seufzen; trotz- dem scheint bis auf Diocletian herab die Besetzung der vakanten Stellen nicht ohne Druck, aber doch ohne besondere Schwierigkeit möglich gewesen zu sein. Wir "sahen schon (S. 187), daß, wenn keine frei-
30 willigen Bewerber um die städtischen Ämter sich finden wollten, die Duovirn berechtigt waren, „geeig- nete" Persönlichkeiten zu ihrer Übernahme und damit zum Eintritt in den Ordo zu zwingen. So konnte jeder Bewohner des Stadtgebietes, der das nötige
316 III. Die Verwaltung des Reiches.
Vermögen besaß, dazu veranlaßt werden, von den kom- 313 munalen Lasten seinen angemessenen Teil zu über- nehmen, ja den Gemeindebürger durfte man sogar heranziehen, wenn er in einer fremden Stadt seinen Wohnsitz hatte (S. 189). Da die Duovirn jene No- 5 minationen nach einem Mehrheitsbeschlüsse des Kates vorzunehmen pflegten (S. 192), wird man die De- curionensöhne vielleicht seltener belastet haben, als andere Pflichtige. Denn wie die Väter der Stadt, solange die Aufnahme in ihren Kreis eine hoch- lo geschätzte Ehre war, ihre Verwandten nach Kräften begünstigten, so werden sie es auch später getan haben, nur in verändertem Sinne. Auch schien es nicht ungerecht, daß dasselbe Familienvermögen, namentlich wenn es von mäßigem Umfange war, nicht i5 zwei Generationen nacheinander herhalten mußte, sondern einige Zeit gewann, um sich durch sparsame Wirtschaft von den früheren Ausgaben zu erholen. Bis zu einem gewissen Grade erkannte dies auch die Gesetzgebung an, indem sie verfügte, daß kein Haus- 20 söhn bei Lebzeiten des Vaters ohne dessen Einwil- ligung ein Stadtamt bekleiden oder Decurio werden könne. So blieb die städtische Verwaltung zwar eine höchst unbequeme Last, aber von allen wohlhabenden Einwohnern in angemessenem Wechsel getragen, wurde 25 sie doch nicht erdrückend, ehe die neue Steuerord- nung Diocletians Anforderungen an sie stellte, denen die Kraft der Bürger nicht gewachsen war.
Noch unter seiner Regierung traten die Folgen hervor. Mochten auch schon vorher sich viele dem so Decurionat zu entziehen suchen, eine gewisse Vor- nehmheit hatte er doch noch immer bewahrt. Zwar hatte man längst darauf verzichtet, die Freigelassenen vom Ordo auszuschließen; da nicht wenige von ihnen
7. Die Erblichkeit der Stände. 317
814 zu den reichsten Leuten der Stadt gehörten (I S. 303), konnte man ihrer Vermögensleistungen auf die Dauer nicht entbehren. Aber wenn auch der Makel des Em- porkömmlings stets an ihnen haften blieb, so waren 5 sie doch nicht selten Männer von feiner Bildung und angesehener Stellung in der Gesellschaft. Dagegen mußte Diocletian schon verfügen, daß Analphabeten und solche, die ein schmut:?iges Handwerk betrieben oder durch schimpfliche Vergehen die Ehrenrechte
10 verwirkt hatten, zum Decurionat heranzuziehen seien. Die Bestimmung, daß Haussöhne nur mit dem Willen ihres Vaters in den Ordo gewählt werden könnten, hob er auf und beseitigte fast jeden Entschuldigungs- grund, der früher noch anerkannt war, zum Teil
15 selbst den von Alter und Krankheit. Deutlich tritt es hervor, daß die Schwierigkeit, Männer in der Stadt- bevölkerung zu finden, die den Lasten des Decurionats noch gewachsen waren, durch seine Indiktionen drohend zugenommen hatte.
20 Aber während Diocletian einige Löcher verschloß,
durch die man dem Decurionat hätte entwischen können, hatten sich zahlreiche andere aufgetan, und er selbst trug nicht am wenigstens zu ihrer Vermeh- rung bei. Die Senatoren waren den munizipalen
25 Pflichten natürlich entzogen; denn selbst wenn sie aus einer Kleinstadt herstammten und dort auch ihren regelmäßigen Wohnsitz hatten, galten sie doch als Bürger Roms und brauchten daher nur für die Be- dürfnisse der Haupstadt Opfer zu bringen. Indem
30 also der Senat sich durch den Zustrom der zahlreichen neuen Beamten vermehrte, wurden gerade die Fami- lien, welche nach ihrem Vermögen die leistungsfähig- sten waren, dem Dienst ihrer Heimatstädte entzogen. Der Ritter war an sich zum Decurionat wählbar; hatte
318 ni. Die Verwaltung des Reiches.
ihm aber der Kaiser ein Amt verlieben, mit dem der 315 Titel vir egregius oder ein böberer verknüpft war, so durfte er abiebnen. Zudem batte die Sitte, Kang und Privilegien eines Amtes auch solchen zu gewähren, die es nicht wirklich bekleideten, sich seit dem Anfang 5 der Kaiserzeit langsam eingebürgert und endlich eine ungeheure Verbreitung gewonnen. Wer in der Um- gebung der allerhöchsten Personen Verbindungen be- saß oder einflußreichen Hofbeamten ausreichende „Geschenke" bieten konnte, verschaffte sich leicht lo irgend ein Titelchen, das ihn vor dem Decurionat schützte. Und von der Masse der Officialen, mit denen Diocletian das Reich beglückt hatte, stiegen auch die- jenigen, welche es nicht bis zum Senator brachten, doch meist zu Stellungen emj^or, die sie dem Zwange 15 des Ordo entzogen. Solange die städtischen Ämter noch Ehre brachten, hatten die Veteranen in der Ge- meindeverwaltung eine sehr hervorragende Eolle ge- spielt (S. 17. 20); später erwirkten sie auch für sich und ihre Söhne Befreiung vom Decurionat; denn was 20 durfte man der allmächtigen Soldateska versagen? Die Vermehrung des Heeres minderte also gleichfalls die Zahl derjenigen, denen man die kommunalen Lasten noch aufbürden konnte. Bedenkt man dazu die schreckliche Verarmung des Mittelstandes, die 25 der allgemeine wirtschaftliche Verfall hervorgerufen lind die verkehrte Steuerpolitik Diocletians noch ge- steigert hatte, so ist es leicht verständlich, daß die „geeigneten" Persönlichkeiten für den Ordo immer seltener wurden. 30
Die übrigbleibenden wurden desto ärger geschröpf t und suchten natürlich um so eifriger, auch ihrerseits die Phige loszuwerden. Wer Protektion besaß oder die Mittel hatte, die Fürsprache eines Hofbeamten zu
7. Die Erblichkeit der Stände. 319
S16 erkaufen, verschaffte sieh ein Eeichsamt oder wenig- stens den Titel desselben; wer dazu nicht imstande war, bemühte sich, eine Stellung unter den Officialen zu erlangen, deren stete Vermehrung immer neuen Be- 5 Werbern Aussichten bot; wurde man auch hier nicht angenommen, so ging man unter die Soldaten, nicht selten mit der stillen Hoffnung, durch Geld und gute Worte sich eine schnelle Entlassung zu erwirken und dann in der Heimatstadt die Privilegien des Veteranen
10 ruhig zu genießen. Für das vergrößerte Heer und die anwachsende Beamtenschaft brauchte der Kaiser zu viel Menschenmaterial, um jeden zurückweisen zu können, der vielleicht zum Decurionen brauchbar ge- wesen wäre; jeden zuzulassen, war aber noch weniger
15 möglich, da sonst die ganze Verwaltung der Städte und, was noch wichtiger schien, die Steuererhebung in kurzem aufgehört hätte. So entschloß sich denn Constantin zu dem Auskunftsmittel, die Ordines nach dem Muster der Bäcker- und Schiffergilden dadurch
20 auf ihrer 3ahl zu erhalten, daß immer wieder der Sohn in die Stelle des Vaters einrückte. Wenn in Eom der Stadtrat aus erblichen Mitgliedern bestand, warum nicht auch in den andern Gemeinden? Doch zum höchsten Adel des Eeiches zu gehören, blieb
23 immer ein Vorzug, den man sich gefallen lassen konnte, obgleich er mit manchen Opfern verbunden war; da- gegen drückte der Erbzwang immer schwerer, je tiefer die Schichten lagen, auf die man ihn ausdehnte.
Schon Ende 316 hatte Constantin verfügt, daß
30 ritterliche Titularwürden keinen von den Pflichten des Decurionats befreien sollten. Waren sie einem Manne verliehen, der nach Stellung und Vermögen in den Ordo gewählt werden konnte, so sollten sie erst Gültigkeit erlangen, nachdem er alle Ämter und
320 III- Die Verwaltung des Reiches.
Leistungen seiner Stadt ordnungsmäßig durchgemacht 317 hatte. Einige Monate später wiederholte Licinius das- selbe Gresetz in erweiterter Gestalt auch für seinen Eeichsteil, so daß es im ganzen römischen Macht- gebiet Geltung erlangte. Doch war damit nur einer 5 der vielen Wege, auf denen man den städtischen Lasten zu entgehen strebte, verschlossen worden. Wirk- licher Staatsdienst, mochte er im Heer oder in zivilen Ämtern geleistet werden, befreite nach wie vor; auch wurden die Decurionensöhne nicht schlechter gestellt, 10 als alle andern, die man zum Ordo heranzuziehen pflegte. Daß leere Titel, die meist nicht durch Ver- dienste erworben, sondern für bares Geld gekauft waren, die Verwaltung der Städte nicht schädigen dürften, war eine gerechte und notwendige Bestim- 15 mung; doch offenbar genügte sie nicht, um das Zu- sammenschmelzen der Ordines zu verhindern. Als Constantiu die Alleinherrschaft gewonnen und damit seine Gesetze für das ganze Keich Geltung erlangt hatten, erließ er daher am 7. Oktober 325 eine neue 20 Verfügung, die den Erbzwang für die Decurionen in aller seiner Strenge begründete, und vervollständigte sie am 24. November 326 durch ein Eundschreiben an die Praef ecten, das noch einige Ausführungsbestim- mungen und Verschärfungen hinzufügte. 25
Wer als Nachkomme eines Decurionen geboren war, sollte weder durch einen Beschluß seines Ordo noch selbst durch kaiserliches Eeskript die Erlaubnis bekommen können, die Leistungen seiner Stadt abzu- lehnen oder auch nur in eine andere Gemeinde über- so zusiedeln. Tat er das letztere dennoch, so sollte er beiden Städten zu der gleichen Fronde verpflichtet sein. Kein ziviles Amt, kein Militärdienst durfte ihm offenstehn, und zwar erhielt diese Bestimmung rück-
7. Die Erblichkeit der Stände. 321
318 wirkende Kraft. Denn auch wer früher zugelassen war, mußte seinem Ordo zurückgegeben werden, fall.'; er nicht mindestens zwanzig Dienstjahre hinter sich hatte oder bis zum Primipilaris emporgestiegen war. ö Selbst die ausdrückliche Erlaubnis des Kaisers, die von vielen, ehe sie in den Dienst getreten waren, nach- gesucht und ihnen bewilligt war, wurde jetzt für null und nichtig erklärt. Alles dies wurde auch auf solche ausgedehnt, die ohne von Decurionen abzustammen,
10 sich der vorausgegangenen Nomination des Ordo durch irgend einen Staatsdienst hatten entziehen wollen. Nur seine lieben Hofofficialen und diejenigen, welche schon Senatoren geworden waren, wollte Constantin nicht beunruhigt sehen. Dauernd befreit wurden die
15 Erbpächter kaiserlicher Ländereien, da ihr Besitz, der für die Erlegung der Pachtsumme haftete, nicht zu sehr belastet werden durfte. Den Söhnen von Vete- ranen sollten ihre Privilegien erhalten bleiben, wenn sie bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr auch
20 ihrerseits in das Heer eintraten: anderenfalls waren auch sie dem Ordo verfallen. In dem Rundschreiben, das dieses Gesetz nach Jahresfrist ergänzte, wurden ihm auch die Hofämter unterworfen und hinzugefügt, daß diejenigen, welche Comites, ritterliche Statthalter
25 oder höhere Finanzbeamte gewesen waren, wenn sie von Decurionen abstammten, zwar selbst befreit bleiben, aber ihre Söhne den Lasten des Ordo unterliegen sollten. Auch die Bestimmung, daß zwanzigjähriger Dienst die Rückforderung des Pflichtigen hindere, wurde auf-
.io gehoben; nur einzelne besonders angesehene Gruppen von Officialen, wie die Agentes in rebus, sollten durch ein gewisses Dienstalter, das je nach ihrer Schätzung auf zehn, fünfzehn, zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre fixiert wurde, auch ferner geschützt sein. Sil 21
322 in. Die Verwaltung des Reiches.
In jenem Gesetz hatte der Kaiser die Hoffnung S19 ausgesprochen, daß die Ordines dadurch zu neuer Blüte gelangen würden. Die Verschärfung desselben, zu der er sich schon nach vierzehn Monaten gezwungen sah, verrät nur zu deutlich, daß er dies sehr bald 5 als Täuschung erkennen mußte. Und von dieser Zeit an erneuern sich fast alljährlich die Gesetze, welche der Verödung der Curien abhelfen sollen; immer härter werden die Zwangsmaßregeln und liefern eben dadurch den Beweis, daß sie die gewünschte Wirkung 10 nicht erzielt haben.
Da nur durch Verteilung auf eine größere Zahl die Lasten des Standes erleichtert werden konnten, suchten zunächst die Decurionen auf Grund des neuen Gesetzes möglichst viele in den Ordo hineinzuzwingen. 15 Wer nominiert war, durfte sich ihm, auch wenn er nicht durch Geburt ihm angehörte, nicht mehr durch den Staatsdienst entziehen. Sie wählten daher die Söhne von Officialen, die in ihrer Stadt wohnten, schon mit sieben oder acht Jahren zu künftigen 20 Ämtern, damit sie nicht, wenn sie das angemessene Alter erreichten, in irgend eine öffentliche Stellung eintreten könnten. Dies mußte Constantin durch ein Gesetz vom Jahre 331 verbieten und fügte ihm zu- gleich die Bestimmung hinzu, daß, wer von einem 25 Subalternen abstamme, das Eecht besitze, in dasselbe Officium aufgenommen zu werden, in dem sein Vater diente oder gedient hatte. So waren im Anschluß an den Decurionat auch noch zwei andere Stände dem Erbzwange verfallen, die Soldaten imd die Officialen. so Denn wollten ihre Söhne sich nicht dem angestammten Dienste widmen, so unterwarf man sie ohne Gnade dem Decurionat, was damals schon als schwere Strafe galt.
7. Die Erblichkeit der Stände. 323
380 Unterdessen war der Druck der Steuern durch die Geldgier des Licinius furchtbar gesteigert und durch dieVerschwendungConstantins nicht gemildert worden. Die Colonen, die für sich selbst, ihre Familie und
5 ihren Besitz an Sklaven und Vieh die Kopfsteuer trugen und zugleich von ihren Grundherren um so strenger gemahnt wurden, je schwerer auch auf diesen die Forderungen des Kaisers lasteten, hatten wieder in Massen ihre Pachtungen aufgegeben. Einige hatten
10 mildere Gutsbesitzer zu finden gesucht; die Mehrzahl wird in die Städte gegangen sein, weil deren Bewohner keiner Annona unterlagen, und dort das Proletariat vermehrt haben. Als nun der Zensus des Jahres 332 herannahte, petitionierten wohl wieder zahlreiche
15 Städte, daß ihnen ein Peraequator oder Inspektor ge- schickt werde, um sich durch den Augenschein zu überzeugen, wie große Teile ihres Landes, die in den früheren Schatzungslisten noch als steuerbar einge- tragen waren, durch Mangel an Bebauung zur Wüste
20 geworden seien und was man demgemäß an ihrer Summe von Capita abstreichen müsse. Die Staats- kasse, die schon früher den Ausgaben Constantins niemals hatte genügen können, vermochte es nicht zu ertragen, daß mit jedem Lustrum ihre Einkünfte
25 spärlicher wurden. Doch daß die Colonen verschwun- den, die Äcker unbebaut waren, ließ sich nicht leugnen. Die Einbuße wieder auf die Decurionen abzuwälzen, dazu mochte sich der Kaiser um so weniger ent- schließen, je strenger er sie an ihre Standespflichten
30 gebunden hatte. So verfiel er darauf, ihnen dadurch zu helfen, daß er die Zahl der Colonen auf die gleiche Weise, wie er es mit ihrer eigenen Zahl versucht hatte, zu einer stabilen machte.
Innerhalb der einzelnen Stadtgebiete wurden die
324 HT. Die Verwaltung des Reiches.
Steuern nach Grundstücken umgelegt. Jeder Land- 821 arbeiter, ob Sklave, Colone oder Bauer, stellte ein Caput dar und war dem Gute zur Last geschrieben, auf dem er zur Zeit der Schätzung tätig war. Ent- fernte er sich von ihm, sei es auch nur, um einem .> andern Herrn zu dienen oder eine neue Pachtung an- zutreten, so stimmten die Zensuslisten nicht mehr, und den Steuererhebern wurde ihr Geschäft, das ohne- hin nicht leicht war, noch mehr erschwert. Schon als er den Zensus des Jahres 327 vorbereitete, hatte Con- lo stantin verfügt, daß Sklaven, die zum Ackerbau ver- wendet wurden, nur innerhalb derselben Provinz ver- kauft werden dürften. Kamen sie so in ein fremdes Stadtgebiet, so blieben sie den Decurionen desjenigen, auf dem sie sich früher befunden hatten, doch wenig- i.> stens durch Vermittlung ihres Statthalters erreichbar, so daß die Eintreibung ihrer Steuer von ihrem neuen Besitzer nicht ausgeschlossen war. Freilich wurde sie auf diese Weise recht weitläufig und schwierig. Viel bequemer war es jedenfalls, wenn alle hübsch artig 20 an dem Orte blieben, bei dem sie einmal angeschrieben waren. Gestattete man den Decurionen nicht, aus ihrer Heimat wegzuziehen, warum sollte man nicht Sklaven und Pächter, die doch viel gemeineres Volk waren, an ihren Gutsbezirk fesseln? War man doch 25 in jener Zeit längst davon zurückgekommen, mit den Untertanen viel Umstände zn machen oder gar ihren freien Willen zu achten.
Am 30. Oktober 332, als der neue Zensus eben im Gange war, wurde jenes unheilvolle Gesetz erlassen, 30 das sich die unlösbare Aufgabe stellte, den Landgütern des Eeiches für alle Ewigkeit den Steuerwert zu er- halten, den sie damals noch besaßen. Die Sklaven, welche dem Ackerbau dienten, sollten nicht mehr.
7. Die Erblichkeit der Stände. 325
322 gleich den städtischen, freies Eigentum sein, sondern mit dem Grundstück, dem sie in den Schatzungslisten zugeschrieben wurden, untrennbar verbunden bleiben. Ihr Herr durfte sie weder verkaufen, noch ihnen die
-1 Freiheit schenken, noch sie zu persönlichen Diensten an einen anderen Ort berufen. Selbst wenn das Gut unbebaut blieb, hat er später nicht über die noch vor- handenen Ackersklaven verfügen können, sondern sie fielen dann dem Kaiser anheim. xYuch daß irgend ein
10 anderer sie als sein Eigentum reklamierte oder vor Gericht den Beweis antrat, daß sie freie Männer seien. wurde durch prozessualische Bestimmungen erschwert. Und wie der ländliche Sklave, so sollte auch der freie Pächter mit Kind und Kindeskind an die Scholle ge-
15 fesselt sein. Nicht in dem Sinne, daß er immer den gleichen Acker bewirtschaften sollte: der Grundherj- konnte ihn beliebig aus einem Teil seines Gutes auf den andern versetzen, wenn er dabei die Pacht - bedingungen nicht verschlechterte; nur in dem
20 Kapitel der Zensusliste, in dem der Colone verzeich- net war, sollte er ewig bleiben. Auf einem fremden Grundstück sich eine neue Pachtung zu suchen, war ihm untersagt: wer ihn bei sich aufnahm, sollte ihn nicht nur dem früheren Gutsherrn zurückgeben müssen,
25 sondern aXich für den Zeitraum, wo er den Flüchtling bei sich gehabt hatte, dessen Steuer bezahlen. Noch weniger war es natürlich erlaubt, daß der Kleinpächtei' sich ganz dem Landbau entziehe; selbst zum Heer- dienst durfte er sich nicht freiwillig stellen, sondern
30 konnte nur, wenn der Kaiser eine Rekrutierung aus- schrieb, durch den Grundbesitzer gestellt werden (S. 45). Dieser durfte ihn, auch wenn er nur flucht- verdächtig war, in Fesseln legen und so gleich einem gefährlichen Sklaven den Acker bearbeiten lassen. Fast
326 ni. Die Verwaltung des Reiches.
klang es wie Hohn, wenn das Gesetz doch noch die S2S Fiktion aufrecht erhielt, daß er bei allem dem ein freier Mann bleibe. Allen diesen Eechten gegenüber wurde dem Gutsherrn nur die Pflicht aufgelegt, auch in den Pachtbedingungen nichts ohne die Einwilligung des & Colonen zu verändern; doch diese war leicht zu er- langen, wenn man solche Gewaltmittel besaß.
Diese erzwungene Erbpacht war im Eömerreiehe damals kein unbekanntes Eechtsverhältnis; schon nach dem großen Marcomannenkriege hatte Marcus Au- i» relius sie eingeführt (I S. 380). Aber seine Inquilinen waren gefangene Barbaren gewesen, die, nach Kriegs- recht der Sklaverei verfallen, in jener Form der Hörigkeit nur eine Milderung ihres Loses erblicken konnten. Constantin dagegen verdammte römische i& Bürger, die bisher mit ihren Grundherren in freiem Vertragsverhältnis gestanden hatten, zu Hunderttau- senden in halbe Sklaverei. Und das nicht um irgend einer Verschuldung willen, sondern nur weil einige von ihnen, wie es ihr gutes Eecht war, den Vertrag gelöst 20 hatten und andere Miene machten, ein Gleiches zu tun. Es war eine Handlung brutalster Tyrannei, wie sie in diesem Umfang noch nie im Eeiche verübt worden war; aber, was das merkwürdigste ist, damals hat keiner daran Anstoß genommen außer natürlich 23. den armen Colonen, deren Klagen .,in leere Luft ver- haucht" sind. Wer die Feder führte und sein Urteil auch der Nachwelt kundzugeben vermochte, fand gar nichts Auffälliges an jener schrecklichen Gewalttat. Nur aus den Gesetzen des Kaisers kennen wir sie; die so Geschichtschreiber, auch die Vertreter des Heiden- tums, die Constantin sonst jeden Makel anzuheften suchen, fanden sie so natürlich, daß keiner von ihnen ein Wort darüber verloren hat. So schnell hatte sich
' 7. Die Erblichkeit der Stände. 327
324 jene Theorie des persischen Staatsrechts (S. 7) einge- bürgert, daß die Untertanen Eigentum des Herrschers seien und er über sie verfügen könne, wie es ihm beliebe! Als erst Aurelian, dann Diocletian mit ihren 5 Münzgesetzen den Besitz der Reichsbürger antasteten, hatten noch Aufstände ihnen geantwortet; doch blutig waren sie niedergeschlagen, und im Verlauf zweier Menschenalter hatte man sich so an jede Art der Ver- gewaltigung gewöhnt, daß das Volk selbst die Ver-
10 urteilung zu ewiger Hörigkeit in stumpfem Schweigen über sich ergehen ließ. Wenn nur die barbarischen Soldaten sich in Zaum halten ließen ! Von der übrigen Bevölkerung hatte der Herrscher keine Regung des Ungehorsams mehr zu fürchten.
15 So sind die späteren Kaiser dem Beispiel des
Maxentius und Constantin noch weiter gefolgt. Dieser hatte die Colonen nur dort an die Scholle gefesselt, wo man von ihnen Kopfsteuern erhob; in Afrika, Ägyp- ten und Palästina war nur der Boden selbst der Ein-
20 Schätzung unterworfen (S. 269. 271), weshalb hier das alte Verhältnis des freien Vertrages für die Klein- pächter noch erhalten blieb. Seine Nachfolger dehnten den hörigen Colonat über das ganze Reich aus, nicht weil die Bedürfnisse der Steuererhebung dies gefordert
25 hätten, sondern nur der schönen Gleichförmigkeit zu- liebe, die immer das Ergötzen schlechter Regierungs- künstler gewesen ist, daneben wohl auch, um den Großgrundbesitzern einen Gefallen zu tun. Auch blieb es nicht dabei, daß Senatoren, Decurionen,
30 Soldaten, Officialen, Schiffer, Bäcker und Colonen zu erblichen Ständen geworden waren ; im Laufe der Zeit wurde fast jedes Gewerbe, dessen Erhaltung man als wertvoll für den Staat erkannte, in dieselben Fesseln eingezwängt. So gab es in jeder Stadt eine ganze
328 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Anzahl von Zwaugskorporationen, über deren Mit- ^ glieder die Decemprimi Buch zu führen hatten; sie mußten bei harter Strafe darüber wachen, daß keiner sich seinen Verpflichtungen entzog und immer wieder der Sohn in die Stelle des Vaters eintrat. An manche 5 Stände, namentlich den Decurionat und den Colonat, wurde man auch durch die mütterliche Abstammung gebunden; nur ergaben sich hieraus Schwierigkeiten, wenn ein Paar sich vereinigte, dessen Familien ver- schiedenen Körperschaften „dienstbar" (ohtioxius) 10 waren, wie der technische Ausdruck lautete. Den Konflikt der Pflichten, der daraus für die Nach- kommen entstand, beseitigte die Gesetzgebung in sehr komplizierter und höchst mannigfaltiger Weise; aber ein Grundsatz wurde immer dabei festgehalten: man 15 begünstigte denjenigen Stand, der am meisten zu- sammenzuschwinden drohte, weil er seine Angehörigen am härtesten quälte. So wurde jede Mischehe, wenn man das Wort in diesem Sinne gestatten will, zum Unheil für die Nachkommenschaft. Heiratete ein 20 Colone die Tochter eines Schicksalsgenossen, der einem fremden Grundstück zugeschrieben war, so setzte er sich im fünften Jahrhundert sogar der Gefahr aus, daß seine Kinder unter die beiden Gutsherren verteilt wurden. Auf diese Weise war der Untertan auch 2.5 in der Wahl seiner Lebensgefährtin aufs peinlichste beschränkt. Was aber halfen die Gesetze gegen Ehe- losigkeit und Kindermangel, wenn man bei jeder Heirat ängstlich darauf bedacht sein mußte, daß man nicht alle künftigen Generationen seine.'; Geschlechts 30 in unentrinnbares Unglück stürze!
An sich ist die Erblichkeit der Stände nichts Un- natürliches. Der Sohn überkommt von seinem Vater nicht nur dessen gesellschaftliche Stellung und die
7. Die Erblichkeit der Stände. 329
326 Werkzeuge seines Berufes, sondern meist ererbt er auch etwas von der besonderen Art der Begabun«^. die diesen zum Ergreifen desselben veranlaßt hat. Auch heute gibt es Offiziers- und Beamtenfamilien.
5 die seit einer Eeihe von Generationen dem Staats- dienste treu geblieben sind; der Sohn des Gelehrten studiert fast immer; der Sohn des Geistlichen über- nimmt die Pfarre seines Vaters, der Sohn des Land- wirts dessen Gut: der Sohn des Kaufmanns oder
10 Handwerkers setzt das Geschäft fort und erbt die Kundschaft. Dies ist auch für die Gesellschaft gut und nützlich. Denn indem jedes folgende Geschlecht die gleichen Fähigkeiten weiter übt, wird dasjenige, was das erste sich noch mühsam anlernen mußte.
1.5 jedem späteren leichter und gewinnt zuletzt fast die Kraft eines angeborenen Instinkts. Und welches auch der Beruf des Mannes sein mag, je tüchtiger er darin wird, desto mehr nützt er nicht nur sich selbst, son- dern auch der Gesamtheit. Jene erblich gesteigerte
20 Befähigung hebt dann die jüngeren Generationen oft in höhere Stufen der Gesellschaft ernpor, wobei sich aber ihre Tätigkeit noch meist in derselben Riehtung bewegt, wie die ihrer Väter und Ahnen. Der Sohn des Arbeiters wird Handwerker, der Sohn des Hand-
25 werkers Fabrikant; der Volksschullehrer darbt und spart, damit sein Sohn Oberlehrer werden könne, und dieser sieht den seinen mit Stolz als Professor; der Rechnungsrat läßt den Begabtesten seiner Sprößlinge die Rechte studieren, damit er einst Geheimer Regie-
30 rungsrat werde. Und dieser von unten herauf dringende Wettbewerb hindert die oben Stehenden, sich befriedigt aufs Faulbett zu legen, wozu die Versuchung anderen Falles groß genug wäre; denn entwickeln sie ihre Fähigkeiten nicht kräftig weiter, so sinken sie wieder
330 ni. Die Verwaltung des Reiches.
in die Masse zurück, aus der ihre Väter sich empor- 827 zuheben vermochten. Aber dieser Segen der Erblich- keit tritt nur ein, wenn sie eine freiwillige ist, weil jeder Zwang die Freude an der Arbeit erlahmen macht, und das am sichersten bei den reichsten Geistern, 5 die, um ihre Kräfte regen zu können, der Freiheit am dringendsten bedürfen. Und wer seinen Stand nie ver- lieren, sich aber auch nie darüber erheben kann, dem fehlt mit dem frischen Streben nach oben zugleich auch der heilsame Zwang, seine Stellung nach unten zu ver- lo teidigen. In verdrossener Sicherheit schleppt er ein Leben hin, das weder Ziele kennt noch Gefahren.
Dies wäre das Schicksal der Constantinischen Stände gewesen, wenn die Absicht des Gesetzgebers sich hätte erfüllen können. Aber mochte der Kaiser i5 auch noch so allmächtig sein, seine drohenden Gebote konnten zwar sehr viel Unheil stiften, aber sich nie- mals in vollem Umfange durchsetzen, und er selbst pflegte nicht der letzte zu sein, der sie übertrat. Was sollte es zum Beispiel heißen, daß selbst ein kaiser- 20 liebes Reskript nicht imstande sein solle, einen Pflich- tigen vom Decurionat zu befreien und ihm den Weg zu den Eeichsämtern zu öffnen? Was der Kaiser zugunsten einer einzelnen Person befahl, kam selbst- verständlich zur Ausführung — bis er es widerrief. 2.5 Denn welcher Höfling hätte gewagt, ihn an seine eigenen Gesetze zu erinnern, falls er nicht Witterung bekam, daß jener daran erinnert sein wollte ! So fehlte es denn den Decurionen weder an Gefahren noch an Zielen. so
Die ersteren lagen in den ungeheuren Forderungen, die teils die Steuergesetzc des Herrschers, teils die un- gesetzliche Willkür seiner Beamten an sie stellten. Daß das Vermögen, worauf ihre Stellung beruhte,
7. Die Erblichkeit der Stände. 331
$28 dabei verloren ging und sie in die Plebs hinabgestoßen wurden, war noch ihre geringste Furcht; beinahe hätten sie sich freuen dürfen, wenn sie auf diese Art vom Decurionat loskamen. Aber ehe sie dies Ziel 5 erreichten, drohten ihnen grausame Folterungen, ja vielleicht gar ein qualvoller Tod; denn die Erklärung des Bankerotts genügte keineswegs, um von den Pflichten gegen die Staatskasse zu befreien. Das Ziel aber war immer das gleiche. Wer Geld und
10 Einfluß, Klugheit und Energie besaß, verwendete sie nicht mehr, wie in den guten alten Zeiten, um seiner Stadt zu nützen, sondern nur noch, um sich aus ihren Banden zu lösen. Und ein solches Unterfangen war Dicht so aussichtslos, wie es nach der Strenge der
15 Gesetze scheinen konnte. Gewann man einen ge- schickten Hofmann, der die schwache Stunde des Kaisers zu benutzen wußte, so könnt« es leicht ge- lingen, daß man zu einem der höfischen Officien zu- gelassen oder, falls man das Vermögen dazu besaß,
20 sogar in den Senat von Eom oder Constantinopel aufgenommen wurde. Bei Jeder solchen Bitte handelte es sich ja immer nur um eine Person, und was konnte es dem Reich auf einen Decurionen mehr oder weniger ankommen? Und wer nicht an den Herrscher
35 selbst herankonnte, der erreichte es vielleicht durch Geld und gute Worte, daß ihn ein Offizier in seine Truppe oder ein Statthalter in sein Officium ein- schmuggelte. Hatten sich dann die Befreiungen ge- häuft und drangen wieder Klagen an den Hof, daß
30 die Ordines zusammenschwänden und ihren Pflichten nicht mehr gewachsen seien, so erließ der Kaiser ein neues Gesetz voll donnernder Entrüstung, das alle jene Vergünstigungen für erschlichen erklärte und die Wirkung seines eigenen Wortes aufhob. Dann n^iußte
332 Ilf. Die Verwaltung des Reiches.
man doch in den verhaßten Ordo zurückkehren, und W^ das schwere Geld, das man zu Bestechungen verwendet hatte, war verloren. Aber wer schlau genug war, an der rechten Stelle seinen Unterschlupf zu finden, ent- ging mitunter dennoch der drohenden Gefahr und gab .-> durch sein Beispiel den Genossen Mut, das Wagestück immer wieder zu versuchen. Manche suchten auch in der Kirche Schutz, indem sie Kleriker oder Mönche wurden, was zeitweilig half, dazwischen aber auch zu neuen Decurionenjagden Anlaß gab. Andere heirateten lo Slavinnen oder Colonentöchter, die vornehmen und mächtigen Herren gehörten, um unter deren Schutz die Forderungen des Ordo abweisen zu können. Kurz jedes Mittel wurde versucht, und jedes schlug mit- unter fehl, um sich ein anderes Mal doch wirksam zu is erweisen.
