GRIECHISCHE

KUNSTGESCHICHTE

VON

HEINRICH BRUNN

NACHGELASSENE THEILE

HERAUSGEGEBEN

VON

A. FL ASCH

ZWEITES BUCH

DIE ARCHAISCHE KUNST

MbNCHEN 1897

VERLAGSANSTALT F. BRUCKMANN A.-G.

GRIECHISCHE

KUNSTGESCHICHTE

VON

HEINRICH BRUNN

NACHGELASSENE THEILE

HERAUSGEGEBEN

VON

A. FL ASCH

ZWEITES BUCH

DIE ARCHAISCHE KUNST

MÜNCHEN 1897

VERLAGSANSTALT F. BRUCKMANN A.-G.

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https://archive.org/details/griechiscliekunst02brun

Vorwort.

Es sind nun nahezu vier Jahre, dass Heinrich Brunn das erste Buch einer griechischen Kunstgeschichte veröffenthcht hat, mit deren Ausführung man ihn schon lange Zeit beschäftigt wusste. Die in der Vorrede ausgedrückte Hoffnung, »nach dem ersten die weiteren Bücher in nicht zu langen Zwischenräumen zu gutem Ende zu führen«, sollte leider nicht in Erfüllung gehen. Von der Krankheit, die den greisen Gelehrten eben damals ergriffen hatte, war ihm eine Genesung nicht beschieden ; das Buch bildet den Abschluss seiner genau über ein halbes Jahrhundert sich erstreckenden litterarischen Laufbahn.

Von der Familie des Verewigten mit der Sichtung und eventuellen Herausgabe des nachgelassenen Manuscriptes betraut, konnte ich nach früherer Kenntniss und nunmehr voller Einsichtnahme zwar nicht im Zweifel sein, dass die in Fülle dort niedergelegten Früchte Brunn'scher Studien der Wissenschaft nicht verloren gehen dürften, über die Form aber, in welcher dieselben darzubieten seien, ist erst nach wiederholtem Erwägen ein Entschluss gefasst worden.

Das Manuscript enthält in sorgsamer, bis auf nebensächliche Dinge druckfertiger Ausarbeitung im grossen Ganzen die Geschichte der griechischen Plastik und Malerei bis um die Mitte des 4. Jahr- hunderts V. Chr., von der Architekturgeschichte wenigstens einen grossen und wichtigen Theil, die Systematik des dorischen und joni- schen Stils und die Betrachtung der erhaltenen Denkmäler älteren Charakters. Allein dasselbe stammt mit Ausnahme einer umfang-

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reicheren Partie der archaischen Plastik, die später umgestaltet worden, aus den siebziger Jahren, derselben Zeit, von welcher an ein Aufschwung der Archäologie datirt ohnegleichen, ein Wetteifer der Kräfte des Spatens und der Geister, durch dessen stetig wachsende Errungenschaften jede ausführlichere Darstellung des griechischen Kunstlebens nach kurzer Frist in vielen Punkten überholt sein, unvollständig und veraltet erscheinen musste.

Wir wissen, dass infolge dessen Brunn, nachdem er in der Ab- sicht, gleich das Ganze zu geben, unterlassen hatte, die fertig gestellten Grosstheile seiner Arbeit zu veröffentUchen, sich genöthigt gesehen hat, die vSchilderung der vorhistorischen Kunst, den Inhalt des ersten Buches, völlig neu zu bearbeiten; und ebenso, dass er angesichts der seinem Plane entgegengetretenen, täghch sich mehrenden Schwierigkeiten sogar die Frage sich vorgelegt hatte, ob er den Gedanken an eine Kunstgeschichte überhaupt noch festhalten sollte. Einmal entschieden, beunruhigte ihn nach Beginn der Edition nichts so sehr, als die Sorge um die Fortsetzung. Jedoch wie sehr er sich auch beeiferte, wenigstens den nächsten Abschnitt der Plastik in einheitlich erneuter Fassung durchzuführen, die Schwere seines Leidens versagte das Ge- lingen. Sollte nun, nachdem es Brunn nicht vergönnt gewesen, sein Ziel zu erreichen, ein anderer, etwa ein befreundeter Schüler, wie es der Unterzeichnete ist, an seine Stelle treten und das Werk, soweit als zusammenhängendes Material vorliegt, nach dem heutigen Stande unseres Wissens, hier beseitigend und verändernd, dort ergänzend, zur Ausführung bringen? Wir mussten uns die Frage verneinen. Das Unternehmen steckt noch in den Anfängen. Das von dem Fortsetzer oder Herausgeber zu leistende Pensum, an sich nicht gering, mühevoller durch die Gebundenheit an den vorhandenen Brunn' sehen Text, würde geraume Zeit in Anspruch genommen haben. Nicht mit Unrecht aber wurde von verschiedenen Seiten betont, es möge nunmehr wenigstens in Bälde das Ganze hervorgegeben werden. Ferner wäre durch eine solche Arbeit eben doch nur em Torso geschaffen worden, an welchem überdies die einzelnen Partieen schwerlich in rechter Harmonie mit einander gestanden hätten, gewiss nicht mit dem bereits erschienenen

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ersten Buch. Drittens leuchtete überhaupt ein, dass ein Interesse der wissen schafthchen Kreise an dem Fortgang der PubHcation doch nur vornehmhch deswegen bestehe, weil es sich eben um Brunn's Arbeit, Brunn's kunstgeschichtliche Darstellung handelt. Aus diesem Grunde ist auch der Nebenweg ins Auge gefasst worden, bei möglichst un- veränderter Wiedergabe der Brunn'schen Ausführungen in reichlichen Anmerkungen oder einer Art von Commentar, sei es unter dem Text, sei es in einem besonderen Anhange, zu jenen Stellung zu nehmen. Allein, wollte nicht etwa nur halbe Arbeit gethan, sondern auch Fehlendes ergänzt werden, so sprachen hiergegen wieder zum Theil die vorigen Argumente, andrerseits die Unerquicklichkeit, die jedem Buche eigen, das inhaltlich Zusammengehöriges getrennt, zersplittert oder gar in Widersprüchen vorführt. vSo ergab sich, da auch der Plan einer Auslese des Anregendsten und noch heute besonders Beachtens- werthen, mit anderen Worten das traurige Geschäft des Auflösens von mühevoll Zusammengewobenem abgelehnt werden musste, als der einzuschlagende Weg die einfache Herausgabe des Nachlasses, ohne weitere Bearbeitung als diejenige, welche durch den Zustand des Manuscriptes erfordert ist und zur Erleichterung des Studiums dienen kann. Auch Abbildungen, wie sie dem ersten Buche beigegeben sind, sollten nun dem Charakter der Ausgabe entsprechender in Weg- fall kommen.

Der Name Brunn bezeichnet einen der mächtigsten Hebel, welche die Archäologie auf den Stand erhoben haben, den sie geg'enwärtig" einnimmt. Brunn's Einfluss und Richtung" wird insbesondere verdankt, dass sie heute im Besitz weit schärferen Rüstzeuges ist, das Ver- ständniss des Künstlerischen in der antiken Denkmälerwelt zu er- schliessen. So wird das Werk, das derselbe auf der Höhe seines Wirkens geschaffen und mit der Eigenart seines Geistes erfüllt hat, ein wichtiges Dokument zur Geschichte der archäologischen Forschung sein; um so mehr als, was hier in Ausführlichkeit und gefeilt er- scheint, den Hauptgedanken und der Methode nach von dem Lehrer Brunn im Laufe der Jahre einer grossen Zahl von Schülern verkündet worden ist, welche die Anschauungen des Meisters verbreiteten, ver-

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wertheten. Aber so verspätet dasselbe nun zu Tage tritt, es wird sich auch heute noch Freunde erwerben und der Wissenschaft Gewinne einbringen vielfältigster Art. Trägt es doch Eigenschaften, deren Wirksamkeit nicht aufgehoben wird durch Irrthümer im Einzelnen und Unzulänglichkeit im Stoffe: Brunn's subtile und lehrhafte, urselbst- ständige Weise der Denkmäleranalyse, dessen Meisterschaft in der Zeichnung künstlerischer Charactere und scharfen Sinn für die bewegen- den Elemente in dem Zusammenhang der Dinge.

Für das vorliegende zweite Buch ist der oben bezeichnete Weg nicht genau, doch im Ganzen eingehalten worden. Da das Material bei dem Tode des Verfassers zum Theil in Umgestaltung begriffen war, so war es nicht immer leicht, mit Eingriffen und Bemerkungen zurückzuhalten. Indessen glaube ich ein unserem Grundsatze noch entsprechendes Maass kaum überschritten zu haben. Die vorgenommenen Aenderungen be- schränken sich auf den Ausschluss weniger Partieen untergeordneter Bedeutung, verschiedene kleinere Zusätze, die Einschiebung einer Reihe von Quellencitaten, hier und dort die Wahl eines anderen Ausdrucks oder einer anderen Wendung. Von einer Notirung der betroffenen Stellen konnte daher abgesehen werden. Auch die Gliederung des Stoffes und die Reihenfolge der Abschnitte ist die Brunn'sche ge- blieben, ausser dass grösserer Uebersichtlichkeit halber eine häufigere Untergliederung eingeführt und in einem Falle statt einer begonnenen Neuordnung die ältere beibehalten wurde. Da Ueberschriften mit nur wenigen Ausnahmen in dem Manuscripte fehlten, so mussten diese, wie die übrigen Inhaltsbezeichnungen, von dem Herausgeber hinzugefügt werden.

Die Niederschrift trägt eine Reihe von kurzen Randnoten in Blei und enthielt mehrere Einlagen von Skizzen. Jene (= Rn.), obwohl keineswegs systematisch gemacht und in der Regel nur in einem Citat oder Stichwort bestehend, schienen nicht unberücksichtigt bleiben zu dürfen und wurden deshalb, äusserlich vervollständigt und, wenn mög- Hch, nach ihrer Absicht interpretirt, in Anmerkung, die Skizzen da- gegen, alle aus des Verfassers letzten Lebensjahren und bisweilen in

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mehrfacher Fassung, etwas bearbeitet und gleich anderen nachträghchen Einsätzen des Verfassers in Textlettern unter dem eigentlichen Texte wiedergegeben.

Zur Erleichterung des Studiums sollen dienen : Citate von Ab- bildungen, namentlich wo bessere als die im Text genannten vor- handen sind, immer auch der Brunn-Bruckmann'schen Denkmälertafeln, die ja mit Rücksicht auf seine Kunstgeschichte von Brunn ausgewählt worden sind ; Verweise darauf, wo Textpartieen sich bereits abgedruckt finden oder aber der Verfasser über denselben Gegenstand sich aus- gesprochen hat. Was sonst noch zugegeben erscheint, will, wie schon die knappe Fassung lehrt, nur als Beiwerk betrachtet sein, sind Winke, die, ohne zu stören, manchem Leser nicht unwillkommen sein werden.

Die Anmerkungen enthalten ausser den Brunn'schen Randnoten nur Zusätze des Herausgebers. Eine äussere Kennzeichnung- dieser durch Hackenklammern schien daher nur in einzelnen Fällen an- gezeigt. Die Angaben über die Abfassungszeiten des Buches und einzelner Theile sind nicht handschriftlichen Ursprungs, beruhen aber doch nicht etwa nur auf Erinnerung oder Kombination, sondern auch auf Aeusserungen Brunn's in dem Briefwechsel zwischen diesem und dem Herausgeber.

Erlangen im Januar 1897.

A. Flasch.

Inhalt des zweiten Buches.

Seite

Vorwort des Herausgebers III

Erster Theil: Aelterer Zeitraum.

Einleitung 3

I. Abschnitt: Die Baukunst.

Nachrichten über die Anfänge der eigentlich griechischen Bauweise 5

Das Schema des Tempels 7

Der dorische Tempel:

1. Systematische Betrachtung lo

2. Denkmäler 30

Der jonische Tempel :

1. Systematische Betrachtung 42

2. Denkmäler 50

Anhang (Profanbauten) 52

II. Abschnitt: Die Plastik.

Die Anfänge der statuarischen Kunst 53

Künstler und Fortschritte um die Mitte des VI. Jahrhunderts 66

Erhaltene Werke:

1. Charaktere und Vorbilder 73

2. Weitere Betrachtung:

A. Statuarische Werke 104

B. Reliefwerke 125

Gesammtbild 145

Zweiter Theil; Jüngerer Zeitraum.

I. Abschnitt (Fragment) : Die Baukunst.

Der entwickelte Dorismus 152

Denkmäler 153

II. Abschnitt: Die Plastik.

Künstler des reiferen Archaismus 160

Erhaltene Werke:

A. Statuarische Werke 172

B. Reliefwerke 199

Ergebnisse 228

Meister der Uebergangszeit:

Pythagoras 242

Kaiamis 252

Schlussbetrachtungen über den sog. archaischen Stil . 263

III. Abschnitt: Die Malerei.

Anfänge 269

Die ältesten Maler 275

ZWEITES BUCH

DIE ARCHAISCHE KUNST

Brunn, Gr. Kiuistgeschichte II.

ERSTER THEIL.')

Aelterer Zeitraum (bis Olymp. 60, 540 v. Clir.).

EINLEITUNG.

Die decorative Kunst war auf dem Boden des Handwerks er- wachsen: sie veredelte und schmückte die Erzeugnisse desselben. Aber wie vollkommen sie auch diesen Zweck erfüllen mochte, so musste sie doch immer in einem gewissen Verhältniss der Abhängig- keit und Dienstbarkeit bleiben. Einen ganz verschiedenen Ausgangs- punkt hat dagegen diejenige Kunst, welche zur Hervorhebung des Gegensatzes als die monumentale bezeichnet werden mag. Auch sie leiht anfangs einem nicht nothwendig in ihr selbst begründeten Zwecke ihre Dienste; aber sie verfolgt dabei sofort ihr eigenes End- ziel, einen Gedanken, eine Idee an und für sich in künstlerischer Form darzustellen, ein Kunstwerk zu schaffen, welches, wenn auch zunächst in noch so roher Ausführung, die Berechtigung seiner Existenz in sich selbst trägt. Die Anregung zu solchem künstlerischen Schaffen giebt die Religion. Nachdem sich aus den alten Naturreligionen die Idee persönlicher Götter entwickelt, diese Persönlichkeiten sich mit einem ethischen Inhalte erfüllt und ihr Cultus in festeren Formen aus- gebildet hat, treten allmählich zwei Forderungen an die Kunst heran : die Person des Gottes in einer ihrer Idee entsprechenden Gestalt im Bilde darzustellen und dieser Gottheit eine ihrer würdige Wohnung

^) Entworfen 1871/72, fertig gestellt 1872/73. Später neubearbeitete Partieen werden ihres Orts bezeichnet werden.

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Einleitung.

ZU bereiten. Ihre Befriedigung finden diese Anforderungen in der statuarischen Kunst und in der T empelarchitektur. Indem dieselben jetzt einer gesonderten Betrachtung zu unterwerfen sind, ist es nöthig, ihre Anfänge bis in eine weit ältere Zeit zu verfolgen, als diejenige ist, bis zu welcher wir bereits die decorative Kunst in ihrer Entwicklung begleitet haben.

ERSTER ABSCHNITT.

Die Baukunst.

Nachrichten über die Anfänge der eigentlich griechischen

Bauweise.

Zwischen der Ausbildung der kyklopischen Bauweise und der eigentlich hellenischen, vorzugsweise am Tempelbau ent- wickelten Architektur weist der Vorrath erhaltener Monumente, wie die schriftliche Tradition eine Lücke auf, welche nicht einmal die Sage auszufüllen versucht hat. In der Sage von den lykischen Kyklopen fanden wir allerdings einen historischen Kern, der aber über die Ge- schichte jener alten Bauweise nicht hinausging. Die beiden mythischen Architekten Trophonios und Agamedes (Overbeck, SQ. 57 66), auf welche die griechische Sage die ägyptische Erzählung vom Schatze des Rhampsinit übertragen hat (Herod. II, 121), weisen in den Nachrichten über die von ihnen erbauten Schatzhäuser ebenfalls auf diese alte Zeit zurück, und auch der delphische Tempel, welchen bereits der homerische Hymnus auf Apollo ihnen beilegt, scheint wegen des aus fünf Steinen errichteten Adyton in architektonischer Beziehung der alten Bau- weise anzugehören. Beachtenswerther erscheint es, dass auch ein Holzbau, der älteste Poseidontempel in Mantinea, auf sie zurück- geführt wird. Auch Dädalus, der allgemeinste Repräsentant ältester Kunstthätigkeit , wird allerdings mit der Architektur in Verbindung gebracht, weniger wegen seiner auf Holztechnik bezügHchen Erfin- dungen , als wegen wirklicher Bauwerke, welche das Alterthum ihm beilegte. Es wurde seiner bereits bei den Nurhagen Sardiniens ge- dacht, und allbekannt ist die Sage von der Erbauung des kretischen Labyrinths. Sonst ist der Schauplatz seiner Thätigkeit vorzugsweise Sicilien. Diodor IV, 78 erwähnt einen Emissar bei Megara, die Be- festigung von Agrigent, warme Bäder bei Selinunt, den Unterbau des Tempels der Aphrodite auf dem Eryx : sämmtlich Werke, welche eine

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Aelterer Zeitraum. Die Baukunst.

Entwicklung griechischer Säulenarchitektur noch keineswegs voraus- setzen. Die Gründung des Apollotempels in Kyme durch ihn darf wohl als Erfindung römischer Dichter betrachtet werden, und seine Thätigkeit in Aegypten beruht gewiss auf falscher Vermischung seiner Person mit Gestalten der ägyptischen Sage. Ebensowenig lehren uns die halb sagenhaften, halb historischen Angaben über die Gründung alter Heiligthümer und Tempel: sie nennen meistens den Gründer, nicht den Architekten und schweigen durchaus über das Architek- tonische der Anlage. Nur wenige Angaben bilden eine Ausnahme. Vitruv erzählt (IV, i, 3), dass Dorus den Tempel der Juno bei Argos „zufällig" dorisch gebaut habe. Andere Städte Achaias seien darin nachgefolgt. Aber erst die Jonier in Kleinasien hätten das älteste Bundesheiligthum des panionischen Apollo nicht nur nach diesen Vor- bildern zuerst dorisch genannt, sondern auch die Verhältnisse dieser Bauordnung zuerst systematisch festgestellt. Ausserdem finden sich einige vereinzelte Notizen bei Pausanias. Auf dem Markt von Elis sah dieser (VI, 24, 9) ein Heroon nach der Weise eines Tempels er- richtet; es war nicht hoch und hatte keine Mauern, Säulen von Eichenholz trugen die Decke. Nach Angabe eines Greises sollte es dem Oxylos, dem Führer der Herakliden in den Peloponnes, geweiht sein. Es war also eine Art Tempel ohne Cella; über die Ordnung der Säulen fehlt auch hier jede Angabe. Auf die gleiche Zeit führen die Nachrichten über den Tempel der Hera zu Olympia, welchen die Skilluntier acht Jahre nach der Gründung der Herrschaft des Oxylos angelegt haben sollten : ,,Die Ordnung des Tempels ist dorisch. Säulen stehen rings um ihn herum; im Opisthodomos ist eine Säule von Eichenholz. Die Länge des Tempels beträgt 63 Fuss . . Der Architekt ist nicht bekannt": Paus. V, 16, i. Hier ist allerdings von dorischer Ordnung die Rede. Aber sah wirklich Pausanias den ältesten Tempel, und nicht einen späteren Umbau? Die eine hölzerne Säule, die offen- bar einen Rest der ursprünglichen Anlage bildete, lässt das Letztere vermuthen, so dass auch hier ein älterer Holzbau vorauszusetzen ist,^) wie bei der Halle des Oxylos und sonst noch bei dem Hause des Oinomaos zu Olympia (Paus. V, 20, 6) und bei einem Tempel in

^) Am Rande ist auf die Ausgrabungen von Olympia und die Verschiedenheit der Formen an den zu Tage gekommenen Säulentrümmern des Heraion verwiesen. Die Fund- thatsachen stellen nämlich ausser Zweifel, dass die Säulen des Tempels in der That ur- sprünglich alle aus Holz gewesen und erst im Verlaufe der Zeit, je nachdem sie untauglich geworden, durch Steinsäulen ersetzt worden sind.

Das Schema des Tempels.

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Metapont, dessen Säulen aus Rebenholz waren (Plin. 14, 9). Schon bestimmter lautet eine weitere auf Olympia bezügliche Nachricht bei Pausanias VI, 19, 2 : „Das Schatzhaus der Sikyonier ist von dem Tyrannen Myron geweiht, welcher es wegen eines Sieges im Wagen- rennen in der 33. Ol. erbaute. Er richtete darin auch zwei Gemächer ein, das eine von dorischer , das andere von jonischer Ordnung. Dass sie aus Erz gebildet waren, sah ich selbst, ob aber aus tartessischem, wie die Eleer sagen, weiss ich nicht". Nach der Inschrift waren 500 Talente Erz (c. 13,000 Kilogramm) darauf verwendet. Hier begegnen wir also nochmals, wie an einem Scheidepunkte, der alten Bronze- decoration und zugleich zum ersten Male unzweifelhaft der dorischen und jonischen Ordnung. 1) Nehmen wir dazu noch die chronologisch nicht fixirbare Notiz bei Pindar (Ol. 13, 21), dass der Aetos, das Tempel- giebelfeld, eine Erfindung der Korinther sei (vgl. Welcker, Alt. Denkm. I, S. 3), so sind unsere Nachrichten über die Anfänge der beiden Ord- nungen erschöpft, und es treten uns sofort zwischen Ol. 40 50 die Ruinen sicilischer Tempelbauten entgegen, in denen der dorische Stil und der ganze Schematismus des griechischen Tempelbaues in allen seinen wesentlichen Theilen bereits fest begründet erscheint.

Das ist der Thatbestand, der zuerst in völliger Nacktheit dar- gelegt werden musste, um Klarheit darüber zu erlangen, dass alles, was zur Ergänzung dieser historischen Lücke beigebracht werden kann, mehr oder minder auf Rückschlüssen von dem fertigen Schematismus auf die Ursprünge und Wurzeln desselben beruht und daher nur den Werth von Hypothesen haben kann.

Das Schema des Tempels.

Kein Zweifel ist, dass sich die hellenische Architektur am Tempel- bau entwickelt hat. Der Tempel aber geht aus von dem Bilde und

^) Rn.: 0-d\a)Lioi. [Die von Pausanias erwähnten O-dXajuot waren, wie die Ausgrabungen erwiesen haben, keineswegs architektonische Glieder des Schatzhauses, sondern können nur in demselben aufgestellte Weihgeschenke aediculaartiger Gestalt gewesen sein. Das Schatzhaus selber hat sich als Werk frühestens aus dem Beginn des 5. Jahrhunderts heraus- gestellt. Von den beiden 0-tt\a|Liox aber darf mit Sicherheit nur einer der Epoche des Myron zugeschrieben werden, der kleinere, welcher ausser der Inschrift mit der Gewichts- angabe die von Pausanias gleichfalls angeführte Stiftungsurkunde trug. Und dieser 0-d\a|iioi; ist offenbar der dorische gewesen, jonisch dagegen der undatirte grössere. Für die Uebung der jonischen Version im Peloponnes schon um die Zeit eines Myron von Sikyon ist d^r Bericht des Pausanias also nicht beweisend.]

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Aellerer Zeitraum. Die Baukunst.

der Cella, die nicht etwa, wie die christliche Kirche, die Menge der Gläubigen in sich aufnehmen, sondern das Bild beherbergen, ihm geradezu als Wohnung dienen soll, so dass man sogar sprachlich den Tempelbau als das Umkleiden des Bildes mit einem Tempel bezeichnen konnte (vecov jiepißaXeö^at, jrepiepYdöaöö^ai dydXjaaTi). Dieser Kern, in welchem der wesentliche Inhalt für den Cultus bereits gegeben ist, bedarf aber der Vermittelung mit der Aussenwelt, welche diesem Allerheiligsten ihre Verehrung weiht. Die Lösung dieser Aufgabe ist in der die Cella umgebenden Säulenhalle gewonnen; aber auf welchem Wege?

Hat sich das Schema des griechischen Tempels allmählich aus- gebildet, indem es vom Einfacheren zum Zusammengesetzteren fort- schritt, oder entstand aus einem neuen schöpferischen Gedanken zuerst die Idee des Ganzen, die sich nur nach den besonderen Bedürfnissen unter verschiedenen Modificationen entwickelte?

Beide Ansichten haben ihre Vertheidiger. Die eine geht von der Cella aus, an deren Vorderseite sich durch das Hervorspringen der Seitenmauern (antae) eine Art Vorhalle (pronaos) gebildet habe. Durch Einstellen zweier Säulen zwischen diese Vorsprünge sei zunächst der Tempel in antis entstanden. Indem man hernach vor diesen inneren Porticus eine selbständige Halle von 4 Säulen gestellt, habe man den Prostylos erhalten; durch Hinzufügung einer ihr entsprechenden Halle an der Rückseite der Cella den Amphiprostylos. Die Ausdehnung der Säulenstellung auf die Langseiten der Cella , welche natürlich eine Eronte von 6 Säulen bedingt, habe sodann gewissermassen als Schlussresultat oder Normalschema den Peripteros ergeben, indem sich die noch übrigen Schemata als Erweiterungen oder Zusammen- ziehungen desselben erweisen: so entstehe der Dipteros durch Ver- doppelung der peripteralen Säulenstellung, der Pseudodipteros durch Weglassung der Innern Säulenstellung des Dipteros, der Pseudoperi- pteros durch Wegfall der Säulenhalle an den Längenseiten und An- lehnung der halbirten Peripteralsäulen an die Cellenwand. Das ist scheinbar allerdings eine genetische Entwickelung, aber in Wirklichkeit doch vielleicht nur eine aus den Thatsachen abstrahirte systematische Classification. Ein Hauptmangel dieser ganzen Theorie scheint aber darin zu liegen, dass sie eine mehrmalige successive Wiederholung des schöpferischen Processes voraussetzt, und zwar eine Wiederholung ohne zwingende innere Nothwendigkeit. Denn dass sich z. B. der Amphiprostylos keineswegs als ein noth wendiger, fast selbverständlicher

Das Schema des Tempels,

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Fortschritt aus dem Prostylos ergiebt, lehrt der altitalische Tempel, welcher die Säulenstellung an der Rückseite der Cella principiell ver- meidet und ausserdem auch die Anwendung der Peripteralstellung an den Nebenseiten weit mehr beschränkt, als es in Griechenland der Fall ist. Mag es daher auf den ersten Blick gewagter erscheinen, im Grunde ist es einfacher und naturgemässer, wenn Semper (Der Stil II, S. 409) die Ansicht aufstellt, dass „der volle Peripteros, das ringsum freie Säulendach, als der absolute Ausdruck des neuen dorischen Tempels, als principieller und positiver Gegensatz der templa in antis" durch eine neue, einheitliche Idee wenigstens in seinem allgemeinen Grund- schema ohne jene Vermittlungsstufen geschaffen worden sei. Die Beweise für die Richtigkeit dieser Hypothese ergeben sich aus der Betrachtung der ältesten Monumente selbst. Denn der Prostylos und Peripteros entwickelten sich so wenig aus dem Antentempel, dass der alte dorische Stil die Anten und mit ihnen die Säulen in antis selbst bei der Cella peristyler Tempel abwirft und sie erst später wieder aufnimmt. Während sodann bei der ersten Hypothese die Säulenstellungen des Peripteros zu den Anten und Antensäulen in einem festen und bindenden Verhältniss stehen und z. B. die zweite und fünfte der Frontsäulen sich gerade in der Verlängerung der Cellen- wände befinden müssten, ist durchaus das Gegentheil der Fall: je älter der Bau, um so unabhängiger sind Cella und Säulen von einander. Die Cellenmauern treten so beträchtlich hinter die Säulen des Peristyls zurück, dass dazwischen fast noch eine zweite Säulenreihe Platz hätte und sich also der Plan dem sogenannten Pseudodipteros bedeutend annähert. Erst nach und nach weiten sich die Dimensionen der an- fänglich schmalen und langgestreckten Cella aus und gehen mit den Säulen bestimmtere Verbindungen ein, aus denen der spätere syste- matisch normale Peripteros entsteht. Wir halten also daran fest, dass das Schema jenes laxeren Peripteros aus dem Genius der Hellenen als ein Ganzes etwa in der Gestalt jenes „zufällig" dorischen argivischen Junotempels bei Vitruv hervorging, ,,aber niemals räumen wir ein, dass dasselbe anders als durch Uebergänge vollständig klaren, in allen seinen Theilen harmonischen Kunstausdruck habe gewinnen können. Vielmehr wurde es concipirt inmitten der Verwirrung aller formalen Elemente, die sich erst nach und nach in den verschiedenen Weisen sondern sollten" (Semper II, 4 1 1).

lO

Aelterer Zeitraum. Die Baukunst.

Der dorische Tempel.

1. Systematische Betrachtung.

Diesen Scheidungsprocess von seinen Anfängen an zu verfolgen, ist bei dem Mangel an beglaubigten Thatsachen bis jetzt wenigstens un- möglich. Wir müssen uns begnügen, aus der schon vollzogenen Scheidung auf die Anfänge derselben zurückzuschliessen, um auf diesem Wege das Wesen der einzelnen Elemente in ihrer ursprünglichen Bedeutung genauer zu erkennen. Dazu aber ist es nöthig, zunächst einen Begriff von dem Aufbau des Ganzen zu gewinnen, wie es als ein wenigstens relativ abgeschlossenes sich in den ältesten erhaltenen Monumenten darstellt.

Wir sind gewohnt, in der hellenischen Architektur drei Ordnungen zu unterscheiden: die dorische, jonische und korinthische, welche natürlich nicht von Anfang an fertig neben einander dastehen, sondern erst das Resultat des organisirenden Geistes sind, der in dem Chaos älterer elementarer Versuche die ordnende Trennung bewirkte. Am frühesten und rationellsten vollzog sich dieselbe im dorischen Stil, auf den sich daher die Betrachtung zunächst zu beschränken hat.

Wir entnehmen den bisherigen Erörterungen den Satz, dass der dorische Tempel sich aus dem Cellenbau und der peripteralen Halle zusammensetzt. Diese beiden relativ von einander unabhängigen Theile verbinden sich zu einer Einheit durch den gemeinsamen in mehrere Stufen gegliederten, niedrigen Unterbau (Stylobat), auf dem sie sich erheben, und durch die gemeinsame Decke nebst dem Dach, so dass man das Ganze passend als einen heiligen Cellenraum unter einem von Säulen getragenen Baldachin bezeichnet hat. Das Tempelhaus, auf der Mitte des Unterbaues errichtet und in seinem Fussboden um eine oder ein paar Stufen über diesem erhoben, gliedert sich in eine längliche Cella, das eigentliche Wohn gemach der im Bilde gegenwärtig gedachten Gottheit, an welches sich häufig noch ein hinterer Raum, eine Art Schatzkammer, das Opisthodomgemach , anschliesst. Nach vorn ist die Cella mit der Säulenhalle durch einen Vorraum verbunden, den Pronaos, der sich nach aussen durch eine Thür oder in ganzer Breite zwischen den Anten meist mit Zwischenstellung von zwei Säulen öffnet. Eine weitere Entwickelung bildet die Hinzufügung einer dem Pronaos ent- sprechenden Opisthodomhalle an der Rückseite. Die Ausdehnung des Cellenbaues bedingt es, dass auch die Peripteralhalle sich in mehr als der doppelten Länge der Fronte, im Verhältniss von 6 zu 13 17,

Der dorische Tempel: Systematische Betrachtung.

entwickelt. An der Säule, die ohne Basis auf dem Rande des Unter- baues ruht, scheidet sich der Schaft und dessen Bekrönung, das Kapitäl. Der Schaft charakterisirt sich als cylindrischer Körper mit 16 20 scharfkantigen, annähernd elliptischen Riefen, den Canellirungen, welcher nicht blos nach oben sich verjüngt, sondern gegen die Mitte zu auch eine leichte Anschwellung zeigt. Nach einem leichten Einschnitt führt eine halsartige schmale Einbiegung (hypotrachelium) zum Kapitäl über, das sich in seiner unteren Hälfte als ein wulstiger, nach oben ausgebreiteter konischer Körper (echinus) darstellt, welcher oben leicht nach innen gebogen, in der Mitte durch den Druck schwellend, an seiner Basis aber zur Verstärkung der Widerstandskraft durch mehrere flache Ringe gewissermassen umschnürt ist. Die Last des Gebälkes, welches zu tragen er bestimmt ist, nimmt er auf durch Vermittelung einer kräftigen, ihn völlig bedeckenden quadratischen Platte (abacus). Auf dieser ruht, von Säule zu Säule gespannt, in mächtigen Balken der Architrav, auf welchem sich der Fries in der zwiefachen Glie- derung der Triglyphen und der Metopen erhebt. Die ersteren reprä- sentiren die Balkenlage, welche quer über dem Bau die Decke zu tragen hat, und erhalten Namen und künstlerischen Charakter durch die senkrechten „Dreischlitze" , welche die Balkenköpfe verkleiden und an die den Architrav krönende Leiste mit Hilfe eines Stäbchens (regula) und der sogenannten Tropfen (guttae) angeheftet sind. Die Zwischenräume zwischen den Balkenköpfen nehmen die ursprünglich offenen Metopen ein, die aber bald mit Platten verkleidet wurden, welche in ähnlicher Weise, wie die Platte über dem Thorbalken von Mykenae, ein geeignetes Feld für Skulpturdecoration darboten. Die letzte Gliederung bildet das als Dachtraufe fungirende Kranzgesims (Y8iöov): über der glatten Friesbekrönung springt die schräg, an- nähernd in der Neigung des Daches zurückgeschnittene Hängeplatte, den Dachsparren entsprechend, vor, welche ihre Verzierung" durch die mit Nägeln oder Tropfen besetzten Dielenköpfe (mutuli, viae) erhält. Nach aussen senkrecht abgeschnitten, ist sie oben mit einem leichten Blattkranz (cymatium) besetzt, über den sich an den Langseiten des Tempels als abschliessendes Glied die Sima, meist mit Löwenköpfen als Wasserspeiern besetzt, erhebt, welche endlich durch die den Hohl- ziegeln der Dachbedeckung entsprechenden Stirnziegel einen krönen- den Schmuck erhält. Auf den Frontseiten fehlt die Sima; denn dort folgt über dem Kymation das Dreieckfeld des Giebels, der nach dem Bilde eines Adlers mit ausgebreiteten Flügeln sogenannte 'Aeroc,

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Aelterer Zeitraum. Die Baukunst.

welcher auf der Spitze und den Ecken seines selbständigen Gesimses durch stark emporspriessende Akroterien sei es in P^orm von Palmetten, sei es von Thier- oder Menschenfiguren einen letzten Abschluss erhält. Wie die Verkleidung der Metopen, so bot auch die Verkleidung der noch mehr nach innen zurückHegenden Giebelfläche ein Feld für plastische Decoration, und wenn auch nicht jedes Giebelfeld den Schmuck einer stattlichen Statuengruppe erhielt, so ist doch kein Zweifel, dass es schon früh zu diesem Zwecke verwendet wurde.

Das sind die Grundformen, welche schon an den ältesten uns erhaltenen dorischen Tempelbauten festgestellt erscheinen und fest- gestellt bleiben, so dass die weitere Entwickelung sich theils auf eine verfeinerte Durchbildung der einzelnen Glieder, theils auf die Modi- fication des Verhältnisses der Theile zu einander, der Säulenweite zur Säulenstärke und Höhe, der Säulenhöhe zum Gebälk u. s. w., be- schränken musste.

Vermuthungen über Herkunft und Genesis des Stils. Bei der Untersuchung der Frage, wo, wie und wann dieser so be- stimmt abgeschlossene Schematismus entstanden sei und sich zu seiner typischen Gestaltung entwickelt habe, ist natürlich der Hypothese ein weiter Spielraum gelassen. An sich ist es gewiss gerechtfertigt, wenn wir da, wo uns der Boden von Hellas selbst keine directe Antwort giebt, unsern Blick über die Grenzen dieses Landes hinaus- schweifen lassen , umsomehr als dasselbe von alten Culturländern nur durch das Meer getrennt liegt, welches auf einer gewissen Cultur- stufe mehr eine Brücke als eine Scheidewand für den Verkehr der Völker bildet.

Vor allen Ländern ist es vornehmlich Aegypten, welches als Sitz der ältesten Cultur stets die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat. Dort finden sich von der zwölften Dynastie an in Felsen- gräbern, namentlich denen von Benihassan, aber auch an anderen Bauten (s. Lepsius, Ann. d. Inst. 1837, p. 65, Mon. II, t. 45; und unter Erweiterung der dort festgehaltenen zeitlichen und räum- lichen Beschränkungen in dem Aufsatz : Ueber einige ägyptische Kunstformen, Abh. d. Berl. Akad. 187 1, S. 13) säulenartige Pfeiler, die man nicht Anstand genommen hat, als protodorisch , als die Urbilder der dorischen Säulen zu bezeichnen. Aus dem vierseitigen Pfeiler ist zunächst durch Abflachung der Kanten eine achteckige, aus dieser weiter eine 16-, selbst 2 4 eckige Säule geworden. Zur Er-

Der dorische Tempel : Systematische Betrachtung.

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höhung der Schattenwirkung bei der schwachen Beleuchtung im Innern der Gräber haben dort die einzelnen Flächen eine schwache Canellirung erhalten; doch ist meist eine der Flächen, zuweilen vier, auf den vier Seiten zur Aufnahme hieroglyphischer Inschriften glatt gelassen worden. Durchweg findet sich eine leise Verjüngung nach oben, aber ohne Anschwellung. Meistens, doch nicht immer dient eine vorspringende Platte als Basis. Ein eigentliches Kapitäl fehlt ; nur eine viereckige Platte von der Breite des Deckbalkens und von diesem nicht getrennt dient zur Vermittelung nach oben. Ueber dem Deckbalken endlich findet sich zuweilen die Andeutung einer Lattendecke. Neben dieser aus dem Felsenbau entstandenen Säule entwickelt sich an freistehenden Bauten eine von ihr durchaus verschiedene Art, welche nach Analogie eines starken Bündels von Stengeln der Papyruspflanze gebildet ist. Un- mittelbar über der Basis stark eingezogen, erfährt sie im unteren Theile eine starke Schwellung. An die Stelle der concaven Canellir- ungen treten die convexen Rundungen der Stengel. Diese selbst aber sind am oberen Ende durch Bänder zusammengeschnürt, und zwischen wSäule und Deckplatte tritt das Kapitäl von hoher, auf der Analogie der Lotosknospe beruhender Form oder auch das Kelchkapitäl. Wir finden also als Elemente, welche der ersten ägyptischen Ordnung und der dorischen Säule gemeinsam sind: die Vielkantigkeit, bei den Griechen freilich meistens in der den Aegyptern fremden Zahl von zwanzig; die Canellirung, aber in verschiedener Durchbildung; die Verjüngung, aber in Aegypten in so schwachem Verhältniss, wie in Griechenland kaum in der spätesten Zeit; endlich den Abacus, aber auch diesen in Griechenland als selbständiges, vom Architrav ge- löstes und weit über ihn vorspringendes Glied. Dagegen fehlt der dorischen Säule die Basis, welche die ägyptische hat, und wiederum jener ägyptischen Ordnung nicht nur die Anschwellung, sondern, was wichtiger ist, das eigentliche Kapitäl, denn das einzige Beispiel, welches Falkener (Mus. of class. ant. I, p. 87) in Karnak gefunden zu haben glaubte, hat sich als eine umgekehrte Basis erwiesen (Arch. Anz. 1863, S. 115). Erst die zweite ägyptische Ordnung hat die Anschwellung sowohl, als das Kapitäl: erstere verstärkt durch eine dem Griechischen fremde positive Einziehung am Stammende, letzteres in einer Knospen- form, welche der dorischen gegenüber ge weisser massen auf dem Kopfe steht. Bei der ägyptischen Felsensäule liegt der Ursprung aus dem Pfeiler deutlich vor Augen, theils in der Zahl der Kanten, theils in der partiellen Beibehaltung nicht canellirter Flächen, wie in dem Abacus;

Aelteier Zeilrauin. Die iJaukunsl.

und mit Recht ist daher schon längst von Lepsius statt der Benenn- ung protodorischer der Name von Pfeilersäulen vorgeschlagen worden. Die dorische Säule ist dagegen von Anfang an als runder, in ihrer Kunstform wahrscheinlich sogar als Hohlkörper gedacht, der nicht nur in sich durch die Entasis den Begriff des Tragens, Druck und Gegen- druck, veranschaulicht, sondern in dem elastischen Echinus und dem breit hervortretenden Abacus seine Function, als Träger eine bedeutende Last auf sich zu nehmen , deutlich ausspricht. Sollen wir nun etwa annehmen, dass die Griechen bei Ausbildung der dorischen Säule auf eine schon seit Jahrhunderten in der Entwickelung stehengebHebene und vorzugsweise in Gräbern vorkommende ägyptische Ordnung zurück- gegriffen und dieselbe etwa durch partielle Verwerthung einiger Ele- mente einer zweiten Ordnung, wie Anschwellung und Kapitäl, zu einem ganz neuen und höheren Leben erweckt haben ? Mir scheint , dass wir durch eine solche Ableitung" dem griechischen Geiste eine weit schwierigere und wunderbarere Arbeit zumuthen , als wenn wir an- nehmen, dass die Griechen allenfalls eine äusserliche Anregung durch Betrachtung ägyptischer Monumente erhalten, sonst aber aus ihrem eigenen künstlerischen Gefühle heraus die dorische Säule als etwas seinem inneren Wesen nach durchaus Neues geschaffen haben.

