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GOETH E

VON

GEORG SIMMEL

LEIPZIG 1913 VERLAG VON KLINKHARDT & BIERMANN

Druck von Ernst Hedrich Nachf, G. m. b. H., Leipzig.

FRAU MARIANNE WEBER

ZUGEEIGNET

Vorwort.

Die Absicht dieser Schrift ist weder eine biographische, noch geht sie auf Deutung und Würdigung der Goetheschen Dichtung. Sondern ich frage: was ist der geistige Sinn der Goetheschen Existenz überhaupt? Unter geistigem Sinn verstehe ich das Verhältnis von Goethes Daseinsart und Äuße- rungen zu den großen Kategorien von Kunst und Intellekt, von Praxis und Metaphysik, von Natur und Seele und die Ent- wicklungen, die diese Kategorien durch ihn erfahren haben. Es handelt sich um die letzten Beschaffenheiten und Beweg- gründe seiner Geistigkeit, die seine Dichtung und sein Forschen, sein Handeln und seine Weltanschauung gestalten um das ,,Urphänomen" Goethe, das sich kaum in irgend einer einzelnen Äußerung ganz rein ausspricht, vielmehr in all seinen wider- spruchsvollen, andeutenden, höchst mannigfaltig distanzierten Sätzen und Intentionen hundertfach gebrochen ist. Was er selbst von seinen Bemühungen der Natur gegenüber sagt: sie gelten dem Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Aus- nahmen aufzuweisen sind das bezeichnet vielleicht auch das Verhältnis der hier gesuchten Bedeutung seiner Existenz zu deren Phänomenen.

Es ist der völlige Gegensatz zu einer Darstellung, die den Titel : Goethes Leben und Werke führen könnte. Denn es steht ein Drittes in Frage: der reine Sinn, die Rhythmik und Bedeut- samkeit des Wesens, die sich einerseits an dem zeitlich gelebten persönlichen Leben, andrerseits an den objektiven Leistungen

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VI Vorwort

ausformen, wie sich ein Begriff sowohl in der Seele realisiert, die ihn denkt, wie an dem Ding, dessen Inhalt er bestimmt. Wenn irgendwo, so muß bei ihm dieses Dritte, diese „Idee Goethe" aufzufinden sein, weil ihre Darstellung in der sub- jektiven Seelenhaftigkeit und die in dem geleisteten Werke einander hier in ganz einziger Unmittelbarkeit und Vollständig- keit entsprechen. Ich kann meine Absicht auch damit aus- drücken, daß das Goethesche Leben, diese Rastlosigkeit von Selbstentwicklung und Produktivität, auf die Ebene des zeitlos bedeutsamen Gedankens projiziert werden soll. Dazu müssen freilich die Linien allenthalben über die Grenzen seines Denkens und Schaffens selbst hinaus verlängert werden, weil nur so Art und Weite ihrer Bedeutung ermessen werden kann. Wie bei jeder Darstellung einer geistigen Persönlichkeit, für die nicht erst Kenntnis, sondern Verständnis gesucht wird, d. h. nicht Einzelheiten, sondern ihr Zusammenhang, steht im Mittelpunkt eine gewisse Anschauung der Individualität; diese kann, als Anschauung, nicht unmittelbar ausgesprochen werden, sondern man kann nur zu ihrer Nachbildung durch eine Summe partieller Bilder auffordern, deren jeweilige Motive durch die großen geistesgeschichtlichen Begriffe unserer Welt- und Lebensdeutung bestimmt sind. Ich würde es deshalb für das Gegenteil eines Vorwurfs gegen dies Buch halten, wenn man in jedem seiner Kapitel eigentlich dasselbe wie in jedem andern zu lesen meinte. Worauf es eigentlich ankommt, ist, daß diese Aufgabe über- haupt und prinzipiell gestellt werde. Die inhaltlichen und fragmentarischen Bestimmungen, die ich hier als ihre Lösung vorlege, mögen von andern anders gefaßt werden; Goethes unaufhörliches Versuchen und Umformen möglicher Standpunkte, die durch alle Gegensätze hindurchführende Entwicklung seines langen Lebens geben einer schwer übersehlichen Zahl von Deutungen jener Einheit und Ganzheit Raum. Eine von ihnen dokumentarisch so festgelegt zu meinen, daß sie alle andern

Vorwort VII

ausschließt, würde ich nach der Natur der Sache, der Person und der Beweismöglichkeiten immer für eine Selbsttäuschung halten. Die fließende Einheit des Goetheschen Lebens ist nicht in die logische Einheit irgendwelcher Inhalte zu bannen. Darum kann man eine Auffassung dieses Lebens nicht aus Zitaten (denen sich immer umgekehrt gerichtete entgegensetzen lassen) ,, beweisen". Die Gesamtdeutung Goethes, der alles, was er geschaffen hat, als eine große Konfession bezeichnet, wird, zugegeben oder nicht, immer auch eine Konfession des Deutenden sein.

Inhalt

Seh«

I. Leben und Schaffen i 19

II. Wahrheit 20 49

III. Einheit der Weltelemente 50 96

IV. Getrenntheit der Weltelemente 97 141

V. Individualismus 142 170

VI. Rechenschaft und Überwindung 171— 192

VII. Liebe 193 209

VIII. Entwicklung 210 264

Erstes Kapitel.

Leben und Schaffen.

Wenn das Leben des Geistes sich von dem des nur körper- lichen Organismus dadurch abhebt, daß dieses ein bloßer Prozeß ist, jenes aber außerdem noch einen Inhalt hat, so setzt sich dies im Gebiete der Praxis dahin fort, daß auch das Handeln zunächst ein bloßer Vorgang ist, eine Szene des kontinuierlichen, selbstgenugsamen Lebensverlaufes, auf der eigentlich menschlichen Stufe aber ein Resultat wirkt. Hier verwebt sich die Folge des Handelns nicht mehr ganz unmittel- bar in die Lebensreihe, aus der seine Zeugungskräfte stammen, sondern sie besteht als ein irgendwie außerhalb dieser beharren- des, wenn auch in sie wieder hineingezogenes Gebilde. Damit verliert das Leben seine bloße Subjektivität; denn diese aus ihm hervorgehenden Produkte haben eigene Normen und verflechten ihre Bedeutungen und Folgen in rein sachliche Ordnungen. Diese Möglichkeit, die Ergebnisse der Lebensenergien aus dem Leben heraus und jedenfalls irgendwie jenseits des Subjektes zu versetzen, stellt den kulturellen Menschen in einen Dualismus, den er in einer ziemlich einseitigen Weise zu entscheiden pflegt. Der eine Typus der Durchschnittsnaturen lebt ein nur subjektives Leben, der Inhalt jedes Momentes ist nichts anderes als die Brücke zwischen dem vorangehenden und dem nachfolgenden Moment des Lebensprozesses und bleibt in diesem befangen ; in wirtschaftlichem Ausdruck ist dies das Schicksal der Menschen, die heute arbeiten, ausschließlich um morgen leben zu können. Der andere Typus will gerade nur Objektives leisten, gleichgültig um welchen Preis des eignen Lebens und mit welchem Ertrage dafür; aller Wertakzent ihrer Arbeit verbleibt für sie in deren rein sachlichen Normierungen. Jene kommen, in der Intention

Simmel, Goethe. X

2 Genie

ihres Lebens, nie über sich hinaus, diese nie zu sich zurück, sie schaffen sozusagen nicht aus sich, sondern aus einer un- persönlichen Ordnung der Dinge heraus.

Es ist nun das Wesen des Genies, die organische Einheit dieser sozusagen mechanisch auseinanderliegenden Elemente darzustellen. Der Lebensprozeß des Genies vollzieht sich nach dessen innersten, ihm allein eigenen Notwendigkeiten aber die Inhalte und Ergebnisse, die er erzeugt, sind von der sachlichen Bedeutung, als hätten die Normen der objektiven Ordnungen, die ideellen Forderungen der Sachgehalte der Dinge sie hervor- gebracht. Der Eindruck des Exzeptionellen, der für das Genie wesentlich ist, stammt daher, daß die sonst nicht oder nur zufällig zusammengehenden Reihen des Lebens und der Sachwerte in ihm eine einzige bilden. Daher kommt es, daß das Genie, je nach der Seite, von der her man es sieht, bald als der eigengesetzlichste, die Welt ablehnende, nur auf sich gestellte Mensch erscheint, bald als das bloße, reine Gefäß der objektiven Notwendigkeit, des Gottes. Dadurch wird Goethe zum Typus des Genies, daß in ihm, vielleicht mehr als in irgend einem andern Menschen, das subjektive Leben wie selbstverständlich in der objektiv wertvollen Produktion in Kunst, Erkennen, prak- tischem Verhalten ausmündete. Diese Erzeugung von an sich wertvollen Inhalten des Lebens aus dem unmittelbaren, nur sich selbst gehorsamen Prozeß des Lebens selbst begründet die fundamentale Abneigung Goethes gegen allen Rationalismus; denn dessen eigentliches Absehen ist, umgekehrt das Leben aus den Inhalten zu entwickeln, erst aus ihnen ihm Kraft und Recht zuzuleiten weil er dem Leben selbst nicht traut. Das tiefe Zutrauen zum Leben, das überall in Goethe zu Worte kommt, ist nur der Ausdruck jener genialischen Grundformel seiner Existenz.

Gewiß war er einer der ,, sachlichsten" Menschen, die es je gegeben hat. Allein dies war die Bestimmung seiner Natur selbst und durchaus damit verträglich, daß ihm bei seinem Schaffen die teleologische Überlegung der ,, Sachmenschen": was dabei herauskommen werde? ganz fern war. Noch in

Entwicklung der Lebensinhalte 3

seinem 37. Jahr spricht er davon, „der Betrachtung der Dinge" „sein ganzes Leben zu widmen" „ohne mich im mindesten zu bekümmern, wie weit ich kommen werde und was mir zu- geschnitten ist". Dies eben bezeichnet den Menschen, dessen Leben eine Entwicklung aus dem inneren Zentrum heraus ist, nur bestimmt durch die Kräfte und Notwendigkeiten seiner selbst und bei dem das fertige Werk nur das von selbst sich ergebende Produkt, aber nicht der Zweck ist, der das Tun von sich abhängig machte. Dies bleibt ihm als die wesentliche Lebensform bestehen, auch als die Subjektivität der Jugend, ihre Gerichtetheit auf die Vollendung des persönlichen Seins, längst einer rein objektivischen Lebensbetrachtung, der Richtung, auf Wissen und Behandlung der Dinge Platz gemacht hatte. Der eigne Lebensprozeß stand ihm, in innerlicher, instinktiver Sicherheit, sozusagen jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt, und er konnte sich ihm mit dieser Einfachheit und Selbstgenügsamkeit überlassen, weil sein Sein die Überzeugung in sich trug, daß er eben damit das objektiv Rechte und Wert- volle erzeugte. Dieses Sein entsprach am meisten der Leibnizi- schen Monade: der vollkommene Spiegel der Welt, der seine Bilder doch als die Entwicklung seiner eignen Kräfte hervorbringt. Aus dem Bewußtsein dieser Reihung der Elemente schreibt er über den Meister an Schiller: „Unendlich viel ist mir Ihr Zeug- nis wert, daß ich im Ganzen, was meiner Natur gemäß ist, auch hier der Natur des Werkes gemäß hervorgebracht habe." Diese Einheit von Leben und Idee liegt der Äußerung zum Grunde: ,, Meine Idee vom Vortrefflichen war auf jeder meiner Lebens- und Entwicklungsstufen nie viel größer, als was ich auf jeder Stufe zu machen imstande war." Gewiß wider- spricht dies der üblichen Vorstellung von dem idealistischen Dichter, der einem absolut Hohen und ewig Unerreichbaren nachhängen muß; aber es drückt höchst treffend aus, daß hier die Inhalte des Lebens von dem Charakter seines Prozesses her ihre Idealität besitzen, und nicht von einem wie auch wertvollen Außerhalb her. Deshalb spannt sich, wo er auf einen grundsätzlichen Abstand des Werkes gegen das, was

4 Werk und Zweck

CS sein sollte, hinzeigt, dieser nicht zwischen dem Werk und seiner „Idee", sondern zwischen ihm und dem innerlichen Leben, das sich mit ihm auswirken will: ,,Kindergelall und Gerassel ist der Werther und all das Gezeug gegen das innere Zeugnis meiner Seele!" Jene Zweckhaftigkeit, wie die Sach- menschen sie als ihren Ruhm empfinden und mit der der Lebensprozeß ein Gezogenwerden vom Ziel her statt ein Wachsen von der Wurzel her ist, lag ihm ganz fern, und gewiß gehört dies zu den letzten Motiven, aus denen er auch der Natur gegenüber alle teleologische Betrachtung vermied. Wenn er von der Natur sagt, sie ,,wäre zu groß, um auf Zwecke auszugehen und hätte es auch nicht nötig", so gilt dies in weitem Um- fang für ihn selbst. Auch sein Werk war ihm nicht in dem gewöhnlichen Sinne das Ziel seiner Arbeit, sondern vielmehr ihr Ergebnis welches alles natürlich nur ganz prinzipiell und übersingulär verstanden werden will. Aber mehr als ein Zug, mit dem er sein Wesen selbst charakterisiert, wird erst durch diese Gerichtetheit seiner Lebensströmung ganz in sie eingefügt. So seine oftmals wiederholte Bemerkung, daß von allen Lastern, gegen deren viele er seiner Natur nach keineswegs gesichert wäre, ihm nur der Neid absolut undenkbar sei. Wer auf das Werk allein sieht und aus ihm die Bewegkraft seines Tuns gewinnt, kann leicht neidisch werden, weil ihm sein Werk neben andern steht, was den Vergleich herausfordert; wem aber die tätige Entwicklung der eignen Kraft Selbstzweck ist, der steht von vornherein im Unvergleichbaren; in ihm, dem das Objekt des möglichen Neides, das Werk, sozusagen nur ein Akzidenz des aktiven Daseins ist, findet der Neid gar keinen Ansatzpunkt. Eben deshalb lag ihm an der Anerkennung der Menschen nicht viel, die sich immer an das Werk knüpft, da er im Wirken selbst, nicht im Werk seinen Lohn fand ein reinstes Beispiel jener Spinozischen beatitudo, die nicht virtutis praemium, sondern virtus ipsa ist. Darum sind ihm auch alle Vergleiche von Persönlichkeiten, die nur auf die Wertdifferenzen der Werke gehen, offenbar etwas Unbehagliches, darum lehnt er die Vergleichung seiner selbst mit Schiller so energisch ab.

Liebhabertum 5

und wenn er sich mit Shakespeare konfrontiert, stellt er nicht dessen Werke über die seinen (was er übrigens, den Sach- standpunkt einnehmend, sicher getan hätte), sondern spricht ▼on Shakespeares Natur, und daß er ein ,,Wesen höherer Art ist, das ich zu verehren habe". Und, richtig verstanden; ist wohl das reinste Phänomen dieser entscheidenden Lebens- intention in den merkwürdigen Äußerungen über Beruf und Liebhabertum zu finden. ,,Nur nichts als Profession getrieben! das ist mir zuwider," äußert er sich als fast Sechzig jähriger. „Ich will alles, was ich kann, spielend treiben, was mir eben kommt und so lange die Lust daran währt. So hab' ich in meiner Jugend gespielt, unbewußt; so will ich's bewußt fort- setzen durch mein übriges Leben." Noch in seinem letzten Lebensjahre tadelt er ein Dichtwerk damit, es hätte ,, keine eigentliche Facilität; es sieht immer aus wie ein Errungenes."

.,Was willst du, daß von deiner Gesinnung Man dir nach ins Ewige sende? Er gehörte zu keiner Innung. Blieb Liebhaber bis ans Ende."

Nichts kann paradoxer scheinen, als dieses Sich - Einstellen auf Liebhaberei und Spiel bei dem Menschen, der den Dilettan- tismus mit leidenschaftlichem Haß verfolgt und dauernd betont, wie sauer er sich 's im Leben habe werden lassen, wie er ge- arbeitet habe, wo man sonst jedem zu ruhen vergönnt, wie ihm z. B. in den fünfzig Jahren seines geognostischen Studiums kein Berg zu hoch, kein Schacht zu tief, kein Stollen zu niedrig gewesen wäre. An dem Schnittpunkte dieser gegen- einanderstehenden Bekenntnisse muß Goethes Wesen ergriffen werden. Die Abneigung gegen Profession und ,, Innung" ist nichts weniger als ein extremer Individualismus (da er im Gegenteil auf Zusammenwirksamkeiten drängt und das ,, Monologisieren" der Forscher beklagt); sie gilt vielmehr dem Bestimmtsein der Lebensarbeit von einem fixierten, ideell vor- bestehenden Inhalte her. Das Liebhabertum und das Spielen bedeutet nichts anderes, als daß die Lebensenergien sich in voller Unabhängigkeit von all solchem Äußern auswirken sollen,

6 Spiel und Mühe

das, wie wertvoll es an sich sei, dem Leben ein ihm im Prinzip Fremdes als Direktive vorsetzte. Ja, er löst sogar das inhaltliche Ergebnis als das Unwesentliche von dem Lebens- prozeß los, aus dem es kommt und aus dem es fließt: ,, Nicht insofern der Mensch etwas zurückläßt, sagt er, sondern insofern er wirkt und genießt und andere zu wirken und zu genießen anregt, bleibt er von Bedeutung." Und noch monumen- taler: ,,Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben an." Es ist im Sinne Schillers: der Mensch sei erst da ganz Mensch, wo er spielt d. h. im Spiel, als formalem Prinzip, habe der Mensch alle von der Sache als solcher herkommenden Determinierungen abgetan, nur die Energien seines We§ens wollen sich auswirken, es drängt ihn nicht mehr die schwere Fremdheit sachlicher Ord- nungen, sondern wohin er gelangt, wird durch sein ausschließ- lich eignes Wollen und Können bestimmt. Solches Spiel aber schließt die äußerste Anstrengung, ja, die äußerste Gefahr nicht aus. In diesem Sinne also war die ununterbrochene mühselige Arbeit Goethes ein Spielen ; der tiefe Ernst seines Wirkens, die Hingegebenheit an den Gegenstand, das Überwinden fort- währender Schwierigkeiten alles wohnt seinem Lebensprozeß selbst ein, wie er sich aus sich selbst und durch seine eignen Wurzelkräfte vorwärtsgedrängt, entwickelt. All die vielfältige Mühsal, die den meisten Menschen aus einer ihnen erst gegen- übertretenden, ihrem eigensten Leben heterogenen Ordnung der Sachen heraus auferlegt wird, gehörte bei ihm zu der Selbst- verständlichkeit und Innerlichkeit des Lebens selbst ; gerade wie die Vollendung des Werkes, die die meisten Menschen nur um den Preis einer Entselbstung, an der Hand einer von jenseits ihres Lebens herkommenden Regulative erreichen, für ihn das selbstverständliche, keiner Antizipation bedürftige Frucht- bringen eines Reifeprozesses war, der nur in sich vollkommen zu sein brauchte^ damit auch die Frucht es sei.

Daraus erklärt sich auch das ungeheure Quantum seiner Arbeitsleistung, das ihn doch, wenn ich nicht irre, niemals über eigentliche Überarbeitung klagen läßt obgleich er Beschwer-

Innere Notwendigkeit 7

den über solche relativ äußerliche Leiden keineswegs prinzipiell unterdrückt. Weil er sich seine Aufgaben in allen Hauptsachen aus seiner inneren Notwendigkeit und Entwicklung heraus stellte, waren auch die Kräfte für sie immer verfügbar, und umgekehrt, er konnte sich für jede verfügbare Kraft eine Aufgabe stellen. Dem modernen Menschen reißt jene von Goethe so gehaßte ,, Professionsmäßigkeit" unzählige Male die Aufgabe und die Kraftrichtung auseinander. Die steigende Objektivierung des Lebens fordert Leistungen von uns, deren Maß und Folge eine eigne, dem Subjekt jenseitige Logik besitzt, und damit wird diesem ein mühseliger, subjektiv unzweckmäßiger Kraftaufwand abverlangt. Das Gefühl des modernen Menschen wird begreif- lich: er habe nicht genug gearbeitet, wenn er nicht zu viel gearbeitet hätte denn tatsächlich arbeitet er bei dieser Konstellation subjektiv zu viel, weil er die Lücken seiner Spontaneität mit bewußter Anstrengung füllen muß, um der anders orientierten Objektivität zu genügen; während andrer- seits manche seiner Möglichkeiten und Kräfte kein Auswirkungs- bereich finden. Daß in den Lebensintentionen so vieler gegen- wärtiger Menschen eine rationalistische, ja bürokratische Reguliertheit und eine anarchische Formlosigkeit unorganisch verwachsen, geht, als auf seinen letzten Grund, auf diese Ent- zweiung zwischen der subjektiven und der objektiven Bedingtheit des Tuns zurück während aus ihrer Einheit heraus Goethe eine sozusagen pausenlose und intensivste Arbeit , »spielend" vollbrachte.

Nun verläuft die Wirklichkeit natürlich nie in der Absolut- heit und Reinlichkeit des Schematismus, mit dem eine Per- sönlichkeit dargestellt werden muß, insofern sie als Verwirk- lichung einer Idee erscheint ; die Annäherung an diese, die auch dem vollkommensten Naturell nur beschieden ist, muß in der eigentümlichen Umbildung, die der Mensch in der Ordnung der Idee erfährt, als restlose Erreichtheit auftreten; denn in dieser Ordnung kommt es nicht auf ein Mehr oder Weniger, sondern nur auf die qualitative Bestimmung, auf den Begriff überhaupt an. In unserm Fall verwirklicht sich dieses allgemeine Ver-

8 Minderwertige Leistungen

halten an gewissen Bestandteilen der Goetheschen Produktion, die die behauptete Harmonie der beiden Ordnungen gänzlich zu unterbrechen scheinen. Goethe hat eine große Anzahl von unbestreitbar völlig minderwertigen Produkten hinterlassen, Künstlerisches von radikalem ästhetischem Unwert, Theore- tisches von der erstaunlichsten Flachheit und Falschheit. Aber so sind sie nur innerhalb der Skala reiner Inhaltsbedeutungen abzuschätzen. Daneben fühlen wir sie als notwendige Durch- gangspunkte einer als ganzer unermeßlich wertvollen Entwick- lung, als Ruhe- und Haltestellen, als Umwege durch das Leere, als Wunderlichkeiten, die in einer geheimnisvollen Weise zu den tatsächlichen (nichtfMhhaltlich-logischen) Bedingungen des Ganzen gehören. Ihre vitale Innenseite hat eine ganz andre Bedeutung, als ihre Objektivation in deren eigenen Ordnungen. Man kann ganz allgemein bemerken, daß große Künstler oft so schwache Leistungen hinterlassen, wie sie von mittelguten epigonenhaften Künstlern überhaupt nicht begegnen. Diese nämlich schaffen von einem gegebenen, irgendwie wertvollen Begriff aus, der ihnen als Muster und Kriterium feststeht und immer gegenwärtig ist. Wer aber mit originaler Produktivität, aus der letzten und eigensten Lebensquelle heraus schafft, dessen Werk unterliegt den Schwankungen des Lebens, bei ihm ist die Idee zwar mit dem Lebensprozeß identisch, während sie bei jenen äußerlich zu diesem hinzutritt, aber dafür muß sie das Leben auch durch seine Tiefstände und unvermeidlichen Mattheiten hindurch begleiten. Gerade was Goethes Werk so unvergleich- lich macht : daß es in jedem Augenblick der unmittelbare Puls- schlag seines Lebens ist, macht es in vielen dieser Augenblicke schwächer, als das Werk des sekundären Künstlers, das von einer dem Leben bereits gegenüberstehenden Norm reguliert ist. Damit liegt aber auch hier eine objektive Bedeutung vor, die diese Äußerungen jenseits der bloßen Tatsache ihres momen- tanen seelischen Erzeugtwerdens besitzen : innerhalb des Daseins Goethes, innerhalb der Ordnung, die von der Kategorie Goethe objektiv normiert wird, sind sie genau so an ihrer Stelle und genau so legitimiert, wie Tasso und die Wahlverwandtschaften in den

Aufbau des Ich 9

Ordnungen, die unter den objektiven Kategorien der Ästhetik stehen. Dies ist keineswegs bei allen Äußerungen eines Indivi- duums überhaupt der Fall, deren unzählige vielmehr in dieser Hin- sicht ein eigentümliches Verhalten, gewissermaßen ein Gegen- bild der ,, Verantwortungslosigkeit" zeigen. Vielerlei Akte voll- bringen wir, für die wir, als ihre zweifellosen Subjekte, die rolle äußere Verantwortung tragen, von denen wir aber dennoch empfinden, daß sie sich mindestens teilweise aus Quellen nähren, die nicht in uns entspringen, sondern nur durch uns hindurch- fließen: aus sozialem Zwang, aus Traditionen, aus physischen Angelegtheiten. Solche Akte gehören sozusagen von ihrem terminus a quo her nicht zu uns, sie gehen nicht von uns allein aus. Nun aber gibt es gewisse andere Akte unseres Ver- standes und- unseres Willens, die vielleicht völlig in uns ent- springen, aber sich der Entwicklung und dem zusammenhängen- den Bilde unserer Persönlichkeit nicht anfügen, sie liegen wie zufällig und unverbunden in dem seelischen Räume um unser eigentliches Ich herum, dieses ist nicht ihr terminus ad quem, sie gehen nicht auf uns zu. Dabei mögen sie einer außerhalb unser gelegenen objektiven Ordnung wertvoll und bedeutend zugehören und mögen sie erbauen helfen nur zu der Ord- nung und dem Sinn unseres Ich sind sie keine Bausteine. Schließlich ist unser Ich doch auch ein objektives Gebilde und was in der bloßen Tatsächlichkeit unserer Seele entspringt, kann an diesem Gebilde vorbeigleiten und für seinen Aufbau, für die allmähliche Veranschaulichung seines Sinnes genau so wirkungslos bleiben, wie für das wissenschaftliche oder das künst- lerische oder das soziale Wertsystem. Sie können aber auch, wie gesagt, für diese von erheblicher Bedeutung sein, ohne noch dadurch der Idee und dem Aufbau unseres Ich, als einem einheitlichen Wertzusammenhang, einen Beitrag zu leisten. Hier steht also eine besondre Bedeutungskategorie unserer Akte in Frage, deren Erreichtheit oder Verfehltheit durchaus nicht da- von abgelesen werden kann, ob sie, an den im gewöhnlichen Sinne objektiven Wertskalen gemessen, klug oder töricht, zu- länglich oder schwächlich, gut oder böse sind. Die Zufälligkeit

10 Eigengesetzlichkeit und sachliches Ergebnis

des Verhältnisses, das zwischen unsern Akten als bloßen seelischen Tatsachen und als Werten innerhalb sachlicher Reihen besteht, findet demnach eine Fortsetzung zwischen jenen ersteren und der Bedeutung ihres Inhalts für den Aufbau unser selbst als einer objektiven Persönlichkeit, eines geschlossenen Lebensgebildes. Diese Zufälligkeit nun ist es, die gerade wie die erstere, mehr als wir es sonst von Menschen wissen, in Goethes Existenz überwunden scheint. Wo den Äußerungen seines inneren Lebens die Sachbedeutung in intellektueller, ästhetischer, ja vielleicht in moralischer Hinsicht abgeht, da ersetzen sie diese durch ihre Bedeutung für den Sinn, die Notwendigkeit, die Totalität seiner Persönlichkeit, die doch eine objektive Idee und Gestaltung ist. Und hierin liegt allerdings das von jenem ersteren Standpunkte aus sehr anfechtbare Recht, auch das Mißlungene, sachlich Unbegreifliche, scheinbar Zufällige seiner Äußerungen als ein irgendwie Wertvolles und von einer Idee Geleitetes zu bewahren und zu schätzen. Sein Bild bietet einen, vielleicht bei keiner geschichtlichen Persön- lichkeit so hohen Grad von Kultiviertheit eben dadurch: jedes Objektive, das er schuf, kam aus seinem Ganzen, jedes, das er aufnahm, ging in sein Ganzes.

Dies alles eingerechnet, besteht hierin das dem Maße nach Einzige dieser Existenz : daß die Inhalte ihres Wirkens an jedem Punkt ein Einheitliches sind, mag man sie von der Seite des Lebensprozesses und als dessen natürliche Ergebnisse be- trachten oder von der ideellen Ordnung her, unter die sie als Sachgehalte gehören und als hätten diese Normen sie gebildet, wie gleichgültig gegen die lebendig -persönliche Vermittlung. Es war die große Wahrscheinlichkeit gewesen, daß eine Natur, die so ausschließlich dem eigenen Gesetz folgte, gerade^ die Gesetze der Dinge in den zufälligsten Winkeln querte. Die Chance der Spannung war ungeheuer, und um so ungeheurer das Glück und das Wunder der Harmonie, oder: um so ungeheurer das Glück des Gefühles, daß es kein Wunder war. Mit völliger Deutlichkeit und Selbstverständlichkeit spricht er es einmal am Anfang der italienischen Reise aus : „Manchmal

Schöpfertum 1 1

macht's mich fürchten, daß so viel auf mich gleichsam ein- dringt, dessen ich mich nicht erwehren kann und doch entwickelt sich alles von innen heraus." Sind diese beiden Bedeutungen der geistigen Inhalte nach Wert und Sinn ihrer Intention getrennt, so bekommt ihre Produktion leicht etwas Unorganisches, ja Mechanisches, weil sie sich aus einem dem Leben entgegengesetzten Prinzip zu entwickeln und damit mehr ein aus vorbestehenden Teilen Zusammengesetztes, als ein lebendig Gewachsenes zu sein scheint. Goethe selbst hat diesen Unterschied, und zwar ersichtlich in lebhaftem Selbstbewußtsein, empfunden. ,, was es heißen wolle, daß der Dichter und alle eigent- lichen Künstler geboren sein müssen. Es muß nämlich ihre innre produktive Kraft jene Nachbilder, die im Organ, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft zurückgebliebnen Idole freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen, lebendig hervortun, sie müssen sich ent- falten, wachsen, sich ausdehnen und zusammenziehen, um aus flüchtigen Schemen wahrhaft gegenständliche Wesen zu werden. Je größer das Talent, desto entschiedener bildet sich gleich an- fangs das zu produzierende Bild. Man sehe Zeichnungen von Rafael, Michelangelo, wo auf der Stelle ein strenger Umriß das, was dargestellt werden soll, vom Grunde loslöst und körperlich einfaßt. Dagegen werden spätere obgleich treffliche Künstler auf einer Art von Tasten ertappt; es ist öfter, als wenn sie erst durch leichte, aber gleichgültige Züge aufs Papier ein Element schaffen wollen, woraus nachher Kopf und Haar, Gestalt und Gewand sich bilden solle." Er charakterisiert damit sehr gut den Mangel jener Einheit, in der die Elemente der Produktion ihre Sonderwirklichkeit gegenüber dem von innen quellenden Schöpfertum aufgeben. Wer herumprobiert, ob sich die Sache aus der Skizze bilden wolle, ob diese von selbst allmählich ein Bild hergibt, der erwartet das Produkt von einer äußeren, wenn auch ideellen Fügung her, es ist nicht in demselben Sinn und Maß sein Gebilde, wie das des eigentlichen Schöpfers, in dem es sich nach dem Gesetz und durch die selbstverantwortlichen Kräfte des reinen Innern erbaut. Es wird sich auch sonst noch als ein bedeutungsvoller Zug dieser, mit der Objektivität der Dinge

12 Gleichwertigkeit der Gegenstände

geheimnisvoller und zugleich deutlicher, als andere Menschen, verbundenen Natur zeigen, daß ihre physisch-sinnlichen Eigen- heiten sich schon zu Symbolen ihrer geistig-höchsten Bewährungen bieten. So ist diese Lebensformel : daß er seine Energien gleichsam nur sich selbst zu überlassen brauchte, damit ein an der objektiv ideellen Norm Zulängliches entstehe, in folgendem sinnlich prä- formiert. Johannes Müller erzählt einmal von dem seltenen Ver- mögen mancher Menschen, vor dem Einschlafen völlig klare und plastische Gegenstandsbilder bei geschlossenen Augen zu er- blicken. ,,Ich erklärte, daß ich durchaus keinen Einfluß auf Her- vorrufung und Verwandlung derselben habe, und daß bei mir nie- mals eine Spur von symmetrischer und vegetativer Entwicklung vorkomme. Goethe hingegen konnte das Thema willkürlich an- geben, und dann erfolgte allerdings scheinbar unwillkürlich, aber gesetzmäßig und symmetrisch das Umgestalten."

Diese geschilderte Konstellation, mit der die seelische und die sachliche Reihe ihre metaphysische Einheit erfahrbar machen, wird natürlich von der ersteren her erlebt; und solche Kraft hatte das Goethesche Erleben, daß es ihm sozusagen auf dessen Gegenstand nicht ankam. Natürlich nicht so, als ob der behandelte Gegenstand nicht die höchste und heiligste Wich- tigkeit für ihn gehabt hätte; sondern in dem Sinne, daß es eigentlich gleichviel war, welchen Gegenstand sein Wirken er- griff. Wer seiner Lebenseinheit mit der Idee der Dinge sicher ist, dem wird leicht jeder Inhalt seines Wirkens jedem andern äquivalent sein, da das im Tiefsten Wesentliche: daß der Ausdruck des Seins sich in dem Ausleben des Ich realisiert an einem jeden gelingt. Darum kann er zu Eckermann äußern: ,,Ich habe all mein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehn und es ist mir im Grunde ziemlich gleich- gültig gewesen, ob ich Töpfe machte oder Schüsseln." Aber in welchem Sinne symbolisch? Was wird durch sein Wirken und Leisten symbolisiert? Gewiß ein letzter, unaussprechlicher Sinn der Dinge; aber ebenso auch das Persönlich-Innerlichste, die reine Dynamik seines Lebens. Das Werk, wie es als kon- kreter Inhalt dasteht, ist nur ein Zeichen dieser tiefsten Leben-

Symbolik der Leistung 13

digkeit, ihres Rhythmus und ihrer Schicksale. Eine Äußerung Werthers kann wohl, trotz des dazwischenliegenden halben Jahrhunderts, wegen der merkwürdigen Gleichheit des Ausdrucks, die Deutung jener Worte bestätigen: ,, Meine Mutter möchte mich gern in Aktivität haben. Bin ich jetzt nicht auch aktiv? Und ist's im Grunde nicht einerlei, ob ich Erbsen zähle oder Linsen? Ein Mensch, der um andrer willen, ohne daß es sein eignes Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor."

Nun ist freilich jeglichem menschlichen Werkinhalt diese Doppelbestimmung eigen: was als unser Werk dasteht, kann auf der einen Seite als Gleichnis höherer, geahnter Werte und ihrer Zusammenhänge gelten und hierin sein eigentliches Wesen und Recht finden ; auf der andern Seite ist es Zeichen und Erweis des inneren Lebens, zwar vielleicht nur wie wir die Kontinuität eines Laufes mit den Punkten markieren, an denen wir sein jeweiliges Vorgedrungensein gleichsam erstarren lassen, oder wie das Meer seinen Schaum am Ufer ablegt, Erzeugnis und Zeugnis seiner Wellen, deren Form und Kraft es freilich in sich zurücknimmt. Aber diese beiden Richtungen, nach denen hin der Inhalt unseres Tuns symbolisch ist, setzen sich in Wirk- lichkeit nicht an einen jeden gleichmäßig an. In der Regel wird zugunsten der einen die andre atrophisch, und auch, wer sein Wirken und Leisten nach den beiden Seiten hin symbolisch an- sieht, wird sie meistens als untereinander ungleich, verschieden verteilt, in ihren Maßen unharmonisch empfinden. Dennoch ist auch in dieser Hinsicht das Exzeptionelle an Goethe nicht von quantitativer Absolutheit. Er hat nur die Symbolik, die alles Men- schenwerk umgibt und trägt, vollkommner und reiner offenbart, als es andern gelingen will, weil in seinem Sein und Tun deren beide, sonst gegeneinander als zufällig erscheinende Seiten wie in einer notwendigen Proportion und inneren Einheit erwachsen.

Daß die Produktivität nach dem eigenen Gesetz und Trieb bei Goethe so die vollkommenste Angemessenheit zur Welt zeigt, ist zwar in der letzten metaphysischen Beschaffenheit seines Naturells verankert ; innerhalb der bezeichenbareren

14 Benutzung der Wirklichkeit

Schichten aber wird es von der ungeheuren Assimilations- kraft seines Wesens gegenüber allem Gegebenen getragen. Diese Schaffenskraft, die ununterbrochen aus dem einheitlichen Quell der Persönlichkeit zeugte, nährte sich ebenso ununter- brochen aus der Wirklichkeit um sie herum. Seine Geistigkeit muß eine Analogie zu dem Vermögen des ganz gesunden phy- sischen Organismus gehabt haben, die Nahrungsmittel bis ins Letzte auszunutzen, das Unverwendbare störungslos auszu- scheiden, das Zurückbehaltne dem Lebenskreislauf so selbst- verständlich einzuverleiben, als bildeten beide schon von vorn- herein eine organische Einheit. Darum gehören bei ihm die polaren Erscheinungen durchaus zusammen: daß er einerseits Dingen und Ideen, aus denen er das ihm Gemäße gezogen hatte, auch mit großer Entschiedenheit aus seinem Leben ent- ließ — ,, sobald ich eine Sache einmal durchgesprochen habe, schreibt er an Schiller, ist sie auf eine ganze Zeit für mich wie abgetan" ; daß er sich aber andrerseits bewußt war, all sein Schaffen sei gleichsam nur ein Hindurchgehen der Dinge durch seinen Geist, ihr Eingehen in dessen Form. In dieser Tiefe wurzelt seine bekannte Äußerung über seine Gedichte, sie alle seien Gelegenheitsgedichte, sie seien durch die Wirklich- keit angeregt und hätten darin Grund und Boden ; von Gedichten, aus der Luft gegriffen, halte er nichts. In dieser Eckermann- schen Überlieferung klingt der Satz etwas philiströs und nicht eben tief. Aber er offenbart nun doch jene letzte Wesens- einheit und Angemessenheit zwischen der Wirklichkeit und seinem produktiven Leben, das Erleben der Welt setzte sich ihm gleichsam ohne Energieverlust in Schaffen um, es gehörte ihm nach dem Gleichnis, das er so gern gebrauchte, zusammen, wie Einatmen und Ausatmen. Bei den so begnadeten Menschen wird sozusagen der göttliche Schöpfungsprozeß rückläufig: wie in ihm die Schöpferkraft zur Welt wird, so wird bei jenen die Welt zur Schöpferkraft. Da er bei der Gesundheit und In- stinktsicherheit seiner Organe nur das aufnahm von äußerem und, so paradox es klingt, auch von innerlichem Erleben , was ihm angemessen war, da Aufnehmen und Schaffen sofort

Die Modelltheorie 15

zur Einheit seines Lebensprozesses wurde, so erschien ihm be- greiflich sein Schöpfertum durch das Erleben der Wirklichkeit bedingt. Liebesgedichte, sagt er, machte ich nur, wenn ich liebte. Die Einheit von Wirklichkeit und geistigem Wirken ließ ihn den Grund dieser Bedingtheit darin finden, daß die Wirklichkeit den Geist enthielt und man ihn nur herauszuholen brauchte. Von den vielen, dahin gerichteten Äußerungen nenne ich nur die besonders entschiedene: ,,Das Benutzen der Erleb- nisse ist mir immer alles gewesen; das Erfinden aus der Luft war nie meine Sache, ich habe die Welt stets für geni- aler gehalten, als mein Genie." Und nur daß alledem jenes Einheitsgefühl zugrunde lag, macht genau gegenteilige Äußerungen begreiflich, die tatsächlich nur die gleiche Einheit von der andern Seite sehen, mit denen er nur den Akzent auf ihr anderes Element rückte was er konnte, weil sie ihm als Einheit eben fraglos war: ,,Die Kunst, wie sie sich im höchsten Künstler darstellt, erschafft eine so gewaltsame lebendige Form, daß sie jeden Stoff veredelt und verwandelt. Ja, es ist daher dem vortrefflichen Künstler ein würdiges Substrat gewisser- maßen im Wege, weil es ihm die Hände bindet und ihm die Freiheit verkümmert, in der er sich als Bildner und als Indi- viduum zu ergehn Lust hat."

Er leistet also der naturalistischen Modelltheorie keinen Vor- schub, in deren Nähe die Erlebnistheorie leicht und bedenklich rückt. Es ist ein Irrtum ersten Ranges, zu meinen, daß nur das Geringste für das Verständnis einer dichterischen Gestalt damit gewonnen wäre, wenn man ihr Modell aufzeigt das bestenfalls nur das eine benennbare Erfahrungselement aus den tausenden ist, die zu der Gestalt beigetragen haben und die, auch wenn man sie alle aufzählen könnte, die dichterische Gestaltung als solche, um derentwillen man sich überhaupt auch um jene kümmert, mit keinem Atom berühren würden. Das Aufgraben des Modells als der vor-künstlerischen Gegeben- heit hebt gerade das hervor, was ja mit dem Kunstwerk, das als Kunstwerk in Frage steht, überhaupt nichts zu tun hat. Diese, durch die ganze populäre und wissenschaftliche Kunst-

16 Die Erlebnistheorie

betrachtung gehende, übertriebene Wertung des Modells ist nichts Zufälliges. Sie entstammt vielmehr der mechanistisch-mathe- matisierenden Weltanschauung, die alle Wirklichkeit dann und erst dann verstanden glaubt, wenn sie in Gleichungen aufgelöst ist. Indem man in der Wirklichkeit dasjenige gefunden hat, womit das Kunstwerk anscheinende ,, Gleichheit" besitzt, meint man dies ,, erklärt" zu haben und fügt damit jener Inthroni- sierung der Gleichung noch ihre äußerste Vergröberung hinzu: daß zwischen Ursache und Wirkung eine Gleichheit bestehen müßte. Schließlich ist es die Milieutheorie, mit all ihrer Grob- heit und Äußerlichkeit, die in der Überschätzung des Modells als Erklärungsgrundes des Kunstwerks zu Worte kommt. Es ist immer das von Außen kommende und sich mechanisch in das Innere Übertragende, wodurch die Produktivität dieses Inneren begriffen oder vielmehr ersetzt werden soll während es doch durch solches Äußere höchstens zu seinem Eigenleben, also zu einer, jenen Elementen durchaus heterogenen Formung ver- anlaßt werden kann. Wenn man nun neuerdings in dem ,, Er- lebnis" die Quelle des Kunstwerks findet, so ist damit die Ge- nesis aus Milieu und Modell keineswegs grundsätzlich verlassen, sondern nur subjektivisch verfeinert. Denn auch aus dem Er- lebnis wächst unmittelbar keine Überleitung zu der künstlerischen Spontaneität. Im Verhältnis zu ihr ist auch das Erlebnis etwas Äußeres niag sich auch beides im Umfang des Ich abspielen. Man muß diesen ganz allgemeinen Begriff erheblich bestimmter und lebendiger fassen, um dem genetischen Begreifen des Kunst- werks aus Gegebenheit und Erlebnis das Recht, das Goethe ihm gibt, zu vindizieren.

Die Möglichkeit der Verbindung liegt darin, daß der Lebens- prozeß mit seinem beharrenden Charakter, Intention und Rhyth- mus als die gemeinsame Voraussetzung und Formgebung so- wohl für das Erleben wie für das Schaffen wirkt. Es gibt vielleicht eine für jedes Individuum andere allgemeinste, nicht in Begriffe zu fassende Wesensformel, nach der seine seelischen Vorgänge sich bestimmen, ebenso das Hineinnehmen der Welt in das Ich im Erlebnis, wie das Hinausgeben des Ich

Formgesetz des Lebens 17

in die Welt im Schöpfertum. Daß ein solches typisches Gesetz des individuellen Lebens dessen gesamte Phänomene beherrsche, scheint Goethe sehr früh bemerkt zu haben; er schreibt 1780 in sein Tagebuch: ,,Ich muß den Zirkel, der sich in mir um- dreht, von guten und bösen Tagen näher bemerken, Leiden- schaften, Anhänglichkeit, Trieb, dies oder jenes zu tun. Er- findung, Ausführung, Ordnung, alles wechselt und hält einen regelmäßigen Kreis, Heiterkeit, Trübe, Stärke, Elastizität, Schwäche, Gelassenheit, Begier ebenso." In dem Maße nun, in dem diese fundamentale Wesensbewegtheit selbst schon den Charakter überwiegender Spontaneität und künstlerischen Ge- staltens trägt in eben dem wird auch schon das Erlebnis von vornherein und in der Art eben seines Erlebtwerdens die Züge des Schöpfertums und der künstlerischen Werte an sich tragen. Wo die Wurzelsäfte der Persönlichkeit, von denen das Wirklichkeit assimiliert und zum Erlebnis gestaltet wird, künst- lerisch tingiert sind, da ist das Erlebnis sozusagen schon ein artistisches Halbprodukt und seine prinzipielle Fremdheit gegen das Kunstwerk aufgehoben. Dies ist in irgend einem Maße bei jeder wirklich artistischen Natur der Fall und ist der Grund, weshalb so viele Künstler von größter Stilisierungskraft und souveränster Umgestaltung des Wirklichen aufrichtig über- zeugt sind, nur treue Abschriften des Natureindrucks, der un- mittelbaren Erlebtheit, zu schaffen. Der gewöhnliche Mensch erlebt die Welt, d. h. setzt das objektive Geschehen in ein subjektives um vermöge der Kategorien, die für das praktische Handeln zweckmäßig sind ; diese bilden das Handwerkszeug, mit dem er aus der Totalität des Seins das herausschneidet und zu- sammenfügt, was für ihn die Welt ist : jene letzte Einheits- formel des Gesamtwesens ist bei ihm praktisch gefärbt. Und da nicht nur dieser Typus Mensch die ungeheure Majorität bildet, sondern auch die anders gerichteten in einem sehr großen Abschnitt ihrer Interessen und Notwendigkeiten auf dem gleichen Boden der praktischen Existenzführung stehen, so nennen wir das in dieser Formung erlebte Weltbild die Wirklichkeit schlecht- hin; tatsächlich aber ist es nur eine Wirklichkeit, nur das Er-

Simmel, Goethe. 2

18 Durchdringung mit der künstlerischen Grundform

lebnis, geformt durch die Kategorien, die von der durchschnitt- lich-praktischen Interessiertheit ausstrahlen. Eine ganz andre „WirkHchkeit" sieht etwa der religiöse Mensch sich gegenüber; denn gemäß der Formel seiner Wesenseinheit erlebt er die Ein- flüsse des Objektes sogleich so, daß sie ihm der Ort und die Bestätigung seiner religiösen Inhalte sind; er kann sie gar nicht anders erleben, weil sie eben nur in ursprünglicher Formung durch die religiösen Kategorien zu seinen Erlebnissen werden. Wie nun um ein etwas grobes Beispiel zu wählen der Gläubige überall den ,, Finger Gottes" sieht, weil sein Sehen die Dinge a priori so ordnet, daß sie für ihn in einen göttlichen Welt- plan hineinpassen und mögliche Beweise eines solchen hergeben, so sieht der Künstler die Dinge der Welt von vornherein als mögliche Kunstwerke, sie werden ihm von denselben Kategorien aus zum Erlebnis, durch deren noch aktivere, noch selbst- herrlichere Funktionierung sie zum Kunstwerk werden.

Aber der Künstler ist nicht nur Künstler, In unendlichen quantitativen Abstufungen erfüllt die hier angedeutete Erlebnis- gestaltung seine Lebenstotalität. Jene Einheit des individuellen Ganzen deckt sich in ihrem Charakter natürlich niemals mit dem bloßen, reinen Begriff des Künstlerischen, so wenig wie mit dem des Religiösen oder des Praktischen. Durch diese festgeschlossenen und exklusiven Begriffe geht die lebendige Wirklichkeit viel- mehr mit sehr ungleichmäßigen und wechselnden Berührungen hindurch und auch wo ihr Kern sich auf eine von jenen fixiert, läßt ihre Peripherie sich noch immer in mannigfaltigen Maßen an andere aufteilen. Daß nun für Goethe die Beziehung zwischen Erlebnis und Kunstwerk von so unbedingter Enge war, daß er, auf den ersten Blick schwer begreiflich, einen förmlich deskrip- tiven Naturalismus der Poesie verkündete, geht einfach aus dem unvergleichlich hohen Maße hervor, in dem die künstlerische Grundform die Tatsachen seines Lebens durchdrungen hat. In einem gewissen Grade ist dies, wie gesagt, bei jedem wirklichen Künstler der Fall und unterscheidet ihn von demjenigen, der nur ,, Kunst macht" ; denn dieser bringt an den ursprünglich unter ganz anderen Kategorien erlebten Inhalt eine ihm irgend-

Die Art der Einheit von Leben und Schaffen 19

wie gegebene Kunstform heran und gestaltet mechanisch jenen nach dieser, während dort der künstlerische Organismus das Gebilde einheitlich-innerlich erwachsen läßt. Bei Goethe aber scheint dieser Prozeß sich mit einer so selbstverständlichen Un- mittelbarkeit, einer souveränen Ungestörtheit durch Kategorien anderer Richtung vollzogen zu haben, und vor allem über eine so weite Gesamtheit einer höchst differenzierten Existenz hin, wie bei keiner uns sonst bekannten Erscheinung. Sogar die Hingabe an das Erkennen und an reine Wissenschaft war nicht imstande, die Herrschaft seiner künstlerischen Kategorien in Weltbild und Erlebnis zu durchbrechen. Und all seine eigen- artigen Äußerungen eines Realismus der Kunst sind nichts anderes als die Objektivierungen dieser Wesensbeschaffenheit. In dem funktionellen Sinn der künstlerischen Natur ist er vielleicht die größte, von der wir wissen. Gewiß, wer seinen ein- zelnen Werken gegenüber behaupten wollte: keines reiche an Wucht und Vollkommenheit an die Orestie oder den Lear, an die Mediceergräber oder Rembrandts religiöse Bilder, an die H-moll-Messe oder die Neunte Symphonie den wird man nicht gerade widerlegen können. Aber bei keinem andern Künstler reichte die organisierende Kraft des Künstlertums mit solcher Breite und so unbedingt formgebend in die Einheit der Per- sönlichkeit hinab, daß ein so weiter Kreis von Welt und Er- lebnis durch sie gleichsam zu potenziellen Kunstwerken ge- schaut und erlebt wurde. Daß die innere Dynamik, durch die überhaupt Vorstellungen und Leben zu seinen Vorstellungen und seinem Leben wurden, eine künstlerische Apriorität war dafür ist es nur der theoretische Ausdruck, wenn er in seinen Kunstwerken nichts anderes als die gegebene Realität auszu- sprechen meinte. Sein Schaffen machte nur anschaulich, was sein Lebensprozeß schon bei der Empfängnis der Lebensinhalte geformt hatte vielleicht das größte und höchste Beispiel, daß wir, nicht nur erkennend und genießend, sondern auch schaffend aus dem Leben nur nehmen, was wir selbst hineingelegt haben ; sein Schaffen schien ihm von dem Erleben nicht getrennt, weil schon sein Erleben ein Schaffen war.

G

Zweites Kapitel.

Wahrheit.

oethe ist ohne jeden Vorbehalt davon durchdrungen, daß die theoretischen Überzeugungen des Individuums in un- bedingter Abhängigkeit von der Beschaffenheit und Richtung seines Seins stünden. Die alte Annahme, daß der Mensch so handle, wie sein Sein es mit sich bringt, setzt sich hier dahin fort, daß auch das Erkennen seine Bestimmung eben daher bezöge. Die gewöhnliche wissenschaftliche Meinung erkennt jedem Objekt gegenüber eine einzige, sozusagen ideell prä- existierende Wahrheit an, die der einzelne Geist auffinden muß. Was er von sich aus produziert, ist nur die seelische Energie, die Funktion, mit der sich der Inhalt der Wahrheit für das Bewußtsein verwirklicht. Zwar wird auch dieser Inhalt ja nicht \tkt von außen in das Objekt hineingeschüttet, sondern auch eij wird irgendwie von letzterem erzeugt und das Verhältnis dieser Er- zeugung zu der Gegebenheit oder bloßen Auffindung des Wahren wird von der Erkenntnistheorie und der Metaphysik in den mannigfachsten Hypothesen dargestellt. Gemeinsam aber ist . ihnen allen die Einzigkeit der Wahrheit gegenüber jedem Ob- jekt und ihre Unabhängigkeit von der sonstigen Differenzierung der Subjekte. Und da das Einzige, auch seinem Wesen nach Spontane: der psychische Prozeß, das Dynamische an der Er- kenntnisvorstellung — diese Vorstellung nur tragen, aber sie als wahre nicht modifizieren kann, so ist auch diese Spontaneität in allen Fällen, wo wirklich Wahrheit erkannt wird, genau so unindividuell, genau so beziehungslos zu der Sonderbeschaffen- heit des einen oder des andern erkennenden Subjekts, wie der objektive Inhalt selbst es ist. Insofern wir Wahres erkennen, sind wir alle gleich, und nur in den grenzenlos möglichen Irr-

Förderung durch den Gedanken 21

tümern kommt die Unterschiedenheit der Individualitäten zu Worte und zu Folge. Für diese typische Vorstellung vom Er- kennen ist der Erkenntnisprozeß als eine Lebendigkeit der in- dividuellen Seele sozusagen ausgeschaltet, da allein der Inhalt durch seine objektive Qualität bestimmt, welches Vorstellen wirk- lich Erkennen, Wahrheit ist.

Alles diesem Prinzip Entgegengesetzte, das Goethes Erkenntnis- begriff enthält, ist virtuell in der bekannten Zeile gesammelt: Was fruchtbar ist, allein ist wahr. Der rein in sich zentrieren- den, in den bloßen Verhältnissen realer oder ideeller Inhalte bestehenden Wahrheit des allgemein angenommenen Wissens- ideales stellt er übrigens ohne jede Polemik und als bemerkte er eigentlich die fundamentale Differenz gar nicht in immer wiederholten Aussprüchen den andern Wahrheitsbegriff gegen- über: wahr sei für den Menschen derjenige Gedanke, der ihm nützlich sei. ,,Ich habe bemerkt, schreibt er im hohen Alter, daß ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar ist, sich an mein übriges Denken anschließt und zugleich mich fördert. Nun ist es nicht allein möglich, sondern natürlich, daß sich ein solcher Gedanke dem Sinn des anderen nicht anschließe, ihn nicht fördere, wohl gar hindere, und so wird er ihn für falsch halten." DerEinzigkeitderWahrheit, ihrer Unabhängigkeit von ihrem individuellen Vorgestelltwerden kann nicht schärfer widersprochen werden : es gibt so viele verschiedene Wahrheiten, wie es individuell verschiedene Möglichkeiten gibt, durch das Denken der Dinge gefördert zu werden ! Damit scheint es, als dürften die rohesten Formen des Pragmatismus sich auf Goethe berufen; was indes angesichts der Grundgesinnung Goethes von vornherein sehr unwahrscheinlich ist.

Machen wir uns zunächst klar, was er denn eigentlich unter der „Förderung" versteht, die zu leisten einer Vorstellung die Wahrheitsqualität verschafft. Moderne teleologische Theorien der Erkenntnis gründen sich darauf, daß die richtigen Vorstellungen von der Umwelt ein zweckmäßiges, uns nützliches Handeln zur Folge haben ; die allgemeine Anpassung des organischen Lebens überhaupt bewirke deshalb, daß wir die richtigen Vorstellungen

22 Pragmatismus

von den Dingen hätten. Oder auch, sie verwandeln diese syn- thetische Beziehung zwischen Wahrheit und Nützlichkeit in eine analytische: als das wahre Vorstellen der Dinge bezeichneten wir eben dasjenige, auf das hin wir zweckmäßig verfahren. In beiden Fällen ist es der Inhalt der bestimmten einzelnen Vor- stellung, der die intellektuelle Bedingung des bestimmten ein- zelnen Handelns bildet: wie wir etwa einen Gegenstand im Raum nur ergreifen können, wenn wir die Distanz zu ihm richtig ein- schätzen, oder einen Menschen nur für unsere Zwecke gewinnen können, wenn wir ein richtiges Bild von seiner seelischen Ver- fassung haben. Mit alledem ist das theoretische Bild der Dinge von dem darauf gebauten praktischen Verhalten prinzipiell ge- trennt. Das Vorstellungsbild, gleichviel in welcher Weise und wozu entstanden, steht da und wird zu einer integrierenden Voraussetzung unsres Handelns, welches nützlich verläuft, wenn der Inhalt dieser Vorstellung zu der Realität, dem Orte jenes Handelns, ein bestimmtes Verhältnis hat; ändert sich dieses Verhältnis, so verläuft das Handeln verderblich. Das Entscheidende bleibt dabei immer die Beziehung, die das Vorstellungsbild seinem Inhalte nach einerseits zu dem Inhalt unsrer Zwecke, anderer- seits zu dem Inhalt der Wirklichkeit hat, da es eben zwischen diesen beiden zu vermitteln, die Wirklichkeit für die Zwecke auszunutzen hat. Nicht darauf, daß der Mensch die Vorstellung als ein inneres Element seines Lebens habe, kommt es an, sondern daß sie das geeignete Mittel, die zweckdienliche Voraussetzung dazu sei, daß das auf die Einzelheiten der Welt gerichtete Handeln diese zu der erwünschten Reaktion auf uns bewege. Was immer man unter Wahrheit verstehe und ob man sie auch im letzten Grunde durch das praktische Bedürfnis bestimmen lasse immer bleibt die Tatsache, daß sie eben Wahrheit ist, daß sie die Realität in der Form der Vorstellung irgendwie unserm Handeln darbietet, der Grund und Inhalt ihrer Förderlichkeit. An ihrem Gegensatz zu dieser Beziehungsrichtung zwischen Wahrheit und Nützlichkeit offenbart die Goethesche Lehre ihren entscheidenden Sinn. Nicht auf die dem Objekt zugewandte Seite der Vorstellung, nicht auf den ideellen Inhalt der Wahr-

Die Vorstellung als Element des Lebens 23

heit, mit dem übereinstimmend oder nicht übereinstimmend unser Handeln förderlich oder verderblich ist, kommt es an, sondern auf die Bedeutung, die das Dasein der Vorstellung in unserm Bewußtsein für unser Leben besitzt. Der Pragma- tismus, weil er auf das Ausnutzen der Welt vermöge ihrer Erkenntnis geht, knüpft deren Wahrheitskriterium an die realen Wirkungen, die der Mensch von den Dingen erfährt, und die durch die Vorstellungen nur vermittelt werden. Diese utili- tarische Beziehung zwischen Ding und Leben, in die sich die Vorstellung nur als eine, nachher sozusagen wieder auszu- scheidende Vermittlung einstellt, geht Goethe hier gar nichts an; sondern die Vorstellung als Element des Lebens selbst, nicht durch das, was sie diesem erst vermittelt, steht in ihrer Förderlichkeit oder Abträglichkeit für die Ganzheit dieses Lebens in Frage. Mit der theoretischen Schärfe ausgedrückt, zu der Goethe selbst sich nicht veranlaßt sah: für die vorliegenden teleologischen Wahrheitsbegriffe, besonders den Pragmatismus, ist es der Inhalt der Vorstellung, dessen Förderlichkeit ihr den Wahrheitswert gibt, für Goethe ist es der Prozeß ihres Vor- stellens, die lebendige Funktion, die sie im Zusammenhange der seelischen Entwicklung ausübt. Der Mensch muß dadurch gefördert werden, daß er diese Vorstellung denkt, sie muß sich dem einheitlichen Totalsinne seiner inneren Existenz anschließen, und die Energie, die sie innerhalb dieser einsetzt, muß ein Moment dieser fortschreitenden Existenz selbst werden: dann heißt der Inhalt dieses dynamisch und personal bedeutsamen Vorstellens wahr. Man muß diesen Gedanken nur in seiner ganzen Spannweite und seinem fundamentalen Charakter fassen, um auch die Äußerung, die all jenen andern über das Förder- liche als das Wahre zu widersprechen scheint, aus ihm zu begreifen: ,,Wie der menschliche Geist vorschreitet, fühlt er immer mehr, wie er bedingt sei, daß er verlieren müsse, indem er gewinnt: denn ans Wahre, wie ans Falsche sind not- wendige Bedingungen des Daseins gebunden." Und dies ist nicht die einzige Äußerung, mit der er die tiefe, integrierende Notwendigkeit des Irrtums für das Lebensganze verkündet. Nicht

24 Das ,, Passende"

etwa in dem Kassandrasinne, als wäre nur der Irrtum das Leben und das Wissen der Tod. Es handelt sich vielmehr um einen so hoch gehobenen, so weit umfangenden Begriff des Wahren, sozusagen um dessen so absoluten Sinn, daß er das Wahre und das Falsche im Sinn ihres relativen Gegensatzes gleichmäßig einschließt; man möchte es, um den Unterschied, an dessen begrifflicher Fixierung Goethe kein Interesse hatte, zu markieren, etwa ,,das Richtige" nennen. In dieser Bedeu- tung mißt sich der Wert des Vorstellungsinhaltes am Leben, in dessen Ganzheit der Vorstellungsprozeß tragend und getragen sich verwebt; hier findet das Vorstellen eine letzte Instanz, der gegenüber das Objekt mit seiner Bestimmungskraft über das Wahr und Falsch gedanklicher Inhalte nur eine niedere ist. Dieses Wahre oder Richtige in dem absoluten, weil dem Abso- luten des Lebens zugehörigen Begriffe, hat durchaus die logische und metaphysische Struktur jenes ,, Passenden", das Goethe in dem merkwürdigen aus Hippokrates übernommenen Satze bestimmt: ,,Was die Menschen gesetzt haben, das will nicht passen, es mag recht oder unrecht sein; was aber die Götter setzen, das ist immer am Platz, recht oder unrecht." Das ,, Passende" ist hier etwas Absolutes, das das Moralische hinter sich läßt, indem es die ethische Relativität: recht und unrecht unter sich begreift. Die gleiche Aufgipfelung eines um- fassenden Wertes über den relativen Sinn seiner selbst und seines Gegenteiles vollzieht sich in dieser Äußerung: ,,Man kann keineswegs zu vollständiger Anschauung gelangen, wenn man nicht Normales und Abnormes immer zugleich gegen einander schwankend und wirkend betrachtet." Es gibt für ihn ein höchstes Normales, das Normales und Abnormes ein- schließt — die ,, Metamorphose der Tiere" lehrt eine höchste Gesetzlichkeit, die Willkür und Gesetz, Vorzug und Mangel einschließt. ,,Im organischen Leben", sagt er, ,,wird selbst das Unnütze, ja das Schädliche selbst in den notwendigen Kreis des Daseins aufgenommen, ins Ganze zu wirken und als wesent- liches Bindemittel disparater Einzelheiten". Darum warnt er auch, bei den Pflanzen von Mißbildung und Verkümmerung in

Der Vitalsinn der Wahrheit 25

einem scharfen Sinne zu sprechen, da doch „sowohl das Geregelte wie das Regellose von einem Geiste belebt ist". Wie hier ein höchstes „Regelmäßiges" gemeint ist, das die relative Regel und die Abweichung von ihr zu seinen Elementen macht, wie sein absoluter ,,Natur"-Begriff seine eigene relative Bedeu- tung einschließt (,,Auch das Unnatürlichste ist Natur"!), wie vorhin das schlechthin , »Passende" genau so verhält sich dort das Wahre in dem Sinne, in dem es das Leben fördert, sich dem Ganzen anschließt und jene notwendige Bedingung des Daseins ist, die das Wahre und das Falsche, in ihrem gewöhnlichen Sinne, gleichmäßig übergreift. Und nur der Stimmungsakzent, nicht die metaphysische Gültigkeit des Ver- hältnisses zwischen dem Leben und der Gegensätzlichkeit seiner relativen Einzelwerte verschiebt sich in der Äußerung: ,, Glück- liche Beschränkung der Jugend, ja der Menschen überhaupt, daß sie sich in jedem Augenblicke ihres Daseins für vollendet halten können und weder nach Wahrem noch nach Falschem, weder nach Hohem noch Tiefem fragen, sondern bloß nach dem, was ihnen gemäß ist." Und so erst wird das Wahre ganz verständlich, das ein solches nur ist, insofern es fruchtbar ist. Nicht die Fruchtbarkeit ist gemeint, die in der Sphäre des bloßen Erkennens besteht wo eine Erkenntnis dann fruchtbar heißt, wenn ihr Inhalt andere Inhalte aus sich entwickeln läßt, zu der Bildung neuer logisch -sachlich anregt; sondern die sozusagen dynamische Fruchtbarkeit, mit der Vorstellungen, jetzt selbst als Leben betrachtet, in dem Leben ihres Trägers wirken. Diese sind in dem Goetheschen, dem vitalen Sinne wahr, sie können überhaupt gar nicht falsch sein, obgleich ihre Inhalte, als solche und vom Objekte her betrachtet, wahr oder falsch sein mögen. Nur in dieser Bedeutung gibt es einen Sinn, wenn Goethe sagt: ,, Der Irrtum gehört den Bibliotheken an, das Wahre dem menschlichen Geiste" denn in jener anderen Bedeutung der Begriffe gibt es doch auch Wahres in den Bibliotheken und Irrtum im menschlichen Geiste. Und noch einmal findet er einen besonderen Ausdruck für dieses Lebenskriterium, das sich mit dem theoretischen über Wahrheit

26 Relation zwischen Mensch und Welt

und Irrtum nicht deckt. Man könnte, so sagt er, von diesen beiden ausgehend, ,,ein drittes Wort im zarteren Sinne hinzu- fügen, nämlich Eigenheiten. Denn es gibt gewisse Phänomene der Menschheit, die man mit dieser Benennung am besten aus- drückt; sie sind irrtümlich nach außen, wahrhaft nach innen, sie sind das, was das Individuum konstituiert; das Allgemeine wird dadurch spezifiziert und in dem Allerwunder- lichsten blickt noch immer etwas Verstand, Vernunft und Wohl- wollen hindurch, das uns anzieht. Man kann sie sich vor- stellen als Formen des lebendigen Daseins und Handelns einzelner, abgeschlossener, beschränkter Wesen, Individuen wie Nationen. Eine Eigenheit könne an sich, wo nicht lobenswert, doch wenigstens duldbar sein, indem sie eine Art zu sein ausdrückt, welche man als Bezeichnung eines Teils des Mannigfaltigen gar wohl müßte gelten lassen." Vollkommener ist wohl nicht aufzeigbar, wie ihm ein über dem theoretischen Gegensatz von Wahrheit und Irrtum stehender Begriff von Wahrheit vor- schwebte — die Wahrheit, in der die Art des Menschen, über- haupt und dieser bestimmte zu sein, ihren Ausdruck findet.

So also ist Wahrheit gewissermaßen die Relation zwischen dem Leben des Menschen und der Totalität der Welt, in die es sich einordnet; sie ist Wahrheit nicht um ihres logischen und nur logisch nachprüfbaren Inhaltes willen (der vielmehr erst so seine metaphysische Fundierung erhalten wird), sondern weil der Gedanke, nicht anders als unsere physiologische Beschaffen- heit oder unser Gefühl, ein Sein des Menschen ist, das seine Richtigkeit oder Nicht-Richtigkeit als reale Qualität, Ursache oder Folge seines gesamten Weltverhältnisses besitzt. ,, Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit." Schon hiernach kann nicht zweifelhaft sein, daß das Subjekt, das die so verstandene Wahrheit trägt und bestimmt, der ganze Mensch ist, nicht etwa ein isoliertes ,,Verstandes"-Vermögen, sondern seine Totalität, mit der er eben der Totalität des Daseins verwebt ist. Ebensowenig aber auch ist Kraft und Kriterium dieses Erkennens auf die Sinn- lichkeit beschränkt. Hier hat man Goethe auf Grund unpräziser

Sinnlichkeit 27

und nur a potiori gültiger Äußerungen und in etwas ober- flächlicher Auffassung seines ,,Künstlertums" durchaus miß- verstanden, indem man als den Grundirrtumj^ seines Weltbildes gelten ließ, daß er dessen Prinzipien, z. B. die ,,Urphänomene", noch innerhalb der sinnlichen Gegebenheiten wenngleich nicht schwankungslos festhielt. Die sachliche Kritik dieser Prinzipien bleibt dahingestellt. Aber ihre Bestimmtheit durch die ,, Sinnlichkeit des Künstlertums" ist ganz mißverständlich, weil diese Sinnlichkeit gerade im Unterschied gegen die des Durchschnittsmenschen oder der philosophischen Abstraktion, schon von vornherein und in sich selbst von Verstandes- und vernunftmäßigen Kräften und Normierungen durchdrungen ist. Die Bezeichnung des Künstlers als des ,, Sinnenmenschen" hat gerade den Sinn, daß bei ihm die Sinnlichkeit nicht von dem übrigen Menschentum so abgetrennt ist, wie sie sonst in Theorie und Praxis erscheint. Die Abstraktion, die dem Künstler fern- liegt, betrifft nicht nur das durch logische Begrifflichkeit aus dem Leben Abtrennbare, sondern ebenso die Isolierung des Sinnlichen aus dem Gesamtkomplex des Lebens heraus. Nur daß bei ihm die Sinnlichkeit der Kanal ist, durch den dieses Gesamtleben in Produktivität mündet wie dem Philosophen das begriffliche Denken, dem Praktiker die Handlungsenergien eben diesen Dienst leisten : sein Sein sich in sein Werk umsetzen zu lassen. Goethe hat dies unzählige Male ausgesprochen und angedeutet. ,,Dem bloß sinnlichen Menschen verbirgt die Natur Vieles".

„Den Sinnen hast du dann zu trauen, Kein Falsches lassen sie dich schauen. Wenn dein Verstand dich wach erhält."

Wie hätte ein Sinnenmensch, in jener ebenso abstrakten wie trivialen Bedeutung des Wortes, in einer höchst ernsten, sein ganzes Leben charakterisierenden Konfession, von der in ihm ,, obwaltenden Verachtung des Augenblicks" sprechen können? Von der Jugend bis zum Alter revoltiert ihn ,,die Lehre von den unteren und oberen Seelenkräften". ,,In dem menschlichen Geiste, so wie im Universum, ist nichts oben

28 Der Erkennende als menschliche Totalität

noch unten; alles fordert gleiche Rechte an einen gemein- samen Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das harmonische Verhältnis aller Teile zu ihm manifestiert. Wer nicht überzeugt ist, daß er alle Manifestationen des mensch- lichen Wesens, Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand, zu einer entschiedenen Einheit ausbilden müsse, welche von diesen Eigenschaften auch bei ihm die vorwaltende sei, der wird sich in einer unerfreulichen Beschränkung immerfort abquälen." Das also ist kein Zweifel: die Vorherrschaft des Sinnlichen, der unmittelbaren Wahr- nehmung ist es nicht, von der seinem Erkennen und seinen Theorien des Erkennens eine Eingeschränktheit käme. Vielmehr, dessen sensueller, ,, augenmäßiger" Charakter bedeutet gerade, daß in das Aufnehmen, wie in das erkennende und produktive Gestalten der Welt die Ganzheit des Menschen einzutreten hat. Die Sinnlichkeit des Künstlers ist keine abstrakte, sondern gleichsam nur der Vorname jener Ganzheit. Der scheinbare Tiefsinn, der irgendwelche Mängel des Goetheschen Weltbildes aus seinem Künstlertum und einer damit gegebenen einseitigen Akzentuierung des bloß sinnlich Gegebenen herleitet, mußte hier widerlegt werden, wo das Erkennen in Goethes Sinne gerade in der Beziehung des Lebens überhaupt zu der Welt überhaupt aufgezeigt wurde ; wenn es deshalb schon den Gegen- satz des singulären Wahren und Falschen übergriff, wieviel mehr mußte es sich dazu über den zwischen Sinnlichkeit und Verstand erheben!

Die so erreichte Deutung nun erstreckt ihre Voraussetzungen und ihre Folgen nach zwei Seiten hin.

Wenn Goethe jenes funktionell Richtige, in die Lebenstotalität förderlich Eingefügte, das sich über die gewöhnliche Relation: wahr und falsch, erhebt, schlechthin als das Wahre bezeichnet, so muß sich dies in tieferen Bedingtheiten gründen. Der Sinn des Wahren, der in der Beziehung zum Objekt besteht, ist tat- sächlich auch hier nicht ausgeschaltet; nur greift diese Be- ziehung gewissermaßen über die singulären Erweislichkeiten hinweg ins Metaphysische. Denn sie beruht auf dem funda-

Das Wahre als Fruchtbares 29

mentalen Glauben Goethes, daß der innere Weg des persönlichen Geistes seiner Bestimmung nach derselbe ist, wie der der natür- lichen Objektivität nicht aus zufälliger Parallelität oder nachträglicher Zuordnung, sondern weil die Einheit des Daseins das eine wie das andere aus sich erzeugt, oder genauer, weil eines wie das andere ,, Natur" im weitesten und metaphysischen Sinne ist; es bedarf dafür keiner besonderen Erweise aus dem Kreise der Goetheschen Äußerungen, der das: Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen? umgibt. An einzelnen herausgeschnittenen Stücken aus der Natur und dem Geiste mag ihre Harmonie nicht aufzeigbar sein; faßt man aber die Totalität des geistigen Lebens, so wie ich sie andeutete, bezieht sich die Wahrheit auf den vollkommenen Prozeß dieser Totalität, so muß sie zugleich Wahrheit in Hinsicht des Ob- jekts sein, weil das Subjekt und das Objekt als ganze, als Kinder des einen physisch-metaphysischen Seins, nicht aus- einanderklaffen können. Diese Überzeugung war für Goethe erst in zweiter Linie Theorie ; sie war sozusagen der Charakter und Sinn seiner Existenz selbst, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie seine Gedankenwelt unterbaute viel breiter als in seinen abstrakten Äußerungen zutage tritt macht seine Sätze oft lässig und ungenau. Denn Ausdrücke, die an sich wohl Verschiedenes bedeuten, werden für ihn gleichmäßig zu Gefäßen dieses einen, alles durchflutenden Lebensprinzips. Und weil die mit ihm ausgesprochene Einheit ihn unbedingt beherrschte, war es eigentlich gleichgültig, von welcher der Seiten her, die in ihr harmonierten, er sie aussprach. Wenn nur das Frucht- bare ihm wahr ist, so konnte er ebensogut sagen, nur das Wahre sei ihm fruchtbar. Und tatsächlich klingt dies in all den Äußerungen an, wo er von der wahren Erkenntnis sagt, daß sie ,, Folge hat". Sein Geist war gewissermaßen die Leben- digkeit dieses Prinzips, er war so glücklich konstruiert und ein so reiner Spiegel des Daseins, daß ihm prinzipiell und im weitesten Sinne nur das Wahre fruchtbar wurde, woraus er freilich schließen durfte, daß das Fruchtbare auch wahr wäre. Darum konnte er sich die Realität in der Absonderung von

30 Das Einfache

dem subjektiven Leben gar nicht als etwas Objektives denken; und andererseits, wenn er es in seinen späteren Jahren immer wieder als die Krankheit der Zeit bezeichnet, daß sie subjektiv sei, so meint er damit die von jener Einheit gelöste, nicht mehr fruchtbare Subjektivität, die also mit der Wahrheit weder zeugend, noch erzeugt verbunden ist. Darum ist ihm die Sub- jektivität, die prinzipiell in sich zentriert, ebenso prinzipiell der Sitz des Irrtums: also zum Beispiel diejenige, die nur ,, ihren Scharfsinn zeigen will" : und der er es ausdrücklich vorwirft, daß sie deshalb ,,sich am Irrtum freut". Aber entsprechend verwirft er auch das, was man im allgemeinen Objektivität nennt, die unter demselben, nur umgekehrt gerichteten Zeichen steht: ,, Der Mensch an sich selbst, sagt er in dieser Gesinnung, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur er- kennen will". Und weiterhin endlich begründet dieser Zu- sammenhang Goethes Vorliebe für das, was er das Einfache nennt, seine Abneigung gegen komplizierte und umwegreiche Erkenntnismethoden. Wäre das Erkennen ein in rein ideeller Existenz bestehendes Gebilde, so würde Einfachheit und Kom- pliziertheit demgegenüber gar kein maßgebender Gesichtspunkt sein. Dies sind in ihrem quantitativen Unterschiede ganz rela- tive Begriffe, die für die ideell-selbständige Objektivität des Er- kennens keinen Wertunterschied bedeuten könnten. Um einen solchen zwischen ihnen zu stiften, bedarf es eines anderen Kriteriums, und dies ist für ihn eben das natürliche Dasein und Beschaffensein des Menschen, der mit seinen Organen so in die Welt gesetzt ist, daß das Verhältnis dieser Organe, wie sie sind, zu der Welt, wie sie ist, das Maximum von Förde- rung, von ,, richtiger" Attitüde enthalten kann. Das Leben aber ist das Einfachste, nicht trotzdem, sondern gerade weil es seinen Organen nach ,,ein Vieles" ist denn gerade an deren einheitlicher Zusammenwirksamkeit offenbart es seine Einfach-

Das „Unerläßliche" 31

heit. Und es ist das Einfachste, weil es das Fundamentale und Selbstverständliche ist, das, was sozusagen nur ,,ist"; darum ruft er angesichts von Seetieren aus: ,,Was ist doch ein Lebendiges für ein köstlich herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr! wie seiend!" Weil seiner Weltanschauung alles Sein Leben ist, darum ist ihm alles Leben schlechthin ,,Sein" und wie könnte es Einfacheres geben als das Sein? Daher sein Haß gegen die ,, beschränkten Köpfe, die sich mit der Natur gewissermaßen im Widerspruch fühlen, und deswegen (!) das komplizierte Paradoxe mehr lieben, als das einfache Wahre". Das sind die, die jene Einheit nicht er- leben können, deren Denken nicht einfach sein kann, weil es sozusagen das Selbstverständlichste und Objektivste, das Leben selbst, nicht erlebt.

Noch von einer anderen Richtung letzter Tiefe her begegnet eine Goethesche Antwort der schweren Frage, worin denn eigentlich die Förderung bestehe, die die Vorstellung als wahre legitimiert, was der Inhalt sei, den das Handeln, durch die Vorstellung geleitet, erreichen muß, damit es als ,, Förderliches" gelte. Das Genie, sagt er, ,, bequemt sich zum Respekt sogar vor dem, was man konventionell nennen könnte : denn was ist dieses anders, als daß die vorzüglichsten Menschen übereinkamen, das Notwendige, das Unerläßliche, für das Beste zu halten". Diese Äußerung, die einer weitgehenden Deutung bedarf, um nicht als eine Goethesche ,, Konnivenz", ja als eine Sanktionie- rung des Banalen zu erscheinen, kreiert das , »Unerläßliche" als eine, wie mir scheint, durchaus originelle Kategorie der Lebensauffassung. Die Freiheit, mit der das Leben sich ge- staltet, hat eine sehr bestimmte Grenze; an ihr beginnen Not- wendigkeiten, die es aus sich selbst erzeugt und denen es aus sich selbst genügt. Sie sind nicht um ihres Wertes, um ihrer Wünschbarkeit willen gesetzt, sondern sind bloß ,, unerläßlich"; aber sie bedeuten, da sie geistig-vitaler Natur sind, nicht etwa ein- fache Kausalitäten, wie mechanisch erzeugte Tatsächlichkeiten. Macht man alles Teleologische als solches von einem Wert ab- hängig, von der bewußten Setzung eines Gutes als Zieles, so

32 Das Unerläßliche als das Beste

steht also die Kategorie des ,, Unerläßlichen", wie Goethe sie hier andeutet, an und für sich jenseits der Alternative von Kausalität und Teleologie : es ist das, was das Leben zu seinem Bestände fordert, was es nicht von selbst, sondern nur durch unsern Willen realisieren kann (deshalb immerhin auch ver- fehlen kann), und was, von Sachwerten und Ideen aus gesehen, sehr wohl gut wie böse, schön wie häßlich, erhaben wie all- täglich sein kann. Ich glaube, daß Goethe mit dem Begriff des Unerläßlichen auf jene besondere Schicht hingezeigt hat, die oberhalb von Ursache und Zweck, von bloßer Wirklichkeit und gewolltem Wert liegt und in der das Leben als solches verläuft. Und nun kommt zu dieser bloß beschreibenden Fest- stellung, dieser analytischen Entdeckung einer neuen Kategorie die metaphysische Synthesis: dieses Unerläßliche, das von sich aus gegen allen Wert gleichgültig ist, wird nun doch als ,,das Beste" erkannt. Das ist keineswegs selbstverständlich. Das, was die Tatsache des Lebens als ihr Unerläßliches fordert, könnte in Hinsicht des Wertes ein bald so, bald so gefärbtes sein, oder ein Adiaphoron, oder, für den Pessimisten, gleich dem Leben selbst ein negativer Wert. Die ,, vorzüglichsten Menschen" aber vollziehen oder erkennen die Einheit des für das Leben Erforderlichen und des an sich Wertvollen ; denn sie stehen gleichsam an dem Wurzelpunkt, an dem die Lebens- wirklichkeit und der Lebenswert sich noch nicht getrennt haben, und darum ergreifen sie in allen Entfaltungen des Lebens das „Unerläßliche", d. h. dasjenige, was seinen Bestand überhaupt und zentral sichert und nicht etwa seinen schönen Luxus oder das von anderen Kategorien her Wünschenswerte als ,,das Beste". Für den Philister ist diese Verbindung eine sub- jektiv selbstverständliche, weil er gar nicht daran denkt, daß man dem Unerläßlichen gegenüber dennoch eine Freiheit, einen andersartigen Wertbegriff aufrufen könnte ; dem ,, Vorzüglichsten" ist sie eine objektiv selbstverständliche, aus der Wertabsolutheit des Lebens geschöpfte, eine synthetische, deren soziale Erschei- nungen anzuerkennen das Genie sich erst ,, bequemen" muß. Der Begriff des Unerläßlichen schlechthin ist tiefer, gleichsam

Einheit der Werte 33

von größerem kategorialem Gewicht, als der des Förderlichen schlechthin, er ist in gewissem Sinn dessen Fundierung. Und damit hilft er den Sinn dieses Förderlichen deuten. Hat man den Zusammenhang des Lebens in sich und mit dem Dasein überhaupt und dem Wert überhaupt ergriffen, so hat das Förder- liche ebenso wie das Unerläßliche einen absoluten Sinn, mit dem es über seinen relativen, der Angabe eines Wozu bedürf- tigen, hinausreicht. Die Vorstellung, die sich in die Ganzheit des fortschreitenden Lebens verwebt, hat deshalb allen Wert, den sie haben kann, d. h. die volle Wahrheit, und es ist eine schiefe Frage, zu welchem einzelnen Ziele sie das Individuum „fördere'S da gerade nur ihr Ertrag für das Dasein überhaupt, nicht für diesen oder jenen einzelnen Inhalt, ihr diesen Wert verleiht.