So befanden sich die Häupter der Gemeinden in einem steten Kampfe der List und Bestechung gegen die Eeichsgewalt, in dem zuletzt beide Teile unter- lagen. Zunächst braucht wohl kaum hervorgehoben 2'» zu werden, wie entsittlichend er auf die ganze Be- völkerung wirkte. Der Mutige und Erfindungsreiche übte seinen Scharfsinn immer wieder darin, neue Wege zu finden, um die Gesetze zu umgehen. Viele ruinierten sich, um die Fürsprache mächtiger Gönner 2.> 'ZU erlangen, und erreichten doch nichts damit; wem aber das Glück lächelte, der lebte in steter x\ngst. daß ein plötzlicher Entschluß des Kaisers ihn doch noch in den Ordo zurückstoße. Genügte doch selbst eine fünfundzwanzigjährige Dienstzeit, die man unan- w gefochten in irgend einer Truppe oder einem Officium zugebracht hatte, nach dem Gesetze nicht, um für alle Zeiten sicherzustellen. Und auch was heute noch genügte, konnte morgen durch eine Verordnung
7. Die Erblichkeit der Stände. 333
ggO mit rückwirkender Kraft für ungenügend erklärt werden. So war, wer aus dem Decurionenstande zu irgend einem Staatsamt gelangte, dauernd gezwungen, .-■eine Abstammung, soweit es ging, zu verhüllen, ö Immerfort mußte er heucheln und lügen, wenn er der stets drohenden Gefahr wirksam vorbeugen wollte. Wahrlich eine treffliche Schule für Beamte, die dem Reiche ehrlich dienen sollten? Und doch waren dies noch die Gewandten und Energischen unter ihren
10 Genossen, also der beste Teil des Decurionenstandes. Denn wer alle Plagen desselben in stumpfer Geduld über sich ergehen ließ, tat es gewiß nicht aus Vater- landsliebe, sondern nur, weil er nicht die Mittel zu finden wußte, um ihnen zu entgehen, oder nicht den
15. Mut besaß, sich ihrer zu bedienen. Diese traurige Hefe hatte aber auch selten das Geschick, um ihr Ver- mögen so zu verwalten, daß es den immer gesteigerten Anforderungen dauernd genügen konnte. Sie ver- armte schnell und wurde damit zu den Leistungen, die
20 man vom Decurionen verlangte, unfähig. So schwan- den die Ordines, seit sie erblich geworden waren, erst recht zusammen, und nur kaiserliche Gewaltakte, die eine Anzahl privilegierter Personen ihrer Eechte be- raubten und sie zum Decurionat verdammten, ver-
25 mochten die Lücken von Zeit zu Zeit wieder zu füllen. Nicht besser bewährte sich das Eezept Constantins bei den Colonen. Solange sie ihre Pachtungen nach Belieben hatten aufgeben können, waren die Grund- herren darauf angewiesen, sich ihnen freundlich und
30 nachsichtig zu zeigen. Denn weil die Zahl der Sklaven und Tagelöhner nicht mehr ausreichte, um das Land in Kultur zu erhalten, wurde es gänzlich wertlos, wenn Kleinpächter, tue es mit eigener Hand bearbeiteten, nicht zu finden waren. Diese aber konnten immer
334 ni. Die Verwaltung des Reiches.
sicher sein, von einem anderen Gutsbesitzer mit Freu- ^1 den aufgenommen zu werden, da es überall brach- liegende Äcker von bester Fruchtbarkeit im Über- flusse gab. Doch seit ihr Abzug gesetzlich verboten war, konnte man sie nach Belieben ausbeuten, und 5 auch wer von Natur nicht zur Härte geneigt war, wurde durch die Verhältnisse dazu gezwungen. Denn die wohlhabenderen Grundherren, soweit sie nicht besondere Privilegien besaßen, waren ja ausnahmslos .zum Decurionat verpflichtet, und je ärger sie vom 10 Staate ausgepreßt wurden, desto rücksichtsloser mußten fiie sich an ihren Pächtern schadlos halten. Die Ge- setzgebung aber stellte sich, wie das in jener Zeit ja üblich war, durchaus auf die Seite des Stärkeren. Dem Namen nach war der Colone noch immer ein 15 freier Mann und als solcher eigentumsfähig; viele besaßen außer dem ländlichen Inventar auch eigene Grundstücke, die sie neben ihrer Pachtung bebauten. Daß jene dem Gutsherrn für die richtige Erfüllung «eines Vertrages haften mußten, entsprach auch dem 20 älteren Recht. Jetzt aber wurde ihm die Befugnis erteilt, die Colonen auf Diebstahl zu verklagen, wenn diese ohne seine Erlaubnis irgend etwas von ihrem eigenen Besitz veräußerten und dadurch die Sicher- heiten für die Pachtzahlung minderten. So war das 25 Eigentumsrecht der Colonen vernichtet und sie auch in dieser Beziehung den Sklaven angenähert. Und wie diese ihren Herrn nie verklagen durften, so ver- fügte Arcadius das gleiche auch für die Kleinpächter mit einziger Ausnahme des Falles, daß jener die sw Pachtbedingungen widerrechtlich verändere. Schon Constantin hatte bestimmt, daß der Grundbesitzer sie in Fesseln legen dürfe; damit war diesem auch da« Züchtigungsrecht eingeräumt, und später ist es noch
7. Die Erblichkeit der Stände. 335
382 erweitert worden. Schon nach einem Jahrhundert erkannte es auch die Gesetzgebung an, daß zwischen Sklaven und Colonen kaum noch ein Unterschied be- stehe, ja in einer Beziehung wurden diese sogar noch 5 schlechter gestellt. Denn wenn man vor Gericht den Antrag stellte, jemand für einen freien Mann zu er- klären, so fiel demjenigen, welcher ihn als seinen Sklaven in Anspruch nahm, unter allen Umständen die Beweislast zu; wurde der streitige Mensch aber
10 nur als Colone zurückgefordert, so versagte man ihm diesen prozessualischen Vorteil. War doch auch dies ein Mittel, um das Entweichen der ländlichen Be- völkerung zu erschweren, worin die Gesetzgebung jetzt eine ihrer Hauptaufgaben sah. Aber je mehr
15 man die Pächter verelendete, desto häufiger liefen sie davon ; und fügten sie sich still duldend in ihr Schick- sal, so konnten sie in ihrer kläglichen Dürftigkeit doch keinen genügenden Nachwuchs großziehen, der bei dem Aussterben der älteren Generation die Lücken
20 wieder hätte füllen können; denn wie allbekannt, stehen Volkswohlstand und Volksvermehrung in un- trennbarem Zusammenhange. Trotz der Barbaren- horden, die noch immer dem römischen Schwert unter- lagen und dann als Colonen auf den wüsten Äckern
25 des Eeiches angesiedelt wurden, nahm deren Ausdeh- nung mit jedem Jahre zu, und immer schwieriger wurde es, den Steuerbetrag, der für die Bedürfnisse von Heer und Verwaltung unentbehrlich war, von den verarmten Grundbesitzern zusammenzutreiben.
80 Noch andere Barbaren kamen über die Grenzen
herein, nicht als besiegte Scharen, sondern einzeln als freie Männer, um den Unterhalt, den die übervölkerte Heimat ihnen versagte, imnitten des zusammen- schwindenden Römervolkes zu suchen. Sie waren
336 IJi- Die Verwaltung des Reiches.
keiner Körperschaft zugeschrieben, in keine Standes- 383 fesseln eingezwängt, ein Vorteil, der ihr Emporkommen im Kampf ums Dasein schon allein hätte entscheiden müssen, auch wenn sie den verknechteten Eeichs- bürgern nicht an Geist und Entschluß so hoch über- .1 legen gewesen wären. Mochte der römische Patriot auch noch so bitter klagen und selbst der Kaiser in höchsteigener Person in das allgemeine Jammerlied miteinstimmen, man konnte es doch nicht verhindern, daß jene Fremdlinge die leitenden Stellen an sich 10 rissen. Und nächstdem hatte derjenige die besten Aus- sichten, den Armut und Niedrigkeit von jedem erb- lichen Stande ausschlössen, falls er nur nicht Colone war. Stand ihm doch kein Hindernis entgegen, sich als Soldat anwerben zu lassen oder durch Geschick i5 und demütiges Bitten seine Aufnahme in irgend ein Officium zu erreichen. Und zeichnete er sich dann aus oder wußte mächtige Fürsprache zu erlangen, so konnte er höher und höher emporsteigen. Gerade in dieser Zeit des härtesten Standeszwanges sind daher 20 Emporkömmlinge aus den niedrigsten Schichten der Gesellschaft unter den hohen Beamten häufiger ge- wesen, als je zuvor.
Denn der Kaiser sorgte dafür, daß, wer ihm diente, schnell in die Höhe kam. Ging man doch soweit, daß 25 man die Dienstzeit derjenigen, die in einem Hof- officium die erste Stelle erreicht hatten, auf drei Jahre, dann auf zwei und endlich gar auf ein einziges be- schränkte, damit die hinter ihnen Stehenden mögliehst bald aufrücken könnten. Und indem die ältesten m alljährlich ausschieden, gewann man zugleich Eaum, um einige der unzähligen Stellensucher gnädigst zu befriedigen. Wie groß der Zudrang war, ersieht man aus einem Gesetz, durch das es zu einem Privileg der
7. Die Erblichkeit der Stände. 337
3SI höchsten Beamten gemacht wird. Kandidaten für ein- zelne der besonders geschätzten Officia zu empfehlen. Natürlich Keßen sich die meisten ihre Fürsprache bar vergüten und begünstigten schon deshalb die .5 Vermehrung der Beamten, weil sie auch ihre Ein- nahmen vermehrte.
So wuchs die Schar derjenigen, welche vom Staate bezahlt werden mußten, stets weiter an, während der Zahlenden immer weniger wurden. Denn außer jenen
10 zeigte nur eine Klasse der Bevölkerung eine immer steigende Ziffer: das waren die Bettler. Nicht nur die bittere Not trieb ihnen viele zu, sondern auch für den Colonen, der sich noch leidlich erhalten konnte, gewann ihr Stand bald etwas Lockendes; denn
15 er war der einzige im Reiche, dem ein sorgenloses Leben blühte. Einmal wurde freilich ein Gesetz er- lassen, das die gesunden und kräftigen Bettler zu Colonen zu machen befahl; doch dieser Eingriff in ihre ruhige Behaglichkeit erfolgte erst sehr spät, im
20 Jahre 382, und wurde wohl auch nur durch das Be- dürfnis nach ländlichen Arbeitern, nicht durch irgend- welche Abneigung gegen die Bettelei hervorgerufen. Übrigens scheint man der Frage sehr geringe Be- deutung beigelegt zu haben; keine zweite Verordnung
25 ähnlichen Inhalts ist erhalten, während es über die Pflichten der Decurionen Hunderte, der Colonen Dutzende gibt. Wie die katholische Kirche das bet- telnde Schmarotzertum noch heute begünstigt, weil es den Gläubigen zu „Werken der Barmherzigkeit" Ge-
30 legenheit gibt, so tat es auch der Staat, seit er unter Constantin jenes Bündnis mit der Kirche geschlossen hatte, das beiden zum Unheil werden sollte.
Wo der Weltenrichter des Evangeliums die Schafe von den Böcken scheidet, da spricht er zu seinen S II 22
338 ni. Die Verwaltung des Reiches.
Allserwählten: .,Koniinet her, ihr Gesegneten meines W» Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt. Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeiset ; ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränket; ich bin ein Fremdling 5 gewesen, und ihr habt mich beherberget; ich bin nackend gewesen, und ihr habt mich bekleidet; ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besuchet; ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen." Da hier Seligkeit und Verdammnis ausschließlich lo von dem Unterstützen der Notleidenden abhängig ge- macht wird, meinten in jener Zeit sehr viele, nur auf diese Art der Barmherzigkeit komme es an, und gaben sich ihr um so lieber hin, weil sie die bequemste and am wenigsten kostspielige ist. Wer als Beamter i5 Millionen von den seufzenden Untertanen erpreßt hatte, gab dann einige Hunderte als Almosen aus und meinte damit seine Seele gerettet zu haben. Und der Kaiser selbst hielt es nicht anders. Sobald Constantin die Schlacht an der Milvischen Brücke gewonnen 20 hatte, wies er dem Bischof von Karthago eine Summe von über 342000 Mk. an und befahl zugleich seinen Finanzbeamten, falls Jener noch mehr brauche, ihm unverzüglich auszuzahlen, was er verlange. Von der Annona. deren Druck die Decurionen verarmen machte 25 und die Bauern von ihren Äckern trieb, ließ der Kaiser alljährlich so und so viel tausend Scheffel den Bischöfen übergeben, damit sie ihre Armen füttern könnten. So fand der Bettler mühelos seinen Unterhalt, während der Colone bei schwerer Arbeit 30 hungern mußte; was Wunder, daß dieser es vorzog, in die Stadt zu fliehn und sich dort von Almosen ernähren zu lassen! Und nicht nur durch die Ver- mehrung des Bettelvolkes arbeitete damals die Kirche
7. Die Erblichkeit der Stäjide. 339
386 auf den Untergang des Reiches hin. Gewiß wäre er auch ohne sie eingetreten. Indem die Kaiser jedem Übel, auf das sie aufmerksam wurden, mit rohen GeAvaltmitteln entgegenwirkten und es dadurch regel-
--. mäßig noch ärger machten, hätten sie jener Hilfe nicht bedurft, um den armen Rest von Lebenskraft, der noch in üirem Volke vorhanden war. schnell zu vergeuden. Doch jene Erziehung zur Knechtschaft, die sie zu ihrem eigenen Verderben den Untertanen
10 angedeihn ließen, ist durch die Kirche gefördert worden, indem auch sie prüfungsloses Glauben und stumpfes Gehorchen damals zu den ersten Geboten ihrer Sittlichkeit erhob.
Viertes Buch.
Religion und Sittlichkeit.
Erateß Kapitel.
Der Animismus.
W ..Am meisten unterscheidet sieh, wie ich glaube, die römische PoHtik zum Besseren von allen andern in ihrer Auffassung von den Göttern, und was bei den übrigen Menschen geschmäht wird, das scheint 5 )iiir die römischen Verhältnisse zusammenzuhalten; ich meine die Scheu vor dem Übersinnlichen. Denn diese Dinge werden so zur Schau gestellt im Privatleben wie in der Öffentlichkeit, daß ein Mehr gar nicht denkbar ist. Dies mag vielen wunderlich erscheinen;
10 ich aber glaube, daß sie um der Menge willen es so eingerichtet haben. Denn wenn man aus lauter Weisen einen Staat bilden könnte, wäre dieser Brauch viel- leicht überflüssig. Weil aber jede Menge leichtfertig ist und voll von ungesetzhchen Begierden, von unver-
15 nünftigem Zorn, von gewalttätigem Sinne, bleibt nur übrig, sie mit Furcht vor dem TJnbekaimten und solchem Hokuspokus im Zaum zu halten. Deshalb scheinen mir die Alten nicht leichtsinnig und aufs Geratewohl die Meinungen über die Götter und die
20 Anschauungen von dem. was uns im Hades erwartet, in die Massen hineingebracht zu haben, sondern viel- mehr die Modernen leichtsinnig und unverständig sie auszustoßen."
SM So urteilte vor mehr als zweitausend Jähren ein.
25 aufgeklärter Grieche, und auch unter unseren „Auf- geklärten" dürften sich wenige finden, die ihm zu
344 IV. Religion und Sittlichkeit.
widersprechen geneigt wären. Zwar hält keiner mehr die Eeligion für eine Erfindung kluger Staatsmänner ; daß aher die Haltung der Massen durch sie bestimmt werde, ist noch immer die allgemeine Ansicht. „Dem Volke seinen Glauben nehmen" bedeutet für die einen, 5 ihm jeden sittlichen Halt entziehen, für die andern, ihm eine Fessel abstreifen, die es an der Wahrneh- mung seiner Interessen hindert; darin aber sind Bischöfe und Anarchisten einig, daß sein Handeln sich wesentlich nach seinen religiösen Meinungen richte. 10 Und doch wird diese Ansicht durch die tägliche Er- fahrung immer wieder Lügen gestraft. Wir alle be- folgen die Lehren unserer Eeligion genau so weit, wie sie unseren sittlichen Trieben entsprechen, d. h. wir werden durch diese Triebe, nicht durch die Eeligion 15 geleitet. Oder lebt irgend einer in unseren Tagen, der es gesehn hätte, daß selbst der gläubigste Christ, wenn man ihn auf die rechte Backe schlug, auch die linke darbot oder sein ganzes Vermögen verkaufte, um es den Armen zu geben ? Noch vor kurzem betrieben die 20 Eäuber der Abruzzen ganz ungescheut ihr menschen- freundliches Handwerk und sorgten doch mit Messe, Eosenkranz und Kommunion eifrig für ihr letztes Stündlein. Denn unter den höher entwickelten Eeli- gionen ist keine, die nicht Sühnemittel für die schuld- 25 beladene Seele geschaffen hätte. Ja manche betrachten es als ihre Hauptaufgabe, den Sünder mit seinem Gotte zu versöhnen. Und was dem ausgesprochenen Zwecke dient, die Folgen der begangenen Sünde ab- zuwenden, sollte von dem Begehen derselben zurück- so schrecken ?
Dem katholischen Dogma ist die Ehe ein Sakra- $41 ment; es verbietet daher ihre Trennung, während das protestantische sie erlaubt. Trotzdem wird keiner zu
1. Der Animismus. 345
behaupten wagen, daß die germanischen Völker, die Ja meist protestantisch sind, die Ehe minder heilig halten, als die romanischen. Im Eeiche des Zaren identifizierte sich der Staat mit der orthodoxen Kirche 5 und lieh ihren Forderungen seinen starken Arm ; hier war daher auch die bürgerliche Scheidung, die in den Ländern des römischen Katholizismus meist gestattet wird, gesetzlich fast ausgeschlossen ; desto häufiger aber kam sie ungesetzlich vor. Daß der Mann der Frau
10 oder die Frau dem Manne durchging, um eine andere Verbindung zu schließen, die rechtlich nicht aner- kannt, aber gleichwohl dauernd war, gehörte zu den alltäglichen Dingen, und das zwar auch in den niedrigen Schichten der Gesellschaft, in denen der
15 schlichte Kinderglaube noch seine volle Macht be- wahrte. Nicht selten verzichtete auch ein Gatte gut- willig auf seine Rechte, und manchmal einigten sich sogar zwei Männer in aller Freundschaft zu gemein- samem Besitze derselben Frau. In den heutigen
2ü Staaten Europas zeigt sich also die merkwürdige Er- scheinung, daß der Zusanunenhalt der Ehegatten in der Volkssitte desto lockerer ist, je fester die Religion ihn bindet.
Die Juden verwerfen das Neue Testament: die
25 schönen Sittenregeln, in denen wir den höchsten Ruhm des Christentums erblicken, sind also für sie als reli- giöse Vorschriften nicht vorhanden. Der Prote- stant erkennt sie als bindend an, aber wie weit er ihnen folgen will, ist ganz der freien Entscheidung
30 seines Gewissens überlassen; sein Geistlicher kann ihm, wenn er will, als Freund und Berater zu Seite stehn, besitzt aber nicht die geringste Macht, um seinen Ermahnungen Gehorsam zu verschaffen. Ganz anders die katholische Kirche: durch Beichtstuhl und
346 IV. Religion und Sittlichkeit.
Absolution ist sie in der Lage, nicht nur alle Hand- lungen ihrer Gläubigen, sondern selbst deren heimliche Gedanken zu beobachten und zu leiten, und tut sich nicht wenig darauf zugute. Was ist der Erfolg? Bei uns gibt es im Jahresdurchschnitt gerichtlich Ver- s- urteilte je einen auf 12,8 Juden, 10,4 Protestanten, 8,7 Katholiken. Ein anderes Mittel als die Kriminal- -statistik besitzen wir nicht, um die Sittlichkeit großer Volkskreise zu messen, und wie man sieht, lehrt sie uns, daß diese um so höher steht. Je weniger die Reli- n> gion sie zu fördern scheint. Daß kirchliche Eingriffe in das freie Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen sie herabdrüeken, soll damit noch nicht für bewiesen gelten, wohl aber, daß sie wesentlich durch andere Gründe bestimmt wird, neben denen die religiösen 1.5- zwar nicht gleichgültig sind, aber doch nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Unsere Ethik beruht seit zwei Jahrtausenden auf denselben unveränderten Bibel worten; und doch hat dieser Zeitraum Sklaverei und christlichen Sozialis- 20 mus, die fleischliche Askese des vierten und den Minne- dienst des zwölften Jahrhunderts gesehn, ohne daß die Vertreter dieser streitenden Richtungen sich bewußt waren, zu den Lehren ihrer Religion in Gegensatz zu stehen. Freihch haben diese Lehren selbst höchst a-s mannigfache Auslegungen erfahren; aber nicht weil Mi sie unverständlich oder zweideutig wären, sondern nur weil jede Zeit mit unbewußter Absicht in sie hinein- legte, was ihren Anschauungen entsprach. So ist nicht die Sittlichkeit durch die Religion bestimmt, sondern :«► umgekehrt die Religion immer wieder nach den wech- .<elnden Sittlichkeitsbegriffen gemodelt worden. Diese sind das beweglichere Element im Leben der Völker, während jene immer mit dem Anspruch auftritt, ein
1. Der Animismus. 347
Ewiges und Unveränderliches zu bieten, und sich da- durch ein viel größeres Beharrungsvermögen sichert. Auf die Dauer kann freilich auch diese zähe Kraft nicht standhalten; ohne es zu wollen und meist auch
5 ohne es zuzugeben, muß sie sich doch allmählich dem Zeitgeist anpassen; aber in ihrem Widerstreben tut sie dies viel langsamer als die Sittlichkeit. Stets bleibt sie daher hinter dieser um einige Schritte zu- rück: in aufstrebenden Zeiten stehen ihre Lehren
10 niedriger als die herrschenden Moralbegriffe: in ab- sinkenden bewahrt sie dafür treuer die Überliefe- rungen einer besseren Verganotmheit.
Ein solche Zeit des Niederganges ist es, die uns hier beschäftigt. Es ist daher natürlich, daß die
15 Ethik ihrer Eeligionen, der heidnischen nicht weniger als der christhchen, hoch' über den sittlichen Instinkten st-eht, die das Handeln ihrer Menschen bestimmen. Allmählich sieht man sich gezwungen, jene hehren Gesetze nur noch in der Theorie aufrechtzuerhalten.
20 und auch diese muß manche Konzessionen machen. Am strengsten fordert man, was man am leichtesten fordern kann, den stumpfen, prüfungslosen Glauben, wie er der geistigen Trägheit der Zeit gemäß ist. Ketzerei wird zum unverzeihlichsten Verbrechen, wäh-
25 rend man bei den meisten andern ein Auge zudrückt
84? oder sie. wie den Massenmord des frommen Theodo- sius, durch eine Kirchenbuße für sühnbar hält. Und mit dem sittlichen Urteil verflacht sich auch der In- halt des Glaubens. Es ist ein allgemeines Kennzeichen
.30 dieser Epoche, daß sie auf den meisten Gebieten wieder zu einer Stufe herabsinkt, welche die besseren Vor- fahren längst hinter sich gelassen hatten. Wir sahen schon, wie der intensive Ackerbau der früheren Zeit zum großen Teil durch die Weidewirtschaft verdrängt
348 IV. Religion und Sittlichkeit. ^
wurde, wie die Finanzen des Staates von einem hoch- entwickelt-en Geldsystem wieder zu den primitivsten Naturalleistungen zurückkehrten, wie die feingeglie- derte Legion dem plumpen Heerkeil der Barbaren weichen mußte. Ebenso lebte auch im religiösen 5 Denken alles Abgetane wieder auf. Anschauungen, die den Gebildeten seit Jahrhunderten für überwunden galten und nur noch in den tiefsten Schichten des Volkes als dumpfer Aberglauben ihr Dasein fristeten, drangen wieder zum Licht empor und bemächtigten m sich auch derjenigen, die geistig und gesellschaftlich am höchsten standen.
Der normale Fortschritt der Menschheit vollzieht sicli immer in folgender Weise. Der vertiefte Gedanke, das verfeinerte Gefühl tritt zuerst bei einzelnen 15 Männern auf. die über den Durchschnitt ihrer Zeit- genossen hoch emporragen. Weil ihr Volk sie noch nicht versteht, müssen diese Edelsten nicht selten zum Opfer fallen; aber auch dann finden sie Jünger, die ihre Ideen aufnehmen und weiter verbreiten. So 20 mehren sich nach und nach ihre Anhänger, und hat sich erst ein Gedankengang der obersten Zehntausend bemächtigt, so dringt er langsam, aber unaufhaltsam auch in die breiten Massen hinab, und was anfangs nur der vornehme Besitz weniger auserlesenen Geister 25 war, wird Gemeingut des ganzen Volkes. Wenn es S44 aber soweit gekommen ist, pflegt die neue Wahrheit schon veraltet und überholt zu sein; eine neuere und bessere ist bei den führenden Geistern an ihre Stelle getreten, die wieder ihren Weg in derselben Weise :w zurücklegen muß, langsam durchsickernd von oben nach unten. Wie nach den Moden, die unsere Frauen abgelegt haben, sieh unsere Dienstmädchen zu putzen pflegen, so schmückt sich das niedere Volk mit den
1. Der Animismus. 349
Gedankeii; aus denen seine höheren Schichten längst herausgewachsen sind.
Im Eömerreiche waren die Höchsten und Besten immer wieder wegrasiert. So entwickelte sich denn 5 seine Kultur nicht, wie es der Menschheit gemäß ist, sondern nach Art der lehlosen Erdrinde. Die Jüngsten, obersten Schichten, die zugleich die weichsten und empfindhchsten sind, werden fortgewaschen, und das harte Urgestein wächst aus der Tiefe hervor. Kein
10 Neues ging von oben nach unten, sondern das längst Veraltete rang sich in die Höhen hinauf. Was dem Grlauben des sinkenden Eeiches seinen Charakter gibt, ist der Rückschlag in eine ferne Urzeit, deren ein- geschrumpfte Rudimente sich wieder zu Organen von
15 lebendiger Tätigkeit entfalten. Um ihn richtig zu ver- stehen, sind wir daher gezwungen, alle die begrabenen Schichten des religiösen Denkens, die in ihm wieder empor tauchen, von der frühesten und niedrigsten Stufe an uns wenigstens in kurzem Überblick vorzu-
20 führen. Die ReHgion, welche im Römerreiche, wenn auch mit fremden Bestandteilen vielfach durchsetzt, die beherrschende Stellung einnahm, war die grie- chische; von ihrer Entwicklung werden wir daher be- ginnen müssen.
26 Für das Verständnis desjenigen, was wir hier dar-
S45 zulegen haben, bietet es eine große Schwierigkeit, daß dabei die Chronologie fast ganz versagt. Wohl läßt sich ein ISTacheinander unterscheiden; aber die frühere Phase der Entwicklung bricht nicht ab, wo die neue
30 beginnt, sondern setzt sich in ihr fort, so daß beide in gegenseitigem Widerstreit und gegenseitiger Anpas- sung sich seltsam ineinander verschlingen. So kann uns Homer als Zeuge für eine sehr hohe Stufe des religiösen Denkens, aber zugleich auch für seine rohe-
350 IV. Religion und Sittlichkeit.
sten Anfänge dienen. Hier ist der Historiker in einer ganz ähnlichen Lage wie der Geologe. An einer Stelle ist das Urgestein von jüngeren Lagen überdeckt, an der andern liegt es nackt zutage, so daß man in der- selben Landschaft mit einem Blick Schichten aus den .5 verschiedensten Weltepochen überschauen kann. Zwar hat die Wissenschaft Mittel gefunden, um die früheren von den späteren zu sondern ; aber selten ist die Tren- nungslinie eine ganz scharfe und niemals lassen sich die Jahrtausende, welche jede einzelne Schicht zu m ihrer Bildung gebraucht hat, in deutlichen Zahlen ausdrücken.
Der Ausgangspunkt aller Eeligion ist das natür- liche Bedürfnis des Menschen, bei demjenigen, was seine Aufmerksamkeit erregt, nach den Gründen zu 1.5 forschen. Sie ist die erste naive Äußerung des wissen- schaftlichen Triebes und fällt daher auf den niedrig- sten Kulturstufen mit der Wissenschaft ' noch ganz zusammen. Der Priester und Zauberer, der die Natur der geistigen Wesen am besten kennt und ihren Willen 20 zu lenken versteht, ist auch der Weiser des Kechts, wo es ein solches schon gibt, der Arzt für jede Krank- heit und der Lehrer des Volkes.
Freilich gibt es nur sehr weniges, was der Wilde seines Nachdenkens würdig findet. Das Staunen über 25 die Wunder der Natur ist uns geläufig, die wir, in 'M dumpfer* Stube eingeschlossen, eine Fremde in ihr .sehen; wer mitten unter ihnen lebt, achtet gar nicht auf sie. "Was sich täglich wiederholt, findet er selbst- verständlicli : und auch das Außergewöhnliche fesselt m ihn nur insoweit, wie es ihm Nutzen oder Schaden bringt. Die Eingeborenen Zentralbrasiliens kümmern sich weder um die Uhren noch um die sonstigen fremden Dinge, welche die reisenden Europäer zu
1. Der Animismus. 351
ihnen bringen. aui3er soweit sie sich damit schmücken oder sie für ihren Haushalt gebrauchen können, und oft ist es bemerkt worden, mit welcher stumpfen Gleichgültigkeit Neger, die auf europäischen Schiffen -5 fahren, alles um sich her unbeachtet lassen, was man nicht essen oder trinken kann. Das vStaunen ist eben der Anfang der Weisheit, der keineswegs mit den Anfängen der Menschheit zusammenfällt. Die Speku- lation beginnt daher nicht bei dem Wechsel der Jahres-
10 und Tageszeiten, der keiner Erklärung bedürftig scheint, auch nicht bei Gewittern oder Erdbeben, die den Wilden wohl erschrecken, aber ihm selten etwas anhaben, sondern bei dem ^vunderbaren Geheimnis von Leben und Tod. Das Sterben jedes einzelnen greift
15 in alle Verhältnisse seiner Familie auf das tiefste ein; Todesfälle wiederholen sich oft genug, um immer wieder zum Nachdenken anzuregen, imd bei der kleinen Zahl einer Jägerhorde bleiben sie doch zu selten, um selbstverständlich zu erscheinen. Kennen
-30 doch viele Stämme gar keinen natürhchen Tod ; wo die Ursache des Sterbens nicht in einer äußeren Ver- letzung offen zutage liegt, führen sie es immer auf dämonische Einwirkungen zurück. Der erste religiöse Begriff, der sich bildet, ist daher nicht Gott, sondern
147 die Menschenseele, weshalb man die niedrigste Stufe der Eeligion auch mit dem Namen des Animismus zu bezeichnen pflegt.
Der Leichnam ist derselbe Mensch, den wir noch vor kurzem munter und beweghch in unserer Mitte
30 gesehn haben, und doch nicht derselbe. Arm und Bein, Eumpf und Gesicht haben sich kaum verändert, trotzdem fehlt die harmonische Ganzheit, die vorher bestanden hatte. Es muß also etwas daraus entfernt sein, das wir nicht wahrnehmen können, dessen
352 IV. Religion und Sittlichkeit.
Mangel wir aber doch empfinden. Weil der augen- fälligste Unterschied darin besteht, daß Atem und Herzklopfen aufgehört haben, erkennt die kindliche Philosophie des Wilden in dem Hauch das Lebens- prinzip und weist ihm seine Wohnung im Herzen an. * Die Abstraktion ist noch nicht soweit gediehen, um die Vorstellung von etwas rein Geistigem zu fassen; man denkt sich daher die Seele als einen luftigen Körper, der mit dem letzten schweren Atemzuge den Leib verläßt. io>
Diese Anschauung ist so naheliegend, daß sie sich bei den entferntesten Völkern, die nie einen Einfluß aufeinander ausüben konnten, fast ganz in der gleichen Gestalt selbständig entwickelt hat. Der Eömer beugte sich über das Gesicht eines geliebten i.> Sterbenden, um seine entweichende Seele, wie es in einer schönen Dichtung heißt, mit frommem Munde aufzufangen; und die Seminolen in Florida pflegen einer Frau, die im Wochenbette stirbt, das Neu- geborene über den Mund zu halten, damit die Seele 20 der Mutter in das Kind übergehe. Homer redet von den Seelen, die widerwillig dem Zaun der Zähne ent- fliegen, und auf Bildern der Kreuzigung, die schon . dem sechzehnten Jahrhundert angehören, sieht man aus dem Munde der beiden Schacher kleine mensch- 25 liehe Gestalten hervorschweben, um hier von Engeln, 34& dort von Teufeln in Empfang genommen zu werden. Der Tiroler Bauer soll noch heute meinen, daß man die Seele als weißes Wölkchen den Mund des Sterben- den verlassen sehe. so
Neben dieser Vorstellung steht noch eine zweite. In einem Zeitalter steter Kämpfe und Eaubzüge war der gewaltsame Tod kaum seltener als der natürliche. Jeder konnte daher beobachten, daß dem Verwundeten
1. Der Animismus. 353
jnit seinem Blute zugleich auch die Kräfte schwanden, und daß im Augenblicke des Sterbens der rote Strom versiegte. Dies führte dazu, auch im Blute die Seele zu erblicken und sie aus der Wunde entfliehen zu
ö lassen. Beide Anschauungen finden sich bei Hom<^r nebeneinander; daß sie strenggenommen im Wider- spruch stehen, wurde kaum empfunden. Überhaupt müssen wir uns hüten, jene Klarheit und Konsequenz des Denkens, die wir heute verlangen. \A-eun auch
10 nicht immer finden, schon den fernen Urzeiten zuzu- schreiben. Damals war man sehr wohl imstande, zwei logische Erklärungen, die sich gegenseitig aus- schheßen, nebeneinander zu dulden oder gar mitein- ander zu kombinieren.
15 Zur Vervollständigung des Bildes, das man sich
so von der Seele geschaffen hatte, mußten Träume und Visionen beitragen. Der Wilde ist immer sehr arbeitsscheu; hat er seine Jagdbeute eingebracht und den Hunger verscheucht, so kann er tagelang in brü-
•20 tendem Nichtstun am Feuer liegen. Jenes schläfrige Vorsichhinstarren und der unruhige Schlummer, der es unterbricht, sind sehr geeignet, nicht nur höchst lebhafte Träume, sondern auch wache Hallu- zinationen hervorzurufen, und der ungeschulte Geist.
■25 der subjektive Erscheinung noch nicht von objektiver
349 Beobachtung zu trennen weiß, hält alles, was sich sichtbar wahrnehmen läßt, für unanfechtbare Wirk- lichkeit. Wenn man also schlafend oder wachend Leute vor sich sieht, von denen man weiß, daß sie
30 längst im Grabe modern, kann man sich dies nicht
' anders erklären, als daß es losgelöste Seelen sind.
Daraus schließt man, daß diese getreue Abbilder des
Verstorbenen seien. Da nun auch der Schatten die
Gestalt des Menschen wiederholt, da er von luftiger
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354 IV. Religion und Sittlichkeit.