An diesen Verhältnissen vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass sich ganz vereinzelt (in Bolimnos, Troizene) einige Reste von 8- und löseitigen Pfeilersäulen gefunden haben. Denn an sich kann es keineswegs auffallen, wenn die Hellenen, wie auch wir noch heutzutage, bei kleineren und unbedeutenden Bauten einmal den ab- gekanteten Pfeiler wegen der geringeren Mühe der Arbeit statt der kunstreicheren und kostspieligeren Säule verwendeten. Ob und wie weit ferner mit diesen Pfeilern eine Art Kapitälbildung verbunden war, wissen wir nicht, und endlich sind wir über die Zeit ihrer Ent- stehung völlig im Unklaren, während doch nur ein nachweislich sehr hohes Alter ihnen eine wirklich historische Bedeutung zu verleihen vermöchte.

Von Aegypten wenden wir uns nach Asien, wo für die Urge- schichte des dorischen Stils zunächst zwei von Texier publicirte Felsen- gräber an zwei weit von einander gelegenen Punkten in Betracht ge- zogen worden sind: bei dem lycischen Antiphellos (Asie min. III, pl. 197) ein über jonisirende Pilaster gesetzter dorischer Triglyphenfries nebst einem im Ganzen regulären Gesims, sodann bei dem phrygischen Nakoleia (I, pl. 60) eine Fagade von zwei uncanellirten Säulen in antis

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mit steilem, fast nicht geschweiftem Echinus und Abacus, ziemUch regel- rechtem dorischen Gebälk und Giebel. Ein drittes Felsengrab ist von Perrot (Explorat. arch. de la Galatie, pl. 33) in Cappadocien entdeckt worden. Die drei kurzen und dicken Säulen haben runde Plinthen, die Kapitäle mit schwachem Abacus eine unentwickelte Echinusform, verbinden sich aber mit den Säulen durch einen starken Rundstab. Am Gebälk ist nur ein schwacher Architrav ausgeführt. Es mag hier davon abgesehen werden, dass die Fa^ade von Nakoleia in einer zweiten Publication (bei Steuart, Monuments in Lydia and Phrygia, pl. 12) einen durchaus verschiedenen und wahrscheinlich der Wirklichkeit weit mehr entsprechenden Anblick darbietet (vgl. Sitz- ungsberichte der Münch. Akad. 1872, S. 519). Allein neben der weit überwiegenden Menge von Denkmälern sehr verschiedenen Charakters, besonders in Lycien, treten uns diese Monumente als vereinzelte Aus- nahmen entgegen , welche kaum den Gedanken aufkommen lassen, dass in ihrer Heimath die Wurzeln des dorischen Stils zu suchen sind, und auch hier hindert uns wieder der völlige Mangel eines sicheren Beweises für ein besonders hohes Alter, aus den vorliegenden Elementen bindende Schlüsse zu ziehen. Noch weniger dürfen wir dies bei einigen Gräbern Palästinas thun, unter denen besonders das angebliche Grab des Absalom im Kidronthale genannt wird. Denn was können sie uns über die Ursprünge des dorischen Stils lehren, solang'e noch ein Streit darüber obwaltet, ob sie der in ihrem Namen angedeuteten ältesten, oder, wie andere wollen, einer weit späteren, vielleicht gar erst der römischen Zeit angehören?

So bleiben endlich noch einige Grabanlagen auf Cypern übrig, von denen leider nur eine, und diese durch eine sehr ungenügende Abbildung (Arch. Zeit. 1851, T. 28) etwas genauer bekannt ist. Hier finden sich allerdings Säulen, aber uncanellirt, ein wenig entwickelter Echinus mit Abacus, Architrav und Triglyphenfries, jedoch mit vier Schlitzen und ohne Tropfen. Aber leider fehlt auch hier die sichere Zeitbestimmung, und die ganze Art der Ausführung macht es ausser- dem unmöglich zu entscheiden, wie viel von den einzelnen Formen auf Rechnung einer noch unvollkommenen Entwickelung des Stils, wie viel auf Rechnung einer sehr handwerksmässigen Behandlung zu setzen ist. Mag endlich auch die Gesammtanlage in der Art eines Hofes einen phönicischen Charakter tragen, so haben wir doch gerade in Cypern schon in früher Zeit ein so entschiedenes Eindringen griechischer Einflüsse constatiren können, dass dort die Ausführung

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einer phönicischen Anlage in griechischen Formen durchaus nichts Auffälliges haben würde. Es ist möglich, dass genauere Untersuchungen an Ort und Stelle hier, wie an anderen Orten Asiens noch einmal be- stimmtere Kriterien für eine endgiltige Entscheidung darbieten: für jetzt muss in schärfster Weise betont werden, dass das vorhandene Material selbst zur Aufstellung nur einigermassen gesicherter Hypo- thesen durchaus ungenügend ist. Nur ein Satz wird schon jetzt mit Bestimmtheit ausgesprochen werden dürfen, nämlich dass w^r die dorische Ordnung nicht aus der Kunst eines fremden, sei es des ägyptischen, sei es eines asiatischen Volkes „abgeleitet" zu nermeu berechtigt sind.

Trotz dieser negativen Resultate muss jedoch bestimmt darauf hin- gewiesen werden, dass die Feststellung der dorischen Ordnung nicht die erste künstlerische That des hellenischen Geistes war. Dieser fand vielmehr für die neue Aufgabe eine Reihe künstlerischer Elemente und Formen bereits vor, die sich namentlich durch die Thätigkeit auf dem Gebiete der decorativen Kunst im Einzelnen schon zu einer ge- wissen Selbständigkeit herausgearbeitet haben mochten; und dass sich darunter manche befanden, die ursprünglich aus der Fremde eingeführt waren, kann nicht bezweifelt und auch hinsichtlich Aegyptens zuge- geben werden. Wie aber das Peripteralschema aus einem neuen Gedanken entsprungen war, welcher weder in Aegypten, noch in Asien ein Analogon hatte, so hatten auch jene einzelnen Elemente nur den Werth ^on Material, welches in der dorischen Ordnung durchaus neuen Ideen zu dienen berufen wurde und dadurch auch in seinem eigenen Wesen und in seiner Form vielfache Umwandlungen erfuhr. Wir lernen nun diese Formen meist erst kennen, nachdem sich die Umbildung im Wesenthchen bereits vollzogen hatte, und vermögen also über die ursprüngliche Bedeutung der einzelnen Elemente nur zu urtheilen, indem wir das Organisationswerk der dorischen Ordnung gewissermassen rückwärts bis zu seinen Anfängen vollziehen.

In der Architektur ist mehr als in anderen Künsten das Material von entscheidender Bedeutung für die gesammten Formen, und die Frage, ob der dorische Styl sich aus dem Holz-, oder aus dem Stein - bau entwickelt, verlangt daher nothwendig eine eingehendere Beant- wortung. Bei der Wand der Tempelcella wird Niemand an dem Ur- sprünge aus dem Steinbau zweifeln und etwa an eine Ableitung aus dem in Stein übertragenen Holzfachwerkbau lycischer Gräberfagaden denken wollen. Umgekehrt wird Niemand das Sparrenwerk des

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Daches auf das Steindach zurückführen, wenn auch steinerne Dächer sogar in hochalterthümlicher Bildung noch jetzt auf dem Ocha und bei Stura wirklich vorhanden sind. So haben wir also an verschie- denen Theilen des dorischen Tempels in seinem Urtypus sowohl Stein, als Holz, und es ist also an den übrigen Theilen keines der beiden Materialien an sich weder als einzig berechtigt anzuerkennen, noch von vornherein auszuschliessen. Wir haben vielmehr zu fragen: welches Material ist im einzelnen Falle das einfachste, nach seiner eigenen Natur dem Zweck am meisten entsprechende? Die kyklo- pischen Bauten zeigten, wie man bei der Ueberdeckung der Thür- und Thoröffnungen sich abmühte, der Schwierigkeiten Herr zu werden. Die verschiedenen Constructionsweisen waren sinnreich erfunden; aber es waren schliesslich doch nur Auskunftsmittel, welche aus der Noth eine Tugend machten; und auch sie mussten versagen, wo es sich um Spannweiten von mehr als 15 20 Fuss handelte, die zu bewältigen überhaupt nur unter besonders günstigen localen Verhältnissen, d. h. bei dem Vorhandensein eines passenden Materials möglich war. Es war aber nicht die Art der Griechen, die technischen und constructiven Schwierigkeiten ohne Noth zu erhöhen. Deshalb verwendeten sie wohl ausnahmsweise auf Euböa die dort vorhandenen grossen Platten zu einer eigenthümlichen Dachconstruction; aber bei Homer finden wir in den Wohngebäuden, welche nicht die Solidität der festungsartigen Thore erheischten, die hölzerne Balkendecke. Der Stamm schlanker Bäume scheint von der Natur zum Ueberspannen breiter Räume wie vorausbestimmt. Wo das Holz nicht sofort an Ort und Stelle zu haben war, da bot der Transport auch von grösseren Entfernungen her durchaus nicht solche Schwierigkeiten, wie gewaltige Steinmassen. Es fragt sich also nur, ob die Natur der einzelnen Glieder des dorischen Tempels an sich einer Ableitung aus dem Holzbau widerspricht. Die Verbindung der Säulen durch den der Länge nach über dieselben hingelegten Architrav, die Querlage der Deckenbalken, die Aufrichtung der Dachsparren dürfen wir getrost mit Krell (in der hier mehrfach benutzten Schrift: Geschichte des dorischen Stils, Stuttg. 1870) als zimmermännisch selbstverständliche Proceduren bezeichnen , und die Gliederung des Triglyphenfrieses, dem im Innern der Säulenhalle keine Balkenlage entspricht, würde bei ursprünglicher Steinconstruction keinen verständlichen Sinn haben, während sich der Wegfall jener Balkenlage bei der Uebertragung des ursprünglichen Holzstils in den Steinstil schon aus Gründen der Sparsamkeit sehr wohl erklärt. Ebenso leiten

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die wichtigsten decorativen Glieder, die Triglyphen und die Tropfen- platten, am einfachsten ihren Ursprung aus dem Bedürfnisse des Holz-, nicht des Steinbaues ab. Der Balkenkopf bedarf eines Schutzes gegen den Einfluss der Witterung. Ein einfach vorgenageltes Brett würde leicht Sprünge bekommen oder sich werfen. Um diesem Uebel- stande vorzubeugen, bediente man sich statt eines breiten dreier schmaler Brettchen oder Latten, die man an den Kanten durch Ab- schrägung möglichst dünn machte , ganz ebenso wie z. B. noch heut- zutage an dem Getäfel der Thüren und Schränke, welches die dünnen Füllungen aufzunehmen hat. Die Befestigung aber geschah nicht durch Aufnageln von vorn, sondern vermittelst Holzpflöcken von unten durch die den Architrav krönende Leiste hindurch, woraus sich in einfachster Weise die Entstehung der sogenannten Tropfen erklärt. Eine ähnliche Verschalung ist offenbar auch die Tropfenplatte der Sparrenköpfe; und auch hier spricht schon die technisch schwierige Ausführung der Tropfen in Stein gegen eine ursprüngliche Erfindung derselben für dieses Material.

Der ganze Organismus dieses Gebälkes konnte, ja hat sich wahr- scheinlich zum grössten Theil schon bei dem Wohnhause und der diesem entsprechenden einfachen Cella entwickelt. Seinen eigenthüm- lichen Charakter erhielt aber der Tempelbau durch die Säule, welche daher besonders zu betrachten ist. Es soll nicht geleugnet werden, dass die isolirte Säule schon von Alters her z. B. als Träger religiöser Weihgeschenke verwendet und auch in dieser Function in besonderer Weise künstlerisch durchgebildet werden konnte. Doch kann sie hier ausser Betracht gelassen werden. Denn einestheils gehören die Beispiele, auf die man sich bezogen hat, wie zwei Säulen von der Akropolis zu Athen (Ann. d. Inst. 1841, tav. C; Ross, Arch. Aufs. I, T. 14), nach den Buchstabenformen der Inschriften einer weit jüngeren Zeit an , als die ältesten erhaltenen Tempelruinen , anderntheils be- dingt ihre besondere Verwendung auch besondere Formen. Wie die im ähnlichen Sinne benutzte vierseitige Stele, der freistehende Pfeiler, nichts ist als ein gestrecktes Piedestal, so lassen sich diese Säulen als in die Höhe verlängerte einfüssige runde Tische betrachten, und es ist dadurch bedingt, dass sie einestheils, um fest zu stehen, eine gesonderte Basis haben oder sich am Stammende verbreitern, andern- theils die sie krönende Platte je nach dem Gegenstand, den sie auf- nehmen soll, eine mehr oder minder starke Ausladung erhält. Die Tempelsäule dagegen ist fest an ihre Stelle gebunden und muss

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ausserdem im Stande sein, eine weit grössere Last auf sich zu nehmen. Es ist nun bereits oben der fundamentale Gegensatz zwischen dem abgekanteten Steinpfeiler und der ursprünglich rund gedachten Säule hervorgehoben worden, und selbst die Anhänger der Steintheorie haben nicht umhin gekonnt, die Schwellung und Canellirung der Säule durch die Hinweisung auf die Analogie des canellirten Pflanzen- stengels der Ferula (Silphium, Narthex) zu erklären. Aber gewiss zeigt die älteste dorische Säule, wie wir sie kennen, nicht die Urform, sondern sie hat bereits über das erste Bedürfniss hinaus eine Um- bildung in die eigentliche Kunstform erfahren. Als vordorisch ver- mögen wir wenigstens zwei Elemente historisch nachzuweisen. Das eine ist die Holzsäule, sowohl im homerischen Saalbau, als in den besonders von Pausanias erwähnten Resten (s. o. S. 6); das andere die mit einem allerdings schon in Stein metamorphosirten, aber noch rein decorativen Sphyrelaton überzogene Säule am Schatzhause des Atreus (vgl. Buchl, S. 24). Nach Semper (I, 417) ging nun gemäss dem Princip der Hohlkörper-Construction „in allmähligen Uebergängen die statische Function des Tragens von dem ursprünglichen Holzkern auf die um- gebende Hülle desselben über. Der Kern ward überflüssig, als die metallische Hülle in sich selbst genügende Kraft zum Stützen und Spannen gewonnen hatte. Diesen Hohlkörpertypus behält die Ordnung selbst noch nach ihrer Metamorphose in den Steinstil. Ihre Kunstform ist zugleich aus der Umhüllung und aus der Structur hervorgegangen; beide Gegensätze versöhnen sich in ihr." Als Analogie mögen wir daher die Hinweisung auf jene canellirten Pflanzengebilde gelten lassen; so jedoch, wie der dorische Säulenstamm vor uns steht, ist er gewiss nicht eine Nachahmung derselben, sondern dasselbe Gesetz, welches die Pflanze beherrscht, hat auch in der Säule seine Verkörperung ge- funden: sie löst die Aufgabe, mit möglichst geringem Volumen die relativ grösste Trag- und Widerstandsfähigkeit zu erreichen, und ihre künstlerische Schönheit beruht eben darauf, dass das constructive Ge- setz in ihr als dem activsten Theile des ganzen Baues nicht nur den vollendetsten Ausdruck gefunden, sondern für die Kunstform überhaupt und fast ausschliesslich bestimmend gewirkt hat. Selbst die Canellirung findet in demselben ihre Begründung, indem ein canellirter Körper eine grössere Widerstandskraft zu entwickeln fähig ist, als ein einfach runder. Ihren Abschluss findet die Function der Säule erst in dem Kapitäl; und es ist daher auch hier vorauszusetzen, dass die Form durch die Function bedingt ist. Die Säule soll das Gebälk nicht

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nur tragen, sondern sicher und leicht tragen, und diesem Zwecke dient die doppelte Gliederung des Kapitals. Der Abacus ist nicht, wie in Aegypten, ein mit dem Architrav zusammenhängendes und in seiner Breite durch ihn bedingtes, sondern durchaus unabhängiges Glied, welches nach beiden Seiten hervorgreifend ihm eine breite und sichere Grundlage darbietet. Allein er würde diesem Zwecke nur zum Theil entsprechen, wenn er auf der in ihrem Halse möglichst eng zusammen- gezogenen Säule ohne Vermittelung ruhen sollte. Darum muss sich der Echinus nach oben kelchartig erweitern , um den Druck der auf dem Abacus ruhenden Last mehr allmählich auf den Stamm der Säule überzuleiten. Dort, unmittelbar vor seiner Verbindung mit ihr, wird seine Widerstandsfähigkeit durch die mehrfache Umschnürung wesent- lich verstärkt, während in der oberen Einbiegung der Profillinie sich ein Nachgeben ausspricht, welches den Kontrast der Belastung von oben und des Widerstandes von unten nicht nur mildert, sondern gerade so weit aufhebt, dass an dieser entscheidenden Stelle anstatt starrer Gebundenheit das Gleichgewicht der wirkenden Kräfte einen freien Ausdruck erhält. Allerdings hat man auch hier die Analogie der Pflanzenwelt wieder zu Hülfe gerufen, indem man annahm, dass das Profil des Echinus entweder einen ganz umgebogenen und mit der Spitze seine Wurzel berührenden Blattkranz, oder umgekehrt einen nicht völlig geöffneten Blumenkelch repräsentire, der nur auf den leise nach innen gebogenen Spitzen einem Drucke unterliege. Der Mangel jeder plastischen Andeutung eines Pflanzenornaments beweist aber, dass hier der rein constructive Gedanke in seiner einfachen Linie keine Beeinträchtigung erfahren durfte.^)

^) Die vorstehenden Ausführungen zu ergänzen, sind Skizzen jüngeren Datums bestimmt, deren Inhalt etwa folgender ist:

In den bisherigen Erörterungen haben wir unsere Aufmerksam- keit vorzugsweise darauf gerichtet , den constructiven Werth , be- ziehungsweise die ursprüngliche Bedeutung der einzelnen Glieder und Formen zu ergründen. Sofern aber auch diese Aufgabe befriedigend gelöst sein sollte, so ist doch damit die Frage nach dem Ursprünge des Stiles noch keineswegs beantwortet, und drängt es uns, selbst wenn wir überzeugt sind, dass uns das Material für eine entschiedene Antwort mangelt, Umschau zu halten, ob nicht trotz des Mangels directer Zeug- nisse Thatsachen vorhanden sind, welche die Möglichkeit bieten, eine einigermassen annehmbare Vermuthung über seine Herkunft und früheste Entwickelung auszusprechen.

Eine solche Thatsache haben wir vor allem mit der Erkenntniss

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Erscheinungen, durch das Peripteralschema herbei- geführt. Alle die bisher betrachteten einzelnen Glieder werden sich keineswegs gleichzeitig nebeneinander und durchaus nicht erst am Peripteralschema entwickelt haben. Sie mussten vielmehr damals wenigstens zum grössten Theil schon vorhanden sein, indem sie bei ihrer Verwendung für dasselbe und namentlich bei ihrer Um- bildung in den Steinstil bereits mannigfache Modificationen erfuhren. Dahin gehört z. B. die Uebertragung des ganzen Gebälkschemas auf die Frontseiten des Tempels, sowie das Wegfallen der durch die Tri- glyphen angedeuteten Balkenlage unter der Säulenhalle, während der Tri- glyphenfries zunächst noch an der Cellenwand wiederholt und erst später durch ein einheitliches Friesband ersetzt wird. Dahin gehört ferner die weitere Ausbildung des Frieses im decorativen Sinne, indem die Triglyphen, welche constructiv nur über den Säulen berechtigt waren, eine Verdoppelung in der Weise erfuhren, dass eine zweite über die Mitte eines jeden Intercolumniums gestellt wurde. Im Zusammenhange damit verdoppelten sich natürlich auch die Hängeplatten, ja man ver- folgte den einmal eingeschlagenen Weg noch weiter, indem man in den Zwischenräumen zunächst noch halbe Hängeplatten einschob, später aber durch Ausgleichung der verschiedenen Breiten dahin gelangte, dass jeder Säulenweite zwei Triglyphen und vier Hängeplatten ent- sprachen, nach oben zu also die Gliederung und damit die Leichtig- keit des Eindrucks sich in stetiger Zunahme zeigte.

gewonnen, dass die Hauptformen des dorischen Aufbaues man kann sagen, der ganze Organismus desselben, denn ausgenommen waren nur Cellamauern und Stufenbau nicht anders als aus dem Holzbau hervorgegangen sein können. Darnach hätten wir als erste Ent- wickelungsepoche des dorischen Tempelbaues im grossen Ganzen die Metamorphose des Holzstiles in den Steinstil zu betrachten , die Be- wältigung der Aufgabe, die hergebrachten Holzformen in Stein zu übersetzen und das ursprünglich für den Holzbau bestimmte System den Bedingungen des Steinbaues anzupassen.

Abgeschlossen erscheint dieser Process in der Hauptsache bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. Erhaltene Steinba,uten vom Aus- gange desselben zeigen uns das ganze System fest ausgearbeitet, für alles Wesentliche die Normen vorgezeichnet , so wie sie späterhin geblieben sind. Was aber den Beginn desselben anlangt, so wird man in Anbetracht des Umfangs der zu bewältigenden Arbeit kaum

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Eine Schwierigkeit boten hierbei die Ecken dar. Wenn nämhch die letzte Triglyphe in strenger Regelmässigkeit gerade über die Axe der entsprechenden Säule gesetzt wurde, so blieb an der Ecke selbst ein unmotivirtes Bruchstück einer Metope übrig. Man rückte daher die Triglyphe bis an die Kante hinaus, wodurch freilich wieder die anstossende Metope eine zu grosse Breite erhielt. Doch Hess sich diese Unregelmässigkeit durch eine dem Auge nicht auffälHge Modification der Eintheilung um so leichter ausgleichen , als die Breite des ge- sammten Intercolumniums aus anderen Gründen eine nicht unwesent- liche Schmälerung erfuhr.

Optisches und Curvatur der Horizontalen. Es handelt sich dabei um eine Reihe von Verfeinerungen, die auf einer sehr eingehenden Beobachtung optischer Gesetze oder vielmehr optischer Täuschungen beruhen, deren theoretisches Verständniss erst in neuester Zeit, namentlich durch einen Aufsatz von A. Thiersch, erschlossen worden ist (»Optische Täuschungen auf dem Gebiete der Architektur«, in Erbkam's Zeitschrift für Bauwesen 1873, S. 9). Schon Vitruv (III, 3, Ii) weist daraufhin, dass den Ecksäulen eine grössere Stärke zu geben sei , indem sonst das von mehreren Seiten wirkende Licht ihr Volumen zu schmälern scheine. Man dehnte aber dieses Princip, natürlich in gemässigterer Anwendung, auch noch auf die zunächst- stehenden Säulen aus, und während auf diese Weise die Stärke der Säulen

irren, wenn man ihn zum mindesten noch ein weiteres Jahrhundert hinaufdatirt.

Aber auch über das Woher der Bauweise sind wir nun in der Lage, eine Vermuthung auszusprechen, die weiterer Prüfung nicht un- würdig scheint. Es darf als Thatsache gelten, dass der Urtypus des griechischen Tempels, der Behausung des Gottesbildes, mit der Gestalt des ältesten Wohnhauses, des einfachen Bauern- oder auch Hirtenhauses, zusammenfällt. In südlichen Ländern nun ist das Wohnhaus wesent- lich Mauerbau, wenn nicht in Wölbeform, so durchgängig flach ein- gedeckt, ohne Giebelanlage. In nordischen waldreicheren Gegenden treten dagegen die Elemente des Holzbaues entschieden in den Vorder- grund. Noch heutzutage finden sich an dem nordischen Bauern- haus, namentlich in den Alpenländern, das weit vorspringende Giebel- dach mit Traufanlage und reichem Sparrenwerk, auch hölzernen Pfeilern oder Säulen zur Stützung desselben, finden sich ferner jene Ver-

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nach der Mitte zu abnahm, mussten sich umgekehrt die Zwischenweiten nach aussen zu verringern, ein Verhältniss, welches noch dadurch verstärkt wurde, dass man die Säulen nach aussen etwas näher zusammenrückte.

Durch andere Beobachtungen ist sodann festgestellt worden, dass keine Säule senkrecht auf ihrer Axe ruht, sondern dass sie sämmt- lich etwas nach innen , in der Richtung nach der Cellenmauer , die Ecksäulen natürlich in der Diagonale nach den Ecken derselben, ge- neigt sind, ja dass in gleichem Sinne auch das Gebälk nach oben etwas zurückweicht. Es kommt dabei weniger in Betracht, dass durch solche Anordnung die Widerstandsfähigkeit gegen den vom Gebälk und dem Dache ausgehenden Druck verstärkt wird. Man hat viel- mehr der Thatsache Rechnung getragen, dass bei zwei senkrecht neben- einanderstehenden verjüngten Säulen der Abstand ihrer Axen oben grösser zu sein scheint, als unten. Ausserdem gewinnt das in der Verjüngung der einzelnen Säule sich aussprechende Princip nun auch in der Aufstellung ihrer Gesammtheit eine allgemeine Geltung.

Auf einer andern optischen Thatsache, dass nämlich eine absolut geradlinige Säule mit Verjüngung gegen die Mitte hin zu dünn aussieht, dass also ihre Seiten concav erscheinen, beruht die Entasis, die Schw^ellung der wSäulen gegen die Mitte zu. Sie hat den Zweck, jenen falschen Effect für alle Fälle zu beseitigen, nicht aber, sich selbst bemerkbar zu machen, weshalb sie gerade an den besseren Monumenten so massvoll behandelt ist, dass sie erst durch genauere Beobachtungen nachgewiesen werden konnte.

Schalungen von Balkenköpfen, wie sie zu der künstlerischen Form der Triglyphen geführt haben, so dass wir durch das Gesammtbild, wie durch Einzelglieder unwillkürlich an den griechischen Tempel mit seinem Satteldach, an Einzelheiten seines Gebälkes, ja selbst an die Peripteral- anlage erinnert werden. Im Norden hat demnach der dorische Bau mit Wahrscheinlichkeit seine erste Gestaltung erhalten, schwerlich in dem eigentlichen Hellas. Bestärkt werden wir in dieser Annahme durch den, wie mir scheint, thatsächlichen Zusammenhang der Principien des sog. Dipylonstiles mit jenen des Dorismus. So vollständig beherrschen diesen die Tendenzen jener geometrisirenden und streng regelmässigen, wir können sagen abstrakten Decorationsweise , dass ein engerer chronologischer, wie localer Zusammenhang zwischen dieser und dem dorischen System mit Bestimmtheit angenommen w^erden muss. Im Norden von Hellas aber haben wir auch die Heimath, das Ausgangs- gebiet der Dipylonweise vermuthet [vgl. Buch I, S. 63].

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Hiermit hängt endlich eine in neuester Zeit vielfach erörterte Er- scheinung zusammen, die allerdings bis jetzt nur an einigen Bauten der jüngeren Epoche genauer untersucht, doch des Zusammenhanges wegen schon hier in Betracht gezogen werden muss, nämlich die Curvatur der horizontalen Hauptlinien des Tempels (s. besonders Penrose, An investigation of the principles of Athenian architecture, London 1 85 1 : Boetticher, Bericht über die Untersuchungen auf der Akropolis, Berl. 1862; Ziller in Erbkam's Zeitschr. für Bauwesen 1865, S. 35). Namentlich am Parthenon zu Athen hat sich durch sorg- fältige Messungen herausgestellt, dass die Linie des Gebälks und in analoger Weise auch die Grundlinie, auf der die Säulen ruhen, einen leise nach oben gewölbten Bogen bilden. Man hat geglaubt, diese Erscheinung auf Zufälligkeiten, wie auf eine durch starke Be- lastung verursachte Senkung der Fundamente an den Ecken, zurück- führen zu können. Nach wiederholten Untersuchungen jedoch kann es nicht mehr zweifelhaft sein, dass hier wirklich ein mit äusserster Sorgfalt durchgebildetes System vorliegt. Und in der That, wenn wir sehen, dass die Säulen in ihren Umrissen, wie in ihrer Axenstellung nirgends eine gerade und eine senkrechte Linie darbieten, dass die Stärke und Weite der Säulen aus optischen Gründen bestimmten Mo- dificationen unterworfen werden, so muss sich daraus bei vorurtheils- losem Denken als eine im Grunde selbstverständliche Consequenz er- geben, dass in einem solchen System von Linien für eine abstracte Horizontale kein Platz ist. Es handelt sich auch hier darum, ge- wissen optischen Täuschungen entgegenzuarbeiten. Die gerade Grund- linie eines flachen Giebeldreiecks wird nämlich dadurch, dass das Auge an den Enden durch die Schenkellinien etwas nach oben abgelenkt wird, immer in der Mitte nach unten gesenkt erscheinen. Selbst der blosse Verdacht einer solchen Einsenkung aber genügt, um vereint mit dem Eindruck der auf die Mitte wirkenden Belastung das Gefühl der Nachgiebigkeit hervorzurufen. Damit sie also den Schein der Widerstands- und Tragfähigkeit wiedergewinne, muss sich die Grund- linie etwas nach oben biegen, wobei selbst eine relativ starke Ueber- höhung von dem Auge immer noch als eine reine Horizontale em- pfunden wird. P'ällt nun auch auf den Langseiten die Belastung durch den Giebel weg, so machen sich doch, wo der Horizont tiefer als die obere Kante des Stufenbaues liegt, in der perspectivischen Seitenansicht ähnliche Täuschungen geltend, indem an der dem Auge zunächst liegenden Ecke die Stufenkanten sich zu erheben und in

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einem weniger stumpfen Winkel, als dieser in Wirklichkeit ist, zu- sammenzutreffen scheinen. Auch hier also muss durch eine Depression der Ecken der richtige Eindruck für das Auge wieder hergestellt werden. So bildet das System der Curvaturen den letzten Ab- schluss in der formalen Vollendung des griechischen Tempelbaues. Hier erst erfüllt sich in vollstem Maasse, was schon ein Alter, Damianus Heliodorus aus Larissa, in seiner Schrift über Optik (I, 14) als theo- retische Eorderung ausspricht: „Da die Gegenstände nicht so erscheinen, wie sie wirklich sind, stellt man sie so dar, dass sie nicht die wirklich zu Grunde liegenden Verhältnisse sehen lassen, sondern man verfertigt sie so, wie sie erscheinen sollen. Der Architekt hat ja die Aufgabe, ein Werk harmonisch (eurythmisch) für die Erscheinung zu machen, und er muss so weit wie möglich Gegenmittel für die optischen Täuschungen erfinden, indem er nicht auf die reale (objective) Gleich- mässigkeit und Harmonie, sondern auf die für den Anblick sich er- gebende abzielt." Und mit Recht bemerkt Thiersch am Ende seiner hier nur in ihren Hauptresultaten mitgetheilten Erörterungen: „Un- streitig beruht der steife und ungelenke Eindruck unserer modernen Nachahmungen zum grossen Theil auf der Hintansetzung aller dieser dem Auge schmeichelnden Hilfsmittel, von denen Vitruv III, 3, 13 ganz bezeichnend sagt : „blandimur voluptati visus". ^)

Gliederung und Beleuchtung des Inneren. Nur der Innen- bau bot noch Gelegenheit zu neuen Gestaltungen. So lange der sechs- säulige Peripteros sich innerhalb mässiger Grössenverhältnisse hielt, Hess sich der Cellenraum leicht überdecken, und zu einer mässigen Be- leuchtung genügte das durch die Thür einfallende Licht. In diesen beiden Beziehungen aber entstanden Schwierigkeiten, als nicht nur die Cella selbst sich mehr in der Breite entwickelte, sondern die Tempel überhaupt kolossalere Dimensionen erhielten und dazu die sechssäulige Front mitunter zu einer achtsäuligen erweitert wurde. Die neuen Anforderungen führten zur Ausbildung des Hypäthral- tempels, dessen Existenz trotz der spärlichen Nachrichten der Alten besonders durch die Untersuchungen Böttichers sicher nachgewiesen ist (Der Hypäthraltempel auf Grund des Vitruvischen Zeugnisses

^) [Der Satz, aus dem diese Worte herausgenommen sind, lautet: »Venustatem enim persequitur visus, cujus si non blandimur voluptati proportione et modulorum adjectionibus, uti quod fallit temperatione adaugeatur, vastus et invenustus conspicientibus remittetur aspectus.]

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Aelterer Zeitraum. Die liaukunst.

gegen Prof. L. Ross erwiesen, Potsdam 1847; ^'gl- dazu: Ross in den Hellenika I, i, Halle 1846).^) Durch zwei Säulenreihen wurde die Cella ihrer Länge nach in ein breiteres Mittel- und zwei schmale Seitenschiffe getheilt. Sollten aber die Säulen den inneren Raum nicht zu sehr verengen, so mussten sie von weit geringerem Durch- messer und darum auch weit niedriger sein, als die an den Aussen- seiten des Gebäudes. So ergab sich, um die nöthige Höhe zu er- reichen, die Nothwendigkeit, zwei Reihen übereinander zu stellen, wodurch über den Seitenschiffen Obergeschosse entstanden. Das mittlere Schiff aber blieb hypäthral, d. h. unbedeckt unter freiem Himmel, so dass die ganze Cella eine Art Hof oder Atrium mit Seitenhallen bildete, an dessen Ende der Thür gegenüber das Tempel- bild, natürlich wieder unter schützender Decke, seinen Platz fand. Bis hieher lässt sich die Anordnung an den Resten noch erhaltener Monumente nachweisen. Ob aber der hypäthrale Raum durch einen einfachen Ausschnitt aus dem Dache gebildet, oder ob in der Länge der Cella das Dach auf den beiden Seiten als Satteldach construirt wurde, hat noch nicht festgestellt werden können. Ebenso fehlt noch Gewissheit darüber, ob und wie weit der offene Raum stets unbedeckt blieb, oder für gewöhnlich durch temporäre Vorrichtungen geschlossen werden konnte, die nur bei festlichen Gelegenheiten entfernt wurden. Die Entscheidung aller dieser Fragen ist um so schwieriger, als ja nach der Grösse der Tempel und den besonderen localen Beding- ungen des Cultus verschiedene Auskunftsmittel angewendet werden mochten; und die Erörterung der verschiedenen Möglichkeiten darf hier übergangen werden, indem durch diese inneren Einrichtungen der Cella die allgemeine Anlage des Tempels nicht berührt wird, welche uns hier zunächst beschäftigt.

Polychromie. Noch in den ersten Decennien dieses Jahr- hunderts herrschte die Ansicht, dass sich der plastische Sinn der Griechen nicht nur an solcher rein formalen Vollendung in Architektur und Sculptur habe genügen lassen, sondern dass er eine Verbindung derselben mit farbigem Schmucke principiell vermieden habe; ja man

^) Rn : Dörpfeld, Athen. Mitth. 1891, S. 334 ff. [Der Verfasser hat wohl die Absicht gehabt, zu der nach Durm's Vorgang neuerdings auch von Dörpfeld abgewiesenen Irrlehre, nach welcher alle Tempel, welche Säulenstellungen iin Innern aufweisen, hypaethrale gewesen seien, ii-gendwie Stellung zu nehmen.]

Der (lorische Tempel: Systematische Betrachtung.

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ging so weit zu behaupten, dass die Bemalung Zeichen eines barba- rischen Geschmackes, unter den Griechen also höchstens für die Zeit roher Anfänge zuzugeben sei. Eine genaue Untersuchung der aller- dings spärlichen Reste hat auch dieses Vorurtheil zerstört, und es darf als wenigstens im Princip entschieden gelten, dass die Gesammt- wirkung griechischer Architektur und Sculptur zu einem keineswegs unwesentlichen Theile auf dem Schmucke durch die Farbe beruhte. (Vgl. Hittorf, Restitution du temple d'Empedocle a Selinonte, Paris 1851; Semper, Die vier Elemente der Baukunst, Braunschweig 1851 und das öfter citirte Werk: Der Stil; Kugler, Kl. Schriften I; O. Jones, An apology for the colouring of the Greek court, London 1854; O.Jahn, Aus der Alterthums Wissenschaft, S. 247.) Nur müssen wir von vorn- herein die Idee von uns fernhalten, als ob es sich um eine im engeren Sinne malerische oder durchgeführt coloristische Wirkung gehandelt habe. Um hierüber keinen Zweifel obwalten zu lassen, w^erden wir davon auszugehen haben, dass wir es keineswegs mit einer vollständigen Bemalung, einem Uebertünchen aller Theile ohne Unterschied, sondern mit einer dreifachen Abstufung in der Anwendung der Farbe zu thun haben. Bei der ersten Art handelt es sich kaum um eigentliche Farbe, sondern um einen Farben ton. Die älteste griechische Architektur benutzte zum Bau verschiedene Steinarten, wie die verschiedenen Localitäten sie gerade darboten, von ungleichartigem, oft porösem Ge- füge, von ungleichartigem, indifferentem und schmutzigem Farbenton, Stoffe also , welche vielfach der feinsten Durchbildung der Form Schwierigkeiten darboten oder wegen der Ungleichartigkeit der Farbe die Feinheit der Form klar zu erkennen verhinderten. Ein feiner Stucküberzug gewährte nach beiden Seiten hin Abhülfe: er glich die Ungleichartigkeiten des Stoffes aus und gestattete , ohne die Haupt- formen zu zerstören, noch manche Feinheit im Einzelnen zu deutlichem Ausdruck zu bringen. Ausserdem aber gewann man eine Gleichartig- keit des Farbentones, der indessen nicht durch eine aufgetragene Farbe, sondern durch eine passende Mischung des Stuckes erzielt wurde, so dass dieser gewissermassen eine neue natürliche Steinfarbe darstellte. Der später angewendete Marmor machte wiegen der Fein- heit und Gleichartigkeit seines Kornes den Stucküberzug entbehrlich. Zwar das blendende Weiss verletzt, namentlich im südlichen Sonnenlicht, das Auge; allein es ist gewissermassen nur dem Innern des Steines inhärent, während es auf der Oberfläche durch den Einfiuss von Licht und Luft schneller oder langsamer gebrochen und dadurch die Färb-

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Aelterer Zeitraum. Die Baukunst.

losigkeit in einen Farbenton verwandelt wird: die Kunst verkürzt diesen Process , indem sie durch Beizen , Tränken mit Wachs oder ähnhche Mittel jene harmonisirende Wirkung sofort erzielt. Man könnte also sagen, dass der Stucküberzug und das Beizen den Roh- stoff dem Begriff des Rohen, der Crudität, entziehe und ihn erst zu einem künstlerischen Stoff umschaffe. Dieser einfache Farbenton konnte jedoch nicht für den ganzen Bau genügen; denn ursprünglich war nicht an allen Theilen desselben das gleiche Material verwendet. Es wechselten Stein, Holz, Metall; oder das Holz zeigte hier die Langseite , dort die Stirnseite ; es fungirte endlich in verschiedener constructiver Weise, es scheiden sich tragende und getragene Theile, oder wir sehen hier den Kern, dort die Verschalung und Bekleidung oder etwa den Verschluss einer Oeffnung. Diese Unterschiede für das Auge deutlich und leicht fasslich hervorzuheben, ist der Zweck einer zweiten Anwendung der Farbe. Alles streng Constructive be- wahrt den einfachen Grundton ; alle Verschalungen, wie die Triglyphen und das gewissermassen aufgenagelte Lattenwerk, wurden mit einer wirklichen Farbe gleichmässig überzogen , wobei besonders das Blau angewendet wurde, während eine zweite Farbe, gewöhnlich Dunkel- roth, das eigentliche Füllwerk, wie Metopen und Giebelfeld, zu cha- rakterisiren bestimmt ward. Immer sind diese Glieder vollständig und gleichmässig in ganzer Fläche mit einer und derselben Farbe über- deckt, so dass also durch dieselbe ihre Form auch nicht einmal scheinbar modificirt wird. Erst die dritte Anwendung der Farbe ver- folgt den Zweck, das einzelne Glied in seiner besonderen künstlerischen Bedeutung noch eingehender zu charakterisiren, und zwar durch das aufgemalte ein- und mehrfarbige Ornament, jedoch auch hier durchaus ohne Licht und Schatten, in einfachen, ungebrochenen Farben. Ge- flochtene, gewundene Bänder sind ihrer Natur nach bestimmt zu ver- binden, der Blattkranz zu bekränzen, das Palmettenschema vorzugsweise zu bekrönen. Sie erreichen diesen Zweck, ohne die Form des Gliedes, welches sie schmücken, zu alteriren. Sie dienen lediglich der decorativen Charakteristik. Sie gewinnen in dem Maasse an Umfang und Aus- dehnung, als die Bedeutung der grossen constructiven Hauptgheder- ungen zurücktritt, und entwickeln sich daher an der Aussenseite des Tempels besonders nach oben, gegen das reicher gegliederte Gesims zu.^) Ein noch weiteres Gebiet öffnet sich ihnen an den Friesen, dem

Rn.: Berl. Winckelmannsprogr. l88l [Dörpfeld, Gräber, Borrmann, Siebold, Unter- su hangen über die Verwendung von Terracotten am Geison und Dache griechischer Bauwerke].

Der dorische Tempel Systematische Betrachtung.

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Getäfel der Portiken und der Cella, bis endlich die grossen Flächen der inneren Cella- und Pronaoswände noch ein Feld für die eigent- liche Malerei darbieten, die wohl noch eine Beziehung zur Architektur bewahren muss, aber der Architektur selbst nicht mehr angehört.

So stellt sich uns die Bemalung der Architektur nicht als ein willkürlicher Schmuck dar, sondern als ein rationelles, aus der Innern Natur des Baues selbst hervorgegangenes System, welches die in den Formen ausgesprochenen Gedanken nochmals durch Vermittelung der Farbe in verstärkter sinnlicher Wirkung zur Anschauung bringt, in ähnlicher Weise wie die Musik den Rhythmus der Poesie. Nichts kann uns schlagender den Werth dieser Decorationsweise erkennen lassen, als der Gegensatz, welcher sich nach ihrem Verfalle entwickelt. Die spätere Zeit, besonders die spätrömische, giebt die Flächenbemalung auf und ersetzt die gemalte decorative Ornamentik durch eine Aus- führung derselben in Sculptur. Je mehr sich aber dabei die technische Bravour des Meisseis in kleinlicher Durchbildung in den Vordergrund drängt, um so mehr geht die Uebersichtlichkeit der Hauptformen zu Grunde, und das Ornament, anstatt die Harmonie zu erhöhen und zu vollenden, wirkt geradezu verwirrend und den Gesammteindruck zerstörend.