Dieser Begriff des Unerläßlichen, der das ,, Förderliche** erst richtig deutet: als ein nicht Singular- Teleologisches, sondern als harmonisches Element der ganzen lebendigen Wirklichkeit findet nun seinerseits eine klärende Analogie in jenem Be- griff des ,, Passenden** ; ich komme hier noch einmal auf ihn zurück, weil sich erst von einer Mehrheit solcher Begriffe aus die Höhenlage ermißt, in der die Entscheidungen über Goethes Welt- verständnis fallen. Man begreift ihn überhaupt nicht, wenn man nicht den Worten, die er schließlich dem Empirisch-Ein- zelnen entlehnen muß, ihre oft sehr verschiedenen Abstände von eben diesem richtig anweist. Wie sich der Goethesche Wahr- heitsbegriff über den Gegensatz des Wahren und Falschen im Sinne der einseitig-unvollständigen Objektivität, die das Subjekt nicht einschließt, erhebt, so der des ,, Passenden*' oder des höchsten Wertes überhaupt über den Gegensatz des Guten und Bösen im Sinne der in den Relationen der Einzelheiten wohnen- den Moral. Ein dunkles Drängen auf diesen Punkt zeigt schon seine jugendliche Abneigung gegen die scharfe Polarität von Gut und Böse. „Ist denn das Gute nicht bös und das Böse nicht gut?** Hier hebt die Entwicklungsreihe an, die mit den geheimnisvollen Hinweisen der Wander jähre schließt über „jene letzte Religion, die aus der Ehrfurcht vor dem, was unter uns

Simmel, Goethe. 3

34 Moral und Vollkommenheit

ist, entspringt, jene Verehrung des Widerwärtigen, Verhaßten, Fliehenswerten." Und hier preist er es am Christentum, daß ,, Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anerkannt, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen verehrt und liebgewonnen" werden. In alledem lebt das große Motiv, zu dem sich jene frühe Identität des Guten und des Bösen hinaufgeklärt hat: Gutes und Böses stehen jetzt zwar polar in einer Ebene, allein über sie erhebt sich ein Höheres, eine seelische und kosmische Vollkommenheit der Seinstotalität, die der nüchterne Begriff des ,, Fassens" an- deutet. In derselben Richtung spricht er einmal davon, wie viele junge Leute daran zugrunde gehen, daß sie zuviel von sich fordern. ,, Niemand bedenkt leicht, daß uns Vernunft und ein tapferes Wollen gegeben sind, damit wir uns nicht allein vom Bösen, sondern auch vom Übermaß des Guten zurückhalten." Es kam ihm eben auf die Vollkommenheit des Lebens an, die weder durch bloße Steigerung einer noch so lobenswerten Per- fektion zu erringen ist, noch auch nur jede beliebige Steigerung einer solchen, einseitigen, vertragen kann. Das Ideal der Exi- stenz, nicht nur des Wollens, steht in Frage, wie es durch den harmonischen Zusammenhang des Menschen mit der Ganzheit der Welt bestimmt ist. Es ist nur eine Ausgestaltung oder ein Symbol davon, wenn Goethe die moralischen Gegensätze, die von sich aus unsere Existenz zu spalten scheinen, sich so voll- kommen durchdringen läßt, daß die Wertung des Edelsten und Besten auch dem Sündhaften und Niedrigen zukomme, und wenn vor dem Begriff des Maßes gleichsam dem quantitativen Ausdruck jenes ,, Passenden" das Gute wie das Böse ganz gleichmäßige Einschränkung erfahren. Gewiß berührt es sich mit dem hier Gemeinten nur ganz partiell, wenn er über Jacobi sagt: ,,Ihm haben die Naturwissenschaften gemangelt, und mit dem bißchen Moral allein läßt sich doch keine große Weltansicht fassen" ; bedenkt man aber, welche metaphysische, sozusagen absolute Bedeutung die ,, Naturwissenschaften" für Goethe hatten, so spricht doch auch hieraus das Entscheidende : daß die Moral»

Subjektivität und Objektivität der Wahrheit 35

festgelegt auf den Gegensätzen des Guten und des Bösen, ein definitiveres Ideal menschlicher Stellungnahme über sich hat, gleichsam ein Richtigsein des Lebens, das sein Kriterium nicht mehr von einzelnen Inhalten gewinnt, sondern von seinem Sich- Einordnen, Einpassen in das große Ganze der metaphysisch und religiös aufgefaßten Natur.

Von dieser Analogie und der Fixierung der Höhenschicht nun auf das theoretische Ideal zurückblickend, gilt es in allem bisher Gesagten das Grundmotiv festzuhalten : ein übergreifender Wahr- heitsbegriff, der zunächst gar nicht an einem Gegensatz zu theoretischem Irrtum orientiert ist, sondern seinen Sinn in seiner Seins- und Funktionsbedeutung hat, darin, daß er als Daseiendes das daseiende Leben, wie es sich im persönlichen Geiste dar- stellt, fördert. Da nun aber das Leben dieses Geistes allem Natursein in harmonischer Einheit verknüpft ist, so muß jene sozusagen vitale Wahrheit zugleich auch die theoretische sein, das heißt diejenige, die den Inhalt des Denkens an dem Inhalt der Objektivität mißt. Dieser hier vorweggenommene, nachher noch zu begründende Gedanke macht es verständlich, daß er mit größter Leidenschaft auf die Objektivität des Erkennens drängt, auf die selbstlos treue Beobachtung, auf die Ausschaltung aller bloßen Subjektivität und zugleich, ohne sich des ge- ringsten Widerspruchs bewußt zu sein, nur das als wahr an- erkennen will, was anzuerkennen ihn fördert und sich dem be- stehenden Status seines Geistes anfügt.

Durch eine verhältnismäßig einfache metaphysische Vertiefung also zeigt sich der scheinbare Subjektivismus des Goetheschen Wahrheitsbegriffes nur als der eine Aspekt einer Einheit, deren anderer durchaus objektivischen Wesens ist. Aber damit ist die Problematik des andern, diesem Begriff einwohnenden Ele- mentes nicht aufgelöst : die Verschiedenheiten der Wahrheiten, die der Ursprung aus ,, Förderlichkeit" ihnen als Konsequenz der Verschiedenheit der Individuen auferlegt. Eine entscheidende Stelle ist oben mitgeteilt und es gibt deren viele. ,,Die ver- schiedenen Denkweisen sind in der Verschiedenheit der Menschen gegründet und eben deshalb ist eine durchgehende gleichförmige

3*

36 Individualisierung der Wahrheit

Überzeugung unmöglich." Von sich selbst gesteht er im höchsten Alter, mehr als einmal habe er in seine Fassungskraft nicht aufnehmen können, was anderen denkbar sei womit nicht bloßes Denkenkönnen, sondern wissenschaftliches Überzeugtsein gemeint ist; und mehr als zehn Jahre vorher hatte er schon in diesem ganz individualistischen Sinne geschrieben: ,, Jeder spricht nur sich selbst aus, indem er von der Natur spricht." An dieser Konsequenz scheint nun freilich jene metaphysisch schon gelungene Ineinsbringung der subjektiven und der ob- jektiven Wahrheit doch wieder logisch zu scheitern. Man mag zugeben : der menschliche Geist erzeuge Erkenntnisvorstellungen in sich, die seinem Leben notwendig, integrierend, förderlich sind, und vermöge der organisch-metaphysischen Einheit, in der er dem Dasein überhaupt verwachsen ist, besitzen die Inhalte dieser Vorstellungen die volle Harmonie zu diesem Dasein, den objektiven Wahrheitswert. Allein dies gilt insoweit für das ,, Leben überhaupt", das in jedem Individuum dasselbe ist und deshalb mit der Einzigkeit und Eindeutigkeit der Wahrheit über jedes Objekt verträglich bleibt. Diese aber wird doch in dem Augenblick zersplittert und hinfällig, in dem gerade das, was das eine Leben von dem anderen unterscheidet, über die Be- stimmung: was Wahrheit ist ^entscheiden soll. Kein Zweifel, daß die gewöhnliche Folgerung aus solcher Individualisierung der Erkenntnis : daß für den einen Wahrheit ist, was es für den anderen nicht ist, nämlich der Skeptizismus, die Verzweiflung an der Objektivität des Wahrheitsbegriffes überhaupt, Goethe völlig fern lag; so fern, daß er, wenn ich mich nicht täusche, der Gefahr dieses Schlusses mit keiner unmittelbaren und defen- siven Äußerung begegnet. Wohl aber treten positive Motive bei ihm auf, die sie aus seinem Weltbild ausschließen.

Es ist vor allem der Gedanke, daß all diese individualistischen Erkenntnisbilder nicht mit ihrer Zerfällung in atomistische Selbst- genügsamkeiten abschließen, sondern eine ideelle Zusammen- gehörigkeit in dem Sinne besitzen, daß sie sich alle unter ein- ander zu einer einheitlichen Totalität des Erkennens überhaupt ergänzen. „Die Natur ist deswegen unergründlich, schreibt er,

Die Menschheit als Träger der Erkenntnis 37

weil sie nicht ein Mensch begreifen kann, obgleich die ganze Menschheit sie wohl begreifen könnte. Weil aber die liebe Menschheit niemals beisammen ist, so hat die Natur gut Spiel, sich vor unseren Augen zu verstecken." Der leichte Ton dieser Äußerung läßt die Vermutung mindestens nicht ausschließen, daß dieser Inbegriff des individuellen Wissens doch wohl nicht als so mechanische Addition gemeint sein wird, wie er in dem bloßen ,, beisammen" erscheint. Sondern eher in dem sublimen Sinne, in dem er im Alter von dem Ideal eines Einheitslebens der Menschheit überhaupt spricht, von der ,, Weltliteratur", von der ,, sittlich -freisinnigen Übereinstimmung durch die Welt". Man möchte etwa an die Arbeitsteilung unter den Gliedern eines einheitlichen Organismus denken. Hier erhebt sich der Wahr- heitsbegriff noch einmal in die gleiche Höhe, in der er vorhin über dem relativen Gegensatz von Wahr und Irrig gestanden hatte. Jetzt steht so darf man Goethes Intention wohl deuten ein Erkennen in Frage, das absolut ist, weil ,,die Menschheit" sein Subjekt ist, und das sich aus den relativen Differenzen der erkennenden Individuen zusammenbaut, oder auch: sie überbaut, wie dort die Differenz von Wahr und Irrig. Er verkündet in einem Aphorismus die Individualität des Er- kennens, die dessen Objekt völlig durchdringt : ,,Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in dessen Indivi- dualität verschlungen und verwickelt." Und nun lautet der nächste Spruch: ,,Was heißt auch Erfinden und wer kann sagen, daß er dies oder jenes erfunden habe ? Es ist nur be- wußtloser Dünkel, wenn man sich nicht endlich als Plagiarier bekennen will." Hier stellt sich also die Totalität der Mensch- heit, statt im Beisammen, im Nacheinander ihrer Arbeit dar; es ist hier die historische Bedingtheit jedes Vorstellens und Leistens, die jenes selbe Motiv trägt: die Legitimierung von dessen noch so individuellem Charakter durch die gliedmäßige Ein- ordnung des Individuums in das Einheitsleben der Menschheit. Von einem solchen Einheitsbegriff aus erst werden die Zusätze zu jener entscheidenden Stelle begreiflich, in der er den Ge- danken als den für ihn wahren verkündet, der ihn fördert und

38 Gegenseitige Ergänzung der Überzeugungen

sich seinem Denken anschließt, während eben derselbe einem Anderen, für den diese Folgen nicht zutreffen, falsch sein müsse. „Ist man hiervon, so fährt er fort, recht gründlich überzeugt, so wird man niemals kontro vertieren." Selbstverständlich handelt es sich bei Goethe, dem Menschen strengster Sachlichkeit und leidenschaftlichsten Wahrheitssinnes, nicht um die Schlaffheit bloßer ,, Toleranz", die immer nur ein negatives Verhalten gegen- über dem Phänomen ist, während hier ein Positives zu dem Grund des Phänomens in Frage steht. Er will mit dem Ent- gegengesetzt-denkenden nicht streiten, weil diese Entgegengesetzt- heit, wenn sie nur wirklich auf dem Naturgrunde der Persön- lichkeit gewachsen ist, in der Einheit des lebendigen, viel- gliedrigen Gesamtverhältnisses zwischen Menschheit und Welt einbegriffen ist. Das Erkennen als ein kosmisches Ereignis bricht hier wie ein Strom aus einer Quelle, in so viele Gefäße er auch gefaßt werde, deren mannigfaltige Formen annehmend ; es ist immer der eine menschheitliche Lebensprozeß des Er- kennens, der eine Fülle logisch unvereinbarer Inhalte trägt. Darum kann eine Stelle, deren Anfang ich vorhin anführte, vollständig so lauten: ,, Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigne Wahrheit haben und es ist doch immer dieselbige." Als die genauere Form dieser gegenseitigen Ergänzung er- scheint ihm gelegentlich sogar der unmittelbare logische Gegen- satz. Er schreibt über Jacobi: ,,Nach seiner Natur muß sein Gott sich immer mehr von der Welt absondern, da der meinige sich immer mehr in sie verschlingt. Beides ist auch ganz recht : denn gerade dadurch wird es eine Menschheit, daß, wie so manches andere sich entgegensteht, es auch Antinomien der Überzeugung gibt." Hier wird also das bloße Beisammen zu der Lebendigkeit einer Polarität gesteigert, die Verschiedenheiten der Denkweisen bilden nicht nur neben einanderstehend ein Ganzes, sondern die eine verlangt von sich aus die andere. Das uralte Motiv, daß auch der Kampf eine Art und ein Mittel der Einheit sei, tritt hier hervor, läßt alle Passivität der Toleranz für das Entgegengesetzte hinter sich, sondern fordert gerade das

Einheit mit sich und mit andern 39

Entgegengesetzte, damit die „Antinomie" sich als die Form ent- hülle, in der die Einheit der erkennenden Menschheit gegenüber dem Objekt, nicht nur trotz, sondern mittels ihrer Gespaltenheit in polare Individualitäten sich vollzieht. Und endlich rücken die Gegensätze in den Inhalten der Überzeugung so zusammen, daß sie als gleichzeitige sogar ein einzelnes Individuum charak- terisieren und in ihm ihre Einheit finden. Er spricht einmal aus was schon an und für sich unserm Zusammenhange zu- gute kommt , daß Philosophien nur die Lebensstimmung ihres Schöpfers bedeuten, das heißt die Art, wie seine individuelle Dis- position mit der Welt fertig wird; auf diese Weise stellten sie Lebensformen dar, unter denen wir als Adepten wieder zu wählen hätten, was ,, unserer Natur oder unseren Anlagen nach*' für uns passe. Und nun fährt er fort: „Ich behaupte, daß sogar Eklektiker in der Philosophie geboren werden, und wo der Ek- lektizismus aus der inneren Natur des Menschen hervorgeht, ist er ebenfalls gut. Wie oft gibt es Menschen, die ihren ange- borenen Neigungen nach halb Stoiker und halb Epikuräer sind ! Es wird mich daher auch keineswegs befremden, wenn diese die Grundsätze beider Systeme aufnehmen, ja sie möglichst mit ein- ander zu vereinigen suchen.**

In vielleicht noch ahnungsreichere Tiefen führt die Ein- leitung jenes zentralen Satzes: ,,Wenn man mit sich selbst einig ist, ist man es auch mit andern". Sieht man auf die isolierten Inhalte dieses ,,mit sich Selbst -Einigseins", auf die einzelnen, logisch ausdrückbaren Überzeugungen, in denen jeder jeweils mit sich einig ist, so ist diese Behauptung gar nicht verständlich. Anders aber, sobald unter Erkennen ein Total- verhalten des Menschen verstanden wird: jene Befruchtung und Förderung des Ganzen durch einen Gedanken, jenes Sichan- schließen und Sichzusammenschließen zwischen früheren und neuen Vorstellungen. Ist so das Mit-sich-einig-sein nicht ein logisches, systematisches Verbundensein von Inhalten, sondern eine Lebensfunktion des Menschen, eine, die ihn vereinheit- licht und ihn dem Sinne seiner Existenz näherbringt, so tritt sofort die Beziehung des Menschen als Ganze^ zum Dasein

40 Persönliche Einheit und Welteinheit

als Ganzem daran oder darin hervor. An das richtige Funk- tionieren des Geistes ist das harmonische Verhältnis zum Objekt gebunden. Goethe spricht gelegentlich davon, daß das fort- während sich wandelnde und in scheinbaren Widersprüchen sich bewegende Objekt nur von einem ebenso beweglichen Geist erkannt werden könne: wie der morphologische Forscher ,,die Organe bildsam sieht, so müsse er auch die Art zu sehen bild- sam erhalten". So liegt es in dem Fundamente der ganzen Goetheschen Weltansicht beschlossen, daß der Mensch erst, indem er sich in sich vereinheitlicht, ,,mit sich selbst einig" ist, das geistige Gegenbild der in sich einheitlichen Welt dar- stellt. Dann aber hat jedes so einheitliche Individuum das gleiche, in diesem Sinne auch gleich aufgenommene Objekt. „Jedes Individuum, sagt er einmal, hat vermittelst seiner Nei- gungen ein Recht zu Grundsätzen, die es als Individuum nicht aufheben". Es wäre bei seiner Denkart völlig ausgeschlossen, dem Subjekt das Recht zu Grundsätzen zuzugestehen, die nicht auch von der objektiven Ordnung der Dinge her berechtigt sind. Aber es sind eben ,,die Neigungen" selbst objektive Tatsachen, die sich mikrokosmisch dem individuellen Ganzen zuordnen Neigungen, mit denen er selbstverständlich nicht flatternde Willkürlichkeiten, sondern die organischen Tendenzen des Wesenskernes meint. Indem das ,,mit sich einige" Subjekt, sozusagen durch seine Formgleichheit mit der selbst einheitlichen Welt, dieser ein harmonisch angemessenes Gegenbild in sich bereitet, müssen all solche Individuen doch irgendwie auch miteinander harmonieren, so verschieden die Punkte inhaltlich seien, um die herum die Vereinheitlichung eines jeden stattfindet. Denn sie verhalten sich, wie das Leibnitzsche Gleichnis es von den unendlich ver- schiedenen Monaden sagt, deren jede die Welt irgendwie anders vorstellt und die doch in absoluter Harmonie stehen wie Spiegel, die um einen Marktplatz herum aufgestellt sind: ein jeder zeigt zwar ein anderes Bild als der andere, aber wider- sprechen können sie sich nie, da sie damit ein und dasselbe Objekt wiedergeben. Erst aus einer letzten Überzeugung heraus also wird es verständlich, daß der mit sich einige Mensch auch

Das Glück des Einzelnen 41

mit den andern einig sei; die metaphysische Beziehung, die der so sich formende Mensch zu der Objektivität des Daseins gewinnt und nur so gewinnt, ist der Zusammenhalt, der diese Menschen auch unter sich vereinheitlicht und es ganz grundlos macht, daß sie ,,kontro vertieren".

Es ist nur die praktische Wendung dieses Zusammenhanges und deshalb seine Bestätigung, wenn er den Saint-Simonisten gegenüber bemerkt, es solle doch ein jeder bei sich anfangen und sein eigenes Glück machen, woraus dann unfehlbar das Glück des Ganzen entstehen müßte. Unmöglich kann dies auf der trivial-liberalen ,, Harmonie der Interessen" gegründet sein, die sich nur auf die Einzelphänomene der Oberfläche bezieht. Er kann nur meinen, daß das „Glück" des Einzelnen ganz entsprechend jenen ,, Neigungen" in einem bestimmten har- monischen Verhältnis zum Weltsein überhaupt wurzle oder bestehe. Wo er vom Glück in einem so prinzipiellen Sinne spricht, ist es nie der atomistische Zufall eines isolierten Wohl- befindens, sondern immer die Totalstimmung der Persönlichkeit, die nur in der Relation mit der Totalität des objektiven Daseins möglich ist. Diese Weltbeziehung jeder einzelnen Individualität die wirklich ,,mit sich einig ist", ihren wahren Neigungen folgt, ihr wirkliches ,, Glück macht" ist es, die das Band zwischen allen einzelnen knüpft, die die inhaltlich und dem singulären Objekt gegenüber noch so divergenten Überzeugungen, die noch so heftig sich bekämpfenden Glücksbestrebungen als Einheit und Ganzheit offenbart.

Dies also scheinen mir die Motive zu sein, durch die Goethe die Individualisation des Erkennens davor bewahrt, in einen verantwortungslosen Subjektivismus oder in eine Verzweiflung an der Erkenntnismöglichkeit auszugehen. Die Verknüpf theit des Erkennens mit dem Leben, durch die es an die einzelnen Träger dieses Lebens, mit ihren besonderen Charakteren und Bedürf- nissen gewiesen wurde, ist ihm gerade zum Mittel geworden, die gar nicht wegzuleugnende Mannigfaltigkeit der Überzeu- gungen in die zugleich weiteste und engste Verbindung mit dem objektiven Dasein, seiner Ganzheit und seiner Einheit, zu setzen.

42 Erkenntnis und Wesensgleichheit

Der Ausgangspunkt dieser Darlegungen: die Abhängigkeit des Erkennens vom Sein des Menschen, die Goethe all unsern theoretischen Überzeugungen zusprach und die nur von der andern Seite gesehen ist, wenn ihm alle Belehrung ,, verhaßt" ist, die nicht zugleich seine Tätigkeit befördert ist mit einer weiteren höchst charakteristischen Tendenz verbunden, die man entweder als jenen unterbauend ansehen kann, oder als ihm benachbart und auf ein gemeinsames geistiges Fundament von letzter Tiefe hinweisend. Es ist das Motiv: daß jegliches Begreifen nur durch eine Wesensgleichheit mit dem Begriffenen möglich ist; und dieses Motiv durchzieht sein ganzes Leben, von dem enthusiastischen Ausruf des Einundzwanzigjährigen: ,,Über große Leute sollte niemand reden, als wer so groß ist wie sie", bis zu der geheimnisvollen Mahnung des Greises: ,, Bedenkt: der Teufel, der ist alt. So werdet alt, ihn zu verstehen" und der noch tiefer greifenden Äußerung des Einundsiebzig- jährigen: , .Verstehen heißt: dasjenige, was ein anderer aus- gesprochen hat, aus sich selbst entwickeln". Im Zentrum steht hier, nach der psychologischen Seite hin: ,,Du gleichst dem Geist, den du begreifst" was doch bedeutet, daß man nur den Geist begreift, dem man gleicht; und nach der metaphysisch weiteren :

,,Wär' nicht das Auge sonnenhaft,

Die Sonne könnt' es nie erblicken;

Lag' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,

Wie könnt' uns Göttliches entzücken?"

Es ist in formaler Hinsicht die alte Empedokleische Weisheit: daß wir Gleiches durch Gleiches erkennen, sogar die Elemente der physischen Natur um uns nur dadurch, daß diese in uns selbst vorhanden sind. Und dieser Zusammenhang stärkt sich, indem er auch in der umgekehrten Richtung gilt. Daß im Subjekt und Objekt ein identischer Seinsinhalt besteht, führt unsere Erkenntnis nicht nur über das Subjekt zum Objekt, sondern auch über das Objekt zum Subjekt : das Glück des Entdeckens und Erfindens bestünde darin, daß man ,,beim Anlaß einer äußeren Erscheinung sich in seinem Innern selbst gewahr wird"

Das Erkennen als Lebens Wirklichkeit 43

und: MÖer Mensch erlangt die Gewißheit seines eignen Wesens dadurch, daß er das Wesen außer ihm als seinesgleichen, als ge- setzlich anerkennt". NundasMotiv: das individuelle Sein bestimmt die Erkenntnis der äußeren Realität Gegenbild und Stütze an dem anderen findet: die äußere Realität bestimmt die Selbster- kenntnis des Individuums, offenbart sich als die tiefere Begründung des ersteren, daß Subjekt und Objekt gemeinsam in einem defini- tiveren Sein, einer letzten Gesetzlichkeit vs^urzeln ; indem auch das individuelle Sein von diesem getragen und durchwachsen ist, begreifen wir, daß es die Erkenntnis ganz nach sich bestimmen und damit doch dem Objekt volle Treue halten kann. Gerade hier wird ein letzter Knotenpunkt aller Goetheschen Geisteswege, seines ganzen auf diesen Seiten zusammengebrachten Bildes von Wahrheit sichtbar. Das menschliche Erkennen ist ihm kein freischwebendes ideelles Gebilde, das in einem 'zor^oq octotcoc; seine Heimat, oder vielmehr überhaupt keine Heimat hätte. Sondern es ist selbst Realität, es wächst aus dem Ganzen des Seins und bleibt in dessen Bezirke wohnen. Daß es als Prozeß, als Teil alles Geschehens überhaupt so dem Dasein verhaftet ist, das trägt die Wahrheitsqualität seiner Inhalte, ermöglicht freilich auch Irrtum, da manches Stück seiner Wirklichkeit sich nicht aus der zentralen Quelle des Ganzen speist, sondern ins Peripherische abschweift und verkümmert; ermöglicht aber auch, daß manches, nach einseitigen Kriterien Irrige, vom Zen- tralen her eine Wahrheit höheren Sinnes ist. Daß die Indivi- dualität des erkennenden Geistes sein jeweilig Wahres bestimmt, will nur sagen, daß sie die besondere Form des Seins überhaupt ist, die gerade in Frage steht; denn das Sein lebt an und in einzelnen Ausgestaltungen, und wenn das Erkennen nicht jenes Unhaftende, heimatlos Schweifende ist, sondern ein Seinshaftes, Naturverbundenes, so muß es deshalb ein individuelles sein. Dies trennt es nicht von der Wahrheit über das Sein, sondern verbindet es ihm. Solcher Seinscharakter des Geistes, solche tiefe Quelleneinheit aller Natur, der er mitsamt seinen theo- retischen Werten angehört, muß folgerichtiger Weise auch schon die Fragen beherrschen, die er stellt. Dies ist der Sinn von

44 Das Wollen als Lebenswirklichkeit

Goethes Ausspruch : „Man kann sich sagen, daß niemand eine Frage an die Natur tue, die er nicht beantworten könne;, denn in der Frage liegt die Antwort, das Gefühl, das sich über einen solchen Punkt etwas denken, etwas ahnen lasse." Es ist be- deutsam, festzustellen, daß eben dieses Motiv in einem öfters angedeuteten Goetheschen Gedanken aus ganz untheoretischem Gebiet lebt. ,, Unser Wollen, sagt er, ist ein Vorausverkünden dessen, was wir unter allen Umständen tun werden." ,, Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden." Das heißt also, daß auch unsere Willensvorstellungen nicht nur die unmittelbar praktischen, sondern auch die ganz ideellen, als bloße Wünsche aufsteigenden in unserm realen Sein Substanz haben. Auch die flüchtigen, huschenden Begehrungen sind so wenig wie unsere Erkenntnisvorstellungen freifliegende, wurzellose Gebilde, die Notwendigkeit ihres Aufsteigens ist nicht einfach psychologische Verkettung, sondern unser Sein, die reale Dynamik unsres sich vorbereitenden Handelns und Ergreifens bildet ihren Inhalt. Eine ganz besondere Beziehung zwischen unsern Wünschen und unsrer Realität kommt damit auf. Jene schweben nicht nur über dieser wie der Geist über den Wassern, bald auf sie einwirkend, bald sie nicht berührend; sondern sie sind Stationen unserer Seinsentwicklung selbst, und tragen deshalb die Sicherheit, ihren Inhalt auf späteren Stationen wiederzufinden, ihn zu bewähren, ebenso in sich, wie unsere Erkenntnisvorstellungen Wahrheit in sich tragen, weil sie, durch den Prozeß unsrer Individualität hindurchgeleitet, aus dem Ganzen des Seins kommen, auf das sich ihr Inhalt bezieht.

An diesem Punkte treffen sich weitgreifende Gedanken- verkettungen. Wenn die Existenz von so etwas wie Wahrnehmen oder Verstehen Goethe nur dadurch möglich scheint, daß jede Wirklichkeit, die des Subjekts wie des Objekts, von der einen und gleichen Strömung des ,,so natürlichen wie göttlichen" Seins erzeugt ist und getragen bleibt so ist doch daraufhin nicht alles von allem durchdrungen, nicht jedes jedem ver- ständlich und genießbar. Und dies begründet sich aus dem

Die lebendige Einheit des Daseins 45

Lebendigkeitscharakter der Goetheschen Welteinheit. Die abstrakte, unterschiedslose Einheit des rationalen Pantheismus verwirft er, warnt davor, das göttliche Prinzip ,,in eine vor unserm äußern und innern Sinne verschwindende Einheit zu- rückdrängen" zu lassen. Die Einheit des Alls bedeutet keines- wegs Allgleichheit, Allverschwommenheit, sondern die dyna- mische Einheit des Lebens, das alle noch so mannigfaltigen Glieder durchströmt und in unzähligen Maßen und Arten funk- tionell zusammenhält; sie ist durch den Reichtum, nicht, wie meistens die philosophische, durch die Resignation gewonnen. Ohne es durch Anführungen belegen zu können, möchte ich in Goethes Sinne das ,, Begreifen" als ein ,,Urphänomen" an- sprechen; denn indem es nur auf Grund der Seinsgleichheit stattfindet, kommt in ihm die allgemeine Verbundenheit der Dinge zum prägnantesten Ausdruck, die funktionelle Beziehung zur reinsten Anschaulichkeit, da sie hier bis zur Gleichheit vorschreitet, diese Gleichheit aber nicht ein totes mathematisches Sich-Decken bedeutet, sondern die geistige Bereicherung des einen durch das andere, das Aufnehmen in den Lebensprozeß. Gewiß hat die Einheit des Daseins nicht überall dieses Sich-Auf- nehmen und Begreifen zur Folge; wo solches aber stattfindet, weist es auf jene Einheit, als seinen metaphysischen Grund zurück, ist dessen vielleicht stärkstes und entschiedenstes Phä- nomen.

Die in dem Vers vom sonnenhaften Auge ausgesprochene Abhängigkeit alles Begreifens vom Sein insofern der In- halt des Begriffenen irgendwie dem Begreifenden einwohnen muß ist in einer anderen Äußerung weitergeführt: , »Hätte ich nicht die Welt durch Antizipation bereits in mir ge- tragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben, und alle Erforschung und Erfahrung wäre nichts gewesen als ein ganz totes und vergebliches Bemühen", was sich dann nach der ethischen Seite hin mit dem Satze wendet: ,,Von Verdiensten, die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns." Goethe schätzt im allgemeinen das Angeborene des Menschen überhaupt als sein Wesentliches und Bestimmendes (und eine

46 Angeborenes und Aufgenommenes

Äußerung wie die: „Nicht nur das Angeborene, sondern auch das Erworbene ist der Mensch" bestätigt dies dadurch, daß er solche Erweiterung auszusprechen für nötig hält) ; hier aber ist nun das Angeborene nicht nur für das Persönliche und Sub- jektive des Lebensverlaufes entscheidend, sondern es enthält als ein reales Daseiendes alles andere Dasein in ideeller Form in sich. In höchst eigentümlicher Vermittlung zwischen der Theorie der angeborenen Ideen und dem Kantischen Apriori bewegt sich dieser Begriff. Jene legt in den Geist bestimmte Wissensinhalte, die in dessen reiner Eigenentwicklung und von aller Erfahrung, aller erworbenen Erkenntnis unabhängig her- vortreten; für den Apriorismus seinerseits muß aller Wissens- stoff dem an sich völlig inhaltlosen Geiste gegeben werden, dieser ist nichts als die funktionelle Form, die jenen Stoff zu der allein gültigen empirischen Erkenntnis gestaltet. Für Goethes Überzeugung nun wohnt auch der Wissensstoff von vornherein unserm Dasein ein, in einer Art, die er freilich nicht näher gedeutet hat; aber dennoch wird er nur durch ,, Erforschung und Erfahrung" zum Wissen. Alles, was der Einzelne von der Welt wissen kann, was ihm Welt werden wird, ist ihm angeboren aber nun muß er die Welt erst aufnehmen, erst erfahren, damit dieses Vor-Wissen zum Wissen werde. Er drückt dies einmal für ,, besonders begabte Menschen" so aus, daß sie ,,zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, noch in der äußern Welt die antwortenden Gegenbilder suchen und dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen steigern". Damit offenbart sich die Abhängigkeit des Erkennens vom Sein des Menschen als der fundamentalen und unbedingten Einheit entsprossen, die für Goethe zwischen Geist und Welt besteht. Der Geist enthält alles in sich, was für ihn ,,Welt" sein kann, er ist Mikrokosmos; aber das wird nicht zu solipsistischer Be- ziehungslosigkeit und Unabhängigkeit der Welt gegenüber» sondern sie muß nun noch erforscht und erfahren werden, damit jene Vorzeichnung in die Form der Realität übertrete: die Welt ,, antwortet", d. h. sie gibt dem Geiste von sich nur den Gehalt hin, der ihr schon aus ihm entgegenkommt. ,,In dem

Reflexives und organisches Denken 47

gegenwärtigen wie in den früheren Heften (zur Morphologie) habe ich die Absicht verfolgt, auszusprechen, wie ich die Natur anschaue, zugleich aber gewissermaßen mich selbst, mein Inneres, meine Art zu sein, insofern es möglich wäre, zu offenbaren. Die Aufgabe : Erkenne dich selbst kam mir immer ver- dächtig vor um den Menschen von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer inneren falschen Beschaulichkeit zu ver- leiten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird." Das also ist der tiefste und metaphysische Grund, aus dem ihm alle Beschäftigung mit dem Denken als solchem wider- wärtig ist. Denn damit würde das Denken etwas Freischweben- des, in sich Kreisendes, das von dem lebendigen Sein des Menschen und eben deshalb auch von dem der Welt losgerissen und isoliert wäre. Mit voller Klarheit setzt er so den, ich möchte sagen, organischen Ursprung des Denkens an die Stelle des logischen:

Ja, das ist das rechte Gleis,

Daß man nicht weiß, was man denkt,

Wenn man denkt:

Alles ist wie geschenkt.

Anderwärts: ,,Das Schlimme ist, daß alles Denken zum Denken nichts hilft ; man muß von Natur richtig sein, so daß die guten Einfälle immer wie freie Kinder Gottes vor uns dastehn und uns zurufen: da sind wir." Und für seine wesentliche Klugheit, die Bedingung seiner Erfolge, erklärt er, ,,nie über das Denken gedacht zu haben". Das Entscheidende ist ihm also, daß das Denken sozusagen nicht aus sich selbst, nicht in der Reflexion auf sich selbst sich erzeuge, sondern ihm selbst müssen seine Inhalte durch den Naturprozeß des Lebens ,, geschenkt" werden. Und eben insofern das Denken aus dem Sein des Menschen kommt, erhält es auch seine logisch-sachliche Bedeutung, weil es dadurch dem Sein überhaupt verbunden ist. Es ist gewisser- maßen nur eine gefühlshafte Steigerung dieser genetischen Be- ziehung unsres Erkennens zu unsrem Sein, wenn er schon als ganz junger Mensch schreibt: ,,Man lernt nichts kennen als

48 Bindung an Wesensgleichheit

was man liebt und je tiefer und vollständiger die Kenntnis werden soll, desto stärker, kräftiger und lebendiger muß Liebe, ja Leidenschaft sein." Alles Verstehen ist ja ein Schaffen (gelegentlich des Begriffes der „schaffenden Kraft" sagt er: ,,der untätige, untaugende Mensch wird das Gute, das Edle, das Schöne weder an sich, noch an Andern gewahr werden") und darum kann es nur nach den Qualitäten des Schaffenden vor sich gehen, also nur da gelingen, wo das Objekt diesen Beschaffenheiten adäquat ist. ,,Es war mir angeboren, sagt er gelegentlich seines frühen Verstehens mannigfaltiger Verhält- nisse, mich in die Zustände Andrer zu finden, eine jede be- sondre Art des menschlichen Daseins zu fühlen." Und weil ihm die Normen des Erkennens eine Lebensaktivität sind, so greift diese geforderte Seinsparallelität zwischen dem lebend schaffenden Subjekt und seinem ,, Gegenstand" im weitesten Sinne auch in alles Künstlertum. Er sagt, noch ganz jung, über die Unfähigkeit der meisten Baumeister zu ,, Palästen und Monumenten": ,, Jeder Bauer gibt dem Zimmermann die Idee zur Schöpfung seiner Hütte. Wer soll Jupiters Wohnung in die Wolken türmen? wenn es nicht Vulkan ist, ein Gott wie er. Der Künstler muß eine große Seele haben, wie der König, für den er Säle wölbte." Hiermit schließt sich nun endlich dieser Kreis und zeigt sich als mit dem weiteren konzentrisch, den Goethes Wahrheitsbegriff angab. Jedes Erkennen, ja jedes geistige Schaffen, das sich an einen gegebenen Inhalt knüpft, offenbarte sich zuletzt als an eine Wesensgleichheit gebunden, die zwischen dem Subjekt und dem realen Gegenbild seines geistigen Tuns besteht. Und damit ist das Zentrum des ganzen An- schauungskreises: die Einsenkung des Erkennens in das Sein erst gesichert. Denn damit begreifen wir, nun nicht mehr psychologisch, sondern metaphysisch, daß die Wahrheit von dem Sein des Subjektes abhängt: sie ist dazu legitimiert, weil ihr reales Objekt der Realität des Subjekts verwandt oder gleich ist weshalb wir denn auch, wie Goethe so oft aus- spricht, durch unsere jeweilige Individualität von so und so vielen Erkenntnissen ausgeschlossen sind. Die Isolierung und

Gott- Natur 49

Zugesperrtheit, die uns von dieser differentiellen Individualität zu kommen schien, ist damit grade nach der Seite der Wahrheit hin gesprengt. Konnte ich zuerst zeigen, daß es die Ver- knüpftheit des Lebens ist, die den Individualismus der Wahrheit aller subjektivischen Zweideutigkeit enthebt indem ein höchster Lebenssinn über die logische Wahrheit eine vitale setzte, indem die Besonderheiten der Geister sich innerhalb des Menschheitsgedankens gegenseitig ergänzten, indem die innere Einheit des Individuums es der objektiven Weltform gleich machte so wird nun diese innere Verknüpftheit des Lebens umgriffen, getragen, gewissermaßen gerechtfertigt durch seine Seinsverknüpftheit mit den Objekten seiner Wahrheit. Denn unter der Harmonie des Geistes wie der Geister und unter der Sonnenhaftigkeit des Auges lebt die Gott -Natur; und nur als einen Strahl ihrer Einheit hat Goethe die zwischen Subjekt und Objekt spielende Möglichkeit des Erkennens begreifen können.

S i m m e 1 , Goethe.

Drittes Kapitel.

Einheit der Weltelemente.

Von dem unmittelbaren Phänomen der Dinge, wie es der sinn- lichen Anschauung gegeben ist, geht unser Geist nach zwei Richtungen weiter. Er zerlegt einmal diese Gegebenheit in Ele- mente, die sich als die gleichen an noch so fremden und gegensätz- lichen Gesamterscheinungen finden. Indem er die Gesetzlichkeiten in Wesen, Bewegungen und Verbindungsarten dieser Elemente erforscht, lernt er, aus ihnen die entweder überhaupt nicht un- mittelbar oder wenigstens nicht isoliert wahrzunehmen sind die Gesamterscheinungen wieder zusammenzusetzen und sie so zu ,, begreifen". Auf der andern Seite aber faßt er diese noch ein- mal zu höheren Gesamtheiten zusammen, die in noch prinzi- piellerer Weise als jene Elemente sich der Ebene der Erschei- nungen entheben und in spekulativer Weise die Begriffe der Dinge zu höchsten Einheiten steigern: sei es zu ,, Ideen", sei es zu einem metaphysischen Bilde des Seinsganzen. Mag man im ganzen jene Richtung als die des ,, Naturforschers", diese als die des ,, Naturphilosophen" bezeichnen so schreibt Goethe 1798, er habe sich diesen beiden gegenüber ,,in meiner Quali- tät als Natur schauer wieder aufs neue bestätigt gefunden", und bezeichnet schon in dem vorhergehenden Jahre sehr scharf sein Verhältnis zu jenen beiden Erkenntniswegen. ,,Für uns, die wir doch eigentlich zu Künstlern geboren sind, bleiben doch immer die Spekulation sowie das Studium der elementaren Natur- lehre (d. h. Physik und Chemie) falsche Tendenzen." Die posi- tive Ergänzung zu diesen Ablehnungen gibt, zwei Jahre zuvor, eine Äußerung zu A. v. Humboldt: „Da Ihre Beobachtungen vom Element, die meinigen von der Gestalt aus- gehen", usw.

Element, Idee, Gestalt 51

In der größten Einfachheit und Entschiedenheit ist damit das Prinzip festgelegt, mit dem Goethe sein Verständnis der gesamten Natur aufbaut und das sich als ein völlig selbständiges neben jene, in traditionellem Sinne wissenschaftlichen Methoden stellt. Man kann es als das im eminenten Sinne ,, synthetische" be- zeichnen. Auf der einen Seite steht die Erkenntnis der ,, Ele- mente", die physikalisch-chemische Wissenschaft, die prinzipiell im Gebiet der reinen Erscheinung verharrt, Erscheinung durch Erscheinung erklärt; denn ,, Naturgesetze" ebenso wie ,, Energien" sind hier nichts als die Formeln für die zwischen den Erschei- nungen bestehenden Verknüpfungen, und auch die letzten Ele- mente der Analyse, mag man sie als Atome oder anders bezeich- nen, stehen prinzipiell wenn auch für unsere Sinne nicht realisierbar innerhalb des Wahrnehmungsgebietes. Auf der andern Seite erhebt sich die ,,Ide9", die eben prinzipiell nicht Erscheinung ist, sondern diese nur als Abfall, Schattenbild, sub- jektives Phänomen zuläßt oder sie als Erscheinung überhaupt aufhebt, indem die sinnlich gegebene Gestalt sozusagen gar keine solche ist, sondern auch ihrerseits in der logisch sich ent- wickelnden Idee besteht. Diesen polaren Tendenzen gegenüber ist für die Goethesche Synthese die Gestalt als solche die un- mittelbare Offenbarung der Idee. Alles was man mit dem Be- griff dieser meint: Sinn, Wert, Bedeutung, Absolutheit, Geist, Übereinzelheit bildet für ihn nicht mit der sinnlichen Gestaltung jenen Dualismus, dessen verschiedene Seiten die auf die ,, Ele- mente" gehende Naturwissenschaft und die auf ,, Ideen" gehende Spekulation ergriffen haben. Insoweit die Gestalt sichtbar ge- geben ist, hat sie die volle, von keiner nicht sichtbaren Instanz erst zu entlehnende Realität; ebensoweit aber ist für den richtig eingestellten Blick all jenes Ideelle in ihr sichtbar. ,,Vom Absoluten im theoretischen Sinne, so spricht er dies erschöpfend aus, wag' ich nicht zu reden; behaupten aber darf ich: daß, wer es in der Erscheinung anerkannt und immer im Auge behalten hat, sehr großen Gewinn davon erfahren wird." Und nichts andres meint er mit dem mehr symbolischen Satz: ,,Ich glaube einen Gott;, 0as ist ein schönes und löbliches Wort; aber

4*

52 Künstlerische Sinnlichkeit

Gott anerkennen, wie und wo er sich offenbare, das ist eigentlich die Seligkeit auf Erden."

Hiermit ist die Grundformel der künstlerischen Weltan- schauung ausgesprochen. Es ist zu leicht mißverständlich, wenn man den Künstler als den ,, Sinnenmenschen" charakteri- siert, als den, der ,,mit den Sinnen lebt" denn es macht das Entscheidende nicht kenntlich: was denn beim Künstler über das Passivistische, nur Hinnehmende und Genießende dazu- käme, welches die Sprachkonvention als ,, Sinnlichkeit" versteht. Dies Entscheidende ist doch wohl, daß der Künstler eben nicht nur mit den Sinnen wahrnimmt, nicht nur ein Gefäß für jenes passive Aufnehmen und Erleben ist, sondern daß sein Wahr- nehmen sogleich oder vielmehr zugleich schöpferisch ist. Das aktiv bildende Element, das vielleicht in jedem Anschauungs- akte überhaupt vorhanden ist, gewinnt bei dem Künstler eine Fülle, eine Wirksamkeit, eine Freiheit, von der durchdrungen seine ,, Sinnlichkeit" beinahe zum Gegenteil von dem wird, was man beim Durchschnittsmenschen unter ihr versteht. Sein Schöpfer- tum nun ist Gestalten von Weltelementen nach einer Idee (und ist dies auch in der naturalistischen Kunst, die sich darüber nur zu täuschen pflegt, weil sie unter Idee immer nur eine außer- künstlerische oder wenigstens außerhalb des jeweiligen Kunst- bezirks gelegene vorstellt, der Maler z. B, eine literarische, der Dichter eine moralische usw.). Da sich aber dies Schöpfertum untrennbar mit den Akten seines Anschauens und Erlebens ent- faltet, des Anschauens und Erlebens, das Objekte, Wirklich- keiten feststellt und in sich einzieht so ist der Künstler un- vermeidlich überzeugt, daß er die Idee anschaut! Es ist eine allbekannte Tatsache, daß fast alle bildenden Künstler (bei den Dichtern liegt es nur komplizierter, aber nicht prin- zipiell anders) genau die ,, Natur " wiederzugeben, nur das zu machen meinen, was sie ,, sehen" auch wo sie für jedes andere Auge aufs freieste mit der Naturvorlage umgehen, die sichtbare Wirklichkeit aufs selbstherrlichste stilisieren; auch die reine Fan- tasiekunst scheint die Schauung durch eine innere Sinnlichkeit vorauszusetzen, die dem Künstler nicht weniger Gegebenes und

Intellektuelle Anschauung 53

Bindendes ist, als die sogenannte äußere Sinnlichkeit. Goethe hat nur mit der souveränen Intellektualität, die ihm immer über sich selbst Rechenschaft gab, ausgedrückt, was der Künstler als solcher tut: daß er ,,die Ideen mit Augen sieht". Daß die Idee in der unmittelbaren Realität der Dinge wohnt und wahrnehmbar ist, ist nichts andres als der objektivierende Ausdruck für die Produktivität des Künstlers, dessen Anschauen schon ein Ge- stalten ist. Schaute er nur in der gewöhnlichen Bedeutung der Sinnlichkeit an, so wäre er nicht produktiv, sondern rezeptiv (,,das Anschauen, sagt Goethe, ist von dem Ansehen sehr zu unterscheiden"). Indem er nun tatsächlich produziert, d. h. aus der Idee heraus produziert, dabei aber doch Sinnlich- Wirkliches vor Augen hat und eben solches schafft so ist es eben seine, bewußte oder bloß tatsächlich wirksame, Voraus- setzung, daß das Sinnlich- Wirkliche, die ,, Gestalt", als solche die unmittelbare Verkündigung und Sichtbarkeit der Idee sei. Dies formgebende, geistige, schöpferische Sehen war Goethe im höchsten Maße eigen und kam ihm vielleicht gerade darum zu besonderem Bewußtsein, weil er kein bildender Künstler war, so daß der innere Akt nicht wieder in ein sinnliches Bild mündete. Man mag seine Attitüde als intellektuelle Anschauung bezeichnen, das Wort im Gegensinne zu der zeitgenössischen Philosophie verstanden. Denn was der philosophische Idealismus, insbesondere Schelling, so benennt, hieße besser: anschauende Intellektualität. Hier handelt es sich darum, daß der Denker seinen Gegenstand ohne sinnliche Vermittlung, also nicht in der durch die subjektive Be- sonderheit der Sinne bestimmten Erscheinung, ergreife. Das Anschauen in sinnlicher Bedeutung soll hier also gerade über- sprungen werden, der Geist soll leisten, was sonst nur die Sinne leisten: sich der Wirklichkeit des Seins und So-Seins zu versichern. Während also der Intellekt hier sinnliche Funktion hat, besitzt beim Künstler die Sinnlichkeit intellektuelle Funktion, und dies macht seine Begabung aus; der Philosoph sieht das Ideelle, weil er es weiß, der Künstler weiß es, weil er es sieht. Insbesondere sein Verhältnis zu allem Rationalismus (nicht als einer Theorie, sondern als einer, diese weit übergreifenden Wesensbeschaffen-

54 Gestalt

heit) muß mit so scharfer Umkehrung bezeichnet werden: für den Rationalisten ist die Vernunft ein Instinkt, für Goethe ist sein Instinkt eine Vernunft.

Von etwas weiterer Peripherie her ausgedrückt, liegt das Ziel alles Wissens um die Welt da, wo um Goethesche Ter- minologie zu gebrauchen ,, Denkkraft'* und ,, Anschauen" zusammengefallen sind; in dem Maße, in dem sie auseinander- oder gegeneinanderstehen, besteht Schwierigkeit, Ungelöstes, Widerspruch; deshalb führt in das ganz Definitive seiner Welt- anschauung der Satz: ,,Alle Versuche, die Probleme der Natur zu lösen, sind eigentlich nur Konflikte der Denkkraft mit dem Anschauen." Insoweit also ihm eine Lösung zu gelingen schien, lag sie an jenem Punkt der Vereinheitlichung beider : an dem künstlerischen, da, wo das Rezeptive der Anschauung die Idee, die Forderung der ,, Denkkraft", unmittelbar ergriff. Dies ist das Apriori des Künstlers: die Sichtbarkeit der ,,Idee" in der ,, Gestalt"; und dies ist Anfang und Ende der Goetheschen Welt- anschauung.

Es muß freilich mit Sorgfalt festgehalten werden, was Goethe unter ,, Gestalt" versteht dasjenige nämlich, was der reine, im genauen Sinne unvermittelte Eindruck der Sinnlichkeit gibt. Darum ist das, was er die elementare Naturlehre nennt, die Erkenntnis der entweder nicht mehr wahrzunehmenden oder nur künstlich zu isolierenden Elemente des Seins, hier ausgeschlossen, obgleich diese prinzipiell gleichfalls in der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung liegen. Damit aber scheint in die Substanz oder das Fundament des Goetheschen Weltbildes etwas Zufälliges zu kommen. Denn welche Maße, welche Formen, welche Ge- nauigkeitsgrenzen gerade unsere unbewaffneten Sinne dem Dasein entnehmen und zu Bildern gestalten das scheint zu diesem Dasein selbst ein rein zufälliges, durch dieses Dasein selbst keineswegs prinzipiell determiniertes Verhältnis zu haben. Durch welche Fügung sollte gerade das auf diese Weise Gewonnene die Substanz der Wahrheit, der Träger der Idee sein, während die durch künstlich verschärfte Sinne gewonnenen Bilder, dem Seinsganzen jedenfalls nicht nach zufälligeren oder subjektiveren Prinzipien

Kosmische Eingeordnetheit der Anschauung 55

entlehnt, nicht „Gestalt", nicht Offenbarungen der Idee wären? Aber gerade hierin kommt Goethes letzte Überzeugung von der Weltstellung des Menschen zu Worte. Daß die rein naturhafte physisch-psychische Ausstattung des Menschen ihm diejenigen Bilder des Daseins liefert, die für ihn die richtigen sind, die seine Welt zu bilden haben, denen er den ideellen Gehalt der Wirklichkeit entnimmt das ist keine teleologisch auf das Beste oder auf die Lebenserhaltung des Menschen zielende Einrichtung, sondern eine Folge oder eine Seite der Einheit des natürlichen Kosmos. Innerhalb und vermöge ihrer steht jedes Wesen an einer ihm zugewiesenen Stelle und ist für sie ausgerüstet; ob zu seinem ,, Nutzen" oder nicht, ob zu einem irgendwo realisierten Wert oder Unwert das kommt jetzt nicht in Frage. So sehr seine Anschauungen vom Künstlertum her be- stimmt werden, so geschieht dies doch in dessen so weitem Sinne, daß er sich nicht einmal in künstlerischer Hinsicht eine Teleologie der Naturbetrachtung gestattet, da auch so die große Einheit des Ganzen partikularistisch gestört wäre; er sagt deshalb an einer Stelle, die gerade die Bedeutung seiner Naturkenntnis für seine Dichtung herausstellen will: ,,Ich habe niemals die Natur poetischer Zwecke wegen betrachtet". Man könnte es etwa in seinem Sinne die Geordnetheit des Daseins nennen (die Natur läßt ,, Geordnetes gedeihen"), die dessen letzter, sich selbst genügender, in keinen definitiveren Wert erst aus- strahlender Sinn ist. Hat die Natur dem Menschen die Sinne ge- geben, die er an sich vorfindet, so ordnet er sich eben mit diesen und ihrem normalen, durch sie selbst vorgezeichneten Gebrauche in die Einheit des Ganzen ein. Wesen, die das Einheitsgebot des Ganzen mit andrer Organisation erfüllen, mögen andres und anders anschauen; aber auch sie hätten sich, gerade wie der Mensch, mit den gesunden Funktionen eben dieser Organisation zu bescheiden was nicht den Verzicht auf ein besseres Wissen, das man ersehnen könnte, bedeutet, da gerade nur das der je- weiligen Wesensart entsprechende Anschauungsbild diesen Wesen den Zugang zu der kosmischen Realität öffnete; hinüber- oder heruntergreifend verfehlt es die Stelle, an der es zum Ganzen,

56 Urphänomen

zum Sein außerhalb seiner in Relation steht. Die unmittelbare Anschauung, von der naturgegebenen Sinnlichkeit allein und rein bestimmt, liefert uns ,, Gestalten" was weder die kon- krete Analytik der Elementar Wissenschaften, noch die abstrakte Synthetik der Spekulation tut. Diese beiden müssen ihm nicht nur als irreführend, sondern das gleiche von der andern Seite gesehen als u^piq erscheinen, als unfromm, weil jene Einheit des Weltseins bedrohend, in der sich jedes Wesen nur durch Aus- übung der ihm natürlichen Fähigkeiten erhalten kann. Er schreibt: ,,Wie sehr mich die Howardsche Wolkenbestimmung angezogen, wie sehr mir die Formung des Formlosen, ein gesetz- licher Gestaltenwechsel des Unbegrenzten erwünscht sein mußte, folgt aus meinem ganzen Bestreben in Wissenschaft und Kunst." Hier also beglückt ihn offenbar jene Gesetzlichkeit, die an der unmittelbaren, sinnlichen, totalen Gestalt aufgezeigt wurde, die entdeckte Norm des unzerlegt dargebotenen Naturbildes, die kein Zurückgehen auf die unsinnlichen Elemente forderte. Ich lasse dahingestellt, ob man nicht selbst unter Anerkennung dieses Apriori unsren natürlichen Fähigkeiten einen weiteren Umfang zusprechen und die Schaffung sogenannter künstlicher Sinnesschärfungen zu ihnen rechnen könnte. Goethe hat nun einmal die Grenze an der ,, Gestalt" gesetzt an die Stelle also, auf die sich das künstlerische Interesse richtet. Indem dies für ihn bedeutet, daß sich, allem Kleineren und allem Größeren gegenüber, gerade hier die Anschaulichkeit der ,,Idee" bietet, war gewissermaßen der Beweis geliefert, daß sich in dem Un- mittelbaren der sinnlichen Gegebenheit in der sich ihm freilich die natürliche Totalität des Menschen äußerte die Wahrheit und der Sinn des objektiven Daseins überhaupt erschloß. Mit wahrhaft genialer Synthetik ist an den Punkt, wo diese Forderungen sich treffen, der Begriff des ,,Urphänomens" gesetzt. Denn mit ihm ist, was man als Gesetz, Sinn, Absolutes der Daseinsformen bezeichnen muß, innerhalb der Ebene der Er- scheinungen selbst aufgezeigt. Das Urphänomen so die Ent- stehung der Farben aus Hell und Dunkel, die rhythmische Zu- und Abnahme der Anziehungskraft der Erde als Ursache des

Das angeschaute Gesetz 57

Witterungswechsels, die Entwicklung der Pflanzenorgane aus der Blattform, der Typus der Wirbeltiere ist der reinste, schlechthin typische Fall einer Relation, einer Kombination, einer Entwicklung des natürlichen Daseins, und insofern einerseits etwas andres als das gewöhnliche Phänomen, das diese Grundform in trübenden Mischungen und Ablenkungen zu zeigen pflegt, andrerseits aber doch eben Erscheinung, wenn auch nur in geistiger Schauung gegeben, gelegentlich aber doch ,, irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor die Augen gestellt". Wir stellen gewöhnlich das allgemeine Gesetz der Dinge als irgendwie außerhalb der Dinge gelegen vor: teils objektiv, indem seine zeit- und raumlose Gültigkeit es von dem Zufall seiner materialen Verwirklichung in Zeit und Raum un- abhängig macht, teils subjektiv, indem es ausschließlich Sache des Denkens ist und unsren sinnlichen Energien, die immer nur das Einzelne, niemals das Allgemeine wahrnehmen können, sich nicht darstellt. Diese Getrenntheit will der Begriff des Urphänomens überwinden: es ist das zeitlose Gesetz selbst in zeitlicher Anschauung, das unmittelbar in Einzelform sich offenbarende Allgemeine. Weil dies besteht, kann er sagen: ,,Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grund- gesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phäno- menen; sie selbst sind die Lehre." Die Grundintention des Goetheschen Geistes vollzieht damit eine sehr merkwürdige Wendung des Erkenntnisproblems. Während aller Realismus sonst von der theoretischen Erkenntnis als dem Ersten und Unmittelbaren ausgeht und ihr die Fähigkeit zuspricht, das objek- tive Dasein aufzunehmen, abzubilden, getreu auszudrücken, wird der Fußpunkt hier wirklich im Objekt selbst genommen; das Ineinander-Aufgegangensein zwischen ihm und dem Er- kenntnisgedanken ist keine erkenntnistheoretische, sondern eine metaphysische Tatsache. Nicht in dem Spinozistischen Sinne, als wären das äußere Ding und sein theoretisches Äquivalent zwei Seiten oder Qualitäten eines einheitlichen Absoluten; denn hier haben beide Momente einen abstrakten, unsinnlichen Charakter,

58 Weltzusammenhang imd Erkennen

während für Goethe die sinnliche Gestalt schon, in unmittelbarer Einheit, geistiger Erkenntnisinhalt ist. Diesen letzteren für sich stellt unsre an Kant orientierte Denkgewohnheit stets voran und gewinnt erst von ihm aus ein entweder einheitliches oder diskrepantes Verhältnis zu den Dingen; darum ist es uns schwer, uns in die Goethesche Attitüde hineinzudenken, für die nicht das Erkennen, sondern der Weltzusammenhang das Erste und Letzte ist. Dieser lebt unmittelbar an den Phänomenen und alles ,, Erkenntnisvermögen" eines jeweiligen Subjekts ist ihm so an- und eingepaßt, daß es keinen Inhalt für sich jenseits der ihm gegebenen Erscheinungen suchen kann; sondern indem es das Phänomen aufnimmt, das in der Sinnlichkeit, d. h. in der un- mittelbaren Relation von Subjekt und Objekt entsteht, hat es alles, was für uns Wahrheit, Theorie, Gesetz, Idee sein kann. Mit unsern gewöhnlichen erkenntnistheoretischen Voraus- setzungen und Kategorien ist dies nicht zu deuten, sondern es fordert, um begriffen (gleichviel, ob dann gebilligt oder ver- worfen) zu werden, eine von jenen völlig abweichende Grund- position. Daß die erfahrene Gestalt, das sinnliche Phänomen, wenn nur in seiner Reinheit und Ursprünglichkeit, zuhöchst als Ur- phänomen erfaßt, an und mit sich selbst schon das ideelle Gesetz, die Form des Begreifens und Erkennens darbietet das ist selbst ein Urphänomen, über das innerhalb dieser Weltanschauung nicht hinausgefragt werden kann. Die Schwierigkeit, diese In- einsbildung von Sinnlichem und Intellektuellem wirklich von innen her zu verstehen, hat Goethe gerade durch die Selbst- verständlichkeit gesteigert, mit der er sie empfand; so daß er den gleichen Ausdruck für jeden Teil dieser Synthese ohne weiteres in dem gewöhnlichen Sinne und in seinem besonderen, prägnanten gebrauchte. ,,Was uns so sehr irre macht," sagt er einmal, ,,wenn wir die Idee in der Erscheinung anerkennen sollen, ist, daß sie oft und gewöhnlich den Sinnen widerspricht. Die Metamorphose der Pflanzen widerspricht unsern Sinnen." Für den allgemeinen Sprachgebrauch ist doch die Erscheinung das- jenige, was innerhalb und vermittels der Sinne besteht; daß also in der Erscheinung etwas gesehen werden soll, was den

Der ganze Mensch als Anschauender 59

Sinnen widerspricht, erscheint ganz unsinnig. Und gerade die Metamorphose der Pflanzen verteidigte er gegen Schiller, der sie in das Ideenreich verweisen wollte, als das mit Augen Sicht- bare. Begreiflich ist alles dies nur dadurch, daß ihm, als dem Künstler, die Sinnlichkeit eben von vornherein mehr war, als sie dem Sprachgebrauch ist, daß in ihr das intellektuelle Vermögen wirkte, daß er mit den ,, Augen des Geistes" ,, anschaute". Den Sinnen in jener gewöhnlichen Bedeutung widerspricht das Ideelle, es muß und soll ihnen widersprechen, weil es auf die Seinstotalität geht und jene Sinnlichkeit ein ganz partielles, so- zusagen künstlich isoliertes Vermögen ist, das also auch nur eine Einseitigkeit und Abgestücktheit des Wirklichen erfassen kann. Wo der ganze Mensch anschaut, jenseits der Goethe so verhaßten Getrenntheit der ,, oberen und unteren Seelenver- mögen", da fällt der Widerspruch fort und die volle Wirklich- keit, d. h. die in der Erscheinung offenbarte Idee wird mit den Sinnen erschaut, die jetzt nur der Kanal für die ungeteilte Le- bensströmung sind.

Daß auf diese Weise jene Harmonie von Bewußtsein und Sein erreicht wird, ist Gegenstück und Ergänzung des früher darge- stellten Grundmotivs des Erkennens: daß der Träger der Wahrheit an der ,, wahren" Vorstellung im tiefsten Grunde nicht der Inhalt in seiner ideellen Abstraktheit und logischen Verant- wortung ist, sondern die Rolle, die diese Vorstellung als Lebens- moment, als Prozeß, als tatsächliche Relation zwischen Mensch und Welt spielt. Hier stehen wir an einer äußersten Grenze der Goetheschen Prinzipienbildung, die deshalb so schwer darstellbar ist, weil er gerade diese letzten Dinge nur fragmentarisch, oft nur andeutend ausgesprochen hat und in Sonderfärbung durch den je- weiligen Gegenstand, die jeweilige Stimmung, die die Äußerung her- vorriefen. Es handelt sich schließlich immer um das große Motiv, das man, etwas verschwimmend und unzähliger Modifikationen bedürftig, als die Identität von Wirklichkeit und Wert bezeichnen muß „der Begriff vom Dasein und der Vollkommenheit ist ein und eben derselbe", heißt es in einer kleinen Studie aus der Mitte seiner dreißiger Jahre. Auch der theoretische Wert bat

60 Wirklichkeit und Wert

seine letzte, prinzipielle Begründung nicht in den logisch-sach- lichen Verhältnissen der sozusagen freischwebenden Inhalte, die ein abstraktes Wahrheitsrecht unabhängig von aller seelischen ebenso wie physischen Verwirklichung einschlössen; son- dern gerade aus der Wirklichkeit ihres Vorgestelltwerdens und aus dem realen Verhältnis von Einheitlichkeit und Förderlich- keit zwischen dem Subjekt und der Welt, das sich durch sie ausdrückt oder herstellt, entsteht ihr Wahrheitswert, oder viel- mehr, das i s t ihr Wahrheitswert, bzw. sein Gegenteil. Wie es also auf der Seite des subjektiven Vorstellens eine Wirklichkeit ist, die unmittelbar auch Wahrheitswert ist so sind auf der Seite des Objekts die Phänomene selbst ,,die Lehre". Nur das Reine, das Urphänomen an ihnen braucht un verworren ange- schaut zu werden, damit sie die Wahrheit selbst seien. Wie es im Subjekt der Lebens p r o z e ß ist, der seine Inhalte erzeugt und ihnen ausschließlich aus seiner Kraft , Geordnetheit, Weltrelation heraus auch ihre theoretische Bedeutung gibt, die sie aus keiner bloß ideellen, lebensfreien Norm ziehen könnten so schafft der rastlose Prozeß des Daseins, jene kontinuierliche Dynamik, die sich sogar als ,, ewige Mobilität aller (orga- nischen) Formen" äußert, die einzelnen als Daseinsinhalte da- stehenden Phänomene. Darum ist das Gesetz, die Idee, die dem abstrahierenden Verstände gewissermaßen jenseits dieser zu stehen und sie in das zufällige Dasein zu entlassen scheint, i n ihnen, a n ihnen selbst sichtbar. Jedes Ding ist nur ein Puls- schlag des Welt prozesses, und offenbart deshalb, richtig beschaut, dessen Totalität von Wirklichkeit und Wert, Sinnen- bild und Idee.

Dies hat die wichtige Folge: wenn in der richtig aufgefaßten, die Wahrheit bedeutenden Sinneserscheinung oder Gestalt die Idee wohnt und anschaulich ist so ist also diejenige Erscheinung nicht wahr, sondern muß ein Trugbild sein, in der die Idee nicht aufzeigbar ist, die deren Forderungen nicht genügt! Ist Wirk- lichkeit und Wert im metaphysischen Grunde eines, so kann Wirklichkeit nicht sein, wo nicht Wert ist. Der Realismus des Goetheschen Weltbildes, auf den er so entschiednen Ton legt,

Allgemeines Bild seiner Existenz 61

die strenge Treue gegenüber dem gegebenen Objekt, die er fordert, ist also dem ,, Idealismus", der Sichtbarkeit oder, in metaphysi- schem Bilde, der Wirksamkeit der Idee so wenig entgegengesetzt, daß vielmehr die herauserkannte Idee uns erst sicher macht, die objektive Wahrheit der Erscheinung ergriffen zu haben.

Hier offenbart sich von neuem, was man das metaphysische Glück seiner Existenz nennen könnte: die Harmonie oder Paralleli- tät des bewußten persönlichen Daseins und Sich- Entwickeins mit dem sachlichen Bilde der Struktur der Dinge. Wie wenige Men- schen der höchsten geistig-sittlichen Ordnung hat er sich der Ge- gebenheit seiner Kräfte und Triebe, der Realität seines Lebens- prozesses überlassen, in dem tiefen Vertrauen, daß gerade so dieser Prozeß seine wertvollsten Inhalte erzeugen, gerade so den Forderungen der Idee genügt würde. Jene Lebensgestaltung aus der Realität der natürlichen Kräfte heraus schloß freilich genug Arbeitsmühen, Selbstüberwindung, Rechenschaft über sich ein: ,,was andern Menschen gemein und leicht ist, wird mir sauer gemacht", schreibt er mit 37 Jahren. Aber aller innere Kampf, alles Sich-über-sich-selbst-Hinausringen war eben von vornherein in der übergreifenden Einheit dieser Natur und ihrer Triebgegebenheit beschlossen. Nie hat man bei ihm den Eindruck, den die individuelle Existenz sonst oft bietet: als wäre sie nur der Schauplatz, auf dem das ,, eigentliche" Ich sich im Kampf, Aus- gleichung, Über- und Unterordnung mit Mächten wertvoller oder gegenwertiger Art befindet. Die Einheit seines Lebensprozesses, die dessen Spannungen und Gegensätzlichkeiten nicht eigentlich überwand, sondern von vornherein als ihre Elemente und Sta- dien in sich begriff, war sich ihres Wertes in dem Maße bewußt, in dem sie es ihrer Wirklichkeit war. Aber auch dieser Wert, diese mit der Realität seines Lebens zusammenfallende Idealität war keineswegs eine widerspruchslose und schattenfreie Wert- gleichheit aller Momente. Sondern wie sich in die Einheit seines Lebensprozesses unzählige Zweiheiten und Widersprüche ein- bauten, so übergreift ein sozusagen dem Leben immanenter Wert alle seine wertmäßigen Zweifelhaftigkeiten und Kontraideali- täten — wie es etwa schon in der Tagebuchnotiz des Einund-

62 Über-Wert

dreißigjährigen liegt: ,,Ich habe so manches getan, was ich jetzt nicht möchte getan haben, und doch, wenn's nicht ge- schehen wäre, würde unentbehrliches Gutes nicht entstanden sein." Und diese Einheit subjektiver Vollendung, in die der menschliche Weg die positiven wie die negativen Wertpunkte einbezieht, spricht er ganz allgemein ein Vierteljahrhundert später aus: ,,Bei strenger Prüfung meines eigenen und fremden Ganges in Leben und Kunst fand ich oft, daß das, was man mit Recht ein falsches Streben nennen kann, für das Individuum ein ganz unentbehrlicher Umweg zum Ziele sei. Jede Rückkehr vom Irr- tum bildet mächtig den Menschen im einzelnen und ganzen aus." Ich glaube, daß eine viel mißbrauchte Wortbildung diese ent- scheidende Anschauung seines eigenen Lebens allerdings begriff- lich formuliert: als Über-Wert empfand er die Idee und Wirklichkeit seines Daseins d. h. als ein Wertvolles, Bedeut- sames, Richtiges, in einem absoluten Sinne, mit dem es sich über den Gegensatz in den Relationen von Gut und Schlecht, Hoch und Niedrig, Gelingen und Verfehlen erhebt. Wie der Prozeß des wirklichen Lebens durch alle diese Gegensätze flutet und seine Einheit sie alle trägt so hat ihm das Leben offenbar einen Wert, der jenseits ihrer, d. h. jenseits aller In- halte steht, die nur durch Abstand, Unterschiedenheit, Rela- tivität als Werte oder als deren Gegenteile empfunden und feststellbar sind. Wir verstehen gewöhnlich Wert nur in diesem relativistischen Sinne (worüber ich, auch in Hinsicht der als ,, absolut" geltenden Werte, an andrer Stelle spreche), und zwar vielleicht, weil wir ihn nur an die Inhalte des Lebens, die verselbständigten, gegeneinanderstehenden, je als geschlossene Einheiten behandelten knüpfen; einen ganz anderen Sinn können wir seinem Begriffe verbinden, wenn wir ihn an den Prozeß des Lebens in seiner kontinuierlichen Einheit wenden, der nichts Relatives ist, weil er die funktionelle Gesamtheit des Ich ist, die sozusagen nichts sich gegenüber hat, sondern unser Totales und Absolutes ist. Je mehr wir das Leben so empfinden, desto mehr kommt ihm eine Bedeutung, ein ,,Wert" zu, den wir mit unsern, an lauter Relativitäten großgewordenen Kategorien nur

Idee und Ideen 6S

sehr unvollkommen bezeichnen können; ich nannte ihn Über- wert, nur um sein Freisein von der Relativitätsbedingtheit der einzelnen Werte zu charakterisieren. Innerhalb dieser Kategorie gibt es natürlich sehr verschiedene Grade, die aber eigentlich keine Relativität bedeuten, da jeder an seiner Stelle etwas Absolutes ist. Nur die Unterschiede der seelischen ,,Ente- lechien", von denen Goethe in geheimnisvoller Weise spricht, und auf die hin die verschiedenen Seelen in verschiedenem Maße unsterblich sind, bedeuten die Grade jenes Überwertes, der dem individuellen Leben als solchem und gelöst von allen Einzel- bestimmtheiten seiner Inhalte zukommt. Er selbst hatte offenbar das Selbstgefühl einer ,,Entelechie mächtiger Art"; die Einheit seiner Existenz war für ihn, über alle ihre Zerspaltenheiten und alle Wertschwankungen ihrer Einzelinhalte hinweg, mit ihrem Wert identisch, und so hatte er im Bewußtsein seiner selbst das Prototyp seines Wertbewußtseins, das auf der Identität von Wirklichkeit und Wert ruhte. Was sich freilich dieser Identität als Hemmung und Gegenrichtung vorbaut, wird das nächste Kapitel behandeln.

Aus dieser höchsten strukturellen Voraussetzung seines Da- seinsbildes v/ar es zwar begreiflich, daß er ,,die Idee" als ,, einzig" bezeichnete und sich gegen den Gebrauch des Plurals erklärte, und' zwar gerade im Zusammenhang des Satzes: ,, Alles was wir ge- wahr werden und wovon wir reden können, sind nur Mani- festationen der Idee". Dennoch glaube ich mich berechtigt, den. Begriff in einem etwas weiteren Sinne nehmend, von einer Mehr- zahl von Ideen zu sprechen, die Goethe als die Formbildner der. Wirklichkeit ansieht. Es sind gleichsam die Spezifikationen der ,,Idee", oder die von ihr ausgehenden Gestaltungsmöglichkeiten des einzelnen, die zwischen ihr und diesem vermitteln, dasjenige etwa, was er selbst als die ,, großen Maximen" der Naturbetrach- tung bezeichnet; mit der schon erwähnten Konsequenz, daß ihm die Wahrheit der Erkenntnis, die Realität der Erscheinung erst dann gewährleistet scheint, wenn ihm diese Ideen anschaulich, geworden sind.

Ich beginne mit der Idee der Schönheit. Man hat jetzt wahr-.

64 Schönheit

scheinlich gemacht, daß Shaftesburys Satz: ,,jede Schönheit ist Wahrheit" von früh an einen entscheidenden Einfluß auf Goethe gehabt habe; zugleich freilich wird behauptet, daß er seit der Verbindung mit Schiller davon wieder abgerückt sei. Ich möchte indes glauben, daß er jedenfalls die Umkehrung dieses Satzes: jede Wahrheit ist Schönheit in allen Perioden, wenn auch nicht in allen Stunden, festgehalten hat und daß sie schon vor der Bekanntschaft mit Shaftesbury in ihm domi- nierte. Wenn alle Wahrheit Schönheit ist, so folgt, daß, wo wir keine Schönheit mehr zu entdecken vermögen, wir jedenfalls nicht auf dem Wege zur Wahrheit sind; und daß wir, wo unsere Er- kenntnisversuche die Schönheit der Dinge zerstören , uns eben jenen Weg selbst verbauen. Ein kleines Gedicht, das noch auf seine Leipziger Studentenzeit zurückgeht, offenbart dies eigentlich schon mit voller Deutlichkeit. Er entzückt sich an den Farben einer Libelle, will sie in der Nähe sehen, verfolgt und faßt sie und sieht ,,ein traurig, dunkles Blau". ,,So geht es dir, Zergliedrer deiner Freuden". Es ist ersichtlich nicht seine Meinung, daß jenes erste erfreuende Bild ein Schein und Trug gewesen sei, den die nun gewonnene Wahrheit zerstört hätte. Sondern jene beglückende Farbigkeit ist echt und wahr gewesen es ist nicht eine Wahrheit gewonnen und darüber eine Schönheit verloren, sondern eine Schönheit zerstört und eben damit die Wahrheit verloren worden. Das ,, Zergliedern der Freuden" ist nicht die Zerstörung einer Illusion, sondern die Tötung eines real Lebendigen. Seine Polemik gegen Newton wurzelt mindestens zum Teil in der Aversion gegen das Hindurchquälen der Spektra durch viele enge Spalten und Gläser, das deren unmittelbar ästhetisches Bild zerreißt während er die Versuche im Sonnen- schein, unter blauem Himmel, als besonders beweisend preist. Die Ablehnung der Naturerkenntnis mittels Hebeln und Schrau- ben entspricht sicher nicht nur dem anderwärts erörterten er- kenntnistheoretischen Motive : daß die der menschlichen Natur angemessene Erkenntnis auch nur durch ihre natürlichen Hilfsmittel zu gewinnen sei, sondern auch der Scheu vor der Zerstörung ihres ästhetischen Bildes durch solche Mittel; wie

Schönheit als Kriteriiun der Wirklichkeit 65

er sich denn auch die Anerkennung der Geognosie nur schwer abringt, da sie „doch den Eindruck einer schönen ( !) Erdober- fläche vor dem Anschauen des Geistes zerstückelt". Der,, Schleier", dessen sich Natur nicht berauben läßt, ist von demselben Gewebe, wie der Schleier der Dichtung, den er ja ,,aus der Hand der Wahrheit" nimmt. Sogar von dem Mathematiker sagt er, er wäre (als solcher) nur insofern vollkommen, ,,als er das Schöne des Wahren in sich empfindet". Nur liegt in alledem nicht, wie man es allzu einfach gedeutet hat, die bloße sinnliche Ver- führbarkeit des Künstlers, ein innerhalb des Erkenntnisinteresses illegitimer Eudämonismus, nicht die Beschränkung auf den ,, schönen Schein", der, gegen alle Wesenheit und Objektivität gleichgültig, seine Bedeutung und Geschlossenheit nur nach den Gesetzen subjektiver Befriedigung gewönne, da er doch die natur- wissenschaftlich ergreifbaren Elemente und Vorgänge überspränge; vielmehr die tiefe metaphysische Überzeugung, daß alle Wirk- lichkeit von der Idee getragen ist und daß die Sichtbarkeit der Idee eben Schönheit ist. Wo diese vernichtet ist, da ist also die Garantie für Wirklichkeit verschwunden, und nur ein Zerr- und Scheinbild steht da. Es ist also nicht das Haften am Schein, das ihm die Schönheit als die für das Erkenntnisverfahren zu respektierende Grenze setzt; sondern, auf der Basis jener Über- zeugung, gerade das Bedürfnis nach einem objektiven Kriterium, das in der Fülle der möglichen Aspekte, Zerlegungen, Anordnungen das Symptom, noch Wirklichkeit vor uns zu haben, abgebe. Die Erfassung der Dinge in der Schönheit und Vollkommenheit ist zugleich nicht im Nebeneinander, sondern in unmittelbarer Identität das Begreifen ihres tiefsten Sinnes, wie die künst- lerische Formung der menschlichen Erscheinung im Porträt, vollzogen nach den ästhetischen, rein auf Zusammenhang und Reiz ihrer Anschauungselemente gerichteten Forderungen, zu- gleich die wahrhafte, unzweideutigste Offenbarung der Seele ist. Ganz erschöpfend drückt er selbst es aus: ,,das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze" (die für die gewöhnliche Betrachtung gerade mit jenem, als der Form der äußerlich resultierenden Erscheinung, überhaupt nichts zu tun haben), „die

S i m m e 1 , Goetke. 5

66 Einheit

uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben". Das zeigt sich doch eben allenthalben als das Einzige dieser Persönlichkeit, daß Erkenntnisse, die sich aus seiner individuellen Eigenart als Ergänzung oder Ausdruck seiner Subjektivität ent- wickeln, damit den Charakter einer objektiven Weltgemäßheit besitzen. Aus dem tiefen Wissen um sein eignes Wesen heraus schreibt er: ,,Es ist etwas unbekanntes Gesetzliches im Objekt, welches dem unbekannten Gesetzlichen im Subjekt entspricht". Nun mag der (einzelne) Inhalt solcher Erkenntnisse annehmbar oder irrig sein; aber immer haben sie die Beziehung zu einem Zentrum, die Zusammengeschlossenheit jedes in sich und mit allen andern, die zum Bilde einer Welt gehört und sich von der Isoliertheit und inneren Zufälligkeit, den Wesenszügen des bloß Subjektiven, unbedingt unterscheidet. Die Bestrebung seines Lebens: sein Subjekt zu objektivieren hat nur den Objektivitätscharakter seines von innen her bestimmten Daseins- bildes, die Gabe seines Genius, aufgenommen und weitergeführt. Die Forderung, Goethes Weltbild auszulegen, kann auf psycho- logischem Wege immer nur zur Hälfte gedeckt werden.