Beschaffenheit ist und bei dem hingestreckten Toten meist nicht sichtbar wird, also ihn verlassen zu haben scheint, identifizieren ihn die meisten Völker mit dem Hauch oder der Seele. Freilich wird auch dieser Gedanke nicht konsequent festgehalten: daß sie als 5 Vogel durch die Luft fliege oder als Schlange über die Erde hingleite, sind Anschauungen, die sich viel- fach mit jener anderen kreuzen und mischen. Doch hindert dies nicht, daß die M^ischenähnlichkeit der Seele bestimmend für das religiöse Denken wird. m
Wenn diese sich uns in Traum oder Vision dar- stellt, können wir sie deutlich sehen ; wir hören ihre Stimme bald als klares Sprechen, bald als unheim- liches Murmeln oder Zirpen; oft fühlt man von ihr einen kühlen Hauch, wie es ihrer luftigen Art ent- i5 spricht; und läßt sich das Traumbild als Alp auf unsere Brust nieder, iso spüren wir einen harten Druck. Es besitzt also volle Körperlichkeit, ja man meint sogar, daß es in ausgestreuter Asche die Spuren seiner Füße zurücklasse. Nicht selten aber treffen unser Ohr 20 wunderbare Laute oder wir empfinden den Geister- hauch, ohne etwas zu sehen, und noch öfter ist das Gespenst zwar sichtbar und hörbar, aber nicht fühlbar ; daß es sich in einem großen Kreise von Menschen nur einem einzigen zeigt und allen andern verborgen 2.5 bleibt, wie Banquo an der Tafel des Macbeth, ist eine 350 sehr gewöhnliche Erscheinungsform. Folglich kann die Seele ihre Körperlichkeit verhüllen oder nur ein- zelne Seiten derselben zur Geltung bringen, wie ihi- das beliebt; sie ist also ein Wesen mit wunderbaren, m übermenschlichen Kräften.
Man sieht, diese Seelenhypothese geht, wie jede wissenschaftliche Theorie es muß, von Beobachtungen aus und suclit sie nach klarer Methode zu einheitlicher
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Anschauung zu verknüpfen. Sobald man die Möglich- keit von Sinnestäuschungen außer acht läßt, sind ihre Schlüsse höchst überzeugend; es kann daher nicht auffallen, daß alle Völker, über deren religiöse? -. Denken wir Genaueres wissen, so ziemlich dieselbe Lehre aufgestellt haben, und daß dies älteste Schein- resultat der menschlichen Forschung, durch den Glauben vieler Jahrtausende geweiht und befestigt, niemals seine Geltung verloren hat. Es ging mit
10 dieser Theorie, wie mit so vielen andern : die Gründe, auf denen sie aufgebaut war, verloren ihre Beweis- kraft, aber der Schluß daraus blieb nichtsdestoweniger feststehende Überlieferung.
Freilich muß jede falsche Hypothese in der Wirk-
15 lichkeit immer wieder auf Erscheinungen stoßen, die mit ihr nicht im Einklang stehen; hat sie aber schon die allgemeine Anerkennung gewonnen, so wird sie darum nicht aufgegeben, sondern man stützt sie durch allerlei Hilfshypothesen. So ging es auch mit der
20 Seelentheorie. Zunächst mußte es auffallen, daß man auch von Lebenden träumte, deren Schatten noch am Leibe haftete, also nicht wohl bei anderen zu Besuch gehen konnte. Man hob die Schwierigkeit, indem man die Seele in zwei oder mehr Bestandteile
-25 zerlegte, die sich voneinander lösen konnten und so
:351 ihre Wirksamkeit an mehreren Orten zugleich möglich machten. Die Ägypter unterschieden im geistigen Teil des Menschen nicht weniger als fünf gesonderte Wesenheiten, den Doppelgänger, die Seele, die Licht-
30 gestalt, den Schatten und den Namen; und ähnliche Lehren, wenn auch minder kompliziert, lassen vsicli bei vielen Völkern bis nach Amerika hinüber nach- weisen. Die Griechen dagegen haben nicht zu so künstlichen Theorien ihre Zuflucht genommen, son-
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(lern statt dessen schon in sehr alter Zeit die Möglich- keit von Sinnestäuschungen zugegeben, wenn auch in höchst naiver Weise. Sieht der schlafende Achill den toten Patroklos vor sich, 00 erkennt er in ihm die wirkliche Seele des Abgeschiedenen; als aber dem .s Agamemnon im Traum der noch lebende Nestor er- scheint, da ist dies nicht der Schatten des Greises, sondern ein von Zeus gesandtes dämonisches Wesen, das nur jene Gestalt angenommen hat. Auf dieselbe Weise erblickt Nausikaa im Schlaf eine ihrer Ge- lo spielinnen, die in Wirklichkeit die verstellte Pallas Athene ist. Diese verschiedene Auffassung der Traum- erscheiiiungen ist inkonsequent, geht aber doch von einem ganz konsequenten Denken aus. Denn wenn die geistigen Wesen mitunter als Vögel oder Schlangen i.> und dann wieder in menschlicher Gestalt erscheinen, wenn sie bald sichtbar, bald unsichtbar, bald fühlbar, bald körperlos sein können, so darf man auch an- nehmen, daß sie sich in die täuschende Form irgend eines Menschen zu hüllen vermögen. Erscheint also 20 ein Schatten, der Avirklich vom Körper gelöst ist und frei umgehn kann, so setzt man voraus, daß der Tote in seiner eigenen Gestalt gekommen sei; sieht man dagegen einen Lebendigen im Traum, so ist dies die Täuschung eines übermenschlichen Wesens, 2» mag es nun ein Seelengeist oder eine andere Art von S5? Dämon sein.
Diese Auffassung half noch eine zweite Schwierig- keit lösen. Im allgemeinen stellen sich Völker auf niederer Kulturstufe die Schatten in derselben Gestalt so vor, wie sie dem Leichnam eigen war. Ist dieser also verstümmelt oder entstellt, so geht dies auch auf die Seele über. Auf Grund dieser Voraussetzung treffen die Chinesen bei ihren Totenopfern besondere Vor-
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kehrungen, damit die Geister der Enthaupteten die Opf erspei'Se in ihre mund,lose Kehle befördern können, und ein grausamer Pflanzer in Amerika wußte seine Sklaven dadurch vom Selbstmorde abzuschrecken, daß -< er den Leichen der Erhängten die Köpfe abschneiden ließ. Die armen Neger bildeten sich eben ein, daß diese Verstümmlung sie auch ins Jenseits begleite, und ertrugen daher lieber den Druck ihrer Knecht- schaft, als daß sie sich für die Ewigkeit einer kopf-
io losen Existenz aussetzten. Eine verwandte Anschauung ist auch den Griechen nicht fremd gewesen. Als Odysseus zum Hades niedersteigt, da sieht er die Schatten der im Kampf Erschlagenen mit ihren Todes- wunden und in blutiger E ästung, also offenbar in
25 derselben Erscheinung, wie ihre Leichen auf dein Schlachtfelde. Aber wenn die Geister ihre Gestalt beliebig ändern konnten, so mußten sie auch imstande sein, das frühere Bild ihres eigenen unverletzten Körpers wieder anzunehmen. Jene grausige Lehre
-30 haben daher die Griechen niemals zu derselben furcht- baren Konsequenz ausgebildet, wie Neger und Chi- nesen, sondern sie dachten sich die Schatten ihrer Toten, wie sie sie im Traume sahen, bald blutig und entstellt, bald in aller Schönheit des Lebens.
2j Über den Aufenthalt der abgeschiedenen Seelen
^ finden sich drei verschiedene Anschauungen über die ganze Erde verbreitet. Nach der einen bleiben sie immer bis zu einem gewissen Grade an den Leib ge- bunden; sie können zwar frei umherschweifen, aber
30 ihr regelmäßiger Wohnort ist doch das Grab, das deu Leichnam birgt. Während also nach dieser Theorie die Seelen über die ganze Welt verstreut sind, weist ihnen die zweite eine gemeinsame Heimat zu, in der sie alle beieinander wohnen. Dieses Totenland denkt
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iiiiiii sich bald als unterirdische Hölle, bald als lichtes Paradies im Himmel oder auf hohen Bergspitzen, bald als abgelegene Insel im fernen Westen. Die dritte Anschauung endlich läßt die Seele, nachdem sie ihren Körper verlassen hat, in dem eines anderen Ge- .> Schopfes, mag es Mensch, Tier oder Pflanze sein, wiedergeboren werden. So streng sich diese drei Theorien auch gegenseitig auszuschließen scheinen, finden sich doch bald zwei davon, bald auch alle drei bei demselben Volke veremigt, ja sie vervielfältigen ic» sieh sogar, indem mehrere Totenländer^ wie Himmel lind Hölle, nebeneinandertreten. Die Widersprüche werden dann gewöhnlich durch die schon erwähnte Lehre ausgeglichen, daß der Mensch mehr als eine Seele besitze. So lassen die Dakotas in Nordamerika i.s die eine iiach dem Tode bei der Leiche bleiben, während die andere ins Land der Greister zieht; bei den Khonds wird eine Seele in einem Kinde des Stammes neugeboren, verfällt also der Seelenwan- derung, eine zweite geht zu der guten Gottheit. 20 Ein Ausgleichsversuch ähnlicher Art begegnet uns auch in der Odyssee, wo erzählt wird, daß der Schatten des Herakles in der Unterwelt sei, sein eigentliches Selbst aber im Olymp bei den Göttern wohne. Doch steht dies Beispiel ganz vereinzelt da 2.> und scheint auf den Volksglauben keinen Einfluß 354 geübt zu haben.
Allerdings hat man auch in Griechenland alle drei Lehren gekannt, ja diejenige von dem Totenlande sogar in mehreren Aversionen; aber der Ausgleich 30 wurde teils in viel feinerer Weise geschaffen, teils brauchte man ihn nicht, weil die verschiedenen Theo- rien nacheinander auftraten und die jüngere immer die älteren zu verdräno^en strebte. Ganz ist ihr dies
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freilich nie gelungen, sondern teils im Volksaber- glauben, teils in den Kultgebräuchen haben sich immer große Keste des Alten behauptet.
Die Vorstellung, daß die Seele an den Leichnam
ö gebunden bleibe, ist jedenfalls die roheste und kann schon deshalb als die ursprünglichste gelten: für die Griechen ergibt sich dies zudem aus den Denkmälern, welche die Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte ans Licht gebracht haben. In Mykene sind Altäre ent-
10 deckt, die als große zylindrische Eöhren ohne jedes Fundament auf Gräbern stehn. Da sie keine obere Platte besitzen, konnte das Totenopfer, zu dessen Dar- bringung sie natürlich bestimmt waren, nicht auf ihnen verbrannt, sondern nur in ihre Höhlung hineingetan
15 werden und mußte dann, soweit es flüssig war, in die Erde einsickern, unter der die Leiche ruhte. Auch bei den ältesten Gräbern Athens hat sich die genau ent- sprechende Sitte nachweisen lassen, daß über ihnen große Vasen mit durchbohrtem Boden und hohlem
20 Fuße standen. Die Bedeutung hiervon verstehen wir, wenn wir folgendes von den Kongonegern hören. Sie stecken lange Eöhren in die Gräber, die bis zum Munde des Toten hinabreichen, um ihre flüssigen Weihe- gaben, vor allem Eum, den sie selbst am hebsten
25 trinken, dadurch hineinzugießen. Offenbar nehmen
'iß& sie also an, daß die Seele, der die Spende gilt, durch den Mund des Leichnams trinke. Von einer ähnlichen Anschauung müssen auch die Griechen der vor home- rischen Zeit ausgegangen sein; denn da sie meinten,
30 das Opfer erfülle am besten seinen Zweck, wenn es in die Erde des Grabes eindringe, so müssen sie sich dieses als Wohnsitz der Seele gedacht habeii.
Diese Art des Totenopfers ist später abgekommen : iiY^T daß es am Grabe dargebracht wurde, ist ge-
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blieben, aucli als man längst zu dem Glauben an ein unterirdisches Seelenland übergegangen war. Dem Hades schrieb man ganz bestimmte Eingänge zu. die man bald an den Enden der Erde im fernsten Westen, bald in gewissen unheimlichen Berghöhlen -> suchte, aber niemals in der Grabesöffnung als solcher. Daß man trotzdem so verfuhr, als ob jene Si)enden dem unsterblichen Teil des Menschen an der Ruhe- stätte seines Leichnams erreichbarer seien als an jedem 1>eliebigen Orte, war eine Inkonsequenz, wie sie lo in der religiösen Entwicklung sehr häufig sind. Noch mehr widersprach es dem neuen Glauben, wenn man vor den Gräbern als Stätten der Gespenstererschei- nungen und des bösen Zaubers auch ferner Scheu empfand, und doch ist dieses Grauen, das nur einen 15 Sinn hat, falls man sich die Geister der Abgeschiedenen bei ihren Leibern wohnend denkt, auch heute nicht ausgestorben. Mancher glaubt längst an kein Fort- leben der Seele mehr und kann sich doch, wenn er im Finstern oder bei dem unsicheren Schein des 20 Mondes allein über einen Friedhof geht, eines aber- gläubischen Schauers nicht erwehren.
Diese Tatsache ist für das Verständnis aller Eeli- gionsgeschichte so bedeutungsvoll, daß wir etwas länger dabei verweilen müssen. Sie zeigt uns, daß 2:> man eine wohlbegründete Überzeugung hegen und .%fi doch zuzeiten empfinden kann, als ob man sie nicht hegte, mit anderen Worten, daß das religiöse Emp- finden von dem religiösen Denken zwar nicht ganz unabhängig, aber auch keineswegs allein dadurch be- :w dingt ist. Man fürchtet sich vor Gespenstern, obgleich man bestimmt weiß, daß es keine Gespenster gibt: wie ist das zu erklären ?
Jedem ist es bekannt, daß uns ein Komplex von
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Bewegungen, zu denen es anfangs großer Anstrengung bedurfte, durch immer wiederholte Übung so gewohnt werden kann, daß wir üin zuletzt mechanisch aus- führen. Und der Einfluß solcher Gewohnheiten be- 5 schränkt sich nicht auf einen Menschen, sondern wirkt durch Vererbung auch auf seine Nachkommen- schaft. Die Kinder eines Akrobaten sind zwar keine Akrobaten, aber es fällt ihnen sehr leicht, dies zu werden, weil sie die Kunststücke, die ihr Vater sich
10 eingelernt hatte, schon halb instinktiv nachbilden. Wird dann dieselbe Art der Bewegung durch eine lange Eeüie von Generationen hin immer wieder geübt, so führt man sie zuletzt durch einen Xaturtrieb aus, der kaum noch zu unterdrücken ist. Sie wird zur Eeflex-
15 bewegung, die auf bestimmte Keize notwendig eintritt. ohne daß ein bewußter Wille noch dabei mitwirkte.
Ein naheliegendes Beispiel wird dies klarer machen. Xähert sich irgend ein Gegenstand mit großer Geschwindigkeit unserem Auge, so schließen
20 wir unwillkürlich die Lider. Dies ist eine zweck- mäßige Bewegung, da sie der leicht verletzHchen Pupille Schutz verleiht; wir unterlassen sie aber auch dann nicht, wenn wir mit Bestimmtheit wissen, daß uns von dem heraneilenden Körper gar keine Gefahr
25 droht. Selbst dif höchste Anspannung der Willens-
357 kraft, wie sie z. B. durch das Eingehen einer Wette hervorgerufen wird, reicht bei den meisten nicht aus, um gegebenen Falles jenes Flinken zu unterdrücken. Xun sind unsere gegenwärtigen Lebensverhältnisse
30 keineswegs derart, um einen so starken Instinkt in uns auszubilden; denn wie überaus selten kommt e.< noch vor, daß unser Auge wirklich bedroht wird ! Denken wir uns aber in jene fernen Zeiten zurück, da unsere Urahnen, noch ehe sie Menschengestalt
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trugen, den rauhen Urwald durchstreiften, so wird die Sache anders. Damals mußte man sich täglich durch verschlungene Zweige und dorniges Gestrüpp hindurcharbeiten, und wer die Gewohnheit des Pliu- kens nicht annahm, setzte sich der dringendsten Ge- 5 fahr einer Elendung aus. So ist eine Bewegung, die - unsere Vorfahren notgedrungen unzähligemal wieder- holen mußten, allmählich zum übermächtigen Instinkt geworden und hat sich als solcher auch bei uns er- halten, obgleich er schon seit Jahrtausenden nur aus- lo nahmsweise von Nutzen ist.
Die meisten Körperbewegungen sind zugleich Tätigkeiten des Geistes. Vor Insekten von unsicht- barer Kleinheit schließen wir die Augen nicht, avo- durch uns ihr Hineinfliegen oft recht lästig werden i.s kann. Auch jenes Flinken setzt also voraus, daß wir den Gegenstand, der unsere Pupille bedroht, wahr- nehmen, und jede Wahrnehmung ist etwas Geistiges, auch wenn sie nicht zum klaren Bewußtsein durch- dringt. Der unbewußte Wille, der das Sinken der 20 Lider bewirkt, ist die Eeaktion unseres Nervensystems gegen einen äußeren Eindruck. Nun kann alier bei Reizen anderer Art auch eine Eeaktion eintreten, die nicht in Körperbewegung übergeht, sondern sich nur als Gemütsstimmung äußert, und eben hieraus er- 2,> klärt sich unsere unausrottbare Gespensterfurcht. 35S Jahrtausende lang rief der Anblick eines Grabes bei unseren Vorfahren Schauer hervor, weil sie der Überzeugung waren, daß es eine Seele beherberge und dieS'e ein gefährliches Wesen mit übermenschlichen 3i> Kräften sei. Jener Schauer ist durch zahllose Wieder- holungen zum Instinkt geworden and bewahrt daher auch heute seine Kraft, obgleich seine Voraussetzungen ü'eschw linden sind.
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Viele führen die Gespenster furclit nur darauf zurück, daß man den Kindern so viele Märchen er- zähle, und meinen, sie werde sich von seihst verlieren, sobald diese unpädagogische Sitte aufhöre. Aber von
5 den Erzählungen, die in unseren Kinderstuben zu Hause sind, beschäftigt sich nur ein verschwindender Bruchteil mit Geistererscheinungen, und soweit meine Erinnerung reicht, ist keine darunter, die an Gräber und Kirchhöfe anknüpfte. Höchstens könnte man auf
10 die Geschichte vom Gruselnlernen verweisen; doch ist gerade diese kaum geeignet, das Gruseln zu lehren. Wenn trotzdem die meisten es nur zu rasch begreifen und bei aller Aufklärung ihr ganzes Leben lang nicht loswerden können, so beruht dies eben nicht auf
1.5 falscher Pädagogik, sondern auf ererbten Instinkten. Diese Vererbung ist in der Geschichte aller Reli- gionen ein Faktor von unübersehbarer Wichtigkeit. Sie allein erklärt es, warum man einem verrückten Aberglauben mit Gründen gar nicht beikommen kann
20 und er Jahrhunderte- und selbst jahrtausendelang sich voji Generation zu Generation fortschleppt, nach- dem er geistig längst überwunden ist. Gewisse Ge- dankengänge haben sich eben durch stets Aviederholte i^l)ung in ferner Urzeit so fest in den Kern des
25 menschlichen Wesens eingefressen, daß sie auch
359 später jeder vernünftigen Überzeugung zuwider er- neuert werden müssen, sobald die entsprechende Taste im Hirn angeschlagen wird. Und je älter solche Denk- instinkte sind, desto schwerer lassen sie sich über-
30 winden; sie halten daher die rohesten und primitivsten Anschauungen mit viel größerer Zähigkeit fest, als die höheren und gereifteren. Mit der Religion des Zeus und Helios, die schon eine sehr achtungswerte Stufe des Denkens repräsentierte, ist das Christentum in ein
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paar Jahrhunderten fertiggeworden; der viel ältere Gespensterglauhe dagegen lebt noch heute und wird noch sehr lange fortleben.
Doch kehren wir zu der Entwicklung der ältesten Seelentheorie zurück. Alles nach sich selbst zu be- 5 urteilen, ist noch heute das Kennzeichen des unge- bildeten Menschen. Das Kindesaltef der einzelnen wie der Völker zeigt sich daher immer von der Neigung- beherrscht, sich alle Gegenstände. ]>elebte und unbe- lebte, menschenähnlich vorzustellen, weil nur auf diese ii> Weise ihr Verhalten Erklärungen duldet, die den naiven Geist völlig befriedigen. So wird denn auch die Seelenlehre von dem Menschen auf alles andere übertragen, und wirklich ist sie hier nicht minder an- wendbar. Denn es gibt nichts, was uns nicht im 1.5 Traum erscheinen könnte, und seinen Schatten, der ja die Verkörperung der Seele darstellt, hat auch jedes sichtbare Ding. So belebt sich dem Wilden die ganze Natur mit Geistern; jedes Tier, jeder Baum, jeder St^in, ja jedes Werkzeug, das er selbst sicli 20 gefertigt hat, gewinnt sein übernatürlich Teil, das bewußten Wollens und Handelns fähig ist. Da auch diese Seelen, gleich der menschlichen, sich von dem Gegenstande, den sie belebten, ablösen und körj^erlos umher wandern konnten, so erhielt dieser eine Mittel- 2:. Stellung zwischen ihrem Leibe und ihrer Behausung. 86ft was namentlich für die spätere Glaubensentwicklung von Wichtigkeit werden sollte. Zeus oder Poseidon hätten niemals eine so persönliche Göttlichkeit er- langen können, wenn sie immer nur das Lebensprinzip so des Himmels oder des Meeres geblieben wären. Erst indem bei ihren Elementen der Begriff des Köri)ers durch den der Wohnung mehr und mehr in den Hinter- grund gedrängt wurde, konnten sie sich zu jener
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machtvollen Selbständigkeit erheben, die diese über- menschlichen Menschenbilder den Herzen der Griechen so nahe brachte.
Unter den ältesten Naturgeistern sind uns die :, J3ämonen der Pflanzen am besten bekannt, weil sich der Glaube an sie bei unseren Bauern bis auf den heutigen Tag erhalten hat. An ihnen wird sich daher die Art dieser Wesen am leichtesten begreifen lassen. Daß man sich Baumgeist und Menschenseele ganz
10 nah verwandt dachte, ja daß sie manchmal geradezu ineinander übergingen, ergibt sich aus folgendem: In Deutschland ist der Aberglaube weit verbreitet, daß, wenn jemand sich an einem Ast erhängt, das Gespenst des Selbstmörders in den Stamm einziehe
15 und so zur Seele des Baumes werde, der Werkzeug seines Todes war. Spuren einer ähnlichen Anschauung begegnen uns in mehreren griechischen Sagen, am deutlichsten bei dem ermordeten Polydoros. Als Aeneas auf dem Grabe desselben Zweige abreißt, da entströmt
20 ihnen Blut und aus dem Hügel tönt eine Stimme her- vor: „Was quälst und verletzest du mich? Ich bin dein Verwandter Polydoros!'^" Der abgeschiedene Geist belebt also durch eine Art von Seelenwanderung die Pflanzen, die seinem Grabe entsprießen. Freilich sah
25 man nicht in jedem Baumdämon die Seele eines Ver-
861 storbenen; aber daß man diese Gleichstellung, Avenu
auch nur in einzelnen Fällen, für geboten hielt, zeigt
doch die äußerst nahe Berührung jener beiden Begriffe.
Man dachte sich also die Pflanzengeister in
30 . menschlicher Gestalt, und zwar dem Eindruck gemäß, den Blumen und junges Grün hervorbringen, in einer freundlichen und anmutigen. Aber dieser Tendenz wirkte eine andere entgegen. Die Bäume erwiesen sich nicht nur als gütige Frucht- und Schatten-
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.Spender; im itngelichteten Urvvalde konnten sie mit ihrem dichten Gezweige dem Jäger manchen Schaber- nack spielen, ja wenn er sich in dunkler Nacht zwischen ihnen verirrte, zu sehr unheimlichen Ge- spenstern werden. Auch darin der Analogie des Men- 5 sehen folgend, betrachtete man den Wind, der ihre Blätter hob und senkte, als ihren Atem ; dieser aber machte sich nicht nur als kühlender Lufthauch be- merkbar, sondern auch als gefährlicher Sturm. Nach ■den zwiespältige]! Eindrücken, die der Wald auf das 10 menschliche Empfinden machte, sonderte man seine dämonischen Bewohner in zwei Klassen, deren Eigen- schaften man nach den Geschlechtern verteilte. Die weiblichen Nymphen oder Dryaden dachte man sich meist gutartig' und lieblich, die männlichen Pane. 15 Satyrn und Kentauren wild und boshaft oder doch zu allerhand peinigenden Neckereien geneigt. Wenn man sie sich gehörnt und behaart, mit Bocksbeinen oder Pferdeleib, kurz halb tierisch vorstellte, so sollte dies einerseits ihre unbezähmbare Eoheit zum Ausdruck 20 bringen, andererseits eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Naturobjekt herstellen, dessen Seelen sie waren.
Daß die Menschenseele aussah, wie der Mensch, in dem sie wohnte oder gewohnt hatte, stand fest, obgleich sie mitunter auch in Tierformen erscheinen konnte. 2.5 Daraus hätte -man folgern sollen, daß auch die Baum- 362 Seele die Gestalt eines Baumes haben müsse, wenn nicht der unbezwingiiche Anthropomorphismus aller Naturvölker diesen Gedanken getrübt hätte. Ganz auf ihn verzichten mochte man aber doch nicht. Da nun m an dem Baume seine Äste an Hörner erinnerten, die i-auhe Rinde und das Moos, das sie vielfach bedeckte, au struppiges Haar, so machte num die Baumdämonen y,\i Misch wesen aus Mensch und Tier. Auch den
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Xympheu hat man hier und da einen ausgehöhlten oder mit Rinde bewachsenen Rücken und grüne Haare beigelegt; doch trat diese Anschauung hinter der über- irdischen Schönheit, die man ihnen andichtete, meist
ö zurück. Immerhin wurde wenigstens bei Jenen Ko- bolden ein Kompromiß zwischen den beiden Forde- rungen der Baumähnlichkeit und der Menschenähn- lichkeit schlecht genug, aber dem Empfinden jener Zeit entspredend, hergestellt.
10 Nachdem man den Wald mit dämonischen Männ-
lein und Fräulein bevölkert hatte, konnte es nicht fehlen, daß sich zwischen ihnen auch zarte Verhält- nisse knüpften, die freiHch bei so ungeschlachten Burschen, wie die Baumteufel es waren, eine recht un-
15 zarte Form annahmen. Denn selbstverständhch waren sie in die Nymphen verliebt und stellten den spröden Schönen mit recht derber Zudringlichkeit nach. Da der Lufthauch ja der Atem der Bäume war und Atem und Seele begrifflich zusammenfielen, gingen ihre
20 Dämonen ohne jeden Gedankensprung in Windgeister über. Wenn also der Sturm den Wald durchfuhr und an dem zarten Laub der Bäume zauste, so sah man darin den Schwärm der Satjrrn oder Kentauren, die hinter den Dryaden herjagten und die Fliehenden an
■25 ihren langen Haaren zu packen suchten. Wie man
863 sieht, entspriclit diese Hetze genau unserer wilden Jagd, die in ihrer ältesten Form gleichfalls einem üppigen Weibe nachrast, und der lüsterne Waldschrat, den Gerhard Hauptmann aus den Kreisen des Volks-
:w aberglaubens in die gute Gesellschaft eingeführt hat. ist der Zwillingsbruder des griechischen Satyrn.
Bei der wilden Jagd stoßen wir zum erstenmal auf dasjenige, was man technisch Mythus nennt, d. h. auf die Darstellung von Naturerscheinungen als
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menschliche oder doch menschenähnliche Schicksale. Dabei muß sogleich vor einem Mißverständnis ge- warnt werden, das dem modernen Denken sehr nahe liegt. Im Sinne seiner Erfinder und ihrer Gläubigen ist der Mythus nicht Gleichnis oder Allegorie, son- 5 dern tatsächliche Wirklichkeit. Die sturmgepeitschten Bäume werden mit schönen Frauen, die vor täppischen Liebhabern fliehen, nicht etwa bloß verglichen, son- dern die Phantasie des Wilden sieht Nymphen und Satyrn leibhaftig vor sich. Wenn er sich im nacht- lo liehen Walde verirrt hat, sein unheimliches Eauschen hört und jeden Augenblick über eine Wurzel stolpert oder sich an einem Dorne ritzt, da vernimmt er deut- lich das Hohnlachen des neckischen Satyrs oder sieht den Kentauren als unsicher huschenden Schatten seit- i5 wärts durch die Bäume jagen. Die Schönheit der Mjrmphen erfüllt ihn selber mit phantastischer Sehn- sucht, und neidisch glaubt er wohl gar, seinem Nach- barn sei das geisterhafte Liebesglück zuteil geworden, von dem er vergeblich träumt. So entstehen die Mär- 20 chen von albischen Wesen, die sich mit Menschen ver- mählen oder auch in ihre Dienste treten imd über- schwängliches Glück ins Haus bringen, bis ein unvor- .sichtiges Tun oder Keden sie verscheucht. Aber dem Volksaberglauben sind es keine Märchen, sondern er 25 erzählt sie ganz treuherzig von diesem und jenem 364 Bauern oder Eitter, dessen Namen und Wohnort er bestimmt anzugeben weiß. Freilich ist die Geschichte überall dieselbe und doch die Namen überall ver- schieden; aber auch wer dies in Erfahrung bringt, so wird dadurch in seinem Glauben gar nicht gestört ; denn warum sollte ein so wahrscheinlicher Vorgang sich nicht an mehreren Orten zugetragen haben? Wo das Leben so mit Träumen und Visionen erfüllt ist, wie
1. Der Animismus. 369
bei den Wilden, da wird das Übernatürliche am lieb- sten geglaubt und nacherzählt. Da alles, was dem Laub oder Holz der Bäume widerfährt, auch von ihrer Seele empfunden wird, da diese Seele menschenähn- 5 liehe Form besitzt und ganz menschlich empfindet, so versteht es sich ja eigentlich von selbst, daß man Jeden Naturvorgang als menschliches Schicksal auf- fassen kann.
Denn, wie schon gesagt, nicht nur Bäume und
10 Winde sind beseelt, sondern jeder beliebige Gegen- stand. Wenn der Hausherr gestorben ist, pflegt man es noch jetzt in England den Bienen mitzuieilen, bei denen man also ein menschliches Verständnis dafür voraussetzt. In einigen Gegenden Deutschlands sagen
15 es die Bauern in feierlicher Form jedem Bienenstock, jedem Stück Vieh, ja selbst jedem Getreidesack. Ein Indianer hatte von Kindheit an besondere Vorliebe für einen gewissen Stern gehabt; als er einmal auf der Jagd war und nichts erbeuten konnte, kam, wie
■20 er später erzählte und wahrscheinlich selbst glaubte, jener Stern in Jünglingsgestalt zu ihm herab und führte ihn an einen Ort, wo es Wild im Überflusse gab. Eine indianische Frau behauptete, der Mond sei ihr. als schönes Weib mit einem Kind auf dem
25 Arme begegnet und habe sie um Tabak und Pelz-
S65 kleider angebettelt. Auf den Aleuten meint man, wer den Mond lästere, dem werfe er Steine auf den Kopf. Kurz es ist überall und bei allen Dingen dasselbe. Selbst daß man die segensreiche Wirkung durch weib-
30 liehe, die schädliche durch männHche und halb tierische Gestalten verkörpert, wiederholt sich auch auf anderen Gebieten. Dem Griechen war die Seele des tränken- den und erfrischenden Quells eine liebliche Najade. der Fluß dagegen, der ihm viel weniger nützte, als S II 24
370 IV. Religion und Sittlichkeit.
durch seine Überschwemmungen Schaden stiftete, erscheint als stierleibiges Ungetüm mit bärtigem, ge- hörnten Mannesgesicht.
Wie sich die Seelen Verstorbener oft in Pflanzen niederlassen, so können auch in andern Gegenständen .-, dieselben Geister oder auch Dämonen anderer Art ihren Wohnsitz aufschlagen. Hierauf beruht die Form des Kultus, die man Fetischismus nennt. Man denkt sich einen mächtigen Geist in einem Stein, einem Holz- klotz, einem Amulett oder einem beliebigen anderen lo Dinge eingekörpert und verehrt dieses Ding als den zeitweiligen Leib der Gottheit. So machen es noch heute die Neger, so haben es auch die Griechen ge- macht. In ihren ältesten Tempeln standen noch in spätester Zeit rohe Steine oder plumpe Bretter, in 15 denen Apollon oder irgend ein anderer Gott hausen sollte, und in unübersehbarer Zahl waren Kultgegen- stände dieser Art über alle Felder, Wiesen und Haine verbreitet.
Eine besondere Stellung unter den Fetischen 20 nehmen die Tiere ein, die in der Eeligion der Ägypter die bedeutendste Rolle gespielt haben, aber auch der griechischen nicht fremd waren. Der Gedanke, ihnen eine Seele zuzuschreiben, liegt noch näher als bei den unbelebten Gegenständen. Vollzieht sich doch ihr 2.^ Tod ganz in derselben Weise, wie beim Menschen. S6(> und auch ihre Lebensäußerungen sind oft den seinen so ähnlich, daß man auf eine treibende Kraft von nah verwandter Art schließen muß. Zugleich aber nimmt man auch an ihnen Instinkte und Fähigkeiten :w wahr, die uns fremd und geheimnisvoll erscheinen und leicht den Eindruck hervorrufen können, als wenn eine übernatürliche Macht in ihnen tätig wäre. So bemerkte man oft, daß Hunde winselten oder Pferde
1. Der Animismup. 371
ijcheuten. wo der Mensch nichts Auf f älHges wahrnahm, und folgerte daraus, die Tiere vermöchten Geister zu sehen, die sich menschlichen Augen verhargen. Man schrieb ihnen daher weissagende Kraft zu und sah 5 oft in ihnen den Leih, in den ein mächtiger Gott sich eingekörpert hatte. Der Stier Apis, der die Seele des ägyptischen Sonnengottes in sich trug, ist das bekannteste Beispiel; doch auch den heiligen Tieren, die jedem der griechischen Götter eigen waren, lag
Hl ursprünglich wohl ähnliche Bedeutung zugrunde. Bei den meisten ist sie später zwar geschwunden, und sie sind zu einfachen Attributen ihrer Gottheiten herabgesunken; nur bei einem blieb sie zu allen Zeiten bewahrt : das war die Schlange. Ihre flinke Bewegung
iö ohne Hilfe irgend welcher Gliedmaßen, die Geräusch- losigkeit ihres Erscheinens und Verschwindens, die furchtbare Kraft ihres Bisses mußten ihr einen be- sonders gespenstischen Charakter verleihen ; dazu kam, daß sie sich kalt anfühlte, wie ein Leichnam, und
•30 in der Erde bei den Toten hauste. In diesem Tiere hat man daher bei sehr vielen Völkern eine Ver- körperung der Seele zu erkennen gemeint und ihm eine wunderbare Klugheit zugeschrieben, obgleich es in Wirklichkeit ein sehr hirnloses Geschöpf sein soll.
25 Die unschädlichen Nattern, die sich gern bei den
■S67 Menschenwohnungen aufhalten, wurden so auch von den Griechen als freundhche Dämonen verehrt, und oft galten sie als Vertreter großer Gottheiten. In Epidauros betete man hoch in spätester Zeit eine große
-30 Schlange als Inkarnation des Asklepios an, und von Olympias, der Mutter Alexanders, wurde erzählt, ein Gott habe sie nächtens in Schlangengestalt besucht, um mit ihr den Welteroberer zu erzeugen.