Die hier gegebene Systematik der Polychromie in der Archi- tektur findet eine weitere Bestätigung darin, dass sie sich ohne Veränderung auf die Polychromie in der Sculptur übertragen lässt. Wie in der Architektur das streng Constructive den einfachen Grund- ton bewahrt , so in der Sculptur das rein constructive Gebilde des menschlichen Körpers ; auch bei ihm kann nicht von eigentlicher Bemalung, sondern nur von einer Beize (|3acpiV) die Rede sein. Den Verschalungen und Verkleidungen entsprechen die Gewänder, Waffen u. dgl. Sie werden in ihren Flächen mit ganzen Farbenlagen über- deckt. Aber auch Haar und Bart als eine natürliche Bekleidung haben Theil an der gleichen Behandlung. Dagegen scheinen andere Einzel- heiten, wie die Augen, die Lippen, die Brustwarzen und etwa die Nägel, in der Natur durch Verschiedenheit der Textur und der Farbe wenigstens nach ihrer äusseren Wirkung wie zum Schmucke des Körpers bestimmt, und ihre polychrome Ausführung in der Sculptur fällt demgemäss der dritten Stufe anheim, welche ebenso wie in der Architektur das auf den einfachen oder farbigen Grund aufgemalte Ornament umfasst. Hierher gehören also ferner die Säume, Borden und Muster der Gewänder, die decorative Ausführung der Waffen und

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Aelterer Zeiuaum. Die IJaukunst.

Attribute, des Kopf- und sonstigen Schmuckes. Diese durchgehende Analogie mit der Polychromie der Architektur zeigt recht deutlich, wie auch in der Sculptur keineswegs eine eigentUch malerische Wirk- ung beabsichtigt war. Vielmehr werden wir beachten müssen, dass in der älteren, wie in der Blüthezcit der griechischen Kunst die Werke aus Marmor, aus Gold und Elfenbein, aus Terracotta (die Bronce kommt hier w^eniger in Betracht) meist in mehr oder weniger enger Beziehung zur Architektur standen. Es war daher nöthig, dass sie auch hinsichtlich der Färbung sich harmonisch in die Umrahmung der Architektur einfügten, dass sich das polychrome System der Architektur auch in der Sculptur fortsetzte. Die Farbe diente also zur Unter- scheidung und feineren Charakterisirung der verschiedenen Stoffe; sie unterstützte die plastische Wirkung durch eine übersichtliche Gliederung der grösseren Massen und verlieh endhch durch die aufgesetzten Or- namente den einfachen plastischen Formen den Reiz der Mannig- faltigkeit.

2. Denkmäler.

AVenn die bisherigen Erörterungen von der Voraussetzung aus- gingen, dass die Idee des vollen Peripteralbaues den Ausgangspunkt der hellenischen Tempelarchitektur bildete, so wurde doch von Anfang an darauf hingewiesen , dass sie erst durch Uebergänge einen voll- ständig klaren, in allen Theilen harmonischen Kunstausdruck gewinnen konnte. In der Zeit, aus welcher die ältesten uns erhaltenen be- deutenden Reste stammen, war das gesammte Schema in allen seinen wesentlichen Theilen bereits typisch so weit festgestellt, wie es in der vorstehenden systematischen Betrachtung dargelegt wurde. Indem es aber auf dieser Stufe bereits das Resultat eines historischen Ent- wickelungsprocesses war, konnte es in dem lebendigen Flusse des hellenischen Lebens nicht auf einem Punkte stehen bleiben und ge- wissermassen dogmatisch erstarren, sondern musste auch fernerem Wechsel, wenn auch zunächst nur in der Gestaltung der einzelnen Theile, unterworfen bleiben. So selbstverständlich diese Annahme erscheint, so ist doch die auf ihr beruhende in strengerem Sinne histo- rische Betrachtung der Architektur noch sehr neu. Es ist Semper's Verdienst, hier der Forschung neue Bahnen eröffnet zu haben, leider nur in zu kurzer und fragmentarischer Weise. Speciell für den dorischen Stil hat auf seinen Grundlagen Krell (Geschichte des dorischen Stils, Stuttg. 1870) weiter zu bauen versucht. Ein auch nur relativer Ab-

Der dorische Tempel : Denkmäler.

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schluss wird sich indessen nur durch eine Reihe sehr eingehender Detailuntersuchungen gewinnen lassen, die nur in einer Geschichte der Architektur als einer besonderen Fachwissenschaft ihre Stelle finden können. Eine allgemeine Betrachtung der Kunst wird nur die Haupt- gesichtspunkte und Resultate, so weit sie bis jetzt feststehen, berück- sichtigen dürfen.

Um für die Beurtheilung des historischen Fortschrittes einen sichern und leicht fasslichen Maassstab zu gewinnen, hat Semper (II, 412) einen Schematismus aufgestellt, den er kurz als die Norm bezeichnet. „Nimmt man drei mittlere Entfernungen, von Säulenaxe zu Säulenaxe gerechnet, als die Basis eines Rechtecks an, dessen verticale Seiten der Höhe der Ordnung, gerechnet von dem Rande der letzten Stufe des Stylobats bis zum obersten Rande des Kymations der Hängeplatte (mit Ausschluss der etwa vorhandenen krönenden Pinnleiste) gleich sind, so bildet dies das von uns sogenannte Nor- malrechteck oder kurz die Norm; Längenmasseinheit dabei ist der halbe untere Säulendurchmesser oder der Model". Vgl. die Dar- stellungen bei Semper a. a. O. : „Die vier inneren durchgezogenen Verticallinien sind die Säulenaxen ; die innere Horizontale bezeichnet das Verhalten der Höhe des Gebälkes zu der Höhe der Säulen." Aus der genauen Beobachtung dieser Norm in Verbindung mit einigen positiven chronologischen Angaben wird sich leicht die ge- sammte Tendenz der historischen Entwickelung in doppelter Richtung ergeben: dass nämlich das liegende Normalrechteck allmählich in ein stehendes übergeht und dass in entsprechender Weise die verhältniss- mässige Höhe der Säulen wächst, die Höhe des Gebälks dagegen abnimmt, dass man in kurzen Worten von schwereren Verhältnissen zu leichteren fortschreitet. Zur Veranschaulichung mögen hier aus der Reihe der von Semper berechneten und danach gezeichneten Normen einige Proben folgen :

1. Tempel D zu Selinus:

16,5 Breite der Norm 9 Säulenhöhe + 4,55 Gebälkhöhe 13,55 Gesammthöhe.

2. Tempel der Athene auf Aegina:

15

10,5 H- 4 - 14,5.

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Aelterer Zeitraum. Die Baukunst.

3. Tempel des Theseus zu Athen:

16

11,25-1-4,1 15,35.

4. Parthenon zu Athen:

14

11,8 + 3>7 = 15.5- Ausser der Norm bietet am dorischen Tempel das Kapital, be- sonders in der Form desEchinus, ein Hauptkriterium für den histo- rischen Fortschritt dar. Letzterer ist in der älteren Zeit flach, weit ausladend und zeigt in der Linie des Profils eine sehr weiche Schwell- ung, während er im Fortschritt der Zeit an Höhe zunimmt, schmaler und steiler ansteigt und in strenger, energischer Spannung dem Drucke von oben Widerstand leistet: Grundverhältnisse," die sich aus der um- fassenden Zusammenstellung in den Tafeln der Krell'schen Schrift leicht ergeben.

Wie früher bemerkt wurde, machte der dorische Stil wahr- scheinlich im Peloponnes die ersten Stadien seiner Entwicklung durch, und in diesem Sinne mag auch der Nachricht Vitruv's (IV, 1,3) über den ältesten argivischen Junotempel ein gewisser historischer Kern nicht abgesprochen werden. Wenn derselbe aber die weitere syste- matische Entwicklung nach Kleinasien verlegt, so vermögen wir diese Behauptung weder zu bestätigen, noch zu verwerfen ; denn nicht dort, sondern im Westen, in Sicilien und Unteritalien finden wir nicht nur die ältesten Monumente, sondern eine reiche, gegen zwei Jahrhunderte andauernde Blüthe, in welcher wir die Entwicklung in ihren ver- schiedenen Stufen so ziemlich von Menschenalter zu Menschenalter verfolgen können. Was sich aus dieser Zeit anderwärts erhalten hat, reiht sich mehr zur Ergänzung an; und erst seit der Zeit der Perser- kriege tritt das griechische Mutterland wieder bestimmt in den Vorder- grund.

Selinus. Es ist für die Feststellung einer chronologischen Grundlage von hoher Bedeutung, dass wir von den Tempeln von Selinus in Sicilien ausgehen dürfen. (Quellenwerke für die Archi- tektur in Sicilien sind: Hittorff et Zanth, Architecture antique de la Sicile, Paris, theilweise schon vor 1835 publicirt, aber erst 1870 [unter Beschränkung auf Segesta und Selinunt] vollendet ; weniger sorgfältig, obwohl vielfach unter Benützung des ersteren Werkes gearbeitet:

Der dorische Tempel : Denkmäler.

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Serradifalco, Antichita della Sicilia, 5 voll., Palermo 1834 42, wo Selinus den zweiten Band einnimmt^). Diese Stadt wurde als Colonie des dorischen Megara Hyblaea in der 37. 38. Olympiade, um 628 v. Chr., gegründet; ihre ältesten Tempel waren also sicher nicht vor Ol. 40 vollendet, ja da man schwerlich sofort bei der ersten Gründung an die Ausführung bedeutender Tempelanlagen ging, so möchte für ihre Erbauung ein freier Spielraum etwa zwischen Ol. 40 50 zu lassen sein.

Von den sechs grösseren, mehr oder weniger erhaltenen Tempeln sind zuerst zwei in Betracht zu ziehen: der nördlichste der Akropolis, bei Hittorf und Serradifalco D, und der ihm zunächst benachbarte, durch seine hochalterthümlichen Metopenreliefs besonders bekannte C. Bei manchen Verschiedenheiten im Einzelnen haben doch beide viele Kennzeichen hohen Alterthums mit einander gemein. Die Anlage der Cella hat noch keine bestimmte Beziehung zur Peripteralstellung der Säulen, und beiden fehlt die Opisthodomhalle. Die Cella von D ist sehr lang gestreckt und auffallend schmal. Die Anordnung des Pronaos mit zwei Säulen in antis und zwei aus den Stirnen der Seitenmauern statt der Anten herauswachsenden Säulen bildet eine so starke Anomalie, dass wohl ein Zweifel an der Ursprünglichkeit dieser Anlage gestattet ist. Die Cella von C ist zwar etwas breiter, aber immer noch langgestreckt, der Pronaos ohne Anten und Säulen nur durch eine breite Thür geöffnet. Dagegen ist die tiefe Vorhalle durch eine der dritten Säule der Langseite entsprechende Säulen- stellung in der Mitte getheilt oder im Verhältniss zu D betrachtet gewissermassen verdoppelt. Gemeinsam ist beiden Tempeln wieder die Anordnung der Hängeplatten, welche über den Metopen erst die halbe Breite haben ; endlich das ungefähre Verhältniss der Säulenhöhe zum Gebälk, wenn auch letzteres bei D noch um etwas schwerer ist. Dagegen tritt in der Norm von C eine schärfere Tendenz hervor, das liegende Rechteck dem Quadrat mehr anzunähern, indem die Säulen enger gestellt, schlanker und weniger verjüngt gebildet sind. Ueber einige relativ junge und daher etwas auffällige Detailformen wird sich erst nach Abschluss der erneuten Untersuchungen, welchen der Tempel jetzt unterworfen wird, bestimmter urtheilen lassen. Dagegen hat sich gerade an diesem Tempel ein Rest hoher Alterthümlichkeit in einer erst neuerlich gefundenen Ecktriglyphe erhalten (Bull, sicil. IV, p. 1 1

^) Rn. : Benndorf, Die Metopen von Selinunt mit Untersuchungen über die Geschichte, die Topographie und die Tempel von Selinus, Berl. 1873. Benndorf a a. O., T. XII, 5 a, 5 b.

Brunn, Gr. Kunstgeschichte II. o

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Aelterer Zeitraum. Die Baukunst.

Während bereits mit grosser Feinheit die verschiedenen Entfernungen und Stärken der Säulen gegen die Ecken zu berechnet sind, um eine richtige Ausgleichung der Triglyphen zu finden, bediente man sich dabei noch des besonderen Auskunftsmittels, die Ecktriglyphe breiter zu bilden, indem man die einzelnen Schlitze noch mit einem besonderen Rande oder Rahmen umgab, welcher oben in der Art eines gothischen Spitzbogens abschliesst. Die Metopen haben bei der engen Stellung der Säulen und der Kräftigkeit des Gebälkes eine hohe und schmale Form, so dass der quadratischen Relieffläche ihrer Sculpturen eine starke Plinthe untergelegt werden musste. Ueber die Reliefs selbst, welche für das hohe Alter des Tempels einen letzten und weil von der Architektur unabhängigen, um so gewichtigeren Beweis liefern, ist bei der Sculptur noch besonders zu handeln.

Ihr Verhältniss zu den Metopenfragmenten eines dritten Tempels, F (bei Hittorff S), des mittleren auf dem Plateau im Osten der Akro- polis, liefert uns den ersten Beweis für die um etwa ein Menschenalter spätere Erbauung dieses letzteren. In der Plananlage hat er mit D und C das Fehlen der Opisthodomhalle, mit D die übermässige Schmal- heit der Cella, mit C die Anlage des Pronaos ohne Anten und Säulen gemein. Auch findet sich an ihm wie bei C die Theilung der Vor- halle durch eine innere Säulenstellung, nur dass an diese der Pronaos zu nahe heranrückt. Die Norm zeigt eine geringe Entwickelung nach der Höhe über C hinaus. Aber indem zugleich die Entfernung der Säulen etw^as zu-, ihre Stärke dagegen abnimmt, und die Höhe bei starker Verjüngung etwas wächst, ohne dass das Gewicht des Gebälkes gemindert wird, muss der Säulenbau einen etwas zu schwachen und gespreizten Eindruck machen. Die Metopen haben wieder die ziem- lich quadratische Form, und als Neuerung und Fortschritt, der von jetzt an consequent festgehalten wird, tritt hier zuerst die Ausgleichung der Hängeplatten auf, die jetzt auch über den Metopen ihre volle Breite erhalten. Das früher behauptete Vorkommen vereinzelter jonischer Elemente wird jetzt geleugnet.

Die ältere Reihe der selinuntischen Bauten beschliesst der so- genannte Zeustempel, G (bei Hittorff T), nach einer neuerlich gefundenen Inschrift wahrscheinlich dem Apollo geweiht. Er ist der grösste aller bisher betrachteten (170' X 3^5') ^^^^ daher nicht sechs, sondern acht Säulen in der Front. In seinem Grundplan offenbart sich eine weit grössere Regelmässigkeit als bisher, und indem die Cellenwände je mit der dritten Säule von den Ecken der Front aus correspondiren,

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darf er geradezu als Pseudodipteros bezeichnet werden. Wir finden hier zuerst eine regelmässige Opisthodomhalle. Vor die Anten des Pronaos aber ist in ziemlich selbständiger Weise in die Vorhalle hinein eine Art Prostylos gebaut, der vier Säulen Front und den Anten gegenüber zwei Säulen Tiefe hat. Die Norm (12 : 13V3) ist auffallend hoch. Doch werden wir in diesem mehr einer späteren Entwickelung entsprechenden Verhältniss kaum ein Abgehen von dem archaischen Schema, sondern nur eine durch die Grösse der Anlage bedingte Modification erkennen dürfen. Die Dimensionen des Baues verlangten zur Vermeidung zu grosser Spannweiten des Gebälkes eine dichtere Stellung der Säulen, während der Eindruck zu grosser Breite und zu gedrückter Verhältnisse gemindert wurde, indem man theils die Säulen- höhe etwas verstärkte, theils dem Gebälk, namentlich dem Architrav, etwas von seiner Schwere abzog. Ebenfalls durch die Grösse bedingt ist die Ausbildung der inneren Cellenanlage. Sie war nicht vollständig überdeckt, sondern bildete vermittelst einer doppelten Säulenreihe einen dreischiffigen, in der Mitte nach Art eines Atriums oder Hofes offenen, hypaethralen Raum, an den sich statt des Opisthodomgemaches eine der Breite des Mittelraumes entsprechende kleinere Cella anschloss. Gewisse Verschiedenheiten in der Ausführung der äusseren und inneren Säulen und ihrer Kapitäle erklären sich vielleicht daraus, dass der Bau wegen seiner Grösse nicht in allen seinen Theilen gleichzeitig in An- griff genommen und zu Ende geführt wurde.

Metapont. Es Hess sich also in Selinus die Entwickelung des dorischen Tempels vom Anfange der vierziger bis in die sechziger Olym- piaden (etwa 620 520 V. Chr.) verfolgen. Wenn hier innerhalb des nämlichen Stadtgebietes, wo sich leicht gewisse locale Traditionen erhalten, und wo ausserdem das für die Architektur so wichtige Material das- selbe bleibt, sich nur geringe Schwankungen zeigen, so darf nicht die gleiche Consequenz an andern entfernteren Orten erwartet werden. Doch zeigt sich eine grosse Verwandtschaft zunächst in einigen Resten des lucanischen Metapont. Schon um das Jahr 600 v. Chr. zerstört, wurde es bald wieder aufgebaut. Dieser Zeit etwa mag die unter dem Namen der Tavola de' Paladini bekannte Tempelruine angehören (Duc de Luynes, Metaponte, Paris 1833). Leider sind nur 15 Säulen der Langseiten und Stücke des Architravs erhalten, während der Rest des Gebälkes, sowie der Cellenbau völlig zerstört sind. Die weit ge- stellten Säulen bedingen eine breite Norm und erscheinen wegen starker

3*

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Aelterer Zeitraum. Die Baukunst.

Verjüngung nach oben in ihrem unteren Theile sehr schwer. Der Echinus zeigt eine weiche, wulstige Schw^ellung. So ist der Bau in seinen Formen dem Tempel D nahe verwandt und unterscheidet sich von ihm besonders durch die Behandlung des Säulenhalses, an dem ohne Einkehlung die Canellirungen bis unter die Ringe des Echinus fortgesetzt sind. Dieselbe Bildung kehrt, also wohl eine locale Eigen- thümhchkeit, an den spärhchen Tempelresten der sogenannten Chiesa di Sansone wieder. Die Säulen waren hier etwas enger gestellt, der Echinus etwas energischer gespannt. Namentlich aber sprechen für ein jüngeres Alter die schönen gemalten Terracottafragmente der oberen Gesimsbekrönung mit Löwenköpfen und anderer Balken- bekleidungen, an denen Perlen- und Eierstab auf theilweisen jonischen Einfluss hindeuten.

Syrakus. Grössere Abweichungen zeigen die unter dem Namen des Artemis -Tempels bekannten Reste zu Syracus, von denen wir leider auch durch die Ausgrabungen der letzten Jahre nur eine un- vollständige Kenntniss erlangt haben (Schubring im Philol. XXIII, S. 361; Arch. Anz. 1867, S. 60; Serradifalco IV, t. 9). In der Stellung der inneren Säulenreihe der Vorhalle und dem nahen Heranrücken der Cellenmauer an dieselbe zeigt sich eine auffallende Verwandtschaft mit dem Tempel F in Selinus, während die Cella selbst breiter ge- worden und wie bei G in ein rationelles Verhältniss zu den Peripteral- säulen gesetzt ist, ausserdem auch die Säulen in antis nicht fehlen. Der weit ausladende Echinus hat zwar eine etwas alterthümliche, namentlich im oberen Theile wulstige Schwellung, der Säulenhals dagegen nur eine mässige Einkehlung ohne Unterhöhlung der Ringe. Zu diesen auf das Ende der vorliegenden Periode hindeutenden Elementen ge- sellen sich aber einige andere von sehr verschiedener Natur. Die Norm scheint nicht unbedeutend das Quadrat zu überschreiten (Semper II, 425, Anm. i), aber nicht etwa in Folge einer Verstärkung der Säulenhöhe, wie in G, sondern gerade im Gegentheil dadurch, dass die starken, sich mässig verjüngenden und dadurch kurz erscheinenden Säulen so enge aneinander gerückt sind , dass sich die Plinthen der Kapitäle fast berühren. Wenn wegen des hierdurch hervorgerufenen Eindrucks massiger Schwere dieser Tempel früher für einen der ältesten gehalten wurde, so glaubte dagegen Semper hier eine in Ueber- treibung ausartende Reaction gegen die letzte in Selinunt bemerkbare Richtung zu erkennen, welche allerdings zu übermässiger Gespreiztheit

Der dorische Tempel: Denkmäler.

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hätte führen können; zum Theil vielleicht mit Recht. Doch wirkte dabei gewiss sehr wesentlich ein äusserer Umstand mit, nämlich die schlechte Qualität des zur Ueberdeckung grösserer Spannweiten wenig tauglichen Porossteines , welcher olfenbar auch bei anderen Bauten in Syracus die EngsäuHgkeit erklärt. Auf solche constructive Gründe ist es daher auch zurückzuführen, dass an den Langseiten bei einer Säulenstärke von 1,82 m die Zwischen weite nur 1,48 m beträgt, dass sich an der Frontseite dieses Verhältniss zwar etwas günstiger gestaltet (2,00 : 1,70), dass aber endlich, da für den eigentlichen Ein- gang auch dieses Maass zu gering erschien, dem mittelsten Inter- columnium eine Breite von 2,65 m gegeben ist. Von dem Gebälk hat sich ausser dem Architrav leider nichts erhalten, so dass die Frage nach der bei solcher Engsäuligkeit gewiss eigenthümlichen Anordnung des Triglyphenfrieses sich nicht beantworten lässt. Eine sehr ver- stümmelte Inschrift auf einer der Stufen der Vorderseite, der zufolge der Tempel dem Apollo geweiht gewesen zu sein scheint, widerspricht in ihren alterthümlichen Schriftzügen der Annahme nicht, dass der Bau noch in die Periode gehört, welche uns hier beschäftigt.

P äs tum. Schwierigkeiten eigenthümlicher Art bieten zwei in bedeutenden Ueberresten erhaltene Bauten von Poseidonia (Paestum) in Lucanien dar, der kleinere, sogenannte Demeter-Tempel und die Basilica, eine nach Art eines Tempels angelegte Säulenhalle, welche an der Stelle der Cellenwände, mit Ausschluss von vier Pfeilern an den Ecken, eine Säulenstellung,^) ausserdem aber in der Axe des Mittel- raumes zur Unterstützung der Bedachung eine Säulenreihe hat, so dass dadurch auch die Fronte eine ganz ausnahmsweise Breite von neun Säulen hat (vgl. besonders Delagardette, Ruines de Paestum, Paris an VII). Es ist unleugbar, dass die Ruinen, wie sie vor uns stehen, keinen einheitlichen Charakter darbieten, und es begreift sich daher, dass sie, je nachdem der eine oder der andere Theil der cha- rakteristischen Momente betont wurde, von einer Seite in die älteste Zeit, von der andern in die Zeit römischen Einflusses, wenn nicht in das erste, doch in das 2. 3. Jahrhundert v. Chr. gesetzt wurden. Der Tempel, ein Peripteros, zeigt zwar nicht die Schmalheit der Cella, wie CDF in Selinus, aber letztere ist ohne Opisthodomhalle. Der Einbau eines kleinen Cellagemaches in die eigentliche Cella findet in

^) Das einstige Vorhandensein von Wänden ist durch Ansätze gesichert.

f

^8 Aelterer Zeitraum. ])ie liaukunst.

G eine Analogie, ebenso wie die eigenthümliche prostyle vSäulenstel- lung vor dem Pronaos, die hier eine Tiefe von mindestens drei Säulen, jedoch geringeren Durchmessers als die Aussensäulen, hat. Die Norm, bei dem Tempel etwas unter, bei der Basilica wegen der Breite des Baues etwas über dem Quadrat, entspricht weniger den ältesten, als den jüngeren Bauten dieser Periode, ebenso wie das Verhältniss der Säulenhöhe zum Gebälk. Die geringe Weite der sehr kurzen Säulen nähert sich mehr dem Tempel G und dem Tempel in Syracus, als den älteren selinuntischen. Die Entasis an den Säulen ist übermässig ausgesprochen. Am Ende des Säulenschaftes erinnert die scharfe Aus- kehlung allerdings an den alterthümlichen Typus, aber die entschiedene Absonderung derselben von denCanellirungen vermittelst eines schmalen Steges, sodann die plastische Decoration der Kehle, die namentlich an der Basilica in den zierlichsten Palmetten- und Blattornamenten ausgeführt ist, hat in anderen griechischen Bauten keine Analogie, wohl aber nach Krell in den Verzierungen etruskischen Goldschmuckes. Das stark ausladende Kapitäl mit archaisch hohem Abacus zeigt am Echinus der Basilica eine sehr weiche, fast an die ältesten Kapitäle von Metapont erinnernde Schwellung, während er am Tempel fast geradlinig und mit geringer Einbiegung am oberen Theile ausladet. Das Gebälk der Basilica ist ohne Triglyphen, das des Tempels aller- dings für Triglyphen eingerichtet, die aber nicht eingesetzt sind. Ausserdem sind die äussersten nicht, wie gewöhnlich, bis an die Ecken hinausgerückt, sondern es bleibt dort Raum für eine Halbmetope, die sich durch kein älteres Zeugniss als Vitruv (III, 2, 5) belegen lässt. Um von anderen Unregelmässigkeiten zu schweigen, sei nur noch bemerkt, dass sich am Tempel anstatt der Hängeplatten mit ihren Tropfen eingeschnittene Cassettirungen finden, die sogar unter den Dach- schrägen des Giebels wiederkehren, aber sonst erst an dem römisch- dorischen Tempel von Cori aus der letzten Zeit der Republik vorkommen.

Die Lösung der hier angedeuteten Widersprüche scheint sich zum grossen Theil daraus zu ergeben, dass an beiden Gebäuden die über dem Architrav befindlichen Gliederungen aus einem geringeren Material und auch technisch schlechter ausgeführt sind, so dass hier eine Restauration unter römischem Einfluss nicht wohl bezweifelt werden kann. Wenn nun an den übrigen Theilen alle Haupt- und Grundverhältnisse mit dem Charakter der alten Zeit keineswegs in Widerspruch stehen, so gewinnt die von den neueren Forschern nicht beachtete Vermuthung Delagardette's (p. 70) an Wahrscheinlichkeit,

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dass mit der Restauration auch eine Ueberarbeitung der älteren Theile Hand in Hand gegangen sei, dass bei einer erneuten Canellirung zur Verminderung der Schwere der Säulen namentlich der untere und obere Durchmesser geschwächt, die Ürnamentirung des Säulenhalses durchgeführt, und an dem Tempel auch die Profilirung des Echinus stark modificirt sein möge. Auch der Umstand, dass die Pronaos- säulen des Tempels jonisirende Basen haben, dürfte auf Rechnung dieser Restauration zu setzen sein. In ihrer ursprünglichen Anlage werden dagegen beide Bauten etwa dem Ende der hier behandelten Periode angehören, und die Schwere ihrer Säulen kann alsdann zur Bestätigung der schon erwähnten Ansicht Sempers dienen, dass sich gerade damals eine gewisse Reaction gegen eine Tendenz zu über- mässiger Schwächung des Säulengerüstes offenbarte.

Wenden wir uns jetzt von Sicilien und Unteritalien ostwärts, so scheint die eigen thümliche Tempelruine von Cadacchio auf Corfü trotz alterthümlicher Anlage doch der Ausführung nach erst in die folgende Periode zu gehören.

Korinth. Vom griechischen Festlande kommt hier allein der nur in wenigen Säulen erhaltene Tempel von Korinth in Betracht (Blouet, Exped. scient. de Moree III, pl. 77 79^). Wegen der ungewöhnlich niedrigen Norm (etwa 14:12) ward er früher für einen der ältesten Tempel gehalten. Wie aber am Artemistempel von Syracus durch das enge Zusammenrücken trotz der Kürze der Säulen eine hohe Norm entstand, so ist hier ihre Niedrigkeit durch die Kürze der Säulen in Verbindung mit einer von dem Tempel F wenig differirenden Weise der Stellung bedingt. Sehen wir von diesem einen Punkte ab, der sich zum Theil aus der eben erwähnten Reaction erklärt, so werden wir durch alle übrigen Kenn- zeichen, sofern die Vergleichung eines peloponnesischen Werkes mit den Bauten der westlichen Colonien nicht täuscht, durchaus an das Ende der vorliegenden Periode geführt. Noch Stuart sah eine jetzt nicht mehr vorhandene Säule, welche einer Opisthodomhalle mit Säulen in antis angehört, wie wir sie bisher nur in dem grossen Tempel G ge- funden haben und welche ausserdem auf eine breite Cella eines regulär entwickelten Peripteros hindeutet. Unter dem Säulenhals finden sich drei Einschnitte, die ebenfalls nur als auffällige Ausnahme am Tempel C vorkamen. Der Säulenhals ist nicht mehr eingekehlt, sondern ver-

^) Athen. Mitth. 1886, T. 7, 8; S. 297 ff.

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Aelterer Zeitraum. Die Baukunst.

bindet sich durch eine ausgeschweifte Linie mit dem Echinus, welcher zwar noch weit ausladet, aber steiler und energischer ansteigt, indem er in seiner Höhe die Stärke des Abacus übertrifft. Endlich steht nicht, wie bisher immer, die Architravkante lothrecht über dem Rande des Säulenhalses, sondern ist etwas nach aussen gerückt. Alles das sind Elemente, w^elche in der nächsten Periode bald allgemeine Auf- nahme finden.

Assos. Auch Kleinasien bietet in dieser Periode nur wenig Stoff zur Erörterung. Abgesehen von dem ziemlich sagenhaften Tempel des panionischen Apollo bei Vitruv (IV, i, 5) nennt zwar derselbe Autor {Vll, praef. 12) das älteste Heraion von Samos dorisch. Aber nach den wenigen vorhandenen Resten, die bei den Anfängen des jonischen Stils zu besprechen sind , war es jedenfalls kein rein dorischer Bau. So bleibt noch der Tempel von Assos in Troas (Texier, Asie min. II, pl. 108; 112 114^), ein Bau, der wegen mehrerer Besonderheiten einer sehr verschiedenen Beurtheilung unterworfen worden ist. Doch wird wohl zu beachten sein, wie weit durch dieselben die Gesammtanlage, und wie weit nur die Ausführung einzelner Theile berührt wird. Aus dem Umstände, dass Texier keine Spuren von Triglyphen fand, glaubte man folgern zu müssen , dass dem Tempel überhaupt der dorische Fries gefehlt habe. Allein wo über die Existenz der Metopenplatten kein Zweifel obwaltet , wo am Architrav unter dem Abacus die Tropfenleisten, wo vom Gesims die Hängeplatten vorhanden sind, da werden wir auch den Fries in seiner gewöhnlichen Gliederung voraus- setzen müssen und dürfen uns wohl auf den Demetertempel von Paestum berufen, an dem nur der Raum für die Triglyphen gelassen war, diese selbst aber aus irgend einem Grunde nicht zur Ausführung gelangten. Ein Anlass zu einem ähnlichen Verfahren mochte in Assos durch das ungünstige Material geboten sein: eine schwarze Lava, die zur Ausführung feinerer Formen und Modellirungen ganz un- geeignet war. Hieraus erklärt sich gewiss auch das Fehlen der Tropfen unter den Triglyphen und den Hängeplatten. Wie die Porosbauten, erhielt offenbar auch dieser Tempel seine letzte Vollendung erst durch einen feinen Stuccoüberzug ; nur ging man hier noch einen wSchritt weiter, indem man die schwer auszuführenden Tropfen in dem harten Stein nicht einmal anlegte, sondern ganz aus dem leicht zu behandelnden

^) Rn.: Clarke, Papers of the Arch. Inst, of America I; Report on the investigations at Assos 1881, Boston 1882.

Der dorische Tempel: Denkmäler.

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Stucco bildete. Sehr auffällig ist allerdings die an griechischen Monu- menten ganz ungewöhnliche Ausschmückung des Architravs mit Reliefs, und gern kann zugegeben werden, dass hier fremdartige, wahrscheinlich altasiatische Einflüsse eingewirkt haben. In constructivem Sinne ist indessen dadurch nur eine geringe Modification bedingt, indem wegen der Einrahmung der Reliefs an den Ecken der Architrav weiter als sonst, bis nahe an die Kante des Kapitals hinausgerückt wird. Dass endlich die Reliefs selbst keineswegs auf einer so niedrigen Stufe der Entwicklung stehen, wie man bisher angenommen hat, wird später nachgewiesen werden. Für die Zeitbestimmung des Tempels werden also nicht diese Besonderheiten, sondern die allgemeinen Ver- hältnisse des Baues maassgebend bleiben müssen. Sofern nun der Plan bei Texier einigermaassen zuverlässig ist, war er ein Peripteros mit doppelter Säulenstellung in der Fronte^), regulär entwickeltem Cellenbau und Säulen in antis am Pronaos. Aus der etwas anders als bei Semper berechneten Norm ergiebt sich sodann, dass er hin- sichtlich der Weite, Stärke und Höhe der Säulen und, wie es scheint, auch hinsichtlich des Verhältnisses der Säulen zum Gebälk mit dem korinthischen Tempel bis auf geringe Differenzen übereinstimmt. Nur in der starken Schwellung und Verjüngung der Säulen weicht er von ihm ab. Dagegen fehlt wiederum wie bei diesem die Einkehlung des Säulenhalses, indem das Säulenende mit leiser Einbiegung unter den Ringen verläuft. Der Echinus, zwar noch weit ausladend, aber dem Abacus an Höhe wenigstens gleich, hat den Charakter des Wulstigen bereits verloren, und sein Umriss geht, nachdem er zuerst sehr gleich- mässig angestiegen, mit geringer Einbiegung unter die Plinthe zurück. Nach allen diesen Kennzeichen wird also der Tempel von Assos un- gefähr mit dem von Korinth auf gleiche Linie gestellt, d. h. etwa gegen das Ende der vorliegenden Periode gesetzt werden müssen.

Blicken wir jetzt auf den gesammten Verlauf derselben zurück, so werden sich alle bisherigen Beobachtungen leicht einigen allgemeinen Gesichtspunkten unterordnen lassen. Es ist durchaus natürlich, dass auf einem weitausgedehnten Gebiete trotz der generellen Ueberein- stimmung des Stils sich gewisse Abweichungen im Einzelnen geltend machen. Doch scheinen dieselben nur zu einem geringen, und zwar dem sachlich am wenigsten wesentlichen Theile auf individuelle An- schauungen der einzelnen Künstler zurückzuführen zu sein. Schon

^) Die Säulenstellung war thatsächlich nur eine einfache.

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Aelterer Zeitraum. Die Baulcunst.

bedeutender mochte, namentlich an Orten, wo eine sehr rege Bau- thätigkeit herrschte, der Einfluss sein, den gewisse locale Traditionen ausübten, so dass z. B. die an den selinuntischen Tempeln beobachteten Erscheinungen zu einem gewissen Theile ihre Erklärung weniger in der allgemeinen Entwickelung , als in solchen Einwirkungen finden mögen. Nicht minder tief griffen endlich locale Bedingungen anderer Art ein, nämlich die Natur des verwendbaren Materials, durch welches nicht selten bedeutende Modificationen der gesammten Grund- verhältnisse nöthig wurden. So sehr nun alle diese Umstände eine streng historische Betrachtung im Einzelnen erschweren, so ist doch nicht zu verkennen , dass sie den Wandlungen gegenüber in den Hintergrund treten, welche die künstlerischen Anschauungen im Fort- schritte der Zeit erfahren. Mögen auch die Veränderungen von Stufe zu Stufe gering erscheinen und zwischen Anfang und Ende dieser Periode sich nicht gerade principielle Gegensätze zeigen, so ist es doch nicht ungerechtfertigt, wenn man ihren Verlauf in eine Periode des laxen und des streng-en Archaismus hat theilen wollen. In der That zeigt sich im Anfange eine gewisse schwulstige Fülle, ein üppiges Ueberwuchern mancher Elemente, welche erst allmählich ausgeschieden werden und sich zu grösserer Reinheit abklären. Indem man aber dieses Streben nach grösserer Knappheit und Präcision mit einer ge- wissen Einseitigkeit verfolgt, bildet sich dazu wiederum ein Gegensatz aus, der sich scheinbar den früheren vollen Formen wieder annähert, aber an die Stelle üppiger Weichheit eine übertriebene Wucht und Fülle von Kraft setzt. So tritt uns allerdings ein scheinbares Schwanken entgegen. Aber eben darin bereitet sich die Ausgleichung der Gegen- sätze vor, die wir als die Aufgabe der folgenden Periode kennen lernen werden.

Der jonisclie Tempel.

1. Systematische Betrachtung.

Neben dem dorischen Stil entwickelt sich der jonische, wenn auch nicht in seinem Ursprünge gleichzeitig, doch immerhin in sehr alter Zeit: denn schon in dem bald nach Ol. 33 erbauten Schatzhause des Myron in Olympia fand sich neben einem dorischen Gemache auch ein jonisches (Paus. VI, 19, 2)^). Ueber die Ursprünge des Stils herrscht Dunkel, da eine Erzählung Vitruv's (IV, i, 5) nicht Anspruch

^) S. oben S. 7, Anm.

Der ionische Tempel: Systematische Betrachtung.

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machen kann, als historischer Bericht zu gelten. Ihm zufolge über- trugen die um das Jahr 1000 aus Griechenland auswandernden Jonier den altdorischen noch wenig entwickelten Tempelbau nach ihren kleinasiatischen Colonien und gaben ihm am panionischen Apollotempel seine systematische Durchbildung nach Maassgabe der Proportionen des männlichen Körpers. Als sie dann später der Artemis einen Tempel bauten , veränderten sie die Ordnung und stellten den jonischen Stil nach den weiblichen Proportionen fest. Man mag diesen Vergleich gelten lassen, sofern damit nichts weiter als der allgemacinste Eindruck der beiden Ordnungen bezeichnet werden soll. Ausserdem aber weist die Erzählung, wenn auch nicht auf die Ursprünge, so doch auf eine ursprüngliche Gemeinsamkeit hin , aus welcher sich erst in Asien die Ordnungen wie zwei Aeste aus einem und demselben Stamme ab- scheiden. Dieses Gemeinsame kann nichts anderes sein als das Peri- pteralschema ; denn in der Gesammtanlage waltet zwischen beiden Stilen keine principielle Verschiedenheit. Diese tritt erst im Aufbau der Theile hervor, hier aber in durchgreifender Weise.

Die Säule erhält einen Fuss, der Schaft strebt schlanker empor; das Kapitäl bewahrt vom Echinus nur einen Rest und lässt den Abacus zu einer dünnen Platte zusammenschrumpfen; dafür aber tritt zwischen beide das sogenannte Polster mit den aus ineinander geord- neten Spiralen gebildeten Voluten. Im Gebälk erhält der Architrav eine dreifache Gliederung , und an die Stelle des Triglyphenfrieses und der Tropfenplatten tritt zunächst der die horizontale Lattendecke repräsentirende Zahnschnitt, während allerdings wohl schon früh auch ein Fries, aber ohne architektonische Gliederung als einheitliches Band wieder unter ihm eingefügt wurde. So entspricht hier im Einzelnen kein einziges Glied in seiner Form dem des dorischen Baues.

Kritik der Gestaltungen. Wie verhalten sich nun die beiden Stilarten ihrem inneren Wesen nach zu einander? Im Dorismus herrschte ein geschlossenes System, in welchem jeder Theil von dem andern, wie von dem Ganzen abhängig war. Alles Zufällige war im Laufe der Entwickelung ausgestossen worden. Es lässt sich nicht leugnen, dass namentlich in der Bildung der einzelnen Glieder der jonische Stil der individuellen Freiheit des Künstlers einen weit grösseren Spielraum lässt, und hierin hegt wohl der Grund, dass bisher kaum ernstlich die Frage gestellt worden ist, ob er sich nicht ähnlich wie der dorische aus einer einheitlichen Idee in consequenter Folgerichtigkeit entwickelt hat.

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Aelterer Zeitiaum. Die Baukunst.

Auch hier wird von der Säule als dem im constructiven Sinne activsten Theile des Baues auszugehen sein. Die jonische Säule ist nicht peristyl, sondern metastyl, d. h. sie weist nicht, wie die dorische, in der Form ihres Kapitals gleichmässig nach allen vier Seiten hin, so dass sie beliebig ihren Platz an der Front, an den Seiten, oder den Ecken wechseln kann, sondern die Nebenseiten ihres Kapitäls zeigen eine durchaus andere Bildung, als die Frontseiten, so dass sie ur- sprünglich nur in einer Richtung, d.h. neben einander gereiht werden konnten , also nur für Zwischenstützen eines sich öffnenden Raumes, nicht aber für eine Eckstellung sich eigneten. Dadurch wird ihre Function eine wesentlich andere, als die der dorischen Säule. Wir können uns einen dorischen Bau allenfalls auf die vier Ecksäulen redu- cirt denken , und gerade dann wird die Function derselben um so klarer hervortreten. Sie sollen tragen, die ganze Last des Gebälkes mit Dach und Giebel tragen. Um dies zu vermögen, setzen sie sich unvermittelt mit ihrer vollen, relativ breiten Grundfläche auf den Stylo- bat auf. In der Entasis und der Verjüngung nicht weniger, als in der Canellirung offenbart sich das höchste Maass der Tragfähigkeit, während in dem Echinus, welcher die Last von oben vermittelst des breiten Abacus auf sich nimmt , die Widerstandskraft den leben- digsten Ausdruck erhält. Die jonische Säule setzt in ihrer ursprüng- lichen metastylen Anwendung Eckpfeiler (antae) oder Wände voraus, auf denen der überwiegende Theil der Belastung von oben ruht , so dass namentlich das Dach für die Säulen gar nicht in Betracht kommt. Diese dienen nur zur Unterstützung der einfachen Balkendecke, welche sich zum Theil durch ihre eigene Spannung emporhält. Mit allerdings mehr bildlichem als realistischem Ausdrucke könnte man sagen, dass die Säule nur dazu dient, Boden und Decke auseinander zu halten. Sie bedarf also nicht an ihrer Basis des sicheren und unverrückbaren Auflagers, nicht im Körper derselben Tragfähigkeit, nicht im Kapitäl derselben Widerstandskraft. Diese durchaus veränderten Functionen müssen ihren künstlerischen Ausdruck in einer gänzlich veränderten Gliederung finden. Die auseinanderhaltende Zwischenstütze verlangt nicht blos am Kopf-, sondern auch am Fussende eine Vermittelung und findet sie hier in dem abgesonderten Fusse. Die in verschiedener Weise combinirte Verbindung von Wulst (torus) und Hohlkehle (tro- chilus) hebt den starren Gegensatz zwischen Säule und Grundfläche auf. Denn in der sich gleichsam unter ihrer Belastung schwingenden Basis offenbaren sich, wie Semper (II, 242) bemerkt, die drei Thätig-

Der jonische Tempel: Systematische lietrachtung.