Nach der Denkrichtung seiner Zeit wie nach seiner ganz per- sönlichen verband sich ihm mit der Idee der Schönheit aufs engste die der Einheit. Hier ist zunächst das Motiv wirksam, daß jedes Kunstwerk, im Maße seiner Vollendung, ein Gegenbild des Naturganzen ist. Das höchste Schöne wäre so hebt er in einem Exzerpt aus K. Ph. Moritz hervor der als Einheit umfaßte Zusammenhang der Natur. Die Einheit des Schönen ist nur ein andrer Ausdruck für seine Selbstgenügsamkeit, d. h. für seine von Goethe stets verfochtene Unabhängigkeit von allen ,, Zwecken", von aller Verflechtung in ein anderweitiges Ganzes, innerhalb dessen es nur Träger oder Mittel wäre. Das Schöne muß gemäß seiner Souveränität, seiner Freiheit von allem, was außerhalb seiner liegt einer Freiheit, die ihr absolutes Urbild eben nur an der Totalität des Seins überhaupt besitzt , Ein- heit sein. Nur mit diesem Wort ist der in sich zentrierende, völlig in sich beschlossene Zusammenhang der Teile zu bezeich- nen, mit dem das Kunstwerk sich vollendet. Gerade aber weil

Sensualistische Vereinzelung 67

die Einheitsidee unmittelbar mit der ästhetischen Idee zusammen- hängt, greift sie, auf Grund der kosmischen Bedeutimg der letzteren, über sie hinaus und wird ihrerseits ein Kriterium für die Richtigkeit der Erkenntnisbilder. Darauf komme ich noch zu sprechen und deute jetzt noch auf Verknüpfungen der Einheitsidee mit anderen wesentlichen Motiven der Goetheschen Geistigkeit hin. Daß er die Totalität des Seins als Einheit denkt und jedes Stück des Daseins gewissermaßen als eine Vertretung oder VS/ieder- holung dieser Einheit (,,Du findest nur Bekanntes, das Ihm gleicht" was dann seine häufige Maxime, daß die Natur im kleinen genau dasselbe täte wie im großen, nur aus dem Meta- physisch-Absoluten in das Empirisch-Relative überträgt) das setzt von neuem die auch hier festgehaltene ,, Anschaulichkeit" in entschiedenen Gegensatz zu allem Sensualismus. Denn aller Sensualismus wird in seinem tiefsten Wesen dadurch bezeichnet, daß er am einzelnen haftet, daß er das Stück nur als Stück nimmt und Synthese nur als Zusammenfügung des Singulären, das seiner Natur nach auch immer ein Singuläres bleibt, anerkennt, nicht aber als Symbol einer inneren, aller Singularisierung voran- gehenden Einheit. Dies ist der Grund, aus dem die sensualistische Tendenz sich gern mit praktisch-egoistischer verbindet. Denn was wir Egoismus nennen ich habe dies an andrer Stelle aus- geführt — ist immer eine Willensbeziehung zu irgendwelchen Einzelheiten der gegebnen Welt. Die Vereinzelung, in die sich das egoistische Subjekt begiebt, findet keineswegs zufällig ihr Korrelat in der Vereinzelung seiner Willensziele; man kann sagen, daß der Egoismus die praktische Welt atomisiert gerade wie der Sensualismus die theoretische. Denn ihm erscheint das synthetische Vermögen des Geistes als etwas Sub- jektives und Sekundäres, dem in der objektiven Ordnung der Dinge nichts entspräche. Dies ist der genaue Gegensatz der Goetheschen Geistesrichtung, die überall Ganzheiten und Ein- heitlichkeiten zu erfassen strebt, deren pantheistische, die Welt- einheit irgendwie in sich tragende Grundstimmung sich so in seine Sinnlichkeit fortsetzt, daß er allenthalben Verbundenheit, Zusammengehören, Zusammenstimmen erblickt. Ihm ist

5*

68 Einheit des Lebendigen

das Ganze vor den Teilen, und höchst charakteristisch bezeichnet er darum das In-Übereinstimmung- Bringen des Entgegenge- setzten einmal als ein ,,W i e d e r vereinigen". Im Gegensatz zu der sensuellen Anschauung, die nur Einzelheiten sieht, war die seine die intellektuelle, die nur Einheiten sieht.

Ein weiteres Motiv, das die Einheit zum Range der Idee und zum Wahrheitskriterium der erkannten Gestalt erhebt, ist ihre Bedeutung für das Lebendige als solches. Für das Organische ist ihm alle äußere Zusammengesetztheit, die es nie zu einer wirk- lichen Einheit bringt, das schlechthin feindliche Prinzip. Nur aus Gründen einer praktischen Empirie sei uns ,,der atomistische Be- griff so nah und bequem zur Hand; deshalb wir uns nicht scheuen, ihn auch in organischen Fällen anzuwenden". ,,Um mich zu retten, betrachte ich alle Erscheinungen als unabhängig von- einander und suche sie gewaltsam ( !) zu isolieren; dann betrachte ich sie als Korrelate, und sie verbinden sich zu einem entschiedenen Lebe n." Und nur dem Ausdruck nach abweichend, dem Sinne nach aber gleich: ,,Man kann das Lebendige zwar in Elemente zerlegen, aber aus diesen nicht wieder zusammenstellen und be- leben." Von diesem ,, wissenschaftlichen Verlangen", das Äußere der lebendigen Bildungen ,,im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen", sagt er, daß es mit dem Kunsttriebe ,,nah zusammenhänge". Als eine Be- stätigung des Rechtes, bei der Betrachtung der Organismen von einer Einheit auszugehen, aus ihr die Teile zu entwickeln und sie wieder auf sie zurückzuführen, erscheint es ihm, ,,daß wir den vollkommensten Zustand der Gesundheit nur dadurch ge- wahr werden, daß wir die Teile unsres Ganzen nicht, sondern nur das Ganze empfinden". Darum muß er die damals verbreitete Zeugungstheorie der ,,Einschachtelung" verwerfen, da diese doch schließlich auf ein Nebeneinander, Außereinander dessen, was in und aus einem Lebewesen entsteht, herauskommt während die Entwicklung ein einheitlicher, von einem einheitlichen Leben ge- triebener Prozeß ist. Diese Einheit als Lebensform hat natürlich, nicht den Sinn der numerischen Eins:

Einheit und Mannigfaltigkeit 69

„Kein Lebendiges ist Eins Immer ist's ein Vieles."

Die Einheit hat sozusagen gar keine Funktion, wenn nicht ein Vieles da ist, das sie eben vereinheitlicht während in der unorganischen Natur (wenigstens solange man nicht die Welt- totalität, sondern Stück für Stück betrachtet) das eine einfach neben dem andern liegt, so daß hier das Dasein ein Vieles ist und bleibt; wobei dann jedes Stück für sich als „Eins" gelten kann. Umgekehrt ist der Organismus niemals ein solches nu- merisches ,,Eins", dagegen ist seine Vielheit funktionell zur Einheit verbunden und diese Verbindung ist das Leben. Dies ist die Grundform, kraft deren der Organismus für Goethe zum Symbol der Welt, aber auch, wie man wohl sagen kann, die Welt zum Symbol des Organismus wird. Niemand ist mit größerer Gewißheit, ja Leidenschaft, von der Einheit des Kosmos über- zeugt gewesen; niemand aber hat sich entschiedener von jenem Monismus abgewendet, für den alles Mannigfaltig-Bunte, alles differenziell Gestaltete und Bewegte in die dürre und starre Be- grifflichkeit des , ,Eins* * verschwindet. , , Durch die Alleinheitslehre" , sagt er, ,,wird soviel gewonnen als verloren, und zuletzt bleibt das so tröstliche als untröstliche Zero übrig." Wie das Lebendige, so ist ihm die Welt nicht Eins, sondern immer ein Vieles; und wie das Lebendige, so ist ihm die Welt die Einheit dieses Vielen. Er hat die Welt organisch verstanden, d. h. Idee und Wirksam- keit des Ganzen als einer Einheit dominiert ihm so sehr alles Einzelne und die Wechselwirksamkeiten innerhalb des Einzelnen, wie in dem Organismus jeder Teil von dem Ganzen bestimmt wird und das Leben jedes Teiles nichts andres ist, als das in ihm sich vollziehende Leben des Ganzen. Tiefer aber greift vielleicht der eben angedeutete Ausdruck: nicht die Welt ist ihm wie ein Organismus, sondern der Organismus ist ihm wie die Welt. An der Welt hat er die Existenzform gefunden oder gefühlt, die für weniger umfassende Anschauungsweisen nur am Organis- mus hervortritt; dieser erscheint gewissermaßen als ein Mikro- kosmos, als eine Analogie in engen Maßen für die Form, in der die Welt als eine Einheit und sozusagen von ihrem metaphysischen

70 Organismus und Kosmos

Zentrum aus lebt. Die organische Form, d. h. das Leben des Teiles aus dem Ganzen heraus, ist ihm der Sinn der Welt über- haupt. — Es zeigt sich damit die ganze Roheit und Oberflächlich- keit der Kritik, die die großen Denker der Vermenschlichung der Welt, eines atavistischen Fetischismus beschuldigt, wenn sie die Gesamtheit des Daseins nach den Kategorien des Mensch- lichen, des Lebendigen, des Seelischen deuten. Wenn Schopen- hauer das Wesen der Welt als Wille bezeichnet, so macht er damit nicht den kleinen Weltausschnitt des menschlichen Willens zum Maße der Unendlichkeit, sondern umgekehrt: die ge- heimnisvolle Beziehung des großen Philosophen wie des großen Künstlers zur Ganzheit des Seins gibt ihm eine bestimmte, seiner seelischen Artung entsprechende Empfindung und Deutung dieses Ganzen; und erst von dieser her wird der Punkt innerhalb des seelisch-menschlichen Daseins ergriffen, an dem solcher Sinn des Seins sich etwa am anschaulichsten und unzweideutigsten für uns darstelle. Und so ist Goethes Bild der organischen Welt- einheit nicht eine mythologisierende Übertragung der empirischen Vorstellung vom Organismus auf das Dasein überhaupt, sondern ein Gefühl oder Bild dieses Daseins, das nur am Organismus seine Aussprechbarkeit, vielleicht auch nur sein Symbol gewinnt. Das rastlose Werden, das stetige Gestalten und Umgestalten, wie das Leben allein es in sich anschaulich macht, ist die einzige Ver- mittlung zwischen den Polen, an denen, als Weltprinzipien, Goethe gleichmäßig festhält: an der Einheit alles Seins und an dem Bestände und Werte des Individuellen. Denn nur dadurch, daß das Eine ein Werdendes ist, kann es ein Mannigfaltiges sein. Was das einzelne Leben im Nacheinander entfaltet: die kontinuierlich wechselnde Fülle der Zustände, äußerlich ganz divergente Erscheinungen, die doch nur die Stadien einer einzigen Entwicklung sind das zeigt das Leben überhaupt, zeigt der Kosmos außerdem im Nebeneinander. In der Vielheit der Erscheinungen, deren jede ihre unverminderte Besonderheit bewahrt, erblickt Goethe mit diesem Paradoxon, das später noch seine Ver- breiterung finden wird, kann man seine Weltanschauung wohl formulieren das zeitlose Leben der kosmi-

Einheit als Wahrheitsbeweis 71

schenEinheit; gibt er doch selbst dem Letzten, „Unschau- baren", uns für immer Problematischen einmal den geheimnis- vollen Ausdruck: ,,das ewig tätige Leben in Ruhe gedacht"! Der Alleinheitslehre Spinozas konnte es nicht gelingen, der Ein- heit und der Vielheit gleichmäßig und synthetisch gerecht zu werden, weil ihm der Lebensbegriff fehlte. Daß Spinoza das Werden dem Sein opferte, ist nur ein andrer Ausdruck dafür, daß er das Viele dem Einen opferte. Er fand die Brücke nicht vom Einen zum Vielen, die für Goethe in dem stetigen Werden, Entfalten, Umbilden des Lebensprozesses lag. Von hier aus ge- sehen ist der Begriff der ,, Metamorphose" nicht mehr ein Einzel- erkenntnis über die Organismen, sondern die verdeutlichende Steigerung des Lebensbegriffes. „Soviel getraue ich mir zu be- haupten, daß, wenn ein organisches Wesen in die Erscheinung hervortritt, Einheit und Freiheit des Bildungstriebes ohne den Begriff der Metamorphose nicht zu fassen sei." Die Metamor- phose erscheint hier also als ein Synonymum des Lebens überhaupt, das die Ausformung eines Einen zum Vielen, d. h. zu der Frei- heit mannigfaltigster, individualisierendster Gestaltung bedeutet. Dies also ist ungefähr Sinn und Grund, mit dem die Einheit als fundamentale Kategorie des Goetheschen Weltbildes auf- tritt, als eine Seite der ,,Idee", deren Manifestation die Er- scheinungswelt ist. Und weil sie ihm der Formungsgrund des .Seins ist, ist sie auch der Rechtsgrund der Erkenntnis; d. h. und damit komme ich wieder auf unsern Leitgedanken zurück wo das Erkennen die Einheit seines Gegenstandes zerstört, hat es sich eben dadurch als unrichtiges erwiesen. Die Zerlegung der Autorschaft Homers schien er zuerst, unter dem Zwang der Wolfschen Beweise, anzuerkennen; sobald sich aber auch nur die Möglichkeit zeigte, ihre Einheit wieder herzustellen, nahm er sie mit Leidenschaft auf und seine Äußerungen machen es ganz klar, daß ihm die Zerstückelung, eben weil sie Zerstückelung war, als irrig erschien. Noch unter dem Eindruck jener Unter- suchungen Wolfs formuliert er die Einheit Homers zunächst als etwas ganz Ideelles, als die innere, organisch-künstlerische Wertform:

72 Zerstückelung

Ewig wird er euch sein der Eine, der sich in Viele Teilt und einer jedoch, ewig der Einzige bleibt.

Findet in Einem die Vielen, empfindet d;e Vielen wie Einen, Und ihr habt den Beginn, habet das Ende der Kirnst.

Allein dieser ästhetischen Korrelation von Einheit und Viel- heit wird jedenfalls innerhalb der Realität eher durch Einheit als durch Vielheit der Autorschaft genügt. Und so wird ihm die Einheit, von der er als von der Idee, der immanenten Forderung des Kunstwerks, nicht lassen kann, zum Kriterium über Wahrheit und Falschheit der Wirklichkeitserkenntnis: die Wolfsche Hypothese ist ihm falsch, weil sie die Einheit, die imperativische Kategorie von Sein und Kunst, zerreißt. Innerhalb der geo- logischen Theorien widerstreben ihm vor allem die vulkanistischen, die die Oberfläche der Erde durch plötzliche Eruptionen, ge- walttätige Katastrophen erklären wollen; die ruhigen und lang- samen Wirkungen, von der Art, wie sie täglich zu beobachten sind, scheinen ihm auch die außerordentlichsten Konfigurationen zustande zu bringen. Sieht man die Ausdrücke an, mit denen er den Vulkanismus charakterisiert: gewaltsames Aufregen, vermaledeite Polterkammer der neuen Weltschöpfung usw. so möchte es scheinen, als wäre der Haß seiner ,, konzilianten Natur" gegen alles Gewalttätige, Ungeordnete, Abrupte das letzte Motiv der Polemik. Dennoch scheint mir etwas noch Allgemeineres hier zum Grunde zu liegen. Goethe war keines- wegs, trotz jener Konzilianz, eine so weichmütige und un- kräftige Natur, daß er Kampf und Aufruhr der Elemente im Weltbild nicht ertragen hätte und sich durch persönliche Anti- pathie dagegen eine objektive Theorie hätte aufdrängen lassen. Ich glaube vielmehr, daß das entscheidende Motiv in der Fort- setzung jener vorhin angeführten Äußerung über die geognostische ,, Zerstückelung der schönen Erdoberfläche" liegt: jene Erup- tionen und Katastrophen durchbrechen ihm das einheit- liche Bild der Natur, indem sie Kräfte einführen, die gegen- über den beobachtbaren, alltäglichen, fremd und dualistisch sind. Nicht die Gewaltsamkeit an und für sich erscheint ihm als Beweis gegen den Vulkanismus, sondern daß sie gleichsam in der

Künstlerische Einheit 73

Ordnung der Natur nicht vorgesehen ist und ihre Einheit zerreißt. Und zwar die Einheit gemäß seiner Naturmetaphysik, die mor- phologische, an der ,, Gestalt" bestehende. Gegen die Einheit der mechanistischen Naturgesetzlichkeit verstößt der Vulkanismus in keiner Weise. Die Bewegungen der kleinsten Teile folgen der allgemeinen Gesetzlichkeit genau so, wenn sie ein für die mensch- liche Auffassung der Phänomene ruhiges, normales, kontinuier- liches Bild, wie wenn sie ein uns gewaltsam und durchrissen vor- kommendes ergeben. Wohl aber mochte Goethe die Einheit der anschaulichen Form, die sich sozusagen mit der Ununter- brochenheit gleichmäßiger Wirkungen in das Nacheinander über- trägt, als zerstört empfinden, wenn in die Konstanz ruhiger, uns dauernd vor Augen liegender Umformungen ein plötzliches Heben und Schleudern, Brechen und Beben hineinfahren sollte. Der scheinbar unwesentliche Unterschied der Begründungen ist tatsächlich von tiefer Bedeutung; denn er führt das nur sub- jektiv-gefühlsmäßige, eigentlich recht anthropomorphe Motiv der Aversion gegen Gewalttätigkeit und Ungestüm in der Natur auf das weltanschauungsmäßige der Einheit des Naturbildes zurück. Die Einheit der Natur für Goethe ist der Einheit zu vergleichen, die der Maler oder Plastiker unter den Ele- menten einer menschlichen Gestalt herstellt, im Unterschied gegen die physiologische, unter der Oberfläche durch den Kreis^ lauf und das Wechselspiel der kleinsten Teile hergestellte Ein- heit. Die künstlerische Einheit spielt sich rein innerhalb der Erscheinung ab, verbindet deren Teile rein nach den Forderungen der Anschaulichkeit, hat nur das Interesse, daß das Auge des Beschauers und die auf dessen Spuren sich in das Objekt ein- fühlende Seele die Vorstellung des Zusammengehörens der Oberflächenelemente gewinne; wie diese durch den realen, aber unsichtbaren Lebensprozeß verbunden sind, geht die künst- lerische Einheitsforderung nichts an. Sie ist relativ subjektiv, aber ihr Gegenstand ist die unmittelbar empirische Gegebenheit. Umgekehrt ist für die wissenschaftliche Erkenntnis der Lebens- einheit ein solches Zusammenfassen der zufälligen Oberflächen- teile ganz bedeutungslos, sie ist relativ objektiv, aber sie lebt in

74 „Erscheinung" bei Kant und bei Goethe

der Überwindung des unmittelbaren Augenscheines. Das Einzig- artige und Entscheidende der Goetheschen Weltanschauung liegt darin, daß er jene morphologisch-künstlerische Synthese des Anschaulichen zu kosmisch-metaphysischer Bedeutung hebt. Nun liegt die Oberfläche der Dinge nicht mehr wie eine ablösbare Haut oder ein vom Subjekt her über sie hingestreuter Schein ihrem eigentlichen Wesen, ihrer Wirklichkeitstiefe auf; sondern, wenn sie nur recht nach der Eigengesetzlichkeit der Idee be- schaut wird, ist sie die volle Offenbarung des Seins:

,, Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, Denn was innen, das ist außen."

Es ist natürlich nicht mit systematischer Symmetrie das Gegenstück zu der ,,Kopernikanischen Tat" Kants. An die Stelle der herrschenden philosophischen Meinung: die empirische Erscheinung habe mit dem eigentlich Wahren des Daseins nichts zu tun, dieses vielmehr stelle sich nur einem unsinn- lichen Vernunftvermögen setzte Kant die Erkenntnis: die Erscheinung ist die volle Wirklichkeit, sie ist keineswegs nur die Schale eines transphänomenalen Innern, welches vielmehr ,,eine bloße Grille" ist; sie ist freilich auch nicht bloße Sinnesimpression, sondern die Formgebung durch den Verstand bringt sie auch als Erscheinung erst zustande. Vielleicht ist diese These im Grunde nicht weniger paradox als die Goethesche: daß in der Erscheinung das letzte Wesen der Dinge sich unmittelbar darstelle sobald sie nicht bloße Sinnesimpression sei, sondern gemäß den Forderungen der ,,Idee" angeschaut würde. Für Kant ist es die intellektuelle Formung, die der Sinneserscheinung die volle, von aller transzendenten Problematik entlastete Realität gibt für Goethe die künstlerische Formung; denn so kann man es ja wohl bezeichnen, daß die Erscheinung dem klaren Blick in sich selbst die Idee entgegenträgt. Wie deshalb für Kant diejenige Erscheinung real ist, deren sinnlich gegebener Inhalt den Kate- gorien des Verstandes entspricht, so erkennt Goethe nur dasjenige Bild als im höchsten und definitiven Sinne richtig an, dessen sinn- liche Gegebenheit den Forderungen der Idee genügt. Darum wird ihm nun diese zum Kriterium der Richtigkeit einer Vorstellungs-

Einheit mit sich und mit cmdem 75

weise, und darum erkennt er, aus der Idee der Einheit heraus, weder die Vielheit der Homeriden noch den Vulkanismus an nicht weil diese Bilder seinem ästhetischen Gefühl unangenehm wären, sondern weil, auf Grund seiner metaphysischen Über- zeugung von der absoluten Realität der ideengeformten Erschei- nung, die ästhetische Unzulänglichkeit jener Erscheinungen ihm das Signal für ihre theoretische, ja, mit dieser identisch ist. In- dem die Erscheinung in ihrer anschaulichen Wirklichkeit als in sich einheitlich gelten kann, ist sie auch mit der Idee einheit- lich. Jenes merkwürdige, anderwärts behandelte Wort: ,,Wer mit sich einig ist, ist es auch mit andern" zeigt sich damit als ein Fall einer ganz allgemeinen metaphysischen Maxime. Die Einheit der Erscheinung in sich selbst bedeutet eine Vollendung ihrer, mit der sie gleichsam über sich hinausgreift und ihre Ein- heit mit den Realitäten oder Idealitäten außerhalb ihrer selbst offenbart. Hier liegt eine, wenn auch entfernte Verwandtschaft mit Goethes merkwürdiger Äußerung vor: ,, Alles in seiner Art Vollkommene müsse über seine Art hinausgehen". So ist die voll- kommene innere Einheit eines Stückes der Welt entweder der Erkenntnisgrund oder die Bedingung oder die Folge davon, daß auch zv/ischen ihm und dem, was jenseits seiner ist, Einheit besteht.

Erfaßt man die Idee der Einheit in ihrer ganzen Lebendig- keit und Weite, mit der sie in Goethes Weltanschauung wirkt, so kann sie wohl als deren Fundament gelten; alle übrigen Ideen, deren Offenbarung er in den Erscheinungen sucht und die ihm zu Kriterien für deren richtige Erkenntnis werden, lassen sich als irgendwie von jener abhängige, als ihre Ausgestaltungen oder Bedingungen deuten. Ich behandle noch drei Formmotive dieser Art: die Kontinuität, die Polarität, das Gleichgewicht.

Jene Abneigung gegen den Vulkanismus ist ohne weiteres als Glaube an die Kontinuität im Sein und Geschehen der Natur anzu- sprechen. Ich führe eine entscheidende Stelle an: ,, Alle Wirkungen, von welcher Art sie seien, die wir in der Erfahrung bemerken, hän- gen auf die stetigste Weise zusammen , gehen ineinander über jene Tätigkeiten, von der gemeinsten bis zur höchsten, vom Ziegel-

76 Kontinuität

stein, der dem Dach entstürzt, bis zum leuchtendsten Geistes- blick, der dir aufgeht und den du mitteilst, reihen sie sich an- einander." In ganz eminentem Sinne ist diese Maxime für die Goethesche Seinsbetrachtung charakteristisch: denn keine andere bindet Formung, Ordnung, Gesetz so unbedingt an die Er- scheinung der Dinge, an die morphologische Wirklichkeit. Beschränkt man sich ganz rein auf die Erscheinungen, deren unabsehliche Individualisiertheit man zugeben muß, so kann man ihre ,, Einheit", die Gestaltung eines Ganzen aus ihnen eben nur auf jene abgestuften Ähnlichkeiten hin zustande bringen. Die Betrachtung der Wesen nach der ,, Gestalt" hat an und für sich etwas Isolierendes und es ist die gigantische Bestrebung des Goetheschen Naturverstehens, diese Umschlossenheit und Ver- einzelung der Gestalten von einem einheitlichen, vibrierenden. Alles mit Allem verbindenden Leben durchfluten zu lassen. In- soweit man nun in dieser Tendenz nicht von einem innern Le- bensprinzip ausgeht, sondern die Einheitsform den unmittel- baren Erscheinungen abgewinnen will, so müssen diese, mögen es Gestalten des Ruhenden oder des Bewegten sein, in eine Reihe sich ordnen lassen, in der sozusagen kein Unterschied der kleinste ist, sondern zwischen je zwei differente Glieder noch immer weitere sich einstellen und die Vermittlung durch morphologische Zusammenhänge ins Unendliche geht. ,, Welch eine Kluft, sagt er in Hinsicht einer ihm besonders wichtigen Reihe, zwischen dem OS intermaxillare der Schildkröte und des Elefanten, und doch läßt sich eine Reihe Formen dazwischen stellen, die beide verbindet." Zwischen der ,, Kontinuität" im Sinne einer stetig fließenden Bewegtheit und der singulären Einheitlichkeit der Gestalt besteht, wie ich oben sagte, eine tiefe Diskrepanz; aber die Kontinuität im Sinne der Aufreihbarkeit der Gestalten nach ihrer morphologischen Berührung vermittelt zwischen beiden, sie ist gleichsam das statische Symbol für jene Labilität. Auf das Gesetz von Hervorbringung, Wachstum, Entwicklung soll gerade dies deuten: ,,Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andern." Durch das ideelle Verbundensein von Gestalt mit Gestalt, sei diese Ereignis, sei sie substanzielles Wesen, wird die Verbindung

Verbundenheit der Sinne 77

jedes Einzelnen mit dem Ganzen erreicht, ohne die ,,in der lebendigen Natur nichts geschieht". Zerlegt man den stetigen Fluß der Entwicklung in einzelne „Zustände", so ist deren Kontinuität genau so wie die der singulären Gestalten zu be- trachten. ,,Wie ein Wesen in seiner Erscheinung beginnt, so schreitet es fort und endigt auf gleiche Weise"; nur durch Kon- tinuität der Zustände kann sich diese Wesenseinheitlichkeit mit der fortwährenden Unruhe, dem Gestalten und Umgestalten, Trennen und Verbinden innerhalb des Lebendigen vertragen. Eine Disposition zu der so angenommenen Kontinuität der Erscheinung liegt, wie ich glauben möchte, schon in einer sinn- lichen Besonderheit von Goethes Naturanlage: in dem Inein- ander-Übergehen der Eindrücke ganz verschiedener Sinne. Vor der ungeheuren Einheitlichkeit seines Wesens verschwindet gleichsam die Disparität der Sinnesgebiete, ohne weiteres reiht sich ein Stück des einen in das andere ein; man hat das Gefühl, als verliefe sein inneres, insbesondere sein dichterisch ausge- drücktes Leben, in seinem tiefsten Grunde, als ein eigentlich nur dynamischer Wechsel, ein An- und Abschwellen oder auch ein polares Umspringen einer Daseinsintensität, und als seien alle qualitativen Mannigfaltigkeiten, in denen diese sich darbietet, dadurch innerlichst verbunden; als übergriffe die Einheit dieses Lebens alle Abstände, die seine Inhalte zeigen, sobald sie aus dem Leben heraus und in bloße isolierte Sachlichkeit gestellt werden. Als erlebte lassen sie ihre logische oder dinghafte Dis- parität in eine Kontinuität übergleiten, die auch jede Sinnes- impression mit jeder verwandt macht und jeden Stellenwechsel unter ihnen legitimiert. Da diese Linie in seinem Bilde vielleicht noch nicht hinreichend herausgehoben ist, führe ich die Stellen an, die mir zur Hand sind. In einer symbolischen Darstellung des Orpheusmythus äußert er: ,, Das Auge übernimmt Funktion, Gebühr und Pflicht des Ohres" in der Ausführung des Ge- dankens, daß die Architektur eine ,, verstummte Tonkunst" ist. Es gilt für den Marmor wie für den Busen der Geliebten: ,,Sehe mit fühlendem Aug', fühle mit sehender Hand"; und aus ihren Augen hört er ein ,, lieblichstes Getön". Ja, selbst „die Kühle"

78 Stetigkeit als Wirklichkeitskriterium

schleicht ihm „durchs Auge" ins Herz und Wasser und Höhle sprechen Laute, die der „Künstler blick vernimmt". Geruch und Geschmack sind nicht ausgeschlossen : der Wasserfall ver- breitet „duftig kühle Schauer". „Von buntesten Gefiedern Der Himmel übersät Ein klingend Meer von Liedern Ge- ruchvoll überweht." „Ich habe nichts dagegen, wenn man die Farbe sogar zu fühlen glaubt; ihr eignes Eigenschaftliche würde nur dadurch noch mehr bestätigt. Auch zu schmecken ist sie. Blau wird alkalisch, Gelbrot sauer schmecken. Alle Manifesta- tionen der Wesenheiten sind verwandt." Gerade gelegentlich des „Stufenweges vom Unvollkommnen zum Vollkommnen" äußert er: ,,Die wundersame Erfahrung, daß ein Sinn an die Stelle des andern einrücken und den entbehrten vertreten könne, wird uns eine naturgemäße Erscheinung, und das innigste Geflecht der verschiedensten Systeme hört auf, als Labyrinth den Geist zu verwirren." Und endlich klingt der Gedanke des Ineinander- Aufgehens der Sinne in dem Vers des Divan an: ,,Ist somit dem Fünf der Sinne Vorgesehn im Paradiese, Sicher ist es, ich gewinne Einen Sinn für alle diese." Was im Empirischen als bloße Kontinuität und Grenzvermischung der Sinne erscheint, ist hier zu phantastisch-metaphysischer Vollendung geführt.

Die Stetigkeit in der Reihe der Gestaltungen, die an solchen Äußerungen ihr persönlich-sinnliches Symbol findet, wird ihm zum Erkenntniskriterium, gerade wie die Einheit und die ästhe- tische Bedeutsamkeit der Einzelgestalt ; denn erst indem all diese ,, Ideen" in der Wirklichkeit aufzeigbar sind, oder, von der andern Seite gesehen, nur das, was sie aufzeigt, als Wirk- lichkeit anerkannt wird , realisiert sich das entscheidende Grundmotiv: das Zusammen von Wirklichkeit und Wert. So folgert Goethe weiterhin, daß man sich in der Naturwissen- schaft nie mit einem isolierten Faktum begnügen dürfe, sondern durch Versuche alles , was irgendwie daran grenzt, er- kunden müsse. Diese Reihung und Folgerung ,,des Nächsten aus dem Nächsten" hätten wir von der Mathematik zu lernen, in der sich ,, jeder Sprung in der Assertion offenbart." Hier also wird die Kontinuität zum Erkenntnismittel: wo sie

Kontinuität und Systematik 79

nicht hergestellt oder herstellbar ist, wird die Wirklichkeit nicht erfaßt. Das Weltbild, das so gewonnen oder vielleicht vor- ausgesetzt — wird, charakterisiert sich durch seinen Gegensatz zu aller ,, Systematik".

Denn an der Auffassung des Daseins als eines Systems oder als einer Kontinuität scheiden sich tiefste geistige Wesens- tendenzen. Der Systematiker setzt die Dinge mit scharfer be- grifflicher Abgrenzung außereinander und gewinnt Einheit für sie, indem er ihre begrifflichen Inhalte in ein symmetrisch ge- bautes Ganzes einstellt. Wie das einzelne Element, so ist auch das Ganze ein Fertiges, Abgeschlossenes, eine feste Form aus festen Formen, geordnet nach architektonisch-einheitlichem Prin- zip, das jedem überhaupt denkbaren Element seine Stelle gleich- sam vorbestimmt. Gegen diese Tendenz nun wendet sich Goethe nach einer fast fünfzigjährigen naturwissenschaftlichen Beschäf- tigung mit den Worten: ,, Natürlich System: ein widersprechen- der Ausdruck. Die Natur hat kein System; sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht er- kennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos, man mag ins Einzelnste teilend verfahren oder im ganzen nach Breite und Höhe die Spur verfolgen." Von der hiermit angedeuteten Dynamik des Lebens abgesehen, gestattet ihm schon die Stetigkeit der Er- scheinungen kein System. Denn wo Kontinuität ist, verbietet sich jene Abgrenzung von Einheit gegen Einheit, die Unter- schiede werden zu unmerklich, um eine begriffliche Hierarchie zu bilden. Da es jetzt keine Stelle gibt, die nicht ein Crescendo und ein Diminuendo neben sich hätte, so ist auch ein Abschluß des Ganzen nicht möglich, das Verhältnis der Elemente kann sich nicht zu einer irgendwie genügsamen Einheit zusammenschließen, da zwischen je zweien eine unübersehliche Zahl von Zwischen- stufen sich drängt, für die das System als ein Bau aus Begriffen keinen Platz hat. Am schönsten und reinsten hat Goethe in den Berichten über sein botanisches Studium diesen Gegensatz ent- wickelt, in dem Partei zu nehmen ihn freilich die Geltung des Linn6schen Systems besonders aufreizen mußte. Dies ganze System ruht für ihn auf der praktischen Zweckmäßigkeit des

80 Abweisung der Systemform

Zählens; es setze also ein genaues Trennen der einzelnen Pflan- zenteile gegeneinander voraus, die Feststellung jeder Form als eines von allen übrigen, von den vorhergehenden wie den folgen- den völlig verschiedenen Wesens. Da nun aber ein Organ, eine Form in die andre mit unfaßbaren Übergängen gleitet, so muß das System ,, alles Wandelbare als stationär, das Fließende als starr, das gesetzlich rasch Fortschreitende als sprunghaft, das aus sich selbst hervorgestaltete Leben als etwas Zusammengesetztes" ansehen. Er gesteht, angesichts der fortwährenden Umbildungen und Beweglichkeiten der Pflanzenorgane den Mut zu begrifflichen Fixierungen und Grenzsetzungen verloren zu haben. ,, Unauflös- bar schien mir die Aufgabe, Genera mit Sicherheit zu bezeichnen, ihnen die Spezies unterzuordnen." Und schon lange vorher habe das ,, scharfe Absondern" Linnes in seinem Innern einen Zwie- spalt erzeugt: ,,Das, was er mit Gewalt auseinanderzuhalten suchte, mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur Vereinigung anstreben." Der Systematik gegenüber, für die ,, alles fertig" ist, die ,,nur ein Versuch ist, viele Gegenstände in ein gewisses faßliches Verhältnis zu bringen, das sie, streng ge- nommen, untereinander nicht haben" ist es seine Denkweise ,,das Ewige im Vorübergehenden" zu schauen. Alle Pflanzenorgane sind ihm die in absatzlosen Prozessen vollzogenen Umbildungen eines einzigen Grundorgans wie er auch von allen , »vollkommenen organischen Naturen", von den Fischen bis zum Menschen, behauptet, daß sie nach einem ideellen Urbilde geformt seien, ,,das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr oder weniger hin und her weicht und sich noch täglich durch Fort- pflanzung aus- und umbildet." Sehr früh schon scheint er die Gefahr der Systematik empfunden haben: daß das System, wegen seiner logisch geschlossenen, bequem zu handhabenden, architek- tonisch befriedigenden Form sozusagen um seiner selbst willen gesucht und namentlich festgehalten wird und uns hindert, dem jeweiligen Verhalten der Dinge vorurteilslos und anschmiegsam nachzugehen; so daß ihm das System ganz einfach zum Gegenteil der Sachlichkeit und selbstlos gesuchten Wahrheit wird der Wahrheit, in der sich alles in Einheit und Kontinuität aneinander-

Gestalt und Werden 81

schließt: ,, Soviel Neues ich find'," schreibt er, „finde ich doch nichts Unerwartetes; es paßt alles und schließt sich an, weil ich kein System habe und nichts will, als die Wahrheit um ihrer selbst willen." Goethe hatte das stärkste Gefühl, die ent- schiedenste Vorstellung von dem unstaubaren Flusse alles Lebens, alles Geschehens; so trivial der Gedanke der unaufhör- lichen Bewegtheit des Daseins ist, so schwierig und, wie ich glaube, selten ist es, daß damit wirklich und restlos Ernst gemacht wird. Der relativen Grobheit und Langsamkeit unserer Sinne, vor allem unserm praktischen Verhalten zu den Dingen entspricht es, uns an die Fiktion fester Querschnitte und beharrender Zustände zu halten. Goethe aber gehörte zu den heraklitischen Menschen, deren eigne innere Lebendigkeit und stillstandslose Entwicklung ihnen gleichsam einen physisch-metaphysischen Sinn gibt für die rast- losen Pulsationen, das stetige Sterben und Werden, Sich-Ent- wickeln und Herabsinken unter der Scheinstarrheit aller Ober- flächen. In höchst schwierigem und fragwürdigem Verhältnis aber zu dieser Absolutheit von Werden und Wandel steht Goethes plastischer Sinn, der auf die ,, Gestalt" in ihrer klassischen Ruhe, auf die Geschlossenheit und den Ewigkeitszug der Erscheinungen geht. Mit wieviel Vorbehalten auch nur man derartige prinzipielle Gegensätze historisch lokalisieren darf: es ist der griechisch- italienische Geist, der hier gegen den germanischen steht, und man hat schon lange hervorgehoben, daß Goethes Lebensarbeit und Lebensintention im Antagonismus, Wechsel, Vereinheitlichung dieser weltgeschichtlichen Parteien verläuft. Ich lasse dahin- gestellt, ob er selbst ein theoretisches Bewußtsein über die Tiefe des Abgrundes hatte, der sich zwischen der künstlerischen Um- grenztheit und Selbstgenügsamkeit der ,, Gestalt" und der Unend- lichkeit des Werdens auftut, sobald das eine und das andere zur Dominante des Weltbildes wird. Er bringt die Gegensätze ganz nahe zusammen: ,, Geprägte Form, die lebend sich entwickelt" darin liegt das ganze Problem. Denn das ist ja eben die Frage, die diese Formulierung garnicht als Frage anerkennt: wie die Form leben kann, wie das schon Geprägte sich noch ent- wickeln kann, oder ob überhaupt Geprägtheit und Entwick-

Simmal, Goethe. 6

82 Kontinuität als Vermittlung

lung nicht eine Unvereinbarkeit sind. Immerhin spricht er das seelisch-metaphysische Problem als ein praktisches höchst deutlich aus: ,,Daß dein Leben Gestalt, dein Gedanke Leben gewinne, Laß die belebende Kraft stets auch die bildende sein." Ja, einmal scheint es, als wolle er ihm überhaupt nur im prakti- schen Sinne eine Stelle zuerkennen: ,,Das Höchste, das Vorzüg- lichste am Menschen ist gestaltlos und man soll sich hüten, es anders als in edler Tat zu gestalten." Im theoretischen Sinne indes liegt hier die letzte Bedeutung des Kontinuitätsprinzips. Wenn die pausenlose Umgestaltung, die kosmische Strömung an dem, was wir Ding, Form, Gestalt nennen. Halt zu machen, und die einzelnen Erscheinungen damit dem Gesetz des allgemeinen Lebens entrissen, aus diesem auskristallisiert zu sein scheinen so bieten sie jedenfalls eine um so deutlichere Spur jenes Gesetzes, je näher sie nach ihren Qualitäten aneinanderrücken, je unmerk- licher dem betrachtenden Geist der Übergang von einer zur andern wird. Dies subjektive kontinuierliche Gleiten des Blickes ist Gegenbild und Symbol der Stetigkeit des objektiven erzeugenden Prozesses, der aus den so anzuordnenden Erscheinungen ver- schwunden ist. Die fertigen Gestalten, wie der praktische und der künstlerische Blick sie ausschneiden, gehen nicht funktionell ineinander über; aber das Maß ihrer Ähnlichkeit, ihrer möglichen Anordnung in Reihen nach zu- und abnehmenden Qualitäten ist das Maß, in dem sich die Einheit der erschaffenden Funktion in ihnen gleichsam abgelagert hat und sich an ihnen verrät. Gewiß wird die tiefe Fremdheit zwischen der Welt als stetig-lebendigem Werden und der Welt als Summe von Gestalten dadurch nicht verneint, daß diese Gestalten Reihen bilden, in denen kein Unter- schied der kleinste ist und für die die Welt, um den Abstand je zweier zu füllen, jedesmal eine Unendlichkeit abgestufter Zwi- schenerscheinungen anbietet; Begrenztheit bleibt eben Begrenzt- heit und wird nicht Bewegung über die Grenze hin, so nahe man auch die Inhalte der Begrenztheiten aneinanderrückt. Aber das so entstehende Bild gewinnt allerdings eine ins Unbegrenzte wachsende Beziehung zu dem des absoluten Werdens; eine von dem letzteren beherrschte Welt muß allerdings, zu Gestalten ver-

Polarität 83

festigt, diese in Reihen mit unendlich kleinem Abstand je zweier Nachbarwesen einstellen lassen. Die Idee der Kontinuität, schein- bar nur das äußerliche Nebeneinander der Phänomene ordnend, enthüllt sich so als der Punkt, an dem die großen weltgeschicht- lichen Gegensätze in Goethes Wesen und Welt sich zueinander- neigen deshalb auch als ein regulatives Prinzip, wie Schönheit und Einheit, nach dessen Durchführung im Reich der Erfahrung er unablässig strebte, weil das Maß ihrer Erfüllung zugleich das Maß der Wahrheit über die Wirklichkeit war.

Die Vielheit der Erscheinungen, die Mannigfaltigkeit der Sta- dien, an denen die Welt ebenso wie die Seele ihre Einheit leben, ist aber noch einer anderen Formung zugängig, die ihre Inhalte der Zufälligkeit entkleidet und sie, rein als Inhalte, aufeinander anweist. Es ist das Prinzip der Polarität oder der Bewegung und Gegenbewegung, oder, mit dem Gleichnis, das er so gern gebraucht: des Einatmens und Ausatmens. Eigentlich scheint dies in einer gewissen Fremdheit, ja Unverträglichkeit neben dem Prinzip der Kontinuität zu stehen. Aber wenigstens andeutungsweise zeigt sich auch hier die großartige Fähigkeit des Goetheschen Geistes, die Herrschaft eines Prinzips auch gerade an seinem Gegensatz aufzuweisen, indem eine höhere Bedeutung und Kraft seiner die Relation zwischen ihm selbst und diesem Gegensatz übergreift. Er habe seit langem gewünscht, schreibt er, den Begriff der Polarität in die Farbenlehre einzuführen. Denn dadurch fühle er sich imstande, ,, die Farbenlehre an manches Benachbarte anzu- schließen und mit manchem Entfernten in Reihe zu stellen". Die Erscheinungskreise also, deren jeder in sich dem Gesetze der Polarität Untertan ist, werden durch diese Formgleichheit ein- ander zugeordnet, so daß sie sich nach den Maßen, in denen sie dies Gesetz offenbaren, in die Kontinuität eine R e i h e zu schlie- ßen vermögen.

Alle Dinge also leben in einer unaufhörlichen Entzweiung mit sich selbst und mit anderen, die sich unaufhörlich versöhnt, um sich wieder zu spalten: ,,Der mindeste Wechsel einer Bedingung, jeder Hauch manifestiert gleich in den Körpern Polarität, die eigentlich in ihnen allen schlummert." Ein Inhalt, ein Zustand,

6*

84 Innere Gegensätzlichkeit

ein Geschehen fordert seinen Gegensatz und diese Spannung oder Altemierung offenbart eben dasselbe Leben, das sich im nächsten Augenblick als Einheit der Gegensätze dokumentiert; er be- stimmt Polarität als die Erscheinung „des Zwiefachen, ja Mehr- fachen in einer entschiedenen Einheit". Darum ist ihm der Magnetismus von größter Wichtigkeit, als ein ganz reines Beispiel der ,, Entzweiung, die doch wieder nur eine Vereinigung ist". Dies ist ihm ,,ein Urphänomen, das unmittelbar an der Idee steht und nichts Irdisches über sich erkennt". ,,Das Geeinte zu ent- zweien, das Entzweite zu einigen ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Dia- krisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind." Auch ist es ihm klar, was für unsern Zusammen- hang das wesentliche ist daß hiermit ein Organisierungs-, ein Lebens prinzip für die Masse des Daseienden gegeben sei. Aus Kants Theorie der Anziehung und Abstoßung als Wesen der Materie, so berichtet er, sei ihm ,,die Urpolarität aller Wesen hervorgegangen, welche die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen durchdringt und belebt". Als künstlerisches Organisationsprinzip hat ihm die Polarität von vornherein gedient, indem die wichtigsten seiner Dichtungen in je einem Paar von Männern die Polaritäten der menschlichen, genauer, der männ- lichen Natur in ihr Zentrum stellen: Weislingen-Götz, Wer- ther-Albert, Clavigo-Carlos, Faust-Mephisto, Egmont-Oranien, Orest-Pylades, Tasso- Antonio, Eduard- der Hauptmann, Epime- theus-Prometheus. Dies setzt sich in das Individuum selbst fort, indem eine Äußerung seines hohen Alters die Urbestandteile unsres Wesens ausschließlich aus Gegensätzen bestehen läßt: ,, Unser Geist scheint zwei Seiten zu haben, die ohne einander nicht bestehen können. Licht und Finsternis, Gutes und Böses, Hohes und Tiefes, Edles und Niedriges und noch so viele andere Gegen- sätze scheinen, nur in veränderten Portionen, die Ingredientien der menschlichen Natur zu sein." Endlich in das ganz Intime hinein und in negativem Ausdruck: ,, Wirst du deinesgleichen kennen lernen, So wirst du dich gleich wieder entfernen." Dieses Wirklichkeitsverhältnis wendet sich in das Verhalten der Be-

Über-relative Einheit 85

trachtung: „Jedes Existierende ist ein Analogen alles Existieren- den; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit ge- sondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere Mal als getötet." Und damit zeigt sich nun die Einheit gleichsam in höherer Instanz. Sie legt sich nicht nur in Gegensätze und polare Getrenntheiten ausein- ander, mit dieser Korrelation sich in latentem Zustand zeigend und in der Wiedervereinigung sich aktualisierend; sondern Ent- zweiung und Vereinigung sind selbst Pole und Pendelschwin- gungen der höchsten, innigsten Lebenseinheit! Antithesis und Synthesis sind die Momente der eigentlichen und absoluten Synthese, die absolute Einheit von Dasein, Leben, Seele steht über der relativen, die ihre Ergänzung, ihr Korrelat in der Antithesis findet. Hiermit erst ist Spinoza wirklich überwunden nicht im Sinne von Abwendung und Widerlegung, sondern durch Gewinn der höheren Stufe. Solange Entzweiung und Einung sich sozu- sagen als Parteien gegenüberstehen, zwischen denen die Ent- scheidung pendelt, wird die Einung einen gewissen Wertakzent haben, als wäre sie das eigentlich Definitive, zu dem das Außer- einander, die Differenziertheit hinstrebt. Hier wird die Spinozi- stische, auf das absolute Eins gehende und die Vielheit im Letzten ausschließende Tendenz immer im Vorteil sein. Anders aber, wenn Getrenntheit und Einheit selbst wieder als die differenzierten Momente einer höheren Einheit: des Lebens selbst vorgestellt werden, wenn jene beiden selbst nur wieder eine Vielheit sind, durch die oder in der das Leben pulsiert, in deren Spannung und Wechsel es seine Einheit vollzieht.

Hier wie sonst werden sich die Elemente seiner Weltanschauung nach demselben Gesetz erwachsen zeigen, das sein persönliches Leben formt. Aber hier wie sonst handelt es sich nicht um einen Egomorphismus, bei dem das Phänomen, das der Mensch sich selbst bietet, die Art, wie er sich subjektiv anschaut, ihm zum Modell seines Weltvorstellens wird. Vielmehr: die objektive, wesenhafte Kraft, die das ,, Persönliche" seines Charakters und

86 Subjektive Polarität

seines Erlebens in die Erscheinung ruft, formt auch seine Intellek- tualität, bestimmt den Brechungswinkel, mit dem die Objekte in ihn einstrahlen und zum Weltbild zusammengehen. Die Ver- bindung stellt sich also bei Goethe nicht gleichsam nachträglich und durch direkte Beeinflussung zwischen den gegeneinander selbständigen Faktoren der Subjektivität und der objektivischen Betrachtungsweise her, sondern beide sind analog, weil sie einer letzten Wurzel entwachsen sind. ,,Ist das ganze Dasein", sagt er, ,,ein ewiges Trennen und Verbinden, so folgt auch, daß die Menschen im Betrachten des ungeheuren Zustandes auch bald trennen, bald verbinden werden." Ganz zweifellos meint er damit nicht die Kopie des gegebenen Daseins in dem dazu- kommenden menschlichen Betrachten, sondern daß dieses Gesetz des ,, ganzen Daseins", da ,,die Menschen" ja in diesem befaßt sind, ihre Betrachtung ebenso gestalten muß, wie deren Gegen- stände gestaltet sind. So also hat die Systole und Diastole, deren Wechsel ihm als Weltformel erscheint, auch sein subjektives Dasein rhythmisiert. Es lag in seinem Wesen, wie er selbst und andere es aussprachen, von einem Extrem ins andere umzu- springen: ,,Wie oft sah ich ihn schmelzend und wütend in einer Viertelstunde", berichtet Stolberg im Jahre 76. In einer Äuße- rung, mehr als zwanzig Jahre später, erscheint die Spaltung seines Wesens sozusagen mehr formal und ihr Wechsel mit dessen Einheitlichkeit tritt hervor: die Philosophie lehre ihn mehr und mehr, sich von sich selbst zu scheiden, ,,das ich um so mehr tun kann, als meine Natur, wie getrennte Quecksilber- kügelchen, sich so leicht und schnell wieder vereinigt". Ersicht- lich aber werden nicht nur die Perioden der inneren Getrenntheit einfach von denen der Vereinigtheit abgelöst, sondern Getrennt- heit und Vereinigtheit bilden zusammen wieder eine Periode, eine Pendelschwingung des tiefsten Lebens, zusammengehalten von dem Gefühl einer Lebenseinheit, die die Vielheit und die Einheit als relative Gegensätze gleichmäßig dominiert. Ja sogar das Schicksal half durch die Art des Menschen, mit denen es ihn zusammenführte, diese Formel vollstrecken. Naturen wie Herder, der Herzog, die Stein machten ein ganz kontinuier-

Gleichgewicht ^ 87

liches, in dem gleichen Nähemaß verbleibendes Verhältnis schwer möglich; in all diesen Beziehungen war zwar wohl ein ,,Urphänomen" enthalten, allein dies lebt sich in einem häufigen Wechsel von Angezogen- und Abgestoßenwerden aus, von Sympathie und Verstimmung, von Gefühl des Zusammen- gehörens und empfundener Distanz. Antithesis und Synthesis sind bei ihm nicht definitive Parteien; wie sich vielmehr in ihnen nur eine höchste Lebenssynthese auseinander- und wieder zusammenlebt, deutet schon eine jugendliche Äußerung über Wieland an: er liebe ihn und er hasse ihn das sei eigent- lich eins er nehme Anteil an ihm. Jene höchste Einheit kann sich nicht unmittelbar, sondern nur in der Rhythmik relativer Synkrisis und relativer Diakrisis zeigen wie der Rh3rth- mus überhaupt die einfachste Form ist, die Entgegengesetzt- heit von Akzenten als Einheit zu begreifen und sein Geheimnis darin hat, daß in seiner Wechselgestalt ein Höheres, in keinem seiner Elemente Aufgehendes, lebt; was die wunderbare Rhyth- mik des Goetheschen Lebens als ganzen, mit seiner fast regel- mäßigen Periodik von Sammlung und Zerstreuung offenbart.

Die Polarität aber weist von sich aus endlich auf die Form- idee hin, mit der ich diesen Umriß der Goetheschen Kategorien der Weltanschauung beschließe: auf das ,, Gleichgewicht". Alle diese Ideen oder Maximen finden ihren Generalnenner in der Einheit und bilden (dies wird nachher tiefer zu begründen sein) gewissermaßen deren Ausstrahlungen in die Welt der Be- sonderheiten und des an diese geknüpften Lebens oder, in der andern Richtung gesehen, die ideellen Kanäle, durch die diese Besonderheiten und durch- und gegeneinander spielenden Le- bendigkeiten der Welt in deren geheimnisvoll-göttliche Einheit zurückfließen. Muß dieses nun, seinem Begriffe nach, als das Absolute, in keine Relation Hineinziehbare bezeichnet werden, so ist Gleichgewicht jedes Wesens in sich das relativistische Symbol jener Einheit, mit ihm spricht sich diese in der Sprache der in lauter Relationen lebenden Welt aus. Welche Einzel- gestaltungen aber unter den Begriff des Gleichgewichtes, als einer ebenso wirklichen wie idealen Form des lebendigen Daseins,

/.

88 Das Optimum der Existenz

gehören, ist nicht ganz einfach zu bestimmen; denn hier kann sein Sinn immer nur ein vermittelter oder symbolischer sein, da sein anschaulich-unmittelbarer, als etwas rein Mechanisches, nicht in Frage kommt. Goethe hat offenbar die Vorstellung gehabt, daß jedem Wesen ein bestimmtes Maß von Kraft, Vitalität, Be- deutung, oder wie man die innere Lebenssubstanz nennen mag, zugeteilt ist, ein Maß, das eine gewisse Schwankungsbreite und innerhalb dieser ein Optimum besitzt. Wo nun die Verteilung der Eigenschaften und Betätigungen eines Wesens dieses Op- timum, die für das Wesen ,, richtige" Lebenssumme darbietet, da befinden sich die einzelnen Elemente im ,, Gleichgewicht". So faßt er das Wesen der Organisation auf: ,, Siehst du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug Irgend gegönnt, so frage nur gleich: wo leidet es etwa Mangel anderswo? Finden wirst du sogleich Zu aller Bildung den Schlüssel." So ungleich also auch die Entwicklung der Organe oder Kräfte bei unmittelbarem Gegen- einanderhalten erscheinen mag, so läßt sie doch das Wesen im Gleichgewicht, insofern dies nur die verschiedene Verteilung eines konstanten Vitalitätsquantums bedeutet während es aller- dings in Disharmonie fällt, sobald die Einheit dieses Quantums sich nicht durch die Diskrepanzen der Organe hindurch verwirk- lichen kann. Es kommt nicht darauf an, ob er für dieses Verhält- nis überall das Wort Gleichgewicht gebraucht; sondern darauf, daß der Sache, der innerlich wirksamen Realität nach, diese Kategorie für ihn besteht, als gestaltende, ordnende, wert- bestimmende Form in seiner Weltanschauung. Daß zwei Organe oder Funktionen sich im Gleichgewicht befinden, ist ihnen un- mittelbar nie anzusehen; denn es gibt für sie, als lebendige, keine Wage und keinen Meterstab, an dem ihre Größen sich miteinander konfrontieren ließen. Das Gleich-Gewichtige an ihnen ist, daß das eine in seinem bestimmten Maße genau so wichtig für die Gesamtexistenz des Wesens ist, wie das andere; anders ausgesprochen: daß bei gegebenem Maße des einen diese Gesamtexistenz und ihr Optimum entscheidet, welches Maß dem andern zukommt. Jenes durch ,, besondern Vorzug" bezeichnete Organ des Geschöpfes befindet sich mit dem ,, Mangel leidenden"

Gleichmaß der vitalen Entgegengesetztheiten 89

dennoch im Gleichgewicht, weil sie in Hinsicht des Dienstes, den sie beide üben, gleichmäßig richtig, gleichmäßig wichtig sind; dies ist die innere Harmonie des Organischen. Sie ist der Aus- druck für die Maße, die die Elemente eines Wesens bewahren müssen, wenn aus ihnen die Vollkommenheit und Einheit dieses Wesens erwachsen soll. Daß ein derartig sinnvolles Verhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen des Lebendigen die quanti- tativen Proportionen der letzteren bestimme, ist eine in Goethes Weltbild allenthalben bemerkliche Idee. Aber sie erscheint bei ihm allerdings noch in andrer, von der bisherigen Voraus- setzung abweichender Form.

Die einander entgegengesetzten Bestimmtheiten des Lebendigen, so sagte ich, haben keinen gemeinsamen Maßstab, an dem sich ihre Ausgeglichenheit objektiv feststellen ließe; es müsse viel- mehr der Zustand des Wesens als Einheit entscheiden, von welchem Maße der einen das gegebene Maß der andern richtig balanciert würde. Über diese gewissermaßen subjektivische Norm geht Goethe aber zu einer objektiveren Idee des Gleich- gewichts über: indem er nun doch eine unmittelbare Meßbar- keit für den Sachgehalt jener Bestimmtheiten voraussetzt. Vielleicht jedes Wesen, mindestens aber der Mensch (nur für diesen gelten die hier heranzuziehenden Äußerungen) steht seiner Idee nach gleichsam im Mittelpunkte vieler Linien, deren jede diesseits und jenseits seiner in einem absoluten Pol abschließt. Er hat seine richtige Stellung immer zwischen zwei einander entgegengesetzten Extremen; und der Punkt dieses ,, Gleich- gewichts" wird nicht, wie es vorhin schien, durch sein sonst gegebenes Lebensoptimum bestimmt, so daß er bei den ver- schiedensten Lagen auf jenen Linien noch immer der richtige sein könnte; sondern umgekehrt, nur die objektiv gleiche Distanz von dem einen und dem andern Pol bestimmt seine Richtigkeit. So also : „Wiege zwischen Kälte Und Überspannung dich im Gleichgewicht." Eine andere Polarität, jetzt in negativem Ausdruck:

,,Unsrer Krankheit schwer Geheimnis

Schwankt zwischen Übereilung

Und zwischen Versäumnis."

90 Das „Mittiere"

Aus dem Ethischen erweitert sich dies zu allgemeiner geistiger Norm; „Wie wir Menschen in allem Praktischen auf ein gewisses Mittleres angewiesen sind, so ist es auch im Erkennen. Die Mitte, von da aus gerechnet, wo wir stehen, erlaubt wohl auf- und abwärts mit Blick und Handeln uns zu bewegen! Nur Anfang und Ende erreichen wir nie, weder mit Gedanken noch Tun, daher es rätlich ist, sich zeitig davon loszusagen." Im ganz Per- sönlichen (aber mit unverkennbarer Andeutung eines Typischen) spricht er einmal gelegentlich des Verhältnisses zu zwei Freunden von ,,dem Allgemeinen, das mir gemäß war" und charakteri- siert dies als ein Mittleres, da von diesem aus der eine ganz in das Einzelne ging, der andre ganz in ein Allgemeinstes, ,, wohin ich ihm nicht folgen konnte". Der Aristotelische Gedanke, die Tugend sei immer ein Mittleres zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig, scheint hier in sehr vertiefter Gestalt aufzuleben. Denn während Aristoteles jede objektive und überindividuelle Be- stimmung dieser ,, Mitte" ausdrücklich ablehnt, steht offenbar vor Goethes Augen ein ideeller, geistig-sittlicher Kosmos, auf dessen Mittelpunkt der Mensch angewiesen ist (um andre Wesen mag sich ein andrer bauen) vielleicht von dem Gefühle aus, daß wir die Totalität des Daseins doch am weitesten beherrschen, wenn wir uns in ihrer Mitte halten. In ein Extrem schwingend mögen wir nach dieser einen Seite ins Weite und Weiteste ge- langen; aber dies muß mit so großer Einbuße an der entgegen- gesetzten Richtung bezahlt werden, daß in der Schlußbilanz der Verlust den Gewinn überwiegt. Hier zeigt sich der tiefste Sinn jener ,, Ausgeglichenheit", die, wenn nicht die Wirklichkeit, so doch die Norm des Goetheschen Lebens gewesen ist, und die dem oberflächlichen Blick als Kühle erschienen ist, als Versicherung gegen die Gefahr der Extreme, als die ,, goldene Mittelstraße" des Philisteriums, als Harmonisierung um jeden Preis und aus einem ästhetisierenden und wohlweisen Klassizismus heraus. In Wahrheit gibt das von ihm gepriesene und erstrebte ,, Gleich- gewicht", das ,, Mittlere", den Punkt der Souveränität an, von dem aus die Gebiete des Lebens am weitesten beherrschbar, seine Kräfte am vollkommensten verfügbar sind: ein Herrscher

Aufnehmen, Verarbeiten, Entladen 91

pflegt auch nicht an der Grenze seines Landes, sondern, aus den entsprechenden Gründen, möglichst in seinem Zentrum zu residieren. Indem ihm das objektive und das subjektive Sein in Polaritäten auseinandergeht und dieses freilich schon ein ideell einheitliches Formprinzip bezeichnet, zieht sich dies sozusagen praktisch in den beiden Bedeutungen des ,, Gleichgewichts" noch einmal zu großen Maximen zusammen: dem Vitalitäts- maß, das jedem Wesen nach seiner Grundform, seinem Typus eignet und das sich gleichmäßig durch alle Formverschiebung seiner Organe hindurch erhält und der menschlichen Ange- wiesenheit auf das , »Mittlere", als auf die zentrale Position, von der sich nach den jeweils entgegengesetzten Polen des Lebens ein Maximum beherrschten und bereicherten Gebietes spannt. Gehen diese Formen und Normen des Lebens weit über allen schematischen und billigen Sinn der ,, harmonischen Existenz" hinaus, so finden nun auch sie in der Gestalt seines persönlichen Daseins ihr Symbol und eine tiefe Fundamentierung. Goethes Existenz wird durch das glücklichste Gleichgewicht der drei Richtungen unsrer Kräfte charakterisiert, deren mannigfaltige Proportionen die Grundform jedes Lebens abgeben: der auf- nehmenden, der verarbeitenden, der sich äußernden. In diesem dreifachen Verhältnis steht der Mensch zur Welt: zentripetale Strömungen, das Äußere dem Inneren vermittelnd, führen die Welt als Stoff und Anregung in ihn ein, zentrale Bewegungen formen das so Erhaltene zu einem geistigen Leben und lassen das Äußere zu einem empirischen, zu unsrem Ich-Besitz werden, zen- trifugale Tätigkeiten entladen die Kräfte und Inhalte des Ich wieder in die Welt hinein. Wahrscheinlich hat dieses dreiteilige Lebens- schema eine unmittelbare physiologische Grundlage, und der seelischen Wirklichkeit seiner harmonischen Erfüllung ent- spricht eine gewisse Verteilung der Nervenkraft auf diese drei Wege ihrer Betätigung. Beachtet man nun, wie sehr das Über- gewicht eines derselben die anderen und die Gesamtheit des Lebens irritiert, so möchte man ihre wundervolle Ausgeglichen- heit in Goethes Natur als den physisch-psychischen Ausdruck für deren Schönheit vmd Kraft ansehen. Er hat innerlich so-

92* Gleichgewicht in der Lebenskonfiguration

zusagen niemals vom Kapital gezehrt, sondern seine geistige Tätigkeit war fortwährend von der rezeptiven Hinwendung zur Wirklichkeit und allem, was sie bot, genährt; seine inneren Be- wegungen haben sich nie gegenseitig aufgerieben, sondern seine ungeheure Fähigkeit, sich nach außen hin handelnd und redend auszudrücken, verschaffte jeder die Entladung, in der sie sich völlig ausleben konnte: in diesem Sinne hat er es so dankbar hervorgehoben, daß ihm ein Gott gegeben hat, zu sagen, was er leidet. Und ganz verallgemeinert und in die Idee des Menschen- lebens überhaupt, von der hier die Rede ist, hinüberweisend: ,,Der Mensch erfährt und genießt nichts, ohne sogleich produktiv zu werden. Dies ist die innerste Eigenschaft der menschlichen Natur. Ja, man kann ohne Übertreibung sagen, es sei die mensch- liche Natur selbst." In den mannigfaltigsten, auch negativen Formen, ist in seiner persönlichen Lebenskonfiguration das ,, Gleichgewicht" nach jenen beiden Bedeutungen zu erkennen, als Verteilung einer konstanten Dynamis auf objektiv sehr ver- schieden entwickelte Betätigungsweisen und als Gewinn eines zentralen Punktes von entschiedenster Herrschaft gegen- über den polar erstreckten Interessengebieten. So, wie er angesichts der Lücken seiner Begabung die Totalität und Aus- geglichenheit seines Wesens wenigstens ideell herstellt: ,,Ich hörte mich anklagen, als sei ich ein Feind der Mathematik über- haupt, die doch niemand höher schätzen kann als ich, da sie gerade das leistet, was mir zu bewirken völlig versagt worden.** ,,Je weniger mir eine natürliche Anlage zur bildenden Kunst geworden war, desto mehr sah ich mich nach Gesetzen und Regeln um; ja ich achtete weit mehr auf das Technische der Malerei, als auf das Technische der Dichtkunst; wie man denn durch Verstand und Einsicht dasjenige auszufüllen sucht, was die Natur Lückenhaftes an uns gelassen hat." Und nach der andern Seite hin: ,,In den hundert Dingen, die mich interessieren, konstituiert sich immer eins in der Mitte als Hauptplanet und das übrige Quodlibet meines Lebens treibt sich indessen in viel- seitiger Mondgestalt umher, bis es einem und dem andern auch gelingt, gleichfalls in die Mitte zu rücken." Er fühlte sich sozu-

Beweglichkeit und Balance 93

sagen immer im Mittelpunkte seiner Existenz. Er selbst deutet öfters an, wie leicht sein Geist in die eine oder andre Tendenz oder Interessiertheit hineinglitt, jedesmal damit gleichsam ein besonderes Geistesorgan ausbildend, und wie leicht er von diesen einseitigen Bewegtheiten sich wieder zu Zentralität und Gleich- gewicht zurückfand. Es ist damit angedeutet, wie wenig dies Gleichgewicht ein starres und irgendwie mechanisches war; es war vielmehr ein lebendig labiles, aus fortwährender Verschiebung fortwährend neu zu gewinnendes wie er denn dauernd und noch einmal kurz vor seinem Ende sich rühmt, daß er ,,sich leicht wieder- herstellte*', freilich in Verbindung damit und vielleicht bedingt dadurch , daß er ,, heiter entsage". Gerade daß er sich dauernd ent- wickelte, sich stets auf dem Wege zu einem idealen inneren Ziel be- fand, ließ ihn seinen Zustand in jedem Augenblick als einen ,, mitt- leren" empfinden. Vielleicht gilt dies sogar für die tiefste und breiteste Entwicklung seines Lebens, für den Übergang von der subjekti vischen Jugend zu dem objektivischen Alter. Daß er gerade in seinen ganz späten Jahren noch einmal von Shake- speare als von dem ,, höheren Wesen" spricht, an das er nicht heranreiche, mag sich darauf gründen, daß Shakespeare die ab- solute, das Subjekt ganz ablösende Objektivität besitzt, zu der er sich, in so unerhörtem Maße er sie auch erworben hatte, seinem eigenen Gefühl nach immer erst auf dem Wege fand. Damit freilich hatte er auch zu dieser Objektivität wieder eine Distanz, er sah auch seine Objektivität objektiv an, gerade wie seine Subjektivität. Gerade mit der rast- losen evolutiven Bewegung von einem Pol zum andern gewann er das stets verschobene und in dieser Verschiebung sich als lebendiges bewahrende Gleichgewicht, das den Reichtum des subjektiven und den des objektiven Daseins aufs harmonischste zusammenschloß.

Diesen ganzen Lebensprozeß dominierte das Glück seiner Natur mit ihrer einzigen Vereinigung von Beweglichkeit und Balance: daß jene großen Richtungen, in denen das Weltleben des Menschen steht, die zentripetale, zentrale und zentrifugale völlig gleiche Kräfte in die Labilität seines Lebens einzusetzen hatten. Er

94 Die lebendige Einheit

hat die Welt gleichsam ohne Stockung durch sich hindurch- geleitet, das Gleichgewicht seines inneren Daseins war nichts anderes als das Gleichgewicht in seiner aufnehmenden und ab- gebenden Beziehung zur Welt. Und so wird er das Gleichgewicht nicht als eine kosmische Idee statuiert haben, weil er es zufällig in seinem Subjekt besaß; sondern dieser Besitz war nur die Innen- seite seines Lebensverhältnisses zur Welt und erst damit der Rechtstitel dazu, einen persönlichen Zustand zur Maxime des Weltverständnisses zu machen.

Betrachtet man nun diese einzelnen Kategorien in dem Zu- sammenhang der Weltanschauung, die sich mittels ihrer erbaut, so können sie alle als die Hülfen eines einzigen strukturellen Motivs gelten. An der Basis jener Weltanschauung steht die Idee der Einheit; Goethe ist der eminent synthetische Geist, in dessen Natur, wie er selbst sagt, ,, Trennen und Zählen nicht lag". Diese Einheit aber in ihrer logischen Absolutheit, für die alle Unterschiede und alle Mannigfaltigkeit verschwinden, ist das Starre und Unfruchtbare, bei dem alles Denken auf- hört; denn es hat, weil keine Unterschiede, auch keine Inhalte und ist das leere abstrakte Sein überhaupt. Diese Bedeutung und Konsequenz der ,, Welteinheit" sieht Goethe vor sich und alles kommt für ihn darauf an, ihr zu entgehen; er kann seiner ganzen Natur nach mit einer starren und logischen Einheit nichts anfan- gen, sondern nur mit einer lebendigen nur daß das Lebendige, als ein Vielfaches, Bewegliches, innerlich Unterschiedenes nicht zugleich mit der absoluten Einheit denkbar scheint! Alle jene großen Maximen oder formalen Ideen sind nun die Mittel, um die Welt einheit als lebendige vorstellen zu können ; da- mit erweitert sich eine vorherige Ausführung zum Fundament der Weltanschauung in ihrer Gesamtheit. Es ist das große Pro- blem: wie kann die Welt, diese mannigfaltig reiche, in Gegensätze differenzierte, in unendlichen Entwicklungen bewegte sein und doch Einheit ? Welches sind die Arme, die sie ausstreckt, um das Einzelne aus seiner Buntheit und Zerspaltenheit heraus in sich ein- zuziehen, ohne ihm doch diese Besonderung und Bewegtheit zu rauben , die das Leben als solches bedingen welches die allgemeinen.

Mittler 95

kategorialen Formen der Weltinhalte, durch die sie gleichsam der Welteinheit erlebbar werden? Durch die ganze Geschichte der philosophischen und der religiösen Weltdeutungen zieht sich dieses Bedürfnis: Vermittlungen aufzufinden zwischen dem Einen, das der Gedanke oder die religiöse Sehnsucht setzte, und dem unübersehbar Vielfältigen der Einzelheiten. Als Ideen oder Emana- tionsstufen, als Hierarchie der Heiligen oder Materialisationen der Gottheit, als Kategorien oder Schemata immer scheinen Gebilde vonnöten, die sozusagen mit ihrer einen Seite dem Absoluten und Einen, mit ihrer anderen dem Besonderen und Vielfältigen zuge- wandt sind, die als Mittler an beiden Naturen Anteil haben. Sie üben immer die gleiche Funktion, mögen sie metaphysischen, ideellen oder erkenntnistheoretischen Wesens sein, mögen sie dem Einen noch unmittelbar anwohnen oder nur an den singulären Erscheinungen aufzeigbar oder gleichsam halbwegs zwischen beide Pole gesetzt sein. In diese Reihe gehört, was ich hier als Maximen oder Ideen behandle, die für Goethe ,,die Idee" an den Erscheinungen sichtbar machen, den Zusammenhang des Einzel- nen mit der Welteinheit gewährleisten und eben damit die Richtig- keit der Erkenntnis, die sie an den Phänomenen erschaut. Nur daß sie für Goethe nicht nur zwischen den logischen Gegensätzen des Einen und des Vielen vermitteln, sondern zwischen der ruhenden Absolutheit des Einen und dem Leben, der bewegten Vielfältigkeit der gegebenen Welt. Darum müssen die Dinge schön sein, um wahr zu sein, müssen die Teile des einzelnen in lebendiger Wechselwirkung zusammengeschlossen sein, müssen die Erschei- nungen in polarem Sich-Entsprechen aufeinander hinweisen, müssen sie, mit aller Selbständigkeit, doch in kontinuierliche Reihen anzuordnen sein, müssen sie allenthalben zum Gleich- gewicht streben und erst mit seiner Erreichung ihr Sein vollenden. Alles dies sind Formen der angeschauten Erscheinungen, durch die sie, unmittelbar oder symbolisch, ihre Lebendigkeit, das Diffe- renzierungs- und Wechselwirkungsspiel ihrer Individualitäten, als in der absoluten Einheit des Ganzen zusammengehalten zeigen. Schönheit wie Polarität und Gleichgewicht, Organisiertheit und Kontinuität bringen dem Einzelnen Erlösung aus seiner Einzelheit.

96 Das Leben und das Eine

ohne es doch in die logische Starrheit des bloßen ununterschiedenen Eins sinken zu lassen. Sie sind die wahren „Mittler", indem sie sich nicht mit irgendeiner metaphysischen Realität zwischen das Eine und die Summe der Einzelheiten schieben und dadurch, wie so viele der sonst behaupteten Träger der gleichen Funktion, ebenso trennen wie verbinden sondern sie sind der an den Einzelheiten selbst anschauliche Beweis, daß ,,die Idee", das Gött- liche, die übergreifende Einheit in ihnen besteht; sie sind die For- men, die die Kluft zwischen dem Einen und dem Leben verschwin- den machen, in demMaße ihrer Verwirklichung offenbart sich, daß die All-Einheit lebt und daß das Leben eine Einheit ist.

Viertes Kapitel.

Getrenntheit der Weltelemente.

Die große Synthese der Goetheschen Weltanschauung kann man damit charakterisieren : daß die Werte, die das Kunst- werk als solches konstituieren, mit der Welt des Wirklichen durchgehende, formale und metaphysische Gleichheiten und Einheitlichkeiten besitzen. Ich hatte als die fundamentale Über- zeugung dieser Weltanschauung die Ungetrenntheit von Wirklich- keit und Wert bezeichnet, und dies als die Voraussetzung des Künstlertums überhaupt. Ein Künstler mag die Welt als noch so kontraideal ansehen, seine Phantasie mag sich noch so gleichgültig oder abstoßend gegen alle Wirklichkeit verhalten; seine Welt- anschauung ist dann pessimistisch, chaotisch, mechanistisch und wird nicht von seinem Kunst 1er tum gestaltet. Wenn sie aber im positiven Sinne künstlerisch ist, so kann dies nur besagen, daß die Reize und Bedeutsamkeiten der künstlerisch geformten Erscheinung in irgend einer Art, nach irgend einer Dimension hin schon in der naturhaft dargebotenen Erscheinung bestehen. Es scheint doch auch, als ob alle Künstler Naturanbeter wären in so partieller, auf einzelne Gebiete beschränkter, durch wunderliche Vorzeichen bestimmter Form dies sich auch offen- bare, und obgleich manche Erscheinungen der Gegenwart eine Wendung hierin vorzubereiten scheinen, die aber auch, wenn sie sich durchsetzte, die radikalste je dagewesene Revolution des Kunstwollens bedeuten würde. Goethe indes hat jedenfalls jenes Verhältnis in der umfassendsten und reinsten Konsequenz entwickelt, indem ihm die Schönheit zum Kennzeichen der Wahrheit wird, die Idee in der Erscheinung anschaulich, ein Letztes und Absolutes, das hinter der Kunst liegt, auch das Letzte und Absolute der Wirklichkeit ist. " Vielleicht ist dies

Simmel, Goethe. 7

98 Wirklichkeit und Wert

das entscheidende Motiv für ihn, sich einen „dezidierten Nicht- Christen" zu nennen. Denn das Christentum hat, mindestens in seinen asketisierenden Richtungen, Wirklichkeit und Wert aufs weiteste auseinandergerissen, mehr selbst als die indische Weltanschauung. Denn so radikal diese auch die Wirklichkeit von jeglichem Wert entblößt, so wird dies, für unsern Zusammen- hang, dadurch wieder aufgehoben, daß der Wirklichkeit hier gar keine konkrete Daseinsbedeutung zuerkannt wird: wo alle Wirklichkeit nur Traum und Schein, also eigentlich Unwirklich- keit ist, da fehlt genau genommen das Subjekt, dem der Wert abgesprochen werden könnte. Erst die härtere Denkart des Christentums hat die Welt gleichsam in ihrer vollen Drei- dimensionalität und Substanz bestehen lassen und ihr dennoch jeden Eigenbestand an Wert genommen: sei sie nun Jammertal und Teufelsdomäne, seien ihr ihre Werte durch Gnade vom Jenseits her verliehen, sei sie der Ort der Sehnsucht und der Vorbereitung für das Überirdische, den Ort der Werte. Alle drei Formen des christlichen Verhältnisses zur natürlichen Wirklichkeit müssen Goethe gleichmäßig widerstehen ihm, dem die Natur ,,die gute Mutter" ist, der zwar oft genug von göttlicher Gnade spricht, aber immer im Sinne eines der Wirk- lichkeit immanenten Gottes, ja, der die Gottseligkeit frommer Menschen als ,,eine Gnade der Natur", die sie ,,mit einer solchen Zufriedenheit versorgt" habe, betrachtet. In einem Grunde der Dinge, zu dem von ihrer Oberfläche her mindestens ein kontinuierlicher Weg führt, ist ihm, im Gegensatz gerade zu allem christlichen Dualismus, Wirklichkeit und Wert identisch. Ist dies nun der metaphysische Ausdruck seines Künstlertums (oder vielleicht : der Ausdruck einer letzten Beschaffenheit seines Daseins, die durch sein Künstlertum hindurch wirkte), so ist damit von der zeitlichen Entwicklung, den Abweichungen und dem labilen Spiel der Elemente abgesehen, durch all welches diese zeitlose Formel getragen und verwirklicht wird. Denn diese Verwirklichung, als eine historisch -psychologische, ist immer nur relativ und besitzt in den Schicksalen der Zeit nicht die Reinheit und Einheit der ,,Idee", als welche ich sie bisher

Variierende Synthesen 99

hinstellte wofür sein kühnes, immer zu wiederholendes Wort von dem Gesetze gilt, von dem die Erscheinung nur Ausnahmen zeigt. Diese Doppelheit des kategorialen Vorstellens fordert jedes große Leben: die durchgehende oder darüberstehende Idee, die gewissermaßen ein Drittes jenseits des Gegensatzes von abstraktem Begriff und dynamischer Realität darstellt, und das in mannigfaltigem Abstand davon, in unendlicher Annäherung daran sich zeitlich vollziehende Leben und Wirken. Vielleicht gehört jedes Leben unter diese zwei Gesichtspunkte; aber als ein großes bezeichnen wir eben das, dessen Betrachtung sie unvermeidlich und entschieden gegeneinander spannt, in dem seine Idee und deren seelisch -lebendige Realisierung je ein Ganzes sind. Vielleicht ist diese notwendige methodische Sonde- rung des Betrachtens das Symbol für die zeitlose, metaphysische Tragödie der Größe, von der all ihre zeitlichen Tragödien nur Spiegelungen in der Form des Schicksals sind. Ich wende mich nun jenem zweiten Aspekt seines geistigen Weltbildnertums zu: den variierenden Synthesen, den hin- und herspielenden Relationen und Abständen der Elemente, in deren Einheit uns bisher die sozusagen absolute Idee seines Weltdenkens bestand.

Fragt man so nach der näheren Formel, in der jenes schließlich einheitliche ideelle Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit sich bei ihm vollzieht, so zeigt sich sogleich, daß darauf keine eindeutige Antwort möglich ist. Nicht nur in seinen ver- schiedenen Epochen, sondern in einer und derselben begegnen ganz unvereinbare Äußerungen über jenes Verhältnis; ja daß es seinen prinzipiellsten und letzten Überzeugungen nach ein unbedingt enges, in irgend einer Wurzel vereinheitlichtes war das ist vielleicht, so paradox es klingt, der Grund für die Divergenz seiner Deutungen. Denn wie eine höchst enge Be- ziehung zwischen zwei Menschen einen Wechsel von Innigkeit und Verstimmung, Verlegungen des Schwerpunktes, ja die Chance von Bruch und Versöhnung eher mit sich bringen wird, als ein fremderes, das sich viel leichter in dem einmal gegebenen Charakter und Temperatur halten läßt so werden in einem Geist gerade zwei unbedingt aufeinander angewiesene Begriffe

100 Entwicklung der Kunsttheorien

besonders dazu neigen, eine Fülle divergenter Beziehungs- schicksale zu durchleben. Drei prinzipielle Verhältnisse zwischen Natur und Kunst scheinen mir in Goethes Äußerungen abzu- wechseln, und zwar so, daß in jeder der drei Lebensepochen: der Jugend, der von der italienischen Reise dominierten mittleren Zeit und dem Alter je eines hervortrat. Es wird sich zeigen, daß seine jeweilige Kunsttheorie zu den sonstigen Charakterzügen der betreffenden Epoche durchaus harmonisch ist; dennoch gebe ich dies Entwicklungsgeschichtliche ausdrück- lich als Hypothese, um so mehr, als gerade in dieser Frage Goethe gewisse Erkenntnisse, die einer späten und reifen Zeit angehören, in einer viel früheren, mit dieser fast zusammen- hangslos, aufleuchten läßt mit derselben Unbegreiflichkeit und, sozusagen, Zeitlosigkeit des Genies, wie das gleiche bei Rembrandt und bei Beethoven geschieht.