Dieser bunt-en Geisterwelt gegenüber, die ihn von
3?2 IV. Religion und Sittlichkeit.
allen Seiten übermächtig umgibt, empfindet der Mensch viel mehr Furcht und Grauen als Liebe und Verehrung. Am deutlichsten spricht sich dies in dem weitverbreiteten Aberglauben aus, das Erblicken eines dämonischen Wesens bringe Tod. Unsere Matrosen v meinen noch immer, daß, wenn sie den Klabauter- mann, der durchaus kein böser Geist ist, mit leib- lichen Augen wahrnehmen, sie unfehlbar ertrinken müssen, und wer zum Danke für ihr Bad den Gott- heiten des Meeres oder eines Heilquells ein Kupfer- lo stück opfert, der muß es rückwärts über die Schulter werfen, damit er nicht zufällig den auftauchenden Dämon sehe. Diese Sitte befolgt man noch heute, und doch ist sie so alt, daß sie bei den Griechen schon in den Zeiten Homers zum unverstandenen u Überlebsel geworden war. Auch dem Odysseus wird befohlen, daß er den Sehleier der Leukothea rück- wärts und ohne sich umzuschaun, ins Meer werfe; doch von dem Anblick der Göttin kann ihm keine Gefahr drohen, da er sie ja schon vorher gesehen hat. Jenen 20 Befehl erhält er also nur, weil es einmal Brauch ist, so mit Nixen umzugehn ; warum, weiß der Dichter ■^«Ibst nicht mehr.
Dieses Grauen vor der Geisterwelt liegt tief in der menschlichen Natur begründet. Denn geht es uns 25 gut, so forschen wir nicht nach einer Ursache, sondern S68- betrachten es als selbstverständlich; wenn man da- gegen Unglück hat, so hält man dies für abnorm, und ängstlich wird nach einem Gründe gesucht, den der 1 ingeschulte Geist dann am liebsten in dämonischen so Einwirkungen findet. Hieraus ergab sich von selbst, daß die geistigen Wesen vorzugsweise als Unheilstifter oder doch als neckende Kobolde erschienen. Vor allem schrieb man ihnen jede Krankheit zu, weil deren tat-
1. Der Animismus. 373
sächliche Ursachen am schwersten zu entdecken sind. Bei dem Wahnsinnigen nahm man an, daß eine Nymphe oder ein Gespenst in ihn gefahren sei und durch seinen Mund rede ; bei inneren Schmerzen sogen -> böse Geister das Blut des Kranken oder fraßen an seiner Leber; beim Alpdrücken wurden Männer durch eine feindliche Seele gewürgt, Weiber von einem lüsternen Waldteufel heimgesucht. Aber mit jenen angstvollen Schauern stritten doch auch freundlichere
u> Gefühle. Waren Schönheit und Nutzen eines Gegen- standes so augenscheinlich, wie bei Quellen und Frucht- bäumen, so schrieb man auch dem Geiste, der ihn bewohnte, eine gütige Gesinnung zu. und bei ver- storbenen Freunden und Verwandten konnte man
16 voraussetzen, daß sie das gleiche Wohlwollen, wie sie es im Leben gezeigt hatten, auch über das Grab bewahren würden. Jeder kennt die uralte, immer wiederholte Sage von der toten Frau, die alle Nächte in ihr Haus zurückkehrt, um ihres Kindleins zu
20 pflegen. Ein Kongoneger soll seine Mutter nur aus
• dem Grunde umgebracht haben, weil sie ihm als Geist viel mehr nützen könne, denn als schwaches altes Weib. So tritt denn vor allem im Totenkult bei sehr vielen Völkern eine sonderbare Mischung von Grauen und
^ Zuneigung hervor; namentlich ist die Sitte weit ver-
36d breitet, die Verstorbenen der Familie an einem be- sonderen Totenfest im Hause zu bewirten, dann aber die unheimlichen Gäste reöht grob zur Tür hinaus- zujagen. Die Litauer schlössen jenes Fest mit dem
30 Spruche: „Genug habt ihr gegessen, genug getrunken, liebe Seelchen; begebt euch wieder zurück zu euren Sitzen!" und aus Athen ist uns der uralte Vers über- liefert :
Hinaus, ihr Keren, aus ist jetzt das Totenfest!
374 IV. Religion und Sittlichkeit.
womit man die Seelen nach geschehener Bewirtung aus dem Hause komplimentierte.
Denn einer Bewirtung hedürfen sie auch nach dem Tode. Mögen die Geister auch ühernatürliche Kräfte besitzen, so bleibt ihre Menschenähnlichkeit »• doch auch darin bewahrt, daß sie weder den mensch- lichen Bedürfnissen entrückt, noch über menschliche Freuden erhaben sind. Man ist also imstande, ihnen Gutes zu erweisen, und darf dann auch von ihrer Dankbarkeit erwarten, daß sie es mit Gutem vergelten lo oder wenigstens das Schadenstiften lassen werden. So bringt man denn den Geistern, mögen sie nun teuren Verstorbenen angehören oder Bäume. Steine, Quellen beleben, seine Huldigungen dar, damit sie ihre wunderbaren Kräfte in den Dienst ihres Anbeters ifr stellen. Die Mittel, ihre Gunst zu erwerben, sind ganz dieselben, wie man sie auch bei einem sterblichen Gönner anzuwenden hätte. Selbstverständlich ist die Gottheit ebenso eitel und schmucksüchtig, wie ihre wilden Verehrer; sie sieht es daher gerne, wenn man 20 den Stein oder Baum, der ihren Körper bildet, mit Blumen, Laubgewinden oder bunten Bändern aufputzt, und wer sie lästert, dem kann sie sehr böse werden. Das Verbot, von den Toten Schlechtes zu reden, das noch heute als Sprüchwort fortlebt, hat seinen Ur- 35 Sprung nicht in liebender Pietät, sondern in der 870 Furcht . vor ihrer Geisterrache. Auch für die Be- lustigung der Dämonen wird gesorgt: man macht sie zu Zuschauern bei Wettspielen, hält vor ihnen Auf- züge und Tänze oder singt ihnen etwas vor. Bei den 30 Germanen und Slaven pflegte man den noch unbe- grabenen Leichnam, an den die Seele ja gebunden war, sogar mit komischen Geschichten von oft recht aweideutiffem Inhalt zu amüsieren ; der Tote wollt-e
1. Der Animisnins. 375
eben lachen, wie es der Lebende gern getan hatte. Damit dem Geiste ein angenehmer Duft in die Nase steige, verbrannte man vor ihm wohlriechende Kräu- ter; vor allem aber fütterte und tränkte man ihn.
ö Denn auch die luftigen Wesen, die ebenso im Menschen wie in allen Gegenständen der Natur ihre Behausung haben, sind der Nahrung bedürftig und müssen hungern und dürsten, wenn man ihrer vergißt. Aus diesem Grunde legte Jeder Grieche den höchsten Wert
10 darauf, bei seinem Tode einen Erben zu hinterlassen, der ihm die letzten Ehren erwies und auch ferner in angemessenen Zwischenräumen seiner Seele Trank und Speise darbot. Diese sind genau dieselben, wie sie der Sterbliche selbst genießt; denn auch darin beurteilt
1.5 der Wilde seine Götter nach sich selbst, daß er an- nimmt, was ihm am besten schmeckt, müsse auch ihr Lieblingsgericht sein. Nur kommt es oft vor, daß Speisen, die aus dem menschlichen Gebrauche schon verschwunden sind, doch aus alter Gewohnheit noch
•20 der Gottheit vorgesetzt werden, wie ja überhaupt der Kultus zäh an den Bräuchen der Väter zu haften pflegt. So ist das Menschenopfer ohne jeden Zweifel aus dem Kannibalismus hervorgegangen, hat ihn aber bei den meisten Völkern, z. B. bei unseren eigenen
25 Vorfahren, um viele Jahrhunderte überdauert.
571 Auf solche Art sorgte man für das Vergnügen der Geister oder befriedigte ihre Bedürfnisse. Manchmal aber glaubte man noch besser auf steine Rechnung zu kommen, wenn man ihnen nicht ohne weiteres gab,
30 sondern lieber ihre Habgier reizte. Auf dieser An- schauung beruht das Gelübde, das nichts anderes ist, als ein Kontrakt zwischen Mensch und Gott. „Gibst du mir das, so werde ich dir jenes geben." Der Gegen- stand solcher Versprechungen sind in der Regel Opfer,
376 IV. Religion und Sittlichkeit.
aber auch Spiele, Prozessionen und andere Seelen- belustigungen. Hat die Gottheit das Erbetene getan, so darf man sein Wort nicht brechen, ohne ihren Zorn fürchten zu müssen; wohl aber kann man sie be- trügen, indem man es nur wörtlich, nicht dem Sinne r, nach erfüllt. Wenn man z. B. Köpfe gelobt hat, darf man Zwiebelköpfe darbringen statt der erwarteten menschlichen. Ist so dem göttlichen Spender sein buchstäbliches Kecht geschehn, so kann er einem nichts anhaben; die Geister des Animismus gleichen eben n» alle dem dummen Teufel unseres Märchens.
Wer sein Milchtöpfchen am Grabe eines lieben Verstorbenen aufstellte oder seinen Breikloß darauf niederlegte, der mußte freilich oft bemerken, daß die Speise unberührt blieb oder von Vögeln und i:> Mäusen gefressen wurde; aber auch dies konnte die allbereite Seelenhypothese erklären. Die Seelen aßen eben nur die Seele der Speisen; ihr grober Stoff blieb zurück, wie der Leichnam beim Ausfahren seines geistigen Wesens. Jene Speiseseele finden einige i<t Völker im Duft, andere in der Wärme, bei Brand- opfern im Kauch. der Ja beides in sich vereinigte und den daher die homerischen Götter mit solchem Genuß einatmen. Ohne die Geister zu berauben, konnte man, was sie übrig heßen, selbst aufessen, falls nicht 2& die Nahrungsmittel durch ihre Weihung irgend eine 172 gespenstische Eigenschaft erhalten hatten, die sie dem Sterblichen gefährlich machte. Daher pflegten die Griechen wie die Inder, was sie den Unterirdischen und andern Mächten von unheimlicher Art darbrachten, *> ganz zu verbrennen, während die Opfer für die lichtea Gottheiten immer zu fröhlichen Schmausen wurden.
Gesänge und Spiele, Opfer und Gelübde gewinnen den Ernten Willen der Geister und machen sie in der
1. Der Animismus. 3? 7
Kegel geneigt, die Wünsche der Sterblichen zu er- hören ; mitunter aber versagt die Kraft solcher Gaben. Dann sucht man wohl auch auf die Gottheit, die im Guten nicht hören will, mit Drohungen und Strafen
5 einzuwirken, wie die Arkader. in deren Bergeinsam- keit sieh die alten Sitten besonders lang erhielten, die Idole ihres Pan, wenn er widerspenstig war, abzu- prügeln pflegten. Aber auch so drastischen Mitteln gegenüber bleibt es den Geistern unverwehrt. ihre
10 Hilfe zu weigern. Der Unglückliche, der lange ver- gebens zu ihnen gefleht hat, sucht daher in seiner Angst nach wirksameren Künsten, die ihm eine zwingende Gewalt über die Dämonen verleihen sollen, und weil er danach sucht, so meint er auch.
15 sie müßten vorhanden sein, nur daß sie ihm selbst noch Geheimnis sind. So bildet sich der Begriff des Geisterzwanges, d. h. der Zauberei. Diese wird immei- nur von einzelnen geübt, denen man ein höhere.« Wissen zutraut, als die gemeine Menschheit besitzt.
-20 Der Inhalt desselben besteht darin, daß sie von dem Wesen der Dämonen genauere Kunde haben, vor allem ihre wirkHchen Namen wissen, die sonst vor jedermann verborgen sind. Denn wenn die Geister bei diesen angerufen werden, so können sie nicht
25 iinders als gehorchen. Dazu kommt dann noch eine
373 große Anzahl von Zeremonien. Sprüchen, Liedern und Beschwörungen, denen man gleichfalls eine ge- heimnisvoll zwingende Kraft beilegt. Auf diese Weise eröffnet sich jenes weite Gebiet des frommen Betruges,
30 dessen Macht auch unter uns noch nicht ganz ge- schwunden ist. Freilich sind diejenigen, welche ihn ausüben, meist betrogene Betrüger; denn keiner pflegt ernster an die Wirkung der Zauberei zu glauben, als die Zauljerer und Hexen selbst.
378 IV. Reügion imd Sittlichkeit.
Der erste Fortschritt der Theorie besteht in einer Inkonsequenz. Die Lehre, daß jeder Gegenstand ohne Ausnahme eine Seele besitze, die sich für die Ver- letzung ihres Körpers rächen könne, umgibt den Men- schen von allen Seiten mit abergläubischen Schrecken 5. und schränkt seine freie Bewegung gar zu sehr ein, als daß ein Volk von der Lebensfreudigkeit des grie- chischen sie auf die Dauer hätte ertragen können. Auch lehrte ja die tägliche Erfahrung, daß man so manchen Baum umhauen, so manches Tier töten 10 konnte, ohne davon böse Folgen zu verspüren. Man beschränk ife daher die Verehrung auf einzelne Tiere, die durch besondere Kennzeichen auffielen, auf einzelne Bäume oder Steine, denen man die Erhörung früherer Gebete zuschrieb und die daher schon einen regel- 15 mäßigen Kultus genossen. Manche Haine wurden auch als Ganzes geheiligt, und den Pilanzenwuchs der Grä- ber, in dem man die Seele des Verstorbenen gegen- wärtig meinte, schonte und hütete man. Den anderen Gegenständen wird man ihre Dämonen nicht gerade 20 abgesprochen haben, aber man ignorierte sie, anfangs wohl noch mit stillem Schauer, dann gewohnheits- mäßig, und endlich kamen sie ganz in Vergessenheit. Und indem diese Kleingeister für den Glauben mehr in den Hintergrund traten, wurde denjenigen eine 374 größere Verehrung zugewandt, denen nach der Natur des Körpers, den sie beseelten, ein weiterer Wirkungs- kreis zukam. Wie allen sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen, so hatte man auch dem Feuer, den Ge- stirnen, dem Meere, der Nacht, der Erde, dem Himmel 2& beherrschende Geister zugeschrieben. Diese wenigen Dämonen von hervorragender Bedeutung wurden jetzt im Kultus vor den tausend und aber tausend Seelen der Menschen. Quellen, Bäume und Steine bevorzugt.
1. Der Animismus. 379
Der Götter kreis, der später den griechischen Olymp bevölkern sollte, hegann langsam sich aus der Masse der geistigen Wesen auszusondern.
Das halb unbewußte Bestreben, den Umfang und 5 die unendliche A^erbreitung des überall drohenden Geisterheeres einzuschränken, hat wohl auch dazu ge- führt, daß man die Seelen der Verstorbenen aus der bewohnten Welt in ein besonderes Totenland verwies. Doch kam noch ein anderer psychologischer Grund
10 hinzu, um diese Tendenz zu unterstützen. Da die Neigungen des Menschen in seinem abgeschiedenen Geiste fortdauerten, setzte man voraus, daß dieser für die Gegenstände, an denen das Herz des Lebenden gehangen hatte, auch nach dem Tode eine Vorliebe
15 bewahre und sich gern in ihrer Nähe aufhalte. Der Wunsch, unheimliche Gespensterbesuehe zu vermeiden, wurde so zur ersten Ursache, warum man den Toten, was ihnen das Liebste gewesen war, ins Grab mitgab ; aber wie bei dieser Art Kultus Grauen und Zuneigung
80 immer Hand in Hand gehen, so bewirkte die Liebe zu dem teuren Abgeschiedenen, daß man jene Gaben immer reicher und mannigfaltiger gestaltete. Bei vielen Völkern werden einem angesehenen Häuptling seine Waffen und sein kostbarster Schmuck, seine
375 Lieblingspferde und -hunde nebst einer angemessenen Zahl von Sklaven im Tode nachgeschickt, ja bei den Patagoniern soll es sogar übHch sein, daß sie den ganzen Viehstand jedes Verstorbenen hinschlachten. Für ein Volk, dessen einziger Eeichtum in seinem
30 Vieh besteht, wird dadurch natürlich die Ansammlung größerer Vermögen ganz verhindert und jeder Fort- schritt der Kultur unterbunden. Soweit sind die Griechen nie gegangen; aber welche entsetzliche Ver- geudung an Gut und Menschenleben ein vornehmes
380 IV. Religion und Sittlichkeit.
Leichenbegängnis auch bei ihnen herbeiführen konnte, davon zeugt die Bestattung des Patroklos, wie sie die homerischen Gesänge nach tatsäehhchen Vorbildern darstellen. Anfangs mochte man sich bei jenen Gaben nichts an'fieres denken, als daß man damit die ge- s spenstische Wiederkehr des Toten abwehre und ihm zugleich etwas Liebes erweise; unwillkürlich aber mußte sich damit die Vorst-ellung verknüpfen, daß sie doch auch für die Seele irgend welchen Gebrauchs- wert hätten. Wenn nun der verstorbene Häuptling lo von zahlreicher Bedienung umgeben sein und seine Hunde und Pferde benutzen sollte, mußte man ihm dazu einen geräumigeren Wohnsitz anweisen, als das enge Grab, an das nach der ältesten Anschauung der Aufenthalt der Seele geknüpft war. So scheint der u Begriff des Totenlandes entstanden zu sein. Da der Verstorbene Güter und Gefährten seines früheren Daseins zu fernerem Genüsse mit sich nahm, konnte er nicht wohl als einsames Gespenst umherschweifen, sondern mußte jenes frühere Dasein in irgend einer '20 Weise fortsetzen. Und den höheren Kräften gemäß, die den Seelendämon vor dem sterblichen Menschen auszeichneten, mußte jenes neue Leben ein über das irdische erhobener Zustand sein.
Die frühesten Vorstellungen der Griechen von 376 jenem Totenlande haben sich uns im Phaeakenmythus erhalten, den die rationalistische TJmdeutung einer S]mteren, minder gläubigen Zeit freilich ganz ins Menschliche herabgezogen hat. Der Name der (puiaxac bedeutet die Grauen, d. h. die Schattenhaften. Sie 90 sind ausgewandert aus Hypereia, das ist seinem Wort- sinne nach die Oberwelt, und wohnen dann an den Enden der Erde, fern von allen Sterblichen, auf einer Insel des Westens. Daß gerade diese Himmelsrichtung
1. Der Animisraus. 381
gewählt ist, hängt mit dem Sonnenuntergänge zu- sammen, den man, wie wir später sehn werden, als ein tägliches Sterben des Sonnendämons betrachtete. Wo dessen himmlische Seele einkehrte, da meinte 5 man, müsse auch der Aufenthalt für die befreiten Geister der Menschen sein. Diese sind überreich an jeder Art von Schätzen, hausen in prächtigen Palästen und verbringen ihre Tage mit Kampfspiel und Tanz, Gesang und Schmaus, wie ein Sterblicher es nur in
10 seinen kühnsten Träumen wünschen kann. Ihr Da- sein ist also ungefähr dasselbe, wie bei den germa- nischen Eecken in ihrem' Walhall.
So war das, finstere Gespensterheer, vor dem die Urzeit der Griechen gezittert hatte, in ein seliges Jen-
15 seits verwandelt, und ganz ist dieser tröstliche Gedanke nicht untergegangen, wie sein Wiederauftauchen in dem Elysion einer noch späteren Zeit beweist. Einst- weilen aber konnte er die alte dumpfe Geisterfurcht noch nicht ganz überwinden und maßte bald einer
10 neuen Auffassung des Totenlandes weichen, die nicht an jene glückliche Insel im Westen, sondern an das dunkle Grab anknüpfte. Auch hierin zeigt es sich, daß die rohesten und primitivsten Anschauungen am längsten ihre Macht bewahren und die gereifteren,
877 die ibnen entgegentreten und sie zeitweilig zurück- drängen, sehr viel leichter verschwinden.
Ehe wir aber auf jene zweite Umgestaltung der Lehre vom Jenseits näher eingehn, müssen wir eine viel tiefer greifende Eevolution des griechischen Glau-
-•w bens besprechen, die, wie wir meinen, mit jener Hoff- nung auf die selige Insel im engsten Zusammenhange steht. Es ist der Übergang vom Animismus zum Sonnenkultus.
Zweites KapiteL
Der Sonnenglaube.
Sobald der Animismus dazu gelangt war, allen 878 Gegenständen der Natur menschenähnliche Seelen zu- zuschreiben, müssen auch Sonne, Mond und Sterne ihre Dämonen erhalten haben; es lag dies eben in der Konsequenz der Lehre. Unsere arischen Vorfahren 5 sind vielleicht noch weiter gegangen; lange vor der Entstehung eines Griechenvolkes scheinen sie in der Abstraktion schon bis zu der Höhe aufgestiegen zu sein, sich die ganze Erde und das ganze Himmels- gewölbe als belebte, persönliche Einheiten zu denken. 10 Aber diese hohen Mächte beschäftigten damals noch die Phantasie des Wilden viel weniger, als die Tau- sende kleiner Dämonen, die ihn in unmittelbarer Nähe umgaben, ihm als Gespenster und Träume er- schienen, sich als Vampyre von seinem Blute nähr- 15 len oder, in Steinern und Amuletten eingekörpert, ihm Glück brachten. Etwas näher standen ihm die Himmelslichter; docii schätzte man an ihnen nament- lich das negative Verdienst, daß sie die bösen Geister der Finsternis verscheuchten. Man denke sich einen 20 verspäteten Jäger oder Hirten im nächtlichen Ur- walde, der ängstlich der Heimat zustrebt und sich da- bei nur immer tiefer in die pf ad lose Wildnis verirrt.
2. Der Sonnenglanbe. 383
379 und man wird diese Anschauung verstehen. Greht er vorwärts, so stolpert er bei jedem Schritt oder zerreißt sich Kleider und Haut an den Dornen; sitzt er still, so hört er nur deutlicher die grausen Stimmen des 5 Waldes, und seine Phantasie zaubert ihm tausend Schau er gestalten vor. Wenn er ein Feuer entfachen kann, so ist er wenigstens die blinden Schrecken los; der flammende Brand gilt daher noch heute dem Volksglauben als ein Mittel, um Dämonen zu ver-
10 scheuchen. Den Heimweg aber öffnet ihm erst die lichte Dämmerung, deren Verkünder, den Morgenstern, er daher freudig als göttlichen Nothelfer begrüßt. In diesem Sinne nahmen die rettenden ZwilHngsbrüder, die bei den Griechen Dioskuren, d. h. Himmelssöhne,
15 bei den Indern Asvin genannt und als Morgen- und Abendstern gedacht waren, in der Mythologie des arischen Urvolkes eine so wichtige Stelle ein. Auch an dem Sonnengotte schätzte man damals nichts höher, als daß er mit seinem Licht-e dem Verirrten den
20 rechten Pfad zeigte. Daher tritt das Wegweiseramt in Griechenland bei Hermes und Apollon, in Indien bei Puschan so bedeutsam hervor.
Nicht viel weniger erregte eine zweite Eigenschaft des Gottes die Phantasie der Wilden. Den Nacht-
25 gespenstern, vor denen sie sich zitternd verkrochen, trat er mit seinen Flammenpfeilen kühn entgegen und schlug sie siegreich in die Flucht. Als Schützer und Freund der Nymphen bekämpfte er ihre lüsternen Verfolger, die starken pferdeleibigen Kobolde des
30 nächtlichen Waldes. Er wurde daher zum unbezwing- lichen Helden unter den Göttern, zum Vorbilde jedes tapferen Kriegers, das man in Schlachtennot um Hilfe anrief. So hat sich der indische Kriegsgott Indra, der römische Mars aus dem Sonnengott ent-
384 IV. Religion und Sittlichkeit.
wickelt, und auch bei den Griechen sind fast alle For- ^ rnen desselben kampfesfreudige Jünglinge.
Daß auch der Pflanzenwuchs und der Wechsel der Jahreszeiten von der Sonne abhängen, war damals noch kaum bemerkt Avorden; denn es gehört schon 5 eine recht eindringende Beobachtung dazu, um in der Verschiedenheit der Sonnenhöhen den Grund der ab- und zunehmenden Wärme zu erkennen. Desto leb- hafteren Anteil nahm man an dem Tageslauf des Gottes, den man, wie das Verhalten der Bäume im lo Sturm, natürlich nach menschlichen Analogien deutete. Als das Wunderbarste daran erschien es, daß die Sonne nicht von der Stelle wiederkam, wo man sie hatte verschwinden sehen, sondern gerade von der entgegengesetzten Seite des Himmels. Da man keine 1» Erklärung dafür fand, wie sie den weiten Zwischen- i'uum ungesehen durchlaufen könne, nahm man an, sie sterbe jeden Abend und jeden Morgen werde eine neue Sonne geboren. Auf die Identität des Gottes in jeder seiner täglich wiederholten Erscheinungen 20 brauchte man darum nicht ganz zu verzichten. Wenn sein flammender Leib verging, konnte doch seine Seele am Leben bleiben und in dem wiedergeborenen Körper aufs neue ihren Wohnsitz nehmen.
Dieses ewige Sterben und Auferstehen ist in einem 2,> höchst merkwürdigen Mythus dargestellt, der bei den Griechen zwar erst in relativ später Zeit nachweisbar ist, aber, nach seiner primitiven Eoheit zu schließen, uralt sein muß. Die Titanen, d. h. die Dämonen der Finsternis, zerreißen ihren Gegner Dionysos in 30 kleine Stücke. Dies soll offenbar eine Erklärung dafür bieten, daß nach dem Verschwinden des großen Lichtkörpers eine unzählige Menge von kleinen am Himmel auftaucht; man hielt eben die Sterne für
2. Der Sonnenglaube. 385
381 Partikelchen des zerstörten Sonnenleibes. Aber das Herz des toten Gottes wird gerettet und von seinem Vater Zeus gegessen. Nun haben wir schon gesehen, daß das Herz als Sitz der Seele galt. Diese also ö nimmt der Himmelsgott in sich auf, indem er ihre sterbliche Wohnung verzehrt, und wenn er den neuen Sonnengott erzeugt, flößt er ihm aus seinem eigenen Innern die alte Seele ein.
Diese Form des Mythus haben die Griechen wahr-
lu scheinlich durch das Nachbarvolk der Thraker emp- fangen, in deren ursprünglicher Eoheit sich ein solcher Eest primitivsten Denkens reiner erhalten konnte. Aber wenn sich in ilirer eigenen Mythologie mehr als einmal das Motiv wiederholt, daß ein Vater
15 seinenSohn aufißt oder kocht, so beiKronos,Thyestes, Tereus, Tantalos, so verrät sich darin deutlich, daß jene thrakische Anschauung auch ihrer Urzeit nicht fremd gewesen ist. Auch bei den Persern kehrt sie in dem Mythus des Harpagos, der mit der Jugend-
20 geschichte des Kyros in eine quasihistorische Verbin- dung gebracht ist, in sehr ähnlicher Gestalt wieder, und in dem Märchen vom Machandelboom hat sie sieh auch bei uns Deutschen erhalten.
Daß man die Sonne zum Kinde des Himmels
25 machte, ist leichtverstänlich. Nun hatte aber dieser zwei verschiedene Gestalten als Tag- und als Nacht- himmel, und in letzterer Eigenschaft konnte er zum Zeus der Unterwelt, also geradeeu zum Nachtgottc werden. Das Licht geht aus der Finsternis hervor ;
30 mithin lag es nahe, den Vater des Sonnengottes in jener dunkeln Form des Zeus zu erblicken. Da nun immer wieder die Nacht durch die Sonne und die Sonne durch die Nacht vernichtet wurde, gelangte man zu dem Schlüsse, daß Vater und Sohn feindliche S II 25
386 IV- Religion und Sittlichkeit.
Mächte seien. So entstand der rührende Mythus von S82 ihrem Kampfe, der in unserem Hildebrandsliede nach- klingt. Bald wird der finstere Alte von dem Jungen Helden erschlagen, wie Laios von Oedipus oder der indische Twaschtar von dem Indrakinde, bald er- 5 schlägt er ihn, wie der, persische Rüstern den Surab. Beides wiederholt sieh ja täglich, so daß die Geschichte je nach dem Standpunkte des Erzählers so oder so gewendet werden konnte.
Neben diesen beiden Mythen steht noch ein 10 dritter, der gleichfalls den meisten arischen Völkern gemein ist. Der Sonnengott bekämpft einen furcht- baren Drachen und führt als Preis des Sieges eine Herde mit sich fort. In dieser wird man wohl die Sterne zu erkennen haben, deren Verschwinden beim i-5 Erscheinen der Sonne man dahin deutete, daß der sieg- reiche Gott die Kühe oder Schafe verzehre. Doch hängt dieser Zug zugleich mit dem naiven Bestreben des Wilden zusammen, seine Götter nach sich zu ge- stalten. Wie er selbst von seinen Kriegsfahrten mit 20 reicher Beute heimzukehren erwartete, so wollte er auch seinem Sonnenhelden nicht zumuten, sich ohne jeden Entgelt in Gefahren zu stürzen. Da nun zu jener Zeit der geschätzteste Besitz jeder Familie in ihrem Vieh bestand, mußte auch der gewonnene Eaub 2-. diese Gestalt annehmen. Doch sind in der weiteren Entwicklung des Mythus auch verschiedene andere Kostbarkeiten an die Stelle der Herde getreten. Bei Siegfried ist der Preis des Drachenkampfes der Nibelungenhort, bei lason das Goldene Vließ, bei Per- .so seuis eine schöne Frau, und so finden sich noch manche andere Varianten.
Damit dürfte der Bestand an Sonnenmythen, den die Griechen von ihren arischen Vorfahren über-
2. Der Sonnenglaube. 387
:i83 kommen hatten, wohl ziemlich erschöpft sein. So dürftig er ist, enthält er doch schon eine Menge Widersprüche. Die Xacht, gegen die der Gott kämpfen muß, erscheint das eine Mal als sein Vater, das andere -. Mal als ein furchtbarer Drache, das dritte Mal als eine Schar von Dämonen; er selbst wird bald erschlagen, bald zerrissen und aufgefressen : die Sterne gelten ein- mal als seine zerstreuten Körperteile, einmal als die Herde des Nachtdämons, die er erbeutet, einmal sind
10 wenigstens zwei von ihnen, der Morgen- und der Abendstern, selbständige menschenähnliche Wesen. Diese sich gegenseitig aufhebenden Lehren mitein- ander auszugleichen, darf uns ebensowenig einfallen, wie die alten Arier es getan haben ; wohl aber müssen
15 wir ihre Entstehung zu begreifen suchen.
Jeder einzelne dieser Mythen ist eine Theorie für sich, die aus der vorausgesetzten Menschenähnlichkeit der Naturseelen den Wechsel von Tag und Nacht er- klären soll: jeder wird ersonnen sein von einem
20 Manne, der zu seiner Zeit im Rufe hoher Weisheit und tiefverborgenen Wissens stand, und wurde dann zuerst als heiliges Geheimnis flüsternd weitergesagt und ehrfurchtsvoll aufgenommen. Über den Sinn des Gehörten nachzugrübeln, fiel den wenigsten ein; die
•23 Mehrzahl empfing es schlechtweg als Tatsache aus dem Leben des Gottes und dachte gar nicht daran, daß diese Tatsache keine andere war, als die täglich wiederkehrende des Sonnenauf- und -Unterganges. So konnten für das gleiche Phänomen immer neue hypo-
30 thetische Erklärungen auftauchen und sich ruhig neben die alten stellen, weil man von diesen eben nicht mehr wußte, daß sie hypothetische Erklärungen sein sollten, und jede wurde dann wieder zur geheiligten Tatsache. Man glaubte auch sie, anfangs, weil grü-
388 IV. Religion und Sittlichkeit.
belnde Weise und Zauberer sie behauptet hatten, dann, 381 weil die Väter sie glaubten und dem nachwachsenden Geschlechte seit seiner Kindheit erzählten, sah sich aber dadurch keineswegs verhindert, immer neue Er- findungen gleicher Art zu machen. 5
Am deutlichsten läßt sich dies an der ägyptischen Mythologie zeigen, weil deren Gebilde nicht ganz so vermenschlicht sind, wie die der griechischen, und daher eine viel größere Durchsichtigkeit bewahrt haben. Auch am Nil faßte man den Sonnenuntergang 10 anfangs als Sterben des Gottes auf und erklärte sein Wiedererscheinen in folgender Weise. Wenn er von seinen Feinden erschlagen wird, hinterläßt er seine Gattin, die Erde, in guter Hoffnung; am nächsten Morgen gebiert sie den neuen Sonnengott, der als is Rächer seines Vaters die Mächte der Finsternis besiegt und sich dann mit seiner Mutter vermählt, um bei seinem frühen Hinscheiden wieder den Keim zu einem rächenden Sohne zu hinterlassen. So folgen sich die Beherrscher des Tages als ununterbrochene Dynastie 20 von Königen; aber der Mutterschoß, aus dem sie her- vorgehen, ist immer derselbe; die alte Erde bleibt un- verändert im ewigen Wechsel der Himmelslichter.
So klar und konsequent diese Anschauung auch ist, haben sich die Ägypter doch nicht dabei beruhigt. 2.% Sie kamen, vielleicht durch astronomische Beob- achtungen, zu dem Ergebnis, daß die Sonne nicht nur die gleiche Seele behalte, die ja durch die Zeu- gung das Vaters wieder auf den Sohn übergehen konnte, sondern daß sie auch immer der gleiche so Körper sei. So konstruierten sie denn ihren Lauf in folgender Art. Wegen der Geschwindigkeit, mit der sie ihre ungeheure Reise tägUch zurücklegt, mußte man ihr das schnellste Beförderungsmittel beilegen,
2. Der Sonnenglaube. 389
385 das man kannte; in einem Lande, dem das Pferd damals noch unbekannt war und das in seiner ganzen Länge die Verkehrsstraße des großen Stromas durch- zog, konnte das nur der Xilkahn sein. Man dachte
ö sich also den Himmel als einen gewaltigen Fluß, auf dem Ea in seiner Barke dahinfuhr; war er im Westen angelangt, so stieg er in ein zweites Schiff, mit dem er auf einem unterirdischen Strome wieder nach Osten zurückkehrte, um von da seinen Tageslauf
10 neu zu heginnen. Das ist eine Lösung des Problems, die der Wahrheit viel näher kommt als die frühere: trotzdem hat sie diese niemals ganz verdrängen können. Daß der Sonnengott durch die Unterwelt die Stätte des Aufgangs wieder erreiche, wurde zwar in Ägypten
15 allgemein anerkannt; nichtsdestoweniger blieb man dabei, daß er seine Mutter heiraten und dann sterben müsse. Diese Züge hatten sich eben durch jahr- hundertelangen Glauben so fest mit dem Bilde des Ea verknüpft, daß man nicht von ihnen lassen konnte.
30 auch als sie durch die neue Erklärung von Tag und Nacht sinnlos geworden waren.