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keiten des Aufnehmens, Tragens und Uebertragens der Last, und sie erhält dadurch den sprechenden Ausdruck dienender Unterordnung, der ihr auch bei ihrer reichsten formalen Ausschmückung verbleibt. Der Schaft gewinnt durch einen leichten Auslauf am Fussende einen hinreichend sicheren Stand und wächst bei geringerer Belastung und sehr schwacher Verjüngung schlanker empor. Dieser Eindruck aber erhält noch eine sehr wesentliche Unterstützung durch die veränderte Art der Canellirung. Während bei der dorischen Säule der einfache Umfang des Cylinders noch nicht eine genügende Tragfähigkeit zu entwickeln scheint, sondern durch die schartkantig zusammenstossenden , flach elliptisch eingeschnittenen Canellirungen eine Vergrösserung und dadurch Verstärkung erfährt, tritt in der jonischen die ganze Peripherie nur oben und unten in einem schmalen Ringe einheitlich hervor; als vorwiegend tragend fungiren nur die Stege, welche zwischen den auf 24 vermehrten, schmal und halbkreisförmig eingeschnittenen Canellirungen stehen ge- lassen werden. Denn diese letzteren erscheinen mit Rücksicht auf ihren oberen und unteren Verlauf als eine Zusammenziehung des Säulenkörpers, während in durchaus entgegengesetzter Weise die Zu- sammenschnürung am oberen Ende der dorischen Säule auf eine starke Spannung nach aussen hinweist. So hat denn die Veränderung der Canellirung keinen blos äusserlich decorativen Zweck, sondern sie hauptsächlich verleiht der Säule den Charakter leichten Emporstrebens und mühelosen Tragens. Es leuchtet ein, dass jetzt eine Spannung des Echinus wie im dorischen Kapitäl keine Berechtigung mehr haben kann. Er schrumpft also wie in seiner Bedeutung, so in seiner Form gewissermassen zusammen und wird zu einer blossen Auslad- ung des Säulenstammes, um diesen zur Aufnahme der oberen Glieder geeigneter zu machen; und es entspricht durchaus dieser mehr passiven Function, dass selbst der in seiner Profilirung noch übrig bleibende Rest von Spannung durch die plastische Durchbildung in Form des Eierstabes noch eine weitere Schmälerung erfährt. Dafür tritt zwischen Echinus und Abacus ein neues Glied, welches dem jonischen Kapitäl seine besonders charakteristische Gestalt verleiht : der horizontal liegende ,,Canar', der sich nach beiden Seiten spiralförmig zu zwei starken Voluten zusammenrollt. Die älteren Vergleichungen derselben mit aufgerollten Binden oder gekräuselten Locken können zur Erklärung nichts beitragen. Anderseits widerspricht auch die Ansicht, dass diese Formen, so wohlthuend sie für das Gefühl seien, doch etwas Willkürliches und Künstliches haben und sich nicht mehr einfach

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Aelterer Zeitraum. Die P)aukun.st.

aus dem Bedürfnisse und der Belastung tragender Stoffe erklären, dem auch in seinen freiesten Schöpfungen doch so streng gesetz- mässigen Grundcharakter der griechischen Kunst. Gewiss richtig schildert Semper (II, 441) den Eindruck und die Bedeutung der ent- wickelten jonischen Doppelspirale als ,,abstracten Ausdruck schmieg- sam-elastischer Kraft, die ohne Gewalt Widerstand leistet, die nach- gibt und wiederkehrt, aber stets emporhält", indem sie ,,in mehrmaliger Wiederholung in- und nebeneinander geordnet erscheint". Es ist gewissermassen nur die praktische Veranschaulichung dieses Gedankens, wenn Krell (in der Allg. Bauzeitung 1871) die Grundformen des Volutenkapitäls dadurch erläutert, dass er zwei elastische Federn in- einanderfügt, sie an ihren spiralförmig zusammengebogenen Enden durch ein festes Auge verbindet, die so gebildeten Voluten über den Echinus auseinanderspannt und den sie verbindenden mittleren Theil von oben belastet. Als eine weitere praktische Analogie aus dem heutigen Leben dürften etwa die in verschiedener Länge übereinander geordneten Federn angeführt werden, durch w^elche unsere Kutschen über den Achsen des Wagens schwebend erhalten werden; wenn auch bei ihnen die Voluten fast nur in einer Andeutung vorhanden ind. Dass die griechischen Künstler bei der Ausbildung des jonischen Kapitäls der- artige mechanische Combinationen mit Bewusstsein im Auge gehabt hätten, wird Niemand behaupten wollen. Dageg-en lässt sich nicht leugnen, dass das in ihnen sich aussprechende Gesetz auch in den Formen des Kapitäls sich wirksam erweist. Dasselbe ist nicht mehr, wie im dorischen Echinus, ein actives, gewissermassen kämpfend nach oben strebendes, sondern wie die Basis ein elastisch auseinander- haltendes Glied, welches zugleich die Functionen des Abacus zum grössten Theil übernimmt, so dass dieser, zu einer dünnen, äusserlich gewöhnlich plastisch decorirten Platte zusammengezogen, nur dem Gebälk ein ebenes Auflager darzubieten bestimmt erscheint. Hier im Kapitäl nun findet nicht nur, wie oben bemerkt, der metastyle Charakter der jonischen Säule seinen bestimmten Ausdruck, sondern es tritt zugleich auch die ursprüngliche Unfähigkeit für peristyle An- wendung hervor. Denn selbst bei einer Veränderung der Frontstellung der Kapitale an den Zwischensäulen der Seiten würden doch immer die Eckkapitäle nur in der Seitenansicht sichtbar gewesen sein. Hier also war eine Accomodation nöthig, und man fand sie, indem man

^) Rn.: Puchstein, Das jonische Kapitell, Berl. Winckelmannspiogr. 1887. Weiter ist verwiesen auf die altjonischen Kapitale: Ant. Denkm. I, T. 18 u. 29.

Der jonische Tempel : Systematische Betrachtung.

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das Eckkapitäl gewisser massen aus den beiden im rechten Winkel aufeinanderstossenden, aber in der Diagonale durchgeschnittenen Halb- kapitälen bildete, wobei nur die beiden an der äusseren Ecke aneinander- stossenden Voluten sich ebenfalls auf der Diagonale des Kapitals nach auswärts biegen und dort zusammen in der Art eines Hornes hervor- treten mussten.

Dem metastylen Charakter der Säule entspricht auch das Gebälk. Das zunächst auf ihr ruhende Epistyl hat nicht, wie der dorische Architrav, ein schweres Balkengerüst, sondern ursprünglich nur die wenig lastende Lattendecke zu tragen, welche sich nach aussen durch den sogenannten Zahnschnitt, d. h. die nebeneinander gereihten Köpfe der mehr latten- als balkenartigen Träger der Decke charakterisirt. Auch hier wurden allerding's bei der Uebertragung auf den peripteralen Bau mannigfache, über das ursprüngliche Bedürfniss hinausgehende Modificationen nöthig. Nicht nur war über dem Zahnschnitt, ähnlich wie im dorischen Bau über den Dielenköpfen, eine abschliessende Be- krönung hinzuzufügen, sondern die Analogie des dorischen Stils führte auch darauf, das für grössere peripterale Bauten zu schwach erscheinende Gebälk durch Einfügung eines besonderen, constructiv eigentlich nicht gerechtfertigten Frieses zu verstärken, dem in einer späteren Ent- wickelung zuweilen wiederum der Zahnschnitt wich. Nur fiel natürlich die Gliederung in Metopen und Triglyphen weg, und der Fries er- scheint als einheitliches Band, das nur eine decorative GHederung durch architektonisches Pflanzenwerk oder Figuren in Relief aufzu- nehmen fähig ist. Ausserdem aber musste die feinere plastische Durchbildung des Kapitäls auch auf die Detailausführung des Ge- bälkes zurückwirken, wie es sich sofort in der dreifachen Gliederung des im Dorischen einheitlichen Architravs zeigt. Mehr als die An- nahme, dass diese Eintheilung sich aus der Verkoppelung mehrerer schwächerer Balken erkläre, empfiehlt sich wohl die Voraussetzung eines einheitlichen Kerns, der durch eine dreifache, von oben nach unten abgestufte Verschalung" in seiner structiven Nacktheit dem Auge entzogen und decorativ gegliedert wird. Weiter aber erhält das sonstige Latten- und Riegelwerk der Verbindungsglieder, welches im Dorismus ohne Beeinträchtigung der Form nur durch aufgemalten Schmuck in seinem Wesen näher charakterisirt wird, seine feinere Durchbildung durch Eierstäbe, Blattwerk u. dgl. hier in plastischer Ausführung. Daraus aber ergibt sich wiederum als eine natürliche Consequenz. dass in demselben Maasse, wie das Feld der Plastik sich erweitert,

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Aelterer Zeitraum. Die Baukunst.

das der Malerei an Umfang geschmälert wird. Auf die mannigfachen Modificationen des Einzelnen einzugehen, ist hier um so weniger der Ort, als gerade auf diesem Gebiete sich die weit grössere Freiheit des Jonischen dem Dorischen gegenüber offenbart. An dieser Stelle handelte es sich vielmehr darum, den Nachweis zu liefern, dass sich die gleiche Freiheit nicht auf die Grundlagen des Stils erstreckt, sondern dass sich dieselben, wenn auch etwas weniger streng als im Dorismus, doch aus einer einheitlichen Idee und zu einem bestimmt abgeschlossenen System entwickeln. Hierauf allein, auf dieser inneren Gesetzmässigkeit beruht es, dass das Jonische als ein besonderer, in sich berechtigter Stil neben dem dorischen sich Geltung zu erringen, ja in späterer Zeit sogar erfolgreich mit dem letzteren um die Herr- schaft zu kämpfen vermochte.

Herkunft des Stils. Es bleibt jetzt noch die Frage zu beant- worten, ob dieser neue Stil in ähnlichem Sinne, wie der dorische, als ein reines und selbstständiges Erzeugniss des griechischen Geistes, oder als aus fremden Einflüssen erwachsen zu betrachten ist. Selbst die eifrigsten Vertheidiger ägyptischen Einflusses haben hier auf eine Herleitung aus den Nillanden verzichtet und mit Recht davon abgesehen, etwa das Vor- kommen von Latten decken in den Gräbern von Benihassan (Mon. d. Inst. II, t. 45; O. Jones and J. Goury: Views on the Nile, London 1843) als bestimmendes Vorbild für den jonischen Zahnschnitt hinzustellen. Um so mehr hat man geglaubt, auf Asien hinweisen zu dürfen. Doch ist hier sofort bestimmt zu betonen, dass die Monumente der persi- schen Herrscher, an denen die Säule wenigstens in Saalbauten eine umfassende Anwendung gefunden hat, fast ein Jahrhundert jünger sind, als der jonische Thalamos des Myron in Olympia,^) also für die Ursprünge des jonischen Stils nicht in Betracht kommen können, v/enn nicht vielleicht einzelne Erscheinungen, wie das Vorkommen einer canellirten Säulenbasis, des Zahnschnittes, sogar umgekehrt auf eine bereits beginnende Rückwirkung hellenischen Geistes auf Asien zu deuten sind. Den assyrischen Palästen aber sind sowohl peri- pterale Säulenhallen, als von Säulen gestützte Saalbauten durchaus fremd. Nur in sehr beschränkter Anwendung, fast ausschliesslich als Zwischenstützen der Fensteröffnungen an den oberen Theilen der Wände oder bei kleinen Bauten in antis und daher in mässigen

^) S. oben S. 7, Anm.

Der jonische Tempel : Systematische Betrachtung.

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Dimensionen, lässt sich aus Reliefdarstellungen die Existenz von Säulen nachweisen. Wenn nun hier allerdings ihre metastyle Anwendung Beachtung verdient, so darf doch nicht vergessen werden, dass schon bei Homer Säulen als Stützen von Saaldecken vorkommen, also nicht von einer Uebertragung der Säule an sich, sondern nur von einem Einflüsse ihrer besondern Gestaltung die Rede sein könnte. Die Mög- lichkeit eines Zusammenhanges kann allerdings bei einem Blicke auf den Fuss und das Kapitäl der assyrischen Säule nicht geleugnet werden. Aber auch hier wird, wie bei den dorischen Anklängen im Aegyptischen, zwischen der äusseren Aehnlichkeit der Form und der Verwerthung solcher Formen in dem System der griechischen Ord- nung zu unterscheiden sein. Im jonischen Säulenfuss bildet der Wulst, in dessen Anwendung wohl Assyrien den Griechen voranging, nur ein Element. Aber mag er einfach oder in der Verdoppelung, in grösserer oder geringerer Stärke auftreten, nie erscheint er ohne den Trochilus, und erst durch die Verbindung dieser beiden Elemente er- hält die jonische Basis jenen besonderen bereits oben hervorgehobenen Charakter schmiegsamer Unterordnung. Wie am Fusse der Wulst, so findet sich im assyrischen Kapitäl die Volute wenigstens in ihrer allgemeinen Form. Aber dass sie in doppelter Reihe übereinander- gesetzt, dass sie anderwärts auch in verticalen Verbindungen ge- braucht wird, deutet bestimmt darauf hin, dass sie hier durchaus noch nicht diejenige Bedeutung hat, welche ihr die Griechen zu ver- leihen verstanden haben. Sie steht also etwa auf derselben Linie mit andern Elementen, wie die Palmette, die Rosette, welche aus Asien entlehnt wurden, aber erst der Befruchtung durch griechischen Geist bedurften, um sich in das Ganze eines entwickelten Systems ein- zufügen.^)

Es könnte also höchstens noch die Frage aufzuwerfen sein, ob und wie weit sich etwa bei dieser Geistesarbeit noch andere klein- asiatische Stämme als die Hellenen betheiligt haben. Es ist richtig, dass die Sage von der Thätigkeit lykischer Kyklopen in Mykenae schon in ältester Zeit als auf historischer Grundlage beruhend an- erkannt werden musste. Andererseits wanderten bereits vor dem Jahre looo die jonischen Colonien von Hellas nach Kleinasien und gewannen gewiss auch über die Grenzen ihrer eigenen Nieder- lassungen hinaus auf die benachbarten halbbarbarischen Stämme bald

^) Rn. : J. Lange, Det joniske Kapitaeis Oprindelse og Forhisiorie, Kopenhagen 1877. Brunn, Gr. Kunstgeschichte II. a

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Aelterer Zeitraum. Die Baukunst.

Einfluss. Diese Wechselbeziehungen dürfen bei der Betrachtung ge- wisser jonischer Monumente Kleinasiens nicht übersehen werden, welchen für die Entstehungsgeschichte des jonischen Stils eine vielleicht zu hohe Bedeutung beigelegt worden ist. Es sind die in den Felsen gehauenen Grabfagaden von Telmissos, Antiphellos und Myra in Ly- kien, welche ein jonisches Portal theils mit zwei Säulen in antis, theils von zwei Ecksäulen getragen darstellen (Texier, Asie min. III, pl. 169; 172; 198; 225). Inschriften und Sculpturen, die nur an einem der vier Beispiele fehlen, beweisen unwiderleglich, dass sie keineswegs den Anfängen des jonischen Stils, sondern der Zeit freiester Ent- wickelung der griechischen Kunst angehören. Dennoch mag zugegeben werden, dass sich an ihnen, wie öfter gerade in der Grabarchitektur, manche alterthümliche Elemente erhalten haben, wie sie denn nament- lich hinsichtlich der Frieslosigkeit ihres Gebälkes eine Lücke unserer Ueberlieferung auszufüllen scheinen. Aber ist nun, was sie uns dar- bieten, in seinem Ursprünge wirklich lykisch? Es mag weniger Ge- wicht darauf gelegt werden , dass die Sculpturen des Harpyien- monumentes von Xanthos aus den sechziger Olympiaden, wie wir sehen werden, durchaus griechisch sind. Dagegen scheint es von ent- schiedener Bedeutung, dass neben den wenigen jonischen Fagaden sich weit zahlreichere Felsengräber in Lykien finden, an denen die Holzfachwerk-Construction ganz unvermittelt in den Stein übertragen ist. Diese Monumente von einem, specifisch eigenthümlichen Charakter sind auf die Grenzen Lykiens beschränkt und repräsentiren also un- zweifelhaft die dort einheimische, nationale Bauweise. Sie erhält sich unverändert bis in die alexandrinische Epoche, und es ist also höchst unwahrscheinlich, dass sich dort aus nationalem Geiste ein neuer Stil entwickelt haben soll, der mit dem althergebrachten höchstens in der Balkenlage der Decke eine entfernte Verwandtschaft hat. Die wenigen jonischen Gräber erscheinen daher als Ausnahmen, welche nur aus fremdem Einflüsse sich erklären lassen, und dieser Einfluss wird nach allem, was bisher bemerkt wurde, nur der des reinen Hellenenthums sein können.

2. Denkmäler.

Wenn also der jonische Stil in demselben Sinne wie der dorische ein Produkt des griechischen Geistes ist, in welchem die fremden Ele- mente nur den Werth eines frei zu verarbeitenden Stoffes hatten, so versteht es sich doch ebenso von selbst, dass die organische Ver-

Der jonische Tempel : Denkmäler.

arbeitung der verschiedenen Elemente zu einem geschlossenen System, wie es oben dargestellt wurde, sich nur allmählich vollziehen konnte. Leider aber befinden wir uns hier nicht nur über die Antänge im Dunkeln, sondern selbst für die älteren historischen Zeiten fehlt uns fast jede monumentale Anschauung, die uns für den dorischen Stil in so reichem Maasse geboten war. Die wenigen schriftlichen Nachrichten aber sind voll von Widersprüchen,

In Samos wurde um die 50. Olympiade das Heraion von dem auch als Erfinder des Erzgusses berühmten Rhoikos erbaut (Herod. III, 60; s. u. S. 66), vielleicht unter Betheiligung des Theodor os, dem eine Schrift über den Bau beigelegt wird. Vitruv (VII, praef. 12) nennt ihn dorisch, womit aber die wenigen bis jetzt bekannten Reste nicht überein- stimmen. Eine hohe Säulenbasis, bestehend aus einem Torus auf sehr starkem Trochilus , beide reich canellirt, ist in ihren Grundformen jonisch; der stark verjüngte Säulenschaft nicht canellirt; am Kapitäl hat sich zwar von Spiralen nichts erhalten, sondern nur der Echinus mit plastisch gebildetem Eierschmuck : aber wenigstens dieser ent- spricht der jonischen Ordnung. Beruht also die Angabe Vitruv's nicht auf einem Irrthum, so kann es sich nur um eine Mischgattung von dorischem und jonischem Stil handeln, über welche indessen nur durch erneute Ausgrabungen^) ein helleres Licht verbreitet werden könnte.

Der bedeutendste jonische Bau dieser Periode war ohne Zweifel das um Ol. 50 begonnene Artemision zu Ephesus, wenn es auch erst 1 20 Jahre später, also bald nach den Perserkriegen vollendet wurde. Bei der Legung der Fundamente in sumpfigem Boden gab der schon erwähnte Theodoros von Samos seinen Rath; der eigent- liche Architekt aber war Chersiphron von Knosos, und nach ihm sein Sohn Metagenes, unter dessen Leitung das Gebälk auf die Säulen gelegt wurde. Von beiden wird eine Schrift erwähnt, aus welcher die Nachrichten über die technischen Schwierigkeiten des Baues und ihre Ueberwindung stammen mögen. Ein grosser Theil der vSäulen war ein Geschenk des Krösus. Die spätere Vollendung leiteten Deme- trios, ein Tempeldiener der Göttin, und Paionios von Ephesus, welcher später als Erbauer des Didymaion bei Milet nochmals zu erwähnen ist. Bekanntlich brannte der Tempel in der Nacht der Geburt Ale- xanders d. Gr. ab und wurde bald nachher in glänzenderer Gestalt wieder aufgebaut. Wie sich dieser Neubau in seiner Gesammtanlage

1) Vgl. Bull. d. corr. hell. 1880, p. 383 ff., pl. 12; 1885, p. 505 ff.

4*

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Aelterer Zeitraum, Die Baukunst.

ZU dem älteren verhielt, wird nirgends angegeben; vielmehr scheinen die Angaben über beide mehrfach durcheinander geworfen zu sein. Vielleicht gestatten die jetzt unternommenen Ausgrabungen^) einmal eine bestimmtere Unterscheidung; augenblicklich aber lassen sich sichere Resultate in keiner Weise gewinnen. So bleibt zunächst nur die Thatsache, dass schon in dieser Periode in Kleinasien ein jonischer Tempel von colossalen Dimensionen, wohl schon ursprünglich als Dipteros oktastylos, errichtet wurde, der für die Ausbildung der Ord- nung von maassgebender Bedeutung gewesen zu sein scheint.

Dass auch im eigentlichen Hellas sogar schon vor dieser Zeit jonisch gebaut wurde, lehrt das bereits erwähnte Schatzhaus des Myron. Doch sind noch keine hieher gehörigen Reste nachgewiesen worden,

Anhang (Profanbauten).

Neben den Nachrichten über die Architektur der Tempel mag eine Notiz über ein anderes Bauwerk kurz berührt werden: nämlich die Skias in Sparta, wie aus dem Namen hervorgeht, ein Rundbau mit zeltartigem Dache, in dem noch zur Zeit des Pausanias (III, 12, 11; vgl. Etym. magn. v. Zxidc;) Volksversammlungen gehalten wurden, während es früher wohl für musikalische oder andere Aufführungen diente. Es ist das älteste uns bekannte für derartige Zwecke be- stimmte Gebäude, dem auch eine gewisse künstlerische Bedeutung nicht abgesprochen werden darf, indem als Erbauer desselben der schon erwähnte Theodoros von Samos genannt wird. Auch das ältere, aus Pisistratus' Zeit stammende Odeion in Athen (Bursian, Geogr. v. Griech. I, S. 299) diente ähnlichen Zwecken. Doch fehlt auch hier jede nähere Angabe über den Bau, wie denn die künstlerische Durchbildung derartiger Anlagen erst der Zeit nach den Perserkriegen anzugehören scheint.

1) Gemeint sind die englischen Ausgrabungen 1870 ff., welche allerdings manche wichtige Entdeckung und Aufklärung, auch bezüglich der Kunstformen des älteren Bauwerkes, gebracht haben: s. J. Wood, Discoveries at Ephesus, London 1877; J. Fergusson, The temple of Diana at Ephesus, London 1883; Journ. of hell. stud. X, 1889, p. 2 ff., pl. 3 4.

^) S. oben S. 7, Anm.

ZWEITER ABSCHNITT.

Die Plastik/)

Die Anfänge der statuarischen Kunst. ^)

Nachdem die Entwickelung der decorativen Kunst von der vor- homerischen Zeit bereits bis in das sechste Jahrhundert verfolgt wurde, kehren wir jetzt nochmals zu dunkeln und sagenhaften Anfängen zu- rück. Denn wenn auch die eigentlich statuarische Kunst, um welche es sich jetzt handelt, ihre Wurzeln nicht in jener Kunstfertigkeit hat, welche die den praktischen Zwecken des Lebens dienenden Geräthe schmückt, so bedarf sie doch, um sich zur Selbständigkeit zu erheben, gewisser Vorübungen oder Vorstufen, durch welche sie mit den decora- tiven Künsten in fortwährender Berührung bleibt. Die Darstellung lebender Wesen, die Thierwelt und in überwiegender Geltung der Mensch dienen auch in der decorativen Kunst von früh an als Mittel zum Zweck; in der monumentalen oder statuarischen Kunst ist ihre Darstellung für sich selbst Zweck, wenn sie sich auch für dieselbe ver- wandter technischer Mittel bedienen muss.

Erste Versuche. Diese Mittel sind in erster Linie bedingt durch den Stoff, in dem gearbeitet wird. Dieser Stoff ist aber bei dem freien Kunstwerke nicht, wie beim Geräth, ein gegebener, sondern frei wählbar, macht dafür aber seine Rechte um so stärker geltend.

Der bildsamste Stoff ist der feuchte Thon, der sich leicht zu jeder beliebigen Form zurechtdrücken und, wenn auch zunächst nur in geringen Mengen, im Feuer härten lässt. Freilich bietet die

^) Ueber die Plastik dieser Periode liegen zwei Reinschriften vor, ausser der älteren aus den Jahren 1872 1873 ^i"^ jüngere, die in der Hauptsache aus den achtziger, theil- weise auch erst aus den ersten neunziger Jahren stammt, jedoch fragmentarisch geblieben ist. Unter solchen Umständen war der ganze Abschnitt wohl oder übel aus älteren und jüngeren Partieen zusammenzusetzen.

^) Jüngere Redaktion.

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Weichheit wieder den Nachtheil, dass bei Bildungen in kleinem Maassstabe an den freistehenden Theilen sich die Schwierigkeiten wesentlich steigern, und dass überhaupt jede feinere Durchbildung durch Modellirung einer verhältnissmässig festen und sicheren Hand bedarf. So zeigen z. B. die alten weiblichen Idole, welche aus den Gräbern von Mykenae her- vorgezogen sind (Schhemann, Mykenae, Taf. A D; XVI XIX), un- gegliederte Körper. Die Arme, von Gewandung überdeckt, erscheinen wie seitliche halbmondförmige Vorsprünge. Am Kopfe ist eigentlich nur die Nase plastisch betont, ebenso wie auf dem Körper die beiden Brüste. Bei den Thieren sind natürlich die Beine, die Ohren, die Hörner dick, plump und wenig gegliedert. Damit genügte allerdings der Verfertiger selbst nicht dem, was er beabsichtigte, aber mit plastischen Mitteln noch nicht zu erreichen vermochte; und so nahm er ergänzend die Farbe zu Hülfe, zur Musterung der Gewänder, der Thierfelle, vor allem aber, um den Eindruck der Lebendigkeit zu erreichen, zur Angabe des Auges. Ausser den mykenischen Funden verdienen hier ver- schiedene archaische Terracotten von Tanagra Beachtung, Frauen und namentlich Reiter darstellend: Bull. d. corr. hell. 1890, pl. 13 14. Ein pflügender Bauer: Bull. d. corr. hell. 1893, pl. i. Von hier aus mochte die Laxheit rundlicher Formen, zu welcher die Weichheit des Stoffes verleitet, bald zu einer Art Reaction führen, einem Bestreben, die Rundung durch bestimmte Flächen und Ecken abzugrenzen (z. B. Gerhard, Minervaidole, Taf I, i), und erst von dieser Grundlage durfte man dann wieder zu weiteren Gliederungen in der Durchbildung fort- schreiten.

An dem aus dem Erze geschmolzenen Metall macht sich be- sonders eine Eigenschaft geltend: die Dehnbarkeit. Das dünne, mit dem Hammer getriebene Metallblech, zur Verwendung für decorative Zwecke besonders geeignet, bietet in den früheren Stadien der Kunst dem statuarischen Sphyrelaton noch mancherlei Schwierigkeiten. Wohl aber liessen sich schon früh kleinere Gestalten durch Schmiedearbeit herstellen. Aus den unteren Schuttschichten von Olympia besitzen wir ganze Reihen kleiner Thierfiguren, sogar zu Gruppen (z. B. Pferd und Füllen) vereinigt, die in der Auffassung an die schon erwähnten Terracottathiere erinnern, sich aber von ihnen besonders dadurch unter- scheiden, dass das Material auf eine Verarbeitung in stabartiger Form hinführte (Olympia, Bd. IV, die Bronzen, T. 10 17). Neben den Thieren sind es besonders kleine Weihgeschenke von Wagenlenkern (T. 15), welche auf eine durch diese Eigenschaft des Stoffes bedingte

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Behandlungsweise hindeuten. Nicht nur Hegt bei den Wagenkörben der Ursprung aus gebogenen Stäben offen genug vor Augen ; auch die Gestalten der Wagenlenker verrathen eine ähnhche Abstammung, wie nicht weniger die Gestalt eines Kentauren (T. 13, 215). Ja man wagt es, auf diesem Wege sieben nackte Figuren zu einer Gruppe zu verbinden, die sich zu einem Rundtanze mit den Armen umschlungen halten (T. 16, 263). In der weiteren Durchbildung des Einzelnen mag dann das ursprüngliche Verfahren des Biegens und Hämmerns durch Schweissen und durch Abarbeiten des Metalls auf kaltem und trockenem Wege mehr oder weniger verdunkelt worden sein.

Auch der Steinblock liess sich nicht sofort bewältigen; eher gelang dies bei den Splittern gewisser alabaster- und marmorartiger Stein gattun gen. Wir besitzen von verschiedenen griechischen Inseln, von Amorgos, Naxos, Faros, Rhenaia, aber auch von einzelnen Orten des Festlandes meist kleinere Idole, mehr flach als rund, die sich aus schieferigen Splittern in ihren Hauptumrissen leicht herausschneiden Hessen, während auf der Vorderseite die auf die Brust gelegten Arme, die Brüste, die Theilung der vSchenkel, am Kopfe die Nase durch mässiges Abarbeiten oder Einschneiden hervorgehoben wurden, und ausserdem noch, wie bei den Terracotten, zu weiterer Verdeutlichung die Anwendung der P'arbe hinzutrat (vgl. Mitth. d. ath. Inst. 1891, S. 46 ff.).

Am lehrreichsten für die Anfänge würden wohl die Arbeiten in demjenigen Stoffe, der zwischen zu grosser Härte des Metalls und des Steins und zu grosser Weichheit des Thones die Mitte hält, nämlich die Arbeiten in Holz sein, wenn uns deren erhalten wären. Ihren Spuren werden wir später noch mehrfach in der Uebertragung ihrer Eigenthümlichkeit auf andere Stoffe begegnen. Denn wenn man auch zuerst an jedem einzelnen Stoffe seine besonderen Erfahrungen sammelte, so vermischten sich dieselben nicht nur bald, sondern es fehlte sogar nicht an vollständiger Uebertragung dieser Erfahrungen von dem einen Stoffe auf den andern. Ein stehender Flötenbläser und ein sitzender Leierspieler aus einem Grabe von Amorgos erinnern lebhaft an den Stabcharakter der olympischen Wagenlenker, sind aber aus einem dichten weissen Kalkstein gescnnitten (Mitth. d. ath. Inst. 1884, T. 6).

Wir werden uns hüten müssen, diese verschiedenen Anfänge zu streng systematisch einem historischen und stilistischen Zusammenhange unterordnen zu wollen. Es sind kindliche Versuche, die auf dem einen oder dem anderen Wege zuerst zu einem gewissen Verständnisse der

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Form vorzudringen suchen, aber allerdings schon jetzt nicht darauf abzielen, nur ein Bild der Dinge, wie sie sich gerade dem Auge dar- bieten, in seiner äusseren Erscheinung wiederzugeben, sondern auch beabsichtigen, durch die Gestalt einen bestimmten Inhalt, einen Ge- danken auszusprechen. Und welcher ist dieser Inhalt? Sehen wir von den rohen Marmoridolen ab, welche wenigstens zu einem Theil an die phönicische »Astarte« zu denken gestatten, so liegt allerdings auch bei den mykenischen Thonfigürchen der Gedanke an Götterbilder nicht fern. Aber wenn die zugleich gefundenen Thiere Weih- geschenke sind, warum nicht auch die menschlichen Gestalten? Als Menschen sind gewiss die bronzenen Wagenlenker zu betrachten. In dem Leierspieler etwa einen Apollo zu erkennen, hindert uns schon der zugleich gefundene Flötenspieler, für den uns ein entsprechender Göttername nicht zu Gebote steht. So bleiben uns zur Erklärung dieser Bildwerke gewisse allgemeine Beziehungen zu religiösem und, was in dieser ältesten Zeit fast die gleiche Bedeutung hat, zu Todten- und Grabescultus. Auch inhaltlich handelt es sich, wie in formaler Beziehung, um kindliche Versuche, die für sich allein noch keine Ge- währ für eine höhere Entwicklung zu bieten vermögen, namentlich so lange wir es nur mit Arbeiten in kleinem Maassstabe zu thun haben.

Die ältesten Götterbilder. Zu weiteren Fortschritten bedurfte es eines wenn nicht ganz neuen, so doch wesentlich verstärkten geistigen Elementes, welches höhere Anforderungen stellte : des Ele- mentes der Religion, nicht in ihren ersten Anfängen, sondern schon auf einer gewissen Stufe fortgeschrittener Entwickelung (Overbeck, Ber. d. sächs. Ges. d. Wissensch. 1864, S. 121 u. 239).

Der älteste Götterdienst Griechenlands, der der sog. Pelasger, war noch bildlos. Man wünscht sich im Cultus der Gottheit zu nahen, man sucht sie auf an gewissen dem Cultus geweihten Orten; aber gegenwärtig ist sie nur im Symbol. Der Cultus knüpft sich an Bäume, Steine, Pfeiler; man setzt an die Stelle der Gottheit ihr Attribut, das Scepter, die Lanze, den Bogen u. dgl. Wie Welcker bemerkt (Gr, Götterl. II, S. 102), musste das Menschliche erst der Natur gegenübertreten, musste sich über die Natur erhaben fühlen, ehe der Gedanke aufkommen konnte, Götter nach dem Ebenbilde des Menschen zu gestalten. Wir stehen dem Momente, wo dies geschah, zu fern, um diesen Zeugungsprozess in seinen ersten Stadien zu verfolgen. Doch vermögen schon die oben betrachteten kindlichen Versuche der

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Figurenbildung für die weitere Betrachtung einige keineswegs zu ver- achtende Fingerzeige zu gewähren.

Indem wir von ihnen ausgehen , wenden wir uns sofort einer früher vielfach erörterten Streitfrage zu : ob sich nämlich aus dem rohen Steine oder dem Balken zunächst die Herme, der mit einem Kopfe versehene Pfeiler, oder sogleich das Götterbild in voller Gestalt entwickelt habe.

Es soll kein zu grosser Werth darauf gelegt werden, dass wir noch jetzt Götterbilder besitzen, die in eine weit frühere Zeit hinauf- weisen, als uns erhaltene Hermen. Wohl aber dürfen wir behaupten, dass die Hermenbildung auf einer Abstraction beruht, während die kindliche Phantasie eines Volkes ebenso wie die des einzelnen Kindes bei seinen ersten Versuchen immer von dem Bilde des Ganzen aus- gehen wird. Gerade das lehren die genannten Arbeiten , gewisser- massen die Embryonen statuarischer Kunst. Sie lehren aber zugleich, wie die äussere Gestaltung abhängig ist von den Bedingungen des Stoffes, so dass wir uns nicht wundern dürfen, wenn bei dem anfäng- lichen Ungeschick und der materiellen Schwierigkeit der Bearbeitung, bei einer Ausführung ferner in grösserem Maassstabe die Gestalten oft mehr einer Säule oder einem Pfeiler als einem menschlichen Körper ähnlich scheinen, und wenn man erst allmählich und unter Zuhilfenahme mancher Auskunftsmittel sich der Erfüllung höherer künstlerischer An- sprüche nähert.

Weitere Belege für eine solche Auffassung liefert die schrift- liche Ueberlieferung. Homer spricht nirgends von einer Herme; wohl aber wird wenigstens ein Götterbild erwähnt, die Athene auf der troischen Burg (IL VI, 302), freilich auch sie nicht eigentlich als Bild, sondern für die Verehrenden ist es die Göttin selbst, und die Gabe, das Gewand, welches ihr auf das Knie gelegt wird, war offen- bar dazu bestimmt, bei besonderen Anlässen das Bild wirklich damit zu bekleiden und dasselbe durch diese Umhüllung der künstlerisch unvollkommenen Formen dem Beschauer in erhöhtem Glänze als ein göttliches vor Augen zu stellen. Die einmalige Erwähnung bei Homer genügt, um die Existenz eigentlicher Cultusbilder für seine Zeit zu beweisen, wenn auch der Gebrauch derselben damals noch kein weit verbreiteter sein mochte. Mit einer solchen Beschränkung steht es keineswegs im Widerspruche, dass namentlich Pausanias einer Reihe von Götterbildern gedenkt, deren Weihung auf verschiedene Heroen von Danaos bis auf die troischen Zeiten zurückgeführt wird, so wie

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Aelterer Zeilraum. Die Tlaslik.

dass andererseits Peirasos, Sohn des Argos, und Epeios als Verfertiger von Götterbildern genannt werden (Overbeck, SQ. 226—255). Denn es handelt sich dabei um örtliche Sagen, die meist auch als solche mitgetheilt werden, natürlich aber in ihrer Vereinzelung nicht die ge- ringste Gewähr für historische Glaubwürdigkeit bieten. Auch ist nirgends ein Wort hinzugefügt, welches diesen Idolen irgend einen künstlerischen Charakter beilegte, und es lässt sich daher wohl voraus- setzen, dass sie einen solchen auch nicht besessen haben.

Es kann allerdings auffallen, dass neben einer schon bedeutend fortgeschrittenen Uebung der decorativen Kunst bis lange nach Homer der statuarischen Kunst jede Entwickelung noch so gut wie völlig gemangelt haben soll. Aber wir besitzen dafür eine schlagende Paral- lele in der Kunst Assyriens. Den massenhaften decorativen Relief- sculpturen stehen dort nur äusserst wenige Statuen, meist Bilder von Königen, gegenüber. So weit es sich um decorative Details, die Haar- locken, die Franzen der Gewänder u. dgl. handelt, schliessen sie sich durchaus den Reliefs an. In allem dagegen, was das Wesen einer Statue ausmacht, stehen sie weit hinter ihnen zurück. Es fehlt jedes Ver- ständniss des menschlichen Körpers im Einzelnen, wie im Zusammen- hange seiner Theile, jedes Verständniss der Gewandung sowohl nach ihrer stofflichen Natur, als in ihrem Verhältniss zum Körper, welchen sie umkleidet. Man erkennt deutlich den Mangel jeder Erfahrung in statuarischer Bildung und, was wichtiger ist, ebenso den Mangel jedes für eine weitere Entwickelung nothwendigen stilistischen Prinzips. Durch diese Vergleichung lernen wir begreifen, wie es auch bei den Griechen eine Zeit geben konnte, in der neben einer fortgeschrittenen Entwickelung der decorativen Kunst der Sinn für das Wesen der statuarischen Bildung durchaus noch nicht geweckt sein mochte. Als dann freilich die ersten Schritte geschehen, da änderte sich das Ver- hältniss : die statuarische Kunst strebte, von der dekorativen losgelöst, immer mehr ihrem eigenen Ziele zu. Sie verfolgte zunächst die Auf- gabe, die menschliche Gestalt in ihrer Eigenart aus den Bedingungen des Stoffes herauswachsen zu lassen: eine Aufgabe, über welche z. B. die ägyptische Kunst nicht hinausgegangen ist, und welche die griechische Kunst, wie wir später sehen werden, immer wieder von neuem, in stets höherem Sinne zu lösen unternahm. Aber so Grosses hier durch ernstes, schrittweises Arbeiten geleistet wurde, die wahre hellenische Kunst würde auf diesem Wege doch kaum erreicht worden sein. Dazu bedurfte sie eines neuen Elementes, welches über die der

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älteren asiatischen und ägyptischen Völker hinausging und eine Ent- wickelung über die engen Schranken derselben hinaus ermöglichte.

Daidalos. Als dann aber diese neue, ihre Gesetze aus sich selbst schöpfende Kunst immer mehr und mehr erstarkte, ihre Werke in immer steigender Vervollkommnung vor die Augen der Beschauer traten, da musste die Frage nach dem Ursprünge dieser neuen Leist- ungen entstehen. Sie konnte selbstverständlich nicht urkundlich be- antwortet werden, und so entstand zur Ergänzung der Ueberlieferung die Sage, die uns Thatsächliches freilich nur verschleiert und keines- wegs überall unter der gleichen Umhüllung vor Augen stellt.

Die Kunstgeschichte darf es unberücksichtigt lassen, wenn die Sage die ältesten Bilder als Werke der Götter geradezu vom Himmel fallen lässt. Auch die Zaubergestalten der idäischen Daktylen, die allerdings mit der statuarischen Kunst gar nicht in directe Verbindung gebracht, und der Teichinen, denen die ersten Götterbilder beigelegt werden, verdienen hier nur insoferne eine Erwähnung, als ihre Wohn- sitze : Kleinasien, Kypros, Rhodos, Kreta gerade die Orte sind, an denen wir den ältesten Kunstbetrieb kennen gelernt haben. Erst wenn das Geschenk der Götter in den Händen der Sterblichen weiter- gebildet wird, gewinnt auch die Sage eine gewisse historische Be- deutung, indem sich in ihr wenigstens ausspricht, wie sich die Hellenen selbst den weiteren Fortschritt vorgestellt haben.

Die Sage knüpft denselben an eine Gestalt, die schon durch ihren Namen sich nicht als ein Einzelwesen, sondern als eine Verkörperung bestimmter Eigenschaften charakterisiert: Daidalos, der kunstreiche Arbeiter (Overbeck, SQ. 67 142). So wenig es sich rechtfertigen lässt, ihn zu dem Range einer historischen Persönlichkeit aus dem Ende des siebenten Jahrhunderts zu erheben (Kuhnert, Jahrb. für class. Philol., Suppl. XV, S. 185 ff.), ebensowenig erweist es sich als möglich, die mannigfachen Erzählungen der Sage auf eine einzige, einheitlich gestaltete Individualität zu vereinigen. Zum Stammheros der Kunst- geschichte ist Daedalus erst nach und nach durch Uebertragung ver- schiedener Beziehungen auf seinen Namen geworden.