Über sein jugendliches Verhältnis zu Kunstwerken in der Leipziger Zeit berichtet er später: ,,Was ich nicht als Natur ansehn, an die Stelle der Natur setzen, mit einem bekannten Gegenstande vergleichen konnte, war auf mich nicht wirksam." Die natürliche Wirklichkeit und der künstlerische Wert bestehen hier für ihn in einer naiv undifferenzierten Einheit, die er aus- schließlich von der Seite der ersteren her sieht. In den Briefen aus der Schweiz von 1775 gesteht er, an einem wundervollen Aktbild weder Freude noch eigentliches Interesse fühlen zu können, da er von der Wirklichkeit des menschlichen Körpers kein rechtes anschauliches Bild habe. Die geistesgeschichtlichen Motive, die ihn auch einem dichterischen Naturalismus zutrieben, sind bekannt genug. Die seelische Lage aber, die diese ganze Tendenz unterbaute, scheint mir durch seine Charakterisierung seiner Jugendepoche als eines ,, liebevollen Zustandes" ange- deutet. Das überquellende Herz des Jünglings, wie jede seiner Äußerungen es verrät, wollte die ganze Welt in sich einziehen und sich der ganzen Welt hingeben. Es gab keine Wirklich- keit, die er nicht mit Leidenschaft umfaßte, mit einer Leiden- schaft, die sozusagen nicht vom Gegenstand entzündet wurde, sondern wie spontan aus seiner Lebensfülle hervorbrach und

Jugendliches Verhältnis zur Wirklichkeit 101

sich auf den Gegenstand stürzte, sozusagen bloß weil er da war. In seinem 26. Jahre schreibt er, daß der Künstler nur die Schönheiten, ,,die sich in der ganzen Natur zeigen", ,,die Gewalt dieser Zauberei", die um Wirklichkeit und Leben weht, besonders kräftig und wirksam spüre und ausdrücke. ,,Die Welt liegt vor ihm wie vor ihrem Schöpfer, der in dem Augen- blick, wo er sich des Geschaffenen freut, noch alle die Har- monien genießt, durch die er sie hervorbrachte und in denen sie besteht." Es scheint mir unzweifelhaft: in dieser Epoche liebt er die Wirklichkeit nicht, weil sie ihm Idee und Wert entgegenträgt, sondern er sieht dies in ihr, weil er sie liebt. Dies typische Verhalten des Jünglings gegenüber der geliebten Frau wird von seinem Lebensüberschuß zu einer Welterotik gesteigert. Weil aber diese erste Form der Unge- trenntheit von Wirklichkeit und künstlerischem Wert er sagt später, daß seine Gedichte vom Anfang der zwanziger Jahre ,,die Kunstnatur und die Naturkunst enthusiastisch ver- künden" — noch keine feste Synthese bedeutete, sondern nur vom Subjekt herkam, das sehnsüchtig war, einen ungeheuren Reichtum zu verschenken, so können die Akzente gelegentlich auch ganz anders fallen. Zwei Jahre vor der letztangeführten Äußerung liegt die ganz abweichende: ,,Wenn die Kunst auch wirklich die Dinge verschönerte, so tue sie das doch nicht nach dem Beispiel der Natur. Denn diese ist Kraft, die Kraft ver- schlingt ; tausend Keime zertreten ; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten. Der Mensch befestigt sich gegen die Natur, ihre tausendfachen Übel zu vermeiden und nur das Maß von Gutem zu genießen, bis es ihm endlich gelingt, die Zirkulation aller seiner Bedürfnisse in einen Palast einzuschließen, sofern es möglich ist, alle zerstreute (!) Schönheit und Glück- seligkeit in seine gläsernen Mauern zu bannen." Aber mit einer wunderbaren Antizipation erhebt er sich noch in dem- selben Jahre über den ganzen Gegensatz: ob in der Kunst nur

102 Kunst als Bildungstrieb

die natürliche Wirklichkeit, die überall schön sei, bestehe und wirke, oder ob sie eine Schönheit, die die Natur nicht gegeben habe, sich aus eignem Recht zum Zweck setze: ,,Sie wollen euch glauben machen, die schönen Künste seien entstanden aus dem Hang, den wir haben sollen, die Dinge rings um uns zu verschönern. Das ist nicht wahr! Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist, und doch so wahre, große Kunst, ja, oft wahrer und größer als die schöne selbst. Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich tätig beweist, wann seine Existenz gesichert ist. Und laß diese Bildnerei aus den willkürlichsten Formen bestehen, sie wird ohne Gestalts- verhältnisse zusammenstimmen, denn eine Empfindung schuf sie zum charakteristischen Ganzen." Dies ist wohl eines der tiefsten Erkenntnisse über die Kunst: daß sie nicht einem eudämonistischen Triebe zur Schönheit entspringe, sondern dem Schaffensdrange, der ,, bildenden Natur" in uns, die gestalten will; verwandt der platonischen Diotima, die den Eros, ganz jenseits aller Begierde des Genießens, auf unsern Wesenstrieb stellt: zu erschaffen und in Gebilden außerhalb unser selbst, körperlichen und seelischen, unser Sein zeugend zu erhalten. Es findet seine Ergänzung in der Vorstellung, die sich in den Gedichten dieser Jahre wenn auch nicht mit der gleichen Deutlichkeit empordrängt: daß es die Kraft der Natur und ihres ,, Urquells" sei, die in den ,, Fingerspitzen" des Künstlers gerade diesen Ausdruck liebt er jetzt schöpferisch hervor- bricht. Freilich ist die ,, Natur" in dieser frühen Periode noch im rein dynamischen Sinne verstanden, als ein Drängendes, Quellendes aber noch nicht als die Einheit der Gestaltungen, noch nicht als Ort der ,,Idee"; Leben und Wirklichkeit mußte sich erst stärker gegeneinander spannen, damit unter dem Einfluß Italiens und der Klassik ein vertiefter Begriff von der Natur, als dem eigentlich Formenden auftrete und auf dieser Voraussetzung die Schönheit des Kunstwerks sowohl die Vollendung des Menschen wie die der Wirklichkeit außer ihm offenbare. Sein jugendlicher Naturalismus entsprang dem Gefühl einer Kraft, die etwas Subjektives war, in das Gefühl ihres ungebrochenen

Leben über der Schönheit 103

Könnens Natur und Kunst einschloß und damit die Welt ergriff. Diesem Stande seines Künstlertums entspricht die Briefstelle: „Sieh, Lieber, was doch alles Schreibens Anfang und Ende ist: die Reproduktion der Welt um mich, durch die innere Welt, die alles packt, verbindet, neuschafft, knetet und in eigener Form, Manier wieder hinstellt." Nirgends erscheint hier die Schönheit, der spezifisch ästhetische Wert, als der für sich bestimmende, entscheidende Leitbegriff. Und dies würde der inneren Attitüde seiner Jugend auch ganz widersprechen. Nicht, weil diese Kategorie etwas zu Zartes und Stilles wäre, um dem stürmischen Draufgängertum dieser Periode genugzutun; dies wäre gar zu äußerlich. Sondern weil seine Jugend ein späteres Kapitel wird dies ganz ausführlich darstellen von einem Ideal des persönlichen Seins als ganzen, der menschlichen Totalität als Einheit erfüllt war. Hier war die Schönheit etwas Einseitiges, Differenziertes, sie konnte nicht Führerin und letzte Instanz für die unmittelbare Ganzheit dieser Existenz und dieser Idealbildung sein, die sozusagen vor aller Synthese lag, weil die Elemente, in deren Synthese sein späteres Leben verfloß, über- haupt noch nicht auseinandergetreten waren. Es war das Stadium der sozusagen unkritischen, subjektiven Einheit von Wirklichkeit und Wert; denn die Strömung dieses Lebens riß das in ihr geformte künstlerische Ideal ohne weiteres in ihre Einheit mit, und indem sie sich selbst als stärkste, unmittel- barste Wirklichkeit fühlte, erfüllte sie dieses Ideal ganz mit Wirklichkeitsgehalt. Gerade darum konnte die Idee der Schön- heit, die der Wirklichkeit gegenüberstände, zwar aufkommen, aber nicht als gleichberechtigte Partei mit jener ein ernsthaftes Gegnertum bilden.

In den Weimarer Jahren bis zur italienischen Reise ver- schiebt sich dieses Grundverhältnis, seine Elemente werden gegen- einander problematisch und drängen nach einer neuen, prinzi- pielleren, fundierteren Einheit. In spätem Rückblick bezeichnet er die entscheidende Voraussetzung der ganzen Neubildung des Verhältnisses: er habe eine Reihe unvollendeter poetischer Ar- beiten nach Weimar mitgebracht, ohne an ihnen fortfahren zu

104 Dissonanz

können; „denn da der Dichter durch Antizipation die Welt vorwegnimmt, so ist ihm die auf ihn losdringende wirkliche Welt unbequem und störend ; sie will ihm geben, was er schon hat, aber anders, daß er sichs zum zweiten Mal zueignen muß." Man weiß, welche ungeheuren Forderungen, nur durch das selbst- loseste Aufgebot all seiner Kräfte zu erfüllen, durch die wei- marischen Zustände an ihn gestellt wurden. Man kann wohl sagen, daß ihm erst hier die Wirklichkeit in ihrer ganzen Sub- stanzialität, ihrer Härte, ihrer Eigengesetzlichkeit entgegentrat, die Wirklichheit sowohl des menschlichen Daseins und seiner Relationen, wie die der Natur; denn jetzt setzen auch gleich die naturwissenschaftlichen Interessen, zum Teil durch amtliche Pflichten provoziert, bei ihm ein. Die Gestaltungskraft seines Geistes, bisher ausreichend, seine Welt zu schaffen und deshalb einem Antagonismus ihrer Elemente keinen Raum gebend (trotz aller subjektiven Leiden und Ungenügsamkeiten), fand jetzt erst die Welt als eigentliche Realität vor und zunächst ganz unver- meidlich als ,, unbequeme und störende". Daß die Dinge, deren Gehalt und Bedeutsamkeit der Dichter freilich „durch Antizi- pation" in sich trägt, nun in der Form der Realität dastanden, das eben stellte an ihn jene Forderung einer ganz neuen An- eignung. Die Lebensstruktur, die sich daraufhin zunächst aus- bildete, war: daß seine innerste Persönlichkeit, dasjenige, was er als den Träger der eigentlichsten Werte empfand, sich ganz in sich selbst zurückzog. Die Tagebücher vom Ende der sieb- ziger und Anfang der achtziger Jahre sprechen das auffallend oft aus, z. B. : ,,Das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse und gewinne " ,>War zugefroren gegen alle Menschen." Dazu die häufige Betonung des ,, Reinen" als seines Ideals, offenbar in dem Sinn, daß gegenüber der kon- fusen Wirklichkeit um ihn herum die inneren Werte abgesondert und unvermischt bestehen sollten. Die Beziehung zu Frau von Stein spricht nicht dagegen ; denn er sagt dauernd, sie sei eben der einzige Mensch, gegen den er ganz offen sein könne, er hat sie gewissermaßen in den Kreis seines Ich mit hineingezogen. Natürlich hielt sich diese Lebenstendenz nicht ohne Schwankungen

Sehnsucht nach Geinzheit 105

(wie eben überhaupt keine seiner Epochen in begrifflich-einheit- ' lichem Charakter verläuft); er spricht gelegentlich von „einer Liebe und Vertrauen ohne Grenzen, die ihm zur Gewohnheit geworden sind" aber er schreibt doch: „Gleichmut und Rein- heit erhalten mir die Götter aufs schönste, aber dagegen welkt die Blüte des Vertrauens, der Offenheit, der hingebenden Liebe täglich mehr." Es kann kein Zweifel sein, daß der wesent- lichen Labensstimmung nach Wirklichkeit und Wert sich ihm allmählich immer weiter gegeneinander spannten. Das Ver- sagen der poetischen Produktion war hiervon ebenso eine Wir- kung wie eine Ursache. Denn so lange jene bestand und dominierte, war er von einer ihm sicheren Welt umgeben, die von den inneren und künstlerischen Werten geformt war; sobald sie stockte, schob sich sogleich die Wirklichkeit vor und offenbarte ihre Fremdheit gegen diese Werte. Indem beides immer weiter auseinander trat, indem ihm die Möglichkeit, die tiefsten Be- dürfnisse seiner Natur an irgend einem Geschauten, einem Wirk- lichen, befriedigt zu finden, immer hoffnungsloser fernrückte entstand jene fürchterliche Spannung seines ganzen Wesens, zu deren Lösung ihm sein glücklicher Instinkt die italienische, die klassische Welt anbot ; diese Sehnsucht war ihm, v/ie er aus Rom schreibt, ,,die letzten Jahre eine Art Krankheit, von der mich nur der Anblick und die Gegenwart heilen konnte." Nichts anderes als diese Zerrissenheit der Wesenselemente, auf deren Einheit der letzte Sinn seiner Existenz gestellt war, kann er meinen, wenn er dem Herzog in dem entscheidenden Briefe über seine Reiseabsicht nur das eine begründende Motiv mit- teilt: er wünsche, ,, seine Existenz ganzer zu machen". Und dann, aus der Erfüllung, dreiviertel Jahre später: ,,Ich habe glückliche Menschen kennen lernen, die es nur sind, weil sie ganz sind das will und muß ich nun auch erlangen, und ich kann's." Von anderer Seite gesehen, war jener Lebenssinn, war das Glück seines Daseins dies, daß sein innerlichst Er- zeugtes, aus dem Eigensten seines Lebens Hervordrängendes und Notwendiges sein Gegenbild und seine Bestätigung in der Objektivität von Idee, Anschauung, Wirklichkeit fand zum

106 Erfüllung in Italien

mindesten so, daß seine künstlerische Schöpferkraft eine Welt, die dies leistete, vor ihn, um ihn herstellte. Diese vitale Har- monie hatten die Weimarer Jahre mit ihrem verworrenen Klein- kram, ihren nordischen Häßlichkeiten, ihrer dichterischen Steri- lität zerrissen; indem Italien sie wiederherstellen sollte, stellte es ihn wieder her. Eine Notiz aus sehr viel späterer Zeit lautet: „Suchet in euch, so werdet ihr alles finden, und erfreuet euch, wenn da draußen, wie ihr es immer heißen möget, eine Natur liegt, die Ja und Amen zu allem sagt, was ihr in euch selbst gefunden habt." Dies war die ,, Natur", die er in Italien suchte, die ihm die beruhigende Gewißheit gab, daß sein innerstes Wesen kein vom Weltwesen losgerissenes, auf metaphysische Einsam- keit angewiesenes Atom war. Und sie konnte ihm das leisten, weil er in ihr die Versöhnung auch des objektiven Risses : zwischen der Wirklichkeit und der Idee, zwischen dem Dasein und dem Werte, als eine anschauliche, künstlerisch vollbrachte wiederfand. Goethe ist damit die reinste und wirkungsvollste Darstellung eines Phänomens geworden, das in der ganzen Kulturgeschichte der Menschheit einzig und unver- gleichbar ist : des Nordländers in Italien. Der nordische Mensch, der seine Existenz in Italien nicht auf die dort für die Fremden zurechtgemachte Welt beschränkt und durch das internationale Nivellement der großen Straße hindurch zu dem wirklichen ita- lienischen Lebensboden dringt, fühlt eine Lockerung der festen Kategorien, der Schachtelungen und Abgestempeltheiten, aus denen unsrem Leben so viel Härte und Zwang kommt; aber nicht im Sinne bloßer Befreiung, wie jede Reise sie gibt, sondern das wunderbare Geflecht von Geschichte, Landschaft und Kunst, sowie die Mischung von Lässigkeit und Temperament im ita- lienischen Volk bieten ein ebenso reiches wie nachgiebiges Material für jegliche individuelle Gestaltung des Tages und des Lebens. Die Äußerung Feuerbachs : Rom weist jedem diejenige Stelle an, für die er berufen ist drückt dies nur in positiver, sozusagen etwas gewalttätigerer Art aus. Diese eigentümliche Befreiung, die sogleich an gegebenen Werten aktiv werden kann imd die naturgemäß nicht der Italiener selbst, sondern nur der

Ethische Wirkting 107

Fremde in Italien gewinnt, hat durch Goethe ihre klassische Prägung gefunden. Jetzt belehrt ihn eine erfahrene Wirklich- keit und eine zur Kunst erhobene Wahrheit, daß die ideellen Werte des Lebens nicht außerhalb des Lebens selbst zu stehen brauchen, wie „der grauliche Tag hinten im Norden" sie ihm schließlich zu zeigen schien und wie es in der Philosophie Kants gewissermaßen monumentalisiert wurde.

Denn nicht nur von einer künstlerischen und allgemein existenziellen, sondern insbesondre noch von einer ,, sittlichen Wiedergeburt", die Goethe in Italien erlebt hätte, ist die Rede. Dies an andrer Stelle behandelte Lebensideal, das in der Vollendung der naturgegebenen Individualität als solcher besteht, erhaben über die begrifflich fixierbaren Gegensätze von Gut und Böse und die ganze Lebensspannung zwischen ihnen einschließend dieses Ideal ist von vornherein in Goethes Attitüde zum Dasein angelegt und hat sicher in Italien nur Klarheit und Festigkeit gewonnen; denn auch hierin liegt ein ,, Ganzerwerden" des Menschen. Allein die spezifische Leistung Italiens für seine moralischen Anschauungen kann ich darin nicht sehen und möchte diese eher um mehr als eine hypothetische Deutung kann es sich hier nicht handeln in die ethische Wertung verlegen, die das Sinnliche bei ihm gewonnen hat. Gerade die für Goethes Lebensanschauung charakteristische Bedeutung des Sinnlichen überhaupt ist eine Schwierigkeit für ihre Deutung; denn der zweifältige Sinn, in dem wir das Wort zu nehmen pflegen : einmal als eine Rezeptivität, der Welt als Vorstellung angehörig, eine den Dingen anhaftende oder auf sie übertragene Qualität, ein andermal als eine Impulsivität, der Welt als Wille angehörig, ein begehrliches, das sich am Genuß der Dinge be- friedigen will diese beiden Wortsinne hält Goethe nicht getrennt. Wie ihm Einatmen und Ausatmen das Symbol der Einheit von Entgegengerichtetheiten ist, so scheint er die Ein- heit des Wortes Sinnlichkeit zu benutzen, um die innige Zu- sammengehörigkeit von Anschauen und Begehren, von Ob- jektivem und Subjektivem in unserem Verhältnis zum Dasein auszudrücken. Wie ihm nun die so verstandene Sinnlichkeit

108 Sinnlichkeit und Sittlichkeit

keinen Gegensatz gegen die ,, theoretische Vernunft" bildete, wie er vielmehr diesen rationalistischen Wertunterschied leiden- schaftlich bekämpfte, so konnte sie ihm, nach der andern Seite, sich nicht prinzipiell feindlich gegen die ,, praktische Vernunft" stellen. Es entwickelt sich daraus auf der andern Seite ein Begriff des Sittlichen, der das Moralische im engeren Sinne umfaßt. Man könnte es etwa die im Gefühl, seinem Bleiben- den und seinem Wechselnden, zum Bewußtsein kommende Zuständlichkeit des ganzen inneren Menschen nennen. Indem hier die Beschränkung des Begriffs auf jenes nur Praktisch- Moralische aufgehoben ist, vielmehr das auch aus sich nicht heraustretende Sein die Kategorie des Sittlichen erfüllt, gewinnt diese Platz für den Begriff der Sinnlichkeit ; jene eigentümliche, so bezeichnete Einheit, die für Goethe die gemeinsame Wurzel oder Substanz der objektiv wahrnehmenden und der subjektiv begehrenden ,, Sinnlichkeit" ist, wird von dem weiten Sinne des Sittlichen umfaßt; dafür ist das Kapitel der Farbenlehre : ,, Sinn- lich-sittliche Wirkung der Farbe" durchaus geschieden von dem andern: ,, Ästhetische Wirkung" ein unvergleichlicher Beleg. Aber dieses generelle Verhältnis zeigt in Goethes Lebens- anschauung noch eine gewisse Zuspitzung, die für das Aus- einander und Ineinander von Wirklichkeiten und Werten sehr bedeutsam ist; entscheidend ist dafür eine Stelle im Meister: „Man tut nicht wohl, der sittlichen Bildung einsam, in sich selbst verschlossen, nachzuhängen; vielmehr wird man finden, daß derjenige, dessen Geist nach einer moralischen Kultur strebt, alle Ursache hat, seine feinere Sinnlichkeit mit auszu- bilden, damit er nicht in Gefahr komme, von seiner moralischen Höhe herabzugleiten, indem er sich den Lockungen einer regel- losen Phantasie übergibt." Anderswo meint er sogar, zu den ,,drei erhabnen Ideen : Gott, Tugend und Unsterblichkeit" gäbe es, »offenbar drei ihnen entsprechende Forderungen der höheren Sinnlichkeit: Gold, Gesundheit und langes Leben." In Dichtung und Wahrheit tadelt er ,,die Absonderung des Sinnlichen vom Sittlichen, die die liebenden und begehrenden Empfindungen spaltet." Mit alledem ist also die große Idee einer Steigerung

Moral der Seinstotalität 109

und Vollendung des Sinnlichen in sich selbst angedeutet (offen- bar immer in jenem Einheitssinne seiner beiden Bedeutungen), die ethischen Wertes ist; sie gipfelt in dem späten Satze: ,,Nur das Sinnlich-Höchste ist das Element, worin sich das Sittlich- Höchste verkörpern kann." Und es widerspricht dieser Idee nicht, sondern bekräftigt sie, wenn er für manche Fälle das Sinnliche den Herrschaftsanspruch des Sittlichen entschieden ab- lehnen läßt denn wenn die Sinnlichkeit schon durch Formung und Erhebung ihrer selbst dem weitesten Sinn des Sittlichen zugehört, so kann sie diesem nicht noch einmal untergeordnet werden. Den sinnlichen Charakter der Künste allenthalben hervorhebend, spricht er es der Musik und allen Künsten über- haupt ab, „auf Moralität zu wirken", und besonders über die Bühne sei es ein großer Irrtum, ,, diese der höheren Sinnlichkeit eigentlich nur gewidmete Anstalt für eine sittliche auszugeben die lehren und bessern könnte." Das ist das Originelle und Tiefe dieses Standpunktes : daß es dem Sinnlichen durch seine sittliche Selbständigkeit verboten oder erlassen ist, zum bloßen Mittel für das Sittliche zu werden. Wie ihm im Objektiv-Meta- physischen die naturgegebene Wirklichkeit (im Gegensatz zum Christentum) nicht als das an sich Wertlose erscheint, das allen- falls vom Werte her zu dessen Vorstufe und Mittel gemacht werden könnte, sondern wie sie in sich, von sich aus, das Wertvolle ist, so ist ihr subjektives Gegenbild, die Sinnlichkeit, nicht von der Sittlichkeit her, die ihr an sich fremd sei, mit deren Werte zu erfüllen, sondern sie enthält an und für sich und von dem gleichen Urquell her diesen Wert. Und die Rein- heit dieses Erkenntnisses scheint mir in den Kreis seiner ita- lienischen Errungenschaften zu gehören. So wenig er ja, wie ich schon sagte, einen prinzipiellen Dualismus zugegeben hätte, so scheinen doch die letzten Jahre vor Italien die sinnlich- sittliche Ganzheit seines Wesens mit mehr als einer Spaltung durchschattet zu haben. Vor allem wohl durch das Verhältnis zu der verheirateten Frau, in dem, wie es sich auch gestalte, immer nur eine Seite des Dualismus zu ihrem Rechte kommen konnte und das sich in den letzten Jahren durch die Eifersucht

110 Harmonie

Charlottes sozusagen noch einmal für ihn in der gleichen Richtung spaltete. In Italien scheint sich dies alles nun geklärt und zum erstenmal prinzipiell zurechtgerückt zu haben; nach wenigen Monaten schreibt er: ,,Wie moralisch heilsam ist mir es dann auch, unter einem ganz sinnlichen Volke zu leben." Der Kon- flikt löste sich wie alle inneren Gegnerschaften dieses Lebens: nicht durch Unterdrückung einer Partei oder Kompromiß zwischen beiden, sondern durch das Zurückgreifen auf die Grundeinheit seines Wesens, deren Wert ihm der Wert schlecht- hin war und die diesen in alle noch so auseinander strebenden Zweige seines Weltverhältnisses einströmen ließ. Die Kantische Moral hat wohl das Schicksal der meisten Menschen ausge- sprochen, wenn sie das Sinnliche und Leidenschaftliche gegen die Forderung der Pflicht kämpfen läßt (, »Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden Bleibt dem Menschen nur die bange Wahl"), was denn schließlich entweder einen unbefriedigten Dualismus oder eine Verarmung hinterläßt. In Goethe aber kämpfte es gegen die Forderung der Harmonie, der ausgeglichenen Totalität des Lebens wie er sich ja auch nicht scheut, von einer Übertriebenheit des Moralischen zu sprechen, eine für Kant völlig unausdenkbare Vorstellung und darum konnte der Sieg hier ein vollkommener sein, weil der Feind selbst in die Einheit der schließlich gewonnenen Form einbegriffen ist; was sich denn auch als der Sinn all seiner Entsagungen und Selbstüberwindungen zeigen wird. Vielleicht gehört es zu dem Providenziellen dieses Schicksals, daß ihm Sinnlichkeit und Sittlichkeit einmal aus- einander zu brechen drohten damit ihm Italien seine Ganzheit, aber nun auf höherer, bewußterer, differenzierterer Stufe wieder- geben konnte, das heißt: daß er im Sinnlichen dieselbe Wert- strömung der Lebenseinheit fließen fühlte, die das Sittliche trug. Ein Satz vom März 88 faßt es zusammen: ,,In Rom hab ich mich selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir selbst, glücklich und vernünftig geworden."

Für die Entwicklung des Verhältnisses aber zwischen dem ästhetisch geformten Wert und der Wirklichkeit, die in Italien ihre zweite entschiedene Periode erfuhr, ist nun vor allem die

Schönheit als Natur 111

griechische Kunst und nächst ihr die der Hochrenaissance be- stimmend gewesen. Goethes allgemeines Verhältnis zur Antike bedarf, als jedermann bekannt, hier keiner Darstellung; wenn uns heute die klassische Welt weniger als die durchgehende Verwirklichung eines einheitlichen Ideales erscheint, dieses Ideal selbst nicht mehr als absolutes, sondern als historisch eingegrenztes, neben das andere Zeiten ihre abweichenden Be- dürfnisse gleichberechtigt stellen, wenn wir der griechischen Kunst Mannigfaltigeres und wohl auch Tieferes entnehmen, als Goethe, der von Originalen der wirklich hohen Kunstepoche so gut wie nichts kannte so sei darüber die ungeheure Kulturleistung seines ,, Klassizismus" nicht vergessen. Daß er der deutschen Bildung diese Vorstellung vom Griechentum als einen fast ein Jahrhundert lang unbestrittenen und innerlich wirksamen idealischen Besitz einprägte (und das geht auf ihn, nicht auf Lessing und Winckelmann zurück) das bleibt eine der erstaunlichsten kulturellen Kraftleistungen, auch wenn, und vielleicht gerade wenn diese Vorstellung historisch irrig und ästhetisch einseitig war. Die Leistung der Antike aber für jenes Wert t^ Wirklichkeits- Problem war, daß er in ihr eine Naturwahrheit im höchsten Sinne fand, die die künstlerischen Werte unmittelbar einschloß; daß die Natur, in ihrer vollen Wahrheit also jenseits aller zufälligen Einzelheiten und ein- seitigen Äußerlichkeiten erfaßt, schöne Natur sei; daß also in der Schönheit Wirklichkeit und Kunst ihren realen Kon- vergenzpunkt besäßen. Von einer ,, Nachahmung" der Natur durch die Kunst, die nur von Oberfläche zu Oberfläche führt, ist jetzt nicht mehr die Rede; ausdrücklich wird das Kunst- verständnis, das ihm durch die Griechen gekommen sei, der Nachahmung auch der ,, schönen" Natur entgegengesetzt. Er sieht ein, daß jene künstlerischen Genien aus dem Grunde der Natur heraus schaffen, d. h. aus einer Wesenstotalität, die die- selbe ist, wie der ,,Kern der Natur", der ja doch „Menschen im Herzen" ist. Die Technik, durch die dies sozusagen aktua- lisiert wird, ist natürlich ein unermüdliches Studium der ge- gebenen Natur in ihren Erscheinungen; und in dem Maße, in

112 Die klassische Ganzheit

dem es gelingt, ist das Werk „schön": ,,Der bildende Künstler, so schreibt er ganz spät, muß sich zuerst an der kräftigen Wirklichkeit vollkommen durchüben, um das Ideale daraus (!) zu entwickeln, ja zum Religiösen endlich aufzusteigen". Denn das Schönheitsideal wohnt weder einem Transzendenten hinter der Natur ein, noch einem Singulären in Isoliertheit gegen das ganze Sein, sondern derjenigen Erscheinung, in der die einheit- liche Ganzheit des natürlichen Seins zum Ausdruck kommt. Wie im psychologischen Symbol drückt Goethe diese tiefste Bedeutung des Schönen in dem Satze aus: ,, Wer die Schönheit erblickt, fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Über- einstimmung".

Die drei Elemente also : Natur, Kunst, Schönheit wurden ihm durch die Erfahrung von der Klassik auf eine neue Weise zu- sammengebracht. ,, Indem der Mensch, schreibt er später in der reifsten Zusammenfassung seiner klassisch -künstlerischen Bildung, auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat." Zuhöchst sei das Kunstwerk ein solcher. ,, Indem es aus den gesamten Kräften sich entwickelt, so nimmt es alles Herrliche in sich auf." Und dies geschehe vor allem bei den Griechen. Hiermit und sonst oft bezeichnet er den zentralen Punkt: daß bei den Griechen sich ,, sämtliche Eigenschaften gleichmäßig vereinigten". Der Grieche erschien ihm als der ganze Mensch, als die in sich ungebrochene Natur worüber wir freilich heute vielfach anderer Meinung sind; aber die Idee der Ganzheit, deren Ersehnung ihn nach Italien trieb, ist ihm sozusagen zum Apriori geworden, nach dem er die ihn beeindruckendste und beglückendste Erscheinung deuten mußte. Eben diese harmonische Totalität, mit der das Dasein sich abrundet und Schönheit erzeugt, weil jene eben selbst Schönheit ist war es, was ihn an Rafael entzückte. Er drückt diesen in Italien gewonnenen Eindruck später so aus, daß bei Rafael Gemüts- und Jatkraft in entschiedenem Gleich- gewicht stünden, die glücklichsten inneren und äußeren Um- stände in Harmonie mit dem unmittelbaren Talent. „Er grä-

Das Einzelne, die „Idee", die „Natur" 113

zisiert nirgends, fühlt, denkt, handelt aber wie ein Grieche." Die Griechen bringen ihm den Gesichtspunkt der Totalität des Menschen in sich und seiner Beziehung zur Natur an das Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst heran und damit die Schönheit, die von dieser Wurzel her beiden gemeinsam ist. Er spricht öfters von dem Nutzen seiner anatomischen Studien für das Verständnis der Kunst; indes käme man so doch nur dazu, den Teil zu kennen. „In Rom aber wollen die Teile nichts heißen, wenn sie nicht zugleich eine edle, schöne Form [d. h. ein Ganzes] darbieten." Die Ganzheit, die er für sein Leben und sein Weltbild suchte, war ja die von Wirklich- keit und Wert. Und nun trat ihm eine Kunst entgegen, die ihm, angesichts all der Barockformen und der leeren Schnörkel, die ihn bis dahin als das Ästhetisch-Anschauliche des täglichen Lebens umgeben hatten, als wahre, echte Natur erscheinen mußte und die die Schönheit nicht als etwas sozusagen Auf- geklebtes, Hinzugefügtes besaß, sondern von derselben Wurzel- tiefe her ihr zu eigen, in der ihre Naturhaftigkeit erwuchs. So gering die objektive Stilgleichheit des aktuellen italienischen Lebens und der griechischen Kunst sein mochte für die innere Lage und ihre Bedürfnisse, die Goethe nach Italien mit- brachte, leisteten sie ihm die gleiche Synthese seiner auseinander- getriebenen Lebenselemente.

Goethes Kunstbegriff wird durch dieselbe „mittlere" Stellung charakterisiert, die seinen geistigen Weltbegriff überhaupt be- stimmt: das Einzelne, in seiner sinnlich-zufälligen Unmittel- barkeit, das nur Gelegenheit zur Kopie, zu mechanischer Ähn- lichkeit gibt, ist ihm kein Gegenstand der Kunst ; ebensowenig aber die abstrakte geistige Form, die dem natürlichen Leben prinzipiell fremde Idee. Zwischen beiden steht der allmählich sich entwickelnde Begriff der ,, Natur" als des zugleich Wirk- lichen und Übereinzelnen, zugleich Konkreten und Ideellen. Man kann freilich seine frühe Periode als Naturalismus be- zeichnen, wobei aber Natur einen ganz andern Sinn hat, als in der gewöhnlichen realistischen Kunsttendenz. Es ist nämlich seine eigene Natur, die Natur im subjektiven Sinne, die sich,

Simmel, Goethe. 8

114 Kunst und natürliche Schönheit

die realen und die ideellen Formen manchmal gleichmäßig ver- gewaltigend, in Produktivität ausströmt: die Schöpfungen bilden nicht die Natur der Gegenstände nach, sondern die Natur des Schöpfers bildet sich in sie ein, und wenn auch jenes erstere stattfindet, so ist es, weil die leidenschaftliche Weltaneignung der Jugend in ihren Äußerungen wieder zum Vorschein kommt. Er objektivierte das, indem ihm die Natur die große zeugende Einheit war, die Mutter zu allen Kindern, die Kraft in seiner eigenen Kraft ; so daß er am Schluß des Hymnus an die Natur (c. 1781) sagt: ,,Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen." Hier ist also Natur, die vor allem Einzelnen steht und den Akzent des Künstlertums deshalb von aller realistischen ,, Nachbildung" wegrückt. Und eben dies letztere geschieht nun, von dem Eindruck der Griechen aus, durch einen Naturbegriff, der gleich- sam hinter dem Einzelnen steht. Jetzt handelt es sich um das Herausarbeiten einer Schönheit, die zwar eine wirkliche und lebendige ist aber diese Wirklichkeit und Lebendigkeit ihrer ist nicht mit dem sinnlichen Dasein eines singulären, empirischen Stückes Welt identisch, sondern offenbart sich erst in der Form der Kunst. »'fAus den Werken der klassischen Kunst, sagt er, lernen wir die Schönheit erst kennen, um sie an den Gebilden der lebendigen Natur gewahr zu werden und zu schätzen.**/ Diese Äußerung stammt aus einer Zeit, in der er die Ergebnisse Italiens in gesammelter Reflexion und neuem Hineinversenken überschaute. Seit jener Äußerung von 1775, nach der er ein Kunstwerk nicht genießen könnte, wenn er nicht durch die Kenntnis der entsprechenden Natur dazu an- geleitet würde, hat sich also eine vollkommene Drehung voll- zogen: jetzt wird ihm die Natur erst durch die Kunst zur Genießbarkeit interpretiert. Und was er uns im Werther heftig vorwirft: daß wir Kunst brauchen, um Natur als vollendet zu fühlen {,,Muß es denn immer gebosselt sein, wenn wir Teil an einer Naturanschauung nehmen sollen?") gerade das also preist er jetzt als die höchste Leistung der Kunst. Und nun schreibt er über die griechischen Plastiker: „Ich habe eine

Früherer und späterer Naturbegriff 115

Vermutung, daß sie nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt. Nur ist noch etwas anderes dabei, das ich nicht auszusprechen wüßte." Die Nachahmungstheorie ist hier überwunden, indem der Künstler sozusagen nicht nach dem fertigen Naturbild schafft, nicht einfach Äußeres in Äußeres überträgt, sondern wirklich schöpferisch, und nur nach den Gesetzen, die auch jenes Naturbild erwachsen ließen. Das ,, andere" aber, das noch ,, dabei" ist, scheint mir jene spätere Äußerung herausgebracht zu haben: zum Kunstwerk wirken jene Gesetze in solcher Reinheit und solcher Richtung, daß sie ausschließlich Schönheit erzeugen sei es, daß sie diese inner- halb der Wirklichkeitsform nur verstreut und zufällig, sei es, daß sie sie in ihr nur verborgen, dem nicht-künstlerischen Auge unauffindbar, produziert haben. Daß die Natur rein als solche sozusagen mehr ist als Natur, daß die Gesetze der realen Er- zeugungen wie durch rein immanente Steigerung zugleich die der Schönheit sind das ist das tiefste Fundament seiner späteren Äußerung: ,,Der Sinn und das Bestreben der Griechen (in der Kunst) ist, den Menschen zu vergöttern, nicht die Gott- heit zu vermenschlichen. Hier ist ein Theomorphism, kein Anthropomorphisml" Und noch einmal bricht in eben diesem Sinne, in einem zwischen der italienischen Reise und diesem Worte gelegenen Ausspruch die tiefe Fremdheit gegen alle christliche, dualistische Transszendenz heraus: ,, Antike Tempel konzentrieren den Gott im Menschen; des Mittelalters Kirchen streben nach dem Gott in der Höhe." Die Schönheit, die er jetzt auf eine neue Weise in der Natur sehen lernte, weil sie ihm, wie in einer Sublimierung, in der klassischen Kunst ent- gegentrat, rückte den jetzt gewonnenen Naturbegriff von dem früheren ab. Dies besagt eigentlich noch aus der Vorahnung heraus die Briefstelle vom Anfang der italienischen Reise: ,,Die Revolution, die ich voraussah und die jetzt in mir vor- geht, ist die in jedem Künstler entstand, der lange emsig der Natur treu gewesen und nun die Überbleibsel des alten großen Geistes erblickt, die Seele quoll auf und er fühlte eine innere Art von Verklärung sein selbst, ein Gefühl von freierem Leben,

116 Naturalismus und künstlerische Einheit

höherer Existenz, Leichtigkeit und Grazie." Und dann kann er, wo der Prozeß beinahe abgeschlossen ist, bei dem zweiten Aufenthalt in Rom schreiben: ,,Die Kunst wird mir wie eine zweite Natur." Sie war ihm früher wie die erste gewesen. Und als das Auseinanderbrechen von Wert und Wirklichkeit ihm offenbar auch das Verhältnis von Natur und Kunst proble- matisch gemacht hatte, bedurfte er der Leitung und Erleuchtung durch die Klassik, die die Natur als Schönheit zu deuten wußte : er meinte, die ,, Ganzheit" des griechischen Wesens zu spüren, durch diese mächtige Synthese offenbart und ihm zugeleitet, an der er nun die Ganzheit seines eigenen Wesens wieder aufbaute. Damit ist erst sein Kunst- und Schönheitsbegriff zu einer Höhe und Einheit gelangt, die alle Einzelheiten als solche dominiert, ihnen die Form gibt und damit alle Nach- ahmung erst prinzipiell überwindet gerade wie sein persön- liches Bewußtsein über das Chaos neben- und gegeneinander- stehender Einzelheiten, das ihm schließlich unerträglich geworden war, jetzt seine beherrschende Einheit gewann. Wenige Jahre nachher wendet er dies auch auf das Theater an und sagt gegen den naturalistischen Individualismus (der auch ein Ein- zelnes in seiner besonderen Wirklichkeit vorträgt, also dem Prinzip nach dasselbe ist wie die bloße Nachahmung eines Gegebenen): der Naturton auf der Bühne ,,ist zwar höchst er- freulich, wenn er als vollendete Kunst, als eine zweite Natur hervortritt, nicht aber wenn ein jeder glaubt, nur sein eigenes nacktes Wesen bringen zu dürfen."

Das dritte Stadium, in dem sich das Verhältnis zur Natur und Kunst, weiter gefaßt : von Wirklichkeit und Wert darstellt, ist nicht mit derselben Schärfe abzugrenzen und festzulegen, insbesondere nicht, weil die in Italien gewonnene Attitüde ja nie ausdrücklich verleugnet wird, auch nie verschwindet. Aber es scheint mir unverkennbar: der selbständige Wert der Kunstform, der sich, seiner ersten Epoche gegenüber, in Italien aufarbeitet, und der ihm hier zu einer neuen Deutung der Natur wird, an den Diskrepanzen des Daseins die Versöhnungsfunktion übt, eben damit in innigster Einheit mit der Natur selbst, in

Autonomie der Kunst 117

organischer, solidarischer Beziehung mit dem Wirklichen und seiner Gesetzlichkeit steht dieser Wert wächst über die so bestehende Verwebung mit den Wirklichkeitsinhalten in gewissem Maße hinaus ! Goethe hat, wie ich zeigte, in Italien mit voller Klarheit das Unkünstlerische der einfachen Abschrift des Wirk- lichen durchschaut, erkannt, daß die Kunst sozusagen das Ge- setz der Dinge, aber nicht die Singularität des Dinges zum Gegenstand habe. In zwei Äußerungen, die etwa zehn Jahre nach der Rückkehr aus Italien liegen, ist scheinbar nur dies aus- gesprochen, und doch spürt man darin, wie ihm das Kunst- prinzip noch weiter von der naturhaften Unmittelbarkeit ab- gerückt ist: ,,Die Kunst übernimmt nicht mit der Natur, in ihrer Breite und Tiefe zu wetteifern, sie hält sich an die Ober- fläche der natürlichen Erscheinungen; aber sie hat ihre eigne Tiefe, ihre eigne Gewalt: sie fixiert die höchsten Momente dieser oberflächlichen Erscheinungen, indem sie das Gesetzliche darin anerkennt, die Vollkommenheit der zweckmäßigen Pro- portion, den Gipfel der Schönheit, die Würde der Bedeutung, die Höhe der Leidenschaft". Der marmorne Fuß ,, verlangt nicht zu gehn ; und so ist der Körper auch, er verlangt nicht zu leben. Die törichte Forderung des Künstlers, seinen Fuß neben einen organischen zu stellen" usw. Und ein wenig früher sogar noch entschiedener : ,,Ich habe mehr als einen Wagenlenker alte Gemmen tadeln hören, worauf die Pferde ohne Geschirr dennoch den Wagen ziehen sollten. Freilich hatte der Wagen- lenker recht, weil er das ganz unnatürlich fand; aber der Künstler hatte auch recht, die schöne Form seines Pferdekörpers nicht durch einen unglücklichen Faden zu unterbrechen: diese Fiktionen, diese Hieroglyphen, deren jede Kunst bedarf, werden so übel von allen denen verstanden, welche alles Wesen natür- lich haben wollen und dadurch die Kunst aus ihrer Sphäre reißen." Und abermals zwanzig Jahre später: ,,Das Richtige in der Kunst ist nicht sechs Pfennige wert, wenn es weiter nichts ist". Er wird gegen die Unlauterkeit des Wettbewerbes zwischen Kunst und Wirklichkeit immer empfindlicher. 1825 spricht er von einer in einer Aula auszuführenden malerischen

118 Naturalismus des ,, Effekts"

Allegorie und fragt: Ist sie farbig, d. h. mit dem Schein des wirklichen Lebens dargestellt ? Als dies bejaht wird, fährt er fort: ,,Das würde mich stören. Eine Marmorgruppe an diesem Platze würde den Gedanken aussprechen, ohne in Konflikt zu geraten mit der Gesellschaft wirklicher Personen, die sie um- geben". Ich sprach oben von zwei ganz verschiednen Be- deutungen des Naturalismus. Der subjektive, vom Schöpfer her gemeinte, ist das unmittelbare Hervorsprudeln des persönlichen Zustandes, der persönlichen Erregung und Impulsivität, ohne daß ihr von einer Idee Formung käme; der objektive dagegen möchte die Kunsterscheinung zu möglichst ungeänderter Kopie der Wirklichkeitserscheinung machen. Nun gibt es aber noch eine dritte Tendenz, die man als naturalistische zu bezeichnen berechtigt ist : die den Zweck und Wert des Kunstwerks in den Effekt legt, den es im Aufnehmenden auslöst. Denn auch hier wird, wie in den beiden andern Fällen, eine Realität zum Maßstab und zur Quelle des Sinnes für das Kunstwerk der rein tatsächliche, als natürliches Ereignis geschehende Eindruck auf den Beschauer. Hat Goethe nun auf Grund der Klassik die beiden ersten Formen des Naturalismus überwunden, so wendet er sich später mit leidenschaftlicher Entschiedenheit auch gegen die dritte. Gegen Ende der Lehrjahre heißt es: ,,Wie schwer ist es, was so natürlich scheint, eine gute Statue, ein treffliches Gemälde an und für sich zu beschauen, den Gesang um des Gesanges willen zu vernehmen, den Schauspieler im Schauspieler zu bewundern, sich eines Gebäudes um seiner eignen Harmonie und seiner Dauer willen zu erfreuen. Nun sieht man aber meist die Menschen entschiedne Werke der Kunst geradezu behandeln, als ob es ein weicher Ton wäre. Nach ihren Neigungen, Mei- nungen und Grillen soll sich der gebildete Marmor gleich wieder ummodeln, das festgemauerte Gebäude sich ausdehnen oder zu- sammenziehen, ein Gemälde soll lehren, ein Schauspiel bessern. Die meisten Menschen reduzieren alles zuletzt auf den so- genannten Effekt." Auf dieser Basis steht die außerordentlich tiefe Kritik des Dilettanten vom Jahr 99: ,,Weil der Dilettant seinen Beruf zum Selbstproduzieren erst aus den Wirkungen

Innere Vollendetheit der Kunst 119

der Kunstwerke auf sich empfängt, so verwechselt er diese Wirkungen mit den objektiven Ursachen und meint nun den Empfindungszustand, in den er versetzt ist, auch produktiv zu machen ; wie wenn man mit dem Geruch der Blume die Blume selbst hervorzubringen dächte. Das an das Gefühl Sprechende, die letzte Wirkung aller poetischen Organisationen, welche aber den Aufwand der ganzen Kunst selbst voraussetzt, sieht der Dilettant als das Wesen derselben an und will damit selbst her- vorbringen." Und noch später schreibt er ganz prinzipiell: ,,Die Vollendung des Kunstwerks in sich selbst ist die ewige unerläßliche Forderung. Aristoteles, der das Vollkommenste vor sich hatte, soll an den Effekt gedacht haben! Welch ein Jammer!" Hat er die Kunst zuerst von jedem terminus a quo unabhängig gemacht, sowohl von dem subjektiven wie von dem objektiven, um sie ganz auf sich selbst zu stellen, so vollendet sich dies also nun durch ihre Unabhängigkeit von dem ter- minus ad quem. Sie steht gleichmäßig jenseits des einen wie des andern in der vollen Selbstgenügsamkeit ihrer Formen, ihrer Idee. Am Anfang dieser Entwicklung war ihm die Natur die Bedingung und sozusagen das Medium des künstleri- schen Fühlens gewesen, dann hatte umgekehrt die Kunst den Sinn und den ideellen Wert der Natur gedeutet jetzt ist die Kunst autonom geworden ; aber weil sie durch diese Stadien der Einheit durchgegangen waren, weil jenes innigste organische Verhältnis, das ihm nach der drohenden Zerreißung der voritalienischen Weimarer Jahre die Klassik gebracht hatte, nicht mehr zu trennen war, sondern in tiefster Wurzelung weiterlebte darum ließ das ,,Artistentum" seiner späteren Jahre die Natur nicht etwa als neuen Feind hinter sich ; die Kunst trug nun die Versöhnung mit der Natur in sich, ihr Begriff war ihm so groß und hoch geworden, daß ihre Selbständigkeit nicht mehr, was sonst so oft die Bedingung, aber deshalb auch die Schranke der Selbständigkeit ist eines Gegenüber und Gegen- satzes bedurfte. Das ist es, was er als Achtzigjähriger aus- spricht: die höchsten Kunstwerke seien solche, die ,,die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit" hätten. Und

120 Stellung der Kunst

darum stehen in seinem Nachlaß die beiden Aphorismen hinter- einander, die sich zu widersprechen scheinen könnten, aber sich in Wirklichkeit bedingen: „Natur und Idee läßt sich nicht trennen, ohne daß die Kunst sowie das Leben gestört werde" imd: ,,Wenn Künstler von Natur sprechen, subintelligieren sie immer die Idee, ohne sich's deutlich bewußt zu sein." So ganz also hat die Kunst ihre Existenz in der ,,Idee", daß sie in dem, was der Künstler Natur nennt, die Substanz, das eigentlich Gemeinte ist; aber sie kann das, weil sie von vorn- herein mit der Natur Eines ist, weil sie die Natur sozusagen aufgesogen hat und weil das Leben, das der Schicksalsgenosse der Kunst ist, in dieser Assimiliertheit von Idee und Natur besteht. Damit ist aber auch die Gefahr vermieden, die die Selbst- herrlichkeit der Kunst in dem, was wir jetzt eben Artistentum nennen, leicht mit sich bringt: daß ihre Autonomie sich zu einer Despotie übersteigert, daß der Hochmut eines isolierten Kunstbegriffes alle Wirklichkeit und Natur sozusagen zu einer Existenz zweiter Klasse herabdrückt. Jener Begriff mag bei Goethe zu noch so großer Souveränität aufwachsen, er kann das immer nur in der Richtung jenes ursprünglichen Wachs- tums aus der einheitlichen Verwurzelung mit der Natur heraus. Ja, weil die Kunst, bei aller absoluten Selbständigkeit ihrer Form, ihren Sinn aus dem anschaulichen und geistigen Wesen der Natur bezieht, weil sie zu der Höhe, in der sie jenseits der Natur steht, nur aus der Natur heraus und deren tiefere Wahrheit als ihre eigne bewahrend gelangt ist darum läßt Goethe ihr eine wundervolle Bescheidenheit, ein starkes Bewußt- sein ihrer angemessenen Stellung in dem alles übergreifenden Dasein überhaupt: ,,Der Mensch, sagt er zehn Jahre nach Italien, verlange nicht Gott gleich zu sein, aber er strebe, sich als Mensch zu vollenden. Der Künstler strebe, nicht ein Natur- werk, aber ein vollendetes Kunstwerk hervorzubringen." Die Parallele spricht deutlich genug: das Naturwerk bleibt das unerreichbar Höchste, aber indem die Kunst mit ihm nicht konkurriert, weder im Sinn des Naturalismus noch des stolz abstrakten Artistentums, kann sie in sich eine absolute, durch

Gegensatz zwischen Idee und Erfahrung 121

jene Absolutbeit der Natur nicht herabgedrückte Vollendung haben.

Dies steht nun in einer leicht fühlbaren Beziehung zu einer noch weitergreifenden Spannung der Grundelemente, die in seinen späteren Jahren hervortritt. Daß die Idee der Erscheinung inne- wohnt und in ihr anschaulich ist, daß die Natur ihre Geheimnisse hier und da dem Beschauer nackt vor Augen stellt, daß nichts hinter den Phänomenen liegt, sondern sie selbst,, die Lehre" sind das ist das zeitlos Prinzipielle der Goetheschen Weltanschauung, ihre ,,Idee" selbst. Nun aber begegnen, insbesondere in höherem Alter, zunächst Äußerungen wie die: ,,Kein organisches Wesen ist ganz der Idee, die zugrunde liegt, entsprechend." Ganz spät sagt er, daß er die Natur keineswegs ,,in allen ihren Äußerungen schön" finde: sie habe eben nicht immer die Bedingungen, ihre ,, Intentionen" vollkommen zur Erscheinung zu bringen ; wofür er die mannigfaltigen Verkrüppelungen anführt, die ein Baum durch Ungunst des Standortes erfahren kann. Die Natur ist zwar in Gott gehegt, aber dennoch ist das göttliche Prinzip in der Er- scheinung ,, bedrängt", dennoch können Taten ,,ohne Gott" ge- schehen; und die Idee ,, tritt immer als ein fremder Gast in die Er- scheinung". ,,Die Idee ist in der Erfahrung nicht darzustellen, kaum nachzuweisen; wer sie nicht besitzt, wird sie in der Er- scheinung nirgends gewahr." ,, Zwischen Idee und Erfahrung scheint eine gewisse Kluft befestigt, die zu überschreiten unsere ganze Kraft sich vergeblich bemüht. Dessenungeachtet bleibt unser ewiges Bestreben, diesen Hiatus mit Vernunft, Verstand, Einbildungskraft, Glauben, Gefühl, Wahn, und, wenn wir sonst nichts vermögen, mit Albernheit zu überwinden." Und dies wen- det sich schließlich auch ins Ethische, wenn er, 75 Jahre alt, über Byrons griechisches Unternehmen und seinen Tod sagt: ,,Es ist aber das Unglück, daß so ideenreiche Geister ihr Ideal durchaus rerwirklichen wollen. Das geht nun einmal nicht, das Ideal und die gemeine Wirklichkeit müssen streng geschieden bleiben." Neben dem letzten und eigentlich absoluten Prinzip des Goethe- schen Weltbildes: der Einheit der Pole, des ,,ewig Einen, das sich vielfach offenbart", der ,,Ruh' in Gott dem Herrn", die alles

122 Dualismus

Drängen, Irren, Spalten zusammenschließt, der ,, göttlichen Kraft, die überall entwickelt, der ewigen Liebe, die überall wirk- sam" ist neben diesem steht ein dualistisches Prinzip, das jenem gegenüber einigermaßen im Dunkeln bleibt und sich nur in solchen einzelnen Äußerungen über die Unstimmigkeit zwischen Idee und erfahrbarer Wirklichkeit verrät. Die Empfindung dieses dumpfen Widerstandes der realen Welt, der wir selbst zugehören, gegen das Höhere und Absolute, von dem sie selbst doch ihren ganzen Inhalt und Wert zu Lehen trägt, reflektiert sich wohl in einem Gefühl, das er öfters, z. B. in folgendem Satz ausspricht: ,,Die Idee, wenn sie in die Erscheinung tritt, es sei auf welche Art es auch wolle, erregt immer Apprehension, eine Art Scheu, Verlegenheit, Widerwillen, wogegen der Mensch in irgendeiner Weise sich in Positur setzt." Auch über die Ur- phänomene, deren Auffindung ihn doch ursprünglich beseligte wie er denn überhaupt von seinen naturwissenschaftlichen Ent- deckungen mit einem so freudigen Stolze spricht, wie nie von seinen Dichtwerken äußert er sich später in dem gleichen Sinn: daß ihre Wahrnehmung mit einem gewissen Schrecken und Angstgefühl verbunden sei. Ich wüßte zwar den Zusammen- hang beider Phänomene des Goetheschen Geistes durch kein Zitat zu belegen. Aber dies eigentümliche Gefühl des Schreckens beim Hervortreten der Idee, als überwältigte uns dabei etwas, was mit unbegreiflicher Kraft aus einer uns fremden Welt kommt, scheint mir nur auf jene Konstellation begründbar: daß dasjenige, was erscheinen zu lassen sich die Wirklichkeit sträubt, was sie nur wie in Andeutungen und aus der Ferne zeigt, nun dennoch auf einmal anschaulich wird; jederzeit ist es eines der tiefsten Schrecknisse der menschlichen Seele, wenn sie das ver- wirklicht erblickt, was sie als logischen Widerspruch denken muß. Hier liegt eine der dunkelsten, am wenigsten auf einen einheit- lichen Grund und einen durchsichtigen Ausdruck gebrachte Seite Goethescher Weltanschauung vor. Es ist offenbar im Meta- physisch-Wertmäßigen die Schwierigkeit an ihn herangetreten, die ganz prinzipiell jeden Monismus bedroht: daß es unsem Denkkategorien versagt ist, die differente Ausgedehntheit und

Einheit des Seins und Gespaltenheit des Wertes 123

Vielheit des Daseins aus dem ,, Einen", dem schlechthin ein- heitlichen Prinzip zu entwickeln. Wie unser Geist nun einmal angelegt ist, bedarf es mindestens einer Zweiheit ursprünglicher Elemente, damit es zu einer Zeugung komme, damit, real wie logisch, ein Mehrfaches, Anderes, Gewordenes begreiflich sei. Die absolute Einheit ist unfruchtbar, wir können nicht einsehen, warum dieses Eine, wenn außer ihm nichts ist, ein Zweites und Drittes, und gerade dieses und gerade in diesem Zeitmomente, hervorbringen sollte. Soweit nur das Sein in Frage kommt, ent- geht der Goethesche Pantheismus dieser Ratlosigkeit, indem er die göttliche Einheit als eine lebendige vorstellt. Das Leben, als Ganzes gefaßt, ist freilich das aus sich selbst zeugende Prinzip, der Organismus, einmal entstanden, wächst, formt und entfaltet sich aus rein innerem Gesetz, aus einer Triebeinheit, die eines andern höchstens als Materiales bedarf. Weil Goethe die Welt als einen Organismus verstand, überwand er die Klippe des früheren Pantheismus: daß die absolute Einheit ja etwcis schlechthin Undifferenziertes, Formloses, ewig Unänderbares ist; wie die Organvielheit, die auseinanderzweigende Entwicklung des Lebewesens seiner Einheit nicht widerspricht, sondern dieser gerade entsprießt, so kann eine lebendige Welt eine vielheit- lich geformte, unendlich differenzierte und doch eine, in sich ungeteilte und unteilbare sein. Auf eine Kritik dieser Vorstellung gehe ich nicht ein; für Goethe jedenfalls scheint sie ausgereicht zu haben, um seinen Pantheismus der Fragwürdigkeit des starren SV Jtai Tcav zu entreißen. Wo aber statt der Einheit des Seins die Ein- heit des Sinnes in Frage steht, hat er keine entsprechende Be- stimmung der ,, Gott-Natur" zur Verfügung, und ihre Einheit versagt an der Unzulänglichkeit, Dumpfheit, Ideenfremdheit der tatsächlichen Phänomene. Ich kenne keine Äußerung Goethes, die es unternähme, die göttliche Einheit, die die Natur und jede ihrer Einzelheiten widerstandslos durchdringt und die Unfindbarkeit des Göttlichen oder der Idee in der Erscheinung, den Widerstand, den die wirkliche Natur, all jenen Aussprüchen gemäß, diesem Absoluten und Ideellen leistet auf einen Begriff zu bringen, aus einem tieferen Motiv abzuleiten.

124 Fragwürdigkeit des Gegenprinzips

Beides vielmehr steht wie unvermittelte Tatsachen nebenein- ander — während doch die gleichsam zeitlose Substanz seiner Weltanschauung, die Idee, die diese historisch zu verwirklichen berufen war, in dem sichtbaren Einwohnen des Ideellen in der ,, Gestalt", in dem, wenn nicht unmittelbaren, so doch mittel- baren und innerlichen Sinnlich-Sein des Übersinnlichen beruhte! Zu einem prinzipiellen Dualismus, wie ihn manche religiöse und in gewissem Sinn auch die Kantische Weltan- schauung zeigt, kommt es zwar nicht. Ich wüßte nicht, daß für jene Behinderung der Idee, sich in der Erscheinung zu zeigen, irgendein positives metaphysisches Prinzip haftbar gemacht wird; ich kann mich nicht entschließen, das Symbol eines solchen in Mephistopheles zu sehen auch wenn es ihm ,, Ehrenpunkt" ist, ,, dabei" gewesen zu sein, als die Natur entstand. Denn Me- phisto tritt was etwas Frappierendes hat eigentlich nicht als kosmische Potenz hervor. Er geht ganz in dem singulären Unternehmen auf, Fausts Seele zu gewinnen, ohne daß dies aus einer metaphysisch breiten, jenseits des individuellen Falles sich erstreckenden Basis hervorginge. Trotz der paar allgemeinen nihilistischen Äußerungen im ersten Teil ist seine Tendenz hier nicht entschieden antikosmisch, antiideell, sondern nur anti- ethisch. Es ist viel mehr der böse Zauberer, der eine Seele ver- derben will, als das Symbol jener unheimlichen, die Welt als Gegengott durchwaltenden Tendenz, die in den großen dualistischen Weltbildern jeden Punkt des Seins zum Kampfplatz zwischen Licht und Finsternis, Ormuzd und Ahriman macht. Es ist doch nicht bedeutungslos, wenn Goethe im Jahre 1820 von einer Fort- setzung des Faust spricht, ,,wo der Teufel selbst Gnade und Er- barmen vor Gott findet" und noch weniger, daß dies nach dem ,, Prolog im Himmel" nicht einmal inkonsequent ist. Im zweiten Teil verschwindet überhaupt alles Prinzipielle aus seiner Rolle, er ist nur noch ein sozusagen technisch, aber nicht mehr innerlich notwendiges Glied der Ereignisse. Die tiefe Überzeugtheit von der Göttlichkeit und Einheit der Welt hat Goethe eben doch- zurückhalten müssen, dem teuflischen Prinzip eine meta- physischen Absolutheit, eine Wurzelung im letzten Grunde der

Anthropomorphismus 125

Dinge zu geben; darum also war der oben gebrauchte Begriff des Dualismus nur ein vorläufiger. Genau ausgedrückt liegt es so, daß die großen ideellen Weltpotenzen, die prinzipiell die Er- scheinung restlos gestalten, schließlich nur eine nicht näher bestimmte Grenze ihrer Wirksamkeit finden nicht näher be- stimmt, weil sie nicht aus einem einheitlichen Gegenprinzip stammt, aus der positiven Hemmung durch eine feindliche Kraft, sondern eher aus einer inneren Schwäche, aus einem Versagen von innen her.

Die Undeutlichkeit , die für Goethe selbst hier vorzuliegen scheint, ist wohl die Veranlassung für die Vielfachheit, das Tastende, ja auch Widerspruchsvolle, das in seinen Aus- drücken auftritt, sobald er den Standpunkt der einheitlichen, in ihren Gestaltungen die Idee offenbarenden Natur verläßt. Er ist einesteils der radikalste Feind alles Anthropomorphismus. Nicht nur ,,unfühlend ist die Natur", sondern auch alle Natur- zwecke sind ihm vollkommene Absurdität, die fortschreitende Lebensreife erscheint ihm als fortschreitende Reinigung des Naturbildes von subjektiven Zutaten und Hervorstellen ihres Bildes als einer reinen Objektivität, eines Kosmos ausnahms- loser, ewiger Gesetze. Andrerseits aber begegnen nun Äußerungen, die die Natur völlig zu vermenschlichen scheinen. Zunächst das häufig Wiederholte: daß die Natur immer recht habe, daß sie sich niemals irrte, daß sie sich selbst treu bliebe usw. Alles dies hat aber doch nur einen Sinn, wo ein Sein und ein davon mög- licherweise unterschiedenes Sollen vorliegt; ein Wesen, als schlechthin gesetzmäßige Natur angesehen, steht jenseits von Recht und Unrecht, von Wahrheit und Irrtum. Nur für den menschlichen Geist können diese Kategorien gelten, da nur er ein ideales oder reales Objekt sich gegenüber hat, mit dem er übereinstimmen oder das er verfehlen kann. Auf die Natur, die nur i s t und weiter nichts , ist dies garnicht anwendbar. Die für uns hier wichtigste Wendung davon ist, daß Goethe der Natur Bestrebungen unterlegt, die sie nicht zu verwirk- lichen vermag, also jenes eigene Hinausgreifen über ihre eigene Wirklichkeit, das als spezifisch menschlich und gerade der

126 Die „Gestalt" und die Teile

Natur völlig fremd gilt. Daß die Natur ihre Intentionen nicht erreicht (ersichtlich dasselbe, wie das Zurückbleiben der Er- scheinung hinter der Idee), scheint in einer wirklich objektiven Vorstellungsart keinen Platz zu finden; und ebensowenig, daß die Natur zwar ,,sich von ihren Grundgesetzen nicht entfernen kann" und man deshalb ,,sich so spät als möglich negativer Aus- drücke bedienen soll (wie Mißbildung, Entartung usw.) und daß er dennoch Mißbildungen gelegentlich anerkennt: ,, miß- gebildet", sagt er, ,,ist die durchgewachsene Rose, weil die schöne Rosengestalt aufgehoben und die gesetzliche Beschränkt- heit ins Weite gelassen ist."

Goethe hat, wie gesagt, diese für uns unversöhnlichen Widersprüche offenbar nicht als solche empfunden und des- halb auch kein Lösungswort zu finden versucht. Mir aber erscheint dies und die ganze Situation durch das Grundmotiv Goethescher Weltanschauung bedingt, das sie von dem als eigentlich wissenschaftlich geltenden Prinzip im Tiefsten trennt: daß die hervorzubringende Gestalt, die typisch bestimmte morphologische Erscheinung der Dinge die wirksame Potenz in allem Geschehen ist. Als Teleologie darf das zwar nicht angesehen werden, und alle bei ihm dazu verführenden Aus- drücke sind entweder metaphorisch oder lässig; die schaffende oder wie man mit Übertragung des hervorstechendsten Falles auf die Gesamtheit sagen kann die organisierende Kraft enthält das Gestaltbildende, Formbegrenzende von vorn- herein in sich, sie ist vielmehr ganz und gar dieses und be- darf zu ihrer Dirigierung keines, dem menschlichen analogen Zweckes, dem sie sich als bloßes Mittel zur Verfügung stellte. Die moderne Naturwissenschaft nun konstruiert das Geschehen ausschließlich aus den, den Teilen der Dinge einwohnenden Energien und deren Wechselspiel, das sich unmittelbar zwischen ihnen entspinnt; sie ist insofern im Prinzip atomistisch, auch wenn sie in ihrer Vorstellung von der Materie nicht Atomismus, auch wenn sie nicht Mechanismus, sondern Energetik, ja viel- leicht Vitalismus ist. Die Gestalt des Ganzen, die Idee der Form, die sie sich aus den einzelnen Teilen erst zusammenbaut, als

Naturgesetze und Freiheitsspielraum 127

unmittelbar treibende Kraft in diesen Teilen anzusetzen, liegt der Naturwissenschaft fern oder lag ihr wenigstens bis zu einigen Theorien der allerjüngsten Zeit fern. Indem für Goethe aber das , »Gesetz" des Geschehens nicht die Formel für die in den isoliert gedachten Teilen wohnenden Eigenschaften und Kräfte und deren bloße Relationen ist, sondern in der Gestalt des Ganzen besteht, die als reale Kraft oder realer Kraft analog jene Teile ihrer Realisierung zutreibt, liegt die Möglichkeit prinzipiell nahe, daß Hemmungen, Schwächen, Durchkreuzun- gen dies Gesetz nicht zu seiner vollen Wirksamkeit kommen lassen. Dadurch wird überhaupt die Vorstellung über die Pflanzenwelt denkbar, daß ,,in diesem Reiche die Natur, zwar mit höchster Freiheit wirkend, sich doch von ihren Grund- gesetzen nicht entfernen kann." ,, Grundgesetze" und um sie ein Spielraum der Freiheit ist eine der exakten Wissenschaft fremde Vorstellung. Naturgesetz ist Naturgesetz, und jede Gestalt, die überhaupt wirklich ist, mag sie noch so untypisch und für uns erstaunlich sein, ist nach Gesetzen erzeugt, die in genau dem- selben Range stehen, wie die an der normalsten Erscheinung be- währten. Nur wo das Gesetz die Formel für die auf eine bestimmte, und zwar typische Gestalt drängende Energie ist, kann seine zentrale Gerichtetheit gewissermaßen nach rechts und links in abgelenkte, schwächere, mit anderen Motiven vermischte Er- scheinungen abklingen. Bei gewissen Blüten, sagt er, z. B. bei den Zentifolien, ,, überschreitet die Natur die Grenze, die sie sich selbst gesetzt hat", womit sie freilich gelegentlich ,,eine andere Vollkommenheit erreicht", gelegentlich aber auch ins schlecht- hin mißbildete ausschlägt während für die exakte Anschauung eine solche, eine bestimmte Form bezeichnende ,, Grenze" nicht existiert, sondern diese immer nur das (genau gesprochen) zu- fällige Ergebnis elementarer Kraftwirkungen ist. Es ist klar, daß, wie schon angedeutet, diese Attitüde Goethes zu den kos- mischen Gestaltungen überhaupt durch die Betrachtung der Organismen bestimmt ist. Denn in ihnen allein scheinen Kräfte und Kraftrichtungen der Teile von der Form des Ganzen bestimmt zu sein und diese Form scheint in jedem einzelnen Fall ein Ver-

128 Das organische Formgesetz

hältnis zu einem „Typus" zu haben einem Typus, der nicht nur ein durch ein betrachtendes Subjekt nachträglich ge- wonnener Durchschnitt, sondern eine objektiv gültige Norm ist; so daß das Normale und das Abnorme, der reine Fall und die ausnahmsweise Mißbildung als solche einen sachlichen, nicht nur einen Reflexionssinn haben. Weil Goethe die Welt organisch verstanden hat, weil er den eben bezeichneten Charakter des Organismus an jedem Punkt der Welt empfand, darum erschien dessen Werden ihm von einem, den Teilen einwohnenden Form- gesetz des Ganzen bestimmt. Dieses Formgesetz hat seine Achse in dem Typus der Art, um den die einzelnen Erscheinungen mit größerem oder geringerem Abstand pendeln. Hier zeigt sich eine tiefe Beziehung der Goetheschen Naturanschauung zu seinem Klassizismus. Die antike Geistesart, soweit sie auf Goethe wirkte, fand das Wesen jedes Stückes des Daseins in dem plastisch festgeformten Allgemeinbegriff. Wie die griechische Kunst auf Typen ausging, um die die einzelnen Gestaltungen sich mit gewissem Spielraum bewegten, in der Reinheit ihres Typus das Maß ihrer Vollendung findend, so schienen die Dinge in Klassen zu gehören, die für ein jedes die Vorzeichnung bildeten, und jedes Ding war es selbst, indem es seinen Typus darstellte was es oft oder immer nur in Unvollkommenheit und Trübung konnte. In der Goetheschen Vorstellung des ,, Gesetzes" der natürlichen Dinge trafen, indem die Gestalt Gesetz ist, die beiden Momente zusammen: die ,, Gestalt" als das treibende, alles Werden er- klärende Movens in allen Elementen, wie es dem organischen Weltbegriff entspricht und diese Gestalt als Verwirklichung eines Typus, der sie zwar nie ganz aus sich entläßt, von dem sie sich aber mit unabsehbaren Modifikationen, Hypertrophien und Atrophien entfernen kann: das ,, Gesetz, von dem in der Er- scheinung nur Ausnahmen anzutreffen sind".

Auf diese Weise also möchten jene dualistischen, mit Goethes Grundprinzipien anscheinend unverträglichen Äuße- rungen erklärlich werden, die mit steigendem Alter die Diskrepanz zwischen dem Göttlichen und dem Wirklichen, zwischen Idee und Erfahrung immer schärfer herausstellen

Symbolische Fälle 129

vielleicht, weil sich das klassische Ideal einigermaßen aus seiner Unbedingtheit zurückbildete; so daß er, 28 Jahre nach der italienischen Reise, erklärt, das griechische Wesen zöge ihn doch nicht so an, wie das römische mit seinem ,, großen Ver- stände", also mit seinem scharfen Realitätssinn. Freilich, wie die Einheitlichkeit seines Wesens und seines Weltanschauens, die er in Italien gewann, sich als eine begründetere, prinzi- piellere, positiver errungene von der naiven seiner frühen Jugend unterscheidet genau so unterscheidet sich dies späte Aus- einandertreten des Ideellen und des Realen von demjenigen, sozusagen bloß empirisch-schicksalsmäßigen, das uns in der Zeit kurz vor Italien entgegentrat. So klar diese Standpunkte im sachlich- zeitlosen oder geistesgeschichtlichen Sinne sind, so verwirrend gehen sie im rein goethe-biographischen durch- einander; denn in jeder Periode, deren zentrale Tendenz ganz un- zweideutig durch je einen von ihnen charakterisiert ist, klingen auch die andern noch nach oder vor. Es lag in Goethes Geistes- wesen, die Färbung auch momentaner Erfahrungen oder Stim- mungen gleich in sentenziöser, verallgemeinerter Form auszu- sprechen. Mehrfache Äußerungen zeigen, daß er über die so entstehenden Widersprüche ganz klar, aber auch ganz beruhigt war; denn er wußte, daß sich in ihnen nur die nach verschiedenen Seiten hin ausschlagenden Pendelungen eines ein- heitlichen Lebens aussprachen.

Es ist nun höchst merkwürdig, zu verfolgen, durch welche Mittel er sich mit jenem späteren Auseinandertreten der Ele- mente seines prinzipiell einheitlichen Weltbildes abfindet. Hier wird zunächst der Begriff des ,, symbolischen Falles" wichtig. Er geht, in einer entscheidenden Erklärung vom Jahre 97, davon aus, die ,, unmittelbare Verbindung des Idealen mit dem Gemeinen" wäre unerträglich. Nun gebe es aber einzelne Erscheinungen (als solche doch dem Gebiet des ,, Gemeinen" angehörend), die einen besonders tiefen Eindruck auf ihn machten und von denen er dann feststellte, daß sie viele andere repräsentieren. Indem sie für all diese symbolisch wären, schlössen sie ,,eine gewisse Totalität in sich". Das Wesentliche

Simmel, Goethe. 9

130 Die Vertretimg des Ideellen

ist hier also, daß eine einzelne Gestaltung nicht mehr in ihrem unmittelbaren Fürsichsein die Idee offenbart (was sie eben auch nicht kann), sondern durch die Vermittlung hindurch: daß sie die Gesamtheit der Fälle in sich schließt, die das Erscheinungs- gebiet der Idee ausmacht. Daraufhin sagt er von dieser Kate- gorie des ,, symbolischen", ,, eminenten", ,, bedeutenden" Falles, sie ,,hebe den Widerspruch, der zwischen meiner Natur und der unmittelbaren Erfahrung lag, den in früherer Zeit ich niemals lösen konnte, sogleich auf." Von nun an hält er mit großer Be- tontheit fest, daß ,,ein Fall tausend Fälle wert" sein kann. Damit hat sich ihm eine Lösungsformel für eine Aufgabe geboten, die zu den allgemeinsten und tiefsten der Menschheit gehört: das Unendliche in der Ebene des Endlichen zu finden. Zwischen Überwelt und Welt, der Idee und der Erfahrung, dem Absoluten und dem Relativen, dem Allgemeinen und dem Einzelnen spielen sich die Probleme der Weltanschauungen ab, auch wenn ihre Lösung in der völligen Negation je einer Partei gesehen wird. Und es ist nun der eine große Lösungstypus, daß alle Werte und Bedeutungen, die man von vornherein nur an dem einen Pol lokalisiert hat, unter völliger Bewahrung ihres Inhaltes und Sinnes an dem andern entdeckt werden, daß gewisse Erstreckungen und Betonungen des Endlichen, Welthaften, Einzelnen alles das gültig vertreten, zu dessen Sitz man das Absolute, Überwirkliche, Ideelle meinte kreieren zu müssen. Die knappen Äußerungen Goethes über die symbolischen Fälle zeigen, wie er den ihm bewußt gewordenen Riß zwischen jenen Polen in der Richtung dieses weltgeschichtlichen Motives zu versöhnen suchte: das Wirkliche scheint ihm eine Struktur zu haben, die einen ein- zelnen Teil seiner sich zum Vertreter einer Gesamtheit quali- fizieren und ihn damit die Beschränkung auf seine Singularität überschreiten läßt. Er bleibt darum seinem Sein nach nicht weniger in den Dimensionen des Endlichen, Realen, Empirischen; aber indem seine Bedeutung die von unendlich vielen Einzelnen zu vertreten vermag, ist das Zufällige, Relative, individuell Un- zulängliche jedes einzeln Erfahrbaren in ihm paralysiert; das empirisch schlechthin Allgemeingültige ist zugleich das gültige

Der Mittelzustand 131

Gegenbild des Überempirischen, der Idee, des Absoluten, und wenn ein einzelnes Anschaulich -Wirkliches jene Allgemein- gültigkeit konkret zu machen weiß, so ist damit die Fremdheit der beiden Welten versöhnt, die Wirklichkeit zerfällt nicht in definitiv isolierte, der Idee gegenüber hoffnungslose Stücke, sondern in der Form gewisser einzelner dieser Stücke bietet sich die Totalität, der Sinn, das Gesetz dar, das sonst allein im Über- wirklichen zu wohnen schien. Dadurch ist ,,das Ideale mit dem Gemeinen" mittelbar verbunden, was es unmittelbar nicht sein kann; und dies ist es, was Goethe ermöglicht, Realist zu sein, ohne darum Empirist sein zu müssen.