Alle Motive des ägyptischen Mythus, die wir hier zusammengestellt haben, sind auch in den griechischen übergegangen. Daß der Gott vom Westen nach dem
25 Osten zu Wasser fährt, eine Lehre, die durchaus von der Natur des Nillandes bedingt ist, findet sich bei Helios, Herakles, Odysseus, Theseus, namentlich bei lason wieder. Da Griechenland so gut wie gar keine schiffbaren Ströme besitzt, ist an die Stelle des Unter-
:n) weltflusses freilich das Meer getreten: aber in einem Zuge hat sich der alte Stromcharakter der Sonnen- straße doch noch erhalten. Der ägyptische Ea muß am Ende jeder Nachtstunde durch eine Enge hin- durch, die er nur mit größter Not und Gefahr zu
390 IV. Religion und Sittlichkeit.
iiberwindeu vermag, und ebenso geht die griechische 888 Sonnenfahrt zwischen Skylla und Charybdis vorbei oder durch die Flankten und Syniplegaden. Nun ist es klar, daß der Begriff solcher Engen sich nur in dem schmalen Fahrwasser eines Flusses, nicht an dem :► Meere bilden kann. Denn selbst Bosporus und Helles- pont sind viel zu breit, um ohne fremde Beeinflussung je den Gedanken hervorzurufen, daß die Felsen ihrer beiden Ufer drohend zusammenschlagen könnten. Bei dem Schilfer des Altertums, der die offene See wegen u* ihrer Stürme scheute, mußten die geschützten Meer- engen viel eher ein Gefühl der Sicherheit, als der ge- steigerten Gefahr hervorrufen, mochte auch die Ein- fahrt in den Bosporus bei heftigem Winde Schwierig- keiten bieten. In diesem Falle ist also eine Vorstel- i.> hing, die sieh an den Katarakten des oberen Nil und den Sand])änken des Delta entwickelt hatte, auf die griechische See übertragen worden.
Indem nun die ägyptischen Mythen sich mit den arischen mischten, mußten die Widersprüche, die jede n* der beiden Gruppen schon in sich enthielt, sich noch vermehren und steigern. Bei den Ariern erschlug der Gott seinen Vater, bei den Äg3^ptern heiratete er seine Mutter : im griechischen Oedi}ms findet sich beides ver- bunden. Odysseus zeugt im fernen Westen mit Kirke 25 den Telegonos; als dieser erwachsen ist, kommt er nach Ithaka und tötet im Kampf seinen Vater, ohne ihn zu erkennen. Wie man sieht, ist dies genau der Stoff des Hildebrandsliedes, d. h. des arischen Urmythus. Aber dieser ging von der A-'orstellung aus, daß die Nacht der w Vater des Sonnengottes sei; in der Geschichte des Tele- gonos dagegen erscheint nach ägyptischer Anschauung die junge Sonne als Sohn der alten, wodurch das Motiv des Vatermordes allen Sinn und Verstand verliert.
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387 Hiermit sind wir zu den fremden Einflüssen ge- langt, welche die griechische Religion schon in uralten Zeiten erfahren hat. Denn daß solche eingetreten sein müssen, und zwar im weitesten Umfange, ist .j viel zu selbstverständlich, um eines Beweises zu l)edürfen. Bei einem Volke, da.'; durch .seine Wohn- sitze recht in den Mittelpunkt des antiken Welt- verkehrs gestellt war, würde es von der ärgsten Borniertheit zeugen, wenn es nicht von allen Seiten
10 Belehrungen empfangen und in den eigenen An- schauungskreis aufgenommen hätte. Xach altarischer Auffassung war die Sonnenseele ein Dämon gewesen. wohl stärker und von ausgedehnterer Wirksamkeit als die Geister der Menschen und Bäume, Steine und
15 Quellen, aber ihrem innersten Wesen nach diesen gleich. Wenn sich an ihr und ihrer weibhchen Ge- fährtin, der Mondseele, jetzt ein wirklicher Gottes- begriff entwickelte, so ist dies teilweise wohl den Ägyptern, jedenfalls aber in erster Linie den Semiten
20 zu danken.
Die arische Zeit hatte in ihrer höheren Geisterwelt dem weiblichen Element fast gar keine Vertretung gegönnt. Auf der untersten Stufe unserer Kultur war eben die Frau nicht viel mehr als die vielgequälte
25 Sklavin des Mannes. Während er sich trag am Feuer dehnte, hatte sie alle Arbeit des Hauses zu tun und mußte jede seiner Launen mit Schlägen büßen. Als unfreier Gegenstand des Besitzes konnte sie nach dem Belieben ihres strengen Gebieters getötet oder ver-
30 kauft werden; kein Recht der Selbstbestimmung war ihr vergönnt. Die Erde, die man immerfort mit Füßen trat, die Bäume und Quellen, die man als schöne und freundliche Dienerinnen schätzte, konnte man sich daher allenfalls weiblich denken : ein seliges
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Götterdasein aber, wie maii es dem Himmel und 888 seinen Lichtern zuschreiben mußte, schien mit dem normalen Zustande der Frau unvereinbar. Im ältesten Sonnenmythus ist daher immer nur vom Vater des Gottes die Eede, nie von seiner Mutter oder Gattin, r. Das Vergnügen an holden Beischläferinnen durfte man so mächtigen Dämonen zwar nicht absprechen, doch waren jene keine Wesen von selbständiger Indi- vidualität, sondern nur unpersönliche Anhängsel ihres Gemahls, wie schon ihre Namen beweisen. Der vedische lo Indra ist verbunden mit Indrani, der römische Janus (Dianus) mit Diana, Liber mit Libera, Jupiter ( Jovis) mit Juno (Jovino), der älteste griechische Zeus (Dios) mit Dione. Bei ihnen allen sind also die Namen ihrer Gefährtinnen nur ihre eigenen mit weiblicher Endung: 15 Selbständigkeit besitzen sie grammatisch ebensowenig wie mythologisch. Indrani ist weiter nichts als ein hübsches Spielzeug des Indra, dem weder eine Natur- bedeutung noch ein Kultus zukommt, und ursprüng- lich wird es mit Dione, Libera, Juno und Diana kaum 20 anders gewesen sein. Daneben scheint zwar schon der Gedanke aufgetaucht zu sein, daß Himmel und Erde als Vater und Mutter alles Lebenden zusammen- gehören ; doch steht er ganz im Hintergrunde des religiösen Denkens und erfährt noch keine weitere 2.5 Ausbildung.
Mit dem Eintreten des Ackerbaues beginnt die Stellung des Weibes sich langsam zu heben. Die ererbte Trägheit des freien Mannes ist noch zu groß, als daß er sich selbst mit Pflug und Hacke quälen :^o sollte; aber diese harte Arbeit kann er auch der Frau nicht ganz und gar aufhalsen, namentlich da die Obliegenheiten in Haus und Herde, die sie früher erfüllt hatte, auch jetzt auf ihr lasten. So zwingt
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389 man die Kriegsgefangenen, die man früher abzu- schlachten pflegte, für ihre Sieger das Feld zu bauen. Es bildet sich ein Sklavenstand, und damit wird die Frau, wenigstens in den reicheren Familien, von der
r, schwersten Arbeitslast befreit und zur Herrin des Ge- sindes erhoben. Und indem der Ackerbau ihr einen vornehmeren Platz im Hause anweist, steigt sie auch in der Keligion. Die Mutter Erde, die der Hirte noch wenig beachtet hatte, gewinnt für den Bauern
10 eine ganz neue Bedeutung, und zugleich lernt er ihr Verhältnis zu den Himmelsmächten feiner beobachten und tiefer verstehen.
Der Nomade zittert vor seinen kleinen Dämonen, aber von der Einwirkujig der himmlischen Geister
15 spürt er nicht gar zu viel. Der Donner schreckt und der Kegen näßt ihn. doch über diese Unbequemlich- keiten ist leicht hinwegzukommen. Daß derselbe Eegen auch das Gedeihen seiner Herde bedingt, kommt ihm nur zum Bewußtsein, wenn sehr lange Dürre
20 ein Viehsterben hervorruft, und solche Katastrophen sind zu selten, als daß sie die Eeligion dauernd be- stimmen könnten. Der Ackersmann dagegen muß immerfort Wolken und Sonnenschein beachten, weil er ihren beherrschenden Einfluß Jahr für Jahr an
25 seinen Ernten wahrnimmt. Ihm geht daher zuerst die Erkenntnis auf, daß alles Leben aus dem Zu- sammenwirken von Himmel und Erde erzeugt wird, und da auch er sich alles in der Natur noch menschen- ähnlich vorstellt, denkt er sich jenen als zeugenden
30 Mann, diese als gebärendes Weib. So entsteht die Lehre von der geheimnisvollen Ehe des Allvaters mit der großen Mutter, deren Kinder zunächst die Pflanzenwelt, dann aber auch Menschen und Tiere sind. Der altarischen Relisrion war dieser Gedanke
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vielleicht nicht ganz fremd gewesen, hatte aber nie 39* bestimmend auf sie eingewirkt ; desto klarer wurde er von den Semiten ausgebildet, denen so die Zeugung, als höchste Äußerung des göttlichen Wesens, in den Mittelpunkt ihres ganzen Kultus trat. Da es im •> Schoß der Erde dunkel ist, wurde sie der Nacht gleich- gesetzt und diese wiederum dem Gestirn, das sie be- herrscht, dem sanften, weiblichen Monde, wie ander- seits der Himmelsgott in den Sonnengott überging. Es bildeten sich die gegensätzlichen und doch eng lo verbundenen Paare, Himmel und Erde, Tag und Nacht, Sonne und Mond, die man nur als verschiedene Äußerungen derselben göttlichen Zweiheit empfand. Hatte der Animismus Jedem beliebigen Dinge eine Seele verliehen, wodurch seine Geisterwelt zu einer i.> unendlichen Vielheit wurde, so ringt diese neue Kich- tung nach Vereinfachung und Zusammenfassung der Gottesidec. Ging sie doch endlich soweit, auch das männliche und das weibliche Element noch zu einem mannweil.>lichen Allgott zu vereinigen, an den der 20 Berakles in Weiberkleidern auch bei den Griechen noch einen unverstandenen Nachklang bewahrt hat. Darum wird mit dem Alten noch nicht vollständig aufgeräumt ; Menschen und Tiere, Pflanzen und Steine behalten ihre Seelen, und ihnen wird nacli wie vor ihr alther- 2» gebrachter Kultus geweiht, weil sie sich sonst für die Vernachlässigung desselben rächen könnten. Jene wimmelnde Geisterwelt dehnt sich sogar noch weiter aus, indem Vertreter des Korns und der andern Acker- früchte ihr hinzugefügt werden und bald unter ihren so Genossen eine ganz besondere Verehrung in Anspruch nehmen. Aber alle diese kleinen Dämonen müssen sich als Diener der großen Götterzweiheit unterordnen. Man •^ucht im Wechsel der Erscheinunsfen die
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391 bleibenden, allen gemeinsamen Gründe und erkennt nur in diesen die eigentliche Gottheit.
Wir sahen schon, daß die Religion in jenen Ur- zeiten mit der Wissenschaft zusammenfiel. Ihr Fort-
5 schritt geht dahe]- auch ganz denselben Weg, auf dem sich noch heute jeder wissenschaftliche Fortschritt zu vollziehen pflegt. Sie hat begonnen mit dem „Staunen", d. h. mit dem Beobachten von auffälligen Tatsachen und dem Empfinden, daß sie einer Erklärung be-
10 dürftig seien. Diese wird gegeben, indem man das Beobachtete mit andern Erscheinungen, die uns ge- läufiger und daher nicht mehr wunderbar sind, ver- gleicht und in Analogie stellt. So wird das Mensch- liche, weil der Mensch es am besten zu begreifen
15 meint, zum Erklärungsmittel aller Dinge. Aber die Forschung hält sich zunächst nur immer an das ein- zelne und ist befriedigt, wenn sie es verstehen kann, indem sie es dem hergebrachten Denkschema ein- ordnet. Doch im weiteren Verlaufe der Entwicklung
20 strebt man immer mehr dem Allgemeinen zu und sucht hinter all den Einzelgründen, die man gefunden hat oder zu haben glaubt, nach dem großen gemeinsamen Urgründe. So lösen sich in unserer Physik alle die mannigfachen Erscheinungen von Licht und Wärme,
25 Schall und Elektrizität, deren Gesetze man zuerst bei jeder für sich untersucht hatte, jetzt in den Begriff der Atomschwingung auf, und in derselben Weise schreitet jede Wissenschaft mit mehr oder weniger Erfolg zur größeren Vereinfachung ihrer Lehren fort.
:!o Denselben Werdegang machte damals die Religion durch. Zwar konnte sie sich nicht davon frei machen, alles menschlich aufzufassen, und setzte daher noch immer persönliche Urheber an die Stelle der unpersön- lichen Ursachen. Aber daß jene auf die Zahl von zwei
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vfrmincU'rt wurden, denen sich die alte Dämonenschar 382 nur noch als dienender Ausfluß ihres Willens au- schloU, bedeutete nichtsdestoweniger einen mächtigen Fortschritt des religiösen, d. h. des wissenschaftlichen Denkens. 5
Die Griechen hätten nicht Griechen sein müssen, wenn die neue Großartigkeit jener semitischen Lehre sie nicht mächtig ergritfen hätte. Mit all der hohen Begeisterungsfähigkeit, die ihnen eigen war, bemäch- tigten sie sich ihrer und führten den fremden Ge- 10 danken in ihrer eigenen genialen Weise aus. Es miiß eine Zeit gegeben haben, in der ihre religiöse Speku- lation sich fast ausschließlich juit jenem einen Götter- paar beschäftigte. Die Menschenseelen und Natur- geister der früheren Zeit blieben auch bei ihnen ))e- v^ stehen, aber im religiösen Denken des Volkes traten sie völlig in den Hintergrund. Dieses war noch nicht soweit gereift, aii die Überlieferung Kritik anzulegen, sondern es nahm die Sagen der Väter, die Erzählungen der Semiten und Ägypter allesamt gläubig hin. Daß 20 ihr Zusammenhang dem menschlichen Verständnis unbegreiflich war, diente wohl nur dazu, den über- menschlichen Tiefsinn der Lehre zu erweisen. Und je vielgestaltiger und scheinbar widerspruchsvoller das Bild jener Zweiheit wurde, desto besser entsprach -j.-. es dem neuen Ideal der Allgottheit. Denn eben weil in ihr alle Seiten des Natur- und Menschenlebens zu- sammenfließen sollten, mußte sie auch die Wider- sprüche desselben in sich voreinigen und zu einer höheren Harmonie gestalten, die über das gemeine so m.enschliche Denken freilich hinausging.
Jahrhundertelang hat die griechische Phantasie darin geschwelgt, sämtliche Wirkungen und Eigen- schaften der Gottheit, auf die man sich nur besinnen
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'M konnte, in der Sonne zu vereinigen. Als Wegweisei- und Schlachtenführer hatte sie schon die arische Vor- zeit verehrt; jetzt lernte man von den Semiten, daß .<ie ein Wesen von mächtiger Zeugungskraft sei, aus
.5 dessen Samen aUes Leben der Tier- und Pflanzenwelt hervorgehe. Mithin spendete sie den Segen des Acker- feldes wie des Weinberges; von ihr hing nicht nur das Gredeihen der Herden, sondern auch die Fortpflanzung der menschlichen Familie ab. So stieg sie auch in
10 den Kreis der alten Naturgeister hinunter und ging mit allen Nymphen der Feuchtigkeit und Vegetation eine fröhliche Vermählung ein. Die Ägypter er- zählten, daß sie allnächtlich die Unterwelt durch- reise und die Verstorbenen in ihrer Barke mit sich
13 hinabnehme. Dadurch wurde sie auch den Griechen zum Todesgott und Seelenführer; ihr Eeich wurde von dem lichten Himmelsgewölbe auch über die finsteren Gebiete der ewigen Nacht ausgedehnt. Da der Gott nach der Umgestaltung, welche die ägyptische
20 Lehre iu Griechenland erfahren hatte, mit seinem Kahne die See durchfuhr, erhob man ihn auch zum Beherrscher des Meeres, den die Schiffer anriefen; diente seine lichte Gestalt ihnen doch auch als Kom- paß, um auf ihrer pfadlosen Reise die Hiramels-
25 richtung zu bestimmen. Als Gott der Ackerfrucht, des Herdensegens und der Schiffahrt wurde er zum allgemeinen Reichtumspender; daher weihten ihm die Kaufleute ihre Gebete und nicht weniger die Diebe; auch er selbst hatte sich ja als Räuber einer Kuh-
.% herde oder auch eines Goldschatzes hervorgetan. Da er mit so rasender Geschwindigkeit über den Himmel dahinjagte, verehrte man in ihm auch den Freund des Rennsports und aller übrigen Wettspiele, die in der griechischen Festesfreude eine so bedeutsame
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Stelle einnahmen. Indem .sein Licht in jeden Winkel 394 drang, sah und hörte er alles und wurde zum Meister and Vorhild aller Wissenden, welcher Art sie auch >!oin mochten. Der Wahrsager verdankte ihm seine geheime Kunde; den Arzt lehrte er die Kräfte der :. Pflanzen und Beschwörungslieder oder half ihm auch unmittelbar im Heilen der Kranken; vor allen aber bildeten die fahrenden Sänger sein Gesinde. Denn auch sie mußten ja alles wissen, was auf der weiten Erde geschah oder in grauer Vorzeit geschehen war. lo und gaben in ihren Liedern davon Zeugnis. So traten als Attribute des Gottes zu dem furchtbaren Bogen auch Leii'r und Flöte. Weil jeder Frevel dem naiven Sinne der Zeit als befleckender und Linheil zeugender Krankheitsstofi' erschien, wurde der Pfleger der Arznei- 15 kunst auch zum Sühnegott und Eeiniger von jeder Sünde. Auf diese Weise beherrschte er alle Gebiete des Tuns und Denkens und griff in den Kreis jeder andern Gottheit, die man bisher ersonnen hatte, als kühner Eroberer hinüber. Mit Hades teilte er die 20 Unterwelt, mit Poseidon das Meer, mit Zeus den Elimmel; ja er schwang sogar die Donnerwolke seines Vaters und führte neben den nie fehlenden Strahlen- pfeilen auch die zerschmetternde Keule des Blitzes. Und wie der Sonnengott in den Himmelsgott, so ging 25 auch dieser in jenen über: Agamemnon und Amphi- araos sind erwiesenermaßen Formen des Zeus; aber in ihrem frühen Sterben und der Rache ihrer Söhne haben sie doch unverkennbare Züge des ägyptischen SonnenmA'thus angenommen. So wurden alle Begriffe 30 von göttlichem Tun und Können in einer Gestalt zu- sammengefaßt; die Gottesidee war so verallgemeinert worden, daß bis zum Monotheismus kein sehr weiter Schritt mehr übrigblieb.
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3% Freilich bewahrte der Gott noch ^eine Meuscheu- ähnlichkeit und mit ihr das Verhältnis zu seiner weib- lichen Gefährtin. Es entstand eine Art von Dualis- mus, allerdings recht verschieden von derjenigen Eeli- 5 gionsform, die man technisch mit dem Namen zu be- zeichnen pflegt. Die Perser, bei denen sie ihre klarste Ausprägung gefunden hat, unterschieden bekanntlich in ilirem Ahuramazda und Angramainyus ein gutes und ein böses Weltprinzip, die in stetem Kampf mit-
10 einander lagen. Die semitisch-griechische Zweiheit da- gegen scheidet sich vorzugsweise danach, daß der Gott mehr von den Männern, die Göttin mehr von den Weibern angerufen wird, da Jedes der beiden Ge- schlechter seinen Vertreter im Himmel haben will. In
15 ihren Attributen und Tätigkeiten fallen sie beinahe zusammen, was ja auch kaum anders sein kann, da beide als Allgottheiten gelten Avollen. So führen sie beide den fernhintreffenden Bogen; beide gebieten sie in Himmel, Meer und Unterwelt; beide beschirmen
20 sie die Feldfrucht und die Herden und walten auch über dem Kindersegen der menschlichen Familie, kurz es läßt sich nicht leicht eine Funktion des Gottes finden, die nicht bei der Göttin, wenn auch meist mit einer leichten Veränderung, wiederkehrte. Dennoch
•25 ist ein Gegensatz, gleich jenem persischen, ihnen nicht fremd, insofern der Gott mehr die lichte und freund - hche Seite der Natur, die Göttin mehr die dunkle und gefährliche vertritt. Beide sind Meister alles Wissens ; aber während er die segensreiche Weisheit der Ärzte,
30 Wahrsager und Sänger beschirmt, ist ihr die finstere Geheimlehre der Zauberer und Geisterbanner heilig. Beide spenden den Tiersegen: aber er bevorzugt das sanfte Herdenvieh, sie das scheue und oft gefährliche Wild des Waldes. Dem Gotte o^ehört die Sühne des
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Verbrechens, der Göttin die Hinrichtung, die auch eine 396 Sühne ist, aber ein traurige und grausame. Als Tod- bringer erscheint auch er; doch tritt dieser Zug in "der Ganzheit seiner Art entschieden zurück, während bei ihr das Schlachten und Würgen die schaurige 5 Regel bildet. Waren in der Geisterwelt des Animismus die gütigen Wesen meist weiblich, die schädlichen männlich gewesen, so hat sich diese Anschauung jetzt in ganz merkwürdiger Weise umgekehrt.
Dieser Gegensatz und diese Verwandtschaft zu- lo gleich, wie sie sich aus dem Zusammenfließen von Erde, Nacht und Mond in dem Begriife der Göttin ergaben, hat die Phantasie der Griechen viel be- schäftigt und seine Erklärung in tausend Mythen gefunden. Der Mond ist ein Lichtwesen, gleich der i5 Sonne, und muß folglich zu ihr in nahen Beziehungen stehen. Sie werden daher zu Geschwistern gemiacht, wie Apollon und Artemis, oder noch häufiger zu Gatten oder Buhlen, wobei der Gedanke an die heilige Ver- mählung von Himmel und Erde mitwirkte. Aber 20 dies liebende Paar steht in dem eigentümlichen Ver- liältnis, daß sie niemals zusammenkommen können. Strahlt der Mond in seinem vollsten Glänze, so ist er der Sonne am allerfernsten ; dann wird seine Scheibe immer kleiner und zugleich nähert er sich jener immer 25 mehr; wenn er aber so dicht herankommt, daß er sich mit ihr vereinigen zu wollen scheint, ist er plötzlich verschwunden. Dies ewige sich Suchen und Fliehen hat der Orpheusmythus in ein rührendes Menschen- schicksal übersetzt. Die Geliebte des Sangesgottes, 30 der ja, wie wir gesehen haben, zugleich der Sonnen- gott ist, wird ins Nachtreich entrückt, wo er sie ver- zweiflungsvoll suchen geht. Ihr wird die Erlaubnis, ihm zu folgen, aber als er ihr sein leuchtendes Antlitz
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397 zukehrt, muß sie in seinen Strahlen versehwinden. So wird durch seine Liebe zur Mondgöttin zugleich erklärt, warum er sich in das Dunkel, das seinem Wesen so fremd ist, lebend hinabzusteigen entschHeßt, ö wie überhaupt die griechische Mythologie im Vergleich zur ägyptischen und semitischen viel feiner in der Motivierung und Verknüpfung ihrer Tatsachen ist. Ein anderer Mythus knüpft an den frühen Tod des Gottes an und verbindet ihn mit der Beobachtung,
10 daß Sonne und Mond beide im Meere versinken. Hero und Leander sind durch unendliche Fluten ge- trennt; sie hält ihre Leuchte empor, um dem kühnen Schwimmer zu sich den Weg zu weisen; doch das schwache Licht des Mondes verlöscht und der Sonnen-
15 Jüngling muß in der wilden See ertrinken; da stürzt sie sich in hoffnungslosem Jammer dem Geliebten nach. Ein glücklicheres Ende hat man dem Odysseus- mythus gegeben, indem man dasjenige, was auch die Astronomie mit dem Namen der Konjunktion bezeich-
20 net, als Vereinigung der Liebenden auffaßte. Auch hier muß sich der Held lange vergebens mühen, ehe er zu seiner Gattin gelangt. Sie sitzt unterdessen in Tränen, die als Nachttau herabfallen, und webt ihr glänzendes Gespinst, um es immer wieder aufzu-
25 trennen, wodurch das Zu- und Abnehmen der Scheibe erklärt werden soll. Die Sterne umgeben sie als tau- send zudringUche Freier, bis ihr Gemahl erscheint und sie alle mit seinen Strahlenpfeilen hinmordet. Und die langgetrennten Gatten finden sich wieder,
30 „wenn der eine Monat endet und der andere beginnt", d. h. in der Neumondnacht. Dann hat sich die Mond- sichel der Sonne am meisten genähert und beide sind gemeinsam den Augen der Menschen entrückt; sie ruhen zusammen in ihrer dunklen Brautkammer. s II 26
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In diesen drei Mythen erscheint die Göttin zwar m traurig und klagenreich, wie es der Vertreterin der Unterwelt zukommt, aber doch von guter Art gleich ihrem Gemahl. Daneben aber vergaß man nicht, daß sie auch die Nacht darstellte und als solche dem 5 Sonnengotte feindlich sein mußte. Sie führt daher in anderen Formen des Mythus nicht unschuldig, wie Hero, sondern in böser Absicht seinen Tod herbei, wofür sie später die Eache ihres Sohnes, der jungen Sonne, erleiden muß. Die bekanntesten Beispiele 10 sind Agamemnon und Klytaimnestra, Amphiaraos und Eriphyle. In diesem Sinne wird sie auch zur mord- gierigen Amazone; Achill und Herakles, Theseus und lason müssen sie bekämpfen, während sie doch zu- gleich in ihre Gegnerin verliebt sind. Bald erschlagen 15 sie sie, wie der Tag die Nacht, bald vermählen sie sich mit ihr, wie der Himmel mit der Erde. Ur- sprünglich dachte man sich wohl beides vereint, und daß es unvereinbar war, staunte man als heiliges Ge- heimnis an. 20
Noch in eine andere Beziehung wurde der Gott zu der Göttin gebracht. Schon die Arier hatten die Lehre ausgebildet, daß die Sonne ein Sohn der Nacht sei, nur war diese bei ihnen männlich gewesen. Den Zeus der Finsternis haben die Griechen sich unter 25 ■dem Namen des Hades bewahrt; da aber jetzt auch eine weibliche Gottheit von gleicher Bedeutung ent- standen war, wurde sie zur Mutt-er der Sonne. War diese schon vorher Vatermörder gewesen, so mußte sie jetzt auch zum Muttermörder werden, wie dies in den 30 schon erwähnten Mythen von Orestes und Alkmaion ausgeprägt ist. Das gleiche Motiv hat aber noch eine andere Form gefunden, die feiner durchdacht ist und sich den Naturerscheinungen enger anschließt. Die
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W Finsternis stirbt ja schon in der Morgendämmerung, ehe die Sonne hervortritt; diese ist zwar schuld an ihrem Tode, aber noch als ungeborenes Kind. Dieser Gedanke ist in folgenden drei Mythen zum Ausdruck
5 gelangt. Als Semele den Dionysos unter dem Herzen trägt, muß sie in den Flammen des Zeus vergehen; aber der Gott entreißt ihrem Leibe die unreife Frucht, um sie später aus sich selber neu zu gebären. Koronis, mit der ApoUon den Asklepios gezeugt hat, erliegt
10 während ihrer Schwangerschaft den Pfeilen des eifer- süchtigen Gottes; als aber ihr Leichnam schon auf dem Scheiterhaufen brennt, rettet jener sein Kind aus dem Schöße der toten Mutter. Endlich wird Alkmene, gleichfalls durch Eifersucht ihres Gatten, zum Feuer-
15 tode verurteilt; die Flammen schlagen schon um sie empor, als Zeus sie durch seinen Eegen befreit und mit ihr den ungeborenen Herakles. In dieser dritten Version ist der Sinn des Mythus durch spätere Um- gestaltungen verdunkelt, da ja auch die Mutter am
20 Leben bleibt; in den beiden andern aber tritt er klar hervor. Die Nacht geht in den Flammen der Morgen- röte unter, während der unreife Sonnengott noch seiner Geburt entgegenschläft.
Die reiche Vielgestaltigkeit, in der das große
25 Götterpaar uns entgegengetreten ist, erklärt sich aus der unendlichen Zersplitterung des griechischen Lebens. Noch in der späten Zeit, von der historische Berichte uns genaue Kunde geben, zerfällt das Gebiet der Hellenen in Hunderte von Kleinstaaten, und in
30 den fernen Jahrtausenden, als ihre Mythologie sich bildete, werden es vielleicht noch zehnmal mehr ge- wesen sein. Denn in den ewigen Kriegen der Urzeit sind ohne Zweifel sehr viele Staaten spurlos unter- gegangen, ja unter den griechischen Gemeinden, die
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uns noch bekannt sind, gibt es vielleicht nicht eine, 400 die nicht manche ihrer schwächeren Nachbarstädte zerstört und deren Grebiet mit dem ihrigen vereinigt hätte. Dies wird selbst von so unbedeutenden Städtchen wie Plataeae oder Megara gelten, ganz zu geschweigen 5 von Athen und Sparta, die Dutzende von Kleinstaaten aufgezehrt haben. Denken wir uns nun in jene Zeit zurück, wo Gemeinschaften von wenigen himdert Seelen jede ihren besonderen Staat und folglich auch ihren besonderen Kultus besaßen, so wird es uns ohne lo weiteres klar werden, wie der Sonnengott jene tau- sendfach verschiedene Ausgestaltung finden konnte.
Freilich haben nicht alle Götter diese Zersplitte- rung erfahren. Zwar erscheint auch das Meer als Po- seidon, Aigeus, Proteus, Sisyphos, Laertes, die Unter- 15 weit als Hades, Plutos, Periklymenos, Adrastos, Axylos und noch unter vielen anderen Namen, von den weib- lichen Formen derselben Begriffe gar nicht zu reden. Zeus dagegen sieht wohl in Dodona etwas anders aus als in Kreta oder Kleinasien, aber soweit nicht einzelne 20 Gestalten von ihm in den Sonnengott übergegangen sind und so an dessen Wandelbarkeit Teil gewonnen haben, ist er im wesentlichen doch derselbe geblieben. Und ebenso weichen die kleinen Naturgeister, die Nymphen und Dryaden, die Naiaden und Flüsse, die 25 Pane und Satyrn in den einzelnen Landschaften nicht gar so sehr voneinander ab. Diese Gottheiten waren eben in der Hauptsache schon ausgebildet, da die Griechen als große wandernde Horde in die Pindus- halbinsel einbrachen, und blieben bei ihrer späteren 30 Teilung in kleine Gemeinwesen dann auch mit leid- licher Treue erhalten. Der Sonnengott dagegen war zwar auch schon altarisch, hat aber die abschließenden Züge seines Wesens erst unter dem Einfluß der
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401 Semiten und Ägypter empfangen, also zu einer Zeit, wo jene Auflösung in zahllose Kleinstaaten längst durchgeführt war. Jeder von diesen hildete den Gott nach seinen eigenen Bedürfnissen in anderer Eichtung
5 fort; in jedem spekulierte man über seine Schicksale und über sein wunderbares A^'erhältnis zur feindlichen und doch geliebten Xachtgöttin, und auch jetzt be- gnügte man sich nicht mit einer Lösung jedes Pro- blems, sondern fügte ihr immer neue hinzu. Dabei
10 nahm man die Lehren der andern griechischen Staaten ebenso begierig auf, wie die der Ägypter und Semiten, aber niemals, ohne sie gründlich umzugestal- ten, so daß die Hauptzüge des Mythus sich überall wiederholten, und doch immer charakteristische Ver- ls schiedenheiten blieben. An jedem Orte wurde die Sonne zur Allgottheit, deren Macht nicht auf ein be- stimmtes Gebiet beschränkt bheb, sondern in jeder Not und Gefahr helfen konnte ; aber je nach der Art der Gemeinde und der vorherrschenden Beschäftigung
20 ihrer Bewohner nahm der Gott doch überall einen etwas andern Charakter an. In einer Handelsstadt wurde er mehr als Gewinnbringer und Herrscher über die See verehrt, in einem ländlichen Hirtenstamme mehr als Schützer der Herden ; hier betonte man vor-
25 zugsweise seine Heilkunde, dort seine weissagende Kraft, dort seine unbezwingliche Kühnheit. So wurde er in jedem Staat ein anderer, während er doch im Grunde immer der gleiche war.
Am besten wird man dies verstehen, wenn man
30 sich dabei an den Heiligenkultus der katholischen Kirche erinnert. Nach dem Dogma ist derjenige, welcher Gebete erfüllt, ausschließlich Gott selbst ; der Heilige dient nur als Fürsprecher, weil er durch die Fülle seiner guten Werke auf Berücksichtigung seiner
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Bitten rechnen kann. Sein Begriff und seine Wirk- 402 samkeit sind also eigentlich immer dieselben; Unter- schiede können wohl quantitativ bestehen, insofern der eine vielleicht größere Verdienste und daher auch größeren Einfluß besitzt, als der andere, aber nicht 5 quahtativ nach der Art ihrer Tätigkeit. Trotzdem hat der Volksaberglaube den meisten von ihnen einen ganz bestimmten Wirkungskreis zugewiesen. Florian löscht die Feuersbrünste; Nicolaus rettet die Schiffe aus Sturmesnot; Lucia heilt die Augen, Antonius die 10 Viehkrankheiten; ApoUonia vertreibt das Zahnweh, Augustinus die Warzen; Cosmus und Damianus sind die Patrone der Ärzte, Crispinus der Schuster, Eligius der Schmiede. Und nicht viel anders ist es mit der Mutter Gottes. Daß sie immer dieselbe Person ist, 15 weiß theoretisch zwar jeder Katholik; praktisch aber schreibt er der Madonna von Lourdes doch andere Kräfte und Eigenschaften zu, als der von Kevelaer oder von Loreto.
Wenn dies schon in einer christlichen Gemein- 20 Schaft eintreten konnte, deren Dogma scharf formu- liert und durch den Eeligionsunterricht den meisten eingeprägt ist, wieviel mehr mußte sich eine verwandte Entwicklung im griechischen Heidentum vollziehen, dessen Anschauungen nur durch den schwankenden 25 Volksglauben bestimmt wurden. Indem jede Stadt dem Sonnengott einen abweichenden Mythus und Kultus zuteilte, indem aus der Allgemeinheit seines Wesens überall andere Seiten besonders hervorgehoben wurden, mußten diese mannigfachen Formen der 30 gleichen Gottheit den Gläubigen leicht zu verschiede- nen Personen werden, um so mehr, als sie in den meisten Städten auch unter verschiedenen Namen ver- ehrt wurden.