Die älteste Erwähnung findet sich bei Homer (IL XVIII, 592), der zufolge er der Ariadne einen Choros hergestellt haben soll (i\öxr\aEY). Allerdings zeigte schon das Alterthum als diesen Choros ein in Knosos befindliches Marmorrelief (Paus. IX, 40, 3), das aber in unserem Bilde vorhomerischer Kunstzustände in keiner Weise Platz zu finden ver-

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mag, ja sich auch kaum rechtfertigen lassen würde, wenn wir zu der Annahme einer immerhin doch alten Interpolation der homerischen Verse unsere Zuflucht nehmen wollten. Halten wir daher an der engeren Deutung der Worte fest, welche durch die Vergleichung von Odyss. VIII, 260 gestützt wird, wo es sich um die Einebnung und Aufräumung eines Platzes für Tanz und Spiel handelt, so bleibt der Sinn, dass Hephaistos für seine Darstellung der Tanzscene auf dem Schilde eine Lokalbezeich- nung wählte, welche an den von Daedalus für Ariadne hergerichteten Chorplatz erinnerte (vgl. Benndorf, Sitzungsber. der Wiener Akad. 1890, CXXIII, III, Büdinger, S. 47). Damit fällt die Beziehung auf Daedalus als Bildner, und seine Verbindung mit Ariadne weist nur auf die alte Sage hin, die ihn von Athen nach Kreta zu Minos fliehen und dort das Labyrinth bauen lässt. Schon in dieser spielt der Hand- werksneid eine Rolle; denn die Ursache seiner Flucht ist die Er- mordung seines Neffen Kalos oder Talos aus Eifersucht über dessen Erfindungen. Für eine spätere Zeit lag darin der Anlass, ihn in die Reihe der Erfinder als Begründer der Holzarbeit aufzunehmen. Anderer- seits gewährte wieder die Sage von der Erbauung des Labyrinths den Anknüpfungspunkt für eine nochmalige Flucht, die ihn von Kreta nach Sicilien führt, um ihm dort eine Reihe von nützlichen Bauten beizulegen und ihn sogar noch weiter, bis nach Sardinien und Cumae thätig sein zu lassen. Indessen zeigen uns selbst diese, schwerlich der ursprünglichen Sage angehörigen Erweiterungen den Daedalus zwar als kunstreichen Mann, aber nicht als Kunstheros im späteren Sinne des Wortes. Sie bilden nur die Grundlage, auf der sich so- zusagen eine neue Schicht ablagerte, in welcher er als Stammheros an die Spitze der eigentlichen Bildkunst gestellt erscheint. Diese jüngere Sage geht nun einen doppelten Weg, indem sie sich eines- theils an einzelne wirklich existierende Werke nur mit Rücksicht auf deren hochalterthümlichen Charakter anlehnt, andererseits die Person des Daedalus in den Mittelpunkt stellt und auf diese in systemati- sierender Weise den Fortschritt der Kunst überhaupt überträgt Beide Ueberlieferungen laufen meist unvermittelt nebeneinander her, und es zeugt von einem vollständigen Verkennen dieses Sachverhalts, wenn man versucht hat, die verschiedenen widerspruchsvollen Angaben bei Pausanias und Andern wie die aufgelösten Bestandtheile einer ur- sprünglichen Einheit wieder zu einer einheitlichen Biographie zusammen- zuarbeiten, um dann gegen dieses Trugbild der eigenen Phantasie tapfer zu Felde zu ziehen (Robert, Archäol. Märchen, S. i ff). Pau-

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sanias berichtet bei verschiedenen Anlässen Verschiedenes, gerade wie die Sage selbst sich nicht scheut, ohne Wahrung der zeitlichen und örtlichen Einheit sich die Dinge für ihre besonderen Zwecke zurecht- zulegen. Unsere Aufgabe aber kann es nicht sein, alle diese ver- schiedenen, ja einander widersprechenden Züge zu einer künstlichen Einheit zu verbinden, sondern vielmehr nach der einheitlichen Idee oder Grundanschauung zu forschen, die wir nur in ihren verschiedenen äusseren Verzweigungen kennen lernen.

Jedenfalls steht fest, dass die Persönlichkeit des Daedalus schon zur Zeit des Euripides und Piaton zu einem Repräsentanten des ältesten Künstlerthums entwickelt war, wenn auch manche einzelne Züge der- selben noch späteren Ursprunges sein mögen. Als Hauptmomente der Sage verdienen die folgenden hervorgehoben zu werden. Die wichtigsten Schauplätze seiner Thätigkeit bleiben Athen und Kreta, wo die ältesten wirklich historischen Künstler mit ihm in Geschlechts- oder Schulverbindung gesetzt werden, während seine Gegenwart an anderen Orten wohl nur aus dort vorhandenen Werken daedalischen, d. i. hochalterthümlichen Charakters gefolgert wurde. Das Material seiner Werke ist fast ausnahmslos Holz. Gegenstände der Darstellung sind die Bilder der Götter, zu denen auch Herakles zu rechnen ist. Das Wesen seiner Kunst aber wird im Gegensatz zu einer noch un- vollkommneren Vorstufe als ein Fortschritt und im Ganzen ziemlich übereinstimmend durch bestimmte Kennzeichen charakterisirt. Während die früheren Statuen mit zugemachten Augen, geschlossenen Beinen und enganliegenden Armen gebildet gewesen seien, habe er die Augen geöffnet, die Beine auseinander gestellt, die Arme gelöst. Die Wirkung dieser Neuerungen wird allerdings von der Sage in naiven Ueber- treibungen geschildert. Die Bilder scheinen zu leben, so dass Herakles nach seinem Abbilde mit einem Stehie wirft; man muss sie fesseln, dass sie nicht entlaufen. Es fragt sich indessen, ob wir wegen dieser Uebertreibungen die ganze Sage als für die Kunstgeschichte völlig werthlos verwerfen sollen, wie dies noch in neuerer Zeit verlangt worden ist (E. Petersen, Kritische Bemerk, zur ält. Gesch. d. gr. Kunst, Ploen 187 1), oder ob sie doch nicht dazu dienen kann, uns auf alte Anschauungen über die Geschichte der Kunst hinzuweisen. Noch vorhandene Kunstdarstellungen mögen die Antwort geben.

Grossen Anstoss haben zunächst die geschlossenen Augen erregt. Es soll nun natürlich nicht behauptet werden, dass die älteste griechische Kunst überall und ausnahmslos so gebildet habe, wie wir es z. B.

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auf einer Münze von Phocaea^) sehen; jedenfalls aber gewährt uns dieselbe eine positive Anschauung, durch welche die Ausdrucksweise der Sage hinlänglich gerechtfertigt erscheint, wenn wir im Gegensatz dazu etwa das geöffnete Auge einer Münze von . . . betrachten. Hinsichtlich der Arme und Beine hat man es als einen Widerspruch gegen die Sage geltend machen wollen, dass in erhaltenen Werken zusammenstehende Beine neben abstehenden Armen und umgekehrt anliegende Arme neben getrennten, schreitenden Beinen vorkommen. Es ist aber dabei übersehen worden, dass die griechische Kunst ausser dem einen Schema der ruhig stehenden Figur schon sehr früh zwei andere erfunden und fast typisch fixiert hat: das Schema lebendiger Action und Bewegung und das weitere eiligen Schreitens oder Laufens. Namentlich Münzen theils von hochalterthümlichem Gepräge, theils mit Nachahmungen alter Typen zeigen uns eine Reihe von Götter- gestalten, weit ausschreitend, mit ausgebreiteten Armen, von denen der rechte weit nach hinten ausholend das Attribut oder die Waffe des Gottes schwingt, während der linke theils einfach vorgestreckt ist, theils als Träger eines zweiten Attributes dient. So finden wir Zeus mit Blitz und Adler, Poseidon mit dem Dreizack, Apollo mit dem Lorbeerzweig, Herakles mit Bogen und Keule, während von weiblichen Gestalten der alte Typus der Palladien hierher gehört (vgl. Jahn, Memorie dell' Inst. II, p. 3). Es ist dies das Schema der Götter, welche ihre Macht nicht blos durch ihre Existenz, sondern durch die That be- währen sollen. Jene Apollodarstellungen aber lehren uns in dem kleinen Dämon auf dem linken Arme das weitere Schema der eilig schreitenden oder laufenden Gestalt kennen, welches durch das eine stark gebeugte Knie leicht mit wirklichem Knieen verwechselt werden kann (Curtius, Die knieenden Figuren d. altgr. K., Berl. Winckelmannsprogr. 1869) Vergegenwärtigen wir uns jetzt die Starrheit der ältesten säulen- artigen Idole, bedenken wir, dass, von der .fast bildlosen asiatischen Kunst abgesehen, den Aegyptern selbst nach tausendjähriger Uebung in grösseren Werken der statuarischen Kunst ein solcher Schritt zu lebendiger Handlung und Bewegung stets fremd geblieben ist, so werden wir verstehen lernen, wie überraschend die Einführung dieser Neuerungen in die Kunst wirken musste, wie die Sage den Herakles, übrigens

^) Cat. Brit. Mus., Jonia, pl. 4, i ; Head, Guide, pl. 10, 16. Die genauere Be- zeichnung der Münze wird der Freundlichkeit Imhoof-Blumer's verdankt. Dagegen bleibt die folgende Lücke, da mit Sicherheit nicht angegeben werden kann, welche von vielen möglichen Münzen der Verfasser dort im Auge gehabt, bestehen.

Die Anfänge der statuarischen Kunst.

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doch nur im Dunkel der Nacht, mit einem Steine nach seinem wahr- scheinhch mit erhobener Keule drohenden Ebenbilde werfen lassen, wie eine kindliche Phantasie die Lebendigkeit des künstlerischen Motives mit wirklichem Leben, Laufen mit Entlaufen verwechseln und zuletzt dem todten Bildwerke auch wohl noch eine menschliche Stimme andichten konnte. Es verträgt sich mit dieser Auffassung sehr wohl, dass von formeller, stilistischer Durchbildung bei Daedalus weiter nichts berichtet wird, und gerne glauben wir den Worten Plato's (Hipp, maior, p. 282), dass ein Künstler seiner Zeit sich lächerlich gemacht haben würde, wenn er in der Weise des Daedalus hätte arbeiten wollen. Nichtsdestoweniger hat aber auch der Standpunkt des Pausanias (II, 4, 5) seine Berechtigung, der in diesen daedalischen Bildern trotz ihres etwas wunderlichen Aussehens doch schon einen ge- wissen Ausdruck von Göttlichkeit erkannte. Für uns und die historische Beurtheilung erscheinen jedenfalls die dem, Daedalus beigelegten Neuer- ungen von so tiefgreifender, principieller Bedeutung, dass sie über- haupt als der Ausgangspunkt für die selbständige Entwickelung der statuarischen Kunst betrachtet werden müssen. Denn erst Leben und Be- wegung konnte auf eine genauere Erforschung des menschhchen Körpers und die Gesetze seines Organismus hinführen ; und erst dadurch ward die Möglichkeit gegeben, dass sich auch in dem ruhig stehenden Götterbilde, welches natürlich immer ein Hauptvorwurf der statuarischen Kunst blieb, die künstlerische Durchbildung der Form eine selb- ständige Geltung errang.

So bewahrt Daedalus seine Stellung an der Spitze der statua- rischen Kunst nicht als Person, sondern als Personification, auf welche die Sage das Thatsächliche der ersten Entwickelung übertragen hat. Das konnte natürlich erst geschehen, nachdem in den ältesten Kunst- schulen die ihm beigelegten Neuerungen thatsächlich zur Geltung gekommen waren, und daraus erklärt es sich in der einfachsten Weise, dass der Daedalus der jüngeren Sage mit eben diesen Schulen in den engsten Zusammenhang gebracht wird und dadurch seine Gestalt bis in die eigentlich historischen Zeiten hineinragt. Daedalus verhält sich zu den Daedaliden durchaus in derselben Weise, wie auf dem Gebiete der Poesie Homer zu den Homeriden : unmerklich geht hier wie dort die sagenhafte in die historische Ueberlieferung über.

Butades. Auf dieser Grenze zwischen Sage und Geschichte steht ein Künstler, der deshalb am besten im Anschluss an Daedalus be-

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trachtet wird: Butades, ein sikyonischer, aber in Korinth thätiger Töpfer. Sein Name hat keinen mythischen Klang; in eine sehr frühe Zeit aber versetzen ihn die ihm beigelegten Erfindungen, welche Plinius (35, 151 153) in einer durch doppelte Einschiebsel schwer verständlichen Stelle anführt (vgl. meine Künstlergesch. I, S. 23 u. 403; 2. Aufl., S. 19 u. 282 f.).

In Butades vollzieht sich die Entwickelung des Töpferhandwerks zur Kunst der Plastik oder Thonbildnerei.

Dem rein technischen Gebiete gehört es an, dass er dem Thon Köthel zusetzte, wobei die Bemerkung nicht unterdrückt werden mag, dass sich in der That die ältesten Arten erhaltener Thongetässe theils durch ein blasseres Material, theils durch das Fehlen des röth- lichen Farbentones der Oberfläche von den späteren unterscheiden. Sodann wird als seine Erfindung die Ausschmückung der Stirnziegel zuerst mit flachen, dann mit hohen Reliefs bezeichnet, woraus sich später die verwandte Decoration der Giebel entwickelt habe. Wenn diese Arbeiten fast selbstverständlich zur Vervielfältigung durch das mechanische Hilfsmittel einer Form führten, so war es nur ein Schritt weiter, dass er auch von Rundfiguren Abformungen gemacht haben soll: eine Erfindung, die nicht erst dem Bruder des Lysipp zur Zeit Alexanders d. Gr. zugeschrieben w^erden darf (vgl. Wustmann, Rhein. Mus. XXII, S. 16), indem sie vielmehr eine nothwendige Vorstufe für die Erfindung des weit älteren Erzgusses ist. Alles schreitet hier so naturgemäss von Stufe zu Stufe fort, dass die Zuverlässigkeit der Ueberlieferung als einer streng historischen nur etwa wegen ihrer systematisierenden Färbung, sowie darum bezweifelt werden könnte, dass eine weitere Erfindung geradezu in sagenhafter Färbung über- liefert wird. Die Tochter des Butades wünscht die Züge ihres scheidenden Geliebten zu bewahren und umzieht beim Scheine der Lampe den Schatten seines Gesichtes auf der Wand mit Linien. Der Vater, über die Aehnlichkeit erstaunt,* füllt den Umriss mit Thon aus und brennt mit seinen übrigen Töpferwaaren dieses Bild, welches bis auf Mummius sich im Nymphaeum zu Korinth befunden haben soll. Möglich, dass die Sage aus dem vorhandenen Bilde entstanden ist. Nach Abzug des Sagenhaften aber bleibt die Erfindung des Relief- porträts übrig, die an sich den sonstigen Erfindungen des Butades sich wohl einfügt. Wie dem auch sei, zwischen Homer, der nur erst das Töpferhandwerk kennt, und der Erfindung des Erzgusses muss sich die Plastik ganz in der Weise entwickelt haben, wie es die Sage

Künstler und Fortschritte um die Mitte des VI. Jahrhunderts.

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oder die Tradition von Butades berichtet. Es kann das recht wohl vor Ol. 30 geschehen sein ; doch darf es nicht aus der Nachricht bei Plinius 35, 152 gefolgert werden, dass die Begleiter des Damaratos: Eucheir, Diopos und Eugrammos um diese Zeit die Plastik von Korinth nach Etrurien verpflanzt haben sollen. Denn wie die Namen dieser Künstler Gattungsnamen sind, so entbehrt die ganze Erzählung der vollen historischen Gewähr.

Künstler und Fortschritte um die Mitte des VI. Jalirliunderts.')

Immerhin verräth sich in den Nachrichten über Butades nicht weniger wie über Daedalus das Bestreben, die Anfänge künstlerischer Entwickelung in ihren Fortschritten systematisch zu charakterisiren. Wesentlich verschieden davon lauten die Angaben, welche uns über die ältesten streng historischen Künstler überliefert sind. Wir ver- nehmen die Namen wirklicher Personen ; wir hören von ihrer Thätig- keit an verschiedenen Orten, von Werken, die sicher von ihrer Hand ausgeführt waren. Wir erfahren also wirklich historische Thatsachen, aber Thatsachen ohne eine Beurtheilung ihrer historischen Bedeutung, und erst, indem wir selbst den Versuch machen, dieselben zu gruppiren, gewinnen wir nicht etwa ein Urtheil über ihren künstlerischen Werth, sondern nur eine positive Grundlage, an der wir unser aus anderweitig erhaltenen Monumenten zu bildendes Urteil zu messen vermögen. Trotz- dem muss es unsere nächste Aufgabe sein, eben diese Thatsachen kennen zu lernen. Sie führen uns sofort in die Zeit gegen die Mitte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. (Ol. 50 60). Damals ersteht an verschiedenen Orten eine Reihe von Künstlern, welche, untereinander ziemlich gleichzeitig, hier zunächst nach ihrer Heimath gruppirt werden sollen.

Chi OS. Die früheren Erörterungen haben gelehrt, dass griechisches Kunstleben zuerst an den Küsten Kleinasiens erblühte. Diese alten Verhältnisse bewahren auch jetzt noch ihre Bedeutung. In Chios trat eine Künstlerfamilie auf (SQ. 314 319), die wenn auch nicht, wie Plinius (36, Ii) rechnet, um den Anfang der Olympiaden, doch etwa um Ol. 35 ihre Thätigkeit begonnen haben muss, allein erst zwischen Ol. 50 und 60 zu höherem Ruhme gelangte. Die beiden ersten Glieder, Melas und sein Sohn Mikkiades, sind nur dem Namen nach bekannt. Der Ruf des Enkels Archer mos aber überschreitet bereits

Aeltere Redaktion (^1872/73).

Brunn, Gr. Kunstgeschichte II.

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die Grenzen seiner Heimath: er arbeitet für Delos^) und Lesbos; doch erst seine Söhne Bupalos und Athenis durften sich in der Inschrift eines ihrer Werke rühmen: nicht durch seine Reben allein stehe Chios in Ansehen, sondern auch durch die Werke der Söhne des Archermos. Ihre Thätigkeit erstreckt sich auf das benachbarte Festland und die Inseln : Smyrna, Jasos, Delos. Ihre Zeit (um Ol. 60, = 540 V. Chr.) ergibt sich aus ihren wenig freundlichen Beziehungen zu dem Dichter Hipponax. Durch ein Spottbild auf seine hässliche Gestalt sollen sie ihn zu beissenden Versen veranlasst haben, durch welche nach einer freilich bestrittenen Sage die Künstler zum Selbst- mord getrieben worden seien.

Die Bedeutung dieser Künstlerreihe beruht darin, dass sie in Marmor arbeiteten. Wird nun auch Melas nicht Erfinder der Marmor- arbeit genannt, so kennen wir doch keinen Künstler, welcher vor ihm sich dieses Materials bedient hätte. Seine Urenkel aber werden von Plinius schon als sehr berühmt in diesem Kunstzweige bezeichnet, und die Richtigkeit seiner Angabe findet ihre Bestätigung darin, dass Augustus den palatinischen Apollotempel und andere seiner Bauten mit ihren Werken schmückte. Dem Hipponax gleichzeitig war noch ein anderer Künstler aus Chios oder Klazomenai, Namens Bion (Diog. Laert. VIII, 58).

Dass Chios neben der Vervollkommnung der Marmorsculptur auch an dem P^ortschritte der Metallarbeit durch Glaukos, den Er- finder der Eisenlöthung, sehr wesentlich betheiligt war [s. Buch I, S. 116 f.], mag hier nur nochmals kurz in Erinnerung gebracht werden.

Samos. Dagegen musste es den Ruhm einer weiteren Erfindung auf diesem Gebiete, der des Erzgusses, einem Künstlerpaare des be- nachbarten Samos überlassen. Rhoikos, Sohn des Phileas, undTheo- doros, des Telekles Sohn (SQ. 273 293), werden hier nicht zum ersten Male genannt. Es ward bereits früher (S. 51 u. 52) ihrer Thätigkeit als Architekten gedacht. Ausserdem aber begegneten wir dem Theodoros als einem der hervorragendsten Meister decorativer Kunst, der namentlich durch seine Werke für Kroesus sich Ruhm erwarb [s. Buch I, S. 118]. Freilich ist gerade dieser Ruhm die Veranlassung geworden, dass man

1) Rn. : Löwy, Inschriften gr. Bildh. i [Statuenbasis aus Delos mit Künstlerinschrift, worin die Namen des Mikkiades, Archermos, auch eines Melas, freilich eher des chiotischen Stadtheros als eines Künstlers. Ueber die höchst wahrscheinlich zu der Basis gehörige Statue s. unten S. 90 ff.]

Künstler und Fortschritte um die Mitte des VI. Jahrhunderts.

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ihren Meister von dem Miterfinder des Erzgusses und dem Architekten als eine zweite Person hat unterscheiden wollen (von den zahlreichen, zwischen mir und Urlichs gewechselten Erörterungen über die Chrono- logie dieser und anderer der ältesten Künstler mögen nur die letzten angeführt werden : Die Kunst bei Homer, Abhandl. d. Münch. Akad., I. CL, XL Bd., III. Abth., S. 27; zur ChronoL d. ält. gr. Künstler, Sitzungsber. 187 1, vS. 517; dagegen Urlichs: Die Anfänge der griech. Künstlergesch., Würzb. I, 187 i; II, 1872); denn unmöglich könne der Genosse des Rhoikos, dessen wStatue der Nyx zu Ephesus Pausanias (X, 38, 5) als höchst alterthümlich und roh in der Technik schildert, und der Künstler des delphischen Krater, des goldenen Weinstocks und Palmbaumes, so wie des Ringes des Polykrates eine und dieselbe Person sein. Allein nicht etwa nur eine Zeit hoher Kunstblüthe bietet uns in einem Benvenuto Cellini ein ausnahms weises Beispiel ähnlicher Viel- seitigkeit, sondern gerade in den Zeiten der noch nicht zur Vollendung vorgeschrittenen Kunstübung finden sich die zahlreichsten Belege für eine Verbindung des Kunsthandwerkes mit der monumentalen Kunst. Auffällig könnte es allenfalls erscheinen, wenn einem in der Holz- schnitzerei geübten Daedaliden oder einem Marmorarbeiter die Er- findung des Erzgusses beigelegt würde ; aber nichts kann natürlicher sein, als dass ein in Metallarbeit so vielseitig kundiger Mann an der- selben einen hervorragenden Anteil hatte. Die Bedeutung der beiden Samier ist eben darin begründet, dass sich in ihnen der Uebergang von der einen Stufe der Kunstübung zur anderen vollzieht. Weiter aber fragt es sich, ob hier, wie so oft, der Ausdruck »Erfindung« im strengsten Sinne zu verstehen ist. Das Schmelzen des Metalls war natürlich von Alters her bekannt. Aber die Nachrichten, welche wir z. B. über das gegossene eherne Meer im Salomonischen Tempel haben, weisen ausserdem auf ein höheres Alter einer gewissen Art von Giess- kunst hin, und eine blosse Uebertragung derselben von Palästina nach Samos würde kaum einen hohen Künstlerruhm haben begründen können. Es ist daher fast nothw endig, die Erfindung der beiden Samier auf eine bestimmte Anwendung des Erzgusses für die eigent- liche statuarische Kunst zu beschränken, nämlich auf den statuari- schen Hohlgus s. Einzelne ältere Versuche desselben mögen sich bereits bei den Aegyptern und Assyriern finden, immerhin nur in Werken kleinen Maassstabes. Bedenken wir aber, wie erst durch Uebertragung des Verfahrens auf monumentale Arbeiten eine in ihrer späteren Entwicklung so wichtige Kunstgattung eigentlich ganz neu

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Aelterer Zeitranm. Die Plastik,

geschaffen wurde, so erscheint auch bei solcher Beschränkung der Ruhm der beiden Samier durchaus gerechtfertigt. Es wird dann auch nicht mehr überraschen, dass ihre Erfindung erst in die Zeit fällt, in welcher die statuarische Kunst von den Anfängen dädahscher Bewegt- heit aus zu eigentlichem Leben erwachte und mit dem blossen Sphyre- laton den gesteigerten Anforderungen nicht mehr gerecht zu werden vermochte. Dass die ersten Versuche technisch noch roh ausfielen, ist eigentlich selbstverständlich. Die Wichtigkeit der Erfindung lag nicht in dem Grade der Ausführung, sondern in der Fruchtbarkeit des neuen Prinzips. Berichtet sind uns nur ein paar monumentale Ar- beiten der Künstler: ausser der Erzstatue zu Ephesus, welche die Ephesier Nyx nannten, einem Werke des Rhoikos, von Theodoros das Xoanon eines Apollon Pythios, angeblich zur einen Hälfte von Theo- doros in Ephesus, zur anderen von Telekles in Samos gearbeitet (Diod. I, 98), und ein vSelbstporträt des Theodoros aus Erz (Plin. 34, 83).

Naxos. In weiterer Entfernung von Samos, auf Naxos lebte zur Zeit des Alyattes und Astyages ein Künstler Byzes, der sich der Erfinder der marmornen Dachziegel zu sein rühmte, aber auch in der statuarischen Kunst thätig war (Paus. V, 10, 3).

Peloponnes. Nach dem griechischen Festlande leiten von Kleinasien nur vereinzelte Fäden über: Theodoros von Samos er- baute die Skias in Sparta (S. 52); Bathykles von Magnesia er- richtete den Thron des Apollo zu Amyklae [s. Buch I, S. 178]. Der Anstoss zu einer regeren Thätigkeit erfolgt von einer anderen Seite her. Dipoinos und Skyllis (SQ. 321 327), die Haupt- repräsentanten der ältesten statuarischen Kunst im Peloponnes, sind kretische Daedaliden,^) ja sie heissen sogar Söhne des Daedalus von einer gortynischen Mutter : ein Beweis, wie unbefangen die Sage nur die allgemeinsten Verhältnisse der ältesten Kunst ins Auge fasste, ohne sich um chronologische Schwierigkeiten zu kümmern. Denn die beiden Künstler gelangten zu Ruhm, »als noch die Meder herrschten und ehe Cyrus in Persien zu regieren anfing, d. h. ungefähr um die 50. Olympiade« (Plin. 36, 9); ja ihr Leben muss sich bis gegen Ol. 60 er- streckt haben, so dass sie den Künstlerpaaren von Samos und Chios im Allgemeinen gleichzeitig waren. Da von ihrer Thätigkeit in Kreta nichts berichtet wird, so scheinen sie schon früh nach dem Peloponnes, und

^) Rn.: Klein, Die Dädaliden, Arch.-epigr. Mitth. aus Oesterr., V(i88i), S. 84 ff.— VII (1883), S. 60 ff.

Künstler und Fortschritte um die Mitte des VI. Jahrhunderts.

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zwar nach Sikyon gekommen zu sein, von wo aus sich ihre Spur in Argos, Kleonae, Tiryns und ausserdem in Ambrakien verfolgen lässt, das sie wegen Zwistigkeiten mit den Sikyoniern zeitweihg zu ihrem Wohnsitze erwählt hatten.

Die Grösse des Einflusses der beiden Künstler zeigt sich besonders in der grossen Zahl von Schülern, welche sie gebildet haben sollen. Unter ihnen tritt namentlich eine Gruppe spartanischer, in Olympia beschäf- tigter Künstler hervor: Theokies, Sohn des Hegylos, Dorykleidas und Dontas, wahrscheinlich identisch mit einem in demselben Schul- und Familienzusammenhange, als Bruder des Dorykleidas, genannten Medon (SQ. 328 331). In Sparta dagegen arbeitet ein anderer ihrer Schüler, Klearchos von Rhegion, der anderwärts Schüler des Eucheiros von Korinth, eines Schülers der sonst unbekannten Spartaner Syadras und Chartas, heisst (Paus. III, 17, 6; VI, 4, 4). Endlich werden als ihre Schüler die für Delos beschäftigten Tektaios und Angelion (SO. 334 337) angeführt, deren Heimat unbekannt ist. Ausserhalb des Zusammenhanges dieser Schule steht noch ein anderer kretischer Daedalide, Cheirisophos (Paus. VIII, 53, 7), der aber gleichfalls im Peloponnes, in Tegea, thätig war, was also auf einen lebendigeren Verkehr beider Länder schliessen lässt.

Plinius führt den Dipoinos und Skyllis unter den Bildhauern in Marmor an, ja er nennt sie sogar die ersten in diesem Kunstzweige berühmten. Wir dürfen diese Nachricht nicht bezweifeln, obwohl weder von ihnen noch von ihren Schülern ein Werk bestimmt als Marmorwerk angeführt wird. Nur dürfen wir daneben nicht übersehen, was sich aus anderen Quellen, namentlich aus Pausanias, ergiebt. Danach verleugnen sie ihren Zusammenhang mit der daedalischen Holzsculptur so wenig wie ihr Landsmann Cheirisophos, von dem ein vergoldetes Xoanon des Apollo und neben diesem allerdings auch sein eigenes Bild in Stein angeführt wird. Auch unter ihren Werken findet sich nicht nur ein Xoanon, sondern auch eine Gruppe von Ebenholz mit Verzierungen von Elfenbein. Ihre spartanischen Schüler aber arbeiten in Cedernholz und Gold, sowie in Gold und Elfen- bein. Diese Stoffe waren freilich selbst der Heroenzeit nicht fremd, aber sie sind neu in ihrer Anwendung auf die statuarische Kunst; und jene Werke bilden also die Brücke zu der späteren Entfaltung der chryselephantinen Technik, die in den Werken eines Phidias und Polyklet ihren Gipfelpunkt erreicht. Weniger sicher lässt sich ihr Verhältniss zur Bronzearbeit beurtheilen. In einer späten armenischen

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Aelterer Zeitraum. Die Plastik.

Quelle, deren Glaubwürdigkeit völlig zu verwerfen kein Grund vor- liegt, werden den beiden Kretensern vergoldete eherne Figuren bei- gelegt (SQ. 326). Dass es aber Gusswerke waren, wird um so weniger anzunehmen sein, als ein Zeusbild ihres Schülers Klearchos noch mit dem Hammer in einzelnen Stücken getrieben war, die mit Nägeln zu- sammengenietet wurden (Paus. III, 17, 6).

Aegina. Mitten unter den Arbeiten der spartanischen Künstler zu Olympia standen die Hören des Aegineten Smilis (SQ. 340 344), durch den gewissermassen die Kette geschlossen wird, welche die ver- schiedenen Kunstschulen dieser Zeit umschliesst. Denn während er hier mit den peloponnesischen Künstlern arbeitet, verknüpft ihn, ab- gesehen von seiner angeblichen Betheiligung an dem sagenhaften Labyrinth von Lemnos, das Bild der Hera von Samos mit den sami- schen Künstlern. Wenn er trotzdem Zeitgenosse des Daedalus ge- nannt wird, so bezieht sich diese Angabe offenbar nur darauf, dass er seine Kunst in der alten Art, d. h. in den früher bekannten Materialen übte, ohne Rücksicht auf die erst in seiner Zeit zur Geltung kommende Marmorsculptur und den Bronzeguss.

Sonst werden von Künstlern dieser Zeit nur noch Perillos als Verfertiger des Stiers des Phalaris (SQ. 364 ff.) und Polystratos aus Ambrakia (SQ. 339) als Künstler einer Porträtstatue dieses Tyrannen genannt; und es möchte ausserdem nur die negative Thatsache hervor- zuheben sein, dass, selbst wenn Perillos Athener sein sollte, doch ein jenen Schulhäuptern einigermassen ebenbürtiger athenischer Künstler aus dieser Periode nicht bekannt ist.^)

Unter den Werken treten uns zuerst einzelne Götterbilder in grösserer Zahl entgegen. Dass in dieser Reihe manche der grossen Götter gar nicht, andere mehrfach vertreten sind, ist wohl nur Zufall. Eher verdient es Beachtung, dass Wesen wie die Hören, die Chariten, die Nyx in selbständiger Geltung vorkommen. Ausser den Namen werden höchstens zuweilen die Attribute genannt : bei der Tyche des

^) Endoios, den genannten Schulhäuptern sicherlich ebenbürtig und ohne Zweifel auch dieser Periode noch angehörig, ist von dem Verfasser erst unter der nächsten be- sprochen. Indessen findet sich unten S. Iiiff., noch in diesem Abschnitte, ein muthmassliches Werk des Künstlers erörtert, woraus hervorgeht, dass der Verfasser bei einer Neubearbeitung auch den Künstler hier eingereiht haben würde. Dennoch haben wir, dies unsererseits zu thun, A])stand genommen, da es verschiedene Textänderungen erfordert hätte.

Künstler und Fortschritte um die Mitte des VI. Jahrhunderts.

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Bupalos zu Smyrna der Polos und das Füllhorn, von einer Nike des Archermos (vSQ. 315) die Beflügelung. Der delische Apollo des Tektaios und Angelion, der vielleicht eine Artemis von gleicher Anordnung zum wSeitenstück hatte (vgl. Wieseler, Apollon Stroganoff, S. 83), hielt in der Linken den Bogen und trug auf der Rechten die Chariten, charakterisirt durch Leier, Syrinx und Flöten Aus Münzen von Athen (Beule, Monn. d'Ath., p. 364)^) und einem geschnittenen Steine (Miliin, Gal. myth. 33, 474) lernen wir diesen Typus, jedoch nur in seinen all- gemeinsten Zügen, kennen: die in alter Zeit ungebräuchliche Nacktheit der Chariten und das Fehlen ihrer Attribute beweisen , mit welcher Freiheit der Copist verfuhr. Ein »altes« und daher wohl dieser Periode angehöriges Bild der Hera zu Koroneia (Paus. IX, 34, 3), von einem Thebaner Pythodoros, trug auf der Hand die Sirenen. Nur von der samischen Hera des Smilis bieten die späteren Münzen von Samos ein directes, in allen Hauptzügen sehr übereinstimmendes Abbild dar (Overbeck, Kunstmyth. III, 2, Münztafel I, i 9). Die Göttin steht aufrecht und scheint in den vorgestreckten, von besonderen Stützen getragenen Händen zwei Schalen zu halten. Ihr Gewand ist ein langer Chiton mit Ueberschlag, über den zwei sich kreuzende Binden laufen. Ein kragenartiger, halbrunder Ueberwurf zieht sich über die Brust. Vom Hinterhaupte fällt zur Bezeichnung des bräutlichen Charakters der Göttin ein breiter Schleier herab. Auf dem Kopfe endhch trägt sie einen hohen Aufsatz in der Art eines Kalathos. Für eine nähere Charakteristik des altertümlichen Stils reichen aber natürlich auch diese Münzen nicht aus.

Man wagt sich ferner an die Darstellung von Gruppen, aller- dings nicht materiell einheithchen Gruppen, wohl aber an Zusammen- stellungen von Figuren, die durch einen emheitlichen Gedanken oder eine gemeinsame Handlung verbunden sind und also eine Anwendung der daedalischen Fortschritte gestatten. ^) Apollo, Artemis, Herakles und Athene, welche Dipoinos und Skyllis für die Sikyonier arbeiteten, waren nach einer sehr einleuchtenden Vermuthung O. Müller's zu einer Darstellung des Dreifussraubes vereinigt;^) und die aus Krösus Besitz nach Armenien gelangten Statuen dieser Künstler waren viel-

1) Rn.: Overbeck, Kunstmythologie IV (Apollon), S. i 7 ff . ; Münztaf. i, No. 17, 18. Greife daneben ?

^) Rn.: Sauer, Die Anfänge der statuarischen Gruppe, Leipzig 1887.

Rn.: V. Rohden, Arch. Zeit. 1876, S. 122 [bezweifelt, dass die Figuren eine Gruppe

bildeten].

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Aelterer Zeitraum. Die Plastik.

leicht eine Wiederholung dieser Gruppe. Für Argos arbeiteten die- selben die Ebenholzgruppe der Dioskuren mit ihren Rossen, ihrer Frauen Hilaeira und Phoibe und ihrer Söhne Anaxis und Mnasinus. Von ihrem spartanischen Schüler Medon (Dontas) befand sich im megarischen Schatzhause zu Olympia eine Gruppe von sechs Figuren aus Cedernholz mit Gold: Zeus [wahrscheinlicher Oineus] und Deianeira, Acheloos gegen Herakles kämpfend, ersterer unter dem Beistande des Ares, letzterer der Athene. Zu einer anderen Gruppe derselben Schule, gearbeitet von Theokies und dessen Vater Hegylos, die ursprünglich im Schatzhause der Epidamnier zu Olympia vereinigt war, gehörte Atlas mit der Himmtlskugel, Herakles, der Baum im Hesperidengarten mit dem Drachen und fünf Hesperiden. Weniger deutlich ist der Zu- sammenhang zahlreicher im Heraion vereinigter Werke eben dieser Künstler: doch scheinen es mehr Neben- oder Gegenüberstellungen von Gottheiten ohne eine bestimmte Handlung gewesen zu sein. Der Ausdruck, dass Werke des Bupalos und Athenis ,,in fastigio", in oder auf dem Giebel des palatinischen Apollotempels aufgestellt waren, lässt sich zwar nicht mit Sicherheit auf eine Giebelgruppe beziehen, aber es darf die Nachricht wohl immerhin als Hinweis auf die engere Verbindung gelten, in welche damals die Marmorsculptur zur Architektur trat. Sie gewinnt dadurch zwar nicht das einzige, aber das ausgiebigste Feld ihrer Thätigkeit, und ausserdem entwickelt sich eben durch diese Verbindung mit der Schwesterkunst die architekto- nische Sculptur als eine eigenartige, aber gerade in der griechischen Kunst hochbedeutende Gattung.

Auch die Anfänge der Porträtbildung reichen bis in diese Periode zurück, wenn auch, abgesehen von dem Rehef des Butades, vielleicht nur die Statue des Phalaris als Porträt im engeren Sinne zu betrachten sein wird. Denn Weihgeschenke wie die Statuen des Kleobis und Biton oder gar der angebliche Arion auf dem Delphin (Herod. I, 3 i u. 24), sofern sie wirklich aus so alter Zeit stammen, hatten schwerlich eigentlichen Porträtcharakter. An die Donatoren auf mittel- alterlichen Kunstwerken erinnern Bathykles mit seinen magnesischen Genossen oben auf dem Throne des amykläischen Apollo, das Bild des Cheirisophos neben seinem Xoanon des Apollo und vielleicht, sofern überhaupt die Ueberlieferung Glauben verdient, ein drittes Künstlerbild, das des Theodoros von Samos. Doch bleiben dieselben ohne Nachfolge.^)

') Am Rande ist u. a. an das Sitzbild des Chares, s. u. S. lo6f., erinnert.

Erhaltene Werke: Charaktere und Vorbilder.

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Dagegen finden sich bereits in dieser Periode die ersten Beispiele einer Statuengattung, welche sich bald neben mythologischen und Götter- Darstellungen eine selbständige und ausgedehnte Bedeutung erringen sollte: nämlich die Statuen der Sieger in den olympischen und andern Festspielen.^) Pausanias nennt als die ältesten zu Olympia vorhandenen die des Aegineten Praxidamas aus Cypressen- und die des Opuntiers Rhexibios aus Feigenholz, errichtet wegen ihrer Siege in der 59. und 61. Olympiade (VI, 18, 7. Soll er sich nicht selbst widersprechen, so konnte die des Spartiaten Eutelidas: VI, 15, 8 erst lange Zeit nach dem Ol. 38 errungenen Siege aufgestellt sein.) Noch etwas älter war das Stein- bild des Arrhachion, welches die Phigalier ihrem im Kampfe erwürgten, aber trotzdem siegreichen Landsmanne nicht in Olympia, sondern in seiner Heimath bald nach Ol. 54 aufstellten (Paus. VIII, 40, i): nur wenig standen die Füsse auseinander, und die Arme hingen unbewegt an den Hüften herab. Hier ist allerdings noch nichts von der Be- deutung zu erkennen, welche diese ganze Statuengattung bald für den Fortschritt der Kunst gewinnen sollte. Als jedoch die ersten Schwierig- keiten der statuarischen Kunst überwunden w^aren, da boten gerade die Gestalten dieser Sieger einen fast zwingenden Anlass, sich an der Darstellung des menschlichen Körpers ohne jede andere Rücksicht als die auf die reine Schönheit der Form und der Bewegung sich zu üben.

Ueber die Eigenthümlichkeiten des Stils lassen uns die schrift- lichen Nachrichten noch völlig im Dunkeln ; höchstens wird mit einem Worte der Charakter der Alterthümlichkeit oder des Ungeschicks her- vorgehoben, dagegen erfahren wir nichts, ob und wie weit die ver- schiedenen Schulen auch stilistisch sich unterschieden, so dass hier vor allem die Betrachtung der erhaltenen Monumente ergänzend ein- treten muss.

Erhaltene Werke.

1. Charaktere und Vorbilder.^)

Daedalus tritt uns in der Sage als der Stammheros einer echt hellenischen Kunst entgegen. War sie das von Anfang an und schon vor der Zeit des durch ihn repräsentirten Fortschrittes, oder leitet sie ihren Ursprung von der eines fremden Volkes her und bleibt diesen

^) Rn.: Scherer, De Olympionicarum statuis, Gött. 1885. ^) Jüngere Redaktion.

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Aelterer Zeitraum. Die Plastik.

Einflüssen für längere Zeit unterworfen. Die Beantwortung dieser Frage leitet uns von der schriftlichen Ueberlieferung zu der Betrach- tung noch erhaltener Denkmäler über.