Von der spezieller subjektiven Seite her sucht er durch einen andern Begriff, der uns schon im vorigen Kapitel fruchtbar wurde, jene Gespaltenheit des Seins zu besänftigen: durch den Begriff des ,, Mittelzustandes", den die kosmische Ordnung dem Menschen zu- gewiesen habe. ,,Der Mensch", sagt er, ,,ist in einen Mittelzustand gesetzt und es ist ihm nur erlaubt, das Mittlere zu erkennen und zu ergreifen"; und im Zusammenhange damit: ,,Die Idee kann man keineswegs ins Enge bringen." Das heißt also: das Ab- solute, Ideelle ist an und für sich nicht in die Form der Erfahrung, des einzeln Wirklichen überzuführen, von ihm nicht abzulesen. Aber der Mensch steht zwischen beiden, jetzt nicht eigentlich als ein Bürger beider Welten oder ein Mischgebilde aus ihnen, sondern in einer eigenen, einheitlichen Stellung; er ist in dieser ein Gegen- bild der kosmischen Totalität (indem er ihr zugleich angehört), ein Mikrokosmos, der in seiner Geistigkeit den Sinn jener To- talität wiederholt und gerade deshalb keiner der einzelnen Par- teien des Ganzen, weder der Idee noch dem Empirisch-Realen, ganz zugehören kann. ,,Im Verfolg wissenschaftlichen Be- strebens", sagt er ungefähr 1817, ,,ist es gleich schädlich, aus- schließlich der Erfahrung, wie unbedingt der Idee zu gehorchen." Und einige Jahre später: ,,Es möchte doch immer gleich schäd- lich sein, sich von dem Unerforschlichen ganz abzusondern, oder mit demselben eine allzuenge Verbindung sich anzumaßen." Schon die negative, prohibitive Form dieser und ähnlicher Äußerungen zeigt, daß es sich nicht um eine Mischung beider

132 Selbständigkeit des Menschlichen

Polaritäten handelt, sondern um ein Drittes, um unsere Stellung zwischen den , »Grenzen der Menschheit". Zwischen Welt und Überwelt, zwischen bloßer Erfahrung und bloßer Idee haben wir ein Leben, dessen Selbständigkeit, in sich zentrierendes Sein uns davor schützt, uns zwischen dem Gegensatz jener beiden zu zer- reiben oder haltlos in ihm zu pendeln. Wie der Künstler nicht ,,mit der Natur wetteifern" soll, wie er weder die singulare Wirk- lichkeit nachbilden noch sich in die anschauungslose Idee ver- lieren, sondern ,, sich als Künstler vollenden" soll, so strebe der Mensch schlechthin nur ,,sich als Mensch zu vollenden"! Hier kommt, wie ich überzeugt bin, einer jener tiefsten und kühnsten Grundbegriffe seines Alters auf, über die er sich sozusagen nur gelegentlich eine fragmentarische Andeutung entschlüpfen ließ. Der Dualismus von Idee und Erfahrung, von Göttlichem und Singular- Wirklichem ist jetzt sein dauerndes Problem; und dessen anthropologische Lösung ist nicht, den Menschen aus beiden Parteien zusammenzusetzen oder ihn einfach in dem Schnittpunkt beider Gebiete zu beheimaten, sondern ihm eine Stelle anzuweisen, zwar gewissermaßen zwischen ihnen beiden, in gleicher Distanz von beiden, aber doch eine menschheitlich- eigene, menschheitlich-einheitliche den Gegensatz jener nicht objektiv versöhnend, aber unsere kosmische Stellung vor ihm und seinen dualistischen Folgen rettend. Erst indem der Mensch so als eine selbständige, sozusagen nicht weiter herleitbare ,, Schöp- fungsidee" jenen Polaritäten des Seins gegenübersteht, kann er ich deutete dies an sich gewissermaßen als der Pair eben dieses Gesamtseins wissen, kann für sich und in sich denselben Gesetzen Untertan sein, die dieses als Ganzes bewegen, Und von hier läßt freilich die subjektiv-anthropologische Art, sich jenseits jenes Konfliktes auf die Selbständigkeit unserer Natur zu stellen, auch über seinen objektiven Bestand die Ahnung seines Sich-Versöhnens gleiten: ,,Wir sind", so lautet eine Notiz aus dem Nachlaß, ,, nicht mehr in dem Falle, bei Behandlung der Naturwissenschaften die Idee der Erfahrung entgegenzusetzen, wir gewöhnen uns vielmehr, die Idee in der Erfahrung aufzu- suchen, überzeugt, daß die Natur nach Ideen verfahre, i m-

Das Praktische 133

gleichen daß der Mensch in allem, was er beginnt, eine Idee verfolge." Durch die kategoriale Form: ein ,, Mittelpunkt", in dem wir Stellung nehmen und eine gleichsam symmetrisch distante Anordnung der Erscheinungen von diesem her ge- winnen wir die Möglichkeit, uns das Chaos der Dinge zu organi- sieren. Jedes einzelne, so sagt er einmal, das wir in der Natur sehen, ist immer von so vielem andern begleitet und durch- drungen, an jedem Punkt wirkt so vieles durcheinander, daß dar- aus für alle Theorie die große Schwierigkeit entsteht, Ursache und Wirkung, Krankheit und Symptom auseinander zu kennen; ,,da bleibt nun für den ernst Betrachtenden nichts übrig, als irgendwo den Mittelpunkt hinzusetzen, und alsdann zu suchen, wie er das übrige peripherisch behandle." Die Technik also, mit der wir uns in der Welt zurechtfinden und ihre Unterschiedlichkeiten in der Einheit des Erkennens zusammenbringen, zeigt sich als die theoretische Ausstrahlung unserer metaphysischen Weltstellung, des seinshaften ,, Mittelzustandes", in dem wir den Gegensatz- seiten des Daseins in jeweils gleicher Distanz gegenüberstehen. Vielleicht ist eine dritte Art, über die an den Polen der geistigen Welt fixierten Gegensätze doch die Intention der Einheit durch- zuführen, nur eine Modifikation dieses letzten Motivs. ,,Wenn man mich fragt: wie ist Idee und Erfahrung am besten zu ver- binden, so antworte ich: praktisch" d. h. durch weiterschrei- tende, zweckmäßige Forschung. Im Goetheschen Alter begegnet durchgehends der Hinweis auf das j)^r aktische Verhalten, auf die Tätigkeit, die uns von Punkt zu Punkt führt wenn die seelischen und metaphysischen Widersprüche keine rein geistige Lösung zuzulassen scheinen. Mit der Schlußrede Fausts und der Gesamttendenz der Wanderjahre hat diese Wendung ihren monumentalen Ausdruck erhalten. Von welcher Kraft und welchem ethischen Werte dies nun auch sei man kann sich zunächst dem Eindruck kaum entziehen, als wäre damit den eigentlich schweren und tiefen Problemen nur ausge- wichen. Es wäre ja möglich, diese Probleme in die Provinz des Praktischen zu übertragen, weil man hier eine Lösung für sie findet, die zu entwickeln gleichsam die Bodenbeschaffenheit

134 Mangelndes Wertkriterium

andrer Provinzen nicht gestattet: so hat Kant den großen Prozeß zwischen der reinen Vernunft und der Sinnlichkeit des Menschen, die auf dem theoretischen Gebiet im Dualismus befangen blieben, in das praktische verfolgt und ihn hier, wenn auch nicht zur Ein- heit, so doch zu einer möglichen Entscheidung gebracht. So aber meint es Goethe nicht. Sondern das Handeln als solches, das Tun und Wirken an der unmittelbaren Aufgabe des praktischen Tages weist er dem Menschen zu, an Stelle der Unlösbarkeiten prinzipieller Welt- und Lebensfragen, an Stelle der Problematik bloß gedanklicher Entscheidungen. Die Auswanderung nach Amerika am Schluß der Wanderjahre ist schließlich nur hierfür das Symbol. Dies kann, wie gesagt, als ein Waffenstrecken vor den letzten Forderungen des Geistes erscheinen, als eine Rückkehr der seelischen Energien zu der naiven Praxis, von der aus ihr Entwicklungsweg ja gerade zu jenen Bedürfnissen, sich mit dem Leben in seinen tieferen Schichten abzufinden, emporgeführt hat. Die Aufforderung zu unmittelbarem, ,, nützlichem" Wirken ruht auf einer großen Anzahl dunkler, ungeprüfter Wertungen all dessen, w o z u es eben nützlich ist; denn woraufhin verdiente das Wirken den legitimierenden Namen des Nützlichen, es sei denn um des Wertes seiner Ziele willen, der doch seinerseits nicht wieder durch das Wirken selbst begründet werden kann? Der Wert des Wirkens, das ein bloßes formales Mittel ist, bedarf also immer des Wertes von Zwecken, der entweder instinktiv-trivial gesetzt wird oder nun doch nach tieferen Gründen drängt. Wenn Goethe als das Definitivum unserer praktischen Werte ,,die Forderung des Tages" bezeichnet, so muß unvermeid- lich nach einem Kriterium gefragt werden, das die echte und wesenhafte von den unzähligen gleichgültigen und verwerf- lichen unterscheiden läßt, die der Tag mit nicht geringerer In- tensität an uns stellt. Und dieses Kriterium kann ersichtlich nicht wieder aus dem ,,Tage" und ebensowenig aus dem Begriff des Wirkens und der Tätigkeit entlehnt werden, durch die sich ja die gerechtfertigte und die rechtlose Forderung ganz gleich- mäßig realisieren.

Ungeachtet solcher Bedenken gegen die Wertung der sozusagen

Tätigkeit als innerer Lebenswert 135

undifferenzierten Tätigkeit, für die der nächstliegende, in den Wandlungen des Tages sich darbietende Gegenstand gerade gut ist, scheint sie mir für Goethe zunächst aus dem folgenden, tiefer- gründigen Motiv hervorzugehen. Wie viele Äußerungen zeigen, ist ihm Tätigkeit nicht ein Inhalt oder Bewährung des Lebens neben andern, sondern sie ist ihm das Leben selbst, die spezifische Energie des menschlichen Daseins. Und es ist in seiner Über- zeugung von der naturhaften Harmonie dieses Daseins begründet, daß das Leben nur sich selbst überlassen zu werden braucht, d. h. daß die Tätigkeit in jedem Augenblicke ein nächstes Ziel vor sich habe, in dem alles für jetzt Notwendige beschlossen liegt, während vor dem nächsten Augenblick v/ieder seine Notwendigkeit steht. Dies tiefe Vertrauen auf das Leben und seine von Moment zu Moment fortrückende Zweckmäßigkeit anders ausgedrückt: auf die Tätigkeit, in deren Pulsschlag ihr jeweilig nächstes Ziel vorgezeichnet ist oder dem die allgemeinen Daseinszusammenhänge es unmittelbar bieten scheint mir der eigentliche Sinn davon zu sein, daß ,,die Forderung des Tages" unsere Pflicht ist. Es ist nicht nötig, daß Ziele von weiter Ferne her das Sollen des einzelnen Augenblicks bestimmten. Sondern das Leben entwickelt sich Schritt für Schritt, seine Wertdirektive nicht erst von einem Gott weiß wie entfernten Ziele erwartend (eines der entschiedenen Gegenmotive Goethes gegen das Christentum) , und so hat die mit ihm synonyme Tätigkeit, rein empfunden, ihren geforderten In- halt unmittelbar vor sich, das Wissen um den nächsten Schritt (objektiv: die Forderung des Tages) ist sozusagen ihre einge- borene Form. Das ist nichts anderes, als der Triumph des Lebens als Kraft, als Prozeß, über alle einzelnen Inhalte, die man ihm aus anderen Ordnungen heraus setzen könnte; denn diese Ord- nungen sind gegen die Zeitordnung des Lebens gleichgültig, auf die es hier ankommt. Wenn er uns an das Einfachste, Nächst- liegende, an die für den Moment richtige Praxis, an die Forde- rung des Tages ohne Charakterisierung bestimmter Inhalte weist so ist das nur ein Symbol dafür, daß die praktischen Werte in der Richtung erstehen, in der die Lebensquelle fließt, und dieser nicht von einer anderen erst entgegenkommen; nur ein Symbol

136 Erfahrung und Idee praktisch vermittelt

für Macht und Wert des Lebensvorganges als solchen, der allem, was wir Tätigkeit nennen, deren Inhalte in seiner eigenen Form, d. h. in dem fortschreitenden, sprunglosen Erzeugen von Augen- blick zu Augenblick, infundiert. Daß er die Praxis sozusagen auf das Minimum von Inhalten beschränkt, da ihm schon die Tätigkeit als solche der eigentliche Wert ist das ist der Erfolg davon, daß ihm Tätigkeit die Art ist, wie der Mensch lebt, und das Leben selbst der definitive Wert des Lebens*).

Dies ist hier indes nur beiläufig bemerkt. Die Goethesche Wer- tung der Tätigkeit hat für unser Problem, die Überwindung des Zwie- spaltes zwischen Idee und empirischer Realität, eine andere Bedeu- tung. Als das Höchste bezeichnet er einmal ,,das Anschauen des Verschiedenen als identisch"; und dem setzt er ,,die Tat" zur Seite, „das aktive Verbinden des Getrennten zur Identität"; hier wie dort treffe Erscheinung und Leben zusammen, die sich ,,auf allen mittleren Stufen trennen", d. h. überall, wo weder reine, kosmisch-metaphysische Schaung, noch reine Tätigkeit herrscht. Die Tätigkeit ist ihm also das reale Mittel, von der einen Seite jenes Dualismus zu der andern zu gelangen! Wie das frühere Zitat lehrte, ist es auch in der bloß theoretischen Be- mühung das praktische Moment, das fortschreitende Tun, das ,,Idee und Erfahrung verbindet". Die Inhalte, die die ideelle Reihe des Kosmos bilden, liegen als solche noch isoliert neben- einander; erst die hindurchflutende Tätigkeit führt wirk- lich von einem zum andern, stellt auch im Denken die reale Kontinuität zwischen den Polen her, wie die Bewegung, die eine Linie durch Punkte zieht, deren gegenseitige Abgeschlossenheit in stetige Verbindung überführt. Die wirkliche forschende Arbeit macht das Einzelne und die Totalität, die Erfahrung und die Idee erst zu Polen einer ununterbrochenen Linie. Und dies erweitert sich nun auf alle, auch nicht-theoretische Gebiete. Könnte man selbst die Inhalte in allmählig aufsteigender Reihe zwischen der Wirklichkeit und dem Absoluten, der Empirie und dem

*) Die Bedeutung der reinen Lebensbewegtheit als solcher wird das Kapitel über seinen Individualismus noch einmal und von andrer Seite erörtern.

„Reine" Tätigkeit 137

Überempirischen ideell konstatieren, so würde das noch nicht ausreichen. Erst das Handeln bringt sie in Fluß, erst die praktisch- stetige Bewegtheit macht sie zu wirklichen Vermittlungen, führt das empirisch Getrennte in die Idealität der Idee über. Natürlich gibt es Goethe brauchte das gar nicht zu erwähnen noch Tätigkeiten anderer Richtung, antiideelle, gottlose, zerfahrene. Aber er würde diese nicht Tätigkeiten im vollkom- menen Sinne des Wortes nennen. Wenn er so oft von ,, reiner" Tätigkeit spricht, so spielt hier sicher die doppelte Bedeutung des ,, Reinen" hinein: daß es einmal das sittlich Tadellose, von un- edlen Motiven Freie meint, dann aber auch das dem Begriff vollkommen und ungemischt Entsprechende, wie wir auch von ,, reinem Vorwand", ,, reinem Unsinn" reden, als von dem, was absolut nichts weiter als ein Vorwand, als ein Unsinn ist. Die reine Tätigkeit ist diejenige, in welche nichts anderes als der Trieb und Sinn des Tätigseins als solchen, d. h. der zentralen, unabgelenkten Bewegung des spezifisch menschlichen Lebens eintritt. In wunderbarem, eben diese Reinheit der Tätigkeit völlig symbolisierendem Ausdruck läßt er das Bewegtsein der ,, Monas", das deren letzte Lebensform und -grundlage bildet, das ,, Rotieren um sich selbst" sein. Und dies ist nun zugleich „reine" Tätigkeit im sittlichen Sinne, d. h. solche, die das Einzelne, Zersplitterte des empirisch gegebenen Daseins zur Idee empor- führt. Die Praxis wird damit aus der etwas unklaren Stellung gerettet, die sie in weitanschauungsmäßiger Hinsicht selbst in den ethisch zentrierten Geistern einnimmt. Wenn man hört: schließlich käme doch alles auf das Praktische an, der moralische Wert sei jedem andern überlegen usw., so muß man dabei nach dem Werte der Inhalte dieser Praxis fragen, ohne doch ein Prinzip der Wahl unter den vielen, sich anbietenden zu erhalten; diese ganz allgemeine Prärogative des Praktischen ist nicht durch eine bestimmte Stellung im Gesamtzusammenhange der Welt- faktoren begründet. Dies ist aber sogleich ins Sichere gestellt, wenn es einerseits für den Wert des Handelns und Wirkens genügt, daß es ,, reine" Tätigkeit sei, daß wirklich nichts anderes als die innerste, eigenste Natur der Menschen, deren Wesen eben

138 Höchste Norm

Tätigkeit ist, darin zu Äußerung und Erfolg kommt; und wenn andrerseits diese Tätigkeit als solche der Weg vom Gegebenen, Singulären zur Idee, zum Sinn des Daseins ist. Die Praxis ist für all jene anderen Wertungen ihrer doch nur ein im letzten Grunde zufälliges Mittel, die Idee zu realisieren, und die Behauptung dieser Leistung ist deshalb für sie ein synthetischer Satz; für Goethes Auffassung ist es ein analytischer, die Vermittlung zwischen Er- scheinung oder Einzeltatsache und Idee ist die Definition des Handelns und Wirkens: Tätigkeit, so darf man in Goethes Sinne sagen, ist der Name für dasjenige Verhalten des Menschen, durch das er seine kosmisch- metaphysische ,, Mittelstellung" zwischen jenen auseinandergetretenen Weltprinzipien darlebt. So wenig für Goethes Anschauungsweise der Begriff der Syste- matik angebracht ist, so muß man hier doch sagen, daß der Sinn und die Wertung der Tätigkeit auf diese Weise eine systematisch begründetere, in die Totalität der großen Weltkategorien orga- nischer eingefügte Stellung gewonnen haben, als in der Mehrzahl der sonstigen Intronisierungen der Praxis.

Über all diese Überbrückungen des Spaltes, den Goethe in seinen späteren Lehren zwischen den mannigfach benannten Polen des Daseins sich auf tun sah: zwischen der Welt und dem Göttlichen, der Idee und der Erfahrung, dem Wert und der Wirklichkeit schwingt sich noch einmal ein höchster Gedanke hin. Etwa aus seinem 58. Jahr stammt der Satz: ,,Daß das, was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung entweder als gleich oder ähnlich, ja sogar als völlig ungleich und unähnlich erscheinen kann, darin besteht eigentlich das bewegliche Leben der Natur". Hier wird also die Abweichung von der ideellen Norm, das von ihr unabhängige freie Spiel der Wirklichkeit sozusagen selbst zu einer Idee. Es ist die Ge- dankenbildung, die wir schon mehr als einmal als eine seiner großartigsten kennen gelernt haben: daß der Gegensatz zu einer eigentlich absoluten Forderung, die Ausnahme von einem eigent- lich allgemeinen Gesetz nun doch wieder mit diesem zusammen von einer höchsten Norm umgriffen wird. Er warnt davor, das Negative endgültig als Negatives bestehen zu lassen, man

Das bewegliche Gesetz 139

müsse es vielmehr als ein Positives anderer Art ansehen, Gesetz und Ausnahme stünden sich nicht unversöhnt gegenüber, sondern so- wenig innerhalb ihrer Schicht ein flauer Kompromiß ihre Schärfe abstumpfen dürfe, so stünde doch ein Gesetz höherer Schicht über ihnen beiden. Darum kann er, kraß, aber nun doch nicht wider- spruchsvoll, die ,, Natur" sich selbst gegenübersetzen, weil sie engeren und weiteren Sinn hat: ,,Die Knabenliebe", sagt er in seinem höchsten Alter, „ist so alt wie die Menschheit, und man kann daher sagen, sie liege in der Natur, ob sie gleich gegen die Natur ist". In unserm, dem prinzipiellsten Falle wird der Begriff des ,, beweglichen Lebens" der Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit überbaut: die Beweglichkeit tritt als das so absolut Bestimmende auf, daß sogar das völlig irreguläre Spiel, mit der die Erfahrung sich bald der Idee nähert, bald von ihr entfernt, eben wegen der darin offenbarten Beweglich- keit durchaus in dem letzten Sinne der Natur begründet ist. Ja, er spricht einmal aus, daß das Leben der Natur sich ,,Nach ewigen beweglichen Gesetzen" vollzöge. Das Gesetz ist doch sonst das Zeit- lose, Unbewegte da es ja erst der Bewegung ihre Norm vorschreibt, und so tröstet er sich auch einmal über das Unsichere und Irri- tierende der Erscheinungen: ,, Getrost, das Unvergängliche Es ist das ewige Gesetz nach dem die Ros' und Lilie blüht". Nun aber soll das Gesetz selbst beweglich sein ! Diese Beweglich- keit bedeutet nichts anderes als das Paradoxe und unermeßlich Tiefsinnige, daß die Abweichungen der Erscheinungen von ihrem Gesetz in diesem Gesetz selbst inbegriffen sind. Die mißbrauchteste aller Banalitäten: daß die Ausnahme die Regel bestätigt kommt hier zu einer wunderbaren Richtigkeit; und was er einmal als ,,die größte Schwierigkeit" bezeichnet: daß man im Erkennen ,, etwas als still und feststehend behandeln soll, was in der Natur immer in Bewegung ist", löst sich hier: das eigentliche Ziel desErkennens, in dem dieses zum,, Feststehen" gelangt, das Gesetz, ist in die dauernde Bewegtheit seines Gegen- standes, der Natur, eingegangen und damit ist die Fremdheit zwischen ihnen gehoben, die sich dort noch als ,, größte Schwierig- keit" erhebt. Hier klären sich noch einmal und nun von dem,

140 Bewegiongsfreiheit der Natur

so weit ich sehen kann, tiefsten Grunde her jene uns früher frappierenden Äußerungen über den Spielraum, die Freiheit, die Gesetzlosigkeit, die Ausnahmehaftigkeit der Erscheinungen: das Gesetz selbst ist ,, beweglich", und jener Begriff seiner, nach dem es selbst starr und nur die ideelle Norm für das Fließende und Flexible der Erscheinungen sei, enthüllt sich als eine vorläufige Scheidung, die von einer letzten kategorialen Einheit über- schmolzen wird. Da die Natur ein ,, bewegliches Leben" hat und nie aus ihren Gesetzen heraustritt, so sind eben die Gesetze selbst beweglich! Hier ist erst die eigentliche Konsequenz jener proble- matisch erscheinenden Bilder von der Bewegungsfreiheit erreicht, die die Natur innerhalb ihrer Gesetze besäße. Die Natur, so drückt er es einmal aus, hat ,, einen großen Spielraum, in welchem sie sich bewegen kann, ohne aus den Schranken ihres Gesetzes herauszutreten". Ist das Gesetz hier noch eigentlich eine bloß grenzbestimmende Umfassungsmauer, unter deren Respek- tierung die individuellen Phänomene ihr willkürliches Spiel, die Einzelheit als solche gesetzlos lassend, aufführen so hat das Gesetz als bewegliches die Starrheit durchbrochen, die ihm die Macht über das ganz Einzelne entzog : das beweg- liche Gesetz ist die Synthese von ,, Schranke" und ,, Spiel- raum". Vielleicht ist für unsere, an der mechanistischen Welt- anschauung orientierte Logik dieser Begriff des zwar ewigen, aber dabei beweglichen Gesetzes nicht mit detaillierender Klar- heit auszudenken. Aber er weist, wenn auch aus der Ferne und einem noch nicht zu zerstreuenden Nebel heraus, auf die Art hin, in der jene uns anthropomorph erscheinende Scheidung zwischen Gesetz und Ausnahme, Typus und Freiheit sich zu dem modernen Begriff des Naturgesetzes hinbrückt, der auf keine bestimmte Gestalt und Ergebnis losgeht und der deshalb der ,, Ausnahme" keinen Sinn läßt. Goethes ,, Gesetze" sind nicht die der kleinsten Teile, sondern enthalten, als ihr eigentliches Movens, die ,, Ge- stalt", den ,, Typus" in sich. Aber indem dieser nun sich tat- sächlich nicht immer, ja vielleicht niemals realisiert und dadurch der Erscheinung nach die ,, Ausnahme" entsteht, kommt das Gesetz, als bewegliches gedacht, dem nach, holt das Phä-

Überwindung der letzten Starrheit 141

nomen, das sich ihm zu entziehen schien, gleichsam wieder ein und beides schmiegt sich, in wiedergewonnener Einheit von Idee und WirkHchkeit, aneinander. Ich möchte es für dieselbe letzte Gedankenabsicht halten, wenn schließlich die Festigkeit des Typus, der als die Anschaulichkeitsseite des Gesetzes gelten kann, gleichfalls in eine Art Bewegung gerät. In dieser Schicht seiner tief sten Weltdeutungen lautet eine Äußerung: ,, Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß etwas anderes, unvergleichbares werden. In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über ihre Klasse hinüber und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigent- lich Singen heiße. Wer weiß, ob nicht der ganze Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höheren Ziele ist?" Hier ist also die Bewegung, mindestens nach einer Seite hin, in den Typus selbst hineingelegt: indem er in sich vollendet ist, geht er selbst über sich hinaus, die höchste Stufe innerhalb seiner ist zugleich die Stufe jenseits seiner. Wie die Beweglichkeit des Gesetzes auf eine metaphysische Einheit zwischen dem Goetheschen Ge- staltmotiv und dem Naturgesetz des Mechanismus hinweist, so diese Beweglichkeit des Typus zwischen dem gleichen Motiv und der modernen Entwicklungslehre. Und wie mit dem wunderbaren Gedanken, daß das Vollkommene der Art mehr ist als die Art, der Typusbegriff die Überwindung seiner Starrheit in sich selbst aufgenommen hat, so ist in das Gesetz, das seine eigene Flexi- bilität, das ,, Gestalten und Umgestalten", die Freiheit von jeder aktuellen Verfestigung nun sub specie aeternitatis enthält, der freie, die starre Norm umspielende Charakter der natürlichen Er- scheinung restlos aufgenommen; und es scheint mir, als ob alle anderen Begriffe, mit denen Goethe die Diskrepanz von Idee und Wirklichkeit zu versöhnen versucht, zu eben diesem als zu ihrem Schlußstein aufstrebten.

Fünftes Kapitel.

Individualismus.

Die geistesgeschichtliche Entwicklung der Individualität setzt sich an zwei Motive an. Jede Existenz: ein Stein oder ein Baum, ein Gestirn oder ein Mensch, ist zunächst individuell, indem sie irgendeine Art von geschlossenem Umfang besitzt, innerhalb dessen sie ein Selbständiges und Einheitliches ist. Hier kommt die von andern etwa unterschiedene Beschaffenheit des Wesens nicht in Betracht, sondern nur, daß dieses Stück des Daseins ein in sich zentriertes und in welchem Maß auch immer für sich bestehendes ist; gleichviel, ob es mit diesem Eigen- bestande dann in Abhängigkeiten und weitere Gesamtheiten ver- flochten ist. Bestünde etv/a die Welt aus lauter absolut gleich- artigen Atomen, so würde ein jedes von ihnen, von jedem andern qualitativ ununterscheidbar, dennoch in diesem Sinne ein Indivi- duum sein. Dieser Begriff aber erfährt sozusagen eine Steigerung, sobald das Anders-Sein sich auf die Eigenschaften des daseienden Subjektes erstreckt. Nun kommt es in Anwendung auf den Menschen nicht mehr nur darauf an, ein andrer zu sein, sondern ein anderes zu sein, als andere; nicht nur im Sein, sondern auch im So-Sein sich von ihnen zu unterscheiden.

Diese Kategorien haben gewissermaßen als reale Kräfte von jeher die Inhalte von Welt und Leben gestaltet; sie gewinnen nun in der Entwicklung des modernen Geistes ein über ihre reale Wirksamkeit hinausgehendes Bewußtsein. Und zwar in der doppelten Form: einmal als rein abstrakte Begriffe, mit denen die Erkenntnis die Struktur der Wirklichkeit deutet, und dann als Ideale, zu deren immer vollkommenerer Ausprägung der Mensch die eigene und die fremde Wirklichkeit zu entwickeln hätte. In der Ideenwelt des i8. Jahrhunderts dominiert die differentielle

Zwei Formen des Individualismus 143

Existenz des Menschen, das Gesammeltsein in dem selbstän- digen Punkt des Ich, die Gelöstheit eines für sich selbst verant- wortlichen Daseins aus den Verschmelzungen, Bindungen, Ver- gewaltigungen von Geschichte und Gesellschaft. Der Mensch, ein schlechthin individuelles Dasein, ist als solches metaphysisch ebenso absolut frei, wie er es moralisch, politisch, intellektuell, religiös sein soll. Indem er so seine eigene eigentliche Natur dokumentiert, taucht er damit in den Grund der Natur überhaupt zurück, von der die geschichtlich-gesellschaftlichen Mächte ihn losgerissen haben, weil sie ihm die Freiheit seines individuellen, nur in seinem eigenen Umfange wohnenden Fürsichseins genom- men haben. Die Natur aber ist der Ort der absoluten Gleichheit vor dem Gesetz: so sind denn alle Individuen in ihrem letzten Seinsgrunde gleich, wie die Atome der konsequentesten Atomistik. Die Beschaffenheitsunterschiede reichen in den entscheidenden Punkt der Individualität nicht hinüber. Vielleicht war es das Gefühl, daß das schlechthin auf sich gestellte, nur aus den Kräften des eigenen Seins gespeiste Individuum seine Vereinsamung und seine Verantwortung nicht tragen könnte, was diesen Indivi- dualismus einen Halt in der Zugehörigkeit zu der Natur über- haupt und in der Gleichheit aller solcher Individuen unterein- ander suchen ließ.

Die andere Form des Individualismus, gegen Ende des i8. Jahr- hunderts und namentlich bei den Romantikern rein ausgebildet, sieht die Bedeutung der Individualität nicht darin, daß sich der Kreis ihrer Existenz um ein selbständiges Ich legt, eine in sich geschlossene Welt ist sondern daß der Inhalt dieser Welt, die Qualitäten der Wesenskräfte und -äußerungen, von Individuum zu Individuum unterschieden sind. Man könnte ihn, im Gegensatz zu jenem formalen, den qualitativen Individualismus nennen; nicht die Selbständigkeit des Seins prinzipiell gleicher Wesen, sondern die Unverwechselbarkeit des So-Seins von prinzipiell un- gleichen ist ihm ebenso die tiefste Wirklichkeit wie die ideale Forderung des Kosmos und zuhöchst der Menschen- welt. Dort ist es der Lebensprozeß, dessen Formung nämlich sein Ablauf um gegeneinander isolierte und freie, aber homogene

144 Das Leben „von innen heraus"

Zentren herum in Frage steht, hier der Inhalt dieses Prozesses, den keiner seiner Träger mit dem andern teilt und teilen soll.

Zu dieser großen Entwicklung des Individualismus, deren reinste Aussprachen zu Goethes Lebzeiten stattfanden, hat er nun keineswegs ein einseitig entschiedenes Verhältnis. Soweit über- haupt nach einem der parteimäßigen und also rohen Schlagworte gefragt wird, muß seine Lebensanschauung eine individualistische heißen; es verleugnet sich nicht, daß den Geist seiner Zeit die angedeuteten Tendenzen leiteten. ,,Wenn ich aussprechen soll, sagt er kurz vor seinem Tode, was ich den Deutschen überhaupt, besonders den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich mich wohl ihren Befreier nennen: denn sie sind an mir gewahr geworden, daß, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künstler von innen heraus wirken müsse, indem er, gebärde er sich, wie er will, immer nur sein Individuum zutage fördern wird." Was als individuelles Leben erscheint, hat seine letzte Wurzel im Individuum selbst; dieses Verhältnis zum Leben setzt sich einer Dreiheit anderer Möglichkeiten entgegen.

Für gewisse theologische Denkarten strömen dem Individuum seine Energien, nach Maß und Richtung, von einer transzendenten Macht zu, die Inhalte seiner Existenz sind ihm ebenso wie diese Existenz selbst als bloße Teile eines eigentlich außerhalb seiner gelegenen Weltplanes verliehen. Der extreme Soziologismus ferner macht das Individuum zum bloßen Schnittpunkt von Fäden, die die Gesellschaft vor ihm und neben ihm gesponnen hat, zum Gefäß sozialer Einflüsse, aus deren wechselnden Mischungen die Inhalte und die Färbung seiner Existenz restlos herzuleiten sind. Die naturalistische Weltanschauung endlich setzt an die Stelle des sozialen Ursprungs des Individuums den kosmisch-kausalen. Auch hier ist das Individuum sozusagen eine Illusion, seine viel- leicht unvergleichbare Form entsteht nur in einem Zusammen- strömen ebenderselben Stoffe und Energien, die auch das Gestirn und das Sandkorn bauen, ohne daß diese Form ein eigener Ur- sprung von Inhalten und Betätigungen seines Lebens wäre. In all diesen Fällen kann der Mensch nicht ,,von innen heraus leben", weil sein ,, Inneres" als solches eben keine Produktivkräfte ent-

Individuelles Leben und typischer Inhalt 145

faltet; was er , .zutage fördert" ist nicht sein „Individuum", weil dieses überhaupt keine Substanz ist, sondern irgend etwas andres, Metaphysisches, Soziales, Naturhaftes, das nur die zufällige Form freier Individualität passiert hat; diese selbst kann nichts Produk- tives sein, und also nichts urtümlich Eigenes, sozusagen nicht sich selbst hervorbringen. Die Kardinalfrage der Lebensanschau- ung: ist das Individuum ein letzter Quellpunkt des Weltgeschehens, ist es seinem Wesen als Individuum nach schöpferisch; oder ist es ein Durchgangspunkt für Mächte und Strömungen überindivi- dueller Provenienz; ist es die Substanz, aus der die Formungen des geistigen Daseins quellen oder die Formung, die andere Sub- stanzen dieses Daseins annehmen diese Frage ist für Goethe in dem ersteren Sinne entschieden. Dies ist ein metaphysisches Grundgefühl Goethes, das freilich sein Verhältnis zum Problem der Individualität keineswegs abschließt, mit dem er aber jener ersten Form des Individualismus sich zubekennt.

Nun enthält aber diese Eigenproduktion des Individuums noch eine Zweiheit, die die eben getroffene Entscheidung noch einmal differenziert. All jene ihr entgegengesetzten Theorien waren im Sinne einer dynamischen Einwirkung auf das Individuum ge- meint; sein Leben war durch die realen Kräfte bestimmt oder sogar konstituiert, die von außerhalb seiner gelegenen Instanzen her flössen und an denen dieses Leben, als ein ablaufender Prozeß, seine richtunggebenden Kausalitäten fand; und diese bestimmten unvermeidlich auch die Inhalte eben des Lebensprozesses. Wenn nun aber dieser Prozeß sozusagen aus sich selbst, von innen her, abläuft, wenn er schöpferisch ist so braucht darum sein Inhalt noch keineswegs einzig, originell, unvergleichbar zu sein; dieser vielmehr kann durchaus ein typischer, vorbestehender, allgemeingültiger sein. Und damit scheint allerdings mindestens eine Richtung in Goethes vielverwebten Verhältnissen zum Problem des Individualismus bezeichnet. In ureigner Dynamik erzeugt sich der Prozeß eines jeden Lebens, ihm verbleibt das eigentlich Persönliche, das aus keiner transzendenten, mechani- schen, historischen Instanz stammt; und was er erzeugt, ist des- halb durchaus der echte Ausdruck eben dieser Persönlichkeit.

Simmel, Goethe.

146 Haben und Sein

Dies bedarf zuerst der Festlegung. Es gehören hierhin Aussprüche wie die, daß poetischer Gehalt Gehalt des eignen Lebens ist; hierhin die bedeutsamen Worte: „Man gibt zu, daß Poeten geboren werden, man gibt es bei allen Künsten zu, weil man muß. Aber wenn man es genau betrachtet, wird jede, auch die geringste Fähigkeit, uns angeboren, und es gibt keine unbestimmte Fähig- keit. Nur unsere zweideutige, zerstreute Erziehung macht die Menschen ungewiß ; sie erregt Wünsche, statt Triebe zu beleben, und statt den wirklichen Anlagen aufzuhelfen, richtet sie das Streben nach Gegenständen, die so oft mit der Natur, die sich nach ihnen bemüht, nicht übereinstimmen.** Deutlicher kann nicht die Individualität als die allein zu Recht bestehende Quelle des Lebens bezeichnet, entschiedener nicht dessen Gestaltung aus dem heraus abgelehnt werden, was uns als der Individualität Äußerliches und deshalb Zufälliges umgibt. Das gehört auch in den allgemeinen Sinn der unmittelbar ganz anders orientierten Äußerung über die ,, unverhältnismäßigen** Organe von Tieren: Hörner, lange Schweife, Mähnen, zu denen im Gegensatz der Mensch alles in die genaue Harmonie seiner Gestalt einbezieht und ,, alles was er hat, auch ist". Auch im Geistigen hängt so nichts am Menschen als ein Fremdes, so daß man diesen Satz in Goethes Sinn durchaus dahin variieren kann, daß der Mensch alles, was er erzeugt, auch ist. Es ist sein eigenes Leben, das das so gleichsam statisch Ausgedrückte in voller Be- wegtheitsform zeigt. Er war schon ein älterer Mann, als Personen seines näheren Umganges sich darüber äußerten, wie bildsam seine Ansichten wären, wie sie sich mit den Entwicklungen und Wandlungen seiner Lebendigkeit dauernd umbildeten. Im Unter- schied gegen Schiller, bei dem ,, immer alles fertig war'*, bemerkte eine dieser Personen, daß bei Goethe alles im Gespräch würde; eine zweite, daß seine Ansichten keineswegs stabil gewesen wären, und daß er, wenn man ihn gefaßt zu haben glaubte, das nächste Mal, ,,in einer anderen Stimmung", andere Meinungen geäußert hätte. Der Inhalt seines Lebens lag eben seinem Prozesse an, wie einem lebendigen Körper seine Haut, die aufs genaueste von seinen inneren Vorgängen jeweilig modifiziert wird. Vielleicht

Organische Verbindung von Prozeß und Inhalt 147

erklärt es sich von hier aus auch, daß er so oft von der Tatsache und Notwendigkeit des Wirkens und Tuns, von der rastlosen Tätigkeit spricht, in der die ,, Monas" der Persönlichkeit sich erhalten müsse, ohne doch anzugeben, wofür man wirken, wohin man diese Tätigkeit richten solle. Fast möchte man glau- ben, daß das Leben eben nur lebt und leben soll, daß die formale Ausübung seiner Bewegtheit der Wert seines Daseins ist, daß alle Inhalte und Zwecke in letzter Instanz nur insoweit Wert besitzen, wie sie die Bewegtheit des Lebens steigern; hat er doch unumwunden ausgesprochen: ,,der Zweck des Lebens ist das Leben selbst". Dennoch glaube ich nicht, daß dies seine eigentliche Gesinnung ist. Vielmehr nur, daß ihm die Erzeugung des wertvollen Inhalts in dem Maße, in dem das Leben immer mehr Leben, immer mehr Bewegtheit ist, etwas ganz Sejbstverständliches ist. Darum braucht er allerdings nicht zu sagen, was denn eigentlich Objekt und Zielwert der sich bewegenden Monas wäre. Man hat manchmal gegenüber Goethes Äußerungen über die Tätigkeit als letzte Forde- rung, über die Notwendigkeit des rastlosen Wirkens ein beinah peinliches Gefühl, mit alledem im Leeren zu stehen; denn man findet den wertvollen Inhalt nicht angegeben, als dessen Träger all jenes Wirken und Sichbewähren doch erst selbst ein Wert wird, während es sonst ein bloß Formales bleibt, dem Positiven und dem Negativen des Wertes gleichmäßig offen. Anders aber, wenn man erfaßt, wie organisch Goethe das Verhältnis zwischen Prozeß und Inhalt meint, daß das Leben prinzipiell nicht einen ihm fremden Wert als In- halt aufnimmt, an dessen Stelle es auch einen Unwert akzeptieren könnte, daß vielmehr, wenn es seinen reinen Sinn erfüllt, mit dem Vollzuge seines Prozesses den ihm angemessenen Inhalt aus sich heraus erzeugt. Dieser Inhalt liegt nicht als ein Objekt und Zweck außerhalb seiner, sondern ist die Produktivität des Lebens, von ihm nicht anders unterschieden, als das gesprochene Wort von dem Sprechen des Wortes. Eben diese Kraft des Lebens, das Rechte und Wertvolle nicht erst zu bekommen, sondern mit seiner Be- wegung selbst zu erzeugen, wendet jene Äußerung nur praktisch: man solle doch nicht ,, Wünsche erregen", sondern ,, Triebe beleben", und es sei das Wesen des Lebens, das zu ,,sein", was es ,,hat".

10*

148 Standpunkt der reinen Inhaltlichkeit

Und daneben, daß das Leben seine Inhalte so unmittelbar an seinen individuellen Verlauf angeschlossen hat, steht nun die vorhin angedeutete Möglichkeit, daß diese Inhalte in ihrer logi- schen, bezeichenbaren Bedeutung keineswegs singulär und nur für dieses Individuum gültig, sondern mit vielen geteilt und für viele gültig seien. Mindestens eine Richtung von Goethes Über- zeugungen wird damit angegeben. Alles Gescheite, so meint er, wäre schon einmal gedacht worden, es käme nur darauf an, es noch einmal zu denken womit er denn die Individualität des Prozesses und die Überindividualität des Inhaltes deutlich bezeich- net: er ermahnt: ,,das alteWahre, faß es an!" und ist überzeugt, daß im großen und ganzen die Lebensinhalte sich immer wiederholen. Noch bedeutsamer aber sind die an sich nicht so deutlichen Stellen, an denen er von der Geringfügigkeit der Unter- schiede zwischen den Menschen spricht: nicht einmal zwischen dem Genie und dem ganz simplen Menschen sieht er eine wirklich wesentliche Kluft; ,,wir sind eben alle von Adams Kindern" womit er zur Duldung für einzelne widerwärtige Äußerungen mahnt und ,,in jedem Besondern" sieht er, durch die ,, Persön- lichkeit hindurch das Allgemeine immer mehr durchleuchten". Unterschiede des Lebensprozesses selbst nach seiner Dynamik, seinem Vitalitätsmaße erkennt er dabei in voller Schärfe an, so sehr, daß er daraufhin sogar verschiedene Maße von Unsterblich- keit voraussetzt. Aber so kann man diese Konstellation wohl ausdrücken die den verschiedenen Lebensmaßen entsprechen- den, weil von ihnen erzeugten Lebensinhalte zeigen, vonandern Standpunkten aus gesehen, keineswegs gleich große Unterschiede, ja vielleicht gar keine: vom ethischen, intellektuellen, ästhetischen oder welchem Standpunkte aus immer können sie sehr ähnlich oder ganz allgemein sein; werden sie so oder gewissermaßen isoliert betrachtet, so gelöst von der Unmittel- barkeit des Lebens selbst, wie wir sie allerdings meistens oder unvermeidlich zu werten gewohnt sind so verschwinden die Individualisiertheiten, die sie als unmittelbare Ausdrücke der einzelnen Lebensintensitäten und nur als solche besitzen müssen.

So gedeutet erst scheinen mir die Widersprüche zwischen den

Individuelles und Allgemeines 149

angeführten Gruppen der Goetheschen Äußerungen aufgehoben. Was der Mensch denkt, leistet, darbietet, ist bei Einstellung in sachliche Ordnungen, als rein inhaltliche Qualität, etwas ganz andres als innerhalb des schöpferischen Lebens selbst etwas andres die Farben des Regenbogens als bloß optische Erschei- nungen und innerhalb der farbentheoretischen Anordnung und Diskussion, etwas anderes ebendieselben in dem sprühenden Spiel des Wasserfalls. Der Lebensinhalt steht unter diesen beiden Kate- gorien: er ist gleichsam als die Kristallisation des Lebensprozesses, als die Formung der individuellen Bewegtheit, selbst schlechthin individuell; und er kann dabei, als selbständiger und sozusagen nach außen hin gespiegelter, durchaus allgemein, ein ganz durch- gehender sein, er ist das gerade, sobald er aus dem echten Leben kommt, und er soll es sein. Darum kann Goethe, ganz nahe jenem Ausspruch, daß poetischer Gehalt Gehalt des eigenen Lebens sei und daß ein jeder doch nur sein Individuum zutage fördere, ver* künden: ,,der Dichter soll das Einzelne das heißt hier doch wohl: das einzelne eigne Erlebnis so zum Allgemeinen erheben, daß die Hörer es wiederum ihrer eigenen Individualität anzueignen ver- mögen" — so daß bei diesen die allgemeine Bedeutung der indivi- duellen Produktion wieder aus ihrer Allgemeinheit zurücktritt und als Individuelles erlebt wird. Mit dieser Deutung hat der typische Individualismus des i8. Jahrhunderts eine besondere Gestaltung gewonnen. In diesem war das Individuum ganz auf sich gestellt, seine Kräfte aus dem rätselhaften Punkte unbe- dingter Spontaneität hergeleitet, das Leben eines jeden ausschließ- lich die Entwicklung seiner selbst. Daß aber dabei die Menschheit nicht in atomisierte Splitter auseinanderfällt und auseinander- fallen soll, weiß diese Anschauung nur durch die behauptete Gleichheit all dieser Einzelnen in ihrem eigentlichen Kern und Wesen zu erweisen: die libert6 wird durch die egalit6 ergänzt. Das Fundament der Goetheschen Äußerungen läßt sich als eine tiefere und lebendigere Auffassung des Problems auslegen: durch die zweifache Bedeutung der vom Leben gezeugten Inhalte. Wenn er einmal von den ,, Eigenheiten" des geistigen Wesens spricht und daß ihre Phänomene ,, irrtümlich nach außen, wahrhaft nach

150 Quantitative Unterschiedenheit

innen" seien so offenbart er damit dies Prinzip der Zweiheit, wenn auch in anderer als in der hier fraglichen Richtung. Die Eigenwurzelung, das individuell schöpferische Leben der Einzelnen ist ihm nicht mit deren metaphysischer Gleichheit verbunden; vielmehr, eine grenzenlose Unterschiedenheit trennt ihre Lebens- intensitäten, trennt den Sinn ihres Daseins. Die Inhalte aber, die der Prozeß dieses Daseins unmittelbar und aus sich allein zeugte, die in ihm zentrieren und die Unvergleichbarkeit seiner jeweiligen Gestalt zeigen, haben zugleich eine Bedeutung ,,nach außen", sie fügen sich einer sachlichen Ordnung und Deutbarkeit, einem menschlichen Gesamtleben ein; und hier nun, ganz andren Wert- und Ordnungskriterien unterstellt, können sie eine prinzi- pielle Verwandtschaft oder Gleichheit zeigen, die für sie, insoweit sie dem individuellen schöpferischen Leben anliegen, gar nicht in Frage kommt. Wie sie , .wahrhaft nach innen, irrtümlich nach außen" sein können, ebenso individuell nach innen, allgemein nach außen.

Die bisher fragliche Unterschiedenheit zwischen Individuum und Individuum scheint nach manchen seiner Äußerungen nicht eigentlich in der qualitativen Färbung, sondern in dem Maße ihrer Lebensintensität zu beruhen: in der Fülle der Bewegtheit, in der Kraft des Sichbewährens und Sichbehauptens, in gewissermaßen quantitativen Unterschieden. In dieser Richtung meint er mit 62 Jahren: , »Größere Menschen haben nur ein größeres Volumen; Tugenden und Fehler haben sie mit den mindesten gemein, nur in größerer Quantität." Und quantitative Unterschiede geben sich ja auch am ehesten dazu her, die Einzelexistenzen voneinander zu differenzieren, ohne die Allgemeinheit ihrer Inhalte aufheben zu müssen. Und ganz entschieden äußert er sich, fast ein Acht- ziger: ,,Man spricht immer von Originalität, allein was will das heißen! Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vor- gängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig. Was können wir denn unser Eigenes nennen, als die Energie, die Kraft, das Wollen!" Dies gehört zu den prinzipiellen Möglichkeiten, das menschliche Wesen aufzufassen, und imter den großen Menschengestaltern

Wertung der individuellen Qualität 151

scheint mir noch Velasquez ihr nahezustehen. Auch an seinen Ge- stalten empfinden wir vor allen Dingen ihr bestimmtes, individuelles Maß von Vitalität, von Dynamik der Existenz; als liefe eine Skala bloßer Lebensintensitäten von seinem Grafen Olivarez und dem Dresdner Jägermeister, die wie kontinuierlich mit Lebenskraft aus- gefüllt scheinen, bis zu den ausgelaugten Habsburgern, in denen das Leben überhaupt keine Realität, sondern nur noch ein Schemen ist; und als habe jede seiner Figuren auf dieser Skala der Lebens- quantitäten eine unzweideutige Stelle, an der die Auffassung des Künstlers sie festlegt. Aber neben dieser Gestaltung des Indivi- dualismus, wie sie bei Goethe anklingt, entwickelte sich bei ihm die spätere, die ich als den qualitativen Individualismus bezeich- nete und für die Wesen und Wert des Menschen in der Besonder- heit oder Einzigkeit seines Beschaffenseins, seiner Eigenschaften besteht. Mit achtzehn Jahren schreibt er förmlich rabiat: ,, Hätte ich Kinder und einer sagte mir: sie sehen diesem oder jenem ähnlich, ich setzte sie aus, wenn's wahr wäre." Und ganz wenig später setzt sich diese Leidenschaft für das unbedingt Eigene, diese Wertung des Unerhörten in die einzelnen Momente des persönlichen Lebens selbst fort: , »Macht mich was empfinden, was ich nicht gefühlt, was denken, was ich nicht gedacht habe!" Und dann läßt er im Meister den Abbe offenbar seine eigene Meinung aussprechen: „Ein Kind, ein junger Mensch, die auf ihrem eigenen Wege irre gehen, sind mir lieber als manche, die auf fremdem Wege recht wandeln." Für diesen ganzen, in der Romantik aufgegipfelten Typus des Individualismus und seine geistesgeschichtliche Bedeutung zeigen wohl überhaupt die Lehrjahre den entscheidenden Durchbruch. Sehen wir zunächst von Shakespeare ab, so ist wohl hier zum ersten Male in der Literatur eine Welt gezeichnet (wenn es auch nur die kleine ,,Welt" bestimmter gesellschaftlicher Kreise ist), die völlig auf die individuelle Eigenheit ihrer Elemente gestellt ist und sich durch eben diese Eigenheiten in ihrer Weise organisiert und entwickelt. Man denkt hier natürlich an das größte dichterische Beispiel eines Weltbildes aus scharf individualisierten Einzelerscheinungen, an die Divina Commedia. Allein so wenig sich die Menschen im

152 Allgemeine Natur und persönlicher Schöpfer

Meister an Intensität ihres Daseins und Gewalt des Umrisses mit den Danteschen messen können, so besteht für diese doch nicht das Problem, das der Individualistik jener erst ihr eigentliches Cachet gibt: durch ihre Wechselwirkung eine Lebenswelt er- wachsen zu lassen. Dantes Gestalten stehen isoliert nebenein- ander, nur aufgereiht an der transzendenten Wanderung des Dichters und ihre Einheit nicht durch eigene Beziehungen findend, sondern durch die übergreifende, allumfassende göttliche Ord- nung, die jener Individualisationen sozusagen gar nicht als ihrer inneren Bedingung bedarf.

In der Konfrontierung mit der Individualistik Shakespeares rückt die Goethesche wieder unter ganz andere Kategorien, die den letzten Fundamenten ihrer gegensätzlichen Produktionsarten zugehören. Shakespeares Schaffen, seiner reinen Idee nach, findet sein Symbol an dem göttlichen Schöpfertum. In der gestal- teten Welt ist das Etwas, woraus sie gestaltet wurde, das Chaos oder das unbenennbare Sein, nun verschwunden, in die Summe der einzelnen Gestaltungen aufgegangen; ebenso ist, gleichsam von der anderen Seite, der Schöpfer selbst von diesen zurück- getreten, und überläßt sie sich selbst und den ihnen eingeprägten Gesetzen und steht nicht mehr als ein Greifbares und eindeutig Auffindbares hinter ihnen. Zu diesem Absoluten und Metaphysi- schen zeigen Shakespeares Figuren die künstlerische Analogie. Alle ihre ,,Naturhaftigkeit" besagt nicht, daß eine allgemeine, einheitliche ,, Natur überhaupt" noch unter der einzelnen fühlbar wäre, keine solche verbindet als ein gemeinsamer Wurzelboden die einzelnen, sondern jede von diesen hat das Sein wie bis zum letzten Tropfen in sich eingetrunken und es restlos in eben diese individuelle Form übergeführt. Und auf der anderen Seite: der Schöpfer selbst hat sich hinter seinem Werk unsichtbar gemacht, seine einzelnen Produkte weisen nicht auf ihn als Ergänzung oder Deutung, als Hintergrund oder ideellen Brennpunkt hin. Es ist mindestens ein sehr symbolischer Zufall, daß wir von Shake- speares Persönlichkeit außer einigen Äußerlichkeiten nichts wissen. Seine Produktionen und Gestalten haben sich von ihm abgelöst und cum grano salis zu verstehen es würde dem Verständnis

Das Naturganze und die Individuen 153

und dem Genuß keines seiner Werke etwas abbrechen, wenn ein jedes einen anderen Schöpfer hätte. Das Dasein, das jede seiner tragischen Gestalten darstellt, geht bis in deren letzte Wurzel- spitzen als individuelles hinunter und löst sie in unerhörter Selbständigkeit und geschlossener Plastik sowohl von der objek- tiven Zusammengehörigkeit aller Wesen wie von der Zugehörig- keit zu der dahinterstehenden Subjektivität des Dichters, die sie zusammenbinden könnte, los. In beiden Hinsichten sind die Werke und die einzelnen Gestalten Goethes anders orientiert. Goethes dichterische Produktion steht auf dem Gefühl eben derselben Natur, deren Begriff sein theoretisches Weltbild funda- mentiert. Die Welt ist ihm Ausgestaltung eines universellen einheitlichen Seins, das die Gestalten aus sich entläßt und in sich zurücknimmt (,, Geburt und Grab Ein ewiges Meer"), aber sie in keinem Augenblick aus dieser physisch-metaphysischen Grund- substanz sich völlig lösen läßt (,,Das Ewige regt sich fort in allen"). Die Verwandtschaft aller Gestalten, die bei Shakespeare höchstens in einer gewissen Gleichheit ihrer künstlerischen Formung, ihres Stils und ihrer Umrißgröße besteht, ist bei Goethe durch die Fundierung in der Natureinheit gegeben, aus der sich die einzelne nur hebt, wie aus dem Meere die einzelne Welle in ihrer vielleicht nie wieder- holten Form. Die ,, Natur", unter deren Bilde oder als deren Erzeugnis Goethe die Erscheinungen sah, war sehr viel weiter, metaphysischer, den Zusammenhang der Individuen lückenloser unterbauend, als die ,, Natur", die die Shakespeareschen Erschei- nungen hervortreibt. Aber darum war sie auch nicht so in die einzelne konzentriert, nicht mit so vulkanischer Stoßkraft die einzelne schaffend. Bei Shakespeare handelt es sich um die Natur der einzelnen Erscheinung, bei Goethe um die Natur überhaupt, die als die immer gleiche jeder einzelnen zugrunde liegt. Was er von sich selbst sagt: ,,Und so teil' ich mich, ihr Lieben, Und bin immerfort der Eine" gilt auch für die Natur und ihre individuellen Erscheinungen. Wir sind alle Kinder der einen göttlichen Natur, deren ,, Genie" auch in der ,, plumpsten Philisterei" lebt und die so alle Einzigkeiten der Individualitäten wie in einem einzigen, wenn auch unaussprechbaren Grundgesetz

154 Der Dichter und seine Gestalten

wurzeln läßt. Wie die typischen großen Menschen der Renaissance, haben sich die Shakespeareschen Individuen sozusagen von Gott losgerissen, das Metaphysische ihrer Existenz findet Platz zwischen ihrem Scheitel und ihrer Sohle, während die Goetheschen als Glieder eines metaphysischen Organismus wirken, als Früchte eines Baumes ohne daß diese irgendwie in ihnen beharrende und sie wieder in sich zurücknehmende ,, Natur" etwa eine quali- tative Gleichartigkeit unter ihnen bewirkte. Und nun sind diese Gestalten, gleichsam nach der anderen Seite, mit der Einheit der dichterischen Persönlichkeit verwachsen geblieben, sie sind als Äußerungen einer schöpferischen Subjektivität miteinander verbunden was auch seinerseits nicht die Einzigkeit ihres Be- schaffenseins alteriert. Bei Shakespeare liegt der dichterisch- schöpferische Persönlichkeitspunkt, in dem sich die Lebenslinien seiner Gestalten treffen, sozusagen im Unendlichen, bei Goethe rückt er nie ganz außer Sehweite. Nicht so, als hätten sie alle, als beschreibbare Phänomene, eine Familienähnlichkeit mit ihrem Erzeuger, als wären in jeder Züge des Goetheschen Wesens fest- stellbar oder als wären sie aus diesen, als aus fertigen Stücken seiner selbst, die er in der Hand hatte, zusammengefügt. Zwar, dieses Sich-selbst-Modellstehen, diese Projizierung des eigenen, schon angebbar geformten Seins in die Phantasiegestalt kommt bei Goethe oft genug vor, und ist oft genug hervorgehoben worden. Allein statt dieses einigermaßen Naturalistisch-Mechanischen meine ich hier etwas reiner Funktionelles und einer tieferen Schicht Zugehöriges: nicht das Übertragensein von Inhalten, sondern das dynamische Getragensein oder genauer: Vorgetragen- sein der Gestalt durch den Gestalter, durch den Schöpfer, steht in Frage. Die Figur steht nicht in demselben Sinne wie bei Shake- speare für sich, sondern sie ist das vom Dichter dargebotene Kunstwerk, sie ist zwar ebenso ,, gewachsen" wie jene, aber nicht ebenso gleichsam aus sich selbst, sondern aus der Lebendigkeit, dem Welt- und Kunstwollen Goethes: bei aller qualitativen Eigenheit und Differenziertheit bleiben Mephisto und Ottilie, Gretchen und Tasso, Orest und Makarie innerhalb der schöpfe- rischen Lebenssphäre des Dichters und der Lebenssaft, der diese

Erzählung und Erzählender 155

aus einheitlicher Quelle tränkt, bleibt in allen fühlbar eine Rückbeziehung der Geschöpfe auf den Schöpfer nicht auf Grund des Inhaltes, sondern des lebendigen, seine Kontinuität von diesem zu jenen nicht lösenden Schöpfungsprozesses. Am deutlichsten offenbaren dies die Romane. Im Werther wird es von vornherein dadurch gedeckt und vielleicht überdeckt, daß hier jene inhalt- liche Identität von Erlebnis und Werk besteht. Aber im Meister und in den Wahlverwandtschaften wird der künstlerische Stil durchaus dadurch bestimmt, daß wir überall den Erzähler fühlen. Es fehlt hier der formal-künstlerische Realismus (von der Ent- scheidung zwischen inhaltlichem Naturalismus und Stilisierung noch völlig unabhängig) , der die Ereignisse und Menschen auf sich selber stellt, so daß sie, wie von der Bühne, nur als ein unmittel- bares Dasein wirken; vielmehr, sie sind wirklich eine ,, Erzählung", die von dem dahinterstehenden, fühlbaren Erzähler getragen wird; bei aller Selbständigkeit der Personen und all der Zerpflücktheit der Komposition, die etwa die Wanderjahre zeigen, bleibt doch der Dichter die ,, Einheit der Apperzeption", die freilich hier einen eigenen Sinn hat. Nicht den Kantischen, dem sie die ideelle, objektive Beziehung von Erkenntnisinhalten bedeutet, unter Aus- schaltung des seelischen Lebensprozesses; nicht den subjektiven Sinn, für den der einzelne Bewußtseinsinhalt eben nur als Lebens- äußerung dieses bestimmten Subjektes von Bedeutung ist; son- dern in dem besonderen Sinn, der vielleicht nur zwischen der Erzählung und dem Erzähler besteht. Das Erzählte hat eine objektive Einheit, einen für sich verständlichen Zusammenhang seiner Elemente; der Erzählende hat in sich die Einheit seiner Person, die den psychologischen Zusammenhang seiner Vor- stellungen, seines Schaffens bedeutet oder trägt. Bleibt nun aber dieses Subjekt in seiner schöpferischen Aktivität in oder hinter jenem objektiven Gebilde spürbar, so schiebt sich (und das eben will diese ,, Spürbarkeit" besagen) die zweite Einheit in die erste hinein, das Gebilde bekommt einen neuen einheitlichen Schöpfungs- punkt; und es ist mit unserer, immer räumlich orientierten Be- griffssprache gar nicht recht möglich auszudrücken, daß dieser mit der objektiven Einheit des Erzählten weder zusammenfällt

156 Subjektivität und Objektivität

noch auseinanderfällt. Aber ausdrückbar oder nicht, die Goethe- schen Romane laufen innerhalb der Kategorien des „Er- zählers" ab und offenbaren damit die merkwürdige Kategorie der objektiv gewordenen, aber in dieser Objektivität sich nicht verlierenden Subjektivität, die Goethes Geisteswesen durch- gängig bezeichnet.

Sieht man von hier noch einmal auf Shakespeare hin, so er- scheint Goethe auch in seinen Dramen, von Iphigenie an, sozu- sagen als der Berichtende, Erzählende. Wenn Macbeth und Othello, Cordelia und Porzia reden, so ist in der ideellen Welt dieses Geschehens und Sprechens absolut nichts außer ihnen selbst vorhanden und spürbar, es gibt keinen Shakespeare, der sie als ihr heimlicher König bewegte, er ist völlig in ihr Eigenleben auf- gelöst. Aber bei allen Nuancierungen zwischen der Redeweise Antonios und der Prinzessin, Fausts und Wagners, Pylades' und Orests, haben sie, gegen jene gehalten, einen relativ gleichen Grundrhythmus, denn schließlich ist es immer Goethe, der sie reden läßt. Vielleicht ist diese Unmittelbarkeit, mit der Goethes Gestalten ihr Leben aus ihm selbst bezogen, die Ununterbrochen- heit der Säfteströmung zwischen ihnen, als wäre die Nabelschnur nicht gelöst vielleicht ist diese der Grund, weshalb Goethe vor dem Unternehmen einer ,, eigentlichen Tragödie" zurückscheute und meinte, daß ,,der bloße Versuch ihn zerstören würde". Aus eben diesem Zusammenhang ist die Spannung zwischen Subjek- tivität und Objektivität für Shakespeare etwas ganz anderes als für Goethe: dort besteht sie sozusagen überhaupt nicht, das Problem ist gar nicht auf sie eingestellt, hier ist sie überwunden, die Pole sind fühlbar, die Distanz zwischen ihnen meßbar und zwar gerade dadurch, daß die lebendige Funktion sie einheitlich verbindet. Niemals hätte Shakespeare daran gedacht, sein Schaffen als ,, gegenständlich" zu bezeichnen, wie Goethe, der sich offenbar durch diese Formulierung wie erlöst gefühlt hat. Shakespeares Lebensfülle ergießt sich im Augenblick ihres Aufquellens selbst wie an seinem Subjekt vorbei in die Selbständigkeit der Umrisse seiner Gestalten. Sie sind gegenständlich eben in dem absoluten Sinne des Wortes, der nicht erst durch ein Gegenüber- vom-Subjekt

Die Welt des Individuums 157

bezeichnet wird. Endlich muß mit diesen Strukturverhältnissen der Goetheschen Gestalten ein Moment in Beziehung stehen, das wieder auf unsere ursprüngliche Problemstellung des Individualis- mus zurückleitet. Fast jede Gestalt in Goethes großen Werken stellt eine Möglichkeit dar, die Welt anzuschauen, oder, anders ausgedrückt, von ihrem besonderen Sein her ein inneres Weltbild zu erbauen. Diese Welt mag klein genug sein; aber sie trägt doch den Charakter einer „Welt": einen bestimmten Charakter des Sehens und Fühlens, der nicht nur die vorgeführten Daseinsinhalte färbt, sondern auch an allem Dazwischenliegenden eine eindeutig gestaltende Kraft ausüben würde, eine zentrale Wesensart, um die das Bild einer lückenlosen und durch sie in Aufbau und Tönung bestimmten Daseinstotalität erwachsen könnte. Dies ist, soweit ich sehe, unter allen Shakespeareschen Gestalten nur auf Hamlet ohne weiteres anwendbar. Weder nach Romeo noch nach Lear, weder nach Othello noch nach Antonius läßt sich eine Welt auf- bauen; wohl aber auf Faustische oder Mephistophelische Art, auf die des Tasso oder Antonio, auch auf die von Charlotte oder Ottilie; der Meister ist in diesem Sinne eine Welt aus Welten. Jede dieser hauptsächlichen Gestalten ist das Apriori für eine Welt der Anschauung wie der Lebensgestaltung , während Shakespeares Gestalten die weltbildende Kraft ganz in ihr Leben eingeschlossen haben. Um sie alle ist wohl die Atmosphäre des Lebens und ihres individuellen Lebens, aber nicht so, daß sie sich zu einem in ihr nur zentrierten Bilde des Daseins überhaupt, auch außerhalb ihres Schicksals und Willens, objektivierte. Goethe hat seinen ersten Vorgänger in der Leistung, den Mikrokosmos eines Kunstwerkes aus Gestalten erwachsen zu lassen, deren jede das Zentrum einer individuellen geistigen Welt ist, in Raffael. Täusche ich mich nicht, so zeigt zum ersten Male die Schule von Athen eine künstle- rische, die Welt des Geistes überhaupt symbolisierende Zusam- menfassung von Persönlichkeiten, deren jede die besondere Tonart für je eine Weltsymphonie darstellen soll. Damit eben bestimmt sich für Goethe das Verhältnis, das die dargebotenen Äußerungen der Figuren zu ihrem Gesamtsein besitzen. Dies Verhältnis ist für alle Kunststile von großer Bedeutung. Mit dem Lebens- und

158 Umfang der Persönlichkeit

Kunstprinzip der Antike hing es durchaus zusammen, daß die Figur im Drama der genau umschriebene Träger eines bestimmten Handelns und Leidens, eines bestimmten Schicksals und der Art, es zu tragen, ist; der Mensch mit all seinen Beschaffenheiten und Kräften ist in die von dem Thema des Kunstwerks gegebene Form hineingegangen wie die Parthenonskulpturen genau das Leben haben, das der Gegenstand und die Gestaltung des künstlerischen Momentes verlangen; das Leben erfüllt diese Form genau, aber es ist kein darunterweg in breiterem, vielleicht transartistischem Strome sich Ergießendes. Erst im Hellenismus empfinden wir den dargestellten Moment als herausgehoben aus einem weiten, fluten- den Leben der Persönlichkeit oder dieses in sich sammelnd, indem es aber doch nicht in diesem Augenblick aufgeht, sondern nur von ihm aus sichtbar wird. Den Geschöpfen aller großen Men- schenschilderer ist es eigen in so verschiedenen Formen ihre verschiedenen Stile dies zum Vortrag bringen daß alles, was sie sagen und tun, nur als der zufällig beleuchtete, zu Worte kommende, dem Beschauer zugewandte Teil einer ganzen, gerundeten, eine Unendlichkeit andrer möglicher Äußerungen einschließenden Persönlichkeit erscheint. Was uns an Schiller- schen Figuren so oft unerträglich theatralisch und papieren vor- kommt, ist eben dies: daß sie keine seelische Innerlichkeit und Leben haben, außer dem, das sie in den Worten ihrer Rolle aus- sprechen. Die Grenzen ihres seelischen Umfanges fallen genau mit denen ihrer schauspielerischen Realität zusammen, sie sind wie der Schauspieler selbst, der vor und nach seinem Auftreten sozusagen nichts ist, nicht ist, und in dem von dem Leben der dar- gestellten Figuren nichts ist, außer dem, was er auf der Bühne sagt. Vielleicht hat von allen seinen Gestalten nur Wallenstein jene ge- heimnisvolle, über alle einzelnen Äußerungen hinausreichende Sphäre um sich, oder, anders ausgedrückt, diese Energie des alle Äußerungen erzeugenden Persönhchkeitspunktes, die fühlbar macht, zu wieviel mehr als eben diesen sie zureicht. Goethes Ge- stalten aber sind von diesem Mehr an jeder Stelle ihres erscheinen- den Lebens erfüllt. Was sind nicht Iphigenie und Tasso, Faust und Natalie noch außer dem, was man von ihnen hört! Was sie

Intellektualismus und Weltbildung 159

sagen, ist jedesmal nur der Strahl eines unendlich reichen, inneren Gesamtlebens, während Schillers Figuren immer nur aus diesem jeweiligen Strahl bestehen. Die Figuren aus Goethes Reifezeit haben das Einzige, daß sie die volle klassische Rundung besitzen und dennoch zugleich alles, was sie darstellen, nur der sammelnde und entscheidende Abschnitt einer unermeßlichen Lebenstotalität ist, auch ein farbiger Abglanz, an dem wir ihr Leben haben. Goethes Gestalten gleichen ihm selbst in der nicht weiter ausein- anderzulegenden Qualität, mit jeder noch so objektiven oder zu- fälligen Äußerung die Ganzheit eines einheitlichen, unmittelbar nicht ausgesprochenen und nicht auszusprechenden Lebens mit- klingen zu lassen. Daß aber dies Leben seiner Gestalten, jede ihrer Einzeläußerungen unterbauend und übergreifend, sich zu je einer ,, Weltanschauung" objektivierte oder objektivieren läßt das scheint mir mit seinem, Shakespeare gegenüber, immerhin intellektualistischeren Wesen zusammenzuhängen. Vergleicht man seine Menschen, die ich oben anführte, mit den zuvor genannten Shakespeares, so haben sie alle einen Hauch von Theoretischem, von einer Geistigkeit jenseits des naturhaften Seins. Und während das letztere in sich beschlossen bleibt oder sich nur mit realen Wirkungen gleichsam strahlenförmig in die Umwelt erstreckt, wirft das ideelle Schöpfertum des theoretischen Menschen leicht den Kreis einer ganzen Welt aus sich heraus. Oder, um die Be- ziehung zwischen dem Erwachsen individuell bestimmter ,, Wel- ten" und dem theoretischen Charakter der Individuen in deren Zentrum noch in einer tieferen Schicht zu fassen: die inneren Elemente des theoretischen Menschen haben von vornherein eine, mindestens potenziell, logische Struktur. Sie sind so geformt, daß sich aus den einzelnen leicht andere ergeben, daß ein Zusammen- hang unausgesprochener, ja ungedachter aus den geäußerten sich bündig erschließen läßt. An dem Seins- Charakter der Shake- speareschen Gestalten dagegen macht es sich geltend, daß das Sein als solches nichts Logisches ist und nicht logisch konstruierbar; nur seine qualitativen Bestimmungen mag man begrifflich aus einander entwickeln, das Sein selbst fordert eine ursprüngliche Setzung, es ist Sache des Erfahrens und Erlebens, und je mehr in einem Wesen

160 Einzigkeit der Individualität

die alogische Tatsache seines Seins dominiert, desto weniger darf man es, Gegebenes und Nicht-Gegebenes aus einander folgernd, gleichsam zu der Ganzheit einer Weltanschauung erweitern. Es ist vielleicht nur der psychologische Ausdruck hiervon, daß die Shakespeareschen Menschen Willens naturen sind und daß deshalb jene Unberechenbar keit und Spontaneität in ihnen ist, mit der der Wille sich von der intellektuellen Tendenz zum Zu- sammenhängenden, Teil nach Teil berechenbar und kontinuier- lich Erzeugenden unterscheidet. Es ist kein Zufall, daß die eigent- lich einzige Gestalt Shakespeares, deren Wesensart einer Welt- anschauung Bildungsgesetz und individuelle Färbung geben könnte: Hamlet eben kein Willensmensch, sondern eine intellektualistische Natur ist.

Dieses Bezeichnende Goethescher Gestalten: daß man auf ihre Namen ein Weltbild taufen kann, daß ihre einzelnen Äußerungen nur Bruchstücke eines ideell geschlossenen Gesamtanschauens, Gesamtfühlens sind zeigt nun erst den ganzen Sinn, in dem Goethes Menschengestaltung jener zweiten Form des Individualis- mus, die ich den qualitativen nannte, angehört. Sie bedeutete doch, daß das Anderssein zwischen Mensch und Mensch als entscheidender Wert gilt; während Fichte die erste Form des Individualismus damit festgelegt hat, daß ,,ein Vernunftwesen schlechthin ein Individuum sein müsse, aber nicht eben dieses oder jenes bestimmte" rückt der Akzent nun gerade auf das Bestimmtsein des Individuums, darauf, daß ein jedes jedem anderen gegenüber ein Unverwechselbares, Einziges ist. Gleichviel, ob die einzelne Figur als Typus gemeint ist und ob die Zufälle der Wirklichkeit noch ein oder viele genau gleiche Wesen erzeu- gen; der Sinn einer jeden ist doch, daß sie unterschieden ist, daß sie das Dasein auf eine nur ihr zukommende Weise ausdrückt, daß sie in dem Zusammenhange der Weltinhalte an einer Stelle steht, die nur sie erfüllen kann. Die metaphysische Auffassung der Individualität aber erreicht ihre ganze anschauliche Fülle und lebendige Ausgestaltung dann, wenn die Grundfärbung, die das Individuum in seiner Einzigkeit ausmacht, die Ganzheit des Daseins um das Individuum herum durchströmen und auf sich

Das Allgemein-Menschliche 161

abstimmen kann. Das menschliche Wesen ist erst dann wirklich ganz Individuum, wenn es nicht nur ein Punkt in der Welt, sondern selbst eine Welt ist, und daß es sie ist, kann es nur damit beweisen, daß seine Qualität sich als Bestimmung eines möglichen Weltbildes zeigt, als der Kern eines geistigen Kosmos, von dessen ideeller Totalität all seine einzelnen Äußerungen nur ganz partielle Verwirklichungen sind. Und von der anderen Seite gesehen: wird der Mensch so als der Quell einer Welt, gleichsam als der Name einer Weltanschauung aufgefaßt, wie es der Sinn der Goetheschen Gestalten ist, so muß jeder von jedem im Tiefsten individuell verschieden sein. Die Gleichheit all dieser Welten wäre bedeutungslos; denn dann genügte es sozusagen, wenn es nur eine einzige gäbe und jeder Mensch eine punktuelle Existenz in ihr darstellte. Die Unendlichkeit möglicher Weltbilder und daß jeder Mensch das Zentrum und das Gesetz eines solchen ist, hat nur einen Sinn, wenn keines von ihnen durch ein andres ersetzlich ist und ein jedes den Reichtum der Tonarten vermehrt, in die der Geist das Dasein als Ganzes transponieren kann. Indem jede der großen Goetheschen Figuren eine Art darstellt, wie nicht nur ein einzelnes Schicksal oder eine einzelne Aufgabe, sondern eine Welt begriffen, erlebt, gestaltet werden kann, offenbart sich erst ganz seine Auffassung des Individuums als des qualitativ Einzigen, das niemandem ,, ähnlich ist".

In einem eigentümlichen Verhältnis von Getrenntheit und Ver- bundenheit zu diesem Individualismus steht nun Goethes Schätzung des ,, Allgemein-Menschlichen" und zwar in dem doppelten Sinne, daß dies Allgemeine die eigentliche und tiefste Realität auch des Individuellen ist (so daß eine vervollkommnete Einsicht es ,, durch Nationalität und Persönlichkeit immer mehr durch- leuchten" sehen würde) und daß es zugleich der Wert der Existenzen ist, dem durch entgegenstehende Instanzen hindurch zur Verwirklichung zu verhelfen ist (,,Sinn und Bedeutung meiner Schriften* * , sagt er im hohen Alter, , ,ist der Triumph des Reinmensch- lichen"). Es ist zunächst sicher, daß das Allgemein-Menschliche für Goethe nicht die gemeinsamen Züge der individuellen Er- scheinungen bedeuten kann, die von den jeweils besonderen oder

Simmel, Goethe. '^

162 Die Vielheit als Existenzform der Einheit

einzigartigen abgesondert und zu dem abstrakten Begriff des „allgemeinen Menschen" zusammengefaßt würden. Dies Ver- fahren, eine nachträgliche mechanische Zerlegung des fertigen Phänomens und ebenso mechanische Synthese seiner Elemente, war das der rationalistischen Aufklärung. Goethe kann, im Gegensatz dazu, gerade nur den Grund der Erscheinungen meinen, der diese in all ihrer Mannigfaltigkeit erzeugt und trägt. Die Individualität erscheint ihm als die Darstellung eines Typus oder einer Idee, deren Leben nun doch in ihrer Ausgestaltung in unzählige besondere Formen besteht. Die Einheit und die Viel- heit widersprechen sich weder ihrer Wirklichkeit noch ihrem Werte nach, da die Vielheit die Existenzart der Einheit ist, und zwar auf den verschiedensten Stufen des Seins: die Einheit der Natur überhaupt und die Mannigfaltigkeit aller Erscheinungen überhaupt; die Einheit des organischen Typus und die Besonderung der Individuen; die Einheit der Persönlichkeit und der Reichtum ihrer differenten und gegensätzlichen Äußerungen. Daß diese Einheit sich innerhalb der Erscheinungen als etwas Allgemeines, als Gemeinbesitz gewisser Merkmale zeigt, ist sozusagen etwas Akzidentelles, mindestens etwas Äußerliches; das Wesentliche ist, daß sie die Individuen trägt und in diesen besonderen Gestaltungen lebt, als reale Wurzel oder metaphysische Idee, in vollkommenem Sichausdrücken im Individuellen oder in zufälliger UnvoUkommen- heit und Abgebogenheit. Von untermenschlichen Wesen spricht er hier in der typischen Art, wie es ihm auch für menschliche Individuen gilt; so über zwei Muschelarten, die bei ganz ab- weichenden Formen doch die Identität gewisser hauptsächlicher Züge verraten: „Da ich nach meiner Art zu forschen, zu wissen und zu genießen mich nur an Symbole halten darf, so gehören diese Geschöpfe zu den Heiligtümern, welche die nach dem Regellosen strebende, sich selbst immer regelnde, und so im kleinsten wie im größten durchaus gott- und menschenähnliche Natur sinnlich vergegenwärtigen." Ja, die partielle Gleichheit von Erscheinungskomplexen ist eigentlich und prinzipiell gar nicht die Bedingung, unter der diese einem gemeinsamen All- gemeinen zugehören:

Das historische Individuum 163

Und es ist das ewig Eine, Das sich vielfach offenbart; Klein der Große, groß der Kleine, Alles nach der eignen Art.

„Die höchste und einzige Operation der Natur und Kunst ist die Gestaltung und in der Gestaltung die Spezifikation, damit ein jedes ein Besonderes, Bedeutendes werde, sei und bleibe." Wie er keinen Augenblick daran zweifelt, daß die sittliche Forderung als Idee eine einzige, schlechthin allgemeine ist und dabei doch überzeugt ist, daß sie sich schlechthin individuell ausgestaltet und jedem ein für i h n und vielleicht für niemand sonst gültiges Ver- halten auferlegt so verliert für ihn das Allgemein-Menschliche in keiner Weise seine Einheit und fundamentale Identität dadurch, daß die Art seiner Existenz eine in beliebig verschiedene, ja polar entgegengesetzte Erscheinungen auseinandergehende ist. Hier leuchtet ein Punkt auf, von dem aus das, was an Goethes angeblich negativer Stellung zur , »Geschichte" nicht völlig sinnloses Gerede ist, Licht erhält. Goethe begriff die Individualität als Modifikation des Allgemein-Menschlichen, das in einer jeden gleichsam als ihre Substanz oder Lebensdynamik besteht, völlig unabhängig von Gleichheit oder Ungleichheit zwischen den Individuen. Gegenüber diesem Aufsteigen der Individualität aus dem Seinsgrunde des Menschlichen überhaupt, verlor sie als historisches Zufallsprodukt allerdings für ihn an Interesse. Den- ken wir an jene erste Form des Individualismus zurück, mit der der Rationalismus die formale Freiheit und Selbständigkeit aller Menschen und ihre natürliche Gleichheit logisch entwickelte: so hatte von dorther Goethe das tiefe Gefühl behalten, daß die Ge- staltung der Erscheinungen aus einer innerenNotwendig- k e i t quille, während die „Geschichte" nur eine äußerliche Kau- salität für diese Gestaltung anzuführen weiß. Aber diese Selb- ständigkeit des Prinzips band der Rationalismus eben noch ängst- lich an einen homogenen Inhalt, er konnte sich den innern Natur- grund, der die einzelnen Erscheinungen hervortreibt, nur an der wesentlichen Gleichheit ihrer aller herstellen. Für Goethe aber, der den Rationalismus überwand, äußerte sich dieser gemeinsame

XI»

164 Innere Mannigfaltigkeit des Einzelnen

Grund nicht weniger an der Verschiedenheit der Erschei- nungen. Die Macht dieses Grundes erstreckte sich nun lebendig und zeugend auch in diese Verschiedenheiten, die der Rationalis- mus nur dem historischen Zufall zuzuschreiben wußte.

Endlich erstreckt sich dies Motiv der aus der Einheit heraus- wachsenden, das Leben der Einheit darstellenden individuellen Mannigfaltigkeit in die Einzelpersönlichkeit hinein. Niemals ist Goethe an der Einheit des Typus Mensch und an der Einheit des einzelnen Menschen irre geworden. Offenbar aber hat sich schon in seinen zwanziger Jahren bei ihm die Anschauung ausgebildet, daß diese Einheit in sich differenziert sei, daß sie sich in einer Polarität von Eigenschaften oder Seiten der Persönlichkeit dar- stelle, daß der Mensch sozusagen zugleich groß und klein, gut und böse, bewunderungswert und verächtlich sei. So sagt Prometheus über seine sehr unzulänglichen Menschen:

Ihr seid nicht ausgeartet, meine Kinder,

Seid arbeitsam und faul,

Und grausam mild

Freigebig geizig

Gleichet den Tieren und den Göttern.

Und ersichtlich in demselben, nur auf den Menschen bezüglichen Sinn heißt es im Ewigen Juden:

O Welt voll wunderbarer Wirrung, Voll Geist der Ordnung, träger Irrung, Du Kettenring von Wonn' und Wehe.

Das Prinzipielle dieser Anschauung muß durch sein eigenes Lebensgefühl getragen sein. Denn wir wissen kaum von sonst jemandem, der sich so einheitlich, so fraglos als ein beharrendes Ich gefühlt hätte und doch, auch für sein eigenes Bewußtsein, in so viele Widersprüche und entgegengesetzte Tendenzen, objektiv in so viele ganz verschiedene Beanlagungen und Betätigungen aus- einandergezogen wäre, deren jede er als existenzberechtigt und in ihrer Besonderheit wesentlich empfand. In jener fundamentalen Einheit des Typus Mensch von der dahingestellt bleibe, ob sie als ideeller Hilfsbegriff, als biologische Realität, als metaphysi- scher Glaubensartikel zu fassen ist , liegt das ,, Allgemein-

Wert und Wertunterschied 165

Menschliche"; also sozusagen in dem Leben selbst, das sich in unzählige und mannigfaltigste Phänomene verzweigt, in jedem von ihnen als das immer identische beharrend nicht aber in einzelnen Gleichheiten, die etwa in diesen Phänomenen selbst durch Zerlegung und Abstraktion feststellbar wären.