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403 Dieser Umstand dürfte sich auf folgende Weise erklären. Daß Agamemnon und Amphiaraos Beinamen des Zeus sind, ganz von der gleichen Art wie Olympios oder Xenios, ist sicher beglaubigt. Ebenso werden
5 auch bei den eigentlichen Sonnengöttern die über- lieferten Benennungen nicht als Namen, sondern als Beinamen zu fassen sein, und soweit ihre Bedeutung sich noch erkennen läßt — denn viele gehen in eine so frühe Zeit der griechischen Sprachbildung zurück,
10 daß wir sie nicht mehr verstehen — , bestätigt sie diese Annahme. So heißt Pyrrhos der Goldhaarige, Neoptolemos der jugendliche Kämpfer, Peirithoos der schnelle Umläufer, Amphion der Umgänger, lason der Heilungbringende, Diomedes der Himmelskundige,
15 d. h. derjenige, welcher die Pfade des Himmels kennt, Philoktetes, der Freude am Besitz hat, d. h. der Gott als Hüter und Spender des Eeichtums, Herakles der Heraberühmt«, d. h. derjenige, welcher durch seinen Sieg über die jSTachtgöttin Kuhm erworben hat. Ganz
20 ähnlich bei der Göttin: Artemis bedeutet die Schläch- terin, Hekate die Ferne oder die Femtreffende, Medea die Kundige, Kalypso die Verbergerin, Penthesileia die Klagenreiche. Diese wenigen Beispiele mögen zur Charakteristik der ganzen Art genügen. Wenn aber
25 jene Beinamen regelmäßig den wirklichen Namen ver- drängt haben, so wird der Grund in dem schon er- wähnten Aberglauben liegen, daß, wer einen Dämon bei seinem richtigen Namen rufe, zwingende Gewalt über ihn gewinne. Denn jede griechische Stadt war
30 von feindlichen Staaten umgeben und lebte in steter Furcht, daß diese ihr die Hilfe ihrer Gottheiten ent- ziehen und gegen sie selbst ausbeuten könnten. In naiver Vorsicht hatte man daher viele altertümliche Fetische an Ketten gelegt, damit sie sich nicht durch
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Schmeicheleien und Versprechungen der Feinde aus 404 der Stadt locken ließen. Um dies zu vermeiden, mußte man aber auch den Namen der Gottheiten, auf deren Beistand man besonderen Wert legte, sorgsam geheim halten; bei dem Sonnengott und der Mondgöttin, 5 welche damals des eifrigsten Kultus genossen, war er meist wohl nur den Priestern bekannt und geriet selbst unter diesen oft in Vergessenheit, weil auch sie sich hüteten, ihn unnützlich zu führen. Da man trotzdem eine allgemeinverständliche Bezeichnung für lo den Gott brauchte, nannte man ihn mit einem Bei- namen, der von irgend einer seiner Kräfte, Taten oder Eigenschaften hergeleitet war und in jeder Stadt anders gewählt wurde; und dieser trat dann ganz an die Stelle des echten Namens, den außer einzelnen i5 Priestern oder Zauberern keiner mehr kannte.
Also Hermes, Apollon, Herakles sollen ursprüng- lich nicht dem ganzen Griechenvolke gehört haben, ja nicht einmal einem ganzen griechischen Stamme, wie es Dorer oder lonier waren, sondern nur einem un- 20 bedeutenden Städtchen, dessen Namen wir vielleicht nicht einmal wissen, weil es vor aller überlieferten Geschichte untergegangen ist? Wie ist es da denkbar, daß diese Götter in historischer Zeit verehrt wurden, soweit die griechische Zunge klang? Als Antwort sei 25 darauf verwiesen, daß auch die Madonna von Lourdes zuerst in einem ärmlichen Neste aufgetreten ist und doch ihren Kultus nicht nur über ganz Frankreich, sondern auch weit über die Grenzen des Landes aus- gebreitet hat. Im Altertum hat sich Ähnliches oft so genug auch im vollen Lichte der historischen Über- lieferung zugetragen. Isis war eine rein' ägyptische Gottheit und gehörte anfangs nicht einmal dem ganzen Nillande an, sondern nur einem einzelnen Gau des-
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405 selben: trotzdem findet sie sich in der römischen Kaiserzeit im ganzen weiten Reiche bis nach Spanien und Britannien hin verehrt. Wenn also irgend eine lokale Form des Sonnengottes in ihrer Heimat den Ruf
5 außergewöhnlicher Heilskraft gewann, so konnten sich sehr leicht die Nachbarstaaten veranlaßt sehen, dieser besonderen Form auch ihrerseits einen Kultus zu weihen, und war das Glück gut, so verbreitete er sich weiter und weiter. Hatte doch fast Jedes Landes-
10 Unglück, bei dem die alten Götter nicht helfen wollten, in den antiken Staaten die Folge, daß man zu ihrer Unterstützung neue von auswärts herbeirief und diesen dann auch für die Folgezeit eine dauernde Verehrung widmete. So konnte jede Seuche, jeder Krieg, jeder
15 Aufruhr, jeder regenlose Sommer den Gött^rkreis einer Gemeinde durch fremde Elemente erweitern.
Auf diese Weise drangen in jeder griechischen Stadt mehrere Sonnengötter zur Anerkennung durch. Ihre Kulte traten in Konkurrenz, und meist gelang
20 es dem fremden, der den Reiz der Neuheit für sich hatte, den einheimischen zurückzudrängen. Die Form des Gottes, der man in der Väter Zeit gehuldigt hatte, behielt zwar die alten Feste und Opfer, weil man an dem Hergebrachten nicht zu rütteln wagte, aber oft
25 genug wurden sie zur wenig beachteten Antiquität, während der begeisterte Glaube des Volkes sich an den neuen Eindringling heftete und ihn zur eigent- lichen Hauptgottheit erhob. Dieser Streit der Sonnen- götter hat auch im Mythus seine Spuren zurückge-
30 lassen. Odysseus raubt dem Helios, Hermes dem Apol- lon die Herden seiner Opfertiere, Herakles will sich mit Gewalt des delphischen Dreifußes bemächtigen, und oft erscheinen in der vermenschhchten Göttersage Wesen von ganz gleicher Bedeutung als feindliche
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Mächte. Odysseus streitet, wie mit Helios, so auch 40S mit Philoktet, Aias und Achill; dieser bekämpft Telephos und Memnon, den Sohn der Morgenröte; Hera ist die erbitterte Feindin der Leto, der lo, der Alkmene und ihrer sonstigen Nebenbuhlerinnen, die in 5 Wirklichkeit alle nur ihre Doppelgängerinnen sind. Man empfand mit frommer Scheu, daß der eine Gott hinter dem andern zurückgesetzt wurde, und malte sich seinen Zorn mit lebhaften Farben aus, aber, was sehr charakteristisch ist, in der Eegel ergriff man 10 Partei für den neuen und machte denjenigen, der tatsächlich die älteren Eechte besaß, im Mythus zum Eindringling. Übrigens stiftete man auch oft Ver- söhnung zwischen den Konkurrenten und ließ sie, nachdem sie den ersten Groll überwunden hatten, als 15 treue Brüder und Genossen zusammenwirken. Auch dies entsprach insofern den Verhältnissen des Gottes- dienstes, als man sehr oft Apollon, Hermes, Herakles und andere gleichbedeutende Gottheiten paarweise zu- sammenstellte und ihnen einen gemeinsamen Kultus 20 widmete. Dies ist auch der Grund gewesen, warum im vermenschlichten Göttermythus so oft zwei Sonnen- götter als Zwillinge oder engverbundene Freunde auf- treten. Wie Hermes neben Apoll, so stehen Zethos neben Amphion, Teukros neben Aias, Patroklos neben 25 Achill, Peirithoos neben Theseus, Philoktetes und lolaos neben Herakles.
Und man begnügte sich nicht, mehrere Sonnen- götter, deren Identität schon vergessen war, in der- selben Stadt zu verehren, sondern ging in der Teilung 30 noch weiter. Auch wo der Gott sich durch die Gleich- heit des Namens noch als dieselbe Person kundgab, sonderte man seine einzelnen Eigenschaften und Tätigkeiten und errichtet jeder derselben Heiligtümer.
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407 Apollon wurde als Patroos verehrt, insofern er über den Familien und Geschlechtern waltete, als Nomios, insofern er die Herden schützte, als Delphinios, inso- fern er das Meer beherrschte, und so gibt es von 5 ihm noch unzählige Beinamen, von denen jeder eine andere Seite seines Wesens ausdrückte und jeder mit einem besonderen Kult verbunden war. Darum ver- gaß man zwar nicht ganz, daß man es immer mit dem- selben Apollon zu tun hatte, der als Allgott j e d e m
10 Begehren Erfüllung winken konnte; aber wenn in einer Stadt ein Patroos und ein Delphinios neben- einander thronten, wird derjenige, der zu Schiffe gehen wollte, seine Gelübde doch gewiß nicht dem Patroos dargebracht haben, sondern jede Form des
15 Gottes wurde für die ihr eigene Tätigkeit in An- spruch genommen. So konnten sich einzelne Seiten der allgemeinen Gottesgewalt im Laufe der Zeit mehr und mehr spezialisieren und endlich ganz den Charak- ter von Sondergöttern annehmen, bei denen sowohl
20 der Begriff der Sonne wie der des Allgottes völlig verloren ging.
Auch hierfür sei ein charakteristisches Beispiel angeführt. In mehreren griechischen Städten wurde Apollon mit dem Beinamen Paian verehrt, das be-
2ö deutet wahrscheinhch den Eeiniger; er erscheint also in diesem Falle als Sühnegott, eine Eigenschaft, in der wir ihn schon kennengelernt haben. Nun hängt aber nach antiker Anschauung das Tilgen der Be- fleckung, welche die Sünde bringt, und das Beseitigen
30 der Krankheit eng zusammen. Der Apollon Paian ge- wann dadurch den Charakter eines Heilgottes, und da man die göttliche Macht am inbrünstigsten anruft, wenn man in Not ist, wurde diese Seite seines Wesens die vorherrschende. Nun begegnet uns bei Homer
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ein Paian, der weder mit der Sonne noch mit der 408 Sündenreinigung irgend etwas zu schaffen hat, son- dern einfach der Arzt der Götter ist. Die Entstellung dieser Gottheit müssen wir uns folgendermaßen denken: wie das Wort Apollon selbst ursprünglich ein Beiname 5 der Sonne war, der später verselbständigt wurde, so wiederholte sich Entsprechendes bei Paian. Aus dem Apollon Paian wurde ein Paian schlechthin, und bei diesem blieb von den Eigenschaften des Sühnegottes nur noch die ärztliche Kraft lebendig. lo
Hiermit kommen wir auf einen Gegenstand, der ebenso schwierig, wie für das Verständis des grie- chischen Glaubens wichtig ist, die Frage, wie die reinen Abstraktionsgötter entstanden sind. Hebe, die Jugendkraft, Nike, der Sieg, Eirene, der Friede, is- Plutos, der Eeichtum, Eris, der Streit, Eros, die Liebe, bedeuten nichts anderes als den Begriff, der durch das betreffende abstrakte Wort ausgedrückt wird; trotzdem werden sie als lebendige Personen gedacht und an- gebetet. Wir, die wir einer rein geistigen Auffassung 20 des Göttlichen gewohnt sind, begreifen Gestalten dieser Art am leichtesten. Versetzen wir uns aber in ein naives Zeitalter zurück, dessen religiöse Anschauungen durchaus von dem sinnlich Wahrnehmbaren ausgingen, so werden wir verstehen, daß es ihm viel näher liegen 25 mußte, sich einen Baum, einen Fluß, die Sonne oder auch den Himmel als Ganzes von einem lebenden Wesen beseelt zu denkep, als Liebe oder Streit. Die Bildung eines solchen Abstraktionsgottes kann man sich doch nur auf diese Weise vorstellen: in jedem so einzelnen Falle, wo geliebt oder gestritten wurde, mußte man einen bestimmten Dämon gegenwärtig glauben, der das Gefühl oder die Handlung erregte und leitete, um mit ihrem Ende wieder zu verschwinden.
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409 Die mannigfachen Seelen des Animismus lieben und streiten alle, aber sie tun daneben noch tausend andere Dinge, wie der Mensch, dem sie nachgebildet sind. Dagegen konnte ein Wesen von jener abstrakten Art 5 eine volle Persönlichkeit, wie sie den ISTaturgeistern von den niedrigsten bis zu den höchsten eigen war, ursprünglich gar nicht besitzen, weil es Ja nicht ver- schiedener Empfindungen und Schicksale fähig war, sondern all sein Handeln und Denken immer auf das
10 gleiche Ziel hinauslaufen mußte, das in den gewählten Beispielen durch die Begriffe der Liebe und des Streites ausgedrückt ist. Die Menschenähnlichkeit, die bei den wirklich alten Dämonenbildungen not- wendige Voraussetzung ist, mußte bei solchen Gott-
15 heiten gerade in ihrer frühesten und ursprünglichsten Grestalt ganz fehlen und hätte sich erst später auf Um- wegen wieder einfinden können. Ich kann daher nicht glauben, daß schon in früher Zeit die reine Abstrak- tion der Ausgangspunkt einer religiösen Begriffs-
20 bildung gewesen sei, sondern meine vielmehr, daß einzelne Seiten persönlicher Götter sich durch Spe- zialisierung und Lostrennung von dem Ganzen zu Ab- straktionen verflüchtigt haben.
Neben dem Apollon Paian sind hierfür wohl die
•25 belehrenden Beispiele Athene Nike (Sieg) und Athene Hygieia (Gesundheit). Doch ehe wir auf diese Son- derbildungen eingehen, wird es nötig sein, die Be- deutung der Athene im allgemeinen zu erörtern. Denn sie ist unter den großen Göttinnen eine der wenigen,
30 die nicht in jene Zusammenfassung von Erde, Nacht und Mond aufgehen.
Sie erscheint als Helferin des Sonnengottes fast in allen seinen verschiedenen Formen, doch ihr eigener Mythenkreis ist immer sehr dürftig geblieben. Den
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hervorstechendsten Zug darin bildet noch die Ge- 410 schichte ihrer Geburt. Zeus leidet an heftigen Kopf- schmerzen, und wie der Mensch annimmt, daß Krank- heiten durch einen Dämon hervorgerufen werden, der in seinem Leibe Wohnung genommen hat, so glaubt 5 auch der Himmelsgott, in seinem Haupte müsse irgend ein unheimliches Wesen stecken. Er befiehlt daher dem Hephaistos, ihm mit seinem Hammer den Schädel zu spalten, damit der böse Geist seinen Aus- gang finde. Es geschieht, und aus der Wunde springt lo Athene in voller Waflienrüstung und erhebt sogleich, ihren Speer schwingend, lautes Kriegsgeschrei. Die starke Göttin, die aus dem gespaltenen Haupte des kranken Himmels mit ihrem furchtbaren Speer her- vorstürzt, ist natürlich der Blitz, ihr wilder Kuf der i5 Donner. Dazu paßt es, daß sie immer in die Aegis ge- hüllt erscheint, in der alle Mythologen mit erstaun- licher Übereinstimmung die Gewitterwolke erkennen. Doch ist damit der Inhalt ihres Begriffes noch nicht erschöpft. Denn sie ist ja nicht nur die unüberwind- 20 liehe Kriegerin, sondern zugleich auch die friedliche Beschützerin des Handwerks und jeder Kunst und Wissenschaft. Diesen Zug ihres Wesens werden wir verstehen, wenn wir uns erinnern, daß das älteste und ursprünglich einzige Handwerk die Schmiedekunst 25 war, deren unentbehrliches Werkzeug das Feuer ist. Die Göttin stellt also die Flamme dar, die als ■ zer- störender Blitz vom Himmel kommt, aber dann, auf den Herd verpflanzt, die gütige Helferin des Menschen wird. Denselben Begriff verkörpern freilich auch sd Hestia, die römische Vesta, und ins Männliche über- setzt Hephaistos und Daidalos. Aber nach demjenigen, was wir über die zahlreichen Gestalten von Sonne, Meer und Unterwelt schon gesagt haben, kann es nicht
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411 auffällig sein, wenn uns auch die Gottheit des Feuers in mehrfachen Ausprägungen begegnet. Überdies kommt Hestia bei Homer niemals vor, obgleich sie ohne Zweifel eine uralte Göttin ist. Die Erklärung 5 dafür ist jedenfalls darin zu finden, daß sie in den Teilen des hellenischen Volkes, die unser Epos aus- gebildet haben, unter dem Xamen der Athene verehrt wurde. Und wirklich erscheint diese bei ihm als Stadt- schirmerin Troias, eine Stellung, die sonst der Hestia
10 als Göttin des Stadtherdes zukommen würde.
Die Eule ist der Athene heilig, weil ihre Augen im Dunkeln wie Feuer leuchten, der Ölbaum, weil sein Fett die Flamme nährt. Eine ewige Lampe, mit Öl unterhalten, hing zu Athen im Tempel der
15 Göttin; ursprüngHch sollte sie wohl diese selbst dar- stellen. Wie Hestia ist auch Athene als Jungfrau gedacht, weil das Feuer kein Leben aus sich hervor- bringt, sondern nur verzehrt. Trotzdem erscheint sie in einem Mythus als Mutter des Apollon, womit die
20 feurige Natur der Sonne ausgedrückt werden soll. In dem gleichen Sinn ist auch Daidalos, der Doppelgänger des Hephaistos, zum Erzeuger des Sonnengottes ge- macht. Denn über die Deutung seines Sohnes Ikaros, der geflügelt am Himmel aufsteigt, um dann einen
25 frühen Tod in den Fluten zu finden, kann kein Zweifel sein. Wie wir schon gesehen haben, erscheint übrigens Athene, auch wo sie nicht seine Mutter ist, doch immer als treue Gehilfin des Sonnengottes, für den das Feuer ja das wesentliche Mittel seiner
30 Macht ist.
Wenden wir uns nun zu Nike und Hygieia zu- rück, so ist es zunächst leichtverständlich, daß die Seele des unbezwinglichen Blitzes und der Flamme, mit der man die feindlichen Dörfer und Städte ver-
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heerte, auch zur Kriegsgöttin ward. In diesem Sinne 412 konnte sie sehr passend den Beinamen Nikephoros (Siegbringerin) oder auch kurzweg Nike führen. Anderseits betrachtete man aber das Feuer auch als Mittel, um Seuchen abzuwenden; noch bei der letzten 5 großen Choleraepidemie in Neapel trat dieser Glaube hervor, indem das Volk riesige Holzstöße auf den Straßen anzündete und damit die böse Luft zu reinigen meinte. Von dieser Anschauung aus konnte die Feuer- göttin zur Göttin der Gesundheit werden. Da sie 10 immer dem Sonnengotte zugesellt war, trat sie auch zu derjenigen Form desselben, die man unter dem Namen Asklepios verehrte, in enge Beziehungen. Als nun dieser sich vollständig zum Heilgott ausbildete, spezialisierte sich auch die ihm beigegebene Athene 15 auf ihre Gesundheit bringende Kraft. Auf solche Art sind, wie ich glaube, Hygieia und Nike aus der Feuer- göttin entwickelt worden.
Nemesis, die Vergeltung, erscheint als Mutter der Mondgöttin Helena, war also ursprünglich wohl eine 20 Form der Nacht- und Unterweltsgöttin, deren Schrecken den Verbrecher trafen. Eros könnte aus einem Apollon Eros hervorgegangen sein; denn der Sonnengott gewährte Ja den Menschen und Tieren Fruchtbarkeit und konnte daher auch als Erreger der 25 Triebe gelten, welche die Geschlechter zusammen- führen. Doch ist dies nichts als eine Vermutung, auf die ich selbst keinen Wert lege; der Liebesgott läßt sich auch ohne sie begreifen. Denn bei der Entstehung jener Abstraktionsgötter bereitet nur der erste Schritt 30 der Erklärung Schwierigkeiten; war er einmal getan, so ergaben sich die weiteren von selbst. Wenn man bei Nike und Hygieia erst vergessen hatte, daß sie Formen der Athene orewesen waren, und in ihnen nicht mehr
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il'i die Feuergöttin, sondern nur Vertreterinnen des Sieges und der Gesundheit sah, konnte man nach dieser Ana- logie leicht auch andere Begriffe personifizieren, und ohne Zweifel hat man es getan. Es wäre daher ganz :. fehlerhaft, wenn man jeden Abstraktionsgott an die großen Naturgeister, wie Sonne, Nacht und Feuer, anknüpfen wollte; nur die ältesten sind aus diesen hervorgegangen und haben dann das Vorbild für neue Gestalten dargeboten, die schon von Anfang an ab-
10 strakt gedacht waren.
Die Entstehung und erste Ausbildung des Sonnen- glaubens hatte den Gottesbe'griff in solcher Weise ver- allgemeinert und erweitert, daß der Monotheismus nicht mehr ferne zu sein schien. Aber statt ihm im
15 Fortschritte der Entwicklung näherzukommen, hatte man den entgegengesetzten Weg eingeschlagen, und die Göttervielheit war noch bunter geworden als vor- her. Zwar hatte sich die Zahl der kleinen Dämonen wohl etwas vermindert; dafür aber waren die einzelnen
■2ö Namen und Tätigkeiten des Sonnengottes und seines weiblichen Gegenbildes wieder zu besonderen Göttern geworden, und ihnen hatte sich eine Menge abstrakter Begriffe hinzugesellt, deren Beseelung dem primitiven Gedankenkreise des Animismus noch ferngelegen hatte.
2.5 Die Hoheit jenes großen allgemeinen Götterpaares war eben der Masse des Volkes noch zu unnahbai- ge- wesen; um ihnen innerlich nähertreten zu können, hatte man die großen Götter verkleinert und so zu sich herabgezogen. Es ist dies eine sehr ähnliche Ent-
;;o Wicklung, wie sie auch das Christentum in seinen ersten Jahrhunderten durchmachen sollte. Durch ' seinen einen allmächtigen Gott überwand es die Viel- götterei, kehrte aber dann mit seiner Anbetung der Märtyrer und Heiligen auf einen Standpunkt zurück. s n 27
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der im Prinzip zwar keine Vielgötterei mehr war, ihr iU praktisch aber zum Verwechseln ähnlich sah. So war auch bei den Griechen gegen die Reinheit des großen Gedankens, den sie von den Semiten mit solcher Be- geisterung aufgenommen hatten, freilich eine starke 5 Reaktion eingetreten; aber selbst im Zurücksinken blieb man hoch über den religiösen Ideen, in denen sich der Anünismus bewegt hatte. Denn die Abstrak- tionsgötter waren doch geistige Wesen; sie repräsen- tierten den Gottesbegritf zwar in enger Beschränkung n» auf ein kleines Gebiet seiner Wirksamkeit, aber doch nicht mehr in der grob sinnlichen Auffassung, wie die Dämonen der Urzeit.
In diese Epoche der Reaktion fällt wahrscheinlich das Auftauchen eines Elements im religiösen Le1)en. 15 das in Hellas nicht ursprünglich war, aber sich doch schon in sehr alter Zeit geltend machte. Ich meine dasjenige, was die Griechen Enthusiasmos nannten; im Deutschen besitzen wir dafür kein genau ent- sprechendes Wort, doch dürfte es sich noch am besten 20 durch „religiöse Besessenheit" übersetzen lassen.
Wie wir gesehen haben, erklärte der Animismiis alle Krankheiten daraus, daß ein fremder Geist in den Körper des Menschen eingefahren sei. Besessen- heit ist also eigentlich auch Kopfschmerz, Leibschmerz 2.> 11 nd jedes Siechtum; in ganz besonderem Sinnfe aber gilt dies von den Geistesstörungen. Der Wahnsinnige entwickelt oft eine Körperkraft, die dem Gesunden nicht zu Gebote steht und wohl den Glauben erwecken kann, daß ein Doppelwesen in ihm wirksam sei ; er 30 i-pdet mit einer Stimme, wie man sie früher nicht an ihm zu hören gewohnt war; nicht selten behauptet er auch selbst, eine ganz andere Person zu sein, meist *'in Wesen von höherer Macht und Größe, z. B. ein
2. Der Sonnenglaabe. 419
415 berühmter Verstorbener oder ein starker Dämon. Was Wunder, daß man solchen Worten Glauben schenkt; können doch Seelen aller Art, da sie frei umherschweben, auch in fremde Leiber eingehen, ö Man meint daher, der Verrückte sei entweder von dem Gespenst eines Toten oder von einer ]Sr}Tnphe oder sonst von irgend einem Dämon besessen und dieser rede aus ihm. Viele Völker schreiben ihm daher weissagende Kraft zu und erweisen ihm große
10 Achtung und Rücksicht, weil er die Behausung eines mächtigen Geistes geworden ist. Einen solchen Geist in sich zu erzeugen, vermag aber auch der Wahrsager und Zauberer, indem er sich künstlich in Ekstase versetzt. Denn diejenigen, welche dies Gewerbe er-
lö greifen, sind meist Leute von sehr erregbarem Nerven- system, gleich den modernen Medien, und wie diese ])ei fortgesetzter Übung immer schneller in den ma- gnetischen Schlaf verfallen, so mußte sich auch in den gewerbsmäßigen Zauberern die Fähigkeit steigern.
-2» Zustände der Verzückung bei sich selbst hervorzu- laifen. Diesem Zwecke dienten außerdem mannig- fache Kasteiungen durch Sonnenbrand, Hunger, Durst, Entziehung von Schlaf und geschlechtliche Enthaltsamkeit. Denn bald hatte man aus der Er-
^ fahrung- gelernt, daß überreizte Nerven und ein er- schöpfter Leib am leichtesten für Visionen und eksta- tische Eingebungen zugänglich machen. So entstand die Lehre, daß Abtötung des Fleisches ein heiliges Werk sei und der Gottheit näherbringe. In der
-30 Blütezeit der antiken Welt ist sie fast verschwunden, um bei deren Niedergange wieder zu erwachen und endlich in der Askese des christlichen Mönchtums ihren höchsten Triumph zu feiern.
Jene ekstatischen Zustände, die bei den Medizin-
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männern und Schamanen der meisten wilden Stämme 416; 80 bedeutsam hervortreten, werden im arischen Ur- volke kaum ganz gefehlt haben; doch spielten sie. wie es scheint, eine ziemlich untergeordnete Rolle. Unsere Vorfahren hatten eben meist gesündere Nerven s als Indianer und Neger, so daß diese Form des Zauber- spuks bei ihnen keine gar zu große Ausdehnung ge- winnen konnte. Die älteste Wahrsagerei der Griechen, Römer und Gernaanen besteht nicht in einem verzück- ten Schauen der Zukunft, sondern in einer rein ver- lo- standesmäßigen Tätigkeit. Man beobachtet den Vogel- flug, den Bhtz, das Rauschen heiliger Bäume; man wirft Lose und deutet die Zeichen, die auf ihnen ein- gegraben sind; man achtet auf die Bewegungen heiliger Tiere oder auf irgend welche Erscheinungen, is die sich von selbst darbieten, wie Sternschnuppen, ein über den Weg laufendes Tier, ein plötzliches Niesen, einen Ruf, der uns zufällig entgegenschallt; vor allem legt man Träume aus, in denen die Gottheit am un- mittelbarsten zum Menschen zu reden scheint. Alle 20 diese Zeichen beurteilt man nach festen Regeln, deren Kenntnis zwar nicht allen gegeben ist, aber mehr durch Übung und Studium, als durch göttliche Ein- gebung erlangt wird. Besonders charakteristisch für die griechische Auffassung der Wahrsagekunst ist 25- folgende Stelle des Homer, die den ältesten Teilen der Odyssee entnommen ist:
Denn wer gehet wohl aus und ladet selber dem Fremdling, Wenn man nicht etwa, ihn braucht, weil nützliche Kunst er
gelernt hat, ;jo-
Als Walirsager, als Arzt der Krankheit, als Zinam'rer der
Balken, (*dcr als göttlichen Sänger, der ilureh sein Lied uns erfreue. Diese laden die Menschen in allen Ländern der Erde; .\hf>r d''n Bettler, der nur belästii'et, lüde wohl niemand.
2. Der Sonnenglaube. 431
117 Hier redet man von dem Wahrsager ganz in derselben Weise, wie von dem Arzt, dem Sänger oder dem Handwerker: er ist kein heiliger, gotterfüllter Seher, sondern ein Mann, der durch Fleiß und Geschicklich - :. keit eine nützliche Kunst erlernt hat und deshalb überall brauchbar und willkommen ist. Jene religiöse Scheu, wie man sie dem Besessenen entgegenbringt, knüpft sich in keiner Weise an seine Person.
Am meisten Ekstatisches hatten noch die Traum- as Orakel, die in Griechenland uralt waren. Nachdem der Fragende sich gewissen Zeremonien unterworfen bat, legt er sich an geweihtem Ort, gewöhnlich in einer unterirdischen Höhle, zum Schlafe nieder und erhält dann seine Antwort durch einen Traum, den 15 ihm später wohl die Priester auslegten. In diesem Falle riefen natürhch die einleitenden Weihen und die unheimliche Schlafstelle große Nervenerregung her- vor, die in den Träumen zum Ausdruck gelangte. Aber diese wurden ja nicht als Besessenheit betrachtet, •20 obgleich sie ihr tatsächlich nah verwandt waren, son- dern als göttlithe Gestalten, die an das Lager des Schlafenden traten. Unter den Begriff des Enthusias- nios, wie ihn die Griechen faßten, fielen sie also nicht ; dieser scheint erst in einer relativ späten Periode von 25 den benachbarten Thrakern übernommen zu sein.
Wieviel die Griechen von den höher gebildeten Völkern der Ag^'pter und Semiten zu lernen ver- standen, haben wir schon in anderem Zusammenhange dargelegt; in dieser Zeit der Eeaktion finden wir sie 30 als Schüler einer viel niedriger stehenden Rasse, aber auch dieses hat in der Religionsgeschichte sehr zahl- reiche Analogien. Je weniger die Kultur eines Volkes entwickelt ist, desto fester glaubt es an Zauberei und alles, was damit zusammenhängt; und weil es daran
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glaubt, weiß es auch von den Wunder Wirkungen seiner 418' Hexenmeister viel zu erzählen und ruft dadurch den (Hauben an deren übernatürliche Kraft« auch bei andern Völkern wach. Falls diese auf einer höheren Stufe stehen, wird bei ihnen das Zauberwesen eine 5 geringere Ausdehnung besitzen, auch wenn sie ihm noch nicht ganz abgesagt haben. Sie sehen daher in ihren barbarischen Nachbarn viel größere Künstler der Hexerei, als sie selbst besitzen, und empfinden vor ihnen abergläubische Scheu. Bei den Malaien ii> und Hindus gelten die wilden Urbewohner der von ihnen eroberten Länder als Menschen von furchtbarer Zaubermacht, in Skandinavien die Finnen, in Finn- land die Lappen, fast in ganz Europa die Zigeuner, die sich nicht einmal zu einem seßhaften Leben i-^- erhoben haben. Der Schotte traut seinem protestan- tischen Pfarrer keine übernatürlichen Kräft-e zu, wohl aber dem katholischen Priester. So weiß die Un- kultur auf dem Gebiete, das ihr recht eigentlich an- gehört, die höhere Kultur überall mit dem Scheine 2()' der Überlegenheit zu täuschen. Wie noch im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts finnische Schwarz- künstler in die Lappmarken reisten, um von dort recht kräftige Zaubersprüche heimzubringen, so meinten wohl auch die Griechen, die sich mit solchem Spuk 2.5- abgaben, von den Thrakern lernen zu können.
Dies läßt sich aus den Quellen zwar nicht mehr nachweisen; wohl aber hatte sich die Erinner\ing erhalten, daß die spätere Form des Dionysoskultus aus Thrakien entlehnt war. Zwar der Gott selbst so- war echt griechisch oder, wenn man will, semitisch: er stellte wieder nur eine neue Ausgestaltung der Sonne dar, die sich in ihrem Mythus sehr nah mit Herakles und Asklepios berührte. Aber man setzte
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419 ihn dem thrakischen Savazios gleich und übertrug dessen lärmende und barbarische Kultgebräuche auf die griechische Gottheit. Wie das weibliche Geschlecht noch heute in Jeder Art religiöser Torheit die Führung r, ZU Übernehmen pflegt, so geschah es auch damals. Große Scharen nervös überreizter Frauenzimmer fühl- ten sich von dem Gotte besessen und durchtobten an seinen nächtlichen Festen Fackeln schwingend und ein wüstes Geheul ausstoßend Wälder und Gebirge. Die
10 Tiere, welche man Dionysos darbrachte, wurden dabei mit blutigen Händen in Stücke zerrissen und das rohe Fleisch verschlungen; ja anfangs soll man auch menschliche Opfer in dieser scheußlichen Art hin- geschlachtet haben. Dabei trug man unschädliche
15 Schlangen in den Händen oder umgürtete sich mit ihnen, wahrscheinlich in der Meinung, daß der Gott in ihre Leiber eingegangen sei; namentlich aber be- haupteten die tobenden Priesterinnen, er wohne in ihnen selbst und begeistere sie zu ihrem verrückten
20 Tun. Daher nannten sie sich Mänaden, d. h. die Wahn- sinnigen; dies galt als Ehrenname, weil man ja jede Geistesstörung auf die Einwirkung eines Dämons zurück- führte, der in diesem Falle als Dionysos gedacht war. Natürlich schürte auch die Gabe des Gottes jene Be-
25 geisterung, d. h. die Weibsbilder waren nicht nur reli- giös erregt, sondern daneben auch tüchtig betrunken. Dies ist die widerlichste Art des Gottesdienstes, der sich das Griechenvolk jemals hingegeben hat. Trotzdem muß sie ihrer Zeit die Gemüter mächtig
30 bewegt und für ein sehr heiliges Tun gegolten haben. Jedenfalls haben die Orgien des Dionysos im Kultus ihre dauernde Stelle behauptet, obgleich sie mit der Zeit etwas zahmer wurden und ihre häßlichen Bräuche mehr formell als in ihrer sranzen abstoßenden Wirk-
424 IV. Religion und Sittlichkeit.
lickeit zur Ausführung kamen. Auch sie blieben nur 420 als Eudimente bestehen; die höher steigende Kultur zwang ihnen einen gewissen Anstand auf, hinter dem aber die wüste Eoheit ihres Ursprungs immer er- kennbar blieb. 5
Die Aufnahme des thrakischen Savaziosdienstes bezeichnet in jener populären Reaktion gegen den reinen Sonnenglauben wohl den Höhepunkt. Das traurige Sinken der religiösen Anschauungen, das sich in dieser Barbarei verriet, rief wahrscheinlich bald n> die entgegengesetzte Reaktion hervor. Denn schon . hatten die sittlichen Kräfte begonnen, sich stärker im griechischen Volke zu regen, und verlangten ihre Ver- tretung auch in der Religion. So strebte diese aufs neue höheren und geistigeren Lehren zu, die in dem ]> Glauben der Homerischen Gedichte ihren Abschluß fanden.
Drittes KapiteL
Die Religion des Homer.
421 Solange die Religion noch auf der Stufe det« Animismus bleibt, hat sie mit der Sittlichkeit gar nichts zu schaffen, wenn man nicht etwa Hungern und den Leib kasteien, wie es die Zauberer übten.
5 für ein sittliches Tun ansieht. Denn ihre höheren Mächte strafen und belohnen nicht, sondern sie er- weisen demjenigen ihre Gunst, der sie durch Opfer und Gelübde erkauft hat, und üben ihre Rache, wo sie persönlich verletzt oder vernachlässigt werden.