Cyprische Werke. Es ist schon früher auf die wichtige Stellung hingewiesen worden (Buch I, S. 98 ff.), welche Cypern als Vermitt- lerin asiatischen Einflusses in der Geschichte der ältesten decorativen Kunst einnahm. Auch jetzt richtet sich unser Blick wieder nach jener östlich gelegenen Insel, um so mehr als die Entdeckungen Cesnola's, namentlich in den Ruinen von Golgoi, auch für die Geschichte der ältesten statuarischen Kunst ein reiches Material dargeboten haben, welches noch übersichtlicher als in dem Werke Cesnola's (Palma di Cesnola, Cyprus, London 1777) (C), in einem Aufsatze von Doell (D), „Die Sammlung Cesnola", in den Memoiren der Petersburger Akademie, VIT. Serie, Band XIX, zusammengestellt ist.

Die statuarische Kunst war bei den Assyriern zu keiner eigentlichen Entwickelung gelangt. An den wenigen erhaltenen Werken, z. B. den Statuen des Gottes Nebo und des Königs Assurnazirbal im Britischen Museum (Perrot et Chipiez, Hist. de Tart II, p. 83 u. 537), ist zwar das Decorative, wie Haarlocken, Franzen u. dgl., mit gleicher Vorliebe wie an assyrischen Reliefs ausgeführt; aber in dem, was das Wesen einer Statue ausmacht, in dem Verständniss des Körpers, in der Behandlung der Gewandung genügen sie auch nicht den mässigsten Ansprüchen. Dennoch finden sich unter den cyprischen Statuen einige bärtige Männer in langen Gewändern, wahrscheinlich Priester (C, p. 143 ; DI, 13; (Br.-Br. 201; vgl.C, p. 131; DI, Ii), welche unwillkürlich an diese assyrischen Vorbilder erinnern. Doch erkennen wir sofort, dass sie keineswegs von der Hand assyrischer Künstler ausgeführt sein können. Der Körper verschwindet nicht mehr vollständig unter der Gewandung, an der sich sogar ein schüchterner Versuch zur Angabe von Falten findet. Die noch immer schematisierten Bärte gehen doch über die rein decorative Behandlung des Haares hinaus. An den Füssen, Händen, Ohren lassen sich die Spuren eigener Naturbeobachtung nicht verkennen, und selbst in den Köpfen tritt ein Streben nach indivi- dueller Charakterisirung hervor: alles freilich nur in Spuren und An- deutungen. Genug, die Künstler hatten offenbar assyrische Werke gesehen und wollten etwas diesen Verwandtes schaff"en; aber sie sahen ihre Vorbilder nicht mit den Augen eines Assyriers an, sondern ihr eigenes künstlerisches Naturell liess unter ihren Händen etwas ent-

Erhaltene Werke: Charaktere und Vorbilder.

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stehen, was seinem inneren Wesen nach über die Vorbilder hinaus- ging, wenn es auch nach manchen Seiten noch hinter ihnen zurück- bleiben mochte.

Nach dem Sturze der assyrischen Herrschaft begannen sich in Cypern die Einflüsse Asiens und Aegyptens lebhaft zu bekämpfen, und wenn auch die Erfolge des Apries vorübergehend waren, so ver- fiel doch Cypern unter Amasis für längere Zeit der ägyptischen Herr- schaft. Auch in der Kunst folgen auf die pseudo-assyrischen die pseudo-ägyptischen Arbeiten. Eine kleine Jünglingsfigur ohne Füsse aus Cesnola's früheren Ausgrabungen (vgl. Br.-Br. 202) weist in der Haar- tracht und dem Schurze, dem Sindon, selbst äusserlich auf ägyptische Nach- ahmung hin. Das sichere, geschlossene System der ägyptischen Sculptur hat auf den Künstler einen unverkennbaren Eindruck gemacht ; allein in seinem Werke finden wir im Grunde doch nur ein Zerrbild desselben: gerade der Kanon der Proportionen ist durch die übermässige Grösse des Kopfes, die Schmächtigkeit des Körpers, die Kürze und Dicke der Arme und Beine vollständig aus dem Gleichgewicht gerathen. Wie bei den ersten Versuchen eines Kindes leuchtet aus dem Ganzen das Vorbild deutlich hervor, während in allem Einzelnen die Nach- ahmung verunglückt erscheint. Gerade darin aber macht sich die eigene Naturbeobachtung um so entschiedener geltend und setzt sich mit dem fremden Vorbilde oft geradezu in Widerspruch. Die Kniee, die Gelenke der Arme, die Hände, Ohren, Augenbrauen lassen eine entschiedene Neigung zu naturalistischer Behandlung erkennen. Dass aber ein Theil dieser Eigenthümlichkeiten durchaus individuell ist, lehrt z. B. die Figur: C 131 ; D II, 9; Br.-Br. 202. Auch hier ist das ägyptische Vorbild nicht zu verkennen. Aber wenn der Kopf ein richtigeres Verhältniss hat, so wird dagegen die Harmonie wieder durch den kegelförmigen Hals, den zu schmächtigen Leib und die zu langen Arme gestört. Die Arbeit ist sauberer und glatter, Bart, Halsschmuck und Sindon sorgfältig, ja elegant ausgeführt. Dagegen sind die einzelnen naturalistischen Züge meist wieder verwischt. Während ferner der Kopf an der ersten Figur im Ganzen einen ägyptischen Zuschnitt hatte, wirken an dem zweiten offenbar assyrische Einflüsse nach. Wie an diesen beiden Figuren, so würde sich auch an den übrigen ägyptisierenden Werken (D II u. III) leicht nachweisen lassen, dass jedes derselben neben der Gemeinsamkeit des auf äusseren Ein- wirkungen beruhenden Grundcharakters im Einzelnen sehr bedeutende individuelle Verschiedenheiten darbietet. Doch mag hier nur noch die

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Aelterer Zeitraum. Die riaslik.

Figur eines Thallophoren, eines Jünglings mit einem Zweige in der Rechten : C 1 45 ; D III, 8 ; Br.-Br. 203 , kurz betrachtet werden. Sie erinnert wohl noch an ägyptische Vorbilder, aber nur im Allgemeinen, während sie in den gereinigteren Verhältnissen, in der Haltung des Körpers, wie in der Formation des Kopfes in nicht geringerem Maasse sich griechischer Auffassung annähert. An dem leichten Mantel, der über ein eng anliegendes Untergewand gezogen ist, begegnen wir dazu, wenn auch in flacher Ausführung, schon dem System regelmässig gelegter Falten, in dem sich, wie es scheint, bereits von der entgegen- gesetzten Seite, von Westen kommende rein griechische Einflüsse geltend machen.

Aus andern Gegenden, wo Griechen ansässig gewesen, sind ähn- liche Arbeiten bisher nicht bekannt geworden. Wohl aber unterscheidet Pausanias von dem alt-attischen und äginetischen einen ägyptischen Stil. Nach seiner Angabe glichen der Apollon Pythios und der Dekatephoros zu Megara den ägyptischen Arbeiten , und ebenso nennt er ägyptisch einen Herakles zu Erythrae, der aus Tyros in Phönizien gekommen sein sollte (I, 42, 5 ; VII, 5, 5). Ausserdem gehört hierher die Erzählung Diodors (I, 98) über den Apollon Pythios zu Samos, welcher zufolge der Angabe ägyptischer Priester aus zwei getrennten Stücken Holz halb in Samos von Telekles, halb in Ephesus von dessen Bruder Theodoros nach ägyptischem Kanon ge- fertigt worden sei. Vielleicht war das Bild wirklich aus zwei Stücken zusammengesetzt und bot dadurch den Anlass, dass nun die Sage auch den Künstler, den bekannten Theodoros, Sohn des Telekles, in zwei Personen, einen Telekles und einen Theodoros, spaltete. Jeden- falls besitzen wir in diesen Nachrichten deutliche Hinweisungen auf eine ägyptisirende Kunstübung, die der cyprischen verwandt und viel- leicht von dort ausgehend sich wenigstens durch einzelne ihrer Arbeiten auch über andere Gegenden Griechenlands verbreitet hatte.

Sind wir aber darum berechtigt, von einem ägyptischen Kunst- stil, von einer ägyptisirenden Kunstschule in jenen ältesten Zeiten zu sprechen? Um schiefen und darum verwirrenden Auffassungen vorzubeugen, müssen hier die Begriffe scharf geschieden werden. Wenn je die Bezeichnung von Incunabeln auf Kunstwerke anwend- bar ist, so ist es bei diesen ältesten cyprischen Arbeiten der Fall. Es sind die Versuche der Kindheit der griechischen Kunst. ^) Das Kind

^) Eine Randbemerkung lässt erkennen, dass der Verfasser erwog, ob diese Arbeiten nicht doch kyprisch-phönikischen Ursprungs seien.

Erhaltene Werke: Charaktere und Vorbilder.

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ist unselbstständig, insofern es sich der Macht der Eindrücke, welche es umgeben, nicht zu entziehen vermag; aber es ist selbständig in der Art, wie es diese Eindrücke in sich aufnimmt und mit Hülfe der ihm von der Natur verliehenen individuellen Anlagen verarbeitet. So nimmt der kindliche griechische Geist die Eindrücke asiatischer und ägyptischer Kunstwerke in sich auf; er vermag sich ihnen nicht zu entziehen: denn was bereits einmal durch den menschlichen Geist hindurchgegangen und durch ihn künstlerische Gestalt erhalten hat, das muss auf den schafFungslustigen, aber in eigenem Schaffen noch ungeübten Anfänger zunächst noch stärker wirken, als die Natur selbst in dem fortwährenden Wechsel und Flusse ihrer Erscheinungen. Aber die Natur hört darum nicht auf, auch ihrerseits auf das offene Auge des Künstlers zu wirken. So stehen diesem zwei Quellen zu Gebote, welche ihm den Stoff und die verschiedenartigen Elemente liefern, deren er zu eigenen Schöpfungen bedarf Er entlehnt von den ägyp- tischen Vorbildern das Allgemeine der künstlerischen Gestaltung, die allgemeine stilistische Anlage, von den Assyriern manches decorative Detail; aber er verarbeitet alles nach seiner eigenen Auffassung und nach der Anschauung, die er sich selbst von der Natur gebildet hat, und tritt dadurch trotz äusserlichen Anschliessens doch sofort in einen innerlichen Gegensatz zu seinen Vorbildern. Von fremder Schulung zeigt sich in allen diesen Arbeiten nirgends eine Spur; nirgends handelt es sich um das mehr oder minder sclavische Nachbilden eines Schülers, sondern um ein noch ungeschicktes, aber doch freies Nach- schaffen. Der Unterricht der Schule müsste gleichartiger gewirkt, müsste gelehrt haben, eine Menge von Fehlern zu vermeiden, in welche der Einzelne verfallen ist, müsste dagegen das Maass der Selbstständigkeit beschränkt, ja theilweise unterdrückt haben. Weder das Eine, noch das Andere ist der Fall ; diese älteren Versuche der griechischen Sculptur sind zugleich unbeholfener und selbständiger, als sie es unter einem schulmässigen Einflüsse fremder Kunstübung' sein könnten, selbständiger darin, dass sie die Klippen, an denen die weitere Entwickelung der ägyptischen und assyrischen Kunst ge- scheitert ist, von Anfang an principiell gemieden haben, unbeholfener theils in der materiellen Ausführung, theils darin, dass sich die Vor- züge des Fremden in ihnen nur erst im Keime finden, aus denen nur allmählich und unter vielfachem Ringen sich die spätere Blüthe ent- faltet. Gerade das ist charakteristisch an diesen Versuchen, dass keiner dem andern gleicht, dass in jedem einzelnen stets ein Stück

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Aelteier Zeitraum. Die Plastik.

einer besonderen Individualität zur Geltung kommt. Wie aber im Wesen des Kindes etwas Weiches und Biegsames liegt, so lässt sich auch in diesen Arbeiten ein verwandter Charakterzug nicht verkennen. Dem strengen Archaismus gegenüber machen sie sogar den Eindruck grösserer Weichheit und Freiheit. Aber es ist dies keine Freiheit, welche durch strenge Uebung und Zucht erkämpft ist, sondern sich noch gar nicht in die Zucht der Schule begeben hat.

Zur richtigen Würdigung dieses Verhältnisses darf indessen ein weiterer Umstand nicht übersehen werden, der scheinbar äusserlicher Art doch auch das innere Wesen der hier betrachteten Kunstart tief berührt. Die neuere Forschung hat mit immer steigendem Nachdruck darauf hinweisen müssen, wie für die Gewinnung eines festen Stils das Material von entscheidender Bedeutung ist. Wie der ägyptische Stil durch die Härte des Granits und Basaltes bedingt ist, so dürfen wir wohl sagen, dass der griechische sich vorzugsweise am Marmor und an der Bronze ausbildete und festigte. Jene cyprischen Statuen aber sind in einem weichen Kalkstein gearbeitet, und ihr besonderer Charakter erklärt sich zu einem nicht geringen Teile aus der Natur eben dieses Materials. Denn während die geringe Festigkeit des- selben der Bildung freistehender Gliedmassen sich wenig günstig erweist, erleichtert die Weichheit nicht nur die technische Bearbeitung, sondern führt auch wie von selbst zu einer grösseren Weichheit und Mürbigkeit (morbidezza) der formalen Behandlung. Zugleich aber ermöglicht sie jene grössere Beweglichkeit und Freiheit in der gesammten Auffassung, wie in der Ausführung des Details, welche jedem einzelnen Versuche seinen so bestimmt hervortretenden indi- viduellen Charakter verleiht.

So günstig der Einfluss war, welchen theils das Anlehnen an fremde Vorbilder, theils die geringe technische Schwierigkeit auf die Anfänge und Versuche der Sculptur ausüben musste, wie sie uns in Cypern entgegentreten, so lässt sich doch nicht in Abrede stellen, dass eben diese Verhältnisse auf die weitere Entwicklung eher hemmend als fördernd einwirken mussten. Fremde Einflüsse, denen man sich einmal hingegeben, werden sich namentlich da, wo sie sich mit einer gewissen Continuität geltend machen , nicht sofort nach Belieben wieder beseitigen lassen, und so wird sich in der Folge zeigen, dass ihre Nachwirkungen sich in Cypern in der That länger als anderwärts bemerkbar machen. Jene Weichheit des Mate- rials aber, welche eine individuelle Auffassung begünstigte, war

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wiederum die Ursache, dass sich aus den einzelnen Versuchen schwerer gew^isse gemeinsame Anschauungen herausbildeten, aus denen heraus sich eine gemeinsame künstlerische Ausdrucks- und Vortragsweise, ein bestimmter Stil festzusetzen vermochte, dass man schliesslich nicht zur Feststellung einer eigenen Sprache der Kunst, sondern nur bis zur Geltendmachung eines provinziellen Mischdialectes gelangte. Zur Begründung dieser Ansichten mag hier noch eine der Sculpturen von Golgoi, eine überlebensgrosse Statue des Herakles, einer kurzen Prüfung unterzogen werden (C 133, pl. 12; Br.-Br. 205; weniger vollständig bei D VII, 9). Sie zeigt uns den Helden stehend in ruhiger Haltung, in kurzem enganliegenden, um die Hüften gegürteten Chiton mit langen Aermeln. Den Kopf des Löwenfelles hat er über sein Haupt gezogen, die Vordertatzen auf der Brust in einen Knoten geknüpft. Von anderen Attributen wurde wohl der Köcher von der herabhängenden Rechten gehalten, während der Bogen über der linken Schulter hängt, die Linke aber die Keule gleich einem kurzen Schwerte führt. Der Eindruck, den das Werk auf uns macht, ist von dem der bisher betrachteten cyprischen Sculpturen, wie derjenigen, die uns erst in der folgenden Periode beschäftigen werden, wesentlich verschieden. Wir vergessen die asiatische Ueberfülle , das Unentwickelte der Körperformen, das Enganliegende der Gewandung und achten kaum darauf, dass an der Löwenmähne sich Spuren ägyptischer Stilisirung zeigen. Gegenüber der routinirten Weichlichkeit der pseudo-assyrischen und -ägyptischen Arbeiten macht die naturwüchsige Derbheit der Erscheinung- einen erfrischenden Eindruck, und von nicht minder günstiger Wirkung ist es, dass an die Stelle süsslichen Gesichtsaus- druckes eine ganz verschiedene, kräftigere Charakteristik getreten ist. Wir empfinden, dass sich überall griechischer Geist in unabhängiger Weise geltend zu machen sucht. Es ist zuzugeben, dass derselbe hier noch nicht rein zu Tage tritt, aber ebenso, dass die Bedingungen zu reinerer Entfaltung hier gegeben, dass nur noch geringe Reste fremden Einflusses abzustreifen sind. Wenn daher dieser Herakles unter den zahlreichen Sculpturen von Golgoi ein isolirter Versuch bleibt, der keine directe Nachfolge und Weiterbildung findet, so liegt eben darin der stärkste Bew^eis, dass die oben dargelegten allgemeinen Verhält- nisse mächtiger waren, als der Einfluss einer so selbständigen und eigenartigen Individualität wie die des Künstlers dieser wStatue.

Die Bedeutung Cyperns tür die Anfänge der griechischen Sculptur wird daher in dem Sinne zu beschränken sein, dass es den Entwickelungs-

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prozcss derselben allerdings unter günstigen Bedingungen einleitete, aber ihn nicht auch nur zu einem ersten und vorläufigen Abschlüsse brachte. Die dortigen Verhältnisse boten Gelegenheit zu einer Reihe von praktischen Vorübungen, auf Grund deren die strenge Schulung beginnen konnte. Diese selbst aber musste es anderen Orten über- lassen, welche andauernden fi-emden Einflüssen mehr entzogen und zugleich darauf angewiesen waren , durch die Bearbeitung eines schwierigeren Materials zunächst für die rein handwerksmässige, tech- nische Seite eine feste Grundlage zu schaffen. Das ist der Fall im eigentlichen Griechenland, und dorthin werden wir daher zunächst unsere Blicke zu richten haben.

Werke aus dem eigentlichen Griechenland. Unter den statuarischen Werken des Festlandes von Hellas verdient ein Götterbild vorangestellt zu werden nicht weniger wegen seiner hohen Alterthümlich- keit, als wegen seiner bedeutenden Grösse, das Bild des Apollo, welches, nach der Schätzung des Pausanias (III, 19, 2) etwa dreissig Ellen hoch, zu Amyklä bei Sparta in der Mitte der schon früher besprochenen Thronanlage aufgestellt war. Es war aber nicht wie diese ein Werk des Bathykles, sondern ,,alterthümlich und nicht künstlerisch durchgebildet" (ctpxaiov %ai o(^ öh\ TS/VT} 7iE7ioir\iJLEyo\). Denn mit Ausschluss des Gesichtes und der Aussentheile der Füsse und der Hände glich es einer ehernen Säule. Auf dem Kopf trug der Gott einen Helm, in den Händen Speer und Bogen. Leider fügt Pausanias nicht hinzu, ob es ein Gusswerk, oder von getriebener Arbeit war. Eine ungefähre Vorstellung des Ganzen gewähren uns lakedämonische Münzen aus der Zeit des Anti- gonos Doson^), die uns ausserdem noch lehren, dass der rechte Arm mit dem Speere in Kampfhaltung erhoben war. Die säulenförmige Gestalt erscheint durchaus glatt, ist also langbekleidet zu denken. Von weiterer Gliederung des Körpers zeigt sich keine Spur, und eben- sowenig lässt die säulenartige Gestalt einen irgendwie bestimmten tek- tonischen Charakter erkennen.

Sehen wir uns nach Vergleichungen unter erhaltenen Arbeiten um, so bietet sich uns zunächst ein Steinbild aus Olympia (Olympia III, T. 5, 4 u. ö) dar, freilich nur in geringeren Dimensionen (0,235 hoch): eine Göttin stehend, mit einfach gegürtetem, langem glatten Gewände, aus dem sich zu beiden Seiten nur wie eine erhabene Linie eine senkrechte Falte

^) Gardner, Types of greek coins, pl. XV, 28.

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loslöst, mehr um anzudeuten, dass es von den beiden enganliegenden Armen gefasst und leicht gehoben wird, als dass dieser Gedanke wirk- lich zu klarer Darstellung gelangt wäre. Der Kopf mit kalathus- artigem Aufsatz ist unverhältnissmässig gross, die Teile des Gesichts stehen nicht im richtigen Verhältniss; die Ohren erscheinen wie äusser- lich angeklebt, der Mund zu breit, fast nur wie eingekerbt und ohne Gliederung der Lippen. Eingesetzte Augensterne sollten die Lebendig- keit steigern, wenn sie auch freilich nur den Eindruck der Fratzen- haftigkeit erhöhen. Das Haar, seitwärts in grossen, breiten Massen herabfallend, ist nur auf der Stirn in leicht eingezeichnete Locken ge- legt. — Verwandter Art sind die obere Hälfte eines Steinbildes (etwas unter Lebensgrösse) aus Eleutherna auf Kreta und eine ähnliche halbe Figur aus der Nähe von Tegea (Accad. de'Lincei, Rendiconti VII, i, 21 Giugno 1891. Bull. d. corr hell. iSgo, pl. 1 1). In der ersteren erscheint das Auge fast geschlossen ; in beiden ist das herabfallende Haar durch senkrechte und horizontale Einschnitte wie in kleine Quadrate ge- gliedert. Die Ausführung dieser Arbeiten kann kaum primitiver ge- dacht werden. Dass indessen die verschiedenen Künstler von gewissen gemeinsamen Gesammtanschauungen ausgingen, kann wieder eine kleine ' Bronze in Dresden lehren (Jahrb. d. Inst. IV, Anz., S. 103), die, wie es scheint, von italischer Herkunft sich mehr dem griechischen, als dem erst später entwickelten etruskischen Charakter nähert. An der im Uebrigen rundlich behandelten, lang bekleideten Gestalt macht sich als charakteristisch die scharfe Betonung der Schulterecken, sowie das spitze Hervortreten der Brüste geltend, während der herabhängende linke Arm unter dem Gewände fast verschwindet, der noch anliegende, aber gebogene rechte dürftig und wie verkümmert erscheint. Auch der leise vorgeschobene Kopf zeigt eine Verschiedenheit in der Bildung des knochigeren Schädelbaues, wie der mehr hervorquellenden Augen.

Es liegt nahe, das Gemeinsame in dem Charakter der obigen Stein- sculpturen auf die Eigenthümlichkeit kretisch-peloponnesischer Kunst- übung zurückzuführen: vielleicht mit Recht. Doch ist bei der Dürf- tigkeit des bis jetzt vorliegenden Materials grosse Zurückhaltung ge- boten. Nur so viel darf mit Bestimmtheit behauptet werden, dass diese Arbeiten nicht wie die cyprischen Sculpturen abhängig sind von fremden Mustern und Vorbildern. Die Künstler gehen aus von einem Ge- sammtbilde, das ihnen die Wirklichkeit bietet, das sie aber vollständig zu erfassen und in seinen Theilen künstlerisch zu bewältigen noch

Brunn, Gr. Kunstgeschichte II. 5

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nicht im Stande sind. Den Ausdruck, welchen Tansanias von Apollo gebraucht: er sei ov av\ TEXvr\, d. h. noch nicht künstlerisch durchgebildet, möchte man auf sie in dem Sinne anwenden, dass ihnen noch die- jenige Sicherheit fehlt, welche nur ein klar erfasstes Grundprinzip der Bildung zu gewähren vermag.

Ein solches aber war in der decorativen Kunst von früh an vor- handen: sie stand durchaus unter der Herrschaft tektonischer Prinzipien. Wenn nun auch die selbständige statuarische Kunst eine grössere Frei- heit für sich in Anspruch nehmen darf, so bedarf doch auch sie der festen, bindenden Regel als eines Stützpunktes für eine gesunde, naturgemässe Entwickelung und zum richtigen Gebrauche der Freiheit. Das Verständ- niss dieses Verhältnisses ist uns erst durch einige Entdeckungen der neueren Zeit eröffnet. Die betreffenden Werke mögen in ihrer Ausführung einer schon vorgeschritteneren Periode angehören, als die ist, um die es sich zunächst hier handelt. Aber das ursprüngliche Bildungsprinzip tritt uns in ihnen in seltener Reinheit entgegen, so dass sie unter diesem Ge- sichtspunkte schon hier betrachtet werden müssen. Von zwei Marmor- statuen, die in engem Zusammenhang zu behandeln sind, entstammt die eine den französischen Ausgrabungen auf Dolos und stellt eine mit einfachem Chiton langbekleidete weibliche Gestalt dar, deren herab- hängende Arme eng am Körper anliegen. Ein Loch in jeder Hand deutet auf eingefügte Attribute geringen Umfanges. Nach einer In- schrift auf der linken Seite war sie von einer Naxierin Nik andre der Artemis geweiht: ob das Bild der Göttin selbst, oder das der Weihenden, lässt sich nicht entscheiden (Homolle im Bull, de corr. hell. iSyg, pl. i; p. 3 u. 99; Br.-Br. 57 a). Die andere, in unmittelbarer Nähe des Hera- tempels auf Samos entdeckt, befindet sich jetzt im Museum des Louvre: auch sie ist lang-, aber weniger einfach bekleidet und durch eine in ähnlicher Weise angebrachte Inschrift als Weihgeschenk eines Cheramyes für Hera bezeichnet. Die Hand des herabhängenden rechten Armes fasst das Obergewand; die auf die Brust gelegte (sehr be- schädigte) Linke hielt ein in einem Loche befestigtes, leider nicht er- haltenes Attribut. Also auch hier lässt sich die Bedeutung der Gestalt nicht sicher bestimmen ; doch ist die Bezeichnung als Hera wohl die nächst- liegende (Girard im Bull, de corr. hell. 1880, pl. 13 14, p. 483; Br.-Br. 56).

Der^) Werth der beiden Statuen beruht daher ganz überwiegend auf ihrer formalen Erscheinung: es sind zwei stehende bekleidete

^) Ausgenommen die Zusätze über analoge Typen,- nahezu gleichlautend bereits gedruckt in den Sitzungsberichten der Münchn. Akad. d. Wissensch. 1884, S. 509 fi'

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Figuren. Während aber bei nackten Gestalten auch in ruhiger Halt- ung die Bedeutung des lebendig Organischen sich in der Nachahmung der Wirklichkeit so weit geltend machen wird, dass dagegen die stilistische Auffassung weniger deutlich und nur etwa in zweiter Linie hervorzutreten vermag, führt der todte Stoff der Gewandung darauf, das Zufällige und Wechselnde in seiner Verwendung bestimmten stilistischen Anschauungen unterzuordnen, überhaupt eine bestimmtere »Stilisirung in den Vordergrund zu stellen. So werden wir also schon hier auf den Gegensatz von einfacher Nachahmung der Natur und künstlerischer Stilisirung hingewiesen.

Bei der Betrachtung der beiden wStatuen drängt sich aber einem Jeden unwillkürlich die Erinnerung an Holzsculptur auf, die ja auch nach der historischen Ueberlieferung für älter als die Steinsculptur gelten muss. Man übte sich natürlich zuerst an dem weicheren, leichter zu bearbeitenden Material, und als man sodann zu dem här- teren Stein und Marmor überging, blieben zunächst noch die Anschau- ungen und Erfahrungen massgebend, die man sich an dem weicheren erworben hatte. So sind in der That die beiden Statuen, obwohl in Marmor ausgeführt, ihrem künstlerischen Charakter nach principiell durchaus als Holzsculpturen zu betrachten. Darin aber, dass wir auch im Marmor noch den Holzstil anerkennen, liegt es bereits aus- gesprochen, dass die Künstler nicht mehr mit voller Freiheit schufen, wie etwa da, wo sie einen Klumpen Thon in beliebige Formen kneteten, sondern dass sie sich gebunden fühlten durch die natürlichen Eigen- schaften des Materials, in dem sie ihre Gedanken zum Ausdruck zu bringen beabsichtigten. Vergegenwärtigen wir uns nämlich, auf welchem Wege diese Werke technisch hergestellt worden sind, so werden wir dadurch an einen Ausspruch Michelangelo' s in einem seiner Sonette erinnert (XV in der Ausg. von Guasti, S. 173 i vgl. auch XVI, S. 174): es gebe keinen künstlerischen Gedanken , den nicht ein einzelner Marmorblock in sich enthalte, und es komme daher nur darauf an, diesen von dem U eberflüssigen zu befreien, um die Idee verkörpert ans Licht treten zu lassen. Dass es sich hier nicht um ein Spiel mit Worten, um eine halb scherzhafte Pointe handelt, zeigt eine andere Bemerkung in seinen Briefen (CDLXII der Ausgabe von Milan esi, S. 522): unter Sculptur verstehe er die Kunst, die sich bethätige auf dem Wege des Abnehmens : per forza di levare ; die andere, die sich bethätige durch An- und Aufsetzen : per via di porre (also z. B. die Arbeit in weichem Thone), sei ähnlich der Malerei. Letzteres lässt sich

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nur so verstehen, dass, wie ein Gemälde entstehe durch Auftragen der Farben auf eine indifferente oder neutrale Fläche, ebenso das plastische Thonwerk erwachse durch Auftragen des Thones, und zwar beim Relief auf eine Fläche, bei dem Rundbilde um einen Kern herum, mag auch hier schliesslich bei dem Durchbilden das Weg- nehmen des zu viel Aufgetragenen wieder eine bedeutende Rolle spielen.

Die Entstehung eines Sculpturwerkes auf dem Wege des Ab- nehmens tritt uns an den beiden Statuen von Delos und Samos in be- sonderer Deutlichkeit entgegen. Mit nicht minderer Deutlichkeit in- dessen erkennen wir bei einer Vergleichung der beiden Werke, wie trotz des Ausgehens von dem gleichen Principe doch der tektonische Charakter des einen im Gegensatze zum andern in entscheidender Weise durch die besondere Natur der stofflichen Grundlage bedingt ist. Wir dürfen nämlich bei der Betrachtung dieser Werke kaum oder wenigstens nicht in erster Linie fragen : wie fassten die beiden Künstler die menschliche Gestalt auf? Es drängt sich uns vielmehr als (ideelle) Voraussetzung auf, dass zu Herstellung seines Werkes dem einen Künstler ein viereckiger Balken, dem andern ein runder Stamm ge- geben war. In diesem Stoffe aber war nicht eine menschliche Gestalt frei der Natur nachzubilden, sondern die Aufgabe lief darauf hinaus, wie sich dieser Stoff mit den verhältnissmässig einfachsten Mitteln durch Abarbeiten so weit umgestalten lasse, dass er bei dem Be- schauer den Eindruck einer bekleideten menschlichen Gestalt hervor- rufe. Prüfen wir auf diese Auffassung hin das Einzelne.

Der Balken der Statue von Delos verjüngt sich von unten nach oben etwa in demselben Maasse, wie in der Natur der Stamm eines schlank aufgeschossenen Baumes ; und diese Verjüngung erhält in dem oberen Teile durch die Form des Schädels und die nach den Schultern zu sich verbreiternden Haarmassen eine regelmässige Abrundung. Nur die auch in der Natur an den Stamm des Körpers gleich Aesten angefügten Arme und die unten hervortretenden Spitzen der Füsse wirken auch im Kunstwerke als an den ursprünglich einfachen Balken angesetzte Theile. Sonst bewahrt dieser seinen äusseren Um- riss bis nahe zu drei Fünfteln seiner Gesammthöhe, wo die Gürtung des Gewandes die Einziehung der Taille bezeichnet. Hier genügt eine mässige Abrundung nach den Seiten, um die Hüfte hervortreten zu lassen, während die gerade Linie vom Gürtel bis zur Achselhöhle wieder zu der ursprünglichen Breite des Balkens zurückführt und zu-

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gleich die bestimmte Vorstellung von der Verbreiterung der Brust nach oben erweckt. Auf der Vorderseite schneidet der Gürtel nur sehr mässig ein und die Rundung des Leibes verschwindet vollständig in der Fläche. Ueberhaupt aber ist der Rundung der Gesammtmasse des vom Gewände umkleideten Körpers nur in so weit Rechnung ge- tragen, dass die vier Kanten des Balkens abgearbeitet, die zwischen diesen liegenden Plächen aber unberührt geblieben sind. Wenn nun auch dem Werke ursprünglich der Schmuck der Farbe nicht gefehlt hat, so gestattete doch die ganze Anlage keine weitere Gliederung durch Angabe von Falten oder andere Massen, sondern nur eine decorative Belebung durch aufgemalte Muster. Kopf und Ober- körper haben leider stark von der Zeit gelitten. Wir erkennen nur, dass die zwei Fünftel der Gesammthöhe, welche auf beide zusammen entfallen, durch den Ansatz der Halsgrube in zwei gleiche Hälften getheilt werden. Aber nicht einmal die Rundung der Brüste scheint sich irgendwie aus der Fläche hervorgehoben zu haben und der weibliche Charakter höchstens durch die wenig steile, nur gegen die Halsgrube etwas zurückgeneigte Fläche der oberen Brusthälfte einiger- massen angedeutet gewesen zu sein. Auch die Formen des Kopfes traten nicht über die vordere und hintere Balkenfläche hervor, sondern lagen innerhalb der Grenzen derselben eingeschlossen. Die nur in wenige Zöpfe oberflächlich gegliederten schweren Haarmassen aber machen den Eindruck, als sollten sie die Form des Halses mehr ver- decken als zeigen und in ihren vorderen Flächen den Uebergang von den Flächen der Brust zu dem Scheitel der Figur vermitteln, während sie hinten in der Fläche des Rückens einfach verlaufen. Von den Formen des in seiner länglich ovalen Anlage den Gesammtverhält- nissen der Gestalt entsprechenden Gesichtes lässt sich im Einzelnen nicht reden, so wenig wie von den herabhängenden enganliegenden, nur in der Gegend des Ellenbogens vom Körper gelösten Armen. Hände und Zehen endlich entbehren der Durchbildung.

Es ist schwer, sich eine menschliche bekleidete Gestalt mit ein- facheren Mitteln und in einfacheren Formen dargestellt zu denken ; und doch wird von Homolle (de antiq. Dianae simulacris Deliacis, p. 14) eine fragmentirte Figur, ebenfalls aus Delos, von ähnlichem, aber noch alterthümlicherem Charakter angeführt, an der nicht einmal die Füsse unter dem Gewände sichtbar hervortreten. Ein anderes Frag- ment, die Hälfte des unteren Theiles einer bekleideten Figur, ist in Böotien beim Heiligthum des Apollon Ptoios (Bull. d. corr. hell. 1 886, pl. 7)

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gefunden worden, das, ganz viereckig aus dem Stein herausgeschält, nicht einmal so weit abgekantet und abgerundet ist, wie die delische Nikandre. Wir sehen daraus wenigstens, dass es sich bei dieser nicht um einen vereinzelten rohen Versuch, um ein persönUches Ungeschick handelt, sondern um die Anfänge einer bestimmten Entwickelung; und wenn sich auf dem Fragment vom Ptoion neben einer Weih- inschrift auch der (leider nur in den Schlussbuchstaben . . otos er- haltene) Name des Künstlers findet, so spricht sich doch darin bereits ein gewisses Selbstbewusstsein aus, das auf eine bestimmte künstlerische Leistung hinweisen zu dürfen glaubt. Wir selbst aber dürfen uns wohl an das schon oben erwähnte Wort des Pausanias (II, 4, 5) erinnern, der von den Werken des Daedalus sagt, sie seien freilich noch ziemlich wunderlich anzuschauen, gleichwohl aber mache sich auch schon an ihnen ein gewisser Ausdruck von Göttlichkeit bemerkbar (ejriTrpeTTei bt o^ojq Ti xai evO-eov rouroiq).

Worauf beruht dieser Eindruck? Da hier die Vergleichung mit ägyptischen Werken weniger nahe liegt, so mögen wir uns einiger der seltenen assyrischen Statuen erinnern, welche ähnlich der von Delos mit langem faltenlosen Gewände bekleidet sind (Perrot et Chipiez, Hist. d. l'art II, p. 83 u. 537). Sie sind jedenfalls von einem weniger primitiven Charakter als die letztere, ja in ihren decorativen Details verräth sich sogar eine bereits alt gewordene Kunstübung. Dennoch wirken sie als schwere Massen, denen das Verständniss der besonderen Grundbedingungen statuarischer Bildungen völlig abgeht. Auch die Statue von Delos ist noch keine freie, fertige menschliche ; Gestalt; sie ist künstlerisch noch durchaus gebunden, aber gebunden I durch die Strenge des Gesetzes. vSie ist in dem Balken enthalten; aber der Anfang ist gemacht, sie aus ihm zu befreien. Willig und mit klarem Bewusstsein unterwirft sich dabei der Künstler den Be- dingungen, welche ihm durch die Natur der tektonischen Grundlagen auferlegt waren. Aber sein Werk befriedigt, weil es den gegebenen Voraussetzungen durchaus entspricht.

Der Künstler der Statue von Samos geht nicht von der gleichen materiellen Grundlage aus, wie jener der Delischen, nicht von der Ana- logie eines Balkens, sondern der eines Stammes. Er ist ausserdem in der künstlerischen Entwickelung etwas weiter fortgeschritten, und wir dürfen daher bei der Prüfung seines Werkes nicht vollkommen über- einstimmenden, sondern nur verwandten Erscheinungen zu begegnen erwarten. Bei der stärkeren Vermenschlichung des Stoffes werden

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wir diesen selbst, also hier den Stamm ^ weniger deutlich wieder- erkennen, sondern nur noch lebhaft an ihn erinnert werden. Der Stamm eines Baumes pflegt allerdings nicht nach unten zusammen- gezogen zu sein und nach oben wieder anzuschwellen. Dennoch erweckt die Statue den Eindruck eines Stammes, indem eine Theilung der Schenkel noch in keiner Weise angedeutet und auch der Leib nicht von den Hüften abgegliedert ist, sondern nur insofern gerundet er- scheint, als sein Querdurchschnitt mit der Rundung des Stammes zu- sammenfällt. Ausserdem aber berührt das Gewand, der lange Chiton, nach unten zu nicht einfach den Boden, sondern länger als der Körper breitet es sich ringsum fächerartig in ziemlich starker Ausladung aus und erinnert dadurch wieder an einen Baum, der mit seinem Stammende breit auf dem Boden aufsitzt und sich dadurch als in dem- selben festgewurzelt zu erkennen giebt. Unwillkürlich nehmen wir dadurch nicht die Einziehung über der Gegend der Knöchel, sondern diese Ausladung als Maassstab für die Dicke des Stammes, und indem wir finden, dass der Umfang der Brust unter der Achselhöhle den Umfang der Grundfläche kaum erreicht, während die untere Ein- ziehung etwa dem Abstände zwischen den beiden Brustwarzen ent- spricht, bleibt uns der Eindruck natürlichen Wachsthums, der eine weitere Unterstützung in der Art der Ausführung findet. Denn durch die feinen, nicht modellirten, sondern nur eingekerbten Falten des über den Körper herabfallenden Chiton wird uns wiederum ein Vergleich, nämlich der mit der Rinde eines Baumes nahegelegt, welche die natürliche Umhüllung des Stammes bildet. Freilich nur zu einem kleinen Theile: denn drei Viertel des Umfanges sind durch einen eng- anliegenden Mantel zugedeckt, der ursprünglich farbig und durch eine gemusterte Bordüre für das Auge sich loslösend ganz ohne Falten die Gesammtform des Stammes nicht beeinträchtigt, aber die menschlichen Formen an der ganzen unteren Hälfte der Gestalt mehr versteckt als zur Geltung kommen lässt. Noch an der Rückseite des Oberkörpers lässt die Knappheit und Spannung dieser Umhüllung nur die Einsenkung des Kreuzes und die Mittelfurche zwischen den Schulterblättern in ihren Hauptflächen mehr angedeutet als durch- gebildet erkennen. Erst auf der Vorderseite tritt die Gliederung des Körpers bestimmter hervor. Der über die Schultern herabfallende joppenartige Ueberwurf ist zwar nicht straff angespannt, schmiegt sich aber den Formen nicht nur der Schultern, sondern auch der Brust und der Arme noch hinlänglich an. Die Falten, obwohl in ihrer Gesammt-

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anläge durchaus schematisch geordnet, folgen doch in der besonderen Modulation ihrer Linien einigermassen der Natur der Körperformen. Nur an der unteren Begrenzung macht sich eine etwas freiere Tendenz geltend, indem hier der Stoff sich mehr loslöst und zu leichten Miellen zusammengeschoben herabfällt. Sollen wir hier schliesslich noch ein- mal auf die Vergleichung mit einem Stamme zurückkommen, so kann uns die mannigfaltigere Gestaltung des Oberkörpers, welche ausser- dem durch die Biegung des einen Armes noch verstärkt wird, wohl an die Bildungen erinnern, die an einem glatten Stamme sich da entwickeln, wo die Theilung in mehrere starke Aeste ihren Anfang nimmt.

Mehr als einmal wiederholt sich, wie auf andern Gebieten, so auf dem der Kunstgeschichte die Beobachtung, dass gewisse Er- scheinungen aus den Anfängen ihrer Entwickelung gegen das Ende derselben noch einmal zu Tage treten, wie bei einem Kreislaufe, der wieder zu seinem Ausgangspunkte zurückführt. Etwa aus dem Ende der hellenistischen Periode stammt ihrer Erfindung nach die statuarische Bildung der Daphne im Augenblicke ihrer Verwandlung in einen Lor- beerbaum (Clarac 340 B, 966 C; Br.-Br. 260. Kopf und Vorderarme sind restaurirt). Betrachten wir den gesammten Aufbau, wie der nach unten verbreiterte Stamm, in welchem die Beine schon halbverwandelt stecken, an den Unterschenkeln sich zusammenzieht, wie dann gegen den Leib zu der Umfang wieder wächst, nach oben hin aber die Gestalt ihre mensch- lichen Formen von der Verwandlung fast noch unberührt bewahrt, so muss die Aehnlichkeit mit dem Aufbau der Statue der Hera wirklich überraschen. Man möchte sagen, wie in dieser die menschliche Ge- stalt aus dem runden Stamme herauswächst, so wächst diese an der Daphne wieder in den Stamm hinein. Bei ihr ist die Aufgabe gelöst mit den Mitteln der durchaus entwickelten Kunst: das Werk ist eine freie Schöpfung künstlerischer Phantasie, und die Gebundenheit der Gestalt ist keine künstlerische, sondern sie ist gegeben in dem Inhalt, in der Idee der darzustellenden Persönlichkeit. Der formale Grundgedanke ist aber auch in der Statue von Samos bereits vorhanden; nur ist die Gebundenheit hier eine künstlerische, d. h. das künstleriche Schaffen steht noch ganz unter der Herrschaft tektonischer Principien, und die Bedeutung dieser letzteren für die Anfänge der statuarischen Kunst tritt hier gerade durch den Gegensatz der freieren Auffassung einer späteren Zeit in ein scharfes Licht. Denn w^enn sich bei der Statue von Samos noch weniger als bei der von Delos von Plumpheit und

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Ungeschick reden lässt, wenn wir später noch ausdrücklich auf einen nicht geringen Grad von Sauberkeit in der Ausführung werden hin- weisen müssen, so Hegt der tiefere Grund eben darin, dass wir schon in diesen Anfangsstufen der Entwickelung doch überall das Walten bestimmter Principien und Gesetze empfinden. Diese setzen jedem un- sicheren Tasten von vorneherein bestimmte Schranken, ohne jedoch als hemmende Fesseln zu wirken, indem der Künstler sich ihnen frei- willig unterwirft, um sich an ihnen zur Freiheit zu erziehen.