Indem aber dies Allgemein-Menschliche nicht nur ein Sein, sondern auch ein Seinsollendes ist, nicht nur das eigentlich Lebendige in aller Individualität, sondern auch der Wert in ihr, gehört es einer der tiefsten, am meisten grundlegenden Formen in der Begriffswelt Goethescher Weltanschauung zu. Wie kann eigentlich das schlechthin Allgemeine wertvoll sein ? Mag es auch einen absoluten Wert haben, also einen solchen, der seinem Be- griffe nach nicht von irgendeiner Bedingung und einem über ihn hinaus liegenden Zwecke abhängig ist, so ist doch schwer begreif- lich, wie das damit ausgestattete Stück des Daseins seine Wert- bedeutung auch dann bewahren soll, wenn jedes andere Stück eben dieselbe in eben demselben Maße besitzt. Dann fällt ja diese Qualität mit dem Dasein überhaupt zusammen, und die Betonung und Auszeichnung, die jenem durch das Prädikat des ,, Wert- vollen" zukam, wird von der absoluten Nivellierung mit allen andern verschlungen. Welche Bedeutung auch ein Wert an und für sich hat sein Träger muß sich durch seinen Besitz irgend- wie von anderen abheben, damit er als ein wertvoller empfindbar werde; für unsern Geist, dessen Funktionen an Unterschiede seiner Inhalte geknüpft sind, scheint nur das irgendwie nach Maß oder Art Individuelle, nicht aber das aller Unterschiedlichkeit Enthobene das Subjekt eines Wertes sein zu können. Diese psychologische Relativität, an die unsere Wertungen nicht minder geknüpft sind als unsere Sinneswahrnehmungen und unsere Ge- danken, hat dem Kantischen Denken wenn auch nicht in dieser Formulierung seine Richtung vorgezeichnet. Daß der vernünftige Wille sich von dem eudämonistisch bestimmten ab- hebt, gibt ihm für Kant seinen spezifischen Wert; die erfahrung- bildenden Energien des Geistes haben nicht nur einen höheren sondern auch einen ganz andersartigen Wert als die spekulierende Vernunft: der ästhetische Genuß ist seinem Wesen und seinem

166 Wert der Totalität

Wert nach dadurch bestimmt, daß er sich von dem sinnlichen unterscheidet usw. Die ,, Grenzsetzung", die die Kantische Geistesarbeit vollzieht, hat mit dieser Anknüpfung der Wert- setzung an Unterschiede und Gegensätze eine weitere Provinz erobert, es offenbart sich darin die Weltanschauung, die den Sinn und Inhalt jedes Einen nicht ohne seine Differenz gegen ein Anderes zu denken vermag. Hat damit die psychologische Erfah- rung der ,, Unterschiedsempfindlichkeit" dem Kosmos der Werte überhaupt seine Form gegeben, so ist die Attitüde des Goetheschen Geistes zu diesem Wertproblem sozusagen eine viel mehr meta- physische: er empfindet tatsächlich die Einheit und Ganzheit des Seins als einen Wert, als das schlechthin Wertvolle, das zu diesem Charakter keiner Vergleichung bedarf. Hier gibt es kein So und Anderes, kein Mehr oder Minder. Gewiß meldet sich damit die Schwierigkeit, die den Pantheismus bei jeder Entwicklung über seinen Grundbegriff hinaus bedroht und die unsere Untersuchung in mehr als einem Zusammenhange hervorzuheben hat. Wie die absolute Einheit des Seins auch nur zu der erscheinenden oder scheinbaren Mannigfaltigkeit der Dinge kommen, wie sie wechselnde Zustände aus sich hervorbringen soll, ist schwer zu begreifen. Denn unser Verstand ist so eingerichtet, daß er Er- zeugung und Änderung immer nur aus der Einwirkung je eines Elementes auf ein anderes verstehen kann; an dem schlechthin Einen, das kein Anderes neben sich hat, finden wir keinen Grund, weshalb es aus seiner einmal gegebenen Form und Zustand heraus- gehen sollte, es bleibt in sich in ewiger Starrheit, da nichts da ist, wodurch es zu einer Änderung motiviert werden könnte. Diese Schwierigkeit, so zeigte ich, überwindet der Pantheismus Goethes, indem ihm das Sein, in seiner Ganzheit, von vornherein ein Lebensprozeß ist, ein ewiges Keimen und Gebären, Sterben und Werden aus der Einheit heraus, oder vielmehr: als die Existenz- form dieser Einheit des Seins selbst. Allein der Wert dieses Seins findet nicht auf dem gleichen Weg seine Möglichkeit, er bedarf dazu einer noch radikaleren Wendung, die unseren empirischen Wertungsweisen ganz absagt. Denn diese sind daran gebunden, daß jenseits des gewerteten Dinges ein anderes einen andern oder

Ästhetische Lösung 167

mehr oder weniger oder keinen Wert hat, und nur aus einem ganz neuen, logisch gar nicht begründbaren Grundgefühl hervor kann das ganze Sein, in seiner alles Neben-ihm und alle Vergleichung ausschließenden Einheit, seiner Indifferenz enthoben werden, kann es als Ganzes den Akzent des Wertes bekommen, der sonst nur aus dem Verhältnis seiner Teile untereinander erwächst. Der Wert des Gesamtseins ist sozusagen ein Dekret der Seele, für das es weder Beweis noch Widerlegung gibt, der Ausdruck einer Lebensstimmung, die selbst ein Sein ist und als solches weder richtig noch falsch. Vielleicht kann man sagen, daß die künstle- rische Naturanlage Goethes ihn zu diesem Wertgefühl disponierte. Die intellektualistische kann vielleicht zu der Vorstellung einer Welteinheit, eines sv Y,at Ttav führen, in dem alle Differenzen der Einzelheiten untergegangen sind aber sie wird nicht zu dem Gefühl eines absoluten Wertes dieses Ganzen vordringen; die moralische kann andererseits wohl zu einem absoluten Wert kommen, etwa zu Kants ,, gutem Willen", aber sie kann der Wertdifferenzen nicht entbehren, ja, jener absolute Wert ist für sie weniger eine Realität, als ein Ideal, hat also seine wesentliche Bedeutung als der Maßstab, an dem sich die relativen Werte der Realität in ihrer Unterschiedenheit markieren. Nur die ästhetische Geistesart, die der moralischen gegenüber eine größere Breite und sozusagen größere Toleranz besitzt, der intellektuellen gegenüber die Leidenschaft des Wertens, mag diese auch dem Seinsganzen gegenüber bewähren; sie reagiert auf jeden Eindruck mit Gefühlen von Wert und Bedeutung während das Wertgebiet der ethischen Natur sich immer nur mit einem Ausschnitt der Wirklichkeit decken kann und wo sie, wie es bei Goethe geschah, jene ge- heimnisvolle Beziehung zur Welttotalität besitzt, jene Fähigkeit, das Ganze als Ganzes auf sich wirken zu lassen, da wird sie eben mit der Wert reaktion, die sozusagen ihre natürliche Sprache ist, auch auf dieses antworten. Mehr als einmal kommt dieser übergreifende Wertbegriff bei ihm zu Worte, die Absage an dessen relativistische Bindung, die ihn innerhalb der empiri- schen Welt eigentlich immer nur je einer ihrer Parteien zukommen läßt:

168 Religiöser Wertbegriff

„Wie es auch sei, das Leben, es ist gut!"

„Ihr glücklichen Augen Was je ihr gesehn Es sei wie es wolle Es war doch so schön."

Vielleicht ist das zutiefst Religiöse in Goethe und der Charakter seiner Religiosität überhaupt damit ausgesprochen: daß ihm das Absolute ein Wert ist, daß ihm Wert nicht an Unterschiede ge- knüpft ist. Alle Religionen der Massen sind irgendwie durch die psychologisch-empirische Tatsache der Unterschiedsempfindung bedingt. Gott mag ihnen noch so sehr als das Absolute, das ens realissimum, der alleinige Quell oder Sitz des Seienden und des Guten gelten sie brauchen doch für ihn ein Gegenüber; sie kom- men nicht hinaus über den Dualismus zwischen dem erlösungs- bedürftigen Menschen und dem Erlösung gewährenden Gotte, zwischen der Häßlichkeit der Sünde und der Seligkeit des Heiligen, zwischen den gottverlassenen und den gotterfüllten Stücken des Daseins. Goethes religiöser ,,Natur"-Begriff, in dem das ewig Allgesetzliche, das Absolute des Daseins schon an sich selbst das zu Verehrende ist, das schlechthin Gütige, Vollkommene, Schöne ist offenbar seinem formalen Prinzip nach von allen kirchenbildenden Religionen ausgeschlossen. Sie können nicht das ganze Dasein, ,,es sei wie es wolle", anerkennen. Der Dualismus all solcher Religionen (selbst der buddhistischen, in der doch mindestens Leiden und Erlösung in absoluter Antinomie stehen) ist unversöhnlich von der Goetheschen Religiosität ge- schieden, in der die künstlerische Lebensstimmung am deutlichsten entfaltet, was sie an religiöser Bedeutung besitzt. Man kann die Goethesche Weltanschauung als den gigantischsten Versuch be- zeichnen, die Einheit des Gesamtseins unmittelbar und in sich selbst als wertvoll zu begreifen: wenn er Gott so weit reichen läßt wie die Natur und die Natur so weit wie Gott, beides sich gegen- seitig durchdringend und ineinander hegend so ist ihm Gott der Name für das Wertmoment des Seins, das mit seinem Wirk- lichkeitsmomente, der Natur, in eines zusammenlebt. In der produktiven Lebensanschauung des Künstlers sind Pantheismus

Versöhnung des Allgemeinen und des Individuellen 169

und Individualismus nicht mehr sich ausschließende Gegensätze, sondern die beiden Aspekte eines und desselben Wertverhältnisses. Er ist der Mensch der zartesten Unterschiedsempfindlichkeit, des sichersten Wissens um die Einzigkeit und die unvergleichliche Bedeutung jedes Daseinsstückes; das ethische Prinzip: jeden Menschen als Selbstzweck anzusehen, erstreckt er innerhalb der ästhetischen Wertungssphäre auf jedes Ding überhaupt. Aber eben damit wird sein Weltbild pantheistisch, der individuelle Wert jeder Einzelheit, die Möglichkeit, einer jeden eine ästhetische Bedeutung, ebenso in ihr wurzelnd wie über sie hinausreichend, zu entlocken deutet sich als die jeweilige Ausgestaltung einer Schönheit, die aus einheitlicher Quelle oder als einheitliche Quelle das ganze Dasein durchflutet.

Damit ist nun endlich das formale Prinzip gegeben, das für Goethe den Widerspruch zwischen seinem qualitativen Indivi- dualismus, der leidenschaftlichen Schätzung dessen, worin jeder einzig und anders als der andere ist und der ebenso leidenschaft- lichen Schätzung aufhebt, die er für das ,, Allgemein-Menschliche" empfindet. Dieses letztere gehört der Kategorie der wurzelhaften Einheiten zu, die keines Unterschiedes gegen Anderes bedürfen, um Werte zu sein ; sein Verhältnis zu den menschlichen Indivi- duen wiederholt in kleinerem Maßstabe dasjenige, das zwischen der Gott- Natur überhaupt und allen Daseinseinzelheiten über- haupt besteht. Damit aber wird der Wert des Individuellen nicht applaniert, sondern er besteht als solcher weiter, weil die Spezi- fikation ins Unendliche die Art ist, wie das unge- brochene Eine, der Typus, lebt; so daß die Schätzung des Indivi- duellen und die des Allgemeinen die Schätzung eines Lebens- prozesses ist. Nur die mechanistische Auffassung trennt beides, weil für sie das Allgemeine ein Abstraktum ist, gewonnen durch die Aussonderung der gleichen Merkmale als ob diese wie ato- mistisch und abspaltbar neben den andern liegen. Dies erst erschließt den wirklichen Sinn von Goethes immer wiederholter Forderung, im Individuellen das Allgemeine zu sehen. ,,Wer nicht gewahr werden kann, daß e i n Fall oft Tausende wert ist und sie alle in sich schließt, der wird weder sich noch andern jemals

170 Lebensteilung und Lebenseinheit

etwas zur Freude und zum Nutzen fördern können." Es handelt sich hier nicht darum, daß viele Erscheinungen, die ein äußeres Merkmal teilen, durch eine von ihnen vertreten werden, sondern um die Gleichheit des Lebens, das in ihnen allen fließt; um die schöpferische Einheit, die ein jedes zum Symbol des Ganzen und also auch jedes andern macht, nicht um die einzelnen Züge, die erst unsere nachträgliche Betrachtung voneinander trennt und in gleiche und ungleiche ordnet. Und dies war eben möglich, weil er das Dasein unter der Kategorie des Lebens erfaßte und durch diesen Aspekt als objektiven das Recht gewann, das Verhältnis zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen ohne Anthropo- morphismus nach der Formel seiner eigenen Existenz zu deuten, wie jene Stelle sie ausspricht: ,,Und so teil ich mich, ihr Lieben Und bin immerfort der Eine."

Sechstes Kapitel.

Rechenschaft und Überwindung.

Er war ein Deutscher," sagt Goethe von Serlo, „und diese Nation gibt sich gern Rechenschaft von dem, was sie tut." Er spricht damit die Erfahrung über eine entscheidende Tendenz seines eigenen Lebens aus. Vielleicht keinem zweiten unter den im großen Stile schöpferischen Menschen war es so natürliches Bedürfnis, mit sich selbst abzurechnen, sich des Lebens in einer Periodik bewußt zu sein, deren klare Überschau keinen seiner Inhalte ausließ. Mit sehr mannigfaltigen Äußerungen tritt dies in die Erscheinung. In der Jugend begeht er von Zeit zu Zeit ein ,,Hauptautodafe", vernichtet mit leidenschaftlicher Selbstkritik eine Unzahl von Produkten des letzten Zeitabschnitts; dann wieder geschieht es in der Form geistigen Einrangierens, er sucht die Kategorien auf, unter die seine Lebensinhalte gehören: „Ich muß nur", schreibt er an Schiller, „Altes und Neues, was mir in Sinn und Herzen liegt, wieder einmal schematisieren." In einem Überblick, der alle personalen Hauptmotive seines Lebens zu- sammenfaßt, bezeichnet er sein Bestreben als: ,,Nie geschlossen, oft gerundet"; was sich in dem so besonders Charsikteristischen symbolisiert, daß er seine Tage bücher noch einmal zu ,,A n - n a 1 e n" zusammenfaßt. In ebendieser Tendenz liebt er es von Jugend auf, Kunstwerke zu beschreiben und zu analysieren: er muß sich über alles, was ihn beeindruckt und von irgendwelcher Bedeutung für seine Entwicklung ist, Rechenschaft ablegen. Ein merkwürdiges Beispiel ist es, wenn er über 200 Gedichte aus ,,Des Knaben Wunderhorn" einzeln charakterisiert, jedes nach seiner ideellen Bedeutung und seiner Zugehörigkeit zu allgemeinen ästhetischen Begriffen immer aber im Stile jemandes, der sich über die Nuancen seines persönlichen Eindrucks Rechenschaft

172 Objektivierung des Subjekts

ablegen will. In den späteren Jahren endlich sind es die immer neu begonnenen Gesamtausgaben seiner Werke, die gleichsam als Haltepunkte dienen, um die bisherige Entwicklung zu über- schauen und mit Auswählen, Anordnen, Weglassen die Wert- rechnung über diese zu schließen. Welches ist nun der Zusam- menhang mit weiteren und tieferen Wesenszügen, in die sich diese Neigung verständlich einfügt?

Täusche ich mich nicht, so kommt auch in ihr die eine große Idee zu Worte, die sozusagen die schöpferische Existenz Goethes formt, und die ich als die ,, Objektivierung des Subjekts" bezeichne. Gewiß ist jede künstlerische Produktivität schließlich unter diese Formel zu bringen; allein wir wissen von niemandem, der ein so reiches subjektives Leben dauernd als eine so objektive Gegeben- heit und unter so objektiven Kategorien gelebt und ausgeformt hätte. Sonst fällt in der Regel der Akzent entweder auf die subjektive Seite, auch das abgelöste Erzeugnis ist ein unmittel- bares Sichausströmen des Ichs, es tritt sozusagen für den Schöpfer nicht aus dem Stadium des Innenerlebnisses heraus; oder umge- kehrt, es schwingt sich über das Subjekt wie über ein bloßes Sprungbrett hinaus, und als wäre es dem Innenerlebnis fremd, zieht es Sinn und Inhalt aus einer selbstgenugsamen Objektivität. In der bildenden Kunst, in der Poesie, in der Musik, ja man kann sagen: in allen Lebensäußerungen überhaupt scheiden sich die spezifisch lyrischen Naturen von den spezifisch dramatischen. Goethes Leben, als Ganzes angesehen, hat diesen Gegensatz mehr als irgend ein anderes überwunden, und zwar nicht durch ein von vornherein festes Verhältnis der Elemente, sondern in einer lebendigen Entwicklung, die von der dämonischen Subjektivität seiner Jugend zu der nicht weniger dämonischen Objektivität seines Alters führte. Es ist aber sehr merkwürdig, wie schon in der Jugend, in der doch die Fülle und Bewegtheit seines Inneren mit einer ganz einzigen Unmittelbarkeit und Unabgelenktheit in Äußerungen und Lebensgestaltung ausfloß wie schon in ihr die Objektivierung des Subjekts sich anzeigt. In all dem leidenschaft- lichen Gestammel der Leipziger Briefe an Behrisch zeichnet sich doch die Form des Werther vor, in dem die unbedingte Subjek-

Seelische Intimitäten 173

tivität sich durch Formung zu einem objektiven Gebilde von sich selbst erlöst. Mitten in der heftigsten Liebesraserei schreibt er an Behrisch: „Dieses heftige Begehren und dieses ebenso heftige Verabscheuen, dieses Rasen und diese Wollust werden Dir den Jüngling kenntlich machen." Und: ,,Es ist wahr, ich bin ein großer Narr, aber auch ein guter Junge." Wenig später, mit zwanzig Jahren: ,,Das habe ich mit allen tragischen Helden ge- mein, daß meine Leidenschaft sich gern in Tiraden ergeht." In all dieser jugendlichen wichtigtuerischen Selbstbespiegelung kün- digt sich doch schon die große Maxime an, alle Subjektivität des Daseins als eine objektive, in die Kategorien übersubjektiver Welt eingeordnete Wirklichkeit anzuschauen und zu erleben. Auch in seiner leidenschaftlichsten Zeit hat er nie den typischen Fehler der Jugend gehabt: sein Wesen und seinen Weg für den einzig richtigen zu halten. Daß er jeden für sich und in seine reigenen Richtung gelten ließ, das ist der Zug, der ihm im Tiefsten immer Eitelkeit und Neid fernhielt. Mit 21 Jahren tadelte er aufs stärkste ,,die Vorliebe für unsere eigenen Empfindungen und Neigungen, die Eitelkeit, eines jeden Nase dahin drehen zu wollen, wohin unsere gewachsen ist". Die Objektivität, die das andere Selbst in dem gleichen Rechtsstand wie das eigene erblickte, ist ebenso die Veranlassung einer fortwährenden Rechenschaftslegung über uns selbst, wie sie deren Folge ist.

Er hat damit nicht nur aus einer geistigen Form, die die Mensch- heit freilich oft genug fragmentarisch verwirklicht hatte, eine Art gemacht und anschaulich gemacht, auf die ein ganzes, einheit- liches Leben großen Stiles möglich ist; sondern zugleich der theo- retischen und der künstlerischen Kultur neue Provinzen erschlos- sen. Durch Goethe hat man mindestens in Deutschland erst gelernt, die letzten seelischen Intimitäten in abstrakte wie in dichterische Allgemeinheit und Objektivität zu erheben. Es be- stand, und besteht allerdings zum Teil noch die Vorstellung, daß seelische Vorgänge, die einen gewissen Grad von Zartheit, Komplikation, Differenziertheit zeigen, eben dadurch für immer ,in den Bezirk der Subjektivität gebannt blieben; sie könnten eben nur erlebt, allenfalls rein persönlich geäußert werden, seien aber

174 Überpsychologischer Sinn

gewissermaßen zu gebrechlicher Natur, um die Formung zum objektivierten Geist zu ertragen. Goethe nun hat die Möglichkeits- schwelle dieser Formung weit in jenes Gebiet hineingerückt. Ein Gedicht wie: „Warum gabst du uns die tiefen Blicke" ist ein absolutes Novum in der Geschichte des menschlichen Ausdrucks; daß derartig letzte Intimitäten des Gefühls dichterisch und darum ohne jede Verletzung der Scham herausgestellt werden, zeigt mit eins ungeahnte Möglichkeiten der Objektivierung dessen, was man bisher nur für subjektiv möglich hielt. Nicht anders ist es mit einer Reihe von Sentenzen über das innerste Leben, die vom Werther an seine Schriften durchziehen. Hier scheinen freilich die fran- zösischen Moralisten, besonders Larochefoucauld, ihm voran- gegangen zu sein. Genau angesehen aber halten diese sich in der Sphäre des Geistreichen, es ist, trotz aller treffenden Wahr- heit, nicht soviel Realität darin, weil man fühlt, daß nicht eine Tiefe und Breite, aus der es geholt ist, sondern die Pointe, zu der es sich erhoben hat, den eigentlichen Interessenpunkt des Denkers bildet. In äußerstem Gegensatz hierzu kommt es Goethe allein auf den Erlebnisinhalt an, und daß dieser zu der Form der Sentenz kristallisiert, geschieht sozusagen von selbst, durch ein organisches Wachstum des Vorgangs innerhalb der Seele. Die Hauptsache aber ist, daß bei jenen Franzosen alles nur psychologisch gemeint ist, allenfalls einer, nicht besonders tiefen, ethischen Wertung unterliegt. Bei Goethe aber spürt man stets den großen Zusammen- hang, den das Seelische nicht nur psychologisch, d. h. als die Ver- knüpftheit der Inhalte des Bewußtseins besitzt, sondern als Da- seiendes und Geschehendes mit allem Dasein und Geschehen, als Weltelement mit der Welt. Auch wo er über die verwickeltsten und zartesten seelischen Dinge Allgemeinheiten ausspricht, sind das nicht nur psychologische Generalisationen, sondern sie gehen auf das Leben überhaupt und auf die tiefere, kosmische oder metaphysische Bedeutung, die das Seelische umfaßt oder sich in ihm offenbart. Hier imd da mag eine analoge Einzelheit vorher auffindbar sein; aber niemand vor ihm hat den intimsten Fein- heiten und Tiefen diese Form allgemeingültigen Ausdrucks ge- wonnen, erst seit ihm ist es ein Zug unserer geistigen Attitüde ge-

Leben und Kunstwerk 175

worden, daß wir die seelisch wertvollen Erlebnisse sich einem ganzen Kosmos überindividueller Wahrheit und Weisheit zuentwickeln lassen. Hier betrifft die Objektivierung des Sub- jektiven nicht nur die geistige Formung, sondern das Subjektiv- Seelische wird dadurch ein Objektives, daß es als Existenz, als Be- stimmung unseres Daseins, einen Weltsinn hat, sich als ein Stück, ein Schicksal oder ein Träger des Lebens überhaupt dem realen oder ideellen, aber immer objektiven Allsein einfügt. Es bedarf keiner Ausführung, welche sublime ,, Rechenschaft" nun auch für unser Intimstes und Persönlichstes in diesem Verallgemeinern und Objektivieren liegt. Denn es hat damit ein Gesetz über sich ge- stellt, vor dem es sich um so strenger zu verantworten hat, je mehr dies Gesetz aus ihm selbst hervorgegangen ist, nur für es selbst und seine Beziehung zu der Totalität von Sein und Idee gilt. Man hat das Goethesche Leben oft genug als ,,ein Kunst- werk" bezeichnet. Daß man diesem Leben damit den höchsten Wert zuzusprechen meinte, gehört zu dem Größenwahn modernen Artistentums. Das Leben wächst aus eigner Wurzel und seine Normen sind autonom, nicht aus denen anderer Gebilde herleitbar, die vielleicht erst aus ihm entsprungen sind: das Leben kann und soll so wenig ein Kunstwerk sein, wie es ein logisches Schlußver- fahren oder eine mathematische Rechnung sein kann und soll. Er spricht es selbst, etwa 1825, aus, er achte das Leben höher als die Kunst, die es nur verschönere. Mag dieses ,, Verschönern" ein etwas flüchtig gesprächsmäßiger Ausdruck sein, so ist jedenfalls die Einstellung des Lebens in das Ideal des Kunstwerks als in ein übergreifendes entschieden abgelehnt. Nun mögen gewisse norma- tive Formen dem Leben und der Kunst gemeinsam sein und nur so kommt jenem Ausdruck ein partielles Recht: es ist dem Goethe- schen Leben analog, wenn im Kunstwerk ein innerlicher, im persönlichsten Leben gezeugter Vorgang eine Form anschaulichen Daseins gewinnt, als wäre diese Erscheinung seiner nach objek- tiven Normen, dem Gesetz und der Idee der Sache allein gehorsam, erwachsen. In diesem Objektivieren des Subjekts vollzieht sich die Arbeit Goethes an seiner eigenen ,, Bildung". Es ist häufig aus- gesprochen worden, daß Goethes ganze Entwicklung ein fort-

176 Bildung und Gebilde

währender Prozeß des „Sichbildens" war. „Ich habe Natur und Kunst", so gesteht er im höchsten Alter, ,, eigentlich immer nur egoistisch studiert, um mich zu unterrichten. Ich schrieb auch nur darüber, um mich weiterzubilden. Was die Leute daraus machen, ist mir einerlei." Schon 48 Jahre vorher ist er sich darüber ganz klar: ,, Meine Sachen gehen ordentlich und gut," schreibt er an Frau von Stein, ,,es ist freilich nichts Wichtiges, noch Schweres, indessen da ich, wie Du weißt, alles als Übung behandle, so hat auch dies Reiz genug für mich." Alle Inhalte des Daseins leitete er in sich hinein, um sein Ich an ihnen aufwärts zu bilden. Allein an diesem ,, Egoismus" haftete nichts sittlich Fragwürdiges, denn die Vollendung seiner Person war ihm eine objektive sittliche Auf- gabe, so gut wie eine auf andere Personen gerichtete es sein konnte. Die eigene Bildung bedeutete für ihn keineswegs nur die wachsende Aufnahme an Stoffen des Wissens und Könnens, sondern be- deutete, daß er mit deren Hilfe immer mehr zum ,, Gebilde" wurde, das heißt, zu einer Existenz, die, wie anderen, so auch sich selbst als ein objektives Weltelement gegenüberstand. Er wußte sehr wohl, daß der Mensch als subjektives, auf sich selbst gerichtetes Wesen, nicht gleichsam aus sich selbst zu dieser objektiven Be- deutsamkeit, sich selbst als Weltelement zu wissen, gelangen kann; daß er sich dazu vielmehr erst zum Gefäß der Welt, das aufnimmt und abgibt, machen muß. Darum mußte er rastlos lernen und rastlos schaffen, mußte gleichsam das Dasein durch sich hindurch- leiten, um an seiner Objektivität teilzuhaben. Je mehr sein Sub- jekt sich mit Weltstoff erfüllte, je reicher und treuer sich das Dasein in ihm spiegelte, um so mehr wurde es selbst zum Objekt, desto verwandter, desto zugeordneter wurde es diesem objektiven Dasein selbst. Der Doppelsinn von ,, Bildung" kam hier zu seinem Rechte: dadurch, daß er lernend, forschend, produzierend sich selbst bildete, ,, bildete" er sich, das heißt, formte er sein Subjekt zu einer objektiven Gestaltung, die er nicht nur war, sondern die er als geformten Inhalt sich gegenüber sah. Dieses sublime Be- wußtsein gestattete ihm in demselben Sinne, in dem er vorhin von seinem ,, egoistischen" Lernen gesprochen hatte, seine Werke als eine bloß persönliche Konfession zu bezeichnen. ,, Meine Arbeiten

Werke als Lebensspuren 177

sind immer nur die aufbewahrten Freuden und Leiden meines Lebens", schreibt er in seinem 26. Jahre und 40 Jahre später: „Meine ernstliche Betrachtung ist jetzt die neueste Ausgabe meiner Lebensspuren, welche man, damit das Kind einen Namen habe, Werke zu nennen pflegt." Nur wer sein Subjekt als etwas so Objektives weiß, wird seine objektive Leistung als etwas so Subjektives ansprechen. Und darum ist es nicht der geringste Widerspruch gegen die letzte Äußerung, wenn er, gleichfalls im hohen Alter, das scheinbar Entgegengesetzte ausspricht: ,,Was bin ich selbst? Was habe ich getan? Ich habe alles, was ich ge- sehen, gehört, beobachtet habe, gesammelt und benutzt. Meine Werke sind von tausend verschiedenen Individuen genährt; Un- wissende und Weise, Geistreiche und Dummköpfe, die Kindheit, das reife Alter, das Greisentum haben mir ihre Gedanken, ihre Fähigkeiten, ihre Hoffnung, ihre Seinsart dargeboten; ich habe oft die Ernte gesammelt, die andere gesät haben. Mein Werk ist das eines Kollektivwesens und trägt den Namen Goethe."

In höherem Alter erreicht die Einheit von Subjekt und Objekt, die zu leben und zu verkünden den metaphysischen Sinn seiner Existenz ausmacht, ihre höchste und reinste Reife. Nachdem der Akzent in all seinem Denken und Verhalten ganz auf die Objekt- seite der Gleichung gerückt war, kann nun von da aus wieder das Subjekt die umfassendste Bedeutung erhalten, können nun, wie man weiß, selbst seine Berichte über die sachlichsten naturwissen- schaftlichen Studien autobiographische Form erhalten. In der Jugend wäre das eine Subjektivierung gewesen; jetzt ist davon keine Rede, sein Subjekt ist nur der Sammelpunkt von Sachlich- keiten, er, inbegriffen alle Inhalte, alle Schicksale, alle Erfahrun- gen, ist sich ein Gegenstand objektiven Beobachtens und Erlebens und ebendamit auch objektiven Wertens. So spricht er z. B. über die ,,der Natur des Menschen gemäße" Neigung, Erscheinun- gen für verwandter zu halten, als ihre tatsächliche Ähnlichkeit es rechtfertigt: ,,Ich habe an mir selbst bemerkt, daß ich diesen Fehler oft begehe." Ein anderes Mal von der Richtung des Natur- betrachtens, die von dem Eindruck des Ganzen zu der Beobachtung der Teile fortschreitet: ,,Ich bin mir dabei recht wohl bewußt,

Simtnel, Goethe. ^2

178 Objektives Erleben seiner selbst

daß diese Art der Naturforschung, so gut wie die entgegengesetzte, gewissen Eigenheiten, ja wohl gewissen Vorurteilen unterworfen sei." So gibt er in höheren Jahren die Subjektivität seines Er- kennens oft spontan zu auch sie war ihm ein objektives Phä- nomen geworden. Jener autobiographische Ton des Goetheschen Alters ist eine besondere Form der Konfession, zu der das Alter der Künstler überhaupt zu neigen scheint; ich brauche keine Beispiele dafür zu nennen, wie oft die späten Werke der großen Künstler Beichten sind, ein Herausstellen des subjektivsten Seelen- kernes, um den keine Hülle und Scham mehr ist, weil das Subjekt sich seiner Subjektivität enthoben und schon einer höheren ge- ahnten oder innerlich geschauten Ordnung zugehörig fühlt. ,, Alter", sagt Goethe einmal, ,,ist stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung" und das kann ebenso bedeuten, daß das Wesen die Hülle fallen läßt, v/ie daß es sich aus allem Offenbar- sein in ein letztes Geheimnis zurückzieht; und vielleicht kann das erste gelten, da doch das zv/eite gilt. In so tiefer und sich mit den Jahren immer vertiefender Einheit empfindet Goethe seine persön- liche Existenz mit der Natur und Idee der Dinge, daß jede Mit- teilung natur- oder kunstwissenschaftlicher Art den Stil und Ton eines erzählten persönlichen Erlebnisses annimmt, als sei jeder Sachverhalt, der sich ihm neu aufschließt, eine neue Stufe seiner innerlichsten Entwicklung. ,,Der Mensch", sagt er in dieser späten Zeit, ,,wird die Welt nur in sich und sich nur in der Welt gewahr. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf." Und nur von der anderen Seite her offenbart sich diese höchste Einheit darin, daß die Art, wie Goethe seinem eigenen Leben im Alter gegenüberstand, die großartigste Objektivierung des Subjekts ist, von der wir wissen. Denn nicht nur die Ver- gangenheit, die er als abgeschlossen ansehen konnte, war ihm ein reines Bild geworden. Sondern der eben erlebte Tag war ein solches, ja, der Moment des Erlebens selbst war ihm ein objek- tives Geschehen nicht nur im Sinne der gleichzeitigen Selbst- beobachtung, der Spaltung des Bewußtseins, die sicher oft gar nicht bestand, wenigstens nicht mehr als bei vielen anderen Men- schen auch; vielmehr, der innere Ton des Erlebens, die Art, wie es

Resignation 179

subjektiv unmittelbar vorging, hatte den Charakter der Objektivi- tät. Was er dachte und fühlte, war ihm Ereignis, wie Sonnenauf- gang oder das Reifen der Früchte, er stellte das Ich nicht nur als ein wissendes den Erlebnissen als dem Gewußten gegenüber, son- dern von vornherein war das Erleben dem kosmischen Geschehen eingeordnet; was vielleicht die Gestalt Makariens in absoluter Vollendung symbolisiert. Nicht nur einzelne Lebensinhalte waren ihm objektiv geworden, sondern sozusagen der Lebensprozeß selbst er bedurfte für diese Objektivität nicht mehr der Form des Gegenüber. Diese Gegensatzschärfe war der Kategorie genommen, unter der er sich erlebte, als eben derselben, unter der die Ereig- nisse des Kosmos selbstgenugsam abrollen.

Diese Einheit aber enthält ein Element oder eine Voraus- setzung, die auf den ersten Blick gerade der Tiefe ihrer Wurzelung widerstreitet. Durch das Goethesche Leben geht von sehr früh an ein Zug von Resignation, dem er oft Ausdruck und Nachdruck gibt. Die Eingeordnetheit in Wirklichkeit und Idee des Seins- ganzen, das unmittelbare Sich-hingeben und -ausgeben des Lebens, sicher, daß damit der Norm der sachlichen Ordnungen genügt werde diese Grundformel der Goetheschen Existenz scheint durch das Gefühl fortwährend nötigen Verzichtes, Zurückhaltens und Beherrschens seiner selbst durchbrochen zu sein. Eine Äuße- rung aus seinem 33. Jahre weist vielleicht, wenn auch nicht in gerader Linie, auf die Lösung des Widerspruchs hin: ,,So viel kann ich Sie versichern, daß ich mitten im Glück in einem anhaltenden Entsagen lebe und täglich bei aller Mühe und Arbeit sehe, daß nicht mein Wille, sondern der Wille einer höheren Macht geschieht, deren Gedanken nicht meine Gedanken sind." Hier liegen die Elemente freilich noch in ungelöster Problematik zusammen: lein subjektives Wollen und Fühlen, das sich zur Einfügung in eine jenseits seiner gelegene, objektiv höhere Ordnung aufgerufen fühlt und dies nur in der Form des Verzichts erreicht. Der Sinn aber dieses Verzichtens in dem allgemeinsten, sein Leben durch- ziehenden Sinne scheint mir kein anderer zu sein, als daß ihm nur auf diesem Wege jene Objektivierung seines Subjekts gelang. Er mußte sich dauernd überwinden, damit die Intensität, die un-

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180 Entsagung als Lebensformung

mittelbare, selig-unselige Strömung seines Lebens gegenständlich werden konnte. Die Selbstüberwindung und die Vergegenständ- lichung waren nicht ein Nacheinander zweier Akte, sondern einer und derselbe, von zwei Seiten gesehen. All dem Glühen und Drän- gen seiner Seele war die Selbstüberwindung sehr früh zugewachsen, damit es Form werden konnte. Für seine Seele war es die Voll- endung, daß sie über die bloße subjektive Lebendigkeit hinaus sich selbst zum Objekt, ja sozusagen an und für sich zum Objekt wurde; und dies errang sie in der Form eines dauern- den Sichselbstüberwindens, einer immer bewußteren Herrschaft über sich selbst. Dies ist keine Zerreißung seines Lebens, sondern dessen ganz einheitlicher Charakter. Wenn er jene vorhin be- rührte , »Bildung", das ,,zum Gebilde Werden", dadurch gewann, daß er immer mehr objektiven Weltstoff seiner persönlichen Ent- wicklung an- und einbildete, so weiß er später sehr wohl, wieviel strenge Begrenzung dies fordert: die Bildung ist der geistige Reflex des Geheimnisses des Organismus, sich mit seinem Wachstum zugleich seine Form, d. h. seine Grenze zu geben. ,,Jede Bildung", sagt er als Siebziger, ,,ist ein Gefängnis, an dessen Eisengitter Vorübergehende Ärgernis nehmen, an dessen Mauern sie sich stoßen können; der sich Bildende, darin Einge- sperrte, stößt sich selbst, aber das Resultat ist eine wirklich ge- wonnene Freiheit." Auch sein Verhältnis zur Natur, mit seinem treuen Eifer und enthusiastischen Eindringen und dem gleich- zeitigen Haltmachen vor den letzten Geheimnissen, der Über- zeugung, daß ein Unerforschliches da sei, das sich uns versage, ist die Lebenseinheit von Hingebung und Resignation. Das Von-sich- Wegtreten, mit dem er sein eigenes Objektsein gewann, war zugleich ein Von-sich- Absehen, ein Verzicht auf das, was das Subjekt, solange es in sich selbst verbleibt, zu sein und zu ge- nießen begehrte. Vielleicht aber sind diese Lebenswerte innerlich in umgekehrter Richtung verbunden. Vielleicht dies läßt sich nur wie aus der Ferne andeuten ist ihm Selbstüberwindung und Entsagung das Urphänomen seiner sittlichen Menschlichkeit und alles, was ich die Objektivierung seines Subjekts nannte, nur eine Folge, eine Erscheinung, ein anschaulich Positives zu diesem Letz-

Begrenzung 181

ten ein Positives, in dem sich die besondere Wertart dieser Resignation äußern mußte, da sie doch nicht Askese war. Wir pflegen in der Resignation vor allem das Moment des Leidens zu betonen und zu empfinden. Aber dieser Gefühlsreflex ist für Goethe ganz unwesentlich. Der ,, Entsagende" ist der Mensch, der seinem subjektiven Dasein die Form gibt, mit der es sich der objektiven Ordnung der Gesellschaft oder des Kosmos überhaupt einfügen kann; oder, in der anderen Richtung gesehen, sobald der Mensch sich über das bloße Ausströmen seiner Existenz hinaus eine Form geben will, in der er sich selbst als Objekt, als ein Welt- element anschaut, so muß er entsagen. Jede Form ist Begren- zung, ist Verzicht auf das, was jenseits der Grenze ist; und nur durch Formung entsteht jedes feste, weltmäßige Sein, das dem Subjekt gegenübersteht, und zu dem es sich selbst zu gestalten hat. Das Sich-selbst-Beherrschen und Entsagen, das ohne Beziehung auf dies oder jenes Bestimmte und ohne jede Leidseligkeit, sondern als eine allgemeine Bestimmung der Existenz Goethes Lebensent- wicklung durchzieht, enthüllt sich so als die ethische Basis oder die ethische Seite jener allgemeinsten Formel seiner Entwicklung. Vielleicht ist dies noch von einer breiteren Allgemeinheit des Lebenssinnes, als gerade von dem ethischen Gesichtspunkte her, auszudrücken. Die ,, Harmonie der Existenz", unter deren Ägide sich das Goethesche Lebensideal bildete, ist etwas keines- wegs eindeutiges. Sie setzt, für die häufigste Auffassung, eine Idee voraus, praktischer, religiöser, theoretischer, gefühlshafter Art, zu der nun die einzelnen Energien und Inhalte der Per- sönlichkeit sich passend, fördernd verhalten, so daß das Leben als Ganzes auf einen ideellen oder realen Ton abgestimmt ist. Das verlangt Selbstbeherrschung und Verzicht, da die nach allen Seiten hin gestreckten Kräfte und Bedürfnisse des Indi- viduums nicht von selbst die von einer differenziellen Idee her ge- forderte Form haben. Doch sind solche Versagungen und Verkür- zungen unsres übrigen Wesens sozusagen keine ganz organischen, weil sie nicht aus den eigen-innerlichsten Wachstumsbedingungen hervorgingen, weil die Gestaltung nicht ganz und gar von der gegebenen Individualität her harmonisch ist, sondern von einer

182 Ich -Werdung

Idee her, die dieser irgendwie äußerlich ist so wenig dieser Sinn des ,, Äußerlichen" ein tiefstes inneres Verbundensein und Ver- wachsensein ausschließt. Die Harmonie der Persönlichkeit nach Goethescher Norm aber hat ersichtlich einen andern Grundton. Für seinen metaphysischen Optimismus wird sie von den An- lagen des Individuums her bestimmt, d. h. Harmonie ist der Name für deren völlige Entwickeltheit, das Unharmonische ist ihm das von der Gegebenheit des Menschen aus gesehen Verkümmerte, Einseitige, nicht völlig Entwickelte, eine ünvoll- kommenheit der ,,Entelechie". Auch dies aber bedeutet Be- schränkung in mehr als einem Sinne. Zunächst nicht, wie dort, irgendeine Beschränkung des Selbst, sondern eine Beschränkung auf das Selbst. Denn dieses wird von allerhand Ansprüchen, Illusionen, Nicht-dazu-Gehörigkeiten umgeben, die mit dem, was wir von innen her sind, gleichsam an dessen Peripherie ver- schmolzen sind; das eigentliche Ich, das sich ursprünglich durch alles dieses mitzuerstrecken schien, muß es oft erst lernen, sich auf seinen eigenen Umfang zu beschränken, auf die Allum- fassung zu verzichten und erst durch diesen Verzicht zu seinem Selbst zu gelangen. Mehr als einmal spricht Goethe aus, daß ,,die meisten" Künstler ,,gar zu gern über den Kreis hinausgehen, den die Natur ihrem Talente gesetzt hat" und daß sich selten einer auf das ,,b e s c h r ä n k e", was er vermag. Und ganz entscheidend: ,,Wer allgemein sein will, wird nichts; die Ein- schränkung ist dem Künstler so notwendig als jedem, der aus sich (!) was Bedeutendes bilden will." Wer wie Goethe die Norm des Lebens aus dem Leben selbst entnimmt, kann auch die beschränkende Linie, die diese Norm und die innere Har- monie verlangen, nur von dem Leben selbst ziehen lassen: es ist garnicht das Selbstverständliche und Erste, daß wir wir selbst sind, tun, was nur aus uns kommt, sondern auch dies und gerade dies ist nur durch Beschränkung und Entsagung möglich. Nun will aber ferner jene Forderung, für die mit der vollkommenen Entwicklung aller gegebenen Kräfte sich die Harmonie des per- sönlichen Daseins ergibt, keineswegs ein wildes Auswachsen- lassen jedes Triebes beseigen. Es hat vielmehr ein jeder diejenige

Organischer Charakter der Selbstbeschränkung 183

Beschränkung in sich, die das Zusammenstimmen der vielen zur Einheit einer organischen Selbstentwicklung ihm auferlegt. Hier liegt noch einmal ein tiefster Zusammenhang des Beschrän- kungsmotives mit der entscheidenden Goetheschen Lebensform. Wer sich zu einer bestimmten Leistung erziehen will, vollzieht die Einschränkung von Trieben und Kräften, die dazu etwa er- fordert ist, sozusagen von außen her, denn nicht das Leben selbst, sondern die herantretende Idee, wie adäquat sie auch jenem sei, stellt die Forderung. Wer aber sein Sein erzieht, wie Goethe, der beschränkt all jene Kräfte und Triebe nur auf das Maß und die Form, die sie sozusagen ganz von selbst gewinnen oder ge- winnen würden, wenn sie sich durch ihre Stellung im Ganzen dieser Persönlichkeit, durch ihr Verhältnis zu ihrem Zentrum bestimmen lassen. Die Selbstbeschränkung kommt hier zu ihrem reinsten Sinn. Nicht um eines Zweckes willen, sondern um der Einheit und Vollkommenheit des ganzen, sie tragenden Seins, und also schließlich um ihrer selbst willen verzichtet jede Energie, jede Tendenz auf jenes Übermaß, zu dem sozusagen ihr Egois- mus, ihrem eigentlichen Sinne dennoch fremd, sie führen will. So stammt ihre Beschränkung aus eben der Kraft und Zentralität des Gesamtwesens, aus der ihr Wachstum kam. Deshalb also, weil Goethe nicht dies und jenes ,, werden" wollte, sondern nur die Vollkommenheit erreichen, die gerade nur die seine war und mit seiner Realität vorgezeichnet war, war seine Selbstbeschrän- kung ein organischer, rein von innen her bestimmter Prozeß, seine Selbsterziehung genau so naturhaft seiner Selbstentwicklung zugehörig wie irgendeine Leidenschaft oder eine Produktivität. ,,Wer Bedingung früh erfährt," sagt er, ,, gelangt bequem zur Freiheit; wem Bedingung sich spät aufdrängt, gewinnt nur bittre Freiheit" denn Bedingung, Beschränkung, Verzicht muß von vornherein der Lebensentwicklung einwohnen, die den Menschen zu reinem Er-selbst-Sein, d. h. zur ,, Freiheit" führt; ist der Organismus schon fertig, wenn sie sich ,, aufdrängt", so kann sie ihm nicht mehr einwachsen, sondern verbleibt ihm in Fremdheit, Disharmonie, ,, Bitterkeit".

Nun scheint aber auch seine Selbstüberwindung einen sehr

184 Sehnsucht und ihre Bestimmung

durchgängigen Gegenstand gehabt zu haben, der gleichfalls nicht nur als ein bestimmter Inhalt auftrat, sondern den er als einen allgemeinen, formalen, gleichsam aus der Seele als solcher sich entwickelnden Zustand fühlte: die Sehnsucht. Er hat vielleicht zuerst gewußt, daß die Sehnsucht eine mit unserm Wesen über- haupt verbundene Funktion ist, die wir ,,nun einmal nicht los- werden sollen"; von diesem Sehnsüchtigen lag, nach seinem eigenen Geständnis, ursprünglich zuviel in seiner Natur, und er suchte es mit vorschreitendem Alter „kräftig zu bekämpfen". Die Art aber, wie er diesen Kampf führte, hängt aufs genaueste mit seiner gesamten Lebenstendenz zusammen. Die oben zitierte Stelle lautet vollständig: ,,Da der Mensch doch einmal die Sehnsucht nicht loswerden soll, so ist es heilsam, wenn sie sich nach einem bestimmten Objekt hin richtet." Damit meint er nicht etwa, daß sie nur auf ein Erreichbares gehen solle. Er weiß vielmehr sehr wohl, daß ihr Wesen als Sehnsucht damit negiert würde, daß sie dann einfach ein Stück willensmäßig-teleo-|^ gischer Vernünftigkeit wäre. So heißt es in einem Entwurf zu Dichtung und Wahrheit: ,, Niemand, wenn er auch noch so viel be- sitzt, kann ohne Sehnsucht bestehen ; die wahre Sehnsucht aber muß gegen ein Unerreichbares gerichtet sein, die meinige war es gegen die bildende Kunst." Also nicht das rationalistische Beschränken der Sehnsucht, die gerade, weil er sie als eine typisch-formale Funktion der Seele entdeckt hat, jede mögliche materiale Be- friedigung überleben muß, empfiehlt er, sondern nur ihre je- weilige Anknüpfung an ein ,, bestimmtes Objekt". Sein großes Lebensmotiv: keine seelische Energie rein, gleichsam leer- gehend, in sich schwingen zu lassen, sondern für eine jede An- knüpfung, Gegenbild und Halt in der objektiven Welt zu suchen, dieses Motiv, auf dem das ganze Gleichgewicht, das ganze har- monische und fruchtbare Verhältnis seiner Subjektivität zum Dasein überhaupt beruhte, ist auch hier entscheidend geworden. Selbst wo ein Affekt, wie die Sehnsucht, aus dem Innersten des Subjekts selbst hervorbricht und als elementare Funktion seines Lebens in ihm beharrt, würde er dies Subjekt selbst zerstören, wenn ihm nicht aus dem objektiven Dasein ein Ziel obgleich

Wesen der Romantik 185

ein nie erreichbares käme. „Falsche sinnliche Tendenzen", sagt er deshalb höchst bezeichnend, ,,sind eine Art realer Sehn- sucht, immer noch vorteilhafter als die falsche Tendenz, die sich als ideelle Sehnsucht ausdrückt." Die reale Sehnsucht, obgleich auch sie die Welt nicht stillen kann, verbindet uns den- noch irgendwie der Welt; die ideelle reißt uns von der Welt los, weil sie eine bloß subjektive Zuständlichkeit bleibt und gerade dies natürlich als ein Streben ins Absolute, gleichsam mit Über- springung der als objektiv gegebenen Welt, empfindet und darstellt. Hier liegt vielleicht der tiefste Grund für Goethes Abneigung gegen die Romantik. Es ist jetzt vielfach an der Tagesordnung, sein Verhältnis zu dieser als ein möglichst positives darzustellen, ihn von der Romantik entscheidende Einflüsse erhalten zu lassen. Die Dokumente scheinen mir diese Tendenz keineswegs zu rechtfertigen. Was er von der Romantik empfing, war mit dieser nur akzidentell verbunden, der spezifische Lebensakzent, mit dem sie die Geschichte des Geistes bereicherte, mußte ihm durchaus eine ,, falsche Tendenz" sein. Ich drücke den Punkt, an den mir dieser Akzent sich anzusetzen scheint, zunächst ganz allgemein und scheinbar wenig besagend aus: die Romantik will das Leben und seine Gesamtheit, ja die erlebte Welt über- haupt, auf die Seele stellen; sie ist die Lyrisierung des Kantischen Idealismus und damit freilich die Umkehrung seiner Tendenz. Die romantische Seele will in alle individuellen Mannigfaltig- keiten der Dinge gleichsam hineinkriechen und raubt damit dem Wirklichen sein Eigenrecht; so wird es einerseits zu ihrem bloßen Mittel was sich in ihrer starken Gerichtetheit auf Genuß aus- spricht — , andrerseits zu ihrem bloßen Gegensatz was das Wesen ihrer spezifischen ,, Ironie" ausmacht. Gerade aber die Stärke, mit der hier die Seele in sich selbst schwingt, führt ihre Bewegung aus sich selbst heraus und zwar, ohne weiteres be- greiflich, nicht zu dem oder jenem Einzelnen als etwas Defini- tivem, sondern zu dem Unendlichen oder Absoluten. Daß die Seele selbst ein Unendliches ist weil sie das Apriori alles End- lichen ist drückt sich darin aus, daß sie an dem Unendlichen, mag sie es religiös oder anders fassen, ihren einzigen wirklichen

186 Das Unendliche und die Form

Gegenpart empfindet. Zu diesem Unendlichen nun sucht sie ein unmittelbares Verhältnis und dies scheint mir der eigentliche Kernpunkt ihres Lebensgefühles zu sein, der zwei Folgen aus sich entläßt, beide gleichmäßig den Goetheschen Wertbetonungen entgegengesetzt. Es geht daraus einerseits eine ganz tiefe, innere Formlosigkeit hervor. Alle Form ist Grenze und damit Endlich- keit, sie steht zwischen dem an sich formlosen Subjekt und dem ebenso formlosen Unendlichen, und darum ist sie, wo sie voll- kommen ist: in der großen Kunst, in dem zur Wahrheit geworde- nen Denken, in dem sittlich gestalteten Handeln der eigent- liche Vermittler zwischen dem Subjekt und dem Absoluten. Goethe war durch das Leben belehrt worden oder glaubte mindestens seit dem Einfluß der Klassik und der Wissenschaft belehrt zu sein , daß das unmittelbare Verhältnis jener beiden ein täuschendes Ideal ist, daß Wissen und Wirken, die in dem Endlich-Geformten leben, zwischen beide treten muß. Die roman- tische Seele aber mochte äußerlich noch so sehr an vollendeten Formen hängen, die souveräne Subjektivität, aus der heraus sie lebte, konnte ein letztes, innerlichstes Verhältnis überhaupt nur zum Unendlichen haben und mußte deshalb die Zwischen- instanz der begrenzten, d. h. geformten Einzelheiten, den Respekt vor ihnen und die Arbeit an ihnen, überspringen. Sie siedelte sich gerade an den Punkten diesseits und jenseits des Gebietes an, in dem Goethe schließlich den entscheidenden Wert- sinn seiner Existenz gefunden hatte.

Dazu kommt ein zweites, für uns jetzt wichtigeres. Jenevermitt- limgslose Beziehung zum Unendlichen oder Absoluten bedeutet für die Romantik nicht, wie in der religiösen Mystik, einen gewonnenen Besitz, ein unterschiedsloses Verschmelzen jener mit diesem, son- dern bleibt in dem Stadium der Sehnsucht gleichsam stecken; und zwar nicht einfach deshalb, weil jenes Ziel überhaupt nur in Annäherungen erreichbar wäre, sondern weil dieses Stadium als etwas Definitives, so paradox es klingt: als etwas Befriedigendes, als der natürliche Dauerzustand der romantischen Seele emp- funden wird. ,, Sehnsucht" erscheint mir als der spezifische Affekt der Romantik und zwar, wegen der bezeichneten Rieh-

Überwindung der Sehnsucht 187

tung ihrer, die „ideelle Sehnsucht"; wo die Seele nur in sich selbst kreist, und dennoch ein Unendliches außer sich weiß, das sie erfassen möchte, da ist Sehnsucht der unvermeidliche und zentrale Ausdruck ihrer Gesamtlage. Am reinsten und unüberbietbarsten vielleicht verrät Robert Schumann, der letzte große Romantiker, es im Stil seiner Musik, daß für die romantische Seele Sehnsucht der Affekt schlechthin ist. Solche gleichsam unsubstanziierte Sehnsucht eben war es, die Goethe in langer Arbeit überwunden hatte; sie gerade ist es, in der die Seele hängen bleibt, wenn ihr nicht Wissen und Wirken die Brücken zum Unendlichen schlagen. Gewiß kannte Goethe die Sehnsucht, wie wohl wenige Menschen sie kennen er wäre vor Italien beinahe daran zugrunde ge- gangen. Aber hier rettete ihn nun gerade Italien das nachher nur in sentimentalen Mißverständnissen ein Nährboden roman- tischer Gefühle werden konnte. Scheinbar hat Italien genug Elemente für die Romantik: die efeuumwachsenen Burg- ruinen, die Villen in dunkeln Zypressenhainen, die Trümmer vergangener Herrlichkeiten. Goethe aber hat richtig verstanden, daß in alledem nichts Romantisches liegt, weil es auf diesem Boden keine Sehnsucht ausatmet, sondern, wie es nun ein- mal ist, Wirklichkeit, Form, Gegenwart ist, die sich nicht erst nach der Idee oder nach sonst irgendetwas ,, sehnt". Das Innerste von Goethes Leben ist offenbar zum großen Teil eine Überwindung der Sehnsucht, eine an Italien angeknüpfte Selbstrettung aus ihr, eine Formung auch dieses gefährlichen Lebenselementes, das uns mit Formlosigkeit und sterilem Hinstarren auf ein problematisches Absolutes bedroht: jene ,, bestimmten Objekte", auf die er die Sehnsucht gerichtet haben wollte, erlösten ihn aus solcher Problematik, ordneten auch diesen Affekt dem auf Handeln und Erkennen zugehenden Entwicklungsgesetz seines Lebens unter ohne daß doch die in ihm gelegene Kraft paraly- siert und verloren wurde. Damit wird die Sehnsucht zu gleicher Zeit überwunden und fruchtbar gemacht und darum war ihm die Romantik so zuwider, die in der Sehnsucht wohnen blieb und eben darum nichts Rechtes aus ihr zu machen wußte. Die Seele darf eben nicht bloß in sich kreisen; dies v/eist sie und

188 Die Sehnsucht und die Lebensharmonie

hier sind wir an einem tiefen und dunkeln, von Goethe selbst nur von fern angedeuteten Zusammenhang unmittelbar dem formlosen Absoluten zu, in das sich die Sehnsucht verlieren, aus dem sie aber nichts zurückgewinnen kann, eine Situation, in der sich schließlich nur noch der Katholizismus den Romantikern bot, an dem sie sich halten konnten, weil er in einzigartiger Weise das unmittelbare und das vermittelte Verhältnis zum Unend- lichen vereinte. Goethe wußte ja, daß ,, niemand ohne Sehnsucht bestehen kann"; aber sie ist jenen Naturkräften zu vergleichen, die der Mensch nicht unmittelbar, sondern nur in Umsetzungen in den Bau seiner Werte einfügen kann. Darum faßt er kurz vor seinem Tode noch einmal, zwar nicht mit ausdrücklicher Be- ziehung auf die Romantik, aber im Hinblick auf die von ihr erzogene, kümmerliche und deprimierte Jugend, sein Ver- werfungsurteil dahin zusammen: von dieser Jugend werde ,,die Sehnsucht durchaus als das letzte aller Dinge gepriesen". Das ist das Entscheidende. Die Sehnsucht darf nicht ,,das Letzte" sein, d. h. die Seele darf nicht nur so in sich schwingen, daß sie nur noch jenes unmittelbare Verhältnis zum Absoluten kennt. Weil sie dem Dasein als ganzem, zugehört, muß sie, erkennend und handelnd, zu diesem ein Verhältnis gewinnen, und es ist das letzte Geheimnis ihres Lebens, daß sie nur in solcher begrenzen- den, formenden ,, Bestimmtheit" auf dem wahren Wege sowohl zu sich selbst wie zu dem Unendlichen ist. Hier liegt eine der letzten, von Goethe gelebten Lösungen des Lebensproblems: es gilt, die Sehnsucht als bloße, mit dem Leben gegebene, aber in sich noch leere Kraft zu überwinden, indem man sie ,, bestimmt", und indem dies vielleicht die tiefste Selbstüberwindung seines Lebens war, zeigte sie zugleich dessen vorbildliche Harmonie; denn indem diese Selbstüberwindung sich vermittels der Arbeit an der Welt der Dinge und Formen, der Gedanken und Leistungen vollzog, fand seine Seele gerade dadurch immer zu sich selbst I zurück.

Goethes Leben war im höchsten, man möchte sagen, im meta- physischen Sinne: Gegenwart. Wie er im Hier lebte, in dem allein der Mensch ,,sich umsehen" solle, so im Jetzt; das Hier

Erinnerung 1 89

und das Jetzt sind sein Fruchtboden. Und an welchem andern als dem Punkte der Gegenwart sollte ein Mensch wohnen, der so rastlose Entwicklung war, daß er, auf einen Widerspruch gegen früher Gesagtes aufmerksam gemacht, erwiderte, er sei nicht achtzig Jahre alt geworden, um jeden Tag dasselbe zu sagen, wie am vorhergehenden! Hatte nun sein Über- windungsverhältnis zur Zukunft die Sehnsucht zum seelischen Gegenstand, so das zur Vergangenheit die Erinnerung. Es ist zwar die allgemeine Meinung, daß Goethe ein großer Vergesser war: mit dem Vergangenen abgefunden, ruhig alle Schwierig- keiten abstreifend, zu denen die Konsequenzen unsrer Taten werden, alles Nachrückwärtssehen, Nachrückwärtsempfinden vermeidend, sobald es den Blick und Schritt nach vorwärts hemmen wollte. Daß man ihn so von dem frei glaubt, was man gern die überflüssigen Schmerzen nennt weil sie freilich für die Lebenszwecke der meisten Menschen nicht notwendig sind, das ist wohl das wesentliche Ingrediens der Bewunderung einer- seits, der moralischen Reserve andrerseits, denen die ,, Lebens- kunst" Goethes begegnet. Dennoch glaube ich, daß man damit in Goethe eine Oberflächlichkeit hineingedeutet hat, die vielmehr auf der Seite dieser Deutung zu suchen ist; daß ganz umgekehrt Goethe so tief und schwer an Vergangenheiten gelitten, die Folgen seines Tuns so bannend und lastend empfunden hat, wie es wenigen auferlegt ist. Durch seine Gedankenwelt geht dauernd das Motiv von den Geistern, die man nicht los wird, wenn man sie einmal gerufen hat; von dem Zweiten, bei dem wir Knechte sind, wenn uns auch das Erste freigestanden hat; von den Dämonen, die man ,, schwerlich los wird": ,,das geistig strenge Band ist nicht zu trennen". ,, Es ist entsetzlich," schreibt er aus Rom, ,, was mich oft Erinnerungen zerreißen", und über vierzig Jahre später: ,,Was einem angehört, wird man nicht los, und wenn man es wegwürfe." Und an einer Stelle in den ,, Maskenzügen" spricht er von Geistern: ,, wenn man sie nicht stracks vertreibt, "

Sie ziehen fort, ein und der andre bleibt

In irgendeinem Winkel hängen,

Und hat er noch so still getan,

Er kommt hervor in wunderlichen Fällen."

190 Leiden an der Vergangenheit

Das preist er ja diese Stimmung ins Überindividuell-Historische streckend vor allem an den Vereinigten Staaten, daß ihnen das „unnütze Erinnern" erspart bliebe und ihren künftigen Dichtern wünscht er, vor „Gespenstergeschichten" bewahrt zu sein. Und derselbe Ton klingt, wenn er einmal ganz aphoristisch, ohne jede Begründung oder Folgerung schreibt: ,,Wir leben alle vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zugrunde"; so daß die ,, Lebensregel": ,, Willst du dir ein hübsch Leben zimmern, mußt dich um's Vergangene nicht bekümmern" wie die meisten Lebensregeln aus der bitteren Erfahrung des Gegenteils gequollen sind. Oder glaubt man im Ernst, daß Goethe seine eigene Existenz so ohne weiteres als ,,ein hübsch Leben" be- zeichnen wollte? Die Zahl solcher Äußerungen kann nicht Zufall sein. Auch wo sie in Dichtwerken enthalten sind, haben sie vielmehr alle innerhalb ihrer Umgebungen den eigentüm- lichen Charakter, den man an manchen Harmonien oder Takten bei Beethoven findet: jeder gehört völlig in den sozusagen ob- jektiven Zusammenhang des Stückes hinein, ist durch dessen rein musikalische Logik völlig begreiflich und notwendig zugleich aber weist er noch in eine ganz andere Dimension, in die des Subjekts; während er nur um seines Vorher und seines Nachher willen dazustehen scheint, schreit doch wie von unten und von innen her gerade in ihm die See!e auf, in die rein künstlerisch- musikalische Kontinuität, die sich auch durch ihn hindurch knüpft, reißt er zugleich ein Loch, durch das man unmittelbar in die Qual der darunter lebenden Seele hinabblickt. So wirken bei Goethe diese Stellen, deren jede freilich ihre notwendige Rolle in dem ganzen Kunstwerk spielt, in denen aber zugleich ein Er- leben jenseits der Kunst hervorbricht. Und wie er nun fort- während gegen die Schlingen und Fußangeln anrang, mit denen ihn die Zukunft in der Form der Sehnsucht fangen wollte, so gegen die entsprechenden Gefahren, die von der Vergangenheit her drohten. Hier scheint nun sein glücklicher Instinkt die Ver- gangenheit vor allem durch Vergegenwärtigung zu übervv'inden. Er hatte den eigentümlichen Trieb, lange nach dem Bruch mit ge- liebten Frauen sie wiedersehen zu wollen: so Friederike, so

Befreiung 191

Lili; und genau entspricht dem die Äußerung: ,,Wie sehr die Gegenwart eines geliebten Gegenstandes der Einbildungskraft ihre zerstörende Gewalt nimmt und die Sehnsucht in ein ruhiges Schauen verwandelt, davon habe ich die wichtigsten Beispiele." Für diesen Menschen einer unvergleichlich anschaulichen Phan- tasie, deren Grenze gegen die Halluzination manchmal zu ver- schwimmen scheint, lebte das Gewesene in der Form der ,, Dä- monen", der ,, Geister", deren quälende Gegenwart man nicht los wird. Gegen Geister aber gibt es kein Mittel als V/irklichkeit. Von dem, was uns in der Form des Gespenstes ängstet, erlöst uns oft eben dasselbe, sobald wir ihm in der Form der Wirklich- keit begegnen. ,,Das Wirkliche", schreibt er schon als Siebenund- zwanzig jähriger, ,,kann ich so ziemlich meist tragen; Träume können mich weich machen, wenn's ihnen beliebt." Das fort- währende Drängen auf Anschauung, das Goethes seelisches Leben durchzieht, ist nicht nur der Ausdruck seines Künstler- tums, das im Anschauen der Welt noch einmal die Einheit mit ihr sozusagen physisch vollzieht, die das metaphysische Wesen des Genies ausmacht; sondern es war zugleich das Gegengewicht gegen die dunkeln Mächte des Innern, das Gegenwartslicht, das die Schatten der Vergangenheit auflöste. Abgesehen von dieser besonderen Art, Erinnerung durch Gegenwart zu heilen, hat er freilich in manchen, vielleicht in vielen Fällen, einfach von der Vergangenheit gewaltsam weggesehen, sich rücksichtslos und scheinbar gefühllos von ihr befreit: er hatte es nötig. Mit steigenden Jahren wurde ihm dies sozusagen zu einer or- ganischen Funktion, und so kann er im hohen Alter in scheinbar leichtem Ton davon sprechen: ,,Man bedenke, daß mit jedem Atemzug ein ätherischer Lethestrom unser ganzes Wesen durch- dringt, so daß v/ir uns der Freuden nur mäßig, der Leiden kaum erinnern. Diese hohe Gottesgabe habe ich von jeher zu schätzen, zu nützen und zu stei- gern gewußt. Wenn also von Schlägen und Püffen die Rede ist, womit uns das Schicksal, womit uns Liebchen, Freunde, Gegner geprüft haben, so ist das Andenken derselben, beim reso- luten, guten Menschen, längst hinweggehaucht." Dies für eine

192 Rechenschaft und Lebensgestaltung

kalte, eudämonistische Selbstsucht zu erklären, ist die größte Oberflächlichkeit; den Druck, unter den die Erschütterungen seines Erlebens auch noch dessen Erinnerungen und Weiter- wirksamkeiten stellten, hat man übersehen, weil man nur die ungeheuere Gegenkraft bemerkte, die freilich in seinem Schaffen, in dem sichtbaren Ausgang des Kampfes, den Sieg behielt. Dieses Leben, stillstandslos zu neuem objektivem Wirken, neuer subjektiver Selbstgestaltung fortschreitend, mußte in jedem Augenblick ganz es selbst, ganz seine Gegenwart sein. Daß er Sehnsucht und Erinnerung in ihm bewegender und ver- lockender, als wohl in den meisten von uns, abtat, war die großartigste Selbstüberwindung, der Triumph über das eigene Selbst in der Form der Zukunft und der Vergangenheit zugunsten dieses Selbst in der Form seines eigentlichen, höchsten und schöpferischen Lebens.

Die Selbstbegrenzung, Selbstüberwindung seiner Existenz, die an der Erinnerung und der Sehnsucht nur ihre kontinuierlichsten Aufgaben fand, ist es bedarf darüber nur eines andeutenden Wortes seiner dauernden Rechenschaft über sich selbst un- trennbar verwachsen. Kein anderer Begriff verknüpft so unmittel- bar wie dieser das theoretisch-objektive Bild mit der sittlichen Wertung; Sichrechenschaftgeben heißt: die Einheit von Sich- wissen und Sichbeurteilen verwirklichen, und heißt, sich von der Grenze aus sehen diesseits derer wir uns zu bescheiden haben und jenseits derer der Verzicht liegt. Der metaphysische Grund- wille, sein Subjekt als ein objektives anzuschauen und zu er- leben, konnte seine ethische Spannung nicht tiefer und voll- kommener spiegeln, als in der Rechenschaft über sich selbst, in der sein Bewußtsein der eigenen Wirklichkeit und das der Grenze, deren strenge Bescheidung dem Leben Wert und Form bestimmte, sich in einem lebenslangen Akte vollzog.

Siebentes Kapitel.

Liebe.

Goethe gehört zu dem Typus von Männern, die aus dem Grunde ihrer Natur heraus ein Verhältnis zu den Frauen haben. Keineswegs besagt das von sich aus schon eine besondere Aus- dehnung erotischer Leidenschaften und Erfahrungen. Gerade den beiden Typen, für die die realen Verhältnisse zu Frauen im Vorder- grund des Erlebens stehen: dem Frauenknecht und dem Don Juan stand Goethe fern. Es war immer nur ein Faden, den die Frau in das Gewebe seiner Existenz knüpfte, wenn dieser Faden auch kaum je ganz abriß. Aber mit der stärksten Betonung verwirft er es, daß ein Leben sich ganz mit den Beziehungen zu Frauen erfülle: dies führe ,,zu gar zu viel Verwicklungen und Qualen, die uns aufreiben, oder zu vollkommener Leere". Von diesen Wirklichkeitsbeziehungen also unabhängig besteht bei gewissen Männern ein eigentümliches Wissen um die Frauen, ein Bild und eine Bedeutsamkeit des weiblichen Wesens für sie ist ge- wissermaßen ein Element ihrer eigenen Natur. Nietzsche, der, soviel man weiß, nie ein erotisches Verhältnis hatte, der nach seinem eigenen Geständnis ,,sich nie um Weiber bemüht hat", sagt doch an derselben Stelle: ,,Darf ich die Vermutung wagen, daß ich die Weiblein kenne? Das gehört zu meiner dionysischen Mitgift"! Und wohl von der gleichen Grundlage her hat Raffael auf die Frage, wo er denn die Modelle zu all seinen schönen Frauengestalten hernähme, geantwortet: er nähme sie gar nicht von Modellen, sondern bediene sich ,, einer gewissen Idee, die in seinem Geiste entsteht". Und so gesteht Goethe im höchsten Alter: ,, Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erschei- nungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir ange- boren oder in mir entstanden, Gott weiß wie." Daß Goethe den

Simmel, Goethe. '3

194 Ideelles Wissen um die Frau

Frauen gegenüber, die er in der Wirklichkeit vor sich hatte, ein Kenner im Sinne praktischer Psychologie war, scheint mir keineswegs sicher. Auf Lotte Buff, deren künstlerisches Bild er mit aller Tiefe und erschütternden Wahrheit gezeichnet hat, gesteht er, niemals ,,acht gehabt zu haben" dazu habe er sie zu sehr geliebt. Und daß er, mehr als vierzig Jahre später, sich Ottilie von Pogwisch zur Schwiegertochter wählte, scheint einen merkwürdigen Mangel an psychologischem Blick zu ver- raten. Wenn dieser begnadetste und fast dauernd erotisch be- wegte Mensch dennoch so wenig eigentliches Glück in der Liebe genossen hat in jenem Rückblick auf achtzigjähriges Leben spricht er von ,, Schlägen und Püffen", mit denen Schicksal und ,, Liebchen uns geprüft haben" so mag dies, außer in anderen Tiefen seines Wesens, in die wir nachher zu blicken versuchen, sich auch in dieser praktischen Täuschbarkeit seiner Frauenkenntnis gründen. Männer dieser Art pflegen in der Tat kein erhebliches Beobachtungswissen um die Frauen zu haben; vielmehr die ,,I d e e" der Frau ist ihnen irgendwie ,, angeboren", die Kenntnis des ,, Urbildes", das Goethe in jedem organischen Wesen erblickt und beschreibt als ,,das Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind".

Darum ist für die dichterische, die einzelne Erscheinung über- fliegende Darstellung gerade dieses Wissen um die Frauen ge- wissermaßen prädestiniert, und darum konnte gerade mit ihm Goethe es begründen, daß seine Frauengestalten ,,alle besser wären, als sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind". Es ist aller- dings in vielen Goetheschen Frauen eine Art von Fertiggeworden- sein, die sich an keiner seiner männlichen Gestalten findet, eine seinshafte Vollkommenheit jenseits singulärer Äußerungen und Eigenschaften. An all diesen Frauen, an Lotte und Klärchen, an Iphigenie und der Prinzessin, an Dorothea und Natalie und manchen anderen noch spüren wir diesen unzerlegbaren und im einzelnen gar nicht greifbaren Zug von Vollkommenheit-in-sich, der zugleich eine Beziehung zum Ewigen bedeutet und der in dem Ewig-Weiblichen, das uns hinanzieht, sozusagen begriff- lichen Ausdruck gefunden hat.

Seelische Einheit 195

Es ist deshalb gar kein Widerspruch, wenn er immer an den Frauen tadelt, daß sie ,, keiner Ideen fähig" wären und zugleich, daß er das Ideelle nur in weiblicher Gestalt darstellen könne, daß die Frauen ,,das einzige Gefäß" wären, in das er seine Idealität hineingießen könne. Daß sie keine Ideen ,, haben", verhindert nicht, daß sie ihm Idee ,,sind". Offenbar vermißt er den Idealis- mus an den einzelnen empirischen Frauen; aber der Typus Frau, wie er in ihm lebt und freilich den letzten Sinn und die Norm auch jener wirklichen und unvollkommenen ausmacht kann durchaus, wie er es einmal ausdrückt, die silberne Schale sein, in die wir die goldenen Äpfel legen. Und dies Gleichnis symboli- siert, was der Kern seiner Intuition über die Frauen zu sein scheint: daß die Frauen etwas Geschlosseneres, in sich Einheit- licheres, sozusagen Totaleres sind, als die um Sonderinteressen zentrierenden Männer, deren jeder bestenfalls in sich die Viel- fältigkeit des ganzen Geschlechtes wiederholt. Darum sind sie zu jener ,, Vollkommenheit" sozusagen nach ihrer formalen Struktur disponierter. Darum meint er die Frauen am besten so zu loben: ,,Eure Neigungen sind immer lebendig und tätig und ihr könnt nicht lieben und vernachlässigen." Für alle seine Frauengestalten, von denen des Götz über Iphigenie und Nata?i3 bis zu Makarie, gilt gleichsam diese Grundform, die sie mit niannigf altigstem Inhalt füllen: die innere Versöhnt- heit und Wesenseinheit der Elemente, die die männliche Art in Besonderung und oft im Kampfe zeigt. Deshalb bezeichnet Ottilie ihre Schuld, die sie aus dem Leben treibt, nicht mit ihrem unmittelbaren Inhalt, sondern nur: ,,Ich bin aus meiner Bahn geschritten." Und im weitesten Abstand des Inhaltes begründet eben dies seine Erklärung der weiblichen Eifersucht: ,,Jede Frau schließt die andere aus, ihrer Natur nach; denn von jeder wird alles gefordert, was dem ganzen Geschlecht zu leisten ob- liegt."

Begreiflich also wechselt seine geistige Attitüde zu den Frauen nach dem Verhältnis, das seine jeweilige Entwicklungs- epoche gerade zu der E i n h e i t s form hat, in der die weibliche Existenz sich vollzieht. Als er nach Weimar kam, ein Chaos

13*

196 Änderung der Beziehung zum weiblichen Prinzip

durcheinander- und auseinanderflutender Strebungen in der Seele, offenbar leidenschaftlich verlangend, seine Kraft zu organi- sieren und in e i n e Stromrichtung zu leiten da war, was die letzte Tiefe seiner Beziehung zu Frau v. Stein ihm an Glück und Reichtum bot, doch wohl gerade an die harmonische Einheit dieser Natur gebunden, an die ruhig feste Form, in die diese Frau alle exzentrischen und dissonierenden Lebenselemente versöhnt hatte. Dieses Bild geschlossener Ganzheit, das sie bot, ?eigte allem Wilden und Divergierenden seiner Natur den Er- l^ungsweg. Ausdrücklich spricht er dies aus: er brauche sie, uj^cftin selbständiges, ein ganzes Wesen zu werden. Sie war ihm ^j§gSjgibol der Ganzheit und Einheit, wie Michelangelo es in ^^^IS© ßplonna gefunden hatte. ,,Du Einzige," schreibt er 9^z^o1{0i9M^ ich nichts zu legen brauche, um alles in ihr zu ij^^nf;^j E^um preist er als das Glück, das sie ihm bot, daß ^ozöfiijirri^pljytg offen sein könne, während bei den anderen 5*feQSfiH^p ii^^i Milteltöne fehlen, die bei dir alle anschlagen". Mi^§9#rn9ls iiüs-tfefste Wesenheit der Frauen empfand, schien gfflS hjiMi^j)ei|^f::yiDlißndung jenseits ihrer sonstigen fragmen- ^jr^ch^n^e^äKiffeliehö^gien entgegenzutreten, und in einer Epoche, «In^f rr{^5in§fi&igea€ Eatwicklung des Haltes und Vorbildes an ^5etbrlieÖ^n^l9fijnrrbedurft?. ::Sein Alter aber verändert dies i9BflefeiV^^bä|itm$ «Ji* demi^übUcken Prinzip. In seinen höheren Jftfer^jlJiegfignenc.VielQdeiokafitischiabsprechende Urteile über die FfÄMfftsim elteöiSinejirjosieiliitT^caan diese genauer an, so laufen 9tffe-fflLp%iftilerlstii ,d€fft5:Sog©rlafinteji) -weibHGhen Mangel an Objek- ^yfi^if ^yfi&ttg. 2iJlid Jäie!ö:b,4i^gt-jrieHeichtjS0 zusammen: Goethes JsgßO^grf- äÄhsrtdim^bhlÄr^Ref^ltatie: lies letzten Kapitels vorweg •^si^.t vQgif{§ijie^ilef.iJildöffln;ä?ßig3aji Jdeatbeiierrscht, es scheint i}^9^iJn©inerng8ei;(rfjSÄmiumWe^äeri?yfG6lleridung des persönlichen Söin*i^0i4{Sß8ieilci6friwhÖti:isand|»ngÄh, äderen Bewußtsein nicht ein Wissen oder ein Handeln, sondern ein Gefühl ist. Diese fc^ben&len^öozitgfeht-s später, ganz eintsclii^en nach der italie- n||?h^QSjrRfiiSfe,3;:;iläch:[ Z3Kei7 Seiteiriaüseiriahder : in die Hin- gfibtt6g»vatfei^tasönsicl;«rftlich«a Erkenöen: und: die Bewährung in SsfeAtfeBi,4w>d^ü5riribcnis\©aitu4r«vaär sein Lfebenvom Subjektiven

Subjektivismus 197

weg ins Objektive gewandt. Während dies aber sonst die spezifisch männliche Zerspaltung mit sich bringt, die Lösung des einzelnen Interesses und Tuns von dem Zentrum und der Einheit der inneren Existenz war es Goethe beschieden, daß all das Objek- tive seines Denkens und Tuns ein völlig Persönliches blieb, Puls- schläge eines einheitlich innersten Lebens. Aus dieser in ihrer Vollendetheit einzigen Daseinsform heraus zeigen seine späteren Jahre jene heftige Abneigung gegen allen bloßen Subjektivismus, die wir so oft gegen eigene überwundene Entwicklungsstadien richten. Die ursprüngliche und doch erst errungene Einheit seiner inneren Existenz hatte sich nun mit einem Sachgehalt von Welt- wissen und Weltwirken erfüllt, dem gegenüber ihm alles bloß subjektive, in sich selbst kreisende, die objektiven Normen ab- lehnende Dasein gewissermaßen als das böse Prinzip erschien. Der Typus Frau hatte ihm geleistet, was er ihm leisten konnte, vor allem seit er ihm in der Gestalt der Frau v. Stein in an- schaulicher Reinheit begegnet war. Nun aber war ihm die sub- jektive Einheit und Ganzheit der selbstverständliche Zustand, und von diesem forderte nun die große Wendung zum Objekt, sich mit neuen Inhalten, neuen Spannungen zu erfüllen. Hier konnte ihn der Typus Frau nicht mehr fördern, ja, er mußte von ihm, als dem Symbol einer überschrittenen Epoche, ent- schieden abrücken, und darum rügte er immer wieder an den Frauen den Mangel an der Objektivität, die ihm die neue Epoche gewonnen hatte; so, daß es ihnen vollkommen genüge, wenn ihnen etwas ,, gefällt", ohne daß sie die Motivierungen des Ge- fallens unterschieden und werteten; daß sie verlangen, in be- sonderen Weisen verstanden zu werden, ohne an andere das- selbe Verständnis zu wenden; daß sie leicht von einem Standpunkt auf den andern zu verlocken sind und, wenn sie leiden, eher die Objekte als sich selbst darum schelten und daß sie als not- wendige Ergänzung dieser Subjektivitäten dem Dogmatiker zum Opfer fallen und sich der bloßen Konvention verschreiben.

Daß seine geistige Beziehung und Wertung den Frauen gegenüber in ihren Wandlungen so der großen Linie seiner Ent- wicklung genau folgt, mag ebenso Wirkung wie Ursache davon

198 Scheinbare Gefahren

sein, daß ihm das Bild der Frau kein aus empirischen Zufällig- keiten abstrahiertes war, sondern ein überindividueiles , seinen letzten Wesensgründen verhaftetes. Aber da dies eben den Typus, die Idee Frau angeht, hängt es keineswegs feststellbar oder durch- gehend mit seinen einzelnen, realen Erlebnissen mit Frauen zu- sammen, die, wie ich vermuten möchte, viel weniger von jener geistig-apriorischen Beziehung zu dem weiblichen Prinzip, als rein von seinem erotischen Temperament ausgingen. Das Maß freilich, in dem sie sich aus diesem erhoben, schien so manchem gerade mit der Geistigkeit seines Lebens kaum vereinbar.

Mehr als einmal nämlich habe ich von geistig durchgebildeten und banaler Prüderie ganz fernen Persönlichkeiten die Rolle bedauern hören, die das erotische Element in Goethes Leben gespielt hätte. Nicht eigentlich in dem Sinn einer moralischen Bedenklichkeit, sondern nur so, als wäre damit das Gleichgewicht dieses Lebens, wie seine zentrale Idee es bestimmen müßte, durch ein über- triebenes Maß erotischen Interessiertseins und Erlebens gestört. Unleugbar äußert sich darin der Instinkt für die Gefahr, die jedem im großen Stile einheitlichen und produktiven Leben von den erotischen Mächten her droht. Denn entweder verweben sich die Sehnsüchte und Erfüllungen dieses Gebietes in den innersten Verlauf des Lebens dann kommen diesem letzteren fast un- vermeidlich Störungen, Ablenkungen, Depressionen; und zwar vor allem durch den tiefen inneren Formgegensatz: daß die Liebe ein rastloser Prozeß ist, eine pulsierende Dynamik des Lebens, ein Hineingerissensein in die kontinuierliche Strömung der Gattungserhaltung während das geistige Dasein auf dem in irgendeinem Sinne Zeitlosen steht, auf den Inhalten des Lebensprozesses, nicht auf dem Prozeß selbst. Oder man diffe- renziert von den übrigen Lebensgebieten das erotische als eine besondere Provinz, in die sich begebend man gewissermaßen ,,ein anderer Mensch" ist. Damit sind zwar jene Hemmungen und Alterationen beseitigt, aber die Lebenstotalität ist zu einem harten Dualismus verurteilt, der Wechseltausch aller Kräfte, in dem ihre Einheit besteht, ist zerschnitten und wenigstens zum Teil sterilisiert.