10 Diese Anschauung dauert auch in der Periode des Sonnenglaubens und lange über sie hinaus. Artemis sendet den kalydonischen Eber, nicht weil irgend ein Frevel begangen ist, sondern weil man bei einem Opfer für alle Götter ihrer allein vergessen hat ; sie
15 hält die Griechen in Aulis zurück und zwingt Aga- memnon, seine Tochter zu opfern, weil er auf der Jagd zufällig ihre heilige Hirschkuh getroffen hat; Niobe wird so hart gestraft, weil sie im Stolze auf ihren reichen Kindersegen der Leto mit ihrem ein-
20 zigen Zwillingspaar zu spotten wagte. Es kommt also nur darauf an, sich mit den Göttern gut zu stellen: wie man gegen seine Mitmenschen verfährt, ist jeneu gleichgültig.
422 Auch die Rücksicht auf ein Leben nach dem Tode
426 IV. Religion und Sittlichkeit.
konnte nach den Lehren des Animismus der Sitt- lichkeit nicht zur Förderung gereichen. Tugend und Laster wirkten zwar wohl über den Tod hinaus, aber nur, insofern die befreite Seele die Eigenschaften des Verstorbenen fortsetzte. Der Edle wird zum guten .> Geist, der Böse zum schädlichen Dämon; doch hiervon wird das Wohlsein der Überlebenden berührt, aber nicht des Toten selbst. Denn daß Engel glücklich, Teufel unglücklich seien, ist eine sehr späte An- schauung. Beide erfreuen sich an nächtlichem Spiel lo- und Tanz, beide sind von den Gaben der Menschen abhängig, und in dieser Beziehung kommen die Schlimmen sogar noch besser weg. Denn da die Furcht einen viel stärkeren Antrieb gibt als die Liebe, so opfert man denen am eifrigsten, die unver- 15- söhnt Schaden anrichten würden. Der böse Alp, der hei Nacht die Weiber beschleicht, die Vampyre, die den Menschen das Blut aussaugen oder an ihrer Leber fressen, finden an ihrem schlimmen Tun ebensoviel Genuß, wie die gute Seele am Segenstiften; ja diese 20 hat nicht einmal die Genugtuung, in höherem Maße Kuhm und Preis zu gewinnen. Auf Kudra, den blut- gierigen Todesgott der Inder, der für jedermann ein Greuel war, sind die schmeichelhaftesten Loblieder ge- dichtet; um ihn bei guter Laune zu erhalten, pflegte 2-v man ihn nicht anders als den Gütigen (Schiva) ^u nennen, und den gleichbedeutenden Namen Eumeniden legten die Griechen ihren schaurigen Erinyen bei. Auch als im Gefolge des Sonnenglaubens die Lehre von der seligen Toteninsel auftauchte, war diese doch 30 nicht als Ort der Belohnung für die Guten gedacht. Der Sklave, der am Grabe seines Herrn geopfert wurde, blieb nach dem Tode Sklave, mochte er auch alle Tugenden in sich vereinigt haben : nur für den 425J
'■). Die Religion des Homer. 427
Herrn waren die Freuden des Jenseits da. Dieses war auch in seiner neuen Form weiter nichts als eine gesteigerte Fortsetzung des Erdenlebens, die auf die Sittlichkeit gar keinen Einfluß üben konnte.
.=; Auch nach der Theorie des Animismus brauchte
freilich die Sünde nicht immer ohne Vergeltung zu bleiben. Denn die Seelen der Verstorbenen setzen die Freundschaften und Feindschaften ihres Lebens im Grabe fort; jede Kränkung, die man einem beseelten
10 Wesen zufügt, kann also durch die Möglichkeit der Geisterrache gefährlich sein, am gefährlichsten dei- Mord, weil hier schon durch die Tat selbst ein feind- licher Dämon aus den Fesseln des Leibes befreit wird. Aus dem Blute des frevelhaft Erschlagenen stei'gt die
1-5 Erinys auf. die ursprünglich nichts anderes war als die rachesuchende Seele; denn erst in späterer Zeit hat inan die Eumeniden aus menschlichen Gespenstern zu Göttinnen der Unterwelt gemacht. Aber die naive Schlauheit des Wilden hat Mittel gefunden, um den
20 Zorn Jener unheimlichen Wesen zu entwaffnen. Die Australneger schneiden ihren toten Feinden die Dau- men ab ; da nach ihrer Ansicht jede Beschädigung des Leichnajus auch auf die Seele übergeht, wird diese durch ihre verstümmelte Hand behindert, eine Waffe
25 gegen ihren Mörder zu schwingen. Eine noch widrigere Sitte bestand auch in Griechenland und hat sich hier bis tief in die historische Zeit erhalten. Man trennte dem Erschlagenen die Finger und Zehen ab, reihte sie auf eine Schnur und befestigte ihm diese um Hals
!" und Schultern; auf vsolche Weise meinte man sein Ge- spenst jeder Macht zu berauben. Die Keligion konnte also selbst dem Morde, von kleineren Sünden ganz zu geschweigen, volle Straflosigkeit gewähren.
424 (n^rigens war nicht nur das Leben des Menschen,
428 IV. Religion und Sittlichkeit.
wenn auch schlecht genug, durch den Geisterglauben geschützt; brachte es doch ganz dieselbe Gefahr, wenn man ein Tier tötete oder auch nur einen Baum fällte. Denn jeder beliebige Gegenstand war ja von einem Dämon bewohnt, der seine Verletzung rächen konnte » und oft noch mehr Gewalt besaß als die Menschen- seele. Bei manchen wilden Stämmen ist es daher üblich, daß man sich bei der erlegten Jagdbeute mit vielen Worten entschuldigt oder ihr einzureden sucht. man sei es gar nicht gewesen, um so den Groll ihrer lo Seele abzuwenden. Auch in Griechenland hatten sich verwandte Bräuche in sehr merkwürdigen Überlebseln erhalten. Man pflegte ein Tier nicht früher zu schlachten, als bis es durch eine nickende Kopf- bewegung seine Zustimmung zu geben schien, und in 10 Athen ging man bei dem uralten Opfer des Zeus Poli- eus sogar noch weiter in der Vorsicht. Man schüttete zuerst Getreide auf den Altar des Gottes und ließ dann das zum Schlachten bestimmte Eind ungehütet heran- kommen. Natürhch fraß es von den geweihten Kör- ao nern und machte sich so eines Tempelraubes schuldig ; tötete man es also, so hatte man gegen seine erzürnte Seele den bestohlenen Himmelsgott als Bundesgenossen gewonnen. Aber damit noch nicht genug. Der Opfer- priester führte den tödlichen Schlag hinterrücks und 25 entfloh dann eilig, das Beil in der Wunde zurück- lassend. Die Anwesenden stellten sich, als wenn sie den Schuldigen nicht wüßten, brachten das Beil vor Gericht und ließen es als Mörder des Landes verweisen. So wurde den Manen des geschlachteten Tieres ihre 3» volle Genugtuung, und ihr Groll mußte als abgewendet gelten.
Aber ein so umfangreicher Apparat der Vorsicht ließ sich nicht bei jeder Gelegenheit anwenden, die
3. Die Religion des Homer. 429
ihn nach der Meinung jener Zeit erheischt hätte. Aus jedem Stück Fleisch, das er verzehrte, aus jeder Pflanze, die er ahriß, aus jedem Stein, den er trat
425 oder anspie, konnte also dem Menschen eine Gefahr .-. erwachsen, ganz ähnlich derjenigen, welche der Mord heraufbeschwor. Wer sich so von ganzen Heerscharen freundhcher oder feindlicher Dämonen umgehen sah, dem kam wohl nicht sehr viel darauf an, ob das Lager der Gegner um einen oder zwei verstärkt wurde, die
10 noch dazu durch Zauber unschädlich werden konnten. Wenn sich trotzdem der Mord schon in sehr früher Zeit mit einem sakralen Schauer umkleidet, so ent- springt dies nicht der Logik des religiösen Denkens, sondern ihr zuwider hat es die Sittlichkeit durch-
15 gesetzt, die unabhängig von der Religion unterdessen entstanden ist und dann auf sie ihren Einfluß geltend macht.
Dies zeigt sich vor allem darin, daß die Tötung des Landesfeindes, dem man in ehrlichem Kriege
30 gegenüberstand, zu gar keinen religiösen Befürch- tungen Anlaß gab. Und doch besaß auch er eine Seele, deren rächende Gewalt man nach allen Konsequenzen des Animismus hätte scheuen müssen. Wenn trotz- dem die Erinys nur aus dem Blute des erschlagenen
25 Freundes, namentlich des Anverwandten, emporsteigt, so ergibt sich daraus unverkennbar, daß die Sittlich- keit eben nicht auf jenen Konsequenzen fußte, sondern sich trotz ihnen durchsetzte.
Auch der Sonnenglaube war nicht geeignet, sie
:m> zu stärken. Als sein Mythus sich ausbildete, hatte man an die Götter als solche noch keine sittlichen Forderungen gestellt. Sie waren machtvoller, aber nicht besser als die Menschen, sondern ganz nach deren Ebenbild erschaffen : jedes Leid, jeden Frevel,
430 IV. Religion und Sittlichkeit.
in den diese selbst verstrickt werden konnten, schrieben sie unbedenklich auch ihrem Gotte zu. So war er zum Vater- und Muttermörder, zum Ehebrecher und Blutschänder geworden, weil diese Verbrechen am 426 ])assendsten sein wechselndes Verhalten zu Erde. Mond s und Xacht zu erklären schienen. Was die Ausgestal- tung seines Mythus bestimmt hatte, waren eben keine sittlichen Bedürfnisse gewesen, sondern nur das wissenschaftliche, die Naturerscheinungen mensch- lich zu begreifen. Aber wieder eilte das moralische lo Empfinden der Religion voraus und versuchte zunächst noch sehr schüchtern, ihr seinen Stempel aufzuprägen. Unter den Abstraktionsgöttern traten auch Nemesis und Themis auf, und Zeus begann, sich des schutzlosen Fremdlings anzunehmen und das Recht zu wahren. 1.5 Als man erst soweit gekommen war. wurden aber die Erfindungen, mit denen eine ältere Zeit das Verhalten der Göttfj- am wahrscheinlichsten erklären zu können meinte, der neuen unwahrscheinlich. Wie sollten die- jenigen, in denen man jetzt Schützer des Rechtes 2« ei blickte, Frevel begangen haben, vor denen selbst dem verworfensten Menschen graute? Doch die Über- lieferung der Väter war nun einmal da, und was Jahrhunderte anstandslos geglaubt hatten, wagte man nicht, schlechtweg für falsch zu erklären. 25
Schon die ersten Versuche, das Bedenkliche aus dem Mythus wegzuschaffen, bewegten sich in ganz denselben Bahnen, die später auch die Sagenkritik der griechischen Historiker beschritten hat. Dasjenige, was man als den Kern des Überlieferten betrachtete, 3" ließ man bestehen ; nur die Einzelheiten erklärte mau für entstellt oder mißverstanden und schob sie dann so zurecht, wie es den modernen Forderungen dei' Wahrscheinlichkeit entsprach, wobei der eigentliche
o. Die Religion des Homer. 431
Silin des Mythus natürlich verloren ging. Denn nicht das Wesentliche bewahrte man, weil man es gar nicht mehr als solches erkannte, sondern dasjenige, was
427 dem neuen Denken und Empfinden am wenigsten r, Anstoß bot. Daß der hehre Apollon ein Vatermörder sei, war natürlich dummes Gerede; aber etwas Wahres mußte ihm doch wohl zugrunde liegen, denn sonst hätten es die Ahnen, vor deren Weisheit man großen Eespekt hegte, nicht erzählen können. Wahrscheinlich
10 also hatte er jemand erschlagen, den man nicht ganz ohne Ursache für seinen Vater halten konnte, etwa einen bösen Stiefvater oder auch nur einen, der &s hatte werden wollen. Tityos. der Erd- und Nachtriese, war ursprünglich jedenfalls als Gatte der Nachtgöttin
lö Leto und Erzeuger des Apollon gedacht, der altarischen Anschauung gemäß, daß die Sonne aus der Nacht hervorgeht. Jetzt machte man ihn zu einem lüsternen Unhold, der. die Göttin vergewaltigen wollte und mit Fug und Eecht den Pfeilen ihres Sohnes erlag. Ganz
-20 ähnlich hai man auch den Mythus des Per.seus um- gestaltet. Daß seine Mutter Danae die Göttin der Erde und ihrer dunklen Tiefen ist, ergibt sich schon aus ihrem Wohnen im unterirdischen Gemache, wo sie durch den goldenen Regen des Zeus befruchtet
25 wird; der Gott der Unterwelt Hades Polydektes ist also jedenfalls der passende Gemahl für sie. Der Mythus in seiner späteren Gestalt verwandelt ihn aber in einen zudringlichen Freier, der von dem tapferen Sohne der Braut schon beim Hochzeitsfeste getötet
30 wird. So war aus der Geschichte des Sonnengottes der Frevel nicht nur ausgetilgt, sondern zu einer Tat kindlicher Liebe und edelsten Heldenmutes er- hoben worden.
Mit dieser Eeinigungsarbeit, deren Ergebnisse
432 IV. Religion und Sittlichkeit.
sich in vielen griechischen Mythen nachweisen lassen, war man noch nicht zum Abschluß gelangt, als eine neue Phase der Eeligionsentwicklung eintrat, die ihre weitere Fortsetzung überflüssig machte. Ich meine die ii^ Umdeutung der alten Götter in menschliche Heroen. 5
Die Zeitströmung, welche diesen Prozeß herbei- führte, hat ihren ersten Ausdruck wohl im delphischen Apollonkult gefunden. Es ist allbekannt, welchen un- geheuren Einfluß die Priesterschaft des pythischen Gottes nicht nur auf das religiöse, sondern auch auf lo- (las politische Leben von ganz Hellas ausgeübt hat. Zu ihrem Orakel blickte man mit einer frommen Scheu empor, wie kein anderes griechisches Heiligtum sie hervorrufen konnte, und diese Ehrfurcht machte .sich in den höchsten Kreisen des geistigen Lebens 15. vielleicht noch mehr geltend, als in den breiten Volks- massen. Herodot wird nicht müde, immer neue Be- weise für die Unfehlbarkeit der Sibylle zu häufen und den Vorrang ihrer Aussprüche vor jeder andern Art der Weissagung durch Beispiele zu belegen, und noch 20- Piaton läßt in dem Idealstaate, dessen Verfassung er entwirft, den Gottesdienst durch das delphische Orakel regeln. Wie groß muß erst seine Wirkung gewesen sein, als es noch mit dem vollen Eeize der Neuheit umkleidet war! 2^
Was die Macht der delphischen Priesterschaft be- gründete und durch lange Jahrhunderte aufrecht er- hielt, war in erster Linie ihre Feinfühligkeit für die religiösen Forderungen jeder Zeit und die Schmieg- samkeit, mit der sie sich ihnen anzupassen wußte. 3» Als der Sturm des thrakischen Dionysoskultus Griechen- land durchtobte, hatte man auch in Delphi den Schwin- del mitgemacht; als er allmählich zu verrauschen begann, ließ man das rasende Mänadentum hinter
3. Die Religion des Homer. 433
dem .strengen und feierlichen Apollondienste zurück- treten, der die sehrojffste Eeaktion dagegen bezeichnete. Ein thrakisches Element, das sich noch nicht ab-
42t) gebraucht hatte, fügte man aber auch diesem ein, j die verzückte Begeisterung, die so mächtig auf die Phantasie der Massen wirken konnte. Und indem man sie nicht der ganzen Gemeinde zumutete, sondern auf die Priesterin beschränkte, gestaltete man. sie zu einem sehr brauchbaren Werkzeug in den Händen
10 des gewerbsmäßigen Pfaffentums. Die Sibylle wurde durch künstliche Mittel in ekstatischen Rausch ver- setzt und stammelte in diesem Zustande die wirren Worte hervor, welche dann die Priester in zierliche Verse umsetzten und dem Fragenden als göttliche
1.5 Offenbarung mitteilten. Die gleiche Form des Orakels findet sich auch in Thrakien und ist ohne Zweifel aus dem Savazioskultus nach Delphi übertragen ; aber der geschickten Priesterschaft gelang es, den Glauben daran lebendig zu erhalten, auch als das Tosen der
20 Mänaden zur halben Antiquität geworden war. Diesen Erfolg erreichte sie vorzugsweise dadurch, daß sie in ihrem Phoebus Apollon zum ersten Male den reinen Gott erschuf, den die geläuterte Sittlichkeit verlangte. Aus dem Begriff des Sühnegottes, den schon die vor-
25 hergehende Zeit der Sonne beigelegt hatte, war Jener Zug hervorgegangen; daß er aber jetzt zum beherr- schenden in seinem Wesen werden sollte, prägte sich in seinem Beinamen aus; denn Phoibos bedeutet „der Reine". Soweit sein Mythus in Delphi Anerkennung
30 fand, wurde alles aus ihm getilgt, was sittlichen An- stoß erregen konnte, und der Gott zu einem Muster- bilde frommer Gewissenhaftigkeit, wie jene Zeit sie verstand, umgeformt. Der altarischen Anschauung entsprechend, war er Drachentöter : man erzählte s II 28
434 IV. Religion und Sittlichkeit.
von ihm, daß er die furchtbare Schlange Python, die früher in Delphi ihren Sitz gehabt hatte, mit seinen Pfeilen erlegt und so sein Heiligtum ' erobert habe. Aber selbst das Blut eines Ungeheuers hatte ihm Ge- 480 Wissensbisse bereitet und ihn veranlaßt, durch lange 5 Knechtschaft bei dem sterbHchen Manne Admetos für den Mord Sühne zu suchen. So wurde er denn zum Schützer jedes Eechtes, zum strengen und doch barm- herzigen Tilger jeder Schuld, kurz zu dem echt gött- lichen Gotte, nach dem das Volksbewußtsein sich 10 sehnte. Und weil er dies wurde, drängte er die meisten andern Verkörperungen der Sonne weit zurück und rief Zweifel an ihrer Göttlichkeit hervor.
Mit der sittlichen Steigerung des Gottheitsbegriffes ging das Bestreben Hand in Hand, ihn auc^ nach i.> der Sichtung der Macht und Seligkeit immer mehr über das Menschliche zu erheben. Die Naturseelen der alten Zeit waren mit der gewöhnlichen Speise, wie sie auch die Sterblichen genossen, von diesen gefüttert worden und bedurften der Opfer, wenn sie 3» nicht hungern sollten. Auch jetzt noch war der Anthropomorphismus zu stark, als daß man sich Götter hätte denken können, die weder aßen noch tranken ; aber man schrieb ihnen doch nicht mehr die gemeine menschliche Nahrung zu, sondern setzte an 2* deren Stelle Nektar und Ambrosia, die alle Genüsse der armen Sterblichen weit übertrafen. Daß man trotzdem noch Opfer brachte und dafür auf Dank- barkeit rechnete, war nur ein Eudiment der früheren Anschauung. Seine theoretische Eechtfertigung fand so es darin, daß die Götter den Geruch des verbrannten Fleisches gern hätten, al)er ohne daß man in diesem Geruch noch die Seele der Speise gesehn hätte, welche die geistigen Wesen sättigte. Und wie ihre Nahrung
3. Die Religion des Homer. 435
von der menschlichen verschieden war, so auch ihr Blut; dies sollte ein üherirdischer, ganz hesonder.= feiner Saft sein, den man Ichor nannte. Ganz sind
Ul sie über Leiden und Kämpfe noch immer nicht er- 5 haben; nicht nur untereinander führen sie Krieg, son- dern sie können auch von den Lanzen der griechischen Helden verletzt werden. Trotzdem schreibt man ihnen eine Gewalt zu, die nah an Allmacht grenzt, und preist ihre Seligkeit im Gegensatze zu dem jämmer-
jo liehen Lose der Sterbhchen. Während in der früheren Zeit Menschenseelen und Naturgeister, selbst die höch- sten, wie sie Sonne, Mond und Himmel bewegten, völlig ineinander übergingen, ist man jetzt bemüht. eine unübersteigliche Schranke zwischen dem Gött-
15 liehen und dem Menschlichen zu errichten, obgleich man freilich von der Menschenähnhchkeit der Götter noch nicht loskommen kann.
So unvollkommen und widerspruchsvoll die Be- griffe der göttlichen Eeinheit, Seligkeit und Allmacht
20 auch ausgebildet waren, dennoch wollten sie zu den Mythen, mit denen eine frühere Zeit das Verhältnis von Sonne und Nacht erklärt hatte, nicht mehr passen. Nicht nur Vatermord und Blutschande, auch der frühe Tod des Gottes, sein qualvolles Umherirren, seine
25 bange Sehnsucht nach der Geliebten, kurz alle die Prüfungen und Leiden, die man ihm früher ganz un- bedenklich zugeschrieben hatte, erschienen jetzt seiner hehren Göttlichkeit unwürdig. Aber auch dieses Mal konnte man sich nicht entschließen, die Sagen, die
3ö man jahrhundertelang gläubig angehört und nach- erzählt hatte, jetzt plötzlich für falsch und erfunden zu erklären. ^Yieder suchte man nach einem Aus- gleich zwischen der Überlieferung und dem gereinigten Gottesbewußtsein und fand ihn in folgender Weise.
436 IV. Religion und Sittlichkeit.
Die Süiinengötter hatten sich zu Allgöttern aus- gebildet und diejenigen Wirkungen, die der Sonne als solcher zukommen, wie das Wärmen und Leuchten, waren ganz hinter den zahlreichen Attributen und 432 Tätigkeiten zurückgetreten, die man sonst noch auf 5 sie gehäuft hatte. In vielen Fällen hatte man schon vergessen, daß die Gottheit, zu der man betete, als die Seele eines Himmelskörpers gedacht war, und sah in ihr imr noch ein Wesen von übermenschlicher Ge- walt, das Gefahren abwenden, Schmerzen lindern und 10 Gebete erhören könne. Wesen dieser Art, wenn auch von geringerer Kraft und Wirksamkeit, waren aber auch die Totenseelen des Animismus gewesen, an die der Glaube zwar zurückgedrängt, doch keineswegs ge- schwunden war. Noch immer brachte jede Familie 15 ihren lieben Verstorbenen die alten Opfer dar, und einzelne Häuptlinge und Könige, die sich durch ihre Taten ein dauerndes Gedächtnis errungen hatten, wurden nach ihrem Tode von ganzen Städten und Stämmen verehrt. Diese vornehmeren Seelen nannte 20 man Heroen und schrieb ihnen eine Macht zu, die zwar hinter der göttlichen zurückstand, ihr aber doch sehr nahe kam. Wurden also von einer Gottheit Dinge erzählt, die nach der neuen Anschauung nur bei einem Menschen denkbar waren, so konnte man leicht zu der 2» Auslegung gelangen, sie sei gar keine eigentliche Gott- heit, sondern nur ein Heros, und jene Schicksale ge- hörten dem menschlichen Dasein desselben an. So wurde Asklepios zu einem hochgelehrten Arzte, der in der Väter Zeiten viele überraschende Kuren aus- so geführt hatte, Amphiaraos zum kundigen Wahrsager, Orpheus zum berühmten Sänger, Daidalos zum kunst- reichen Schmied, Theseus und die meisten andern zu Helden und Staatsmännern.
3. Die Religion des Homer. 437
Auch in Ägypten hatten sich ganz ähnliche Lehren entwickelt, doch waren sie hier noch tiefer in den Sitten und politischen Zuständen hegründet.
IBS Denn schon von alters her pflegte man den ägyptischen 5 Königen göttliche Natur zuzuschreiben und sie den Sonnengöttern gleichzusetzen. Daß ein despotischer Herrscher, der über Wohl und Wehe seiner Unter- tanen mit unbeschränkter Gewalt verfügt, als Gott den Segen und Fluch des Landes in seiner Hand halte.
10 ist eben eine so naheliegende Anschauung, daß viele Völker unabhängig voneinander dazu gelangt sind. War aber der König ein lebender Gott, so konnte man daraus leicht den Schluß ziehen, daß die wirk- lichen Sonnengötter, Ea, Ammon, Osiris, Horos und
15 wie man sie sonst benannte, frühere Könige des Landes gewesen seien, und dies haben die Ägypter tatsächlich angenommen. Da sie nun den Griechen immer als ein A^olk von ganz besonderer Weisheit erschienen sind, mußte ihr Beispiel dazu beitragen.
20 jene Umdeutung von Göttern in Heroen, für die es ja auch im griechischen Glauben selbst nicht an An- haltspunkten fehlte, zu rechtfertigen und weiter aus- zudehnen.
Eine bedeutsame Eolle bei der Entgöttlichung der
25 alten Götter fiel ohne Zweifel den fahrenden Sängern zu. Bei jedem Feste, jedem größeren Opfer wurde der Gottheit durch Lieder gehuldigt, die ihren Preis zum Gegenstande hatten und in der Regel ihre Taten erzählten. Soweit sie nicht im Chor abgesungen
30 wurden, trugen gewerbsmäßige Rhapsoden gegen Ent- gelt sie dem Volke vor, das im Zuhören eine der größten Ergötzlichkeiten seiner religiösen Feiern sah. Nun liegt es in der Natur des epischen Berichtes, daß er die Schicksale, von denen er handelt, schon
438 IV. ReHgion und Sittlichkeit.
aue künstlerischen Gründen noch menschlicher aus- gestalten muß, als schon die Volkssage es getan hatte ; denn nur das echt Menschliche kann ein naives Publikum ganz verstehen und sich fröhlich daran be- m geistern. Während der Mythus als solcher jeden ein- .-> /einen Vorgang aus dem Leben des Gottes als ein heiliges Geheimnis für sich behandelte, das einer Er- klärung weder bedurfte noch sie duldete, mußte der Sänger die gesondert überlieferten Züge unter sich verknüpfen und verständlich motivieren, wenn seine lo. Zuhörer ihm mit Interesse folgen sollten. Freilich war der einzelne Vortrag viel zu kurz, als daß er den ganzen Mythus eines Gottes hätte erschöpfen können ; er faßte daher nur wenige Abenteuer zusammen oder beschränkte sich auch auf ein einziges. Die geheim- i.s nisvolle Verschwommenheit, welche die Geschichte der göttlichen Person als Ganzes umgab und für den Glauben der Massen so wesentlich war. wurde daher nicht völlig zerstört. Immerhin aber gewannen die einzelnen Teile des Mythus an menschlicher Ver- 20 ständlichkeit, und für eine Zeit, die bestrebt war, das Göttliche von dem Menschlichen durch eine möglichst weite Kluft zu trennen, mußten sie in demselben Maße an göttlicher Erhabenheit verlieren.
Als nun der Glaube sich verbreitete, der Inhalt der 2.s Mythen handle von reinen Menschenschicksalen, deren Träger erst nach ihrem Tode zu halbgöttlichen Heroen erhoben seien, da mußten die Sänger in ihrer Mehr- zahl dies mit Freuden begrüßen. Denn sie sangen ja nicht nur bei den Götterfesten, sondern auch beim 30 frohen Mahle oder auf dem Markt, wo das Volk sich sammelte, und hier waren auch weltliche Stoffe wohl am Platze. Dazu waren die meisten arme Teufel, die von den freiwilligen Gaben ihrer Zuhörer lebten;
3. Die Religion des Homer. 439
diese aber flössen um so reicher, je ergötzlicher das Vorgetragene war. Die Verknüpfung der einzelnen Göttertaten zu größeren Menschengeschichten, die
485 einem naiven und wundergläubigen Publikum den 5 Eindruck des wirklich Geschehenen hervorrufen konnten, bot ihnen jetzt eine Überfülle von Stoff zu Xeudichtungen, und diese vereinigten in sieh die ästhetischen Vorzüge, als Ganzes die Hörer mit dem vollen Eeize der Neuheit zu ergreifen und doch fast
10 in jeder Einzelheit an Liebes und Bekanntes anzu- knüpfen. So entstand jener bunte Epenkranz, von dem unser Homer nur ein armes Bruchstück darstellt. Die ihn erschufen, wußten wohl selber kaum, in welchem Grade ihre Lieder ein Spiel der freien
15 Phantasie waren. Denn die Mythen, die für sie den Grundstoff bildeten, hielten sie ja für historische Er- eignisse, zwischen denen nur der verlorene Zusammen- hang herzustellen sei, und auch ihr Publikum glaubte fest an die Wirklichkeit derselben. So gewannen
20 die Gestalten des früheren Volksglaubens, die einer kritischeren Zeit als Götter in nichts zerflossen, als scheinbar geschichtliche Helden und Könige neues Leben.
Später meinten die Griechen, Homer habe ihuen
■i". ihre Götter gemacht; mit mehr Eecht dürfen wir sagen, er hat ihre Götter vernichtet. Denn der epische Gesang, für den Homer nur der Kollektivname war, trug wohl am meisten dazu bei, eine Überzeugung, die sich erst nur in wenigen der lichtesten Köpfe
30- geregt hatte, daß nämlich die Mehrzahl der Sonnen- götter menschliche Heroen seien, schnell über die ganze Masse des Volkes zu verbreiten. Die Sänger zogen von Stadt zu Stadt und erzählten überall auf den Märkten von den Leiden des Oedipus, dem Zorne
440 IV. Religion und Sittlichkeit.
des Achill, den Irrfahrten des Herakles, Odysseus und lason; und überall lauschte ihnen eine neugierige Menge und nahm die seltsame Kunde von denen, die man bisher für Götter gehalten hatte, mit gläubigem 436 Staunen auf. Freilich gelang es nicht an jedem Orte. 5 sie ganz zu entgöttlichen; wo ihr Kultus im Volks- bewußtsein gar zu tiefe Wurzeln geschlagen hatte, da blieb er bestehen trotz der neuen Aufklärung. In Sparta opferte man auch später dem Zeus Aga- memnon, dem Menelaos und der Helena als Göttern, lo. nicht als Heroen, und in Atollen behielt Odysseus, in Oropos Amphiaraos ihre alten Orakel. Doch dies und ähnliches blieben lokale Besonderheiten, die auf den Glauben von Hellas als Ganzes keinen Einfluß übten.
Man könnte erwidern, daß dies nichts Neues sei. lö da ja auch früher alle Götter nur lokale Anerkennung fanden; denn selbst wenn sie von mehreren Städten aufgenommen wurden, bedeutete dies nur eine Be- ■ reicherung und teilweise Angleichung der einzelnen Lokalkulte, nicht aber ihre Verallgemeinerung zu 20 einer griechischen Nationalreligion. Wenn eine solche trotzdem entstand, ist dies wahrscheinlich ein Ver- dienst des epischen Gesanges gewesen. Homer schuf den Griechen zwar nicht ihre Götter, wohl aber ent- schied er darüber, welche von ihnen im ganzen Ge- i' biete der griechischen Sprache Anerkennung finden, welche andern in der Enge weniger Kleinstädte ver- kümmern sollten, und bereitete so die künftige Welt- religion vor. Allerdings war jene Entscheidung keine willkürliche, sondern wurde durch das herrschende 30 Volksbewußtsein bestimmt .
Die Sänger waren fahrende Leute und mußten den Schatz von Liedern, den sie sich eingeprägt hatten, heute in dieser und morsfen in jener Stadt
3. Die Religion des Homer. 441
vortragen. Daraus folgt, daß sie ihren Dichtungen keine eng lokale Färbung geben durften, weil sie
437 sonst dem größeren Teil ihres schnell wechselnden Publikums ungenießbar geworden wären. Wie sie in
5 ihrer Sprache sich nicht der Mundart einer Stadt an- schlössen, sondern Elemente aus allen möglichen griechischen Dialekten zu einem bunten Gemisch 'ver- einigten, das nirgends gesprochen, aber überall ver- standen wurde, so mußten sie es ähnlich auch mit
10 den religiösen Anschauungen machen, die in ihren Gedichten zum Ausdruck kamen. Sie mußten ihre Götterwelt so einrichten, wie sie in allen oder doch den meisten Staaten von Hellas geglaubt wurde, hatten also die lokalen Besonderheiten möglichst auszu-
15 scheiden und das Allgemeine in den Vordergrund zu stellen. Um aus der bunten Fülle der Einzelkulte das Gemeinsame und allen Verständliche herauszuschälen, bedurfte es freilich eines so feinen Gefühls für den Volksgeist, wie es nicht jedem gegeben war. Doch
20 wenn Verstöße vorkamen, fanden sie bald ihre Koi-- rektur. Denn die epischen Gesänge befanden sich ja noch im Flusse ; sie waren nicht in feste schriftliche Form gebracht, sondern jeder Sangesschüler lernte eine gewisse Anzahl aus dem Munde seines Lehrers
-2.5 auswendig und dichtete frei daran weiter. Bemerkte er also, daß irgend eine rehgiöse Anschauung, die in seinem Liede vorkam, dem Publikum nicht verständ- lich war oder gar Anstoß erregte, so konnte er sie leicht durch eine passendere ersetzen. So reflektierte
30 das Volk seine Beligion in den Sängern, aber nicht ohne seinerseits auch von ihnen zu empfangen. Denn während sie in steter Fühlung mit dem religiösen Empfinden der Massen das Gemeinsame sammelten und formulierten, brachten sie auch ihrem Publikum
442 IV. Religion und Sittlichkeit.
dasjenige zu höherer Klarheit, was bisher mehr gefühlt als gewußt in ihm geschlummert hatte. Namentlich aber verbreiteten sie die religiöse Gedankenwelt, die 438 in den geistig führenden Staaten ausgebildet war, auch in die abgelegenen Winkel des hellenischen Landes, 5 wohin der Hauch der neuen Zeit erst später drang, und schufen so wirklich eine Art von Nationalreligion.
Wollen wir nun diese homerische Theologie in ihren Haupt umrissen schildern, so werden wir gut tun, ihre Götter in drei Gruppen zu scheiden, die wir mit lo den Namen der Abstraktionen, der Naturgeister und der persönlichen Götter bezeichnen können. Gehen wir auf ihren historischen Ursprung zurück, so fallen alle drei Klassen zusammen, da die ältesten Abstrak- tionen aus persönlichen Göttern entstanden und diese 15. ursprünglich Naturgeister gewesen waren. Aber daß Paian aus dem Apollon Paian hervorgegangen war, daß dieser selbst die Sonne, Athene das Feuer be- deutet hatten, wußten die homerischen Dichter längst nicht mehr, und selbst bei Zeus war der Himmelsgott 20 hinter dem Vater der Götter und Menschen weit zu- rückgetreten. Wenn im Epos jemand bei Himmel und Erde schwört, nennt er nicht mehr Zeus und Hera. wie man es wohl in älteren Zeiten getan hatte, sondern Uranos und Gaia. Allerdings war bei manchen jener 25 Gestalten, z. B. bei Zeus selbst, ihre elementare Be- deutung auch für die Sänger noch nicht ganz ver- schwunden, und einzelne der Naturgeister, die sich ihnen noch als solche darstellten, z. B. Poseidon und Hephaistos, gingen schon in persönliche Götter über. 30 Wenn aber auch die Grenzlinie zwischen jenen Klassen sich nicht ganz scharf ziehen läßt, im allgemeinen ist die Unterscheidung danach, wie das Epos selbst seine (1 Otter auffaßt, doch M'ohl möglich und berechtigt.