Wie die Nikandre von Delos, so ist auch die Statue von Samos nicht vereinzelt geblieben. Ein Torso von Delos (HomoUe a. a. O., pl. 3) stimmt mit ihr in der säulenartigen Anlage des Unterkörpers und in der Bildung des über die Brust gelegten linken Armes überein. In der Ausführung weist er uns auf eine ältere Zeit zurück, da eine gewisse Weichheit in den Umrissen der Schultern und der Hüften nicht als ein Fortschritt, sondern nur als Kennzeichen einer laxeren, noch nicht gefestigten Stilistik aufzufassen ist. Weiter entwickelt ist eine kleine Broncefigur aus Olympia (Olympia IV, T. 7, 74). Die Ver- breiterung am Fussende, der stammartige, bekleidete Körper, die Biegung des linken Armes, die Anordnung und die Bezeichnung der Falten an der Gewandung über der Brust verrathen eine nicht zu verkennende Aehnlichkeit mit der Samierin. Dagegen zieht die Rechte das Gewand von hinten nach vorn, wo dasselbe von der Mitte des Körpers in gesonderter Masse gerade herabfällt. Die Zeichnung der Falten ist hier weniger tektonisch streng, und eine bestimmtere Andeutung einzelner Hauptformen des Körpers, namentlich des Busens, scheint auf eine etwas fortgeschrittenere Entwickelung hinzudeuten. Aber eine gewisse Dürftigkeit in den Armen und eine Ueberschüssig- keit in den Verhältnissen des zu grossen Kopfes weisen vielmehr auf ein Schwanken, einen Mangel an Einheitlichkeit des Stils hin, der vielleicht weniger auf die Persönlichkeit des Künstlers, als auf princi- pielle Gründe zurückzuführen ist, wie sie sich noch entschiedener an einer kleinen beim Ptoion in Böotien gefundenen Bronce geltend machen (Bull. d. corr. hell. 1888, pl. 1 1). In der Gesammterscheinung der Samierin verwandt, weist sie uns in andern Beziehungen auf die Nikandre zurück. Die nicht stammartig runde, sondern vierseitige, nur wenig abgerundete Bildung des unteren Theiles geht über die Behandlung eines Hermen- schaftes nur wenig hinaus. Der Herausgeber Holleaux (p. 398) durfte daher passend an eine Bemerkung des Themistios (or. XV, p. 316a) erinnern: dass Anfangs nicht blos die Bildung der Hermen, sondern

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auch die anderer Statuen vierseitig (TETpdYcovov) gewesen sei, sowie nicht minder daran, dass nach Pausanias (IX, 40, 3) das Bild der Aphrodite des Daedalus in Delos anstatt der Füsse in ein vierseitiges Schema auslief. Bei der Bronce vom Ptoion treten allerdings die Füsse unter dem Gewände hervor. Noch mehr ist der Hermencharakter in der Bildung des Oberkörpers überwunden, an dem der weibliche Busen bestimmt und nicht ungeschickt hervorgehoben ist, die Arme aber schon so weit gebogen sind, dass die Attribute nicht einfach in den Händen ruhen, sondern von ihnen emporgehalten werden, während endlich der Kopf sich sogar einem ziemlich reifen Archaismus nähert. Wir begegnen also, wie Holleaux bemerkt, an den verschiedenen Theilen eines und desselben Werkes drei verschiedenen Stufen der stilistischen Entwickelung; und in verwandter Weise werden wir jetzt auch den Mangel stilistischer Einheit an der Bronce von Olympia aufzufassen haben. Beruht aber dieser auf einer Unzulänglichkeit der Kräfte? Wir können nicht wohl annehmen, dass die Künstler den unteren Theil der Figuren nicht eben so hätten durchbilden können, wenn sie gewollt hätten. Offenbar wirkten hier weniger künstlerische Rücksichten, als das Gewicht allgemeiner, in den religiösen Empfin- dungen begründeter Anschauungen. Wenn in einer späteren Zeit der Glaube, die alte Frömmigkeit durch Wiederaufnahme veralteter Formen neu beleben zu können, in der „archaistischen" Kunstrichtung ihren Ausdruck fand, so ist es in dieser alten Zeit ein conservatives Princip, welches dazu führt, für bestimmte religiöse Zwecke, in der Darstellung von Götterbildern und Weihgeschenken, an der tektonischen Grundlage gewohnter strenger Formen festzuhalten und nur allmählich einem fortgeschritteneren Empfinden einen umbildenden Einfluss zu gestatten, man möchte fast mehr als nur bildlich sagen: dem alten Stamme ein veredelndes Pfropfreis einzufügen. Diese Betrachtung tührt uns schliesslich auf die Statue von Samos zurück: auch sie ent- wickelt sich nach oben ; nach unten aber wirkt der Fortschritt zurück nicht im Geistigen, sondern im Decorativen, in der erhöhten Sauber- keit und Sicherheit der ausführenden Hand.

Gleiche Strenge der tektonischen Principien, aber in der An- wendung auf eine veränderte Aufgabe, lernen wir an einer anderen, auf Delos gefundenen Statue kennen, der angeblichen Nike des Archermos (Bull. d. corr. hell. 1879, pl. 6 7 \ Br.-Br. 36). Weiblich und bekleidet, wie die bisher betrachteten Werke, unterscheidet sie sich von ihnen nicht nur durch Beflügelung an Schultern und Füssen,

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sondern noch mehr durch das Motiv lebendiger Bewegung. Dieses Motiv spricht sich mit hinlängUcher DeutHchkeit aus, obwohl der rechte Fuss und der ganze linke Unterschenkel, beide Arme mit Aus- nahme der am Körper anliegenden linken Hand fehlen, von den Schulterflügeln nur die Ansätze erhalten sind, und von den Flügeln am Knöchel nur der eine auf der Rückseite sichtbar ist.

Betrachten wir diese Gestalt ganz unbefangen und voraus- setzungslos, so müssen wir gestehen, dass sie streng genommen aus zwei ganz von einander unabhängigen Theilen besteht. Die untere Hälfte schreitet mit dem rechten im Knie stark gebogenen Beine weit nach vorn (linkshin vom Beschauer) aus, so dass das linke Knie fast den Boden berührt und der Unterschenkel nachgezogen wird. Es ist die halbknieende Stellung, welche die älteste griechische Kunst zum Ausdruck der schnellen Bewegung des eigentlichen Laufens und niedrigen über den Boden Hinfliegens im Gegensatz zu ruhigem Stehen oder Ausschreiten erfunden und lange Zeit typisch verwendet hat. Diese untere Hälfte (im Verhältniss zur Vorderansicht des Kopfes schräg gestellt, so dass eine durch den rechten und linken Fuss ge- zogene Linie mit der Vorderseite der Basis parallel laufen würde) ist durchaus für die Profilansicht gearbeitet. Dagegen ist die obere Hälfte vom Gürtel aufwärts auf die untere ganz unvermittelt so auf- gesetzt, dass sie, um einen vollen rechten Winkel gedreht, Brust und Kopf vollständig in der Vorderansicht zeigt. Dass diese Verbindung gegen die Natur verstösst, ist augenfällig. Und doch wirkt sie nicht als ein Fehler, der auf Unbeholfenheit oder ein Missverständniss zurück- zuführen wäre. Wir vermuthen vielmehr eine bestimmte Absicht, die sich vielleicht sogar auf mehr als eine einzige Ursache zurückführen lässt. Die Aufgabe war eine laufende oder noch mehr eine halb laufende, halb fliegende Gestalt darzustellen. Denken wir im Gegen- satz dazu an ruhig stehende statuarische Einzelbilder , so w^erden diese fast ausnahmslos oder doch wenigstens in erster Linie für die Vorderansicht gearbeitet sein. Auch einer ruhig schwebenden Nike treten wir am liebsten gerade gegenüber. Dagegen werden wir bei Thierbildungen immer geneigt sein, die Seitenansicht aufzusuchen, die uns den Thierkörper in seiner ganzen Länge zeigt. Ebenso wie beim Thiere verhält es sich mit der stark ausschreitenden Menschengestalt: wir mögen uns nicht begnügen, sie von vorn zu sehen, weil wir von diesem Standpunkte aus nicht in der Lage sind, wegen der Ver- schiebuug der Winkel und Linien, das Maass der Bewegung genügend

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ZU beurtheilen. Am wenigsten konnte ein Künstler wie der der Statue von Delos bei den noch beschränkten Mitteln seiner Kunst daran denken, eine laufende Gestalt für die Vorderansicht zu bilden. Aber warum gab er dem Oberkörper die Wendung nach vorn? Es hätte für ihn nicht um einen Grad mehr künstlerischen Verständnisses der Form bedurft, um Oberkörper und Kopf in die Profilstellung zu setzen : und ich glaube, er würde das Ganze so gebildet haben, wenn ihm etwa die Aufgabe geworden wäre, zu der einen noch eine zweite als Gegenstück in der Weise zu bilden, dass beide von den entgegen- gesetzten Seiten einem gemeinsamen Mittelpunkte zueilten. Bei einem Einzelbilde verlangt gerade die kindliche Anschauung der ältesten Kunst, dass es in eine bestimmte Beziehung zum Beschauer gesetzt werde; es soll nicht den Eindruck erwecken, als ob es uns enteile; es sucht die Beziehung zu uns, indem es uns anblickt. Ja der Künstler einer kleinen olympischen Bronce (Olympia IV, T. 48, 819a) ist sogar so weit gegangen, eine Sphinx mit einem Doppelgesicht auszustatten, um sie nach zwei entgegengesetzten Richtungen ausblicken zu lassen.

Zur Erklärung der Stellung des Oberkörpers ist aber noch ein anderer Umstand in Betracht zu ziehen: die Gestalt ist geflügelt. Bei einer ruhig stehenden Gestalt, wie bei einer Sphinx, hätten die Flügel mehr oder weniger gehoben und mit ihren Spitzen der Längen- richtung des Körpers folgend gestellt werden können ; bei einer laufen- den mussten sie wie zum Fluge ausgebreitet sein. Denken wir uns nun Kopf und Oberkörper in der Richtung der Bewegung des Unter- körpers, so würden die Flügel durch ihre den Körper kreuzende Stellung nicht nur den Eindruk fast wie Windmühlenflügel machen, sondern ihre technische Ausführung würde derartige Schwierigkeiten verursachen, dass sogar eine vorgeschrittenere Kunst wahrscheinlich zu dem Auskunftsmittel hätte greifen müssen, sie aus besonderen Stücken dem Körper anzufügen. Hier nun war es, wo die Strenge tektonischer Principien sich zur Vermittlung der so entstandenen Schwierigkeit darbot. Die laufende Gestalt ist nicht, man gestatte den Ausdruck, in einen gerundeten Marmorblock hineingedacht, sondern wie die oben betrachteten Statuen von Delos und Samos aus einem Balken oder Stamm, so ist sie durch Abnehmen des Ueberschüssigen (per forza di levare) aus einer starken Platte herausgearbeitet: nur innerhalb derselben konnte sie Platz finden; und diese Enstehung drängt sich dem Beschauer so entschieden auf, dass er unwillkürlich den dadurch bedingten tektonischen Forderungen bei der Beurtheilung

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Rechnung trägt. Der Künstler hat von einer einfachen Nachahmung der Wirklichkeit abgesehen und strebt vielmehr nach Deutlichkeit im Ausdrucke seiner Gedanken. Wir sollen erkennen, dass die Figur in schnellem Laufe begriffen ist, anderentheils dass dieser Lauf durch die Bewegung der Flügel unterstützt wird. Er bringt das Eine, wie das Andere, jedes für sich zur Anschauung, aber überlässt es dem Beschauer, diese beiden getrennt behandelten Motive in seiner Phan- tasie zu einer Einheit zusammenzufassen.

Wie oben bemerkt, wies bei bekleideten Figuren, wie den beiden delischen und der dritten aus Samos, der todte Stoff der Ge- wandung auf eine aus tektonischen Principien abgeleitete strenge Stilisirung hin. Aber die griechische Kunst bevorzugte von früh an bei der Darstellung männlicher Gestalten die nackte Bildung, bei der das lebendig Organische in der künstlerischen Wiedergabe nothwendig zu einer erhöhten Bedeutung gelangen musste. Wie weit vermochten aber daneben jene strengeren Principien ihre Geltung zu behaupten? Und wie weit hat auch hier die griechische Kunst sich von der Nach- ahmung fremder Vorbilder frei zu halten vermocht ?

Den Uebergang zur Betrachtung nackter statuarischer Rund- bilder kann uns ein Grabdenkmal aus Tanagra vermitteln (Mitth. d. ath. Inst. 1878, T. 14), das nach den Zügen der Inschrift allerdings keiner sehr alten Zeit angehört, aber als eine in gewöhnlichem Tuff ausgeführte Handwerksarbeit eines noch unbeholfenen localen Betriebes durchaus den Charakter einer hochalterthümlichen Ursprünglichkeit bewahrt. Aus einem vierseitigen pfeilerartigen Blocke sind zwei nackte Jünglings- gestalten, Kitylos links und Dermys rechts vom Beschauer, heraus- gearbeitet, nicht als freistehende statuarische Gruppe, sondern als ein von einer dünnen Rückwand nicht losgelöstes Figurenpaar, über dessen Köpfen eine sie überdeckende PHnthe hervorspringt, die ursprünglich wohl eine architektonische Bekrönung trug. Streng symmetrisch haben sie, der eine das linke, der andere das rechte Bein etwas vor das andere gesetzt und schlingen jeder einen Arm um den Nacken des Genossen. So eng aber sind sie Seite an Seite gerückt, dass hier für die Ansätze der Arme kein Platz blieb und diese selbst nur auf der freien Seite in sehr ungeschickter Weise und zu hoch zum Vorschein kommen. Die äusseren Arme hängen steif herab und kleben so am Körper, dass namentlich die Unterarme gar nicht rund, sondern nur flach, wie in Relief gearbeitet sind und sich an keiner Stelle vom Körper los- lösen. Die zu kurzen Oberkörper sind flächenhaft, ohne Gliederung im

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Einzelnen behandelt, so dass der Unterleib fast völlig vermisst wird. Fast unvermittelt springen von seiner unteren Begrenzung übermässig dicke und rundliche, zu lange Oberschenkel hervor. Erst am Knie macht sich das Bestreben geltend, die Kniescheibe und die sie um- gebenden Muskelpartien stark, wenn auch sehr ungeschickt zu betonen, und ebenso ist am Unterschenkeidas Schienbein scharf hervorgehoben. In allen Einzelheiten fehlt noch das künstlerische Verständniss der Form, und die Ausführung ist durchaus eine derb handwerksmässige. Wohl aber gelangen in der gesammten Anlage die Bedingungen des Stoffes in bestimmender Weise zur Geltung. Die Nachahmung der Wirklichkeit in ihrer wechselvollen äusseren Erscheinung tritt durch- aus zurück gegen die tektonischen Forderungen einer übersichtlichen Gliederung der Hauptmassen, ihrer Einordnung und Unterordnung unter das Gesetz des Gleichgewichtes. So waltet bei allem Un- geschick im Ganzen ein Geist der Ordnung, den wir als einen rein griechischen und als die Grundlage einer gedeihlichen weiteren Ent- wickelung bereits mehrfach haben kennen lernen. Für seine Ur- sprünglichkeit spricht noch der besondere Umstand, dass wir ihm hier in dem Werke einer von schulmässigen Einflüssen kaum berührten localen Kunstübung begegnen.

In ihrer strengen Haltung weisen die beiden Gestalten auf einen Typus hin, welcher den Ausgangspunkt für die statuarische Durch- bildung des nackten männlichen Körpers in der griechischen Kunst bildet, den Typus der nackten Jünglingsgestalt in ruhigster Haltung, mit herabhängenden, am Körper anliegenden Armen und geschlossenen Händen, an der, nicht zum Ausdrucke des Schreitens, sondern zur Gewinnung eines etwas gesicherteren Schwerpunktes im Stehen, der eine Fuss, gewöhnlich der linke, etwas vor den andern gesetzt ist. Seine erste und hauptsächlichste Anwendung fand dieser Typus zur- Darstellung des vorzugsweise jugendlichen Gottes, des Apollo, und wenn er auch, wie die von Pausanias (VIII, 40, i) erwähnte Statue des Arrhachion lehrt, auf jugendliche Athleten- oder Bildnissstatuen, auch für Grabesgebrauch, übertragen wurde, so mag doch die Benenn- ung als Apollo zur allgemeinen Bezeichnung für den Typus beibehalten werden dürfen. Das Geschlossene der Haltung erinnert an Holzbilder, an denen freistehende Gliedmassen aus getrennten Stücken hätten an- gesetzt werden müssen. Das war bei der Stein-, insbesondere bei der Marmorsculptur allerdings nicht unbedingt nothwendig. Aber in der Kindheit machte die Schwierigkeit der technischen Bearbeitung und

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die dadurch gebotene Sparsamkeit es räthlich, dem Vorbilde der Holz- sculptur zu folgen und bei der Darstellung der Menschengestalt von dem pfeiler- oder stammartigen Steinblock auszugehen. So waren von Anfang an in den Bedingungen des Materials gewisse vSchranken ge- zogen, die zu einer bestimmten Typik der Gesammtauffassung führten, innerhalb derselben jedoch einer individuellen Auffassung der Formen im Einzelnen dem Künstler einen nicht geringen Spielraum Hessen. Richten wir vorläufig den Blick nur auf die ältesten Vertreter dieses Typus, den Jüngling von Orchomenos (Br.-Br. 77a) und den »Apollo« von Thera (Br.-Br. 77c), so tritt uns bei dem ersteren in den plumpen und schweren Formen ein geradezu bäuerischer Charakter entgegen, während bei dem zweiten offenbar die Absicht obwaltet, durch schlankere Verhältnisse einen gefälligeren Eindruck hervorzurufen, eine Absicht, die sich in dem »Apollo« von Tenea (Br.-Br. i) bereits eines gewissen Erfolges rühmen darf. Zwischen diesen beiden Grundtypen als den Endpunkten aber werden wir in anderen erhaltenen Exemplaren eine Reihe von Modi- ficationen kennen lernen, deren Vergleichung uns die Ueberzeugung ge- währt, dass sich nicht zwei von ihnen auf einen und denselben Urheber zurückführen lassen, sondern dass in jedem derselben sich eine ver- schiedene Künstlerindividualität mit mehr oder weniger Bestimmtheit verräth. Ueberall aber lassen sich hier zwei Elemente unterscheiden, ein stoffliches in der allgemeinen Anlage, das sich zwar nicht mehr als ein einseitig tektonisches bezeichnen lässt, aber doch von tektoni- schen Principien ausgehend sich zu typischer Ausdrucksweise heraus- gearbeitet hat, und ein persönliches, das sich in der besonderen Auffass- ung der Menschengestalt als eines lebendigen Org-anismus offenbart.

Verschiedenheit des Bildungsprinzips in der griechi- schen und ägyptischen Kunst. ^) Obwohl sich dieses zweite Element von Anfang an in bestimmter Weise geltend macht, so lässt sich doch nicht leugnen, dass der erste Eindruck dieser Figuren immer der einer grossen Unbeweglichkeit sein wird; und da das Schema der Stellung und Haltung im Allgemeinen mit dem der ägyptischen Statuen überein- stimmt, so ist es begreiflich, wenn ein an kunsthistorische Beobachtung noch wenig gewöhnter Blick hier einen engen Zusammenhang der ältesten griechischen Kunst mit der ägyptischen zu erkennen vermeint. Es wurde bereits einige Male das Verhältniss der Kunstformen beider

^) Nach einer älteren (1856) Abhandlung Brunn's im Rhein. Mus, N. F., X, S. I54ff. : Ueber die Grundverschiedenheit im Bildungsprincip der griechischen und ägyptischen Kunst.

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Völker beiläufig berührt. Da sich aber die viel besprochene Frage nach dem angeblich ägyptischen Ursprung für uns noch nie so bestimmt in den Vordergrund gedrängt hat, so scheint es angezeigt, sie an dieser Stelle mehr in systematischem Zusammenhange zu behandeln.

Erinnern wir uns der Eindrücke, welche die Betrachtung einer grösseren Zahl ägyptischer Werke in uns zurückzulassen pflegt, so wird einer der hervorstechendsten der einer grossen Einförmigkeit und Eintönigkeit sein. Unter Werken griechischer Kunst fühlt sich auch ein ungeübtes Auge durch das eine oder das andere besonders an- gezogen; bei den ägyptischen wirkt zunächst höchstens die gesammte Masse durch einen gewissen finstern Ernst und eine sich gleichbleibende Strenge. Bei weiterer Betrachtung gewinnen wir wohl auch Achtung vor der Technik, der Tüchtigkeit der handwerksmässigen Ausführung. Das Material der Statuen ist meistens ein Stein der härtesten Art; dieser Stoff ist aber durchaus bewältigt: wir bemerken nirgends Roh- heit oder ungeschickte Plumpheit, sondern alles ist bestimmt, sicher, ja sauber ausgearbeitet. Nirgends zeigt sich ein Suchen nach der Form, sondern die Form steht stets in voller Präcision da. Gehen wir weiter, so können wir auch keineswegs ein relativ grosses Ver- ständniss der ganzen Figur leugnen. In der Verbindung der Theile zu einem Ganzen herrscht überall bei klarer und scharfer Gliederung der festeste Zusammenhang. Die Gestalten selbst aber tragen einen ausgeprägten Charakter, sie sind kräftig in der Anlage der Brust und der Schultern, schlank in den Hüften und Beinen, Etwas Unnatür- liches liegt in diesen Grundverhältnissen keineswegs, und manche etwas fremdartige Eigenthümlichkeit mag ausserdem ihre Erklärung in der Verschiedenheit der ägyptischen Race von der unsrigen oder ähnlichen Umständen finden. Die formelle Behandlung endlich, wie sie sich nach einer freieren, mehr der Beobachtung der Natur zu- gewandten Richtung der ältesten Kunst bald nach strengen Regeln festgestellt hatte, erscheint bedingt durch die Gesetze einer besonderen Stilistik. Das Streben nach sinnlicher Illusion, wie sie durch ein Nach- bilden der Oberfläche der Körper in ihrer äusseren Erscheinung her- vorgerufen wird, liegt ihr durchaus fern, und ebensowenig sollen die Formen in schwellender Fülle hervortreiben etwa wie bei einem Ge- wächse, dessen einzelne Theile aus einem fruchtbaren Keime lebens- voll sich entwickeln. Eher Hesse sich ein Vergleich von mineralischen Bildungen hernehmen, bei welchen der ursprünglich formlose Stoff nach bestimmten Gesetzen sich um einen gegebenen Mittelpunkt oder

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Kern gelagerc und angesetzt oder krystallisirt hat. Denn indem wir bemerken, wie alle Formen an der Oberfläche des Körpers knapp und ohne vieles Detail sich darstellen, und doch in den einfachsten Schwing- ungen der Linien sich immer ein deutliches Bewusstsein von der Grundrichtung und Gestalt des Knochengerüstes ausspricht, erhalten wir den Eindruck, als habe dieses als der feste Kern die weichen, d. h. die fleischigen Theile scharf an sich angezogen und dadurch ihre völligere und üppigere Entwickelung nach aussen unmöglich gemacht. Selbst an dem Unbelebten, an dem Gewände, wirkt dieses Gestaltungs- princip noch fort. Auf die specielle Natur desselben ist so wenig Rücksicht genommen, dass es sich wie ein elastischer Stoff auf das engste an die Formen des Körpers anschliesst, ja selbst wo es in Falten gelegt ist, der Anziehung nicht ganz widerstehen kann, während es da, wo es sich in grösseren Massen loslöst, alle Beziehung zu den Körperformen verliert und geradezu in ein mathematisches Gebilde um- gestaltet wird. Wünschen wir aber einen recht augenfälligen Beweis für die Richtigkeit unserer Auffassung, so brauchen wir nur einen Mumienkasten anzusehen. Er ist nicht ein einfacher Sarg, auch nicht ein Sarkophag im Sinne der Griechen und Römer, sondern er soll die Hülle des Körpers sein; und in wie einfachen Linien auch alles angegeben ist, wir erkennen doch überall die Formen des Körpers in ihren Gr und Verhältnissen. So wird selbst der todte Stoff dieser Umhüllung von ihm gewissermassen angezogen, und die Form des Mumienkastens steht schliesslich zu dem Körper durchaus in derselben Beziehung, in welche die äussere Form des Körpers selbst zu dem Skelett als der unveränderlichen Grundlage gesetzt ist.

Betrachten wir die ägyptischen Werke einzig und allein nach den hier angedeuteten Principien, ohne an andere Formen der Kunst zu denken, so müssen wir gestehen, dass sie innerhalb dieser Grenzen keineswegs unvollkommen, sondern im Gegentheil oft bis zur höchsten Stufe der Vollendung durchgebildet sind. Aber es fragt sich, welchen Werth die befolgten Principien haben, und ob sie allein genügen, ein im höchsten Sinne vollendetes Kunstwerk zu schaffen. Man hat die ägyptische Sculptur eine vorzugsweise architektonische genannt, und in vieler Beziehung mit Recht. Schon ganz äusserlich hängen die Statuen dadurch, dass sie mit ihrem Rücken an Pflastern haften, selbst materiell mit der Architektur zusammen. Verschwindet nun auch dieser Pflaster für das Auge meistens gänzlich, so deutet er doch noch immer mit hinlänglicher Bestimmtheit an, dass die Statuen nicht

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unbedingt für sich bestehen, sondern einem architektonischen Ganzen in irgend einer Weise sich unterordnen sollten. Aber auch die Griechen setzten zuweilen die menschliche Figur mit der Architektur in die engste Verbindung. Karyatiden, Atlanten treten geradezu an die Stelle der Säulen oder Pilaster, während die ägyptischen Figuren sich nur an dieselben anlehnen. Und doch sind jene nicht architek- tonische Sculpturen in dem Sinne, wie diese. Jene Karyatiden haben für einen gegebenen Zweck die architektonische Function der Säule, das Tragen der Gebälkes übernommen; aber sie haben deshalb ihre menschliche Natur in keiner Weise aufgegeben, sondern lösen ihre Aufgabe gerade dadurch, dass sie durchaus freie Menschen bleiben. Sie tragen ihre Last wie Frauen, die mit schweren Wassergefässen auf dem Haupte sicher einherschreiten. Die ägyptischen Statuen da- gegen sind architektonisch nach dem Princip, welches ihrer Bildung zu Grunde liegt: die Architektur geht in ihren Grundlagen auf rein mechanische und mathematische Gesetze zurück, während der mensch- liche Körper zwar ebenfalls nach bestimmten regelmässigen Verhält- nissen gebaut ist, welche sich mathematisch gliedern lassen und gleich- falls ein mechanisches Gleichmaass bedingen, seine höhere Bedeutung aber doch erst dadurch erhält, dass er ein belebter, lebendiger, mit Freiheit thätiger Organismus ist. Um es in einem Satze zu sagen: die Aegypter fassten den menschlichen Körper nur in seiner ersten Beziehung auf. Denn sei es dass die Figuren, wie in der Sculptur fast ausnahmslos, in der ruhigsten Haltung dastehen, oder dass sie, wie in Reliefs und Gemälden, sich in mannigfacher Thätigkeit zeigen, immer erhalten wir in ihren Kunstwerken nur das geometrische und mechanische Schema des Körpers. Die auseinandergestellten Füsse drücken nicht die freie Bewegung des Gehens aus, sondern sie zeigen sich uns durch diese Stellung nur zu der Function des Gehens be- stimmt. Im Knieen, im Kauern, in der Bewegung der Arme, überall herrscht das gleiche Princip; nirgends erkennen wir eine lebendige, freie Thätigkeit: wir finden das Metrum richtig und präcis angegeben, aber es fehlt der Rhythmus, durch welchen sich der lebendige Organismus von der durch äussere Kräfte in Bewegung gesetzten Maschine unterscheidet.

Aus dem Gesagten erklärt sich, weshalb die Aegypter zu einer Darstellung verschiedener Charaktere durch die Kunst eigentlich nicht gelangt sind. Man unterscheidet wohl Mann und Frau, und in histo- rischen Darstellungen auch die Völker fremder Race. Aber schon

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die Unterschiede des Alters sind kaum beachtet; ein Durchschnitts- alter gilt mehr oder weniger für Jünghng, Mann und Greis. Im Bau des Körpers zeigt sich kaum irgendwo eine merkUche Verschiedenheit. In den Köpfen ist zwar der Charakter der Race bestimmt ausgeprägt: der geistige Ausdruck in seinem unendlich mannigfaltigen Wechsel mangelt dagegen gänzlich. Der Blick ist seelenlos, und das stereotype Lächeln des Mundes mildert nur wenig die übrige Starrheit. Selbst in den Porträts finden wir nur die Formen mehr individualisirt ; von einem individuellen Ausdruck sind aber auch sie weit entfernt. Dass wir keineswegs zu weit gehen, wenn wir den Aegyptern den Sinn für die Bedeutung geistigen Ausdruckes absprechen, zeigt sich am deuthchsten und unzweifelhaft daran, dass sie an den Bildern der Götter symboli- scher Deutung zu Liebe den menschlichen Kopf häufig gänzlich opferten, um ihn mit einem Thierkopf zu vertauschen. Kann wohl ein schärferer Gegensatz zu griechischer Art und Weise gefunden werden ? Selbst wo die Griechen eine Metamorphose darstellen müssen, lieben sie es, sich mit Andeutungen zu begnügen. Wo die Thier- gestalt durch Mythus und Cultus gegeben war, da wagt man es vielmehr dem Thierkörper ein menschliches Antlitz anzufügen, nicht umgekehrt. Die einzige in Griechenland allgemeiner eingebürgerte Ausnahme von dieser Regel, die Bildung des Minotauros, sie hat ihren Ursprung in Kreta, der zwischen Griechenland und Aegypten gelegenen Insel, auf welcher der Einfluss des letztern in einem be- sonderen Falle, und auch hier nur durch die geistige Umbildung eines ursprünglich göttlichen Wesens in ein Ungeheuer, sich wohl gegen die Macht hellenischer Cultur einmal bewährt haben kann. Gaben sonach, wo die menschliche Bildung mit thierischen Theilen vermischt werden musste, die Griechen Kopf und Antlitz zuletzt, die Aegypter zuerst Preis, so sehen wir daraus, wie ihnen der Sinn für die geistige Be- deutung der menschlichen Gestalt eigentlich gänzlich mangelte. Damit Hesse sich wohl noch vereinigen, was ziemlich allgemein behauptet wird, dass die Aegypter in der Bildung der Thiere weit ausgezeich- neter seien, als in der Darstellung der Menschen. Indessen scheint auch diese Behauptung wesentlich anders gefasst werden zu müssen, um richtig zu sein. Allerdings fühlen wir uns durch die Betrachtung ägyptischer Thiergestalten in der Regel weit mehr befriedigt, als durch ihre menschlichen Figuren. Allein das Princip, nach welchem sie gebildet sind, ist bei beiden in keiner Weise verschieden; nur stellen wir nicht bei beiden dieselben Anforderungen. Wir verlangen

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bei der Darstellung des Thieres nicht denselben Ausdruck geistigen Lebens, wie beim Menschen, sondern begnügen uns schon, wenn nur der Grundcharakter, der architektonische Organismus klar und richtig erfasst ist. Das ist in den Bildungen der Aegypter geschehen, aber mehr auch nicht: die Individualität einzelner Thiere einer besonderen Gattung hat eben so wenig Berücksichtigung gefunden, wie bei dem Menschen. Bestätigt wird diese Auffassung auch durch einen BHck auf die Darstellungen aus der Pflanzenwelt: auch hier bietet die ägyptische Kunst das charakteristische Bild der Gattung, nicht das der einzelnen Pflanze.

Fassen wir zusammen, was wir über die Vorzüge, wie die Mängel der ägyptischen Kunst bemerkt haben, so dürfen wir nicht zu be- haupten wagen, dass die Aegypter nicht anders und besser hätten ^; bilden können, sondern dass sie nicht anders bilden wollten. Aus welchem Grunde? Das werden wir erst durch einen Blick auf die übrigen Verhältnisse des ägyptischen Lebens erkennen. Diese beruhen vor allem auf der Natur des Landes: Aegypten ist ein Flussthal in der Wüste ; durch den Nil allein existirt Aegypten ; ohne die Ueber- schwemmung des Nils wäre es Wüste, wie seine Umgebung. So wirkt eine einzige elementare Naturkraft bestimmend für das ganze Land, und sie wirkt um so nachdrücklicher, je gesetzmässiger sie sich äussert; soll sie aber segensreich wirken, so müssen sich alle Ver- hältnisse diesem Walten willig unterordnen. Darauf beruht die strenge Gliederung des ägyptischen Lebens in der ganzen Zeit seiner Blüthe: Religion, Sitte, alles musste sich aus der Natur des Landes gerade so herausbilden, wie es sich bildete. Den fest bestimmten, regelmässig wiederkehrenden Erscheinungen in der Natur gegenüber verschwindet die Persönlichkeit des einzelnen Menschen. Nur in der Gesammtheit, und indem er seine Thätigkeit auf diese Verhältnisse begründet, ver- mag er auf sie wieder einen Einfluss auszuüben. Es ist zw^ar in neuerer Zeit nachgewiesen, dass eine eigentliche Kasteneintheilung in Aegypten nicht, wie man früher angenommen, existirt hat. Wenn sie indessen der Form und dem Namen nach fehlte, so war doch das ganze ägyptische Leben von dem, was wir Kastengeist nennen, durchdrungen, und auch die Kunst hat durch denselben ihr charakteristisches Ge- präge erhalten. Wer auch nicht wüsste, dass kein ägyptischer Künstler namentlich bekannt ist, der würde doch schwerlich versucht sein, bei irgend einem Werke nach dem Namen des Künstlers zu fragen, während gerade der Laie bei griechischen Statuen gern Auskunft über den

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Urheber verlangt. Denn wir finden bei jenen nirgends in der Be- handlung das Hervortreten eines individuellen künstlerischen Charakters. Eine Künstlerkaste arbeitete jene Werke, eine Zunft, weit strenger abgeschlossen als jemals bei uns die Innungen der Handwerker, der aber auch darum die Vorzüge und die Mängel des Kastengeistes in erhöhtem Grade anklebten. Aller Willkür waren von vorn herein Schranken gezogen, indem sich der Einzelne durchaus der Gesammt- heit unterordnen musste; und so bemerkt schon Plato, dass zu seiner Zeit die Bilder der Aegypter weder schöner, noch hässlicher gemacht wurden, als tausend und mehr Jahre früher. Dies war nur möglich, wo ein strenges und festes Gesetz waltete, wie das, von welchem uns Diodor berichtet : nicht nach dem Augenmaasse hätten die Aegypter die menschlichen Figuren gebildet, sondern den menschlichen Körper nach einem festen Schema eingetheilt, nach welchem jedes Glied sein Maass erhalten habe. Die Monumente bestätigen diese Angabe, und wenn jetzt auch nachgewiesen ist, dass im Laufe von mehr als zwei Jahrtausenden zweimal erhebliche Modificationen in den Proportionen eingeführt wurden, so wurde allerdings der Kanon verändert, aber nicht das kanonische Princip. Wenn aber auf diese Weise dem Künstler über die Art und Weise der Auffassung wenig oder nichts zu denken übrig blieb, so bildete sich in allem, was sich auf technische Hand- griffe, auf das gesammte künstlerische Machwerk und die materielle Seite der Durchführung bezieht, innerhalb einer abgeschlossenen Ge- nossenschaft noch weit leichter ein festbestimmter Gebrauch aus; und darum erscheinen auch die Aegypter gerade nach dieser Seite hin bewunderungswürdig. Allein wenn wir nun von der festen Regel und Ordnung, welche sich in allen Theilen wie im Ganzen ausspricht, wohlthätig berührt werden, so müssen wir doch gerade, weil hier schon so viel gegeben ist, und weil das, was gegeben ist, in so hoher Vollendung dasteht, nur um so höhere Forderungen zu stellen veran- lasst werden, und der Mangel an Freiheit und individuellem Charakter tritt uns nur um so fühlbarer entgegen. Sollen wir also die ägyptische Kunst nach Gebühr würdigen, so ist dies nur möglich, indem wir die Schranken anerkennen, welche die Aegypter sich selbst gezogen haben: ihre Künstler bildeten Werke, welche andern Kunstwerken gegenüber eben so abgeschlossen dastehen, wie die Kaste ihrer Urheber den Künstlern anderer Nationen gegenüber. Wir dürfen daher nicht geistige Anregung und Befriedigung von einem einzelnen Werke erwarten, sondern müssen uns bestreben, in der ganzen Gattung das Walten

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eines zwar beschränkten, aber desto bestimmter gefassten und streng durchgeführten Gesetzes zu erkennen. Der Gedanke, eine griechische Göttergestalt in einer Reihe von getreuen Wiederholungen neben einander gestellt zu sehen, würde wahrhaft peinigend sein. Blicken wir dagegen auf die Reihen ägyptischer Götterbilder, wie sie an die Pfeiler grosser Tempelhöfe gelehnt dastehen, blicken wir auf die lange Strassen bildenden, ernst daliegenden Sphinxe, so empfinden wir erst die Würde der ägyptischen Kunst, erkennen erst recht den Zweck und die Bestimmung derselben. Jedes Einzelne ist nur ein Glied einer architektonischen Ordnung, und wie die gesammte Ordnung das mathematische Gesetz in sich trägt, so muss auch alles Einzelne sich diesem Gesetz fügen. Darin, dass dies mit der grössten Consequenz geschehen ist, können wir nicht umhin, das wesentlichste Verdienst der ägyptischen Kunst zu erkennen. Aber zugleich ist dadurch auch ihr wesentlichster Mangel bedingt, indem sie nur dieses eine Princip einseitig ausgebildet hat: ein Princip, welches keiner Kunst fehlen darf, welches aber doch nur eine der Grundlagen bildet und einseitig angewendet die eigentlich freie Entwickelung der Kunst nicht fördert, sondern hemmt, ja geradezu unmöglich macht.

Die hier dargelegten Verhältnisse werden in ein noch schärferes Licht durch eine kurze Vergleichung mit der Kunst der Etrusker treten. Von einer architektonischen Sculptur im Sinne der Aegypter finden wir bei den Etruskern keine Spur, ja es fehlt ihrer Kunst fast durchaus der monumentale Charakter. Sie ist im Princip vollkommen frei; aber diese Freiheit äussert sich in durchaus subjectiver und indi- vidueller Weise. Der etruskische Künstler geht aus von der Beob- achtung der Wirklichkeit in ihren einzelnen und äusserlichen Er- scheinungen, und hier gelingt es ihm schon bei den frühesten Ver- suchen, dem Leben einzelne Züge abzulauschen, durch die uns seine Arbeiten menschlich näher treten, als die vollendeteren, aber starren Werke der Aegypter. Aber eben durch diese Beachtung des Details lässt er sich von der Erforschung der allgemeinen Verhältnisse und der inneren Gesetze zu sehr abziehen. Es fehlt ihm die Kraft, das Einzelne der Einheit unterzuordnen, und so hat denn die etruskische Kunst den festen architektonischen Zusammenhang im Bau des menschlichen Körpers nie auch nur annäherungsweise so begriffen, wie die ägyptische, und ist darum auch nie eigentlich zu einem fest ausgeprägten Stil, zu einer consequent durchgebildeten Ausdrucks- weise natürlicher Formen durch Formen der Kunst gelangt. Sie war

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dadurch von früh an genöthigt, sich in dieser Beziehung an das Griechische anzulehnen; aber gerade auf derjenigen Stufe der Ent- wickelung, auf welcher sich dieses aus strenger Zucht zu voller Frei- heit entfaltete, musste sie einem schnellen Verfall entgegengehen, in- dem sie theils in völlige Abhängigkeit versank, theils nur in den Kreisen einer bloss localen Kunstübung ein untergeordnetes Dasein fristete. So hat uns das Volk der Aegypter sowohl wie das der Etrusker jedes eine grosse Lehre hinterlassen, das eine, dass die höchste Blüthe der Kunst ohne Freiheit nicht zur Entwickelung gelangen kann, das andere, dass auch die Freiheit diese Blüthe nicht hervor- zurufen vermag ohne die Zucht und Schule des Gesetzes.