Bestimmung aus dem eignen Innern 199

Dies alles aber ist ersichtlich bei Goethe nicht eingetroffen. Weder der Größe seines Werkes, noch der Unvergleichlichkeit seines Lebens als ganzen gegenüber, kann die Kritik jener Be- denklichen Fuß fassen. Das Problem für den Aufbau des Bildes von Goethe liegt also gerade darin: wie kommt es, daß an ihm jene Folgen eben nicht aufgetreten sind ? Und die Antwort hier- auf allerdings ist nur von der fundamentalen Schicht des Goethe- schen Lebens überhaupt her zu gewinnen.

Die Wesensformel, die an Goethe ihre reinste und stärkste historische Verwirklichung findet, war doch immer diese: daß ein Leben, ganz dem eigenen Gesetz gehorchend, wie in einheitlich naturhaftem Triebe sich entwickelnd, eben damit dem Gesetz der Dinge entspricht, d. h. daß seine Erkenntnisse und Werke, reine Ausdrücke jener innerlichen, aus sich selbst wachsenden Notwendigkeit, doch wie von den Forderungen des Objekts und denen der Idee her gebildet sind. Er hat jeden eigengesetz- lichen Sachgehalt durch die Tatsache, daß er ihn erlebte, so von innen her geformt, als wäre er aus der Einheit dieses Lebens selbst geboren. Gemäß diesem Gesamtsinn seiner Existenz scheinen sich auch deren erotische Inhalte zu entwickeln. Auch diese wie sie sich in seinen Briefen und vertrauten Äußerungen, in Dichtung und Wahrheit und seiner Lyrik darstellen treten auf, als wären sie von seinem Innern und dessen Entwicklungs- notwendigkeiten bestimmt, wie sich eine Blüte an den Zweig ansetzt, in dem Augenblick und in der Form, wie dessen eigenste Triebkraft es erfordert und entwickelt. Nirgends, selbst in so extremen Fällen, wie in der Leidenschaft für Lotte und für Ulrike von Levetzow, spüren wir jenes Preisgegebensein, das dem erotischen Erlebnis das Symbol des Liebestranks verschafft hat und oft den Gefühlston, als wäre es viel eher etwas, das mit uns oder an uns vorgeht, als eine Äußerung eines sich selbst gehörenden Lebens. Wir hören, daß er mit all seinen sinnlichen Hingerissenheiten doch immer Herr seiner selbst ge- blieben ist. Über eine schöne Frau, deren Eindruck ihm sehr nahe ging, schreibt er an Herder: ,,Ich möchte mir solch ein Bild nicht durch die Gemeinschaft einer flüchtigen Begierde besudeln."

200 Übergewicht des Ganzen über das Einzelne

Dazu, außer manchem andern, die Äußerung zu Eckermann über seine Reserve gegen die schönen Schauspielerinnen, die ihn äußerst anzogen und ,,ihm auf halbem Wege entgegen kamen". Aber diese Bestimmtheit und Formung des erotischen Erlebnisses durch seinen Willen ist doch nur das äußere und nicht einmal entscheidend wichtige Phänomen der tieferen Tatsache, daß es durch sein Sein bestimmt war, durch die Regel und den Sinn einer Entwicklung, die ausschließlich der Strömung ihrer eigensten Wurzelsäfte folgte. Und darum war, wie seine lebenslang ge- übte und verkündete ,, Entsagung" überhaupt nichts weniger als eine Verarmung, sondern ein durchaus positives Form- prinzip seines Lebens war, auch diese Zurückhaltung im Ero- tischen kein Subtrahendum, sondern die seiner Liebe von deren individueller Lebensquelle her eingeborene Gestaltung. Es war das Glück seiner Natur, daß ihn, im Ganzen, die Dinge der Welt nicht mehr anreizten als sich ihnen hinzugeben in seinem Willen und seiner Vernunft im höchsten Sinne des Wortes lag; das macht seine Liebe zu all diesen Dingen begreiflich: er brauchte sie nicht zu fürchten. Dies ist auch so aussprechbar. So viel Subjektives, Momentanes, Launisches man in seinem Leben, ja in seinem Werk finden mag man hat doch immer das Gefühl, daß das ganze Leben nie sein Übergewicht über den gerade an der Oberfläche befindlichen Teil verloren hat. Daß er in jedem Augenblick als Ganzer in seiner Äußerung lebt, das gibt dieser die wundervolle Temperierung. Was man als seine Kühle ange- sehen hat, ist nichts als dieses Aufwiegen des Einzelnen durch die Ganzheit des Lebens (und deshalb mußte es mit dem Mehr- Werden dieses Lebens immer zunehmen). In diese Form ordnen sich auch die Ereignisse seiner Liebe ein und sie ergibt bei ihm die unvergleichliche Vereinigung, daß der ganze Mensch sich in das Gefühl hingibt, und daß er eben weil es der ganze ist, immer Herr über das Gefühl als ein einzelnes bleibt; daß dieses nie als eine abgelöste Wesenheit, wie das erotische Erlebnis so oft beim Manne auftritt, sondern als ein lebendiges Glied dieses Organismus wirkt, das immer von dessen Gesamtleben Kraft und Norm freilich darum noch nicht Glück bezieht. Im großen und

Solipsismus und Hingabe 201

ganzen mindestens besaß er diese menschliche Vollendung: er konnte sich ganz hingeben, ganz hingerissen werden, ohne damit aus seinem Zentrum gerückt zu werden. Diese Versöhnt- heit sonst getrennter und sich gegenseitig aufhebender Lebens- punkte oder Tendenzen ist dem Goetheschen Leben überhaupt eigen. Das praktische Ideal, das er im Epimenides ausspricht: „Nachgiebigkeit bei großem Willen" hat er in unzähligen Beziehungen zu Menschen selbst verwirklicht. Die Fähigkeit sich hinzugeben und sich dabei zu bewahren, die äußerste Energie und vollkommenes Nachgeben die absolute Fähigkeit und Sinnsicherheit seines tiefsten Lebens und die ,,Proteusnatur", die sich täglich wandelte unter diesen Synthesen spürt man eine gemeinsame große Lebensformel, die sich nicht unmittelbar, sondern nur in derartig partiellen oder gleichsam provinziellen Äußerungen ergreifen läßt.

Solcher Charakter des Gefühles als Lebensprozesses bedroht freilich das Verhältnis zu seinem Gegenstand mit einer gewissen Problematik. Im allgemeinen wird die Liebe, auch als bloßes Binnenereignis in der einzelnen Seele, wie eine Wechselwirkung empfunden; der Andere, sie erwiedernd oder nicht, ja, um sie wissend oder nicht, ist ein aktiver Faktor in ihr, und unter seiner, wenn auch sozusagen nur ideellen Mitwirkung entsteht im Lieben- den sein Gefühl. Aber wie in einem Gegensatz hierzu empfindet man Goethes Erotik als ein rein immanentes Ereignis und als habe seine Innerlichkeit dessen Kosten gleichsam allein zu tragen; und es ist wundervoll, wie das Reservierte, Selbstsüchtige, ja Rücksichtslose, das mit solchem solipsistischen Erleben der Liebe sich zu verbinden pflegt, bei ihm nie spürbar wird. ,,Bis ins Innerste der Existenz**, schreibt er als Siebenunddreißigjähriger, müßten Verhältnisse gehen, wenn ,, etwas Kluges daraus werden solle". Und: ,,Wenn man nicht unbedingt lieben darf, sieht es mit der Liebe schon mißlich aus". ,,Zu der Zeit liebt sich's am besten," sagt er mit 62 Jahren, ,,wenn man noch denkt, daß man allein liebt und noch kein Mensch so geliebt hat und lieben werde". Die Liebe sei ,,ein Geschenk, das man nicht zurücknehmen kann, und es würde unmöglich sein, ein ehemals geliebtes Wesen zu

202 Wesensgesetz und Liebe

beschädigen oder ungeschützt zu lassen". Hierin offenbart sich nun endlich jene glückselige, die Goethesche Existenz im Tiefsten bestimmende Harmonie: der ganz freien, gleichsam nur von sich selbst wissenden, auf sich selbst hörenden Wesensentwicklung und der Forderungen, die von den Dingen und den Ideen her- kommen. In Philines Wort: ,,wenn ich dich liebe, was geht's dich an?" ist die Einheit der beiden Werte, des idealen und des personalen, auf das vollkommenste ausgedrückt. Auf der einen Seite eine höchste Zartheit und selbstlose Hingabe, gegen die Piatos Vorstellung von der Liebe als dem Mittleren zwischen Haben und Nichthaben als etwas Egoistisches und Veräußer- lichtes erscheint. Er hat viele Jahre vorher diese reinste Ge- staltung der Erotik durch die Tat erwiesen: die Frankfurter Briefe an Kestners, in denen er dauernd und ohne jeden Vorbehalt von seiner Leidenschaft für Lotte spricht, gehören zu den allervoll- kommensten Zeugnissen, die die Welt überhaupt von Reinheit, Adel der Gesinnung, sittlich sicherem Vertrauen zu sich und an- deren besitzt. Es ist als ob die Idee der Liebe hier in ihrer Auto- nomie, frei von allem Habenwollen und von allem Zufälligen im Menschen zu Worte käme. So kann er selbst die Äußerung Philines auf Spinozas ganz überpersönliches Wort: Wer Gott liebt, könne nicht wollen, daß Gott ihn wieder liebe zurück- leiten. Aber andrerseits offenbart sich damit doch eine Liebe, die gerade aus dem Eigensten der Person, aus ihrem absoluten Selbstsein quillt. Wie er sein Schaffen als ,, Liebhaber" und ohne Zweckrücksicht auf das, was dabei herauskäme, vollbrachte, so war ihm auch die Liebe eine Funktion des Lebens, normiert von dessen organischer Rhythmik, aber nicht von einer Idee, mit der sie nun dennoch wie durch ein tiefes ursprüngliches Einssein harmonierte.

Damit war auch das eigentümlich gefärbte Verhältnis zu den Gegenständen seiner Liebe gegeben. In all seinen Beziehungen zu Menschen war ein bestimmender Zug, den man vielleicht als souveräne Zartheit bezeichnen kann eine innere Attitüde, da entstehend, wo die einheitliche Ganzheit des Menschen für jedes seiner Verhältnisse dauernd Quelle und Dominante bleibt;

Wechsel der Neigungen 203

denn damit sind Hingebung und Distanznahme, das tiefste Ein- gehen auf den andern und die beherrschende Sicherheit, sich nie darüber zu verlieren, nur die Seiten eines einzigen Verhaltens. Und so verschlingt sich in seinen Beziehungen zu den geliebten Frauen jenes Leidenschaftliche, Selbstlose, Ritterliche mit einem eigentümlichen Cachet: als wären sie doch eigentlich nur die Gelegenheitsursachen, an denen sich ein gerade jetzt notwen- diges Stadium seiner inneren Entwicklung verwirklichte, und als wäre das jeweilige erotische Verhältnis die Blüte aus seinen eigenen Triebkräften, für die die Frau nur Frühlingsluft und Frühlingsregen war. Wenn Carl August einmal sagt, Goethe hätte immer alles in die Frauen gelegt und nur seine Ideen in ihnen geliebt, so liegt diesem wohl etwas plumpen Ausdruck doch schließlich dasselbe zugrunde, wie der vorhin angeführten Äußerung zu Kestner, als jemand eine vorteilhafte Schilderung von Lotte entworfen hatte: ,,Ich wußte wahrlich nicht, daß das all in ihr war, denn ich habe sie viel zu lieb von jeher gehabt, um auf sie acht zu haben." Das Entscheidende ist, daß jene Wechselwirkung zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Liebe, die sich selbst in der unglücklichen Liebe innerhalb des liebenden Individuums abspielt, für ihn zurücktrat, und in höherem Maße seine Liebe ein in sich kreisendes Gefühl, eine je von seiner individuellen Entwicklung gesetzte Epoche war. Und obgleich dies, durch die wunderbare Einheit von subjektivem Trieb und objektiver Forderung in seinem Existenzbild, das geliebte Wesen nichts von hingebender Leidenschaft und selbstloser Zartheit entbehren ließ so erklärt sich daraus doch der häufige Wechsel der Gegenstände seiner Neigung. Er hat in bezug auf sein Werk in vielen Formen und zu vielen Zeiten ausgesprochen, es wäre eigentlich gleichgültig, an welchem Gegenstand man tätig sei: nur darauf, daß die Kraft sich bewähre, daß ein Maximum von Wirksamkeit erreicht werde, komme es an. So paradox es scheint, auch diese Grundmaxime seiner Existenz wiederholt sich an seinem Verhältnis zu der Pluralität der Frauen. Wie es ihm gleich- gültig war, ob er ,, Töpfe machte oder Schüsseln", so war es in diesem Sinne gleichviel, ob er Friederike liebte oder Lili, Frau

204 Treue

V. Stein oder Ulrike. Gewiß war seine Liebe jedesmal eine andere, die Frau war ihm nicht etwa, wie dem Manne von roher Sinn- lichkeit, die Frau schlechthin, gleichgültig gegen ihre Indivi- dualität. Aber daß die Liebe in diesem Augenblick eintrat, daß sie in ihm dieses unverwechselbare Cachet hatte das war so- zusagen nicht von jener erotischen Wechselwirkung her, sondern von dem Periodencharakter bestimmt, den das Gesetz seiner Ent- wicklung eben jetzt heraufführte. Er war den Frauen untreu, weil er sich selbst treu war. Er tut einmal eine sehr merkwürdige Äußerung über die ,, sogenannte größere Treue der Frauen". Diese entstünde nur daher, daß die Frauen ,,sich selbst nicht überwinden können, und sie können es nicht, weil sie abhängiger sind als die Männer". Damit will er doch der Treue den Wert absprechen, die durch die Abhängigkeit vom Andern entsteht, die nicht aus der vollen Freiheit des Individuums stammt; die jeweilige Empfindung muß vielmehr dem eigenen Lebensprozeß entfließen, der, wie er ihn auffaßt, eine fortwährende Selbstüber- windung ist, das Aufbauen eines höheren, vollkommeneren Seins, gleichsam über den Trümmern des vergangenen. Wer ab- hängig ist, kann sich nicht überwinden, das heißt, ihm entwickelt nicht eigenste innerste Notwendigkeit immer neue Inhalte, neue Wendungen, gleichgültig dagegen ob die Empfindung an ihrem früheren Gegenstand festwurzelt und sich nur unter Schmerzen von ihm löst: wir haben genug Beweise für die Leiden, unter denen Goethe auch seine freiwilligsten Trennungen von den Frauen, die er liebte, vollzog; seine Untreuen waren Selbst- überwindungen, das heißt der Gehorsam gegen das Gesetz seines sich immer höher entwickelnden, jede Vergangenheit über- bauenden Lebens. Wir sehen diese erotische Rhythmik in Goethes tiefstes Lebensgefühl eingesenkt, indem wir sie noch mit einer seiner wunderbarsten Äußerungen verbinden, die der Kanzler Müller aus seinem 75. Jahre mitteilt: ,,Als unter mancherlei aus- gebrachten Toasten auch einer der Erinnerung galt, brach Goethe mit Heftigkeit in die Worte aus: ,,Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinne. Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muß nicht erst von außen her wieder erinnert, gleich-

Die Entwicklung des Ich und seine Gegenstände 205

sam erjagt werden. Es muß sich vielmehr gleich von Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neues besseres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen. Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet." In dieser Auffassung hat das Leben seine letzte Starrheit überwunden. Auch unsere leiden- schaftlichen Erlebnisse sind nun nicht an einer Stelle der Ver- gangenheit, an der wir sie in ihrem unveränderlichen So-Gewesen- sein wieder zu suchen hätten, angenagelt und wir mit ihnen; sondern sie sind die selbst bildsamen Elemente der Lebensge- staltung, die mit jedem Augenblick neu einsetzt. Gut, wenn diese Gestaltung jene ungeändert weiter bestehen macht und so die Erscheinung der Treue gegen ihren Inhalt erzeugt; und Goethes Leben hat dies in seinen Beziehungen zu Frau von Stein und zu Christiane erwiesen. Aber auch wo die Entwicklung entschiedene Wendungen fordert, ist die Untreue nun nicht eine bloße tote Diskontinuität im Leben, sein Verlaufen wie in eine leere Sack- gasse; sondern der tiefste Zusammenhang des Lebensprozesses setzt sich gerade durch diesen Bruch seiner Inhalte fort, der frühere ist nicht einfach dementiert, wie es sein müßte, wenn er jenes nur erinnerbare Vergangene wäre, sondern weil er selbst ganz aus der Lebendigkeit des Ich bestimmt war kann er ewig umgestaltet und umgestaltend das ,,neue, bessere Ich in uns er- zeugen" helfen. Die Frauen waren ihm Gegenstände jenes schein- baren Egoismus, dessen Ich in Wirklichkeit kein Genußsubjekt, sondern eine organisch gesetzliche und deshalb auf ihren Wert vertrauende Entwicklung ist; wie er es einmal in die kurze Maxime zusammenfaßt: der Künstler solle ,, höchst selbstsüchtig" verfahren. Sein eigenes, immer produktives Lernen und Arbeiten hat er als ,, eigentlich immer nur egoistisch" bezeichnet: sich selbst habe er daran bilden wollen. Einen erhabenen Begriff von ,, Selbstsucht" bringt er damit auf. Mehr vielleicht als irgend- einem Menschen, mit Ausnahme Lionardos, waren alle Reiche der Welt seine Speise; man möchte auch an Leibniz denken aber dessen Intellektualität, die zwar alles Ergreifbare ver-

206 Menschen als Gegenstände

schluckte und verdaute, scheint deren Stoffe und Kräfte nur zu ihrer eigenen Sonderernährung, nicht aber zum Aufbau einer vollkommenen Gesamtpersönlichkeit verwandt zu haben. Aber Goethes großartiger Objektivität war das eigene Ich ein dem Gesamtsein verhaftetes Element, dessen Vervollkommnung ihm Pflicht und Lebenssinn war. Wie er als Lernender, als Welt- aufnehmender, wie er als Künstler ,, höchst egoistisch" war, so war er es den Frauen gegenüber; wie aber dieser Egoismus einer- seits die völlige Hingabe an den Gegenstand einschloß, andrer- seits nur auf jene eigene Vollendung zielte, die ein objektiver Wert ist und mit dessen Steigerung sich der Wert des all-einen Da- seins überhaupt hebt so war auch der Egoismus seiner Liebe. Dennoch besteht ein Unterschied. Ein menschliches Indi- viduum, die Strömung des Daseins in eine irgendwie unvergleich- liche Kurve leitend und sich als Selbstzweck fühlend, will sich nicht und, vor allem, kann sich nicht in die harmonische Existenz eines anderen so einfügen lassen, wie das unpersönliche Dasein. Goethe ist sich darüber prinzipiell wenn auch in ganz anders gewendetem Ausdruck durchaus klar gewesen: er verkehre am liebsten mit der Natur, denn in der Verhandlung mit Men- schen irre bald der eine, bald der andere in fortwährender Ab- wechslung, und damit ,, kommt nichts aufs reine". Jene Grund- formel seiner Existenz : daß die Entwicklung seines Denkens und Schaffens, dem eigenen Gesetz allein folgsam, zugleich den Forderungen der Gegenstände dieses Denkens und Schaf- fens entsprach diese Formel galt nicht vorbehaltlos, wo jene Gegenstände Menschen waren; Menschen, mit ihrem schließ- lichen Fürsichsein, mit zuletzt doch unbiegbaren Umrissen ihres Wesens und ihrer Schicksale, die sich mit denen eines andern, so ungeheuer dessen eigne Harmonie und Harmoni- sierungskraft sei, nicht notwendig decken. Gewiß hat Goethe, aus dem innersten Triebe seiner Natur heraus und ohne dazu eines moralischen Imperativs zu bedürfen, in seine Liebesbe- ziehungen alle Rücksicht und alle Selbstüberwindung, alle Zart- heit und alle hingebende und beglückende Leidenschaft eingesetzt. Und doch ging damit die Rechnung nicht auf. Fast allen Frauen,

Unvermeidliche Dissonanz 207

die Goethe geliebt hat, endete dies Glück in Mißklang und Leiden: für Ännchen wie für Friederike, für Lotte wie für Lili und für Frau von Stein. Gewiß war die Ursache solchen Ausgangs in jedem Fall eine besondere. Allein es scheint mir zu den typischen Formen des Menschenschicksals zu gehören: daß eine Reihe von inhaltlich irgendwie verwandten Ereignissen jedesmal in einen gleichen Effekt auslaufen, jedesmal aber aus einem neuen und von den früheren Fällen ganz unabhängigen Grunde, der den jeweiligen Fall auch ganz zureichend erklärt und daß doch ihnen allen eine gemeinsame Ursache, wie aus einer tieferen, die unmittelbare Kausalität nicht berührenden Schicht zugrunde liegt. Daß Goethe eben jenes ,, höchst selbstsüchtige" Leben lebte in wie erhabenem Sinne immer, wie fern immer von der Enge und Rücksichtslosigkeit der Genußsucht, in wie einzigartiger Harmonie immer mit der Ganzheit des Seins und den Gesetzen der Dinge und Ideen das war doch wohl die tiefste metaphysische Ursache davon, daß er keiner Frau ein dauerndes Glück bereiten konnte, selbst in dem bescheideneren Sinne, in dem uns das erfahrene Leben schließlich den Begriff des dauernden Glückes verstehen lehrt. An dem definitiven Selbstsein der menschlichen Individualität versagte, mit sozusagen formaler Notwendigkeit, die unvergleichliche Gunst, um die er sich wohl selbst den ,, Lieb- ling der Götter" nennen durfte: die Entwicklung nach dem eigenen Gesetz in Einheit mit dem Gesetz alles anderen Daseins zu voll- ziehen.

Aber noch einmal schlug diese Formel gleichsam zurück, ihre Herrschaft noch über ihre eigene Verneinung erstreckend: er selbst teilt das schmerzensreiche Schicksal seiner Geliebten, ihm selbst, von den Frauen geliebt wie wohl wenige Männer, scheint die Liebe kein Glück, außer auf rasch herabsinkenden Höhen des Rausches, gebracht zu haben. Er selbst bezeichnet einmal die jugendliche Verfassung seines Innern als ,, liebe- vollen Zustand" und daß er ,,das Sehnsüchtige, das in mir lag, in früheren Jahren vielleicht zu sehr gehegt" habe. Mit fort- schreitender Männlichkeit aber habe er statt dessen ,,die volle endliche Befriedigung gesucht". Diese Befriedigung jedoch fand

208 Die Marienbader Elegie

er ersichtlich nicht in der Fortentwicklung jenes „liebevollen Zustandes", sondern zunächst in Italien (worauf sich jene Stelle bezieht), allgemeiner aber im Forschen und Wirken. Aber mit so ungeheurer Kraft er die Bedürfnisse seiner Natur in diese Wert- richtungen leitete es blieb irgendetwas wie ein Bruch und Rest, den er sich, wie er mehr als einmal andeutet, sozusagen gewalttätig zu vergessen zwang. Er ist ein Siebziger, als er schreibt: ,, Jeder Mensch ist ein Adam; denn jeder wird einmal aus dem Paradiese der warmen Gefühle vertrieben." Selbst in dem Verhältnis zu Frau von Stein wird die Epoche des wirklichen Glückes erschreckend kurz, wenn man die Briefe nicht nur auf ihre Oberfläche hin liest. Und was er ihr auch an Glück verdankt, wird reichlich durch die fürchterliche Erfahrung aufgewogen, die er während und nach der italienischen Reise mit ihr machen mußte gleichviel, wie sich die sogenannte ,, Schuld" auf beide Parteien verteilt. An das Leiden dieser Erfahrung hat sich so- weit man solche Unbeweisbarkeiten aussprechen darf eine, viel- leicht die große Wendung seines Lebens geknüpft; damit erstarrte etwas in ihm, was nicht wieder geschmolzen ist. Der ganze Fall Christiane erscheint mir als Ergebnis der Ermüdung und Resig- nation gegenüber dem so oft gesuchten und nie gewonnenen Liebesglück, als die Flucht in die bescheidene Sicherheit des Halb- glücks. Es ist eine eigentümliche soziale Ironie, daß der Philister unter allen erotischen Erlebnissen Goethes den meisten Anstoß gerade an diesem zu nehmen pflegt, das seiner inneren Struktur nach sicher das philiströseste von allen war. Und nun rächt sich noch einmal die zurückgeschobene, auf das tote Gleis geratene Liebe in dem Marienbader Erlebnis. Das Erschütternde der Elegie, das ihr eine vielleicht einzige Stellung in der Weltliteratur gibt, ist dies: daß ein ganz unmittelbares, in voller Lebendigkeit strömendes Fühlen sich ausdrücken will und dafür nur die schon erstarrten, resultathaften, sentenziösen Formen vorfindet, die aus einem ganzen langen Leben auskristallisiert sind und es ver- weigern, sich noch einmal zurückschmelzen und in jenen Fluß eines aus der ersten Quelle hervorstürzenden, keiner Formfestig- keit Untertanen Prozesses von Leben und Liebe hinabziehen zu

Wesensgesetz und Leiden 209

lassen. Dies leidenschaftlich Gegenwärtige ging nicht in die ihm allein noch gebotene Form der Zeitlosigkeit hinein, hinter der abgeklärten, weise gewordenen Form fühlt man die Sehnsucht klopfen, wie einen Gefangenen an die Mauern, die ihn ersticken wollen. Nie vielleicht hat ein anderes Gedicht rein in seinem Stil den tragischen Kampf des Jünglings mit dem Greise zum Aus- druck gebracht. In diesem Verhängnis des Ausdrucks, daß grade das Höchste des Stils, in dem alle Weite und Tiefe seines Lebens sich gesammelt hatte, ihm die Möglichkeit entzog, seine Liebe wie er sie wirklich liebte, auszusagen spiegelt sich das Verhäng- nis seiner Wirklichkeit: daß in der Form dieses Lebens offenbar das Glück der Liebe keine dauernde Heimat finden konnte. Ich sagte, daß sogar mit dem Glücksmangel seiner Liebe die Grund- gestaltung seines Daseins, wenn auch jetzt in der Ebene der Negativität, sich bestätigte. Ihm war gegeben, daß er für alles Denken und Leben, wie es sich aus seiner eigensten, innnersten Notwendigkeit entfaltete, an den Gegenständen dieses Denkens und Lebens die wie er selbst sich ausdrückte ,, antwortenden Gegenbilder" fand. Wie sein Geist sich großartig und beglückend abrundete, Geschwister und Gegenbild der einheitlichen Totalität des Kosmos und seiner Seligkeit, die unseren tiefsten Ahnungen, von den Griechen her, vorschwebt so ist das Leiden, das seine Liebe den Gegenständen dieser Liebe brachte, nur das ,, ant- wortende Gegenbild" seines eignen Leidens gewesen, als stiege, wie alles Helle seines Lebens und seiner Welt, auch dieses Dunkle in ihm und in dem, was um ihn und ihm gegenüber war, Hand in Hand aus der metaphysischen Einheit alles Seins empor.

Simmel, Goethe. '4

Achtes Kapitel.

Entwicklung.

Unter den Wertunterschieden der Individuen, die sich in der Form ihrer Existenz ausdrücken, scheint mir einer obenan zu stehen: ob der Mensch dies oder jenes leisten soll, eine Summe einzelner Forderungen mit seinem Tun und Sein zu erfüllen bestimmt oder willens ist; oder ob er als ganzer, mit der Totalität seiner Existenz, etwas tun oder etwas sein soll. Dieses Etwas braucht kein angebbares Ziel oder Werk zu sein; sondern nur dies, daß die Lebenseinheit, über all diesem Einzelnen stehend und es tragend wie sich ein lebendiger Körper als Einheit zu seinen einzelnen Gliedern verhält etwas für sich Bedeutsames sei, einem ihr als ganzer gesetzten Ideale Untertan, in einer einheitlichen Strömung fließend, die alle singulären Eigenschaften und Taten in sich einzieht und sie übergreift, aus deren Summe nicht zusammensetzbar. Die als moralisch an- gesprochene Wertung pflegt sich hierauf nicht zu richten. Für sie vielmehr rinnt der Wert eines Individuums aus den Werten seiner einzelnen Charakterzüge und einzelnen Entschlüsse zu- sammen, während bei jenen Menschen umgekehrt die vielleicht unbenennbare Intention und Bedeutung, das Sollen ihrer Lebens- einheit, den Sinn und die Rolle jeder Lebenseinzelheit bestimmt. Wenn für Goethes Existenzbild irgend eine Charakteristik unzweideutig ist, so ist es seine Zugehörigkeit zu dieser Seite der Alternative. Als Ganzes hatte sein Leben ein So-Sein- und Sich-so-Verhalten-Sollen über sich, dem auch seine objek- tivste Leistung ebenso diente, wie sie aus ihm kam. Und dies um so vollkommener, als kein bestimmter Inhalt, den sein Leben überhaupt realisieren sollte, hingestellt werden kann. Denn wo dies der Fall ist, wie bei den spezifisch religiösen,

Ideal des Lebens als ganzen 211

wissenschaftlichen, künstlerischen Menschen, läßt selbst die völligste Konzentration auf dies Eine dennoch eine Anzahl von Energien unergriffen; unser Wesen ist zu differenziert, um wirklich all seine Seiten, auch die peripherischen, in den Dienst eines einzigen Sollens stellen zu können. Nur wo dieses Wesen schlechthin soll, wo sozusagen ,,die Aufgabe überhaupt" über ihm steht, wo die Pflicht etwas Funktionelles ist, wie das Leben, dem sie gewöhnlich als das Feste, Substanziell-Unbewegte ent- gegengestellt wird nur da kann es sich mit unendlicher Flexibilität in die Aufgaben jedes Tages ergießen, nur da ist kein Teil seiner Ganzheit im genauen Sinne dem Sollen seines Wesens entzogen. Darum ist es keine Widerlegung, sondern ein Beweis für jene Struktur der Goetheschen Existenz, daß man für die ideale Forderung, die man deutlich über ihr stehen fühlt, keinen bestimmten Inhalt angeben kann; seine heftige Abneigung gegen alle ,, Profession" hat zutiefst vielleicht dies zur Ursache. Wenn irgend ein Leben, so hat das seine als Ganzes etwas gesollt; nicht Dramen dichten oder Naturwissen- schaften treiben oder praktisch wirken dies alles ist das jeweilige Sollen einzelner Begabungen seiner Natur. Sondern dies Leben war von seiner Wurzel so einheitlich und entschieden zusammengefaßt, daß man seine Ungetrenntheit wie durch ein, freilich unbenennbares Sollen, ein Ideal seiner Ganzheit, normiert empfindet, das sich in jene einzelnen Forderungen nur ebenso auseinanderlegt, wie die Wirklichkeit seines Lebens in einzelne wirkliche Leistungen. Die Arten, auf die sich diese Forderung an die Lebenstotalität in den Intentionen seiner Lebensepochen verwirklicht, gibt diesen ihren unterscheidenden Charakter.

In unmittelbarer, wenn auch ihm selbst nicht formulierbar bewußter Form ist seine Jugend, zuhöchst bis zur Rückkehr aus Italien, diesem Ideal Untertan. So treu und hingegeben sein Schaffen, Handeln, Forschen auch von vornherein war, man fühlt deutlich, daß die Vollendung seiner Existenz das letzte treibende Motiv in alledem ist; er ist hier der subjektive Lyriker, dem diese Lebensform nicht nur Wirklichkeit, sondern ihr zentrales Ideal und dadurch freilich auch etwas Objektives

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212 Jugendliche Formung

ist. Auf der Höhe dieser Epoche sagt er im Jahre 1780: „Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles andere und läßt kein augenblick- liches Vergessen zu. Ich darf mich nicht säumen, ich bin schon weit in Jahren vor und vielleicht bricht mich das Schick- sal in der Mitte und der babylonische Turm bleibt unvollendet. Wenigstens soll man sagen : er war kühn entworfen, und wenn ich lebe, sollen will's Gott die Kräfte bis hinauf reichen." In demselben Jahre schreibt er (und oft in dem gleichen Sinne) an die Stein: ,,Sie sehen, ich erzähle immer vom Ich. Von andern weiß ich nichts, denn mir inwendig ist zu tun genug, von Dingen, die einzeln vorkommen, kann ich nichts sagen." Und sicherlich ist es die gleiche Basis, von der aus er als fünfundzwanzigjähriger Mensch sagt, da doch ein unerhörter Reichtum von Liebe und Freundschaft, von sachlichen Interessen und Hoffnung auf sachliche Leistungen um ihn war: ,,Die beste Freude ist das Wohnen in sich selbst." Dies war die Zeit, in der die Kraft des Lebens als solchen, die reißende Strömung seines Prozesses selbst alle angebbaren Inhalte, so wertvoll und bedeutsam sie in einer Oberschicht für ihn sein mochten, in sich einschlang. Freilich ist das nur die typische Stimmung und Gerichtetheit der Jugend überhaupt. Denn wenn es, an den großen Lebenskategorien gemessen, überhaupt eine polare Entgegengesetztheit zwischen Jugend und Alter gibt, so ist es diese: daß in der Jugend der Prozeß des Lebens das Übergewicht über dessen Inhalte hat, im Alter die Inhalte über den Prozeß. Die Jugend will vor allen Dingen ihr Dasein bewähren und fühlen, der Gegenstand ist in der Hauptsache nur wesentlich, insofern an ihm dies geschieht, und was man ,,die Treulosigkeit der Jugend" genannt hat, besagt nur, daß ihr die Lebensinhalte noch nicht recht eigenwertig sind und deshalb leicht gewechselt werden, sobald das dominierende Interesse es fordert: die Äußerung der drängenden Kräfte, die Intensität des Lebensprozesses, die Empfindung des subjektiven Daseins, das die Welt gleichmäßig zu seinem Material macht,

Objektivität des Alters 213

wenn es sie in sich einschlürft, wie wenn es sich ihr opfert. Indem das Alter diese Strömung verlangsamt, die Lebensfunktion als solche herabsetzt, steigert sich ihm die übersubjektive Be- deutung des Sachgehaltes der Welt ; wie die Dinge ohne Rück- sicht auf das eigne Leben sind, bekommt ihm einen definitiveren Ton eine Entwicklung, die auf ihrem Höhepunkt das eigne Subjekt in ihre Formel zieht; sei es, daß der Mensch nun im Erkennen wie im Handeln das eigne Dasein nach den Normen objektiver Inhalte lebt, dieses Leben selbst aber als subjektive Funktion ganz aus Bewußtsein und Intention ausschaltet; sei es in den Alterswerken des großen Künstlers, in denen sozu- sagen der transzendente, durch die Schwebungen des empirischen Lebens hindurchgewachsene Kern der Persönlichkeit sich in ganz neuen, über die Polarität des Subjektiven und des Objektiven triumphierenden Formen ausspricht. Daß Goethe selbst den Gegensatz so empfunden hat, gibt einer zunächst flach und wunderlich aussehenden Bemerkung der späteren Zeit erst ihre begründende Tiefe: ,,Der Irrtum ist recht gut, so lange wir jung sind; man muß ihn nur nicht mit ins Alter schleppen." Der Irrtum ist für die Jugend ,,gut**, weil es für sie überhaupt nicht auf Erkenntnis in ihrem sachlichen Wert ankommt, sondern auf Werden, Wissen, Sein; was diesen dient, ist gut, mag es als Inhalt, der in der Gegenhaltung gegen die Objekte sein Kriterium findet, richtig oder falsch sein. Das Alter aber ist dem Objektiven zugewendet und der Irrtum geht deshalb gegen die spezifische Intention der Altersepoche, wie Goethe sie faßt : als das Auseinandergehen des Lebensprozesses in Erkennen und Handeln, während die Jugend der Gewalt dieses Prozesses Untertan ist und ihm das Wahre und das Irrige gleichmäßig zum Material macht. Und wie mit dem Wahren und Irrigen, so steht es mit dem Guten und Bösen. In der Jugend erscheinen ihm die moralischen Satzungen oft nichtig gegenüber der über- wältigenden Macht des Natürlichen. Der Begriff des einheit- lichen, dynamischen Lebens, der ihn beherrscht, ist einerseits unabhängig von Gut und Böse, andrerseits sind diese selbst ein Sein, sind dessen bloße qualitative Bestimmtheiten. In seinem

214 Lebensbestimmung durch das Sein und durch die Inhalte

Alter wächst diesen Normen eine immer größere Bedeutung zu, und wenn er sie auch in das natürliche Leben der geschicht- lichen Menschheit einstellt und sie sich ineinander verwurzeln und verzweigen läßt, so werden sie doch als ,, Tugend und Laster" entschieden getrennt. Dem Jüngling erscheinen gut und böse oft als Eines, weil es ihm nicht auf die Inhalte, sondern auf den Lebensprozeß ankommt, der zu jener, von objektiven Normen herkommenden Einteilung gar kein prin- zipielles Verhältnis hat: allenfalls sind ,,gut und böse" etwas, was wir sind, während die Altersbegriffe ,, Tugend und Laster" etwas sind, was wir haben, was sich von der Lebensgrundlage ideell in höherem Maße gelöst hat. Goethes Lebensarbeit ist nun so verschieden in ihm verteilte Akzente uns die weitere Entwicklung zeigen wird einerseits nie von dem Streben nach Objektivierung seines Subjekts, andrerseits nie von dem freien, in sich selbst zentrierten und auf die eigene Vollendung gehenden Sich-Darleben des Ichs verlassen. Was ich eben als das Charakteristikum seiner Jugend ansprach : die Bestimmtheit durch das Ideal des persönlichen Seins, geht mit später auf- zuweisenden Wendungen und Differenzierungen durch sein ganzes Leben und trennt dies sehr entschieden von andern Existenzen, die von vornherein auf Herausarbeitung und Be- arbeitung von Inhalten des Lebens eingestellt sind. Im eminenten Sinne war Kant eine solche. ,,Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher", lautet eine in seinem Nachlasse gefundene Notiz. ,,Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen oder auch die Zu- friedenheit bei jedem Fortschritte. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses alles könnte die Ehre der Menschheit machen und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendete Vorzug ver- schwindet: ich lerne die Menschen ehren und würde mich viel unnützer finden, als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben könnte, die Rechte der Menschheit herzustellen." So echt und fundamental diese Leidenschaft des Erkennens ist, so ist damit

„Gefühl ist Alles" 215

der Wert des subjektiven Lebens von einem Kriterium abhängig, das gegen dieses Leben prinzipiell ganz gleichgültig ist: Kant will das Gefäß der Erkenntnis werden, die sich aus ihrer ideellen Existenz heraus in ihm realisiert. Und die Wendung, zu der ihn Rousseau veranlaßt, richtet seine Wertbetonungen von dem ab, was er ,,aus Neigung" ist, unterstellt sein Tun einer Ordnung, die völlig jenseits seiner selbst steht. Es sind immer die objektiven Inhalte seines geistig-innerlichen Lebensprozesses, von denen diesem Form, Bewegung, Wert kommt während bei Goethe der Lebensprozeß das erste ist und von ihm, seinen Normen und Kräften aus, erst die Inhalte nach Art, Schicksal und Bedeutung bestimmt werden. Die Einheit des Daseins, das sich in Prozeß und Inhalt erschöpft, wurde so bei beiden von entgegengesetzten Seiten her gewonnen. Weil aber, wie gesagt, in der Jugend der Prozeß des Lebens das Übergewicht über seine Inhalte hat, im Alter die Inhalte über den Prozeß, darum ist in Goethe etwas von ewiger Jugend, während Kant von vornherein etwas Altes hat.

Die besondere Unbedingtheit und Unmittelbarkeit, mit der Goethes Jugend diesen Zug zuspitzt, offenbart sich in der Vor- herrschaft derjenigen seelischen Energie, die gleichsam die psycho- logische Vertretung oder Bewußtheit der so gerichteten Lebens- realität ist: des Gefühles. Seine Jugend steht durchaus unter dem Zeichen: ,, Gefühl ist Alles." Ich führe nur einige Stellen vom Anfang seiner zwanziger Jahre an. Von einem Freunde schreibt Werther : ,,Auch schätzt er meinen Verstand und meine Talente mehr als dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist, das ganz allein die Quelle von Allem ist, aller Kraft, aller Seligkeit und alles Elends. Was ich weiß, kann jeder wissen mein Herz habe ich allein." Unmittelbar, ohne dichterische Verlegung, an einen Freund, der ihn religiös beeinflussen will: „Daß du mich immer mit Zeugnissen packen willst! Wozu die? Brauch' ich Zeugnis, daß ich bin? Zeugnis, daß ich fühle? Nur so schätz', lieb', bete ich Zeugnisse an, die mir darlegen, wie Tausende oder einer vor mir eben das gefühlt hat, das mich kräftiget und stärket." Über den Götz bald nach seinem Er-

216 Tragik der Herrschaft des Gefühls

scheinen: „Es ist alles nur gedacht, das ärgert mich genug.

Wenn Schönheit und Größe sich mehr in dein (d. h.

mein) Gefühl webt, wirst du Gutes und Schönes tun, reden und schreiben, ohne daß du weißt warum.'' Kestner urteilt über ihn als Dreiundzwanzigjährigen: ,,Er strebt nach Wahrheit, hält jedoch mehr von dem Gefühl derselben, als von ihrer Demonstration." Alles, was die ursprüngliche, im Gefühl sich ausdrückende Seinseinheit auseinanderzieht und in Stücke zer- legt, ist ihm jetzt verhaßt, so daß er sich über eine ihm zuge- mutete Kritik so äußert: Was er sagen könne, müsse der Autor in sein Gefühl übertragen, und aus dem so geschaffenen Gefühl erst heraus könne er etwas ändern. „Ich hasse alle Spezialkritik von Stellen und Worten. Ich kann leiden, wenn meine Freunde eine Arbeit von mir zu Feuer verdammen, umgegossen oder verbrannt zu werden; aber sie sollen mir keine Worte rücken, keine Buchstaben versetzen." Seine Produktion selbst leitet er, mit 24 Jahren, ganz unmittelbar und gleichsam unter Ausschluß objektivischer Motive, aus dem Leben und dem Fühlen ab: ,, Meine Ideale wachsen täglich aus an Schönheit und Größe und wenn mich meine Lebhaftigkeit nicht verläßt und meine Liebe, so soll's noch viel geben." Und mit fast 70 Jahren beurteilt er den Gegensatz, der sich als der Träger der weiteren Entwicklung zeigen wird, in ent- scheidender Weise: ,, Meine ersten ins Publikum gebrachten Produktionen sind im eigentlichsten Sinne gewaltsame Aus- brüche eines gemütlichen (d. h. gefühlsmäßigen) Talents, das sich aber weder zu raten noch zu helfen weiß." Er setzt also worauf wir alles ankommen sehen werden das Gemüt in den Gegensatz zum Theoretischen, mit dem man sich zu „raten" weiß, und zum Praktischen, mit dem man sich zu , »helfen " weiß. Diese Eingestelltheit seines jugendlichen Lebens auf die Herr- schaft des Gefühls erweist sich nicht minder an der tragischen Konsequenz, die sie im Werther gewinnt. Das wunderbar Schöne und Charakteristische dieser Jugend, die Existenz aus der unbegrenzten Fülle des Gefühles heraus, zeigt sich hier, eine echte Tragik, in seinem Selbstwiderspruch und seiner Ver-

Rettung 217

nichtungsnotwendigkeit, die ihm gerade im Augenblick seines Absolutwerdens kommt. Gewiß ist Werthers Gefühl eine äußerste Steigerung des Lebens; aber indem es in sich selbst verbleibt, nur von sich selbst zehrt, muß es sich zerstören wie später Aurelie und Mignon aus derselben Ursache zugrunde gehn, aus dem ausschließlichen Leben im Gefühl, das, trotz seiner imma- nenten Unendlichkeit, doch das Leben sich in eine Sackgasse verrennen, ,,alle andern Kräfte in mir ungenützt vermodern" läßt. „Ich bin so glücklich, schreibt Werther, so ganz in dem Gefühl vom ruhigen Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Aber ich gehe darüber zugrunde, ich unter- liege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen." Vielleicht hängt dies auch so zusammen, daß das Gefühl, so weitgehend seine Vollmacht zur psychologischen Vertretung der Gesamtexistenz ist, eben doch nur deren Reflex in der Sub- jektivität ist. Die Idealbildung der Goetheschen Jugend ging auf die Vollendung des Seins als solchen, in allem, was er dachte und tat, war es das unmittelbare, alles tragende und treibende Leben der Persönlichkeit, auf dessen Intensität und innere Ausbildung es ihm ankam. Indem damit aber unvermeid- lich das Gefühl zur Dominante des Lebens wird, entsteht die Gefahr, daß dieses, das doch nur die subjektive Spiegelung und Symbolisierung unsres realen Seins ist, sich von diesem ablöst und sich als Substanz des Lebens auftut. Dieser Gefahr unter- liegt Werther und zehrt damit die tatsächliche Existenz selbst auf. Goethe aber rettete sich von dieser Konsequenz, indem er den Werther schuf, d. h. indem Objektivierung und Pro- duktivität an die Stelle des bloßen, in sich schwingenden Ge- fühlszustandes trat, die große Akzentverlegung seines Lebens, die wir gleich kennen lernen werden, andeutend.

Ich sagte, daß diese, das persönlich-lebendige Sein und das Gefühl zur Grundlage wie zum Ideal nehmende Existenz nur den Typus der Jugendlichkeit überhaupt besonders rein heraus- arbeitete. Allein daß dies der Fall ist, geht doch wohl auf die phylogenetische Stellung des Gefühls zurück. Je undifferen- zierter sich unsere Existenz als Gesamtzustand, Gesamtsinn und

218 Wesenswert der Jugend

-wert spiegeln will, desto mehr gelingt ihr dies in den Formen des Gefühls, gegenüber den gespalteneren, vermitteiteren des Denkens und des Wollens. Die ersten Zustände der Seele sind doch wohl Gefühle, und ,, Wille und Vorstellung" erst sekun- däre, vielleicht pari passu ausgebildete. Aber dieses so aus der Lebenstiefe hervorbrechende Ideal einer einheitlich -subjektiven Seinsvollendung, wie es sich im ersten Faustmonolog als meta- physisches, im Spaziergang mit Wagner als sozusagen vitali- stisches ausspricht, alle Sehnsucht der gefühlten Fülle und Vollendung des Erlebens zudrängend dieses Ideal gibt dem Bilde des jungen Goethe einen Zauber, eine Ahnung mensch- heitlicher Vollendung, ein unerhörtes Versprechen, dem gegen- über alle Wunder seines späteren Seins und Leistens, obgleich sie die Kraft der Wirklichkeit gegenüber der bloßen Möglich- keit besitzen, ein leises Abblassen bedeuten. Vielleicht liegt hier ein allgemeines Schicksal der Menschheit, das sich nur an ihren höchsten Exemplaren besonders verdeutlicht, weil wir sie als die ,, höchsten" eben auf Grund von Leistungen zu nennen pflegen, die meistens der Zeit nach, mindestens aber dem Sinne nach jenseits der Jugendlichkeit liegen; daher stammt wohl das seltsam Ergreifende, das so oft die Jugendbildnisse der großen Menschen für uns haben. Sie mögen sich nachher zu dem unerhörtesten Schaffen und Wirken erhoben haben mit irgend einer Einbuße, irgend einer Vereinseitigung, irgend einer Temperatursenkung ist es erkauft, obgleich sie das, was sie verloren haben und um ihrer Leistungen willen verlieren mußten, eigentlich gar nicht als Wirklichkeit besaßen, aber doch auch nicht als bloße abstrakte Möglichkeit; sondern unter jener, logisch so schlecht greifbaren Kategorie, in der das lebendige Wesen seine Zukunft schon als Gegenwart besitzt, in der seine ungelösten, vielleicht nie zu lösenden Spannkräfte es schon als eine Wirklichkeit besonderer Art umschweben. Auch ist in dieser ahnungsvollen Darbietung eines Gesamtseins, gegen die alle spätere konkrete Leistung Zerlegtheit und Einseitigkeit ist, die spezifische ,, Liebenswürdigkeit" der Jugend begründet; denn Liebe richtet sich eben auf die Ganzheit des Menschen

Auseianderlegung in Handeln und Erkennen 219

und nicht auf noch so wertvolle einzelne Perfektionen und Taten, die höchstens als Brücke für das Verhältnis zu jener Ganzheit dienen können. Der Zauber von Goethes Jugend, der ihm die Liebe aller Herzen gewann, scheint in dieser vorbehalt- losen Darlebung und Offenbarung seiner gleichsam in sich un- geteilten Persönlichkeit gelegen zu haben, seiner Existenz, die noch nicht in differenzielle Kanäle geleitet war.

Das Ideal der Vollendung des persönlichen Seins geht ihm in die des Handelns (als Schaffen und als Wirken) und des Erkennens auseinander in vereinzelten Ansätzen schon in der frühen Weimarer Zeit anklingend, entschieden aber nach der Rückkehr aus Italien. Und es ist das ganz Unvergleich- liche seines Bildes, daß jener damit geschehende Abbruch an Schönheit und Kraft seines Lebens nur das schlechthin, ich möchte sagen: logisch unvermeidliche Minimum war. Und zwar, weil diese Wandlung ein rein inneres Entwicklungsschicksal, eine von vornherein in dem organischen Gesetz seines Wesens vorgezeichnete Periodik war. Wo die Kraft aus der Form der Gesammeltheit, die sie nur als jugendhafte Möglichkeit besitzt, in Bewährungen übertritt, aus dem sich selbst genügenden Lebensvorgang in einzelne Inhalte geleitet wird, da büßt sie natürlich den Glanz und Reiz ein, der nun einmal, unvergleich- bar, gerade an jener Form haftet. Aber in den meisten Lebensläufen wird damit auch ein Teil der Kraft selbst lahm- gelegt, der Strom der Vitalität, in eine Mehrheit von Adern auseinandergeführt, nun mehr von bestimmten Zielen gezogen, statt von der Einheit seiner Quelle getrieben, verliert dabei an Macht und Gedrängtheit. Diese weitergehende, weiter verlierende Konsequenz ist bei Goethe nicht eingetreten; als er aus dem Idealismus der subjektiven Lebendigkeit zu dem des objektiven Wirkens und Erkennens überging, war freilich die Jugend mit ihren spezifischen Werten verloren, aber weiter auch nichts. Jenes dynamische intensive Sein bleibt in der Theorie und in der Praxis, in die es auseinandergeht, als deren Substanz er- halten, es fällt nicht, wie in der Mehrzahl solcher Entwick- lungen, zwischen ihnen durch oder wird zwischen sie aufgeteilt.

220 „Wort und Tat"

Aus der Einheit des ursprünglichen Lebenstriebes, der sich in diese beiden hineingelebt, wird die Zusammengehörigkeit ver- ständlich, in der er sie beide fortwährend erblickt. Wenn er alles Wissen haßte, das seine Tätigkeit nicht belebte, keinen Eindruck anerkannte, der ihn nicht produktiv machte, an der Praxis das Kriterium des theoretisch Wahren fand so wirkt in all dem die Gemeinsamkeit der Wurzel, die die seines Lebens von Anfang an war. Nachdem sie sich in Erkennen und Handeln auseinandergezweigt hatte, blieben dieser beiden soli- darische Beziehungen als Folge und Symbol jener Wurzelung zurück.

Das klare und prinzipielle Bewußtsein dieser entscheidenden Wendung spricht sich z. B. in einer Äußerung vom Jahre 1805 aus, in der er die Erinnerung an bedeutende Gegenstände, be- sonders an charakteristische Naturszenen, mit ihrem Eindruck nach langer Zwischenzeit vergleicht. ,,Da werden wir denn bemerken, daß das Objekt immer mehr hervortritt, daß, wenn wir uns früher an den Gegenständen empfanden, Freud und Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nun- mehr, bei gebändigter Selbstigkeit, ihnen das gebührende Recht widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen wissen." Dazu erinnere man sich an alle die Äußerungen über den Wert des praktischen Verhaltens als solchen, die in unsren früheren Zusammenhängen hervortraten und mit seinem steigenden Alter immer entschiednere Form annehmen. Er ist noch keineswegs ein alter Mann, als er sagt, in seinem Alter gebe es für ihn nur noch Wort und Tat, das sogenannte beredte Schweigen habe er schon lange der lieben und verliebten Jugend über- lassen — eine Absage also an die gefühlshafte Lebensepoche zugunsten der theoretisch-praktischen. Er selbst zwar kon- struiert als den Gegensatz gegen diese letztere meistens die des dichterischen Schaffens sowohl im Verfolg jener Äußerung von 1805 wie zwanzig Jahre später sagt er ausdrücklich, daß die Fähigkeit für das Künstlerische, Ästhetische, die ihm ur- sprünglich eignete, ihn verlassen habe und daß an dessen Stelle die Naturstudien getreten wären. Dies sind indes ersichtlich

Die beiden Teile des Meister 221

Stimmungen aus dichterisch sterilen Monaten oder Jahren. Die Tatsachen zeigen, daß ihm das Alter die dichterische Fähigkeit keineswegs geraubt hat, aber auch ihr gab er freilich das Cachet der Objektivität; auch sie bewahrend wurde er nun der ,, Er- zählende", der das eigne Leben und seine Inhalte gegeneinander differenziert hat, und sie nun in der Form des Kunstwerks ebenso wieder zusammenbringt, wie in der des Forschens und des praktischen Handelns.

Das Verhältnis der beiden Teile des Meister bildet die bisher skizzierte Entwicklung nach. Die Lehrjahre stehen unter dem Ideal, die Persönlichkeit auszubilden und auszuleben. Der Selbstwert objektiver Leistungen kommt kaum in Frage, außer etwa bei Therese, die aber auch nach dieser Richtung hin eigentlich schon in die Wanderjahre überdeutet. Daß gerade der Schauspieler und der Edelmann besondre Schätzung erfahren, ist hierfür außerordentlich bezeichnend. Denn für beide ruht diese Schätzung, wenn auch in ganz verschiedener Motivierung, keineswegs auf den spezifischen Inhalten und substanziellen Resultaten ihrer Existenz. Die Leistung des einen ist die schlechthin verfließende, rein funktionelle, deren überindividuelle Wirkung auch nur wieder auf die funktionelle Bildung und Seinserhöhung des Publikums geht, die Leistung des andern wird überhaupt nicht substanziiert. Worauf es für beide an- kommt, ist gerade die Befreitheit von Lebensinhalten, die die sich selbst gehörende, aus dem Seinsideal folgende Entwicklung der Persönlichkeit in einer sachlichen und äußeren Ordnung festlegen könnten. Zu solcher unsachlichen und undifferenzierten, auf das Leben als solches gerichteten Existenz und Existenz- wertung sind die Frauen von vornherein disponierter und gerade dies spezifisch Weibliche ist in fast all seinen möglichen Ver- wirklichungstypen in den Lehrjahren durchgeführt, in Marianne wie in Mignon, in Philine wie in der Gräfin, in Aurelie wie in Natalie. In der letzteren am reinsten und vollkommensten, und es spricht deshalb den tiefsten Sinn von Wilhelms Lebens- intention aus, daß er in ihr die Erfüllung all seiner Sehnsucht findet, nachdem die erotischen Beziehungen zu den anderen

222 Individualität und Menschheit

Frauen schon die Parallelität gezeigt haben, die zwischen dem Dominieren des Gefühls und dem Ideal des gesamten Seins, das ihn leitet, besteht. In der ganzen Breite dieser Wertrich- tung des Lebens bilden die Wanderjahre das genaue, ja eigent- lich krasse Gegenteil. Hier liegt aller Ton auf dem objektiven Wirken, den sozialen Institutionen, der überindividuellen Ver- nunft. Die Menschen sind nur die eigentlich anonymen Träger bestimmter, durch ihren Inhalt festgelegter Funktionen, an die Stelle der auf sie selbst bezüglichen, für sie selbst wert- vollen Ausbildung tritt die für die Ausübung von Tätigkeiten, die sich in ein objektives Ganzes einordnen. Während die Luft der Lehrjahre so kontinuierlich von Lebenswellen erfüllt ist, wie es nur geschehen kann, wo das Leben um seiner Absolut- heit willen, das Sein um seiner eignen Vollendung willen ge- sucht wird, atmet man in den Wanderjahren dünne Luft, weil die Lebensstrahlen auf je einzelne Ziele festgelegt, gleichsam linear differenzierte sind und dadurch leere Zwischenräume zwischen ihnen bleiben müssen. Die Spannung der Atmosphäre zwischen dem männlichen und dem weiblichen Pol ist fort- gefallen, Männer und Frauen sind dem gleichen objektiven Gesetz unterstellt, das nicht mehr ein Gesetz des Seins, sondern des Wirkens und Leistens ist, und an die Stelle des Gefühls ist die Weisheit getreten. Das bedeutet einen Begriff der In- dividualität, der sich gegen dessen frühere Formung antagonistisch abhebt und sich nach dem Begriff der Menschheit orientiert zeigt. Je älter Goethe wird, desto mehr tritt ihm sozusagen an die Stelle des Menschen die Menschheit. Das Leben hat ihn überzeugt, daß der Einzelne sich zu jener wirklichen indi- viduellen Vollkommenheit, die seiner Jugend vorschwebte, nicht ausbilden kann so soll es denn die Menschheit: ,,Das Jahr- hundert ist vorgeschritten, aber der Einzelne fängt doch immer von vorn an." Diese Vollkommenheit aber gewinnt die Mensch- heit nicht durch eine qualitativ gleiche, sondern indem er auch dieser Abstraktion das Prinzip des Organismus bewahrt durch die arbeitsteiligste Ausbildung ihrer Glieder. ,,Narrens- possen sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu.

Objektivierung des Subjekts 223

heißt es in den Wander jähren. Daß ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein Andrer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an." Während in den Lehrjahren das persönliche Leben als solches differenziert wird und, weil jedes Individuum eine Welt ist, nun ein jedes auch eine differenzierte Welt ist, wird in den Wanderjahren eine einheitliche Welt erstrebt, innerhalb deren also nicht die Personen, sondern nur die Leistungen, die ob- jektiven Bestandteile dieser Welt, differenziert sein müssen. Hier liegt eine der tiefsten Beziehungen und Begründungen von Goethes Altersideal des Praktischen. Erst das Handeln, insofern es von seinem Inhalt bestimmt und nach seinem Resultat gemessen wird, stellt sich als Teil in die objektive und gesellschaftliche Welt ein, die Menschheit in diesem letzteren Sinne fordert für Goethe nicht die Differenzierung des selbst- genugsamen, seine eigene Vollendung suchenden Menschen, nicht sein Sein und sein Fühlen, sondern sein Tun, sein sach- gemäßes Wirken ; die Wendung vom Menschen zur Menschheit bedeutet zugleich die vom Individuum als dem Träger eines individuellen Seins zum Individuum als dem Träger einer in- dividuellen Leistung und besiegelte Goethes große Wendung vom Wert des personalen Lebens zu dem der objektiven Inhalte des Lebens.

Wenn man die ,,Idee** der Goetheschen Lebensintention for- mulieren, seinem einheitlich-totalen Sollen einen Inhalt bestimmen soll, so ist es doch: die Objektivierung des Subjekts. In einer kaum überschaubaren Arbeit hat er das vielleicht reichste, ge- drängteste, bewegteste subjektive Leben, das wir kennen, derart zu objektiver Geistigkeit gebildet, daß man den ganzen Umfang und die unzähligen Ausschlagspole dieses rastlosen innerlichen Werdens, dieser immer schwingenden, immer empfangenden und immer zeugenden Ichfunktion wie lückenlos an dem zeitlos aus- gebreiteten Werk ablesen kann. Die wechselnden Gefahren des- jenigen, der wie Goethe sein Werk als eine Konfession bezeichnet: entweder in ein naturalistisches Herausbrodeln zu verfallen oder die Lebensinhalte so fest zu verformen, daß ihre Verbundenheit

224 Differenzienmg als Versachlichung

mit dem Subjekt nicht mehr fühlbar bleibt diese Gefahren bestanden für Goethe nicht. Was er von den Wahlverwandt- schaften sagt: es wäre keine Zeile darin, die er nicht erlebt hätte, aber auch keine so, wie er sie erlebt hätte, drückt, wenn auch negativ und vielleicht etwas äußerlich, das Entscheidende aus: das rein Subjektive, das er in sein Werk hineingab und das rein Objektive, als das es in diesem erstand. Die anderen höchsten Künstler, deren Werk gleichfalls als Objektivierung des Subjekts empfunden wird: Michelangelo, Rembrandt und Beethoven, konnten in den, den sprachlichen Mitteln gegenüber spezialistischeren Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Kunst das innere Dasein als Geist, Gefühl und Ethos nicht in dem gleich lücken- losen Umfang ausbreiten. Diese große menschheitliche Leistung wird eigentlich nur in andrer Wendung durch das hier oft Wieder- holte ausgedrückt: vermöge der tiefen Einwurzelung seiner in- dividuellen Realität in das Kosmische und Ideelle habe er nur der Triebhaftigkeit, dem aus sich selbst wachsenden Prozeß seines subjektiven Lebens zu folgen brauchen, um das objektiv Rechte und Tiefe, das künstlerisch Vollendete, das ethisch Geforderte zu leisten; und so umfassend war diese Einheit, daß alle Selbstbeherrschung, Selbsterziehung und Resignation, deren es zur Herausbildung dieses Ergebnisses bedurfte, zum Charakter und Rhythmus seines unmittelbaren, subjektiven Lebens selbst gehörte. Aber in seinen verschiednen Epochen geht diese sub- jektiv-objektive Einheit verschiedene Verwirklichungswege. Sie zeigt sich in seiner Jugend mit einer gewissen naiven Reinheit, indem er die Ideale des Lebens auf das Leben selbst sammelt und die zentrale Triebkraft auf die Vollendung des persönlichen Seins richtet. Die Entwicklung über diese Stufe hinaus mag man als Differenzierung oder als Objektivierung bezeichnen. Auf sehr klare Art erweist sie die Wechselbedeutung dieser beiden Begriffe. Überall, wo die Einheit des subjektiven Lebens sich in Sonderbetätigungen, Sonderinteressen zerlegt, bedeutet es, daß von dem einheitlichen Persönlichkeitspunkt Radien sich strecken, die in außerpersonale, objektive Gebiete hineinreichen oder von diesen gewissermaßen aus jenem herausgelockt, heraus-

Differenzierung in sich und gegen die Welt 225

gezogen werden. Die ganze geistige und soziale Geschichte der Menschheit zeigt als einen ihrer wenigen, annähernd als ge- setzlich anzusprechenden Züge , daß jede Arbeitsteilung ein Schritt zum Objektivwerden der Interessen und Einrichtungen ist; je differenzierter eine Gesellschaft ist, desto sachlichere, un- persönlichere Normen bildet sie aus, je geteilter die Funktionen, desto mehr ist das schließliche Resultat, weil es nicht mehr einer einheitlichen Person genetisch verbunden ist, ein bloß objektives Ganzes, das die subjektiven Teilbeiträge sozusagen in sich ein- geschluckt hat und jedem dieser einzelnen als ein Neues und Fremdes gegenübersteht. In dem Maße also, in dem jene ein- heitliche Lebensvollendung ihre Stelle in Goethes Idealbildung an das Tun und das Erkennen abgab, in eben dem wurde sein Denken und seine Seinsintention objektiver, bis zu dem Grade, daß schließlich jede Unmittelbarkeit seines eigenen Erlebens ihm ein objektiv zu registrierendes, objektiv zu begreifendes Ereignis war. Indem er sich in sich differenzierte, differenzierte er auch sich und die Welt gegeneinander, jene unmittelbare, ge- fühlsmäßige Einheit zwischen dem Ich und der Welt machte dem Bilde einer objektiven Welt Platz, die praktisch zu be- arbeiten und theoretisch zu erkennen ist woneben jene Ein- heit freilich irgendwie erhalten und außerdem doch das auf diesen getrennten Wegen zu erarbeitende Ziel bleibt. Während er also in der Jugend die Totalität des Daseins in der Totalität seines Subjekts empfindet, legt sich ihm später das letztere gleichsam in eine Mehrzahl von Armen auseinander, mit denen ein Gegen- überstehendes ergriffen wird. In jenem ersten Sinne ruft Faust aus: ,,Was der ganzen Menschheit zugeteilt ist. Will ich in meinem innern Selbst genießen" und schon am Ende der Lehrjahre verkündet eine merkwürdige Sentenz das andere : ,, Sobald der Mensch an mannigfaltigen Genuß Anspruch macht, so muß er auch fähig sein, mannigfaltige Organe an sich, gleich- sam unabhängig von einander, auszubilden. Wer alles und jedes in seiner ganzen Menschheit genießen will, wer alles außer sich zu einer solchen Art von Genuß verknüpfen will, der wird seine Zeit nur mit einem ewig unbefriedigten Streben hinbringen."

Simmel, Goethe. 'S

226 Liebe und Welt

Jene Äußerung Fausts enthält den Pantheismus sozusagen in der Form eines Pananthropismus und gerade diese benutzt er, fast achtzig Jahre alt, um die Abwendung von seinem Jugendweg zu charakterisieren. Der Faust, sagt er, ,,hält die Entwicklungs- periode eines Menschengeistes fest, der von allem, was die Menschheit peinigt, auch gequält, von allem was sie beunruhigt auch ergriffen, in dem was sie verabscheut gleichfalls befangen, und durch das, was sie wünscht, auch beseligt worden. Sehr entfernt sind solche Zustände gegenwärtig von dem Dichter." Viele Jahrzehnte hindurch hat er als Aufgabe, eine mit jenen gesonderten Organen zu lösende, vor sich gesehen, was seine Jugend zu besitzen meinte, und dies eben besagt, daß die große Wendung seines Lebens keinen Verlust, sondern nur eine Meta- morphose darstellt, und daß so manches, was nur in der Form des jugendlichen Lebensganzen, des jugendlichen Fühlens existenz- möglich schien, doch dem Alter in der Form der Objektivität erhalten blieb. ,,Mir kommt immer vor, schreibt er einmal in späteren Jahren, wenn man von Schriften wie von Handlungen nicht mit einer liebevollen Teilnahme, nicht mit einem gewissen parteiischen Enthusiasmus spricht, so bleibt so wenig daran, daß es der Rede gar nicht wert ist. Lust, Freude, Teilnahme an den Dingen ist das einzig Reelle, und was wieder Realität hervorbringt ; alles andre ist eitel und vereitelt nur." Mit diesem Satz scheint mir jener ,, liebevolle Zustand", durch den er seine Jugendjahre charakterisierte, gleichsam objektiv geworden zu sein. Man kann ihm, als Gegenstück des Prinzips : die Welt ist meine Vorstellung wohl den Satz unterstellen: die Welt ist meine Liebe; aber er hätte für seine Jugend und für sein Alter charakteristisch verschiedenen Sinn. Dem jugendlichen Herzen, das sozusagen nur sich selbst empfinden, nur seine Liebeskräfte entfalten wollte, war dazu das ganze Dasein gerade groß genug,' wie es das Ganze umfaßte, so gab es sich dem Ganzen hin, ein Liebespantheismus, der sich etwa im Ganymed herrlich ausspricht. Dann aber, indem diese Einheit entschiedener in Subjekt und Objekt auseinander geht, empfindet sich die Liebe mehr als hervorbringend, das Dasein wird jetzt in dem

Reserviertheit des Alters 227

Sinne ihr Objekt, daß sie die Kraft im Subjekt ist, vermöge deren für eben dieses das Dasein überhaupt da ist, wie in jenem Kantisch- Schopenhauerischen Satz die Welt gerade dadurch das Objekt für uns ist, daß unser Vorstellen sie erzeugt. Jetzt ist die ,, liebe- volle Teilnahme das Einzige, was Realität hervorbringt", sonst ist alles eitel. Bis in diesen innerlichsten Affekt hinein also zeigt sich die Entwicklung, die den subjektivisch-einheitlichen Zustand seiner Jugend in die mannigfach sich formende Aus- einanderlegung von Subjekt und Objekt überführt und diese voraussetzend von neuem, wie auf höherer Stufe, der Einheit entgegenv/ächst.

Aber noch schärfer bezeichnet es den Epochenwandel, daß neben dieser tiefen Bedeutung von Liebe und Teilnahme in bezug auf ihre nach innen gewandte Seite eine direkt gegenteilige Wer- tung (nicht nur eine objektivierende) einhergeht. Man halte sich die rückhaltlosen Hingebungen seiner jungen Jahre, die Seligkeiten am Gefühl als solchen, die Leidenschaft ,,der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen" vor Augen und vergleiche damit eine Reihe von Aussprüchen, die alle aus dem Jahre 1810 stammen. Er sagt zu Knebel, er lebe ,,wie die unsterb- lichen Götter und habe weder Freud noch Leid." Und: ,,Es kommt mir nichts so teuer vor, als das, wofür ich mich selbst hingeben muß." Und: ,, Lieben heißt Leiden. Man kann sich nur gezwungen dazu entschließen, d. h. man muß es nur, man will es nicht." All jene frühen Äußerungen, nach denen ihm Lust und Leid eigentlich eines und dasselbe, ein substanziell Gleiches und Gleichwertiges sind, ruhen darauf, daß ihm das Fühlen als innere Bewegtheit, als Pulsieren und Auslodern der Lebensenergie das allein Wesentliche war ; mit welchem beson- deren Inhalt es sich füllte, darauf kam es ihm so wenig oder eigentlich noch weniger an, als später darauf, welchen Inhalt die nachher inthronisierte Praxis ergreift. Wie sich ihm nun, so sahen wir, Tugend und Laster schärfer auseinanderlegen, so Lust und Leid; weil die Liebe Leiden bringt, erscheint sie ihm als ein nur zwangsmäßig Ertragenes, und höchstens stellt er sich jenseits jenes Gegensatzes, wie er sich früher gleichsam

IS*

228 Bewußtsein des Entwicklungsgegensatzes

diesseits seiner gestellt hatte, auch hier das Entwicklungsschema der undifferenzierten Einheit durch die Trennung hindurch zur Überwindung der Differenzierung wiederholend. Jetzt steht er den Dingen gegenüber und seine Hingebung muß also einen längeren, kostspieligeren, überlegteren Weg durchmachen, als damals, wo die gefühlsmäßig-ursprüngliche Einheit von Subjekt und Objekt in der Hingebung nur ihren selbstverständlichen empirischen Ausdruck fand. Und endlich verrät die Äußerung über den Zwangscharakter der Liebe wieder jenen Ersatz des Gefühls und Seinsideals durch das Willensmäßige und Verstandes- mäßige seines Alters. Weil das Leben jetzt auf den bewußten Willen gestellt ist, kann ihm als Zwang erscheinen, was in der Jugend ein einheitliches Ausströmen gewesen war: aller Zwang steht auf einem dualistischen Gegenüber. Und daß man das mit Leiden Verknüpfte nur unfreiwillig auf sich nimmt, ist ein Rationalismus des Alters, eine begriffliche Folgerung, die seiner Jugend, alle logischen und eudämonistischen Gegensätzlich- keiten in die Einheit seines Seins verschmelzend, ganz fern lag. Daß in diesem Anderswerden seiner Wirklichkeit und seines Ideals nicht nur das gleiche Energiequantum sich umformt, sondern daß hier, bei aller inhaltlichen Entgegengesetztheit, organisch notwendige, gewissermaßen ideell präformierte Stufen eines unerhört einheitlichen Lebens vorliegen eines Lebens, das als solches, als Funktion, als Entwicklung, so einheitlich war, daß es der Einheit besonderer Inhalte gar nicht bedurfte , das ist ihm selbst freilich nicht immer bewußt gewesen. Er sagt als Siebziger, mit deutlicher Beziehung auf sich selbst: ,, Selbst das größte Talent, welches in seiner Bildung einen Zwiespalt erfuhr, indem es sich zweimal, und zwar nach ent- gegengesetzten Seiten, auszubilden Anlaß und Antrieb fand, ist kaum vermögend, diesen Widerspruch ganz auszugleichen, das Entgegengesetzte völlig zu vereinigen." Begreiflich genug; im unmittelbaren Erleben einer Periode füllen natürlich ihre Inhalte unser Bewußtsein, und damit gerade das, was sie den anderen Perioden entgegensetzt. Das Goethesche Alter hat von dem Rhythmus und den Überzeugungen seiner Jugend nichts

Periodik und Einheit des Lebens 229

mehr wissen wollen, hat sie so und so oft ausdrücklich dementiert ; es wäre nicht die volle Kraft der einen in das andere über- gegangen, wenn es anders gewesen wäre. Diese Selbsterhaltung der einzelnen Lebensperiode ist ihm sehr wohl bekannt, aber weil er weiß, wie sehr das Spezifische seines Lebens: die volle Hinleitung seiner Einheit in die jeweilige epochale Intention von ihr abhängt deshalb besteht er um so energischer auf ihr. Er spricht das einmal ergreifend aus, als er die alt- deutschen Bilder der Boissereeschen Sammlung kennen lernt: ,,Da hat man nun auf seine alten Tage sich mühsam von der Jugend, welche das Alter zu stürzen kommt, seines eignen Be- stehens wegen abgesperrt, und hat sich, um sich gleichmäßig zu erhalten, vor allen Eindrücken neuer und störender Art zu hüten gesucht, und nun tritt da mit einem Male vor mich hin eine ganz neue und bisher mir ganz unbekannte Welt von Farben und Gestalten, die mich aus dem alten Gleise meiner Anschauungen und Empfindungen herauszwingt eine neue, ewige Jugend; und wollte ich auch hier etwas sagen, es würde diese oder jene Hand aus dem Bilde herausgreifen, um mir einen Schlag ins Gesicht zu versetzen und der wäre mir wohl gebührend. * ' Unterschieden von den Entwicklungen der Menschen, in denen sich der geistige Prozeß von seiner Seinsgrundlage abgehoben hat und gewissermaßen ein autonomes Leben, auf die vitale Beschaffenheit des Individuums keinen Schluß zulassend, führt ist Goethes Bewußtsein immer unmittelbar von seinem Sein gespeist und wenn sich seine bewußten und idealen Rich- tungen wendeten, so bedeutet das stets eine Entwicklung seines ganzen, substanziellen Persönlichkeitslebens. Darum sind diese Entwicklungen einerseits so radikal, andrerseits von und zu einer so tiefen Einheit und unabreißbaren Kontinuität zu- sammengehalten; darum erlebt er die jeweilige Epoche in einer gegen alles Frühere rücksichtslosen Hingabe, während unser über- schauender Blick doch allenthalben die niemals starren, sondern immer funktionellen Züge entdeckt, die diese Wechsel- formen durchleben.

Soweit derartige Metamorphosen von Jugendgestaltungen in die

230 Das Element der Altersstufe

ganz entgegengesetzte Altersform, unter Bewahrung eines tief- sten Wesenskernes, biographischen Sinn haben, ruhen sie auf einer selten bewußten Voraussetzung. Wir können sehr oft solches Kontinuierende unmittelbar und rein kaum ausdrücken, weil wir das individuelle Leben eben nur jeweils unter irgend- welchen Alterskategorien kennen wie wir die Ideen, die reinen Inhalte des Daseins, immer nur in der Formung als theoretische oder praktische, künstlerische oder religiöse, erlebte oder ge- dachte ergreifen können. Was diese in ihrer für sich seienden Inhaltlichkeit sind, können wir nur in einer eigentümlichen, nie bis zu Ende vollziehbaren Abstraktion ahnen, da nur jene Kategorien gleichsam die Hände sind, mit denen wir die reinen Inhalte des Seins fassen können, durch dieses Fassen sie aber unvermeidlich formend und, wenn wir dies nicht wollen, uns jeder Beziehung zu ihnen beraubend. Dies wiederholt sich an der Betrachtung des Lebens. Wir kennen, keinen Lebensvor- gang, keinen verwirklichten Lebensgehalt, der nicht der eines bestimmten Altersmomentes wäre und unter dessen Bedingt- heiten stünde. Gewiß können wir solche Inhalte der Kategorie des Erlebtwerdens überhaupt entrücken und unter irgend einer bloß sachlichen, poetischen, zeitlosen usw. betrachten. Gelten sie aber als erlebte, so sind sie damit zugleich der Färbung, den Relationen zwischen Stück und Ganzem, der Bewegtheits- form Untertan, wie sie eben den Altersabschnitt charakterisieren, an den ihr Erleben gebunden war. Es ist äußerst schwierig, die unbedingte Einheit, als die sie so gefärbt auftreten, in die Elemente des bloßen Inhalts und des Cachets der betreffenden Altersstufe zu zerlegen, bedenklich deshalb, das Hindurchleben eines und desselben seelischen Zustandes, Zieles, Inhaltes durch die gewandelten Gesamterscheinungen verschiedener Lebensstufen hindurch zu behaupten. Diese Schwierigkeit greift tief in jeg- liche geschichtliche Nachzeichnung eines individuellen Lebens ein, aber unser tatsächliches Verfahren überwindet sie, zwar nicht mit kontrollierbarer Methode, aber durch einen gewissen Instinkt, der in sehr verschiedenen und je in sich einheitlichen Phänomenen eines ablaufenden Lebens ein Identisches, Sich-

Jugendliche Stimmungswechsel 231

Erhaltendes herauszuerkennen glaubt. Diese Möglichkeit be- dingt es, daß wir bei Goethe von gewissen Beschaffenheiten und Intentionen des Lebens sprechen können, die in Erschei- nungen seiner Jugend und davon sehr verschiedenen seines Alters als ein Ungeändertes beharrt haben und gerade daran die entgegengesetzten Lebensformationen von Jugend und Alter rein und deutlich offenbaren wie die beharrende Substanz an dem Wechsel ihrer Ausgestaltungen und dieser Wechsel an dem Beharren der Substanz kenntlich wird. Unter dieser Voraus- setzung also belege ich den Charakter der Umsetzungen inner- halb der Goetheschen Lebensstufen noch mit einem letzten Beispiel. Ich erwähnte früher die ungeheure Gegensätzlichkeit der Stimmungen, zwischen denen ihn sein jugendliches Tem- perament hin- und herwarf; das Himmelhoch jauchzend, Zum Tode betrübt war nach seinen eigenen Geständnissen und den Zeugnissen anderer die Formel seiner Jugend. Dies war natürlich nicht Launenhaftigkeit der Schwäche, die von einer inneren Richtung in die andere umspringt, weil ihr die Kraft, auf einer zu beharren, fehlt und sie des fortwährenden Wechsels und krassen Gegensatzes der Reize bedarf, um jeden einzelnen und das Leben überhaupt zu fühlen. Ganz umgekehrt war es hier die mächtige Vitalität, die drängende Dynamik der Existenz, die ihre Inhaltspole so weit ausspannen, sich so rastlos zwischen ihnen hin und her bewegen mußte, um Raum für ihre Bewegung zu haben, um ihre Energien nur überhaupt unterzubringen. Das Maß des Lebens, als bloßer Kraft, die sich entladen will, war in seiner Jugend ein so ungeheures, daß es nur in fortwähren- dem Umspringen zwischen den weitesten Stimmungsgegensätzen sich austoben konnte, vor dem Vernunftinhalt des damit Er- griffenen natürlich oft ratlos, widerspruchsvoll und töricht; aber gerade von hier aus verstehen wir noch einmal das damals oft ausgesprochene Gefühl, daß eigentlich Liebe und Haß, Gut und Böse, Glück und Leid eins und dasselbe wären. Es war es auch tatsächlich für ihn, weil alle diese logisch sich ausschließenden Empfindungen gerade in ihrer Gegensätzlichkeit dazu dienten, dem einheitlich mächtigen Fluß seiner Lebens-

232 Widersprüche der Maximen

funktion ein hinreichend breites Strombett zu bieten. Diese Vitalbestimmung seiner Jugend nun scheint mir in seinem höheren Alter in eine eigentümliche Intellektualbestimmung transformiert zu sein: in die auffallenden Widersprüche, logischer wie sachlicher Art, in denen sich seine späteren Sen- tenzen bewegen. Jene funktionellen Polaritäten, zwischen denen sein Jugendleben schwang, sind damit auf die zeitlos-theoretische Inhaltlichkeit übergewachsen, jene gefühlshafte Spannungsweite des oszillierenden Lebens ist zur Spannung zwischen einander ausschließenden Theoremen kristallisiert. Er ist sich über die Tatsache dieser Widersprüche auch ganz klar, sucht sie objektiv in den Wanderjahren ziemlich umständlich zu rechtfertigen, erwidert, auf sie aufmerksam gemacht, das schon Angeführte: er sei nicht achtzig Jahre alt geworden, um an jedem Tag dasselbe zu sagen wie am andern; jemand, der viel mit ihm verkehrt, bemerkt verwundert, daß man ihn nie auf eine Ansicht der Dinge fest- legen könne, ehe man es dächte, wäre er schon an einer ganz verschiedenen. Er war sich freilich einer höchsten formalen, individual-apriorischen Einheit seines Denkens so bewußt, daß die Widersprüche im relativ Einzelnen (das freilich noch immer von ganz hoher Allgemeinheit war) dagegen nicht aufkamen; andrerseits erschienen ihm wohl diese Widersprüche, bei fest- gehaltener höchster Attitüde, als der adäquate Ausdruck des Verhältnisses von Mensch und Welt. Auch deshalb ging er in seiner Ideenbildung immer bis zum Radikalismus und reserve- loser Allgemeinheit, weil ihm Einwürfe und Gegeninstanzen, die solche Absolutheit hätten eingrenzen können, im Moment der Produktion als Negatives erscheinen mußten, gegen das seine immer am Positiven hängende Natur sich wehrte. Zwischen der mit dem Alter immer unbedingteren Wertung des Positiven und Abwehr aller bloßen Kritik, alles bloßen Einwandes und der Unbedingtheit und Generalisation jeder Denkrichtung, die unvermeidlich zu Widersprüchen zwischen seinen Aus- sprüchen führte, besteht ein tiefer Zusammenhang. Wert und Leben sind nicht darauf eingerichtet (in abstrakter Weise hat er das auch sehr gut gewußt), von einem einzigen, geradlinig

Lebenskontinuität 233

ins Unendliche laufenden Gedanken bezwungen zu werden. Er genügte dem nicht durch Einschränkung der einzelnen Maxime, sondern indem er der unbeschränkten Allgemeinheit der einen eine ebensolche einer andren im entgegengesetzten Sinne ge- sellte. Daß seine Geistigkeit aber diese Gestalt annahm, ist die höchste und allgemeinste Erfüllung jener großen Evolutions- formel, nach der alles, was seine Jugend als Leben, Lebens- ideal, Gefühl besaß, sich in sein Alter überrettete, um hier in der Form theoretischer oder auch praktischer Inhalte an einer objektiven Welt zu bauen.