3. Die Religion des Homer. 4.43
Beginnen wir mit den Abstraktionen, so ist ihre
4S9 Zahl bei Homer schon sehr groß, aber ihre Bedeutung für das religiöse Empfinden um so geringer. Wird eine Schlacht geschlagen, so treten Eris, der Streit, 5 Enyo, das Gretümmel, Kydoimos, der Kriegslärm, Deimos, die Furcht, und Phobos, die Flucht, in Tätig- keit; aber keiner dieser blutleeren Begriffe führt die Entscheidung herbei oder bestimmt das Schicksal der Kämpfenden; keiner wird von ihnen um Hilfe ange-
10 rufen. Jene Gottheiten dienen dem Sänger mit ihren durchsichtigen Xamen viel mehr zur Schilderung des Kampfes, als daß er in ihnen die Leiter desselben er- blickte. Die ihre Schützlinge retten und ihnen den Sieg schenken, sind nicht Eris oder Kydoimos, sondern
15 Athene, Hera, Apollon, vor allen andern Zeus. Auch einen wirklichen Mythus hat keine jener Abstraktionen ausgebildet; was von ihren Schicksalen im Epos be- richtet wird, ist alles bewußte Allegorie in ganz modernem Sinne. Selbst daß Eris den berühmten
20 Apfel in die Götterversammlung wirft, ist nicht anders aufzufassen ; der große Streit der Götter und Menschen wird eben durch den personifizierten Streit erregt. Wenn Hebe, die Jugendkraft, als Mundschenkin des Olymp erscheint, so drückt dies nur aus, daß der
25 wunderbare Trank, den die Unsterblichen genießen, ihre Jugendkraft erhält. So wird diesen Abstraktions- göttern keine Handlung zugeschrieben, die sich nicht aus dem engsten Kreise ihres Begriffes von selbst er- gäbe ; nach keiner Eichtung hin wird ihre Gestalt mit
30 persönlichen Zügen ausgemalt. In jeder Beziehung tritt es hervor, daß sie zur Zeit des Homer ganz junge Bildungen waren, die noch nicht zu voller An- schaulichkeit hatten durchdringen können.
Mehr plastisches Leben zeigen die Naturgeister,
444 IV. Religion und Sittlichkeit.
doch werden auch sie desto seelenloser, je neuer ihre Prägung ist. Dies erkennt man namentlich an den 440 Göttern von Himmel und Erde, Sonne und Mond, die jnerkwürdigerweise die gestaltlosesten und mindest per- .sönlichen unter den großen Naturgeistern sind. Dei' 5 Grund liegt ehen darin, daß diese BegriflEe in der früheren Zeit am allerreichsten und vielgestaltigsten ausgebildet waren. Durch die Überfülle mannigfacher Attribute, die man auf Zeus, Hera, Demeter, Apollon, Hermes, Artemis usw. gehäuft hatte, war ihre ur- 10 sprüngliche Naturbedeutung überwuchert und bei den meisten zum Schlüsse ganz ausgelöscht worden. Da man gleichwohl auf eine Beseelung der größten Ele- mentarkörper nicht verzichten konnte, gab man ihnen neue Götteniamen, die jetzt ganz unzweideutig ihren 15 Gegenstand zum Ausdruck brachten. Uranos bedeutet wörtlich und unverkennbar den Himmel, Gaia die Erde, Helios die Sonne, Selene den Mond; jeder Irr- tum, wie er früher durch das Überwuchern der Bei- namen herbeigeführt wurde, war hier ausgeschlossen. 20 Aber je klarer jene Bezeichnungen waren, desto blasser und wesenloser wurden die Gestalten, die sie aus- drückten. Helios und Selene sind zwar nicht so un- persönlich geblieben, wie Eris oder Hebe; sie haben sogar einen Mythus entwickelt, wenn er auch dürftig i-> genug war; aber erst nach langen Jahrhunderten sollten sie die gleiche mächtige Bedeutung für den Volksglauben erlangen, den A])ollon und Artemis von alters her besaßen.
Neben diesen neuen Naturgöttern blieben die 30 alten bestehen, soweit ihre Bedeutung im Volksl)e- wußtseiu noch lebendig war. Hades bezeichnete nach wie vor die Unterwelt als l^aum wie als Gott. Eos und Iris die Morijenröte und dvn Regenbogen; bei
3. Die Religion des Homer. 445
Poseidon und Hephaistos waren die Namen z^\ar un-
441 durchsichig geworden, aber die Erinnerung, daß sie Meer und Feuer darstellten, nicht geseh^v-unden, so daß man auf die Bildung von Göttergestalten, wie 5 Thalassa und Pyr, die dem Uranos oder Helios ent- sprochen hätten, verzichten konnte. Denn im all- gemeinen machte man es zum Prinzip, daß jeder Xaturgegenstand nur durch einen Gott repräsentiert werden dürfe. Die Nebenformen devS Hades, wie
10 Admetos, Polydektes, Hektor, sind daher alle zu menschlichen Heroen geworden und ebenso Daidalos der Doppelgänger des Hephaistos. Auch von den Vertretern des Meeres hat ein Teil, wie Aigeus, Sisy- phos, Laertes, das gleiche Schicksal erfahren; andere,
15 wie Proteus, Thetis, Leukothea, blieben zwar Meer- götter, aber nur insofern sie ihren Wohnsitz im Meere hatten, nicht insofern sie das Meer als solches dar- stellten; sie traten also in die Reihen der persönlichen Götter über.
20 Ehe wir uns dieser wichtigsten der drei Gruppen
zuwenden, müssen wir noch mit einigen Worten der Rolle gedenken, welche die kleinen Naturgeister des Animismus in den homerischen Anschauungen spielen. Diejenigen unter ihnen, welche rein menschliche Ge-
25 stalt trugen, die Nymphen, Dryaden und Oreaden, blieben in ihrer Stellung, nur daß diese, nachdem so- viel größere Götter sich über sie erhoben hatten, eine .sehr bescheidene geworden war; dasselbe gilt von den stierleibigen Flußdämonen. Dagegen wurden die
30 andern halbtierischen Gesellen, Kentauren, Satyrn, Pane, Meerweibchen, ihrer Göttlichkeit ebenso ent- kleidet wie Odysseus und Agamemnon, nur waren sie nicht zu Heroen gemacht, ^sondern galten für wunder- liche Tierarten. So hatte man sie aus der Religion '
446 IV. Religion und Sittlichkeit.
in die Naturgeschichte verwiesen, und hier haben sie ihr Dasein noch in gedruckten Büchern gefristet, ja 448 die Meerweibchen sind bis auf den heutigen Tag nicht ausgestorben, wie man auf jedem beliebigen Jahr- markt sehen kann. Ein vornehmeres Los ist nur einem .-. jener zottigen Burschen zuteil geworden. Bei den zurückgebliebenen Arkadern bewahrte sich der ziegen- füßige Pan nicht nur seinen alten Kultus, sondern wurde sogar weit über seine frühere Bedeutung er- hoben. Hier häufte man auf ihn, dem Zuge der Zeit lo folgend, alle Attribute der göttlichen Macht, wie man es in höher entwickelten Landschaften bei dem Sonnengotte gemacht hatte, und bildete ihn so zur Allgottheit aus, die dann auch von anderen Stämmen aufgenommen wurde. 15
Diese Gestalt von seltsamer Altertümlichkeit leitet uns zu den persönlichen Göttern hinüber, mit denen sich der Volksglaube jetzt am lebhaftesten beschäftigt. Die meisten haben sich aus jener großen Zweiheit, alle aus Xaturgeisl^rn entwickelt. Eine Ausnahme 20 scheint nur Ares zu machen, der allgehaßte Vertreter des Mordes. Dieser war ursprünglich vielleicht ein männliches Seitenstück zu Erinys, also ein Höllen - dämon, der aus dem Gedankenkreise des Animismus hervorgegangen ist. Doch auch bei den übrigen, die 25 einst Seelen eines Naturkörpers vorgestellt hatten, war dies ganz oder halb vergessen. Jeder von ihnen hat allgemeine Bedeutung gewonnen; jeder beherrscht alle Seiten des Natur- und Menschenlebens und kann allen Bitten, worauf sie sich auch beziehen mögen, s« Erhörung winken. Sie unterscheiden sich nicht mehr nach ihrem Machtbereiche, der immer derselbe ist, sondern nur nach ihrem individuellen Charakter. Apollon ist hehr und rein, Hermes lustig und ver-
3. Die Religion des Honiiv. 447
schmitzt, Dionysos von begeisterter Erregtheit, Athene
44? klug, streng und kriegerisch, Aphrodite schön und verbuhlt. Wer ein Anliegen an die Gottheit hat. wendet sich natürlich am liebsten an denjenigen Ver- 5 treter ihrer Allmacht, bei dem er nach dessen Sinnes- art das meiste Verständnis für seine Wünsche er- warten kann. Man wird daher in der Eegel bei Athene nicht um Liebesglück, bei Aphrodite nicht um Kriegs- ruhm beten, aber nicht etwa, weil nicht jede von beiden
10 alles zu gewähren vermöchte, sondern nur weil die eine an diesem, die andere an jenem ein lebhafteres Interesse nimmt. Ihre Macht ist nach keiner Eich- tmig hin beschränkt, wohl aber haben die meisten Gottheiten, wie ja auch die meisten Menschen, ihre
15 Lieblingsbeschäftigungen, auf die ihr Anbeter Eück- sieht nehmen muß.
Aber wenn auch jeder der persönlichen Götter an sich alles kann, so ist er darum noch nicht allmächtig. Denn weil sie an Charakter und Neigungen ver-
20 schieden sind, so liebt der eine sehr oft, was der andere haßt, und ihre Wirkungen heben daher einander auf. In der Ilias stehen Hera und Athene auf selten der Griechen, Aphrodite, Ares und ApoUon sind den Trojanern hold, und wegen dieses Widerstreites bleibt
25 das Kriegsglück solange schwankend; haben die Götter sich erst geeinigt, so muß sich auch das Schicksal der belagerten Stadt entscheiden. Der persische Dua- lismus kannte einen guten und einen bösen Gott, die sich fortwährend störten und hemmten; bei den
■M Griechen gibt es keine Gottheit, die unbedingt schlecht zu nennen wäre, aber die Güte jeder einzelnen ist von verschiedener Art und Eichtung, und der Erfolg ist ganz dasselbe Hemmen und Stören.
Was führt nun aber in diesem Streite der Götter
448 IV. Religion und Sittlichkeit.
die Entscheidung herbei? Im Sinne der homerischen Dichter kann die Antwort nur lauten: die größere 444 Stärke. Denn obgleich der Kreis ihrer Tätigkeit bei allen gleich umfassend ist, bleibt doch der eine Gott dem andern an Kraft überlegen. Zeus darf sich 5 rühmen, wenn alle seine Genossen sich an das Ende einer Kette hingen, könne er allein sie zu den Höhen des Olymp emporziehen, und vor den Wunden seines Blitzes zittern selbst Hera und Athene. So ist er kraft seiner rohen physischen Gewalt imstande, alles 10 durchzusetzen, und die übrigen Götter müssen sich ihm aus Furcht beugeii. Freilich bleibt ihnen die Möglichkeit, Eänke zu spinnen und den höchsten Herrscher zu betrügen; dadurch kann sein Eatschluß aber nur zeitweilig aufgehalten werden, am Ende muß 15 er sich immer erfüllen.
Wenn ein Teil der alten Naturgeister zu mensch- lichen Heroen, ein anderer zu persönlichen Göttern wurde, so darf man wohl fragen, wodurch bei so übereinstimmenden Bildungen diese Verschiedenheit 20 ihres Schicksals bedingt war. Einige behaupteten ihre alte Größe jedenfalls dadurch, daß ihr Kultus zu tief im Volksbewußtsein begründet war, um sich durch vernünftige Erwägungen weginterpretieren zu lassen. So blieben, wie wir gesehen haben, manche 2» Heroen in einzelnen Städten und Landschaften noch als Götter in Geltung, auch nachdem sie im übrigen Hellas zu Menschen geworden waren. Zeus, der in allen Gauen Griechenlands der gleichen Verehrung genoß, war nirgend von seinem Thron herabzureißen: 30 höchstens daß einzelne Beinamen von ihm, wie Aga- memnon, Amphiaraos oder Minos, unter die Heroen gingen. Aber selbst ein weit verbreiteter und tief gewurzelter Kultus schützte die Götter nicht imnuT
3. Die Helikon des Homer. 449
vor Vermenschlichung, wie Herakles, Asklepios und
445 Dionysos beweisen. Ihre Gottheit war im Empfinden des Volkes zu lebendig, um Zweifel dagegen auf- kommen zu lassen; trotzdem deutete man ihre Schick- r, sale menschlich und versöhnte diese Neuerung dadurch mit dem allgemeinen Glauben, daß man sie wegen ihrer ganz besonderen Verdienste nach ihrem Tode nicht nur zu Heroen, sondern zu Göttern werden' ließ. Im ganzen scheint also die Art des Mythus
10 das Entscheidende gewesen zu sein: je reicher er ausgestaltet war, je mehr Bedrängnisse, Kämpfe und Leiden er namentlich enthielt, desto weniger fand man ihn eines wirklichen Gottes würdig. So sind denn die Gottheiten, welche fortfuhren, sich unbeding-
15 ter Geltung zu erfreuen, alle mit einem recht dürf- tigen Mythus ausgestaltet ; Zeus allein macht eine Ausnahme. Also gerade diejenigen, mit denen die Phantasie der früheren Zeiten sich am liebsten be- schäftigt hatte, wurden jetzt eben wegen der Gebilde
20 jener Phantasie vom Himmel ausgestoßen oder doch, wie Herakles und seine Genossen, nur durch eine Hintertür wieder in ihn zurückgeführt.
Die Verwandlung so vieler Götter in frühere Sterbliche mußte auch die Ansichten über das Leben
35 nach dem Tode beeinflussen. Man war davon aus- gegangen, daß die Seelen in den Gräbern der Leich- name wohnten, dort ihre Opfer empfingen und von diesen Sitzen aus als schreckende Gespenster oder hilf- reiche Dämonen über die Erde schweiften. Dann waren
00 sie alle in einem fernen Westreiche versammelt worden, wo sie mit dem untergegangenen Sonnengott in Herrlichkeit und Freude lebten. Aber dieser Glaul>e behauptete sich nicht ; die neue Heroenlehre, die zu- gleich durch die überlebenden ßeste des ältesten s II 29
450 IV. Religion und Sittlichkeit.
Animismus sehr wirksam unterstützt wurde, brachte 446 ihm den Untergang. Odysseus, Achilleus, lason und wie die vermenschlichten Sonnengötter alle hießen, empfingen Opfer und taten Wunder, obgleich sie doch nach der jetzt herrschenden Anschauung ver- 5 storbene Helden waren. Sie konnten folglich nicht auf irgend einem entlegenen Eiland hausen, sondern mußten noch immer mitten unter ihren Verehrern weilen, wie die frühesten Totenseelen es getan hatten. So bevölkerte sich die Welt noch einmal mit Gespen- lo stern, aber der neuen aufgeklärten Zeit schien das stete Eingreifen der Dämonen in das Menschenleben erst recht lästig. Wieder strebte man danach, sich von ihnen zu befreien, und wählte dazu ein Mittel, das durch und durch abergläubisch war, aber gerade da- is durch den Aberglauben am besten bekämpfte.
Es gibt eine Vorstellung, die noch in der Neuzeit verbreitet war und vielleicht die Hexenverbrennungen des Mittelalters mit veranlaßt hat, daß man eine Vam- pyrseele unschädlich mache, indem man den Leich- 20 nam, zu dem sie gehört, durch Feuer vernichte. Da- durch wird sie selbst zwar nicht zerstört, wohl aber an die Unterwelt gebannt, so daß die Rückkehr auf die Erde ihr abgeschnitten ist. In diesem Sinne be- gannen die Griechen schon zu einer Zeit, die den 95 homerischen Gedichten weit vorausliegt, ihre Toten zu verbrennen, und verschafften ihnen so die ewige Ruhe im Hades. War in den Flammen des Scheiter- haufens der Leib zu Asche geworden, so trat die Seele in jenes bewußtlose Schattendasein ein, wie wir es 30 aus der Höllenfahrt des Odysseus kennen, und jede Einwirkung auf die lebenden Menschen hörte für sie auf. „So ist die homerische helle Welt befreit von Nachtgespenstern — denn selbst im Traume zeigt
3. Die Religion des Homer. 451
447 sich die Psyche nach der Verbrennung des Leibes nicht mehr — , von jenen unbegreiflichen spukhaft wirkenden Seelengeistern, vor deren unheimhchem Treiben der Aberglaube aller Zeiten zittert. Der 5 Lebende hat Ruhe vor den Toten. Es herrschen in der Welt nur die Götter, keine blassen Gespenster, sondern leibhaft fest gegründete Gestalten, wohnend auf heiterer Berghöhe, ,und hell läuft darüber der Glanz hin^ Keine dämonische Macht ist neben ihnen,
10 ihnen zuwider, wirksam; auch die Nacht gibt die ent- flogenen Seelen der Verstorbenen nicht frei.'"
Sich so von den Seelen zu befreien, die man vor- her als hilfreiche oder schädliche Geister angebetet hatte, war ohne Zweifel eine arge Pietätlosigkeit; aber
16 gerade in dieser Eigenschaft liegt die Größe des hellenischen Volkes. Denn nur sie konnte ihm den Mut geben, immer wieder das Veraltete abzustoßen und nach dem besseren Neuen zu streben, und hier- durch ist es die einzige Nation geworden, die im
20 Altertum eine rein profane Wissenschaft aus sich hervorbringen konnte. Ganz hat freilich auch ihm die Pietät für die Überlieferungen der Väter nicht ge- fehlt; die zahlreichen Eudimente seines Geisteslebens, die wir immer wieder zu besprechen hatten, geben
25 davon beredtes Zeugnis. Aber es schaltete doch viel freier mit dem alten Glauben als irgend ein Volk, das uns sonst bekannt ist, und hat daher seine Religion auch am häufigsten und gründlichsten umgestaltet. Auch die homerischen Anschauungen sollten nicht auf
30 die Dauer bestehen ; schon die Gedichte selbst, die uns von ihnen Zeugnis geben, lassen in einzelnen Teilen erkennen, wie eine höher gesteigerte Sittlich- keit sich gegen sie erhebt und nach neuen religiösen Formen ringt. Namentlich zeigen sie uns schon die
452 IV. Religion und vSittlichkeit.
Keime, aus denen einst die folgenreiche Lehre hervor- 448 wachsen sollte, daß im Jenseits die Guten belohnt, die Bösen gestraft würden.
Unter den vermenschlichten Sonnengöttern befand sich auch einer, der den Beinamen Ixion führte. Von 5 diesem hatte man angenommen, er werde in einem feurigen Rade durch die Luft gewirbelt, eine so naive Vorstellung von der Natur des Sonnenlaufes, daß sie jedenfalls uralt sein muß. Daß man von jenem Ixion erzählte, er habe die Erd- und Nachtgöttin vergewal- lo tigt, entsprach durchaus dem Charakter des Sonnen- mythus. Denn als Nacht mußte sie ja die Feindin des Gottes sein, als Erde mit ihm Kinder zeugen, was man am passendsten durch die Annahme einer ge- waltsamen Begattung zu vereinigen meinte. Wenn 15 Herakles der Amazone im Kampf ihren Gürtel raubt, so liegt dem ganz dieselbe Anschauung zugrunde. Eine Sünde hatte anfangs keiner in der Tat des Ixion sehen können; denn Hera war ja mit ihm im Kriege und konnte sich folglich nicht beklagen, -i» wenn sie erUtt, was damals allgemeiner Kriegsbrauch war. Diese Auffassung änderte sich, als Ixion zum Heroen wurde, während seine Gegnerin ihre Göttlich- keit bewahrte. Jetzt war sein Unterfangen ein un- geheurer Frevel geworden, nicht nur gegen Hera selbst, 25 sondern auch gegen ihren Gatten, den Vater der Götter und Menschen, und man kam zu dem Schlüsse, daß jenes Wirbeln im feurigen Rade, das anfangs nur die Bewegung der Sonne hatte bezeichnen sollen, als Rache der Götter aufzufassen sei. Und ähnliche, für alle 30 Ewigkeit gequälte Sünder schlössen sich dem Ixion an. Denn auch bei Tantalos. Sisyphos und den Danaiden war ursprünglich weder von Schuld noch von Strafe die Rede gewesen; erst die modernere Sittlichkeit hatte
o. Die Religion des Homer. 453
449 auch ihren Mythus in diesem Sinne umgedeutet. So war man durch ein Verkennen der alten Väter.sage, das nicht absichtlich, aber wohl durch moralische Ten- denz hervorgerufen war, zu einer Anzahl von Bei- s s])ielen gelangt, daß, wenn auch nicht jeder Bösewicht, so doch einige der allerschlimrasten in der Hölle ihre Strafe fänden, und auf ganz analoge Weise bildete sich auch der Begritf eines seligen Himmelreiches. Eine Form des Sonnenmythus hatte berichtet, da LI
10 der Gott nach seinem frühen Tode auf einer Insel im fernsten Westen wieder auflebe und dort mit den Phaeaken, d. h. den abgeschiedenen Menschenseelen, ein neues Dasein in Lust und Freude l>eginne. Der Glaube an das Toteneiland war seitdem verschwunden,
15 die Phaeaken zu Menschen geworden, und ebenso die Gestalten des Sonnengottes, an die sich jener Mythus heftete. Trotzdem hatte sich die Sage behauptet, daß Achill, Menelaos, Diomedes auferstanden seien und auf einer seligen Insel fortlebten, nur schrieb man
20 dies jetzt, wie die Aufnahme des Herakles unter die Götter, ihren besonderen Verdiensten zu. Moralische brauchten dies nicht gerade zu sein; Menelaos z. B. wurde nicht um seiner Tapferkeit willen in das Ely- sion versetzt, .sondern nur weil er mit der Tochter
25 des Zeus vermählt war, also durch eine launische Vorliebe des Himmelskönigs für seine persönliche Verwandtschaft. Al)er schon am Ende des sechsten Jahrhunderts, als die Sammlung des Homer eben erst zum Abschluß gekommen war, schrieb ein attisches
30 Volkslied auch dem Harmodios und Aristogeiton, die man als Tyrannenmörder verehrte, einen Anspruch auf die selige Insel zu. Xoch war man weit entfernt, alle Totenseelen teils dem Elysion, teils den Höllen- strafen zuzuweisen : die große Mehrzahl der Menschen
454 IV. Rfiligion und Sittlichkeit.
erwartete im Jenseits weder Qual noch Seligkeit, son- 450 dern jenes fühllose Hindämmern, wie es dem Odys- seus im Hades entgegentritt. Aber für einzelne her- vorragende Verdienste, wie für einzelne hervorragende Frevel waren docli schon Orte des Lohnes und der 5 Bestrafung geschaffen, die ihren Wirkungskreis bald weiter ausdehnen sollten.
Auch über die Götter findet sich in einzelnen Teilen des Homer eine Anschauung, die sich hoch über die durchschnittliche erhebt. Hier wird die lo Übermacht des Zeus nicht mehr durch seine über- legene Muskelkraft und sein furchtbares Geschoß be- gründet, sondern er ist der ausschließliche Leiter der Weltgeschicke, und alle übrigen Gottheiten werden zu seinen Werkzeugen oder höchstens zu Katgebern, is In diesem Sinne ist Hermes zu seinem Boten gemacht, und Apollon verkündet die Zukunft nicht kraft eigener Macht und Weisheit, sondern nur als Sprachrohr seines Vaters. Indem man so einem Gotte die Eegierung von Himmel und Erde übertrug und die andern in die 20 Stellung ausführender Organe herabdrückte, näherte man sich zum zweiten Male dem Monotheismus und erhob sich sogar über jene große Zweiheit, von welcher der reine Sonnenglaubc ausgegangen war.
Aber noch höher als Zeus steht eine Macht, die 25 nicht mehr göttlich und persönlich ist, sondern schon völlig in den Bereich des philosophischen Begriffes fällt, das ist die Moira, die eiserne Notwendigkeit. An sie kann man Gebete nicht richten, weil ihr Schluß unwandelbai' gefaßt ist und sich durch kein 30 menschliches Flehen beugen läßt. Sie ist ein hehrer Gedanke, der über den Göttern thront und wohl ge- eignet gewesen wäre, sie ganz zu vernichten, wenn man ihn damals schon hätte ausdenken können und
3. Die Religion des Homer. 455
451 ihn nicht durch tausend Inkonsequenzen illusorisch gemacht hcätte.
Wir haben diesen Abschnitt mit einer Behauptung eingeleitet, die zunächst noch unbewiesen war und 5 gewiß bei manchem Widerspruch erregt hat, daß näm- lich die Religion nicht die Sittlichkeit bestimme, son- dern von ihr bestimmt werde; jetzt glauben wir einen Beweis geführt zu haben, der unmittelbar zwar nur für eine Geschichtsepoche gilt, aber sich wohl verall-
10 gemeinern läßt. Aber, so wird man fragen, wenn nicht religiö.se Belehrung die Sittlichkeit reinigt, wo- durch macht sie denn jene Fortschritte, die im Ver- laufe der Zeit auch in der Eeligion ihren Ausdruck finden ? Auch hierin ist, wie ich meine, das Walten
15 der Xaturauslese zu erkennen, die fast unbemerkt, aber darum nicht minder unaufhaltsam jede Art von Lebewesen den Bedingungen ihres Daseins immer genauer anpaßt. Denn es ist im Wesen der Sittlichkeit begründet, daß sie der Gesellschaft zum Nutzen ge-
20 reicht, und im Zusammenwirken mit seinesgleichen liegt die eigentliche Kraft der menschlichen Art.
Der Anfang jeder Geschichte ist ein rechtloser Zustand, in dem man sich gegen die t'bergriffe der andern nur mit Gewalt schützen kann. In solchen
25 Zeiten müssen die Feigen und Sehwachen untergehn ; aber auch der Starke kann sich nicht behaupten, wenn er seine Kraft gar zu oft mißbraucht. Denn hat er sich zahlreiche Feinde gemacht, ohne zugleich die entsprechenden Freunde zu gewinnen, so werden
30 jene sich gegen ihn zusammentun und er wird ihrer, gemeinsamen Rache erliegen. Und der Untergang trifft nicht nur ihn, sondern meist auch seine ganze Nachkommenschaft; denn selbst wenn die Gegner sie ausnahmsweise verschonen, bleibt doch dem Sohne
456 IV. Religion und Sittlichkeit.
die Pflicht der Blutrache, und weil diese immer wieder eine neue Blutrache nach .sich zieht, kann der Kampf 462 nicht enden, ehe das ganze Geschlecht ausgetilgt ist. So gehen mit den Schwächsten auch die Gewalttätig- sten zugrunde, ohne ihre schlimmen Neigungen auf .-, Kinder und Enkel vererben zu können, und diejenigen bleiben übrig, welche zwar stark genug sind, sich zu schützen, aber zugleich auch den Trieb zu einer ge- wissen Billigkeit empfinden. Auf diese Weise bildet sich ein Eechtsgefühl und l^reitet sicli immer weiter lo aus ; und weil es von den Vätern ererbt ist, wirkt es mit der Kraft des Instinktes, unabhängig von jeder Belehrung. Allerdings kommen immer wieder Rück- schläge in die ältere, rohere Sinnesart vor, ja diese ' lialx'n noch heute nicht aufgehört. Aber gerade da- u durch haben wir Gelegenheit, die Beobachtung zu machen, daß der Verbreche)' in der Eegel aus einer Verbrecherfamilie stammt, und wie ^\'ir das Stehlen und Rauben nicht deshalb unterlassen, weil es in der Bibel verboten ist, sondern weil wir einen natürlichen 20 Abscheu davor empfinden, so m u ß der Dieb stehlen und immer wieder stehlen, auch wenn der Gewinn in gar keinem Verhältnis zu der erwarteten Strafe steht. Es ist eben ein vererbter Naturtrieb, der in ihm tätig ist, und den er ebensowenig durch die Religion über- 25 winden kann, wie wir ihrer bedürfen, um rechtlich und anständig zu handeln. Ich kannte einen Gefäng- nisprediger, der sich mit liebevollem Eifer den ihm anvertrauten Seelen widmete und sie für religiösen Zuspruch auch gar nicht unzugänglich fand; trotz- 30 dem mußte er zu seinem steten Schmerz erleben, daß er bei weitem die meisten trotz der l^esten Vorsätze und der heiligsten Versprechungen immer wieder unter seine Obhut /.uriickkohren sah.
3. Die Religion des Homer. 457
4^ An der Schwelle aller Sittlichkeit steht die Scheu vor dem Blute des Verwandten. Wer sie nicht emp- findet, verliert eben auch seine nächsten Freunde und ist ganz einsam jedem Angriff ausgesetzt, so daß .7 er unfehlbar zugrunde gehen muß. Xächstdem wird die gleiche Scheu auf den Mord im allgemeinen aus- gedehnt: denn Blut fordert Blut, und damals war die Rache nächst dem Hunger das wirksamste Mittel der Naturauslese. Und ist ein Kecht entstanden, so wirkt
10 das Schwert des Henkers wie vorher der Dolch des Rächers; die Gesetzlo.sen werden weiter ausgetilgt, und indem ihrer immer weniger werden, muß der sittliche Durchschnitt des Volkes sich stetig heben.
Und nicht nur den eigentlichen Verbrecher rafft
15 die Xaturauslese hinweg ; auch den geringeren Lastern und Untugenden wirkt sie entgegen, wenn auch mit sanfteren Mitteln. Wer eine Familie gründen und erhalten will, der ist immer auf das Wohlwollen seiner Mitbürger angewiesen, mag es sich nun in der Ver-
20 leihung eines Amtes äußern oder in einer guten Kund- schaft oder auch nur darin, daß jeder Vater ihm gern seine Tochter zum Weibe gibt. Jenes Wohlwollen aber wird am sichersten durch moralische Eigen- schaften erworben; der unverträgliche Egoist stirbt
25 meist, wenn auch nicht immer, als grämlicher Jung- geselle. Denn freilich gibt es von der Regel viele Aus- nahmen. Die Naturauslese wirkt nicht, wie etwa das Gesetz der Schwere, mit zwingender Gewalt in jedem einzelnen Falle, sondern nur im großen Durchschnitt.
.30 So wird, wer ererbten Reichtum besitzt, auch unab- hängig von persönlichen Eigenschaften seinen Stamm fortpflanzen können. Aber erstens ist die Zahl solcher Glückspilze sehr gering, so daß sie auf die Gesamtheit des Volkes nur einen verschwindenden Einfluß üben, s II 29 *
458 IV. Religion und Sittlichkwt.
zweitens .setzt auch ihr Reichtum selbst voraus, daß 454 ihre Väter auf irgend eine Weise den Mitstrebenden überlegen waren, da sie ihn sonst nicht hätten er- werben können. Und sind jene Vorzüge nicht auf den Erben übergegangen, so wird er das Gut ver- 5 geuden und seine Kinder doch wieder in Armut zu- rücklassen; oder er verzehrt seine Körperkraft in Aus- schweifungen und muß aus diesem Grunde auf Nach- kommenschaft verzichten.
Im Altertum wui-de die Naturauslese auch dadurch 10 unterstützt, daß jeder Vater das Eecht besaß, ein neu- geborenes Kind, das ihm unbequem war, zu töten oder auszusetzen. Wer mild und barmherzig war, machte davon keinen Gebrauch, während die Grausamen und Rücksichtslosen inmier wieder auf solche Art ihren 15 Nachwuchs schmälerten. Aber auch heute noch werden fürsorgliche und liebende Eltern einen größeren Teil ihrer Kinder aufwachsen und zu einer Stellung gelangen sehn, als lieblose und nachlässige. Betrach- ten wir also nicht nui- die Lebejishaltung des einzelnen 20 Menschen für sieh, sundern auch das Schicksal seiner Nachkommenschaft, so wird jede sittliche Überlegen- heit zum Vorteil im Kampf ums Dasein, und nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung muß jeder Vorteil dieser Art die Zahl derjenigen, die ihn 25 besitzen, fortlaufend steigern.
Allerdings gilt dies mir unter normalen Verhält- nissen. Wer sich uiiter der Tyrannei der römischen Kaiser und ihrer Beamten durch Kühnheit, Freimut und selbständige Gesinnung auszeichnete, war sehr 30 im Nachteil gegenüber den Kriechern und Schleichern und mußte in den meisten Fällen zugrunde gehn. Denn jede menschliche Gemeinschaft paßt ihre Mit- glieder den ihr eigentümlichen Forderungen an. Ist
3. Die Religion des Homer. 459
455 sie .-^elber unsittlich und verkuiiimen. so können Formen der Sittlichkeit, die ihr nicht gemäß sind, zur Gefahr werden, und deren A^ertreter fallen der Ausrottung anheim. Aber in solchem Falle geht der Staat in
5 seiner Ganzheit immer mehr zurück und wird endlich zum Untergange reif, wie wir dies am römischen Eeiche beobachten können. Ist die Sittlichkeit im Daseinskampfe der einzelnen keine Waffe mehr, so bleibt sie es doch im Kampfe der großen Gemein-
10 schaffen, und von Ausnahmen abgesehn, die freilich hin und wieder eintreten müssen, wird die sittlichere den Sieg gewinnen. So kann sie in einzelnen Staaten zwar zurückgehn ; in der Menschheit als Ganzes aber muß sie immer im Fortschritt bleiben, wenn dieser
i.j auch manchmal auf kürzere oder längere Zeit unter- brochen wird.
Griechenland war kein Staat, sondern es bestand aus einer Anzahl kleiner Gemeinschaften, die unter- einander in ewiger Fehde lagen. Wurde in einer von
20 ihnen eine Gesinnung mächtig, welche die Gesamtheit entnervte oder durch innere Zwistigkeiten zerriß, so stand die Strafe bald vor der Tür. Sehr langsam sind die Wirkungen der Xaturauslese immer, gerade hier aber mußte sie sich schneller geltend machen,
25 als sonst ihre Art ist. So hatte denn die steigende Sittlichkeit die Religion umgestaltet, bis auch diese in den Gedichten des Homer eine Höhe erreicht hatte, die im Vergleich zu ihren Ausgangspunkten sehr ehrenwert genannt werden muß. Aber kaum waren
30 sie durch Peisistratos gesammelt und schriftlich ver- breitet, so genügten auch sie den sittlichen An- schauungen der Zeit nicht mehr. Schon um 500 v. Chr. meinte Heraklit. Homer verdiene Prügel und seine Lieder müßten vom öffentlichen Vortrage ausgeschlossen
46U IV. Religion und Sittlichkeit.
werden, weil sie das Volk nur verderben könnten, 456 und Xenophanes schalt:
Was nur immer der Mensch ala Schimpf und Tadel betrachtet,
Hängen den Göttern an Hesiod und mit ihm Homeros,
Htehlen und Ehebrechen und einer den andern Betrügen. 5
Wieder war die Sittlichkeit üW die Religion hinaus- gewachsen und strebte 7ai reineren Formen des Glaubens empor.
j'^ Seeck, Otto
311 Geschichte des Untergangs SUA der antiken Welt
1921
Bd.. 2
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