Diese Wendung zeitlich zu fixieren, ist eigentlich ein nur biographisches und deshalb meiner Aufgabe fremderes Interesse ; um so mehr, als wie es schon mehrfach an Goethes geistigem Charakterbild hervortrat entscheidende Motive sich bei ihm lange vor ihrer eigentlichen Herrschaft vorbereiten und, auch nachdem sie diese gewonnen haben, die Motive der vorange- gangenen Epoche noch keineswegs tot sind, sondern immer noch gelegentlich nachklingen. Dies ist gleichsam das Mittel, durch das seine Natur durch all ihre ungeheuren Wandlungen ihre ebenso ungeheure Kontinuität hindurchlebte. Was er im hohen Alter als die ,, wiederholte Pubertät" bezeichnete, das Auftauchen erneuter jugendlicher Fruchtbarkeiten, ist nichts als eine be- sonders gedrängte Erscheinung dieser Kategorie, nur aus dem Inhaltlichen in das Funktionelle übertragen: aus der Wieder- kehr der Inhalte früherer Zeiten in die ihrer Kräfte und Rhythmen, ohne deren Weiterleben doch übrigens auch jene nicht wiederkehren könnten. Insofern steht eigentlich sein ganzes Leben im Zeichen der ,, wiederholten Pubertät", die manchmal nur aus dem chronischen Zustand in den akut bemerkbaren übergeht. Und sie hat ein nach der andern Zeit- dimension erstrecktes Gegenstück, für das es nur keinen gleich treffenden Einzelausdruck gibt : ein Vorwegnehmen der Zustände und Gedanken, die ihrem Inhalte nach erst in den Zusammen- hang späterer Epochen gehören. Wie es überhaupt das Wesen des Lebens ist, daß seine Gegenwart auch seine Vergangenheit und seine Zukunft in einer, mit allem Mechanischen unver-

234 „Unsterblichkeit" in Jugend und Alter

gleichlichen Weise in sich enthält, so streckte sich bei ihm, der das reinste Leben als solches gelebt hat, der Gegenwarts- moment in Vergangenheit und Zukunft hinein eine Form seines Prozesses, seiner Dynamik, für die jenes Weiterleben des eigentlich Vergangenen und Vorwegnehmen des eigentlich Künftigen nur der an seinen Inhalten aufzeigbare Ausdruck war und die vielleicht eine Basis seines Unsterblichkeitsglaubens war. Auch an diesem freilich offenbart sich, höchst charak- teristisch, der große, hier behandelte Richtungswandel seines Lebens. Er hat in einer berühmten, nachher noch einmal zu betrachtenden Äußerung ,,die Überzeugung unserer Fortdauer" aus dem ,, Begriff der Tätigkeit" entspringen lassen: ,,wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen" usw. Aber mehr als ein halbes Jahrhundert früher schreibt er: ,,Daß in den Menschen so viele geistige Anlagen sind, die sie im Leben nicht entwickeln können, die auf eine bessere Zukunft, auf ein harmonisches Dasein deuten, darin sind wir einig, mein Freund." In beiden Äußerungen das gleiche Motiv: es wird eine Zukunft gefordert, damit die Gegenwart das, was in ihr selbst vor- handen, aber unerlöst und unverwirklicht ist, in sie hinein aktualisieren kann. In der Jugend aber ist es ein ,, harmonisches Dasein", eine Vollendung der Existenz, ein gefühlshaft „Besseres", womit die Zukunft die Gegenwart fortsetzen soll im Alter ist es die Tätigkeit, die Wirkung, vor der hier ihre Seinsgrundlage sozusagen verschwindet und die ebensowenig nach ihren qualitativen Gefühlsfolgen fragt.

Um dieser Kontinuität, dieses Vor- und Zurückgreifens des Lebens willen ist für eine nur auf den geistigen Gehalt gerichtete Betrachtung Goethes die genaue Chronologie an vielen Punkten weder nötig noch möglich, ja, der eigentlichen Intention gegen- über sogar irreführend. Dennoch wäre es ganz verständnislos, damit die ungeheure Bedeutung des Nacheinander seiner großen Entwicklungsstadien verneint zu meinen. Gerade darum handelt es sich ja in den jetzigen Erwägungen, daß Goethe und in dieser Reinheit vielleicht kein andrer der großen Menschen

Die orgcinisch gelebte Idee 235

die Idee seines Seins in einer organisch gelebten Entwicklungs- folge verwirklicht hat ; oder vielmehr, seine Idee war von vorn- herein keine begrifflich stationäre, sondern die Idee eines Lebens. In der Zeitfolge seiner Lebensepochen, nicht etwa nur seiner Überzeugungen, drückt sich eine zeitlose, nur sinn- hafte Ordnung aus. Für uns ist es hier nicht im biographischen Interesse, sondern für die sachliche Struktur seiner Geistigkeit wichtig, das oben Gesagte zu bekräftigen, daß die jetzt be- sprochene Wendung, zu der leise Ansätze schon in den ersten Weimarer Jahren sichtbar werden, im ganzen nach der italienischen Reise entschieden ist. Man pflegt diese als den Ausgangspunkt einer neuen Lebensepoche anzusehn, eigentlich als die entscheidende Direktive für den ganzen Rest des Goethe- schen Lebens. Dies scheint mir nur in einem besonderen, genau genommen, in einem negativen Sinne richtig zu sein. Ungeachtet aller Befruchtungen, neuer Perspektiven, Material- gewinnsten dieser Reise, war sie doch in erster Linie der Ab- schluß einer Lebensepoche und nur insofern der Beginn einer neuen. Italien war ihm ich habe das früher ausgeführt die Sättigung eines Durstes, die Lösung unerträglich gewordener Widersprüche, die Bestätigung seines tiefsten Lebenssinnes durch die Anschauung dieser Natur und dieser Kunst. Sieht man aber seine späteren Dichterwerke und Produktionen außer den in unmittelbarer Nachwirkung entstandenen, wie den Römischen Elegien, an, so findet man von seiner italienischen Existenz, in ihrer unvergleichlichen Art und Schönheit, recht wenig Spuren ; schon die Venetianischen Epigramme atmen nicht recht italienische Luft. Die neue, differenzielle, auf Erkennen und Handeln gerichtete Epoche setzt zeitlich allerdings nach Italien sehr bestimmt ein, allein innerlich ist sie doch eine Evolutions- stufe, die die organischen Kräfte, von äußerem Erleben relativ unabhängig, emportrieben. Es gehört zu dem ungeheuren Glück dieses Lebens, daß seine erste große Periode einen so vollendenden, erfüllenden Abschluß fand. Deshalb bildet es keinen Widerspruch, sondern ist gerade ein bedeutsamer Beweis dieser Auffassung, wenn er, etwa ein Vierteljahrhundert später, mit tiefer Er-

236 Abschluß durch Italien

schütterung bekennt, seit er über Ponte Molle nach Hause gefahren, habe er keinen rein glücklichen Tag mehr erlebt und doch, schon ein Jahr nach Rom, seinen zweiten Aufent- halt in Italien abbricht, mit der krassen Erklärung, Italien wäre nichts mehr für ihn. Jene ,, Pyramide seines Daseins" hatte in Rom einen Gipfel gefunden und der Weiterbau erfolgte auf einer neuen, daneben gelegenen Basis. Der junge Goethe starb in Rom und es ist begreiflich, daß er sich selbst als Revenant vorkam, als er ^eder italienischen Boden betrat. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn das dort Gewonnene der Eingang zu seinem neuen Leben gewesen wäre es war nur der Aus- gang seines alten. Er mochte dort eine Reihe fruchtbarer, in den späteren Entwicklungen nachweisbarer Inhalte erworben haben; aber in bezug auf den Prozeß des Lebens war Italien der Höhepunkt seiner bisherigen, durch die Hemmnisse und Widersprüche der letzten Weimarer Jahre zu äußerster Selbst- bejahung gereizten Lebensintention, wie ich sie an einer früheren Stelle darlegte; es ging in der gleichen Richtung nicht weiter, das Leben mußte zu neuen Formungen umbiegen und konnte das nun um so freier und entschiedener, als die frühere Epoche sich zu dieser harmonischen, in ihrer innerlich- äußerlichen Vollendung nicht mehr zu übertreffenden Auf- gipfelung erhoben hatte. Er schreibt aus Rom: ,, Glücklich wäre ich, wenn ich jemand liebes bei mir hätte, mit dem ich wachsen, dem ich meine wachsenden Kenntnisse unterwegs mitteilen könnte, denn zuletzt verschlingt das Resultat die Annehmlich- keiten des Werdens, wie die Herberge abends die Mühe und die Freude des Wegs verschlingt." Hier ist also noch einmal die Formel seiner Jugend : der überwiegende Wert des Prozesses, des persönlichen Werdens, der Dynamik sich entwickelnder Existenz gegenüber allem bloßen Resultat, allem schließlich fertig darzubietenden Inhalt ausgesprochen. Dieser Ton des gefühlswarmen, subjektivischen Idealismus ist in Rom für immer verhallt. Aber wie es als das typische Glück seines Schicksals gelten konnte, daß in dem Augenblick, wo die Richtung und die Spannungen seiner Jugendepoche zu einer höchsten Lösung

Bedeutung der Rückkehr 237

und Vollendung drängten, sich ihm Italien zu dieser Ausformung der „Idee" seiner Jugend darbot so war auch das Leiden, das ihn bei seiner Rückkehr erwartete, eine nicht geringere Begünstigung solchen Abschlusses. Man kennt die Ent- täuschungen, die ihm Weimar jetzt bereitete, die leidenschaft- lichen Klagen über den kalten Empfang durch die Freunde, über den totalen Mangel an Verständnis für sein jetziges Sein und Wollen. Er kam noch mit der ganzen Fülle und Schwung seiner Jugend an und mußte vor verschlossenen Herzens- türen umkehren. Es ist kein Zweifel: damals sprang eine Saite in ihm, für die es keine Wiederknüpfung gab und auch das Herzlichste und Beweglichste, was er seitdem äußerte, hatte den Ton einer gewissen Reserve, Sachlichkeit, ja Rationalisierung. Aber welche Schmerzen ihm auch diese Erfahrung brachte auch mit ihnen wurde das Schicksal zum Geburtshelfer der neuen Epoche, auf die sein Leben aus seiner inneren Rhythmik und ideellen Notwendigkeit heraus drängte. Diese Epoche, die das Ideal des subjektiven Seins durch das des objektiven Wirkens und Erkennens ersetzte, konnte ihre Leitung und seelische Basierung nicht mehr dem Gefühl anvertrauen was hätte er da noch mit dem ungeänderten Ton jener Beziehungen anfangen sollen, der ganz vom Gefühl, von der bedingungslosen Hingabe bestimmt war? Es ist eine erschütternde Entwicklung von der Straßburger Zeit an, von der er sagt: ,, Ich war überhaupt sehr zutraulicher Natur", bis zu dem Geständnis des Greises: ,,Ich spüre immer mehr Neigung, das Beste, was ich gemacht und machen kann, zu sekretieren." Die Peripetie dieses langen Dramas lag in der Rückkehr nach Weimar aber auch damit hat ihm das Schicksal, wenn auch mit rauhen Händen, von außen her den Weg gebahnt, den er von innen her gehen mußte. Er selbst schiebt, was eine geheimnisvolle Teleologie seines Geschicks war, einer bloßen und äußeren Kausalität zu, indem er, die Leiden und Verdüsterungen nach seiner Rückkehr andeutend, sagt: ,, Die Entbehrung war zu groß, an welche sich der äußere Sinn gewöhnen sollte; der Geist erwachte sonach und suchte sich schadlos zu halten" worauf dann eine

238 Die dritte Stufe

Schilderung seiner wissenschaftlichen Bemühungen folgt. Gleich- viel , ob er das eigentlich Entscheidende : die Evolution seines Lebens, die etwas Positiveres als eine bloße ., Schadlos- haltung" war, hier übersah oder verschwieg es wiederholt sich in seinem Verhältnis zum Schicksal die Formel seines Verhältnisses zur Welt überhaupt. Wie dieses es mit sich brachte, daß er nur seinen inneren Trieben zu folgen brauchte, um an der Welt die ,, antwortenden Gegenbilder" zu finden, wie sein autonomer Gedanke sozusagen seine eigne Richtigkeit und Bewährtheit mit sich brachte so war auch für seine reale Lebensentwicklung das Schicksal da, um jeder seiner organisch notwendig werdenden Epochen die ,, antwortenden Gegenbilder" zu gewähren, d. h. jetzt, eine jede schon rein durch äußere Notwenigkeit, äußere Anregung und Darbietung so verlaufen zu lassen, wie sie so wie so von innen her ver- laufen mußte. Italien und die Weimarer Enttäuschungen gaben ihm die Mittel an die Hand, seine Jugendepoche so reinlich, so anschaulich abzuschließen, wie die rückblickfreie Entschieden- heit seines neuen Weges es erforderte.

Über die bisherige Entwicklung nun erheben sich in Goethes Greisenzeit Symptome einer dritten Stufe. Die geistige Reihe, die mit ihr abschließt, läßt sich vielleicht am besten an den Be- deutungen darstellen, die der Begriff der Form in dieser ge- samten Entwicklung annimmt. Ich kam schon früher auf das ungeheure Problem zu sprechen, in dessen Lösungsgeschichte die Existenz und die Produktivität des Goetheschen Wesens eine individuelle Stelle einnimmt: wie kann das Unendliche Form ge- winnen ? Nicht nur die typische menschliche Sehnsucht geht auf das Überschreiten jeder gegebenen, verendlichenden Grenze: in der Leidenschaft der Gefühle, nach der Vervoll- kommnung des Sittlichen, dem Genießenwollen, der Bewährung von Kräften, der Beziehung zum Transzendenten; sondern schon tatsächlich fühlen wir uns einem Unendlichen ver- haftet: um uns ein Weltprozeß, der nach jeder Dimension hin ins Grenzenlose geht und dem wir in einer rätselhaften Weise und mit keineswegs scharfer Begrenzung unseres persönlichen

Orientierung am Formproblem 239

Seins einwohnen; in uns ein durch unendlich viele Glieder uns zugeleiteter Lebensprozeß, dessen momentane Träger wir sind und dessen Weiterströmen ins Unendliche durch unser Leben hindurchgeführt wird. Diese doppelte Unendlichkeit, der Sehn- sucht und der Wirklichkeit, findet einen gleichfalls doppelt ge- formten Gegensatz. Mit all jener Verflechtung in unendliche Reihen und aller Grenzverschwommenheit gegen ihre Konti- nuität sind wir eben doch Individuen, d. h. wir empfinden, daß jene unsichere Peripherie unseres Wesens von einem sozusagen unverrückbaren, unverwechselbaren, in seinen Wandlungen nur sich selbst gehorsamen Zentrum zusammengehalten wird ; aus dem unendlichen und fluktuierenden Material des Daseins ist unser Ich als eine, wenn auch nicht substanzielle und plastische, so doch als eine funktionelle und charakterologische Form gebildet. Darüber hinaus aber strebt unser Bedürfnis noch nach festen, unzweideutigen, anschaulichen Formen der Dinge, der Gedanken, der Daseinsinhalte überhaupt; wir sehnen uns nach ihnen als der Rettung vor der Auflösung des Daseins in jene immer weiter- gehenden Unendlichkeiten, als Haltepunkten für unseren inneren und äußeren Blick, für die Ermüdbarkeiten unserer Auffassungen und unserer Tätigkeiten. Diese beiden Kategorien, als Wirklich- keiten und als Ideale, stehen in dauerndem Kampf. Denn alle Form bedeutet Verendlichung, Abschluß, Grenze gegen alles andere; darum geht Kraft und Leidenschaft des Lebens fortwährend über seine Formungen hinaus, verlöscht ihre Grenzstriche, wirft uns über sie, die relativen und vorläufigen, nach außen wie nach innen hin ins Unendliche, ins Grenzenfreie, d. h. ins Formlose. Wie wir nun, dieses logischen Widerspruchs ungeachtet, die Mit- gift des Unendlichen in die uns unentbehrliche Geformtheit unser selbst und unserer Welt hineinleiten und dabei doch den Reichtum und die Macht jener bewahren könnten; andererseits die Form in ihrer Ruhe und Strenge behaupten könnten, ohne daß sie Starrheit und Enge und nichts als bloße Endlichkeit werde das ist wohl eine der Formulierungen des tiefsten Lebensproblemes überhaupt. Jedes Kunstwerk, das die ganze, aber doch weiter- flutende Lebensintensität seines Schöpfers in sich aufnimmt,

240 Jugend und Lebensunendlichkeit

jedes Dogma einer irgendwie vertiefteren Religion, jede sittliche Norm, die unseren praktischen Kräften ein umfassendstes und höchstes Ziel gibt, jeder echte philosophische Grundbegriff ist je eine Art, die Unendlichkeit von Welt und Leben in eine Form zu fassen, den Widerspruch zwischen dem ewig Weiterschreitenden und Unerschöpflichen des Daseins auf der einen Seite und dem Festen, Anschaulichen, zur Form Verendlichten auf der anderen irgendwie zu lösen. Die Goethesche Jugend nun legt ihrer Grundintention nach allen Ton auf die strömende Unendlich- keit des Lebens und wird darüber so und so oft formlos, zu- gegeben selbst, daß Selbstbeherrschung, Zusammengefaßtheit, Anschaulichkeit bei ihm von vornherein stark genug waren, um es zu der Alleinherrschaft des ungeformten Seins, wie in Sturm und Drang, nicht kommen zu lassen. Aber die unruhigen Pendelungen seines Lebens, seine eigene Charakterisierung dieser Epoche als einer ,, sehnsüchtigen", die Gedichte vom Typus ,, Wandrers Sturmlied", die Leidenschaft für Shakespeare, der Stil der Briefe an Kestners und Auguste v. Stolberg, die Opposition gegen alle Schematik und einengende Überlieferung alles dies zeigt, wie der Rhythmus seiner Innerlichkeit ein fort- währendes Überschreiten von Grenzen, Zerbrechen von Formen, Sich-Hingeben an das als unendlich empfundene Leben war. Um die Mitte des ersten Weimarer Jahrzehnts sind die ersten Schatten der Grenze in diese innere Unendlichkeit gefallen: ,,Ach Lotte," schreibt er, ,,was kann der Mensch! Und was könnte der Mensch!" Und wenn er, wenige Monate vorher, schreibt, daß er ,, immer noch im Unmöglichen eine Laufbahn vor sich sieht," so geschieht es mit einem gewissen Ton von Ver- wunderung. Wer nur aus dem subjektiv Wirklichen heraus lebt, wie die Jugend, der kommt leicht in das objektiv Unmögliche. Vom Subjekt von sich aus gibt es keine Grenze im Objektiven, es fühlt sich eigentlich allmächtig und nur zufällig begrenzt. Und wenn dann sein hohes Alter, als Resultat lebenslanger Ver- senkung in das Objektive, die Lebensintention, vom Metaphysischen bis in das Äußerlichst-Praktische hin, auf das ,, Mögliche" be- schränkt — so sind jene Äußerungen, in denen das Unmöglich-

Von Iphigenie zu Tasso 241

Unendliche noch in einer Art ideeller Wirklichkeit schwebt, doch schon das Präludium dazu. Gilt jenes Unendliche nun, wie wir es wollten, als das Ungeformte, Gestaltlose, so schob zunächst die neue, im Zeichen der Klassik stehende Periode den Akzent auf die Form; in Italien noch nicht so, daß irgendein Übergewicht dieser oder eine Feindseligkeit der Prinzipien bemerkbar wäre. Dazu läßt es der unmittelbare, über alle Grenzen hin mächtige Lebensstrom, den seine Jugend genährt hatte, nicht kommen. Goethes italienische Zeit gehört zu den letzten Vollkommen- heiten, zu denen es die Menschheit gebracht hat, weil sie einen Gleichungs- oder Einheitspunkt jener großen Antinomie dar- stellt: hier fing sich die gefühlte Unendlichkeit, Grenzunbewußt- heit eines Lebens in Formen, anschauliche und dichterische Festigkeiten und plastische Gestalten, dauernde und geschlossene Maximen; und das Leben wurde, wenn der paradoxe Ausdruck gestattet ist, nicht weniger unendlich, weil es in Formen, d. h. in Endlichkeiten Platz fand, und die Formen wurden dadurch nicht gelockerter, nicht unplastischer, dem spezifischen Wert der Form als solcher nicht untreuer, weil sie jene Flutung des Lebens, die immer Überflutung war, in sich aufnahmen. Von hier ge- sehen ist der italienische Aufenthalt noch einmal ein Zenith des Goetheschen Lebens. Vielleicht ist Iphigenie hiervon der voll- kommenste Ausdruck. Hier ist, zumindest in den beiden Haupt- figuren, die grenzenlose Fülle des Lebens, des Gefühles, der Leidenschaft; und sie wird von einer Schönheit und Geschlossen- heit innerer und äußerer Form aufgenommen, ohne sich in ihr zu verlieren, so daß man die tiefe, vitale Gegnerschaft beider Prin- zipien — in der Jugend und Alter Goethes zusammenstoßen wie selbstverständlich als Harmonie hört. In mehr als einer Hin- sicht bezeichnet der Tasso den Schritt, der über diesen Gleichungs- punkt hinaus zum Übergewicht der Form führt. In Tasso selbst zwar ist noch das Leben in seiner ganzen Unendlichkeit, in dem an sich formlosen Drängen seiner Dynamik. Aber die Welt bietet ihm jetzt keine Form, in die es sich fassen, an der es sich be- ruhigen könnte, sondern Tasso steht der fest geformten Welt gegenüber, mag diese Formung in dem Palastgesetz von

Simmel, Goethe. '^

242 Zur Natürlichen Tochter

Belriguardo, in der starren Gefügtheit des Antonio-Charakters, oder in dem „Geziemenden" bestehen, das die Prinzessin allein für erlaubt hält. Tasso ist tatsächlich nur ,,die sturmbewegte Welle" und muß an der Unnachgiebigkeit der Formen scheitern. Schon der künstlerisch-stilistische Ausdruck symbolisiert dies: was soll er, in und unter dessen Rede eine ins Unendliche, Maßlose drängende Leidenschaft flutet, mit diesen Menschen anfangen, die fortwährend in geschlossenen Sentenzen reden? Es fehlt ja auch in der Iphigenie schon nicht an der scharfen Dialektik logischer Gegenreden; aber noch hält die Herzenswärme, die das Ganze überströmt und sich in den Hauptfiguren sammelt, die Gegensätze zusammen, noch ist das Gefühl mit dem Praktisch-Ethischen und dem Sentenziösen in Gleichgewicht und Einheit, während es im Tasso auseinanderbricht. Die große Krisis von Goethes Leben setzt hier noch einmal die Gegensätze hart gegeneinander, aber die Ohnmacht der bloßen Lebens- intensität, des alle Grenzen überspülenden, in seiner Geschmolzen- heit ungeformten Fühlens ist entschieden : das Praktisch- Normative, wie es von Antonio repräsentiert ist, und das Weisheitshafte, das in dem sentenziösen Wesen der anderen Gestalten dominiert, hat den Sieg davongetragen, und dieser Sieg wird schließlich auch von Tasso selbst als der gerechte anerkannt. Immerhin, es war doch noch ein Kampf, die jugend- hafte Lebensintention (gerade die Jugend Tassos wird so oft betont!) steht immerhin nicht ohne Kraft und Recht, wenn auch nicht mit dem entscheidenden, dem andern großen Lebens- prinzip gegenüber. In der Natürlichen Tochter aber ist der Sieg der Form von vornherein festgestellt, mag man den Inhalt des Stückes in subjektiver oder in objektiver Hinsicht betrachten. Nicht als ob es ihm an innerem Leben fehlte, wie man es ihm oft zu Unrecht vorgeworfen hat. Aber das Leben führt hier nicht mehr sein autonomes Dasein als Gefühl, dem sich die Formen möglicher Existenz durch eine glückliche Harmonie fügen, wie in der Iphigenie, oder das mächtig und doch ohnmächtig sie überschwillt, wie im Tasso. Sondern das Leben will überhaupt nicht anders als in den festen sozialen Geprägtheiten verlaufen

Gefühl und Form 243

und die ganze Frage ist nur, ob in dieser oder in jener. Hier ist nichts von einer Unendlichkeit um die Menschen herum (wie es wundervoll in der tief religiösen, stets auf das Göttliche hin gerichteten Wesensart Iphigenies und in dem von sich aus zu ewiger Unbefriedigtheit verurteilten Charakter Tassos angedeutet ist), und die tiefen Gegensätze der Unendlichkeit und der Form können deshalb weder das unbegreifliche Glück ihrer Ver- söhnung feiern, noch ihre Macht und ihren Aneinanderprall zeigen; die Tragödie liegt nur darin, daß die von den objektiven, sozusagen historischen Schicksalsmächten der Heldin auferlegte Lebensform der von ihr ersehnten die aber nicht weniger eine objektive, historisch geprägte ist entgegengesetzt ist. Auch die Kunstform selbst läßt diese Wendung erkennen: während in Iphigenie und Tasso noch lyrische Töne von subjektiver Unmittel- barkeit klingen, ist die Natürliche Tochter vielmehr bildhaft, an die Stelle der Farbigkeit, die in sich immer etwas Grenzunbe- stimmtes, weil rein Intensives hat, ist der lineare Stil getreten. Ersichtlich ist dieser Prozeß zwischen dem Unendlichen und der Form nur ein sozusagen abstrakterer Ausdruck für jene Ent- wicklung, in der der Lebensakzent des Gefühles von dem des Er- kennens und des Handelns abgelöst wurde. Denn das Gefühl untersteht an und für sich nicht dem Prinzip der Form, sondern eher dem der Farbe und der Intensität, es hat sozusagen eine immanente Maßlosigkeit, der vielleicht nur durch ein Versagen der Kraft oder durch Hemmungen von andren Seiten her die Grenzen kommen. Alles Erkennen und alles Handeln dagegen ist von vornherein auf Formen gestellt, auf eine Geprägtheit und Festigkeit, die mit dem Sinne, wenn auch nicht immer mit der Wirklichkeit dieser Energien gegeben ist. Goethe war zu der Zeit, als ihm alles auf den Gewinn einer Form für Leben und Anschauen ankam, die Klassik als das Muster aller Form entgegengetreten. Kein Wunder, wenn er in dem Rausch dieser Entdeckung nicht gewahr wurde, daß es Inhalte gibt, die sich diesem Stil nicht fügen. Aber die geistesgeschichtliche Folge dieser Irrung Goethes ist, daß es vielen von uns noch heute scheint, als hätte, was nicht in den klassischen Stil eingeht, eigentlich überhaupt keine Form.

i6*

244 Ordnung

Mit dem steigenden Alter tritt Goethes Verehrung der „Form" immer entschiedener hervor, bis zur Formalistik hin. Immer wichtiger werden ihm, über die Individuen hinweg, ihre Ver- bindungen untereinander, die doch einerseits nur Formungen aus dem Menschen- und Interessenmaterial sind, andrerseits dem Einzelnen durch seine Begrenzung gegen andere und An- weisung einer bestimmten Stelle eine sonst unerreichbare Form geben; immer höher schätzt er die ,, Zweckmäßigkeit", und zwar als eine formale Struktur der praktischen Welt, da er oft nicht angibt, zu welchem Zv/eck denn das in dieser Form verlaufende Handeln dienen soll; immer unbedingter notwendig erscheint ihm die ,, Ordnung", so daß er geradezu verkündet, er wolle lieber eine Ungerechtigkeit, als eine Unordnung dulden! Und die Natur selbst geht jetzt für ihn selbstverständlich dem parallel:

,,Wenn ihr Bäume pflanzt, so sei's in Reihen, Denn sie läßt Geordnetes gedeihen."

Was an seinen späteren Aussprüchen über politische und soziale Dinge so oft hart konservativ, ja reaktionär ist, hat mit Klassen- egoismus nichts zu tun. Es ruht einerseits auf der Tendenz, dem Positiven des Lebens Raum zu machen. In allem Revo- lutionären, Anarchistischen, Übereilten sah er Hemmungen, Negativitäten, Kräfteverbrauch, der nur an das Zerstören ge- wandt würde. Er glaubte die Ordnung als Bedingung der posi- tiven Lebensleistungen zu brauchen. Denn, andrerseits nun, ist es in jenen Äußerungen das kosmische Prinzip der Ordnung und formalen Gefugtheit, das er in die menschlichen Verhältnisse fortsetzt. Daß er dies nur durch eine streng hierarchische und aristokratisierende Technik für herstellbar hält, das ist freilich diskutabel und zeitgeschichtlich bedingt, aber es trifft nicht das letzte gesinnungsmäßige Motiv. So gilt auch jetzt seine Polemik der rein geistigen Ungeformtheit, Ungeordnetheit, sowohl nach der Vergangenheit (auch der eigenen) hin, wie für die Gegenwart; das Chaotische ist ihm der Feind schlechthin. In seinen sechziger Jahren bezeichnet er es als die ,, Hauptkrankheit" der Rousseau- periode, daß ,, Staat und Sitte, Kunst und Talent mit einem

Kunstinhalt und Fomiprinzip 245

namenlosen Wesen, das man aber ( !) Natur nannte, in einen Brei gerührt werden sollte". Aber er kennt sehr wohl die Bedeutung dieser Epoche für sich selbst, denn er fährt fort: ,,Ward ich nicht auch von dieser Epidemie ergriffen, und war sie nicht wohltätig schuld an der Entwicklung meines Wesens, die mir jetzt auf keine andere Weise denkbar ist?" Und ungefähr gleichzeitig spricht er sich über die im Geistesleben herrschende Phan- tastik aus: ,,Das will Alles umfassen und verliert sich darüber immer ins Elementarische, doch noch mit unendlichen Schön- heiten im Einzelnen [was fehlt, ist also die Formung des Ganzen]. Für uns alte Leute ist es zum Toll wer den, wenn wir da um uns herum die Welt müssen vermodern und in die Ele- mente müssen zurückkehren sehen, daß, weiß Gott wann, ein Neues daraus entstehe." Diese ethisch- vitale Wertung der Form steht ersichtlich in tiefem Zusammenhang mit dem früher besprochenen Übergewicht, das seine höheren Jahre der Kunst- form gegenüber dem Kunstinhalt beilegen bis zu dem Grade, daß ihm die Bedeutsamkeit des Gegenstandes sogar als Hindernis für die Vollendung des Kunstwerks als solchen erschien. Der Eigenwert des Gegenstandes schlägt gewissermaßen über die Grenzen hinaus, die ihm die artistische Formung auferlegt; nach ihrer eigenen Bedeutung stehen die Gegenstände in den kontinuierlichen, unendlichen Zusammenhängen der Realität, die Kunst schneidet sie heraus zu einem eingerahmten Bilde, formt sie, indem sie ihnen Grenzen gibt, die ihrem natürlichen Sein und seiner Werterstreckung fehlen. Auch die Reinheit seines späteren Artistentums hat so in der Metaphysik seiner Altersperiode ihre Grundlage.

Auch hierin zeigt er sich gewissermaßen als der typische Mensch; nur daß solche Wendungen, die sonst einem Sinken der Kraft parallel gehen, bei ihm etwas durchaus Positives sind, Stadien, die nicht aus einem Verlust, sondern aus der, nur ihre Äußerungen wechselnden organischen Entwicklung der Energie hervorgehen. Im allgemeinen fragt die Jugend nicht viel nach Formen, weil sie aus ihrem bloßen Kraftvorrat heraus jeder auf- tretenden Situation und Forderung meint genügen zu können;

246 Struktur der Lebensalter

das Alter sucht festgeprägte, ideell oder historisch vorbestehende Formen, weil sie ihm den Aufwand immer neuen Einsetzens der Kräfte, zweifelhafter Versuche, absolut eigner Verantwortungen ersparen. Für Goethe aber ist es nur eine neue prinzipielle Ge- staltung, in der seine Kraft auftritt ungefähr wie die Hin- geljung und Demut gegen das Göttliche, die bei Unzähligen nur aus eigener Schwäche und Haltlosigkeit hervorgeht, bei dem wahrhaft religiösen Menschen gerade die Ausformung seiner höchsten und zentralsten Kräfte ist. Diese Verteilung der kategorialen Akzente an Unendlichkeit und Form auf Jugend und Alter geht neben anderem auch auf die Verschiedenheit des Verhältnisses zurück, das die Einzelheiten des Lebens in diesem und in jenem Stadium zu seinem Gesamtquantum besitzen. Was die Jugend auch erlebe im Hinblick auf die Zukunfts- fülle, die sie noch vor sich hat, ist sein Maß garnicht abzuschätzen, das Leben ist so unabsehlich, wird noch so unendlich Vieles bringen, daß die Bedeutung der einzelnen Leistung oder Er- fahrung eigentlich quantite negligeable wird, wie jede noch so große endliche Größe im Verhältnis zum Unendlichen sich der Null nähert. Indem das Alter aber den abgeschlossenen Horizont vor sich hat, den Grenzstrich des Lebens mit annähernder Sicher- heit setzt, wird der Nenner des Bruches, dessen Zähler das einzelne, in seiner Bedeutung zu fixierende Erlebnis bildet, eine endliche Größe und mit ihm der Bruch, das Erlebnis selbst. Lust und Leid, Leistung und Versagen der Leistung ist jetzt ein angebbarer, aliquoter Teil des Lebensganzen, man hat damit soundso vieles definitiv hinter sich gebracht, während eben derselbe in dem Unendlichen, das noch vor der Jugend liegt, als ein gar nicht recht bestimmbarer Teil verschwindet. Auf diese unterschiedenen Relationen zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen des Lebens braucht nur hingewiesen zu werden, damit sofort hervorleuchte, daß auch auf sie die funktionelle Unendlichkeit als Lebens- prinzip der Jugend und die feste, zur Anordnung drängende Ge- formtheit als das des Alters zurückgeht. Aber ebenso wird gerade an diesem Moment klar, wie hier nur ein Gestaltwechsel des Lebens vorzuliegen braucht, der keineswegs auf einer

Minderwertige Leistungen 247

Änderung des Kraftmaßes, sondern nur des Blickes über das Kraftmaß beruht.

Dennoch liegt vielleicht hier die Erklärung für einen eigentümlichen negativen Zug in Goethes Gesamtbild. Ich habe es in diesen Blättern oft genug als die umfassendste Formel seiner Produktion hingestellt, daß zwischen seinem natürlichen, vom terminus a quo her wirkenden Triebe zum Schaffen, Bilden, Handeln und den wertentscheidenden Nor- men für das Geschaffene und Erwirkte eine tiefere, selbstver- ständlichere Harmonie herrschte, als die Menschen sie sonst zu besitzen pflegen, daß er mehr als andere nur seinen unmittelbaren Impulsen, dem, was seiner Natur gemäß war, zu folgen brauchte, damit das theoretisch, dichterisch, sittlich Normgemäße sich ergäbe. Dieses: daß er auch sein Schwierigstes und Vollkom- menstes, nach seinem eigenen Ausdruck, ,, spielend'* und als ,, Liebhaber" geschaffen habe gilt sicher für den Goethe, auf den es ankommt, für die ,,Idee Goethe". Allein der Schluß aus dieser Harmonie zwischen der subjektiven Lebensäußerung und der Objektivität der Dinge und Normen: daß all sein Geschaffenes objektiv vollendet wäre ist durch die Tatsachen keineswegs bestätigt. Wir wissen sogar von keinem der großen Schöpfer, daß sein Werk soviel Minderwertiges, soviel theoretisch und künstlerisch Unzulängliches, in seiner Unzulänglichkeit kaum Begreifliches enthielte. Die bildenden Künstler höchsten Ranges scheiden hier für die Vergleichung von vornherein aus, weil bei ihnen, gemäß der Sonderart ihrer Kunst, schon auf den bloßen Duktus der Hand ein solches Maß ihrer Genialität entfällt, daß hier das schlechthin Wertlose und ,, Gottverlassene" sozu- sagen a priori ausgeschlossen ist, jedenfalls nur sehr selten vorkommen kann. Aber obgleich Dante und Shakespeare, Bach und Beethoven die Höhe derjenigen Leistungen, die ihren künstlerischen Rang überhaupt bestimmen, keineswegs mit jedem Werk und Werkteil erreichen, so ist doch das Maß der dahinter zurückbleibenden bei keinem annähernd so groß wie bei Goethe. Das Quantum von Unpoesie und fahriger Banalität, das er etwa nur in den Theaterreden, den Gedichten an Personen, den Re-

248 Erklärung durch die Wertung der Form

volutionsdramen geleistet hat, gehört zu den erstaunlichsten Vorkommnissen aller Geistesgeschichte. Gewiß leidet der Rang, den er als Einheit und Ganzheit einnimmt, darunter nicht, denn dieser wird bei dem Künstler nicht von einem Durchschnitt seiner Leistungen, sondern mit leicht ersichtlichen Vorbe- halten — ausschließlich durch die Höhe seiner höchsten bestimmt; alles, was erheblich unter dieser bleibt, ist dafür so gleichgültig, wie wenn es überhaupt nicht produziert wäre (es sei denn, daß es als , .schlechtes Beispiel" wirkte). Immerhin stellen diese Wertausfalls-Erscheinungen bei Goethe ein Rätsel, für das mir eine ganz befriedigende Lösung fehlt. Der Gesichts- punkt, unter den ich es am Anfang dieser Blätter rückte, gibt wohl jenen negativen Werten sozusagen als Lebenstatsachen eine mögliche Stelle. Allein Goethe lebte doch nicht nur den subjektiven Lebensprozeß, der solche Tiefstände durchmachen mochte, sondern er stand dessen Erzeugnissen zugleich oder wenigstens nachher als Urteilender gegenüber; und das Ver- sagen dieser Hemmung, mit der der Mensch sich gleichsam über sein eignes Leben stellt, wird durch die Schwankungen dieses Lebens selbst nicht hinreichend erklärt. Man könnte allen- falls an eine Art von souveräner Lässigkeit denken, die auf be- liebige Anregung hin irgendetwas hinstellt, bloß um sich mit dieser abzufinden, allenfalls mit einer gewissen Ironie gegen das Pu- blikum und gegen sich selbst. Allein eine solche Begründung mag hier und da zutreffen, daß sie für den ganzen Kreis der fraglichen Produktionen gelte, wird schon durch dessen außer- ordentlichen Umfang ausgeschlossen. Dagegen gibt die hoch- gestiegene Wertung der Form als solcher vielleicht einen Hin- weis, insbesondere da jene eigentümlich leeren, gewichtslosen Erzeugnisse sich fast nur in seinem höheren Alter finden während gleichzeitige bedeutsame Betätigungen die Begründung aus bloßer Senilität nicht aufkommen lassen. Er hatte schließlich ein so starkes Bedürfnis, dem subjektiven Leben und den objektiven Daseinsinhalten überhaupt Form zu geben, jedes einzelne in einen bestimmenden Zusammenhang ästhetisch-formaler oder theoretisch-allgemeiner Art einzustellen, auch das Minimalste

Intoleranz gegen die Unendlichkeitstendenz 249

irgendwie zu gestalten, daß darüber die überformale Bedeutung der Inhalte so und so oft seinem Interesse entschwand. Man bedenke dazu das durchaus Hierhergehörige, an sich nicht weniger Rätselhafte: die unsägliche Toleranz, die er im Alter für ganz minderwertige Literatur bewies. Ein großer französischer Dichter unserer Zeit sagte einmal gegenüber mittelmäßigen Gedichten: Faire des vers, c'est toujours tres bien und dies war keineswegs ironisch gemeint. Sondern es ist das Interesse, das der schöpfe- rische Mensch oft an der Gestaltung der Weltmaterie nach seinen Schöpfungsformen, nur als Formen, besitzt, und das der bloß Genießende nicht leicht nachfühlen kann. Es scheint mir nun höchst bezeichnend, daß Goethes Interesse an künstlerischer und geistiger Formung sogleich zum Gegenteil von Toleranz führt, wenn er jene andere Vitalidee wittert, von der aus er sich zu der der Form und Ordnung hinüberentwickelt hatte: Prinzip und Intention des Unendlichen. In durchaus verschiedenen, offenen und versteckteren Modifikationen herrscht dies in Jean Paul, in Kleist, in Hölderlin. Mag das Maßlose, Grenzenüber- springende bei dem einen äußerlich sichtbar, bei dem andern nur innerste Lebensbestrebung sein: von Goethes Altersposition aus gesehen fiel die Wesensentscheidung dieser drei auf die Seite des Unendlichen, statt auf die der Formen, und gerade ihre Bedeutung mußte Goethes Abneigung noch entschiedener machen während die inhaltliche Unbedeutendheit aller möglichen kleinen Schriftsteller gerade das sozusagen Formale der geistigen Lebensformung relativ stark hervortreten ließ. Eben die Toleranz, die Goethe gegen diese zeigte, hatte er auch gegen sich selbst. Er war zufrieden, mit jeder von jenen zahllosen Gelegenheits- produktionen immer einen Moment dem ins Unendliche fließenden, in diese Unendlichkeit alle Grenzbestimmtheit der Inhalte auf- lösenden Leben zu entreißen. Man mag das immerhin als eine Hypertrophie des Formungssinnes bezeichnen, da es fraglich bleibt, ob die Form einen andern definitiven Sinn haben kann, als die Vollendung jener Lebenssubstanz, die in letzter Instanz doch als unendliche wird gelten müssen. Dies steht für uns nicht zur sachlichen Entscheidung. Aber wie er lieber eine Ungerechtig-

250 Alterskunst

keit als eine Unordnung ertragen wollte während es doch nicht weniger fraglich ist, ob nicht alle Ordnung ihren schließlichen Zweck in der Gerechtigkeit hat so wollte er, so paradox dies klingen mag, von einem gewissen Alter an lieber ein unbedeutendes Gedicht machen als gar keines, wenn ein Moment des Lebens sich solcher Formungsmöglichkeit bot und es ist nicht unmöglich, daß auch sein fortwährendes Betonen, daß gehandelt, gewirkt werden muß, ohne daß er doch immer den Endwert und Inhalts- sinn solcher Tätigkeitsforderung angäbe, dem gleichen Streben nach einer begrenzenden, irgendwie ordnenden, formenden Be- arbeitung des unendlichen Weltstoffes zugehört.

Und nun endlich komme ich auf den von vielen Seiten ange- deuteten Punkt, auf den die Einstellung der Goetheschen Ent- wicklungsperioden unter die Kategorie der Form führen sollte. Neben aller Herrschaft dieser Kategorie nämlich zeigen sich in seinem hohen Alter Spuren eines weiteren geistigen Entwicklungs- stadiums, das ganz fragmentarisch geblieben ist, das aber nur als ein Durchbrechen und Überwinden des Formprinzips zu bezeichnen ist. Das entschiedenste Symptom dafür sind die Vergewaltigungen des sprachgebräuchlichen Gefüges, insbesondere im zweiten Teil des Faust. Dahin gehören schon die Wortzusammenziehungen: Glanzgewimmel, Lebestrahlen, Pappelzitterzweige, Gemeindrang. Noch entschiedener, wo die einzelnen Ausdrücke nur asyndetisch hingeworfen scheinen: Worte die wahren, Äther im klaren, ewigen Scharen, überall Tag. In noch weiterem Bezirk: das logisch gar nicht organisierbare Chaos der klassischen Wal- purgisnacht. In diesen Erscheinungen tritt das Spezifische der Alterskunst hervor, mit der manche der allergrößten Künstler eine mit allem früheren unvergleichbare Ausdrucks- stufe gewinnen: Michelangelo vor allem mit der Pietä Rondanini und den späten Gedichten und Frans Hals mit den Regen- tinnen des Waisenhauses, sogar Tizian in den Greisenwerken, am unzweideutigsten Rembrandt mit den späten Radierungen und Porträts, Beethoven mit den letzten Sonaten (insbesondere den beiden Cellosonaten) und Quartetten bis zum Parsifal und „Wenn wir Toten erwachen". Ich versuche, dem Gemein-

Form und Objektivität 251

Samen, in alledem Fühlbaren, begrifflichen Ausdruck zu geben. Man hat diesen Altersstil als Impressionismus bezeichnet, als sei den Greisen die Kraft, ein Ganzes einheitlich formend zu- sammenzuhalten, verlorengegangen und als hätte es nur zu den Aufgipfelungen einzelner Momente zugereicht, die sub- jektiv blieben; denn sie wären eben nicht zu einer für sich bestehenden Form gelangt, die nur als eine ununterbrochene, wechselwirkende Verbundenheit der einzelnen Impulse, Ideen, Schauungen zustande käme. Dies erscheint mir ganz oberfläch- lich. Die Tatsache selbst ist ja unbestreitbar: in all solchen Werken fühlen wir einen in starken Flutwellen hervorbrechenden Subjektivismus und ein Zerbrechen synthetischer Ganzheits- formen. Die Frage ist nur, in welchem Sinn hier das Subjekt und in welchem die Form verstanden werden muß. Zunächst: die Formen, die die Alterskunst vernachlässigt, sind die historisch geprägten. Welche malerischen Mittel, welcher musikalische Satzbau und welche Harmonik, welche Relation zwischen poetischem Ausdruck und gemeintem Inhalt, welche syntaktische Struktur und welcher logische Zusammenhang sonst als der normative anerkannt ist darum ist die Alterskunst der großen Künstler sehr unbekümmert. Unleugbar aber geht sie noch weiter und läßt nicht nur gegen die in der bisherigen Entwicklung vorliegenden Formimperative, sondern allerdings auch gegen das Prinzip der Form überhaupt eine gewisse Sorglosigkeit, ja vielleicht Verneinung und Gegnerschaft in sich aufkommen. Was sie im letzten Grunde will, entzieht sich nicht nur dieser und jener Form, sondern vielleicht dem Ausdruck, sozusagen, in der Form der Form. Nun ist Form, insoweit vom Geist Aufgefaßtes, vom Geist Gestaltetes in Frage steht, immer ein Prinzip der Objektivität und darin liegt ihre metaphysische Bedeutung in der Ethik wie in der Kunst. Wo wir einem Inhalt eine Form zusprechen oder verleihen, hat sie, jenseits dieser Verwirklichung, eine ideelle, mindestens zeitlose Präexistenz; indem sie ,, ge- schaffen" wird, folgt der Schöpfer einem in innerer Anschauung, innerem Gegebensein Vorgezeichneten v/ie schon der griechische metaphysische Mythus den Weltschöpfer auf die ewigen Ideen

252 Überwindung des Gegensatzes

oder Formen hinblicken ließ, um nach ihnen den Dingen ihre Gestalten zu geben. Jedes Inhaltsstück des Deiseins, inbegriffen die seelischen Vorgänge als Realitäten, ist einzig, eben dieses kann nicht zweimal existieren, es ist schlechthin nur es selbst an dieser Stelle von Raum und Zeit und darum kann man jedem realen Inhalte metaphysische Subjektivität zusprechen: er kann über dieses, in seinen Grenzen beschlossene Für-sich-sein nicht hinaus. Der Stoff des Daseins, das seinem Begriffe nach Formlose und deshalb ein Indefinitum und Infinitum, kann sowohl als Ganzes wie in jedem Stück schlechthin nur einmal da sein; die Form umgekehrt, das Begrenzte und Begrenzende, ist unbe- grenzte Male zu realisieren. Daher ist sie das Objektive, weil sie über jede einzelne ihrer Verwirklichungen, auch wenn sie zum ersten und zum letzten Male nur an dieser aufträte, dennoch hinausgreift, weil es für sie in ihrem ideellen Bestände gleich- gültig ist, ob sie an diesem oder an jenem, an einem oder an tausend Stücken des Stoffes verwirklicht wird. Dies ist ihre Objektivität, dies macht jede konkrete Existenz ihr gegenüber zu etwas Zufälligem und auf sich selbst Angewiesenem, Subjek- tivem; und solche Existenz wird in dem Maße objektiv, in dem man eben an ihr die Form spürt. Je mehr unser Handeln, Denken, Gestalten sich der gegebenen Unmittelbarkeit, der bloßen Stofflichkeit entringt, um von Form durchdrungen zu werden, desto objektiver steht es da, desto mehr teilhabend an jener ideellen Freiheit des Formprinzips von der verfließenden Ein- maligkeit subjektiven Daseins. Dies ist der Grund, weshalb die Alterskunst, in deren Souveränität gegenüber den historisch geprägten Formen sich eine Abweisung des Formprinzips über- haupt versteckt, der bloßen Subjektivität anheimzufallen schien. Aber vielleicht steht hier eine Überwindung des ganzen Gegen- satzes in Frage; vielleicht ist das Subjekt, das hier heraustritt, gar nicht mehr das zufällige, vereinzelte, erst durch Formung zu erlösende, wie es in der Jugend der Fall ist. In ihr bedarf die sub- jektivische Formlosigkeit der Aufnahme in eine historisch oder ideell vorbestehende Form, durch die sie zugunsten einer Ob- jektivität entwickelt wird. Im Alter aber hat der große gestaltende

Das Subjekt als Welt 253

Mensch ich spreche hier natürlich von dem reinen Prinzip und Ideal die Form in sich und an sich, die Form, d i e j e t 2 t schlechthin nur seine eigene ist; mit der Ver- gleichgültigung alles dessen, was die Bestimmtheiten in Zeit und Raum uns innerlich und äußerlich anhängen, hat sein Subjekt sozusagen seine Subjektivität abgestreift das ,, stufenweise Zurücktreten aus der Erscheinung", Goethes schon einmal an- geführte Definition des Alters. Jetzt braucht der Mensch keinen umfassenden Rahmen mehr um die Einzelheiten seiner Äuße- rungen und Betätigungen zu spannen, weil jede einzelne schon die ganze Lebensweite, die in diesem Menschen wirklich und ihm möglich ist, unmittelbar darstellt. Es ist also gerade das Gegenteil von Impressionismus, da dieser ein Erlebnis, eine Relation zwischen dem Subjekt und dem, was in irgendeinem Sinne außerhalb seiner ist, nur von der Einseitigkeit des Subjekts selbst her vorträgt während hier die absolute Verinner- lichung vorliegt, mit der das Subjekt reine, objektiv geistige Existenz wird, so daß ein Äußeres ihm sozusagen gar nicht mehr existiert. Da nun aber auch der alte Mensch schließlich in der Welt lebt, so fern ihm auch ihre Einzelheiten und Äußerlichkeiten rücken mögen, da er als Künstler schließlich von ihr und den Dingen in ihr reden muß so ist begreiflich, daß seine Rede, ja sein ganzes geistiges Dasein symbolisch wird; d. h. daß er die Dinge nicht mehr in ihrer Unmittelbarkeit, ihrer Eigen- existenz ergreifen und benennen will, sondern nur insoweit die Pulsschläge seines mit sich allein lebenden, sich selbst Welt seienden Innern Zeichen für sie sein können, oder sie selbst Ver- tretungen und Gleichnisse jener. Goethe spricht, wie ich schon an- führte, im hohen Alter einmal von der Äquivalenz verschiedenster Lebensinhalte und begründet das damit, daß er ,,all sein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehen" habe. Aber darin offenbart sich sein, mit dem Alter immer steigender, oft um hohe Preise durchgesetzter Wille zur Einheit des Lebens. Denn vielleicht ist jenes symbolische Erfassen der Lebensinhalte über- haupt unser einziges Mittel, das Leben einigermaßen als eine Einheit vorzustellen. Unser ,, Wirken und Leisten" ist in seinen Zielen

254 Symbolik des Alters

und Werten, seinen Zufälligkeiten und Notwendigkeiten, seinem Erreichen und Verfehlen etwas so unendlich Zersplittertes, Zu- sammenhangloses, in sich Divergentes, daß das Leben, auf seine unmittelbaren Inhalte hin angesehn , als eine wüste Vielheit erscheint; erst wenn man sich entschließt, alles einzelne Tun nur als ein Gleichnis anzusehen, unsere praktische Existenz, wie sie sich empirisch bietet, als ein bloßes Symbol einer tieferen, eigentlich wirksamen Realität so ist darin die Möglichkeit einer Einheit gewonnen, einer verborgenen, ungespaltenen Wurzel des Lebens, die all jene auseinanderstrebenden Einzelbewäh- rungen aus sich entläßt. Eben damit aber ist der mystische Charakter dieser Alterssymbolik dargetan. Goethe hat einmal, mit deutlicher Beziehung auf sich selbst, ,,Quietismus" und ,, Mystik" als die Wesenszüge des Greisenalters bezeichnet. Unter Mystik versteht er hier sicherlich das, was ich das Sym- bolische nannte; er ist der Chorus m y s t i c u s , der den Sym- bolcharakter aller gegebenen Welt verkündet: ,, Alles Vergäng- liche ist nur ein Gleichnis". Goethe hat mit jener Doppel- qualität die Altersperiode insofern sich eben Elemente ihrer spezifisch von seinen früheren Existenzformen abheben un- zweideutig bezeichnet. Dieser ,,Quietismus" ist nichts anderes als jenes ,, Zurückgetretensein aus der Erscheinung", die In-sich- Existenz des Subjekts, das jetzt einen ganz anderen und nicht mehr den relativen Sinn hat, als da es noch ein Objekt sich gegen- über hatte. Er ist jetzt selbst alles, was er von Welt sein und was er von Welt wissen kann und hat deshalb zu der sogenannten Welt nur noch das Verhältnis des , »Symbolischen". Zwischen diesem Subjekt und der objektiven ,,Form" entfällt damit der ganze Gegensatz. Denn die Objektivierung, die sonst die irgend- wie präexistierende, jenseits des Subjekts, wenn auch in seinen eigenen Schöpfungen bestehende Form diesem Subjekt zutrug, die hat es, nun von sich selbst und zu sich selbst erlöst, in der Unmittelbarkeit seines Lebens und Sich-Äußerns. Es ist fast schon zu viel, hier von der , »eigenen Form" zu sprechen, die die vollendete Altersexistenz und Alterskunst zeigte. Ihrer reinen, wenngleich ersichtlich nie empirisch ganz realisierten

Überwindung der Formgrenze 255

Idee und Intention nach hat dieses Leben überhaupt keine „Form" mehr, die von dem Stoff seiner Subjektivität zu scheiden wäre: das ganze Prinzip der Form ist gegenüber diesem, schlecht- hin objektives Selbstsein gewordenen Subjekt belanglos. In diesem Sinn kann man sagen, daß jene Formlosigkeiten, jener Zerfall der Synthese in Goethes hohem Alter das Anzeichen davon ist, daß seine große Lebensbestrebung: die Objektivation des Subjekts, sich in seinem höchsten Alter vor, wenn auch viel- leicht nicht in einer neuen, geheimnisvoll absoluten Vollendungs- stufe gesehen hat.

Ist hierdurch der Nerv der letzten Epoche Goetheschen Lebens, insoweit sie sich von den anderen unterscheidet, getroffen obgleich sie ihr Unvergleichliches nur mit Andeutungen und Ansätzen in das Weiterleben dieser früheren mischt , so ver- bindet sich gerade damit ein Aspekt für die Totalität dieses Lebens. Es ist vielfach ausgesprochen worden, daß auch die wissenschaftlichen Theorien Goethes ebenso wie seine ganze Lebensauffassung, beides sowohl in dem Großen und Bedeutenden wie in dem Zweifelhaften und Unwirksamen, von seinem Künstler- tum bestimmt seien. ,,Für's Ästhetische", schreibt er in späterem Überblick, ,,bin ich eigentlich geboren". Seine Art der Natur- verehrung, die Überzeugtheit von dem sichtbaren Einwohnen der Idee in der Erscheinung, die ,, Anschaulichkeit" seines Denkens, die Bedeutung der ,,Form" in seinem Weltbild, die Leidenschaft für Harmonie und Abgerundetheit des theoretischen wie des praktischen Daseins alles dies sind, namentlich in ihrem Zu- sammenkommen, Bestimmtheiten der seelischen Existenz nach dem Apriori des Künstlertums ; es ist das ,,Urphänomen" zu seinen Lebensphänomenen, daß er Künstler ist. Nun aber hat er selbst angedeutet, daß hinter den Urphänomenen, dem letzten für uns Ergreifbaren und Erforschlichen, noch irgendein Aller- letztes steht, das sich allem Blick und Bezeichnung entzieht. Und so nun hat das artistische Fundament und Funktionsgesetz seines Wesens noch etwas Tieferes hinter sich, eine nicht benenn- bare Wesenheit, die auch seine ganze künstlerisch bestimmte Erscheinung noch trägt und umgreift. Natürlich ist dies nicht

256 Künstlertum und Mehr- als -Künstiertum

sein Privileg, sondern in eben diese Schicht streckt sich die letzte Realität jeder menschlichen Existenz. Nur ist sie bei Goethe in besonderer Weise fühlbar, weil eben die Einzelheiten, die primären Phänomene seines Wesens schon zu einer Einheit, zu einem anschaulichen, sie alle tragenden oder durchdringenden Urphänomen, dem künstlerischen zusammengehen, wie es bei den wenigsten anderen Menschen der Fall ist. Er hat gerade in und mittels der Spannung sowohl der gleichzeitigen wie der Entwicklungsgegensätze seiner Persönlichkeit schon eine Einheit innerhalb des Empirischen, wie wir andern sie erst in der dunkeln Vorstellung jenes noumenalen Absoluten in uns suchen müssen. Dadurch hebt sich bei ihm dasjenige, was überhaupt empirisch und aussagbar ist, von dem andern, das Geheimnis bleiben muß, reinlicher ab, als wo die unmittelbaren Einzelheiten schon in diesem zu konvergieren scheinen. Die ganze Weite seiner Existenz, auch insoweit sie von dem Ur- phänomen des Künstlertums beherrscht scheint, wäre gar nicht möglich, wenn dieses selbst nicht die Ausstrahlung oder die Handhabe eines Höheren, Allgemeineren oder, wenn man will, tiefer Persönlichen gewesen wäre ; innerhalb einer mehr empirischen und psychologischen Schicht mag man das so ausdrücken, daß der Künstler eine gewisse letzte Größe auch rein als Künst- ler nicht erreicht, wenn er nicht mehr als bloß Künstler ist. Zweifellos vertieft es das Goethesche Bild in der richtigen Rich- tung, wenn man alle Äußerungen seines Lebens, auch die in- tellektuellen, die ethischen, die rein personalen, auf den General- nenner des Künstlertums zurückführt aber die letzte Instanz ist damit noch nicht erreicht. Nur daß diese freilich nicht in Begriffen zu fixieren, sondern nur in einer inneren, gefühls- mäßigen Anschauung zu vergegenwärtigen ist. Und zwar nicht nur wegen der transzendentalen Tiefe, in der dies Letzte der Persönlichkeit bei Goethe, wie bei allen Menschen überhaupt wohnt, sondern weil es sich bei ihm, dem unspezialistischsten aller Menschen, noch mehr als bei allen anderen gegen jede Be- nennung seiner Färbung wehrt, die unvermeidlich etwas Ein- seitiges und Exklusives wäre. Deutlicher als gegenüber irgend-

Das Personal- Allgemeine 257

welcher sonstigen historischen Gestalt fühlen wir hier diese eigen- tümliche, noch wenig betrachtete Kategorie, die uns für jeden Lebenden, sobald wir ihn einigermaßen kennen, bestimmend ist: das Allgemeine seiner Persönlichkeit, das aber nicht als Abstraktum aus seinen einzelnen Zügen und Betätigungen zu gewinnen ist, sondern eine Einheit, die nur einem unmittelbaren seelischen Kennen zugängig ist. Es ist eine andere Wegerichtung, das Allgemeine über Einzelnem zu erfassen, als sie der Begriffe- bildende Verstand geht. Auch diesem versagen sich ja jene singu- lären Phänomene des Individuums nicht, und er führt z. B. bei Goethe zu dem Künstlerhaften, das wir als den gemeinsamen Zug aus seinen empirischen Mannigfaltigkeiten abstrahieren können. Wie wir nun aber jeden uns näherstehenden Menschen jenseits solcher, noch so umfassender Angebbarkeiten ,, kennen", in einer besonderen, nicht verstandesmäßigen, nur erlebbaren Kate- gorie, gleich der Unverwechselbarkeit und gleichzeitigen Un- beschreibbarkeit seiner Gesichtszüge so haben wir von Goethe, als dem größten historischen Beispiel dieser Möglichkeit, eine Wesensanschauung, die nicht in seinen einzelnen Qualitäten und Leistungen aufgeht, auch nicht in ihrer Summe oder dem Allgemeinen, das wir aus ihnen begrifflich gewinnen könnten; und nun wirkt diese gerade in dem Eindruck jeder solchen Einzelheit mit, wie für den metaphysischen Menschen alle Einzelheiten des Gegebenen von der absoluten Seinseinheit be- gründet und durchdrungen sind, die nicht durch eine von ihnen benennbar oder durch Abstraktion aus ihnen gewinnbar ist. Wer nicht hinter und in Goethe dem Dichter, Goethe dem soundso Lebenden, Goethe dem Forscher, Goethe dem Liebenden, Goethe dem Kulturschöpfer dieses Personal-Allgemeine, dessen Ein- heit nicht eine aus Vielem zusammengesetzte ist, spürt, diese sozusagen formale Rhythmik und Dynamik, die nicht in der Relation zu der Welt des Vielfachen, sondern zu der ,, schweigend zu verehrenden" Einheit des Seins ihr Wesen hat wer dieses nicht spürt, für den leistet Goethe nicht, was nur e r leisten kann. Ich glaube, von jeder Idolatrie für ihn frei zu sein; es mag stärkere, tiefere, anbetungswürdigere Existenzen und Leistungen gegeben

Simmel, Goethe. '7

258 Die Kraft und die Talente

haben, als die seinige. Aber in jenem ist er, dem Grade nach, einzig: ich weiß von keinem Menschen, der den Nachlebenden mit dem, was doch schließlich nur als seine einzelnen Lebens- äußerungen dasteht, die Anschauung einer so hoch über all dies Einzelne erhabenen Einheit seines Seins überhaupt hinterlassen hätte.

Sucht man nun das, diesem Höchsten und nur als Anschauung Erfaßbaren Nächstgelegene, eben noch Beschreibbare auf, so be- gegnet man vielleicht einem noch Allgemeineren, die Persönlich- keit noch mehr nach ihrer Form Charakterisierenden, als dem Künstlertum. Es erscheint als das vollkommenste Leben, wenn man nur aus dem geistigen Detumeszenztrieb heraus, aus dem Bedürfnis, das subjektive Leben zu äußern, existiert und sicher ist, damit das objektiv Wertvolle zu schaffen, das vor den blos auf die Inhalte gehenden Kriterien bestehen kann. Ich habe es oft ausgesprochen, daß ich hierin die durchgehende Formel des Goetheschen Lebens sehe, und wenn diese letzten Seiten zeigten, daß er in der Jugend den subjektiven Prozeß, im Alter die objek- tiven Inhalte dominieren ließ, so waren das doch nur Akzent- verschiebungen und Entwicklungsstadien innerhalb jener Ge- samtrelation seines Lebens zum Weltsein. Die innerpersönlichen Faktoren nun, deren Verhältnis diese Eudämonie seiner Existenz trugen, kann man bezeichnen als: das Maß der Gesamtkraft der Natur und die Talente. Wie sich beides sonst am Menschen findet, scheint es in erheblichem Maße von einander unabhängig zu sein. Wie viele sind in Unfruchtbarkeit, in ein Mißverhältnis gerade zu dem ihnen äußeren Dasein gefallen, ja, sind zugrunde gegangen, weil ihre Kraft nicht für ihre Talente oder ihre Talente nicht für ihre Kraft ausgereicht haben ! oder weil ihre Begabungen so angeordnet waren, daß die Kraft sich in ihnen unwirksam verzehrte, oder daß sie sich in einer Reihenfolge entwickelten, die der allmäligen Entfaltung der Kraft nicht entsprach! Die Ma- schine hat mehr Dampf, als ihre Konstruktion vertragen kann, oder diese ist auf eine größere Leistung angelegt, als zu der ihr Dampf zureicht. Aber von allen glücklichen Harmonien, die man dem Goetheschen Wesen zugesprochen hat, liegt hier viel-

Ausformungen der Lebenseinheit 259

leicht die tiefste, die sozusagen von ihm selbst aus entscheidende. Gewiß hat auch seine Kraft sich hier und da in „falsche Ten- denzen" verrannt, hat einen Auslaß da gesucht, wo das Talent ihr keinen hinreichend breiten Kanal bot. Sieht man aber genau hin, so waren das immer nur Anlaufrückschritte, nach denen sich das Gleichgewicht zwischen Kraft und Talent um so voll- kommener herstellte jene dem subjektiv aus sich heraus- lebenden Leben entsprechend, dieses das Mittel, durch das dieses Leben dem Dasein außerhalb seiner und den objektiven Normen gemäß verlaufen kann. Damit also wurde die Harmonie seiner inneren Struktur zum Träger jener Harmonie ihrer selbst mit allem Objektiven. Diese formale Grundsubstanz seines Lebens sahen v/ir nun sich in den Stilgegensätzen zwischen Jugend und Alter entfal- ten, wie sie so radikal unter den großen uns bekannten Menschen sich vielleicht nur bei Friedrich d. Gr. spannen abgesehen von den (unter besonderen Bedingungen stehenden) religiösen Innen- revolutionen, bei denen man aber nicht recht von einer Ent- wicklung zwischen den Polen, sondern von Umspringen von einem zum andern sprechen kann. Hieran zeigt sich nun die wei- tere große Gleichgewichtsform seines Lebens: in dessen Bilde ist dasjenige Maß von Beharrendem, Gleichbleibendem, zu fühlen, das den Eindruck des sich Wandelnden, lebendig sich Umgestaltenden auf ein Maximum bringt und dasjenige Maß von Wechsel, auf Grund dessen das Einheitlich- Durchhaltende zu seiner größten Eindrucksstärke gelangt. Indem jede dieser Vital- formen ihren Gegensatz und sich an ihrem Gegensatz aufs voll- kommenste entfaltete, realisiert sich der spezifisch organische Charakter dieses Daseins, da uns der Organismus doch als das Wesen erscheint, das, im Unterschied gegen allen Mechanismus, den Fluß unaufhörlichen Wandels mit einem beharrend iden- tischen, nur mit dem Wesen selbst zerstörbaren Selbstsein in Eins faßt. An Friedrich d. Gr. ist dieser durchhaltende Faden, der sich in Jugend und Alter zu so anders aussehenden Geweben verspinnt, viel v/eniger zu fühlen. Nun muß man freilich auch bei Goethe nicht nach einem durch Jugend und Alter hindurch konservierten Inhalt von Leben und Geist suchen; wäre dieser

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260 Die Wertgleichheit der Lebensmomente

auch zu finden (etwa in dem Künstlertum oder der pantheistischen Tendenz), so würde er doch nicht das hier Entscheidende sein. Ein beharrender Inhalt ist als solcher immer etwas Starres, ganz genau gesehen ist er nicht dasjenige Bleibende, das dem Leben den Dienst leistet, seine Wandlungen zusammenzuhalten; viel enger vielmehr ist jenes Bleibende diesen Veränderungen verbunden, als ein begreiflich fixierbarer Inhalt es könnte. Es ist vielmehr ein Funktionelles oder ein Gesetz, das nur von und in Ver- änderungen existiert oder bildlich gesprochen ein Anstoß, der die individuelle Existenz von Anfang bis Ende trägt und sie als der reine und gleiche durch alle ihre Richtungen und Win- dungen hindurchträgt. Für Goethes Überzeugung selbst lebt der Charakter des Menschen nur an seinen Handlungen: ,,die Quelle", sagt er inbezug darauf, ,, kann nur gedacht werden, in- sofern sie fließt"; und: ,,die Geschichte des Menschen ist sein Charakter". Mit alledem sei nur ausgedrückt, daß die Einheit und Permanenz in den Entwicklungswandlungen des Lebens, davon das Goethesche vielleicht das anschaulichste Beispiel ist, nichts irgendwie außerhalb dieser Wandlungen Stehendes ist; vielleicht ist sogar der Gegensatz des Bleibenden und des Sich- Verändernden nur eine nachträgliche Zerlegung, durch die wir die an sich unbegreifliche Tatsache des Lebens in unsere Auf- fassung überführen. Für die Art nun, wie sehr entgegengesetzte Entwicklungsmomente die durchhaltende, geformte Einheit in sich tragen, gibt Goethe einen, gerade inbezug auf sich selbst höchst bedeutsamen Hinweis. Es gehört nämlich zu seinen großen Geistesmotiven, daß das Leben in jedem Augenblick, an jeder seiner Entwicklungsstellen ein in sich vollkommenes, selbständig und nicht erst als Vorbereitung auf ein Endstadium oder als Vollendung eines vorangegangenen wertvolles wäre oder jedenfalls sein kann. ,,Der Mensch wird in seinen verschie- denen Lebensstufen wohl ein anderer, aber er kann nicht sagen, daß er ein besserer werde." Dann beschreibt er die Anforderungen, die ein Schriftsteller auf allen Stufen seines Schaffens erfüllen soll und fährt fort: ,,Dann wird sein Geschriebenes, wenn es auf der Stufe recht war, wo es entstanden, auch ferner recht bleiben,

Die Wandlungen und die Ganzheit 261

der Autor mag sich auch später entwickeln und verändern wie er wolle." Im Tiefsten diesem Motiv zugehörig ist die Bemerkung, das Werk eines großen Künstlers sei in jedem Stadium seines Vollendetwerdens ein Fertiges.

Diese Selbstgenügsamkeit jedes Lebensmomentes, als welche sich die Fundamentalwertigkeit des Lebens überhaupt ausspricht, liegt nicht nur in der Unabhängigkeit von der Zukunft, sondern auch in der von der Vergangenheit. Ich verweise auf die wun- derbare Äußerung von der ,, Erinnerung", die er , .nicht statu- iert", weil das Leben dauernde Entwicklung und Höherbildung wäre und sich nicht an ein Starres, als vergangen Gegebenes binden könne, sondern dies nur als dynamische Wirkung in die dadurch erhöhte Gegenwart aufnehmen dürfe. Er ist 82 Jahre alt, als er sagt: ,,Da ich immer vorwärts strebe, so vergesse ich, was ich geschrieben habe, wo ich dann sehr bald in den Fall komme, meine Sachen als etwas durchaus Fremdes anzusehen". Seine tiefe Abneigung gegen alle teleologische Betrachtung muß damit zusammenhängen: seiner Überzeugtheit von dem in sich zu- länglichen Sinn jedes Existenzmomentes widersprach es, daß irgend ein solcher erst von einem über ihn hinausliegenden End- zweck seine Bedeutung entlehnen sollte. Wenn man will, kann man auch die pantheistische Tendenz, für die jedem Daseinsstück die Totalität des Daseins überhaupt innewohnt, keines also über sich hinaus kann und hinaus braucht, hier auf den Zeitverlauf des Lebens übertragen sehen. Jede Lebensperiode enthält die Ganzheit des Lebens in sich, nur jedesmal in anderer Form, und es liegt kein Grund vor, ihre Bedeutung aus einer Relation zu einem Vorher oder Nachher zu schöpfen; jede also hat ihre eigene Möglichkeit der Schönheit und Vollendung, der jeder anderen unvergleichbar, aber als Schönheit und Vollendung gleich. Dies ist die Art, wie er von der Kategorie des Wertes aus und von der unmittelbaren Wertempfindung seines Lebens her, die Unaufhörlichkeit der Wandlung und die schroffe Ent- gegengesetztheit der Lebensperioden mit einem durch sie alle hin- durchgelebten Einen und Gleichen zusammenfühlen konnte.

Weil aber jede dieser Perioden wenigstens der Idee und

262 Sich-Ausleben

Annäherung nach in sich vollendet war, darum hat er sich auch wirklich ausgelebt. War es der große Zauber dieses Lebens, seine rastlose Entwicklung mit eben dieser Vollendung und Selbst- genügsamkeit seiner Abschnitte zu vereinen, so hatte nun auch das Greisenalter seine Perfektion in sich. Es war nicht, wie bei vielen andern, nur der Abschluß der Vergangenheit, der nur von dieser sozusagen formalen Würde und im übrigen nur von dem Inhalte dessen, was war, getragen war und seinen Sinn bezog, wie die abendlichen Wolken noch von der untergegangenen Sonne mit ihren Farben gekrönt werden. Sondern seine Bedeutung verdankte es sich allein, unvergleichbar mit allem Früheren, mit dem es dennoch durch eine kontinuierliche Entwicklung verbunden war. Aber eben um dieser geschlossenen Positivität willen wies es auch nicht auf ein überirdisches Weitergehen hin, sondern es war dem Hier verhaftet, wie die ganze Goethesche Existenz, und nur soweit in ein Transzendentes hinüberreichend, wie diese ganze Existenz an jedem ihrer Punkte es war. Dagegen scheint sich natürlich sofort die Äußerung zu Eckermann zu wenden, die Natur sei verpflichtet, ihm eine weitere Existenz- form anzuweisen, wenn die jetzige seinen Kräften nicht mehr aushielte. Ich sehe hier von seinem Unsterblichkeitsglauben über- haupt ab, dessen spekulative Mystik mit den Entwicklungsstadien des empirischen Lebens nichts zu tun hat. Nur die Begründung aus der unausgelebten Kraft, den unausgeschöpften Möglich- keiten geht uns an. Und ich kann nicht leugnen, daß ich hier an eine Selbsttäuschung Goethes glaube eine Unbeweisbarkeit natürlich, die sich nur auf einen aus vielen Imponderabilien unkontrollierbar erwachsenen ,, Eindruck" gründet. Der Reich- tum seiner Natur gab seiner Gesamtkraft nur außerordent- lich viele Ausform.ungsmöglichkeiten und v/eil er jeweils nur eine von ihnen ergreifen konnte, in die dann auch seine ganze Kraft ging, so blieben alle die statt dieser möglichen natürlich unrealisiert und im Gefühl davon meinte er, daß er auch zu all diesen die Kraft gehabt hätte. Weil er allerdings Töpfe oder Schüsseln machen konnte, schien es ihm, er hätte Töpfe und Schüsseln machen können. Ich glaube vielmehr,

„Das ist fürwahr ein Mensch gewesen" 263

daß er seine Kraft wirklich zu Ende gelebt hat; und das ist kein Manko, sondern gehört gerade zu den Wundern seiner Existenz; er gehörte zu denen, die wirklich zu Ende kamen und keinen Rest hinterließen. Hier kommt ersichtlich dasjenige zu seiner letzten Formulierung, was ich vorhin über die Harmonie zwischen seiner Kraft und seinen Talenten sagte: nicht nur haben sich seine Talente in seiner Kraft ohne Rückstand entfaltet, sondern auch seine Kraft hat sich in seinen Talenten erschöpft. Soweit wir überhaupt in solchen Dingen urteilen dürfen, sind nur abstrakte Möglichkeiten seines Wesens unrealisiert geblieben (was sozu- sagen nur ein logischer, aber kein vitaler oder metaphysischer Aus- fall ist) , seine konkreten Möglichkeiten aber hat er ausgeschöpft und brauchte ihretwegen nicht ,,in die Ewigkeit zu schweifen". All diese in seiner ,,Idee" angelegten und näher zu ihr, als irgend sonst, anschaubar gewordenen Vollendungen kann man nun endlich als die der reinen, durch keinen speziellen Inhalt differenzierten Menschlichkeit überhaupt ansprechen. Wir emp- finden seine Entwicklung als die typisch menschliche ,,auf deinem Grabstein wird man lesen: Das ist fürwahr ein Mensch gewesen", in gesteigerteren Maßen und klarerer Form zeichnet sich an ihm, in und unter all seinen Unvergleichlichkeiten, die Linie, der eigentlich jeder folgen würde, wenn er sozusagen seinem Menschentum rein überlassen wäre. Auch daß er in Vielem ein Kind seiner Zeit war und historisch überwunden ist, gehört dazu: denn der Mensch als solcher ist ein historisches Wesen, und sein allen andern Wesen gegenüber Einziges ist, daß er zugleich ein Träger des Überhistorischen in der Form der Seelenhaftigkeit ist. Gewiß ist Unklarheit und Mißbrauch genug an den Begriff des ,, Allgemein-Menschlichen" gebunden worden. Es ist auch vergebens, ihn analytisch aus den Individuen heraus abstrahieren zu wollen. Er geht vielmehr auf eine noch wenig unter- suchte und auch hier nicht näher zu untersuchende, praktisch aber fortwährend ausgeübte Fähigkeit unsres Geistes zurück: in einer vorliegenden, insbesondere seelischen Erscheinung un- mittelbar zu unterscheiden, was ihr rein Individuelles und was ihr Typisches, aus ihrer Art oder Gattung ihr Zukommendes ist;

264 Das Allgemein-Menschliche als individuelles Leben

durch einen intellektuellen Instinkt oder durch die Wirksamkeit einer Kategorie spüren wir an gewissen Seiten einer mensch- lichen Erscheinung ein Schwergewicht, ein breiteres Hinaus- greifen über dies einmalige Vorkommen, das wir als das Allge- mein-Menschliche bezeichnen und mit dem wir ein dauerndes Besitztum oder Entwicklungsgesetz der Gattung Mensch, einen zentralen Nerv, der ihr Leben trägt, meinen. Und dies ist nun das unsäglich Tröstende und Erhebende der Erscheinung Goethe: daß einer der größten und exzeptionellsten Menschen aller Zeiten genau den Weg dieses Allgemein-Menschlichen gegangen ist. In seiner Entwicklung ist nichts von dem sozusagen Monströsen, qualitativ Einsamen, mit nichts in Parallele zu Stellenden, das der Weg des großen Genies so oft zeigt, mit ihm hat das schlecht- hin Normale erwiesen, daß es die Dimensionen des ganz Großen aus- füllen kann, das ganz Allgemeine, daß es, ohne sich selbst zu verlassen, zu einer Erscheinung von höchster Individualität werden kann. Alles untergeistige Wesen steht jenseits der Frage von Wert und Recht, es i s t schlechthin. Höhe aber und Be- drängnis des Menschen preßt sich in die Formel zusammen, daß er sein Sein rechtfertigen muß. Er glaubt das dadurch vollbracht, daß er, über das Allgemeine der menschlichen Existenz überhaupt hinaus einen einzelnen Inhalt ihrer zu einer Vollendung bringt, die sich an einer sachlichen, nur für diesen Inhalt geltenden Skala mißt : einen intellektuellen oder religiösen , einen dy- namischen oder gefühlshaften, einen praktischen oder künst- lerischen. Goethe aber hat das höchste Beispiel einer unend- lichen Annäherungsreihe in der Summe und Einheit seiner Leistungen, in deren Verhältnis zu seinem Leben, in dem Rhyth- mus, der Xönung, der Entwicklungsperiodik dieses Lebens, das allgemein und absolut Menschliche jenseits oder über all jenen einzelnen Perfektionen nicht nur als Wert gefordert, sondern als Wert gelebt: er ist die große Rechtfertigung des bloßen Menschentums aus sich selbst heraus. Er be- zeichnet einmal als den Sinn aller seiner Schriften ,,den Triumph des Rein-Menschlichen"; es ist der Gesamtsinn seiner Existenz gewesen.

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