Diesen Sätzen gegenüber lässt sich behaupten, dass die Griechen schon in ihren ältesten statuarischen Werken zwar nicht in der Aus- führung, aber im Princip die Vorzüge der beiden bisher betrachteten Völker in sich vereinigen, von deren Mängeln dagegen sich frei er- halten. Sie sind den ägyptischen allerdings in ihrer ganzen stilistischen Anlage näher verwandt, als die etruskischen. Trotzdem aber tritt gerade bei einer Vergleichung der oben betrachteten Jünglingsgestalten unter einander der fundamentale Gegensatz zum Aegyptischen in das klarste Licht. Wären die Griechen Schüler der Aegypter in dem Sinne gewesen, dass sie von bewusster Nachahmung ausgegangen wären, so hätte sie vor allem die strenge Gesetzmässigkeit der Pro- portionen, auf der das Wesen der ägyptischen Kunst beruht, zur Nachahmung herausfordern müssen. Wo findet sich aber in jenen Apollostatuen von solchen kanonischen Proportionen auch nur die geringste Spur? Eine jede von ihnen zeigt andere Verhältnisse; jeder der Künstler betrachtete die Natur mit seinem eigenen Auge, und mochte dem Einen das Einzelne hier gelingen, dort misslingen, immer tritt er uns als eine selbständige Individualität entgegen. Nirgends aber zeigt sich Erstarrung : die kräftigen Muskeln weisen auf lebendige Thätigkeit hin, die nur augenblicklich ruht, um alsbald wieder auf- genommen zu werden. Die ganze Haltung ist die des Recruten im ersten Stadium seiner militärischen Ausbildung, in dem er durch rationelle Schulung in den Stand gesetzt werden soll, sich des gesetz- mässigen und dadurch freien Gebrauches aller Kräfte seines Körpers zu versichern. Unter solchen Gesichtspunkten tritt uns das strenge Schema jener Apollogestalten nicht als das Ziel, sondern als die feste Grund- lage entgegen, auf der sich jene schulgerechte Durchbildung aufbaut, die von Stufe zu Stufe mit äusserster Consequenz bis zur glänzendsten

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Entfaltung aller Kräfte verfolgt wird. Bei den Griechen ist also die Strenge des Gesetzes nur der Anfang zur richtigen Benutzung der Freiheit, während die Aegypter durch ihre festen Regeln und Kanones sich selbst eine Schranke gezogen haben, welche jede weitere und freiere Entwicklung unmöglich machte.

2. Weitere Betrachtung.

In den bisherigen Erörterungen handelte es sich mehr um die Ge- winnung allgemeiner Gesichtspunkte, als um eine Betrachtung der Monumente an sich und um ihrer selbst willen. Es tritt uns nun aber die Aufgabe entgegen, uns der Thatsachen im Einzelnen zu vergewissern, die sich aus einer analytischen Prüfung der noch er- haltenen Denkmäler in ihren statuarischen Bildungen, wie in den ver- schiedenen Arten der Reliefs gewinnen lassen.

A. Statuarische Werke. Milesische Sitzbilder. An der kleinasiatischen Küste, in der Nähe von Milet, lag das von der Priesterschaft der Branchiden ver- waltete Heiligthum des didy maeischen Apollo. An der heiligen Strasse, die von dem Hafen Panormos auf dasselbe zuführte, war eine Reihe von Weihgeschenken aufgestellt, die, soweit sie erhalten, durch C. T. Newton in das britische Museum versetzt worden sind (Newton, Discoveries at Halicarnassus, Cnidus and Branchidae II, 2, p. 527; pl. 74 76; Br.-Br. 141 143). Alle tragen ein hoch- alterthümliches Gepräge, und die Inschriften, die an und neben ihnen gefunden sind, bieten uns die Gewähr, dass sie keinesfalls jünger als Ol. 60 sind, vielmehr wohl einer etwas älteren Zeit angehören mögen. Ausser einem Löwen sind es zehn überlebensgrosse Mar- morstatuen, Bildnisse von Männern und Frauen nicht göttlichen Stammes, eine von ihnen bezeichnet mit dem Namen des Chares, Herrn von Teichiussa. Bekleidet mit langem Unter- und Ober- gewand sitzen sie auf Lehnstühlen, an denen die mehr oder minder schmuckreiche Holzarbeit sorgfältig nachgebildet ist. Fragen wir nach ihrem künstlerischen Charakter, so lehrt der erste Eindruck, dass in ihnen nicht das Quadratische und Eckige, sondern überall volle und abgerundete Formen und Flächen vorherrschen. Auch die strenge mathematisch-architektonische Gebundenheit ägyptischer Gestalten ist in ihnen bereits überwunden. So einfach ihre Stellung ist die Füsse

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stehen gleichmässig nebeneinander, die Hände liegen auf den Knieen, so ist doch die Haltung ohne Starrheit, indem bei der Biegung der Glieder der rechte Winkel in seiner mathematischen Strenge glücklich vermieden ist ; die Schenkel sind, wenn auch nur wenig geneigt, der Oberkörper um ein Geringes zurückgelehnt, die Schultern nicht hoch und eckig, sondern gerundet, und so erscheinen auch die Arme nicht steif, sondern natürlich liegend, wobei sich eine erste Spur des Strebens nach Abwechselung darin zeigt, dass die eine Hand meist flach, die andere mit der äusseren Kante auf das Knie gelegt ist. Freilich hängt damit zusammen, dass sich auch von dem kanonischen Pro- portionssystem, auf dem die eigenthümliche Bedeutung der ägyptischen Kunst beruht, an ihnen keine Spur findet und eben darum auch das tiefere Verständniss der architektonischen Gesetze des Körperbaues fehlt. Vielmehr erinnert die Breite und üppige Fülle der Gesammtanlage an die Werke assyrischer Kunst, wenn auch sofort ein Unterschied wieder darin hervortritt, dass schon die ältesten milesischen Künstler nicht wie die Assyrier an dem Einzelnen der äusseren Erscheinung, an dem blos ornamentalen Detail hängen bleiben, sondern ihren Blick sofort auf das Ganze der menschlichen Gestalt in seinen allgemeinsten Zügen richten. Hierbei w4rd nicht das Knochengerüst in erster Linie betont, sondern es überwiegen die weichen fleischigen Massen, allerdings auch diese noch nicht in der mannigfachen Gliederung der Formen des Nackten und in der Weise, dass die Gewandung zu diesen Gliederungen in eine engere Beziehung gesetzt und überall durch sie bedingt er- schiene. Wenn man z. B. bei einer ägyptischen Mumie von einem Ein- und Umschnüren des Körpers reden darf, so wird man hier viel- mehr an ein förmliches Einpacken in eine weiche Umhüllung erinnert, durch welches alle Formen nach aussen den Charakter abgerundeter Flächen annehmen.

Die bisherigen Bemerkungen suchten das Gemeinsame in dem künstlerischen Charakter der milesischen Statuen hervorzuheben. Ver- gleichen wir sie aber unter einander, so wird sich herausstellen, dass trotz ihrer scheinbaren Gleichartigkeit keine mit der andern überein- stimmt, sondern dass sich in einer Reihe von Einzelheiten ein stufen- weiser Fortschritt der Entwickelung deutlich erkennen lässt.

Am einfachsten unter allen ist diejenige behandelt, an der allein noch der Kopf, freilich gerade im Gesicht arg verstümmelt, sich erhalten hat (Newton 75, 3; Br.-Br. 141a; auch Rayet et Thomas, Milet, pl. 26, 2). Ausser dem breiten und gedrückten Gesammtverhältniss erkennt man

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an ihm nur, wie das Haar in einer bei den Griechen wenig üblichen, aber noch um zwei Jahrhunderte später an der Statue des sog. Maus- solos von dem Maussoleum zu Halikarnass wiederkehrenden Art von der Stirn aufwärts nach hinten gestrichen ist, wo es in gleichmässig gedrehten dünnen Zöpfen ohne Starrheit der Biegung des Halses und des Nackens folgend herabfällt. Am Körper erscheinen die Schenkel noch vollkommen ungetheilt und von einer Gliederung der allgemeinsten Umrisse ist nicht das Geringste zu erkennen. Das lange Untergewand ist glatt ohne Falten über die ganze Gestalt gezogen, von der selbst die Oberarme kaum merklich abgegliedert sind. Ueber dieses untere legt sich das Obergewand wie eine dünne Schicht oder Lage und hebt sich von ihm nur durch den Contour des Randes und einer breiten, dasselbe umsäumenden Borde ab. An der mit der ver- stümmelten Inschrift eines Künstlers E . . demos bezeichneten P'igur (Newton 75, 4; Br.-Br. 141b) sind unten zwischen den Beinen sechs rund- liche senkrechte Falten und ausserdem noch einige flachere zur Seite angegeben, durch welche die Theilung der Unterschenkel wenigstens angedeutet wird. Der Mantel aber legt sich nicht glatt über den Chiton, sondern zieht sich in schrägen, flach gewellten Falten von der rechten nach der linken Seite des Körpers, während an den senkrecht über das linke Knie herabfallenden Partieen das Uebereinanderliegen des Stoffes durch die den unteren Contour begrenzende Schlangenlinie bezeichnet ist. Wiederum etwas entwickelter ist die Statue des Chares (Newton 74, i; Br.-Br. 142a; Rayet 25). Hier sind an dem Chiton die Nähte der Aermel und der sie umsäumenden breiten Borden als scharfe Linien eingeschnitten; die senkrechten Linien unten über den Füssen voller und rundlicher entwickelt; die Falten des Mantels, welche schräg über die rechte Seite des Körpers hinweglaufen, zwar noch immer nicht gelegt, sondern gezogen, aber technisch durch Ein- kerbung in die breiten und ebenen Flächen schärfer bezeichnet. Die über das Knie herabfallende Masse ist allerdings in mehreren Lagen über einander geordnet, die wie in der vorigen Nummer sich nach unten durch den eine Schlangenlinie bildenden Contour von einander abheben. Der weitere Versuch, diese Masse durch senkrechte Falten zu gliedern, welche die darunter herabfallenden Falten des Chiton gewissermassen durchscheinen lassen sollen, erscheint verfrüht und darum weniger befriedigend. Auch ist dieser Versuch bei der folgenden Nummer (Newton 75, 2) wieder aufgegeben, während sonst die Durch- bildung im Einzelnen sich etwas verfeinert. So sind ausser den Aermel-

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nähten am Chiton von der Schulter herablaufend und in der Mitte der Brust eine Reihe ganz feiner Stofffalten durch scharf eingeschnittene Linien angegeben. Auch ist durch eine leise Einsenkung zwischen den Knieen das Auseinanderstehen der Schenkel wenigstens an- gedeutet. — Um von kleineren Verfeinerungen, z. B. in Angabe von Aermel- und Brustfalten, in anderen Exemplaren zu schweigen, mag hier noch bemerkt werden, dass bei einer der Figuren (Newton 74, 2; Br.-Br. 142 b) das Obergewand nicht mehr über die linke Schulter ge- zogen, sondern quer über den Schoss gelegt ist. Die Falten sind zwar im Einzelnen noch sehr lax und rundlich ausgeführt und in ihrem Wurfe noch nicht nach einem strengen Systeme geordnet, doch lässt sich eine richtigere Beobachtung und ein freierer Zug in der Gesammtanlage nicht verkennen. Von den beiden weiblichen Ge- stalten ist die eine sehr zerstört, dagegen die andere (Newton 75, i ; Br.-Br. 143a; Rayet 26, i) für die Vergleichung von besonderer Wichtigkeit. An ihr treten zum ersten Male die Beine vom Ober- schenkel an in bestimmter Trennung und in freilich oberflächlicher Durchbildung ihrer Hauptformen deutlich aus der Gewandung hervor, wenn sich auch in der fehlerhaften Anfügung der Oberschenkel an den Körper noch ein grosser Mangel im Verständniss des Zusammen- hanges der Theile offenbart. Die Falten des Chiton zwischen den Beinen sind weit leichter geworden und schärfer eingeschnitten und entwickeln sich zu grösserer Freiheit nach den Seiten. Namentlich aber an dem über die Schultern geworfenen Gewandstück erscheinen zum ersten Male künstlich gelegte Falten in nicht ganz übler Aus- führung, wenn auch mehr wie ein erster Versuch und noch ohne richtige Vermittelung mit der übrigen Behandlung der Gewandung. Hier aber bietet sich für unsere Anschauung eine erwünschte Er- gänzung in zwei andern Statuen sitzender weiblicher Gestalten, die in der Nekropole von Milet entdeckt sich ganz eng an die bisher be- trachtete Reihe anschliessen (die eine: Br.-Br. 143b; die andere: Rayet 21). Auch an ihnen treten die Schenkel bestimmt hervor, wirken aber bereits ganz entschieden auf die nach beiden Seiten an- gezogenen Falten des sie bedeckenden Gewandes, während zwischen den Schenkeln sich eine breit gelegte Falte in glatter, etwas un- bewegter Fläche, aber doch nicht ganz ohne Vermittelung mit den Seiten heraushebt. An dem über den Busen herabfallenden Chiton aber sind die Falten schon mit Rücksicht auf die Körperformen nach einem bestimmten System ziemlich regelmässig geordnet. Hier sind

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also bereits alle Elemente gegeben, die in strenger und consequenter Durchbildung für den gereiften Archaismus der folgenden Periode von maassgebender Bedeutung werden sollten.

Selten bietet sich in der Geschichte der griechischen Kunst so wie hier die Gelegenheit, den Fortschritt der Entwickelung an einem und demselben Orte, innerhalb einer Schule und eines kurzen Zeit- raumes und an durchaus gleichartigen Gegenständen Schritt für Schritt zu verfolgen. Die den Künstlern gestellte Aufgabe war gewiss in vieler Beziehung eine sehr undankbare. Die dargestellten Persönlich- keiten ermangelten einer höheren geistigen Bedeutung: ohne Handlung sitzen sie in ihren weiten einfachen Gewändern ruhig da. So fehlte für eine freiere Auffassung eigentlich jeder Spielraum. Und dennoch lassen sich nirgends die Spuren frischen Lebens verkennen. Fast jede Nummer der Reihe bereichert den Vorrath der früheren Erfahrungen um eine neue Beobachtung: die den Körper umgebende Hülle des Gewandes gliedert sich immer mehr; der Zuschnitt, die Natur des Stolfes in der Brechung und dem Falle der Falten, die durch den Wurf der Gewandung bedingte Richtung derselben, die künstliche Faltung treten immer deutlicher hervor; und in fast unmerklichen Uebergängen machen sich unter dem Gewände und durch dasselbe hindurch die Formen des Körpers mehr und mehr bemerkbar, bis an den letzten Figuren die Grundlinien der weiteren archaischen Ent- wickelung in einem freilich noch unharmonischen Ganzen, aber doch schon ziemlich vollständig gezogen sind. So wichtig aber alle diese Fortschritte im Einzelnen sein mögen, so gewinnen sie doch eine noch weit höhere Bedeutung durch das Princip der Freiheit, von dem sie Zeugniss ablegen. Noch ist der Künstler gehemmt, aber gehemmt durch das Maass seiner Kräfte, nicht durch äussere Fesseln und Satzungen. Dadurch aber, dass er überhaupt, wenn auch zuerst nur langsam fortschreitet, tritt er sofort in einen principiellen Gegensatz zu jener inneren Erstarrung, aus welcher sich die Kunst der Aegypter und Assyrier trotz sonstiger tüchtiger Eigenschaften nie zu befreien vermochte. ^)

^) Die ältere Reinschrift, übergehend von den milesischen Denkmälern sofort zu den sog. Apollofiguren, enthält noch über die Figur des Löwen die Bemerkungen :

Noch freier als die menschliche Gestalt erscheint die Bildung des Löwen, und wir stehen also hier der schon oft gemachten Be- obachtung gegenüber, dass in der Kunst verschiedener Völker die Dar-

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Sitzbilder peloponnesischen Fundorts. Die Eigenthüm- lichkeit der milesischen Statuen wird in ein noch helleres Licht durch die Betrachtung eines Werkes treten, welches, äusserlich ihnen ver- wandt, durch die künstlerische Auffassung zu ihnen in einen be- stimmten Gegensatz tritt. Es ist das Bild einer langbekleideten sitzenden Gestalt aus dunkelgrauem peloponnesischen Marmor, das, jetzt im Nationalmuseum zu Athen, nicht fern von der lakedämo- nischen Grenze in dem Gebiet des arkadischen Asea gefunden wurde (Br.-Br. 144; vgl. M. d. ath. J. 1879, 131)^). Leider ohne Kopf und Vorderarme und ausserdem mehrfach Verstössen, gibt es sich durch die Namensinschrift (AynjLtoD oder Aytiöco) als weiblich zu erkennen. Der Künstler geht in seiner Auffassung von dem Ge- sammtbilde der Gestalt in ihren einfachsten und hauptsächlichsten Gliederungen aus, wie sie im Sitzen, der tektonischen Gliederung der Lehne, des Sitzbrettes und der vorderen Füsse des Stuhles entsprechend, sich in fast rechtwinkeliger Schematisirung darstellt, während Ober- und Unterarm in gleicher Strenge der Richtung des Oberkörpers und Schenkels, so wie der Armlehne folgen. In der Behandlung der Ober- fläche aber ist von jeder Gliederung der Gewandung, so wie von jeder Angabe von Falten abgesehen, so dass nicht einmal gesagt werden kann, ob wir es mit einem einfachen oder einem doppelten Gewände zu thun haben, so wie ob es lang- oder kurzärmelig war. Auch die Arme selbst lösen sich nicht vom Körper los, sondern eng-

stellung der Thiergestalt schneller fortzuschreiten scheint, als die der Menschen. Es ist aber durchaus natürlich, dass das Thier, welches sich frei und ohne Hülle in der Natur bewegt, in seinem mehr schema- tischen Organismus und in der geringeren Mannigfaltigkeit seiner mehr generellen als individuellen Bewegungen leichter von dem Auge des Künstlers aufgefasst zu werden vermag, als die feiner organisirte, individuell belebte, dazu noch durch das Gewand verhüllte Menschen- gestalt. Jener Vorrang der Thiergestalt vor den ihr gleichzeitigen menschlichen Plguren muss uns also vielmehr auf den Satz hinführen, dass der weitere Fortschritt der griechischen Kunst wesentlich durch die Förderung der Darstellung nackter Körper bedingt sein musste, indem erst dadurch die Aufmerksamkeit des Künstlers von der äusseren und allgemeinen Erscheinung bestimmter auf die einzelnen Theile und deren inneren Zusammenhang hingelenkt wurde.

^) Vgl. Brunn, Sitzungsberichte d. Münchn. Akad. 1884, II, S. 526 f.

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anliegend scheinen sie fast mehr wie in Relief als in voller Rundung gebildet. Alles ist eng und knapp zusammengefasst und nur durch wenige grosse und ebene Flächen umschlossen, die als vordere, seit- liche und obere in scharfen Winkeln ohne viele Vermittelung gegen einander gestellt sind und für die Entwickelung einzelner Formen keinen Spielraum gewähren: nicht einmal die Rundung des weiblichen Busens hat eine Andeutung gefunden. Und doch, so wenig hier im Einzelnen geboten, wie sehr die Ausführung auf das Noth wendigste, um nicht zu sagen, auf das Nothdürftigste beschränkt ist, so empfinden wir, dass der Künstler gewusst hat, was er wollte, und dass er mit klarem Bewusstsein das Einzelne der Gesammtidee unterordnete und dadurch eine feste Grundlage geschaffen hat, die, ohne einen fesselnden Zwang auszuüben, den Weg eines geregelten Fortschrittes eröffnete.

Verwandter Art ist eine Marmorstatuette aus Sparta, eine männliche Gestalt, die in langem anliegenden Gewände auf einem Throne mit Rücklehne und Armstützen in Gestalt eines Thieres, Wolf oder Löwe, sitzt und durch eine Inschrift quer über dem Schosse als AibeDq bezeichnet ist : Ath. Mitth. 1 877, S. 298, No. 3 ; Röhl, J. Gr. A. 92 ; Arch. Zeit. 1881, T. 17, S. 294^). Obschon auch hier an der Ge- wandung jede Angabe des Faltenwurfs fehlt, so treten doch an den unteren Theilen die Waden in bestimmter Entwicklung und Rundung hervor und weisen uns auf einen Fortschritt in der Durchbildung des Einzelnen hin, während die Grundauffassung mit der vorigen Figur volle Übereinstimmung zeigt. Die Vergleichung lässt erkennen, dass die Verwandtschaft nicht bloss eine äusserliche und zufällige ist, sondern auf gemeinsamen Grundanschauungen beruht, und nur das geringe Maass der Durchbildung und der Erhaltung hindern uns, aus diesen beiden Sculpturen die Charakteristik einer bestimmten Schule festzustellen, was erst später mit Hilfe von besser durchgeführten und besser erhaltenen Arbeiten mit sichererem Erfolge möglich sein wird. Eine weitere, ebenfalls spartanische, jedoch weibliche Figur wird von Milchhöfer (Ath. Mitth. 1877, S. 299, No. 4) geradezu als weib- liches Seitenstück zu dem Unterweltsgotte bezeichnet.

Attische Sitzbilder. Wenden wir uns jetzt nach Attika, so mag die untere Hälfte einer sitzenden langbekleideten Marmorfigur von der Akropolis (Le Bas, Voy., Mon. fig. 3. 1 5 Jahn, De antiq. Minervae simulacr. I, 4) hier nur kurz besprochen werden. Die Gestalt ihres Thron-

^) Vgl. Brunn, Sitzungsberichte d. Münchn. Akad, 1884, II, S. 528.

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Sessels erinnert allerdings an die milesischen Statuen; auch die Be- handlung des Gewandes in regelmässig gelegten Falten bildet schein- bar die Fortsetzung der an den dortigen Frauengestalten beobachteten Entwickelung. Und doch ist die künstlerische Auffassung im innersten G-runde verschieden. Es fehlt nicht nur durchaus die asiatische Ueppig- keit und Fülle, sondern der Künstler hatte sich auch von der Be- deutung des Nackten eine wesentlich andere Vorstellung gebildet. Die Füsse sind nicht durchaus parallel, sondern mit den Spitzen auswärts und mit den Hacken neben einander gesetzt, wodurch eine wesentlich andere Stellung der Unterschenkel und der Kniee bedingt wird, die nur wegen der starken zwischen ihnen herabfallenden Gewandmasse äusserlich weniger bestimmt hervortritt. Charakteristisch bleibt aber immer die Einziehung über den Knöcheln. Die Bedeutung der veränderten Stellung wird erst recht verständlich werden durch die Vergleichung der Marmorstatue einer sitzenden Athene, die leider ohne Kopf und Vorderarme unter der Akropolis von Athen am Ausgange der Aglaurosgrotte gefunden worden und in dem Akropolis- museum aufbewahrt ist (Schöll, Mittheil. I, i ; Mus. class. ant. I, 192; Le Bas 2 ; Jahn I, 2 3 ; Br.-Br. 145). Insofern sie dorthin von der Höhe herabgestürzt sein könnte, liesse sich in ihr die von Kallias geweihte und von Endoios gearbeitete Statue vermuthen, die Pausanias (I, 26, 4) in der Nähe des Erechtheion sah. Doch fehlt es an einem genügenden Beweise, und das Werk ist deshalb hier ohne Rücksicht auf diese Möglichkeit nur für sich selbst zu betrachten. In Folge der durch starke Beschädigungen der Oberfläche verursachten Entstellung sind nicht nur die bisherigen Abbildungen mit Ausnahme der neuesten ungenau, sondern man hat nicht einmal in den Beschreibungen die auffälligen Sonderbarkeiten in der äusseren Anlage bemerkt und her- vorgehoben. Die Figur sitzt nicht richtig in der Mitte des Sitzes, sondern mit dem rechten Schenkel knapp auf dem Rande desselben. Da schwerlich anzunehmen ist, dass etwa auf dieser Seite eine zweite, gesondert gearbeitete Figur angeschoben gewesen sei, so ist diese Unregelmässigkeit wohl nur dahin zu erklären, dass hier, der An- ordnung der linken Seite entsprechend, Sitzpolster und Stuhlbein aus einem gesonderten Stück Marmor angefügt gewesen sein mochte. Ferner schien es, als solle die Göttin auf einem Stuhle mit einer Lehne sitzen. Allein die unter den Armen sichtbaren angeblichen Ränder derselben sind die Ränder der breit über den Rücken fallenden Aegis, die sich freilich in völlig unvermittelter und unverständlicher

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Weise auf die Fläche des Sitzes aufsetzt, als sei sie durch dieselbe in gerader Linie weggeschnitten. Während sodann in alterthümlichen Werken nicht selten das Untergewand aus einem weichen, welligen Stoffe gebildet ist, über das ein anderes aus glattem Zeuge geworfen wird, ist hier umgekehrt der lange Chiton aus glattem Stoffe und über ihn ein welliges Gewand mit Halbärmeln gezogen, das blos bis zum Knie herabreicht und an den Seiten theilweise offen zu sein scheint.

Künstlerisch betrachtet lastet die Aegis schwer auf den Schultern, und dieser Eindruck wurde gewiss kaum dadurch gemildert, dass sie voraussichtlich mit Schuppen bemalt, dass an den Rändern Quasten oder Schlangenköpfe angefügt und auf die Mitte, wohl aus getriebenem Metall, ein Medusenhaupt aufgesetzt war. Noch verstärkt wird dieser Eindruck der Schwere durch die dicken Haarmassen, welche den Hals namentlich an den Seiten umhüllen, während die einzelnen auf die Brust herabfallenden Locken in ihrer leicht welligen Behandlung fast zu dünn und spitz verlaufen. Sehen wir hiervon ab, so hat die Figur im Uebrigen, namentlich den milesischen Statuen gegenüber, den Charakter schwerer, unbewegUcher Massenhaftigkeit völlig überwunden. Selbst der Stuhl ist weniger stabil, sondern ein leichter bewegliches Möbel. Auf ihm aber sitzt die Göttin in weit freierer Haltung. Die etwas nach hinten gezogenen Oberarme liegen nicht eng am Körper an, die Unterarme waren sogar völlig losgelöst und hielten wohl in nicht mehr ganz paralleler Haltung dem Beschauer ihre Attribute entgegen. Die Oberschenkel laufen zwar noch ziemlich parallel, aber die Kniee sind ungleich gebogen, und der rechte Fuss ist stark zu- rückgezogen, so dass er nicht mehr mit der ganzen Sohle, sondern nur mit den Zehen den Boden berührt. An dem dicken Obergewand ist zwar keine Gliederung der Massen bemerkbar, aber die welligen Stofffalten sind ohne Steifheit und Härte, an den Aermeln sogar locker und leicht angegeben. Dagegen ordnet sich das Untergewand durch- aus den Formen des Körpers unter: es schmiegt sich den Unter- schenkeln eng an, aber doch nicht so eng, dass es nicht durch schwach gehobene Falten andeutete, in welcher Richtung es eine Anspannung erfahren hat. Nur zwischen den Knieen fällt eine Masse selbständig herab ; doch folgt auch diese einigermassen der Bewegung des zurück- gezogenen Fusses. Nirgends also zeigt sich ein kaltes Schematisiren, und an der Stelle streng metrischer Abgemessenheit macht sich in der ganzen Haltung, wie in der Stellung der Füsse ein Streben tiach rhythmischer Vermittelung geltend.

Erhaltene Werke: Weitere Betrachtung.

In diesen freieren Tendenzen geht die Arbeit über die bisher betrachteten Werke bestimmt hinaus ; und doch werden wir uns leicht überzeugen, dass diese Eigenart nicht hervorgewachsen ist aus der ruhig und erfahrungsmässig vorschreitenden Praxis der milesischen, noch aus der streng principiellen Auffassung der peloponnesischen Statuen. In manchen Beziehungen steht das Bild der Athene hinter diesen sogar zurück. Es fehlt noch ein bewusstes Verständniss der Form, eine sichere, exacte Durchführung, kurz das, was nur das Resultat einer strengen schulmässigen Bildung sein kann. Der Künstler besitzt einen lebendigen Sinn für die Erscheinungen des Lebens; er strebt den menschlichen Körper aufzufassen als einen belebten Organis- mus, der über den mechanischen Apparat hinaus mit Leben und Be- wegung ausgestattet ist. Das erfordert zunächst eine auf richtigem Empfinden beruhende Beobachtung, der es nicht selten gelingt, über die Grenzen gebräuchlicher Kunstübung mit Erfolg hinauszugehen, die aber auch Gefahr läuft, zuweilen bei ihren Versuchen hinter der- selben zurückzubleiben. Daraus erklärt sich ein gewisses Schwanken und eine Ungleichartigkeit, die sich in der Behandlung der Athene nicht verkennen lässt. In welcher Richtung die in ihr vorhandenen Keime einer freieren Anschauung zu harmonischer Entwickelung ge- langen werden, kann natürlich erst später erörtert werden. Wohl aber vermögen wir schon jetzt festzustellen, ob wir es bei ihr nur mit einem vereinzelten persönlichen Versuche, oder mit einer auf weitere Kreise wirkenden geistigen Eigenart zu thun haben. Wir müssen dabei sogar einen Schritt rückwärts machen, indem wir von einigen der Zeit ihrer Ausführung nach etwas älteren statuarischen Weihgeschenken von der Akropolis zu sprechen haben, die erst hier ihre passende Stelle finden, weil sie uns die dargestellten Gestalten nicht in abstracter Ruhe, sondern bereits in einer bestimmten Thätigkeit vor Augen führen.

Es sind drei stark fragmentirte marmorne Sitzbilder, zwei davon etwa in halber, das dritte etwa in zwei Drittel Lebensgrösse, letzteres ausserdem etwas jünger und in der Ausführung fortgeschrittener als die anderen (M. d. ath. 1. 1881, T. 6, 1—2 ; 1886, S. 358, T. 9, 3). Wie Furt- wängler zuerst erkannt hat, stellen sie Schreiber dar, welche, mit ein- fachem Mantel bekleidet, mit der Linken ein Diptychon auf dem Schosse halten, auf welches sie mit dem Griffel in der Rechten etwas ein- zeichnen. — Was an diesen Gestalten zuerst auffällt, das ist das freie

Heraustreten der Schenkel aus der eng am Körper klebenden Ge- Brunn, Gr. Kunstgeschichte II. 3

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Wandung. Man hat aus dieser Besonderheit auf einen Einfluss ägyp- tischer Kunstart schliessen wollen im Gegensatz zu der an asiatische Kunst sich anschliessenden Auffassung der milesischen Statuen : gewiss nicht mit Recht. In der ägyptischen Kunst herrscht in der Anlage das starre mechanische Gerüst des Körpers. In der Gewandung macht sich die Natur des Stoffes in keiner Weise geltend ; es klebt glatt am Körper, wo es sich aber als Masse von diesem loslöst, da erscheint es Avieder der streng mathematisirenden Schematisirung unterworfen. An den Gestalten der Schreiber ist in der Stellung der Beine das Mechanische und rein Metrische mit Absicht vermieden, der Ober- körper an der dritten mit Rücksicht auf die Thätigkeit des Schreibens bereits sogar etwas vorgeneigt; das Gewand, um die Deutlichkeit in der Lage der Körperformen nicht zu beeinträchtigen, noch eng an- liegend; aber um doch auch den Wurf des Gewandes wenigstens theilweise zu seinem Rechte gelangen zu lassen, sind auf der Fläche Falten nicht modellirt, sondern als Linien eingeschnitten, welche die Richtung des Faltenwurfes bestimmt angeben ; und wo der Ober- schenkel auf dem Stuhl aufsitzt, da zieht sich der Mantel nicht unter den Körper, sondern breitet sich flach nach aussen etwas über den Sitz. Wo aber das Gewand über die Schulter fällt und sich hier, wie ebenfalls unten zur Seite des Schenkels loslöst, da fängt es bereits an, seinen eigenen Gesetzen folgend sich in Massen zu gliedern und in Falten zu legen. Genug, in ihrem innersten Wesen bilden diese Figuren den vollkommensten Gegensatz zu ägyptischen Arbeiten. Blicken wir jetzt vielmehr auf die Statue der Athene zurück, so mögen die Schreiber in der formalen Behandlung noch so vielfach von ihr sich unterscheiden, in der Tendenz stimmen sie mit ihr überein. Alles ist noch unfertiger als dort; es fehlt noch das Verständniss der Formen im Einzelnen; es fehlt namentlich auch die Fähigkeit, die verschiedenen Anforderungen unter einander auszugleichen und zu einem einheitlichen Stil zu verarbeiten. Ueberhaupt steht das Streben nach schulmässiger Durchbildung nicht im Vordergrund. Dagegen macht sich auch hier das Bestreben geltend, die Gestalten als belebte und bewegte Wesen zu beobachten und aufzufassen; und wie von dieser Grundanschauung aus sich eine fortschreitende Entwickelung gestalten kann, dafür vermag gerade die Vergleichung der Schreiber und der Athene den augenfälligen Beweis zu liefern. Denn indem wir erkennen, dass das Charakteristische dieser Arbeiten auf der schärferen Betonung der Formen des Körpers gegenüber der Ge-

Erhaltene Werke: Weitere Betrachtung.

Wandung beruht, kommt es uns zum Bewusstsein, dass gerade darin, in dem zunehmenden Verständniss des Nackten, eines der wichtigsten Elemente für den Fortschritt der Kunst überhaupt gegeben ist. ' '

Standbilder eines nackten Jünglings (sog. Apollo- figuren.) Schon früher (S. 94) ist kurz darauf hingewiesen worden, dass die griechische Kunst in der statuarischen Durchbildung des männlichen Körpers ausgegangen ist von der nackten Jünglingsgestalt in ruhigster Haltung, mit herabhängenden, am Körper anliegenden Armen, dem sogenannten Apollotypus, mit dem wir uns jetzt, da das Material in letzter Zeit bedeutende Bereicherungen erfahren hat, eingehender zu beschäftigen haben.

Wie bei den milesischen Statuen treten uns auch hier in den er- haltenen Exemplaren bestimmte Verschiedenheiten entgegen, die sich da und dort fast zu Gegensätzen verschärfen können, weil wir es hier nicht, wie dort, mit einer eng begrenzten localen Gruppe zu thun haben, sondern mit einem Material, das wohl ungefähr der gleichen Zeit- periode, aber Künstlern sehr verschiedener Art und von einander weit getrennter Heimathorte seinen Ursprung verdankt. Beginnen wir mit der Prüfung des Einzelnen.

Den unbeholfensten und starrsten Eindruck macht der »Apollo« von Orchomenos in Böotien (jetzt im Nationalmuseum zu Athen, No. 9), der allerdings wegen seines vielmehr bäuerischen als göttlichen Aussehens am wenigsten auf die Bezeichnung als Apollo Anspruch erheben kann (Ann. d. Inst. 1861, t. E; Bull. d. corr. hell. 1881, pl. 4; Br.-Br. 77 a). Namentlich der eigentliche Stamm des Körpers ist wenig gelungen; nur ganz allgemein ist die Taille angedeutet, der Brustkasten entbehrt der Wölbung, und die Arme hängen am Körper ohne genügende organische Verbindung. Die Muskeln sind zwar in ihren Hauptpartieen angedeutet, ja am Bauche schon Horizontal- einschnürungen hervorgehoben, aber die ganze Figur ist plump an- gelegt und von merkwürdig derber Zeichnung, und die in der Natur breiten Massen der Brustmuskeln sind, verglichen mit dem Bauche, geradezu dürftig und wie verkümmert. Darin liegt es zum Theil, dass der Kopf mit seinem dicken Halse etwas zu schwer auf der Brust und den gedrückten Schultern lastet. Das Haar ist in schwachem Relief über der Stirn in schneckenförmigen Löckchen geordnet; über einer darüber hinlaufenden und hinter dem Nacken gekreuzten Binde ist es nach hinten gestrichen und fällt in einer breiten Masse über

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den Rücken, wo verticale Linien die Längentheilung, horizontale die Wellenbewegung des Haares, man kann nicht sagen, ausdrücken, sondern nur andeuten. Von einem bestimmten Ausdruck des Gesichts ist noch nicht die Rede, sondern die Züge erscheinen regungslos; es fehlt ihnen sogar jede Spur des sonst fast typisch gewordenen archai- schen Lächelns.

Trotz dieser UnvoUkommenheiten bezeichnet eine solche Figur z. B. den statuarischen Bildungen der Assyrier gegenüber bereits einen principiellen Fortschritt. Wir erkennen eine künstlerische In- dividualität, welche die Menschengestalt nicht nach den Gesichts- punkten eines äusserhch gegebenen Schematismus behandelt, sondern die Natur selbst, wenn auch mit einer noch mangelhaften Beobachtungs- gabe ins Auge fasst; und es beruht das Verdienstliche eines solchen Versuches eben darin, dass der Künstler ohne Voreingenommenheit nach einfacher Beobachtung die Wirklichkeit wiedergab, soweit er es gerade vermochte.

Der Statue von Orchomenos stellen wir zuerst die des Apollo (?) von Thera (Athen, Nat.-Mus., No. 8) gegenüber (Schöll, Arch. Miith. aus Griechenland, T. 4, 8; Br.-Br. 77 c). In ihr ist bereits der Versuch gemacht, mit mehr oder minder bewusster Absicht einem bestimmten künstlerischen Charakter Ausdruck zu verleihen. Wir begegnen an ihr der ganz naturgemässen Erscheinung, dass sich das Streben nach Vervollkommnung zuerst in gewissen Uebertreibungen offenbart. Der Künstler will gefällig erscheinen, ohne jedoch den Ausdruck der Kraft aufzugeben. Bei stärkerer Einziehung der Taille bewahren die Schenkel noch hinlängliche Kräftigkeit, dagegen ist die Brust in der Fülle ihrer gerundeten Muskeln, besonders in ihrer Breite, übermässig entwickelt. Um aber der ganzen Figur den Ausdruck der ^Schlankheit zu ver- leihen, hat der Künstler die Schultern von dem gerundeten Ansatz der Arme an steil gegen den Hals ansteigen lassen, auf dem ein ver- hältnissmässig sehr schmaler Kopf ruht. Die Schneckenlocken auf der Stirn kehren wieder, die nach hinten herabhängenden Massen aber sind mehr modellirt und in der Quere leicht gewellt und gerundet. Am Kopfe verräth das Quadrate der Anlage ein Streben nach Stilisi- rung, wenn auch dadurch das Gesicht in der Vorderansicht und be- sonders die Stirn zu flach, der Ansatz des Nasenrückens zu gedrückt erscheint, während die Backenknochen nach vorn stark hervor-, die Augen aber kaum hinter die Fläche der Stirn zurücktreten. In der leisen Neigung der inneren Augenwinkel und den etwas nach oben

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gezogenen Mundwinkeln ist wenigstens die Absicht, dem Ausdruck eine gewisse Freundlichkeit zu verleihen, nicht zu verkennen.

Werfen wir noch einen vergleichenden Blick auf die beiden Statuen, so scheinen für die Bestimmung ihres gegenseitigen Ver- hältnisses zwei Punkte besonders betont werden zu müssen. Bei der Statue von Orchomenos stehen beide Schultern wagrecht, bei der von Thera steigen sie gegen den Hals stark an. Weiter aber senkt sich bei der ersteren die untere Begrenzung des Bauches nur schwach vom Kamme des Hüftknochens gegen das Schambein; bei der zweiten fällt dieser Umriss steil ab, so dass sich der Unterleib fast keilförmig zwischen die Oberschenkel einsetzt. Das sind nicht leichte Unter- schiede, sondern Gegensätze, die auf das gesammte Formensystem, die Gliederung des Körpers von der Stellung des Schlüsselbeins zu dem Ende des Brustbeins, von dort zum Nabel und von da weiter nach unten einen entscheidenden Einfluss ausüben. Sie allein können genügen, um in uns die Ueberzeugung zu begründen, dass die Kunst- art des einen Werkes nicht aus der des andern abgeleitet, nur eine Weiterbildung derselben ist, sondern dass beide selbständig neben einander stehen. Zugleich aber fordern sie uns auf zu prüfen, ob nicht von dieser Grundlage aus sich eine grössere Klarheit in der Beurtheilung der gesammten Gruppe dieser Jünglingsgestalten er- reichen lässt.

Wir wenden uns daher jetzt zu dem »Apollo« von Tenea in der Münchener Glyptothek (Nr. 41; Mon. d. Inst. IV, 44; Br.-Br. i). Für die Bezeichnung als Apollo schien hier der Umstand zu sprechen, dass nach Pausanias (II, 5, 4) Apollo in Tenea als Hauptgottheit ver- ehrt wurde ; doch sprechen die näheren Umstände der Auffindung mehr für eine zum Grabesschmuck verwendete Bildnissstatue (Arch. Z. 188 r, S. 55). Gegenüber der Statue von Thera bezeichnet die teneatische einen nicht geringen Fortschritt zu grösserer Vollendung und Durch- bildung. Sie bietet uns das Gesammtbild eines schlanken Jünglings, an dem nicht nur die Hauptmassen im Allgemeinen richtig vertheilt sind, sondern auch die Fügung der Glieder bei augenblicklicher Ge- bundenheit der Haltung doch die Fähigkeit freier Bewegung verbürgt. In den einzelnen Formen zeigt sich wohl, z. B. in der Seitenansicht der Oberschenkel, noch eine zu grosse Fülle. Dagegen überrascht namentlich die Verfeinerung und Durchbildung an den unteren Partieen, dem Knie, dem Schienbein und den Waden, die übrigens ihre Er- klärung darin findet, dass sich auch in der Natur das Einzelne dort

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schärfer sondert und der Beobachtung leichter darbietet, als in der Mitte des Körpers, wo die meisten Formen in weniger scharfer Be- grenzung an die Oberfläche treten. Bei dem Haar ist der ganze Nachdruck auf die wellige Bewegung gelegt, in dieser Richtung aber ein bestimmter Fortschritt sichtbar. Am Kopfe endlich treten zwar die Augen noch immer zu flach nach aussen hervor, erscheint die Nase zu spitz, aber auch hier offenbart sich nicht nur in der ganzen Anlage des Schädels der Sinn für künstlerische Stilisirung, sondern, was wichtiger ist, es verbindet sich derselbe mit einer scheinbar ent- gegengesetzten Eigenschaft, nämlich mit dem Streben, den Zügen im Einzelnen, z. B. im Munde, im Kinn, einen individuellen Charakter zu verleihen.

Nun aber zum Schluss: in den beiden für die Gesammtauffassung be- sonders wichtigen Punkten, dem Bau der Schultern und des Unterleibes, schliesst sich die Statue von Tenea auf das engste an die von Thera an. Im Princip ist die Auffassung die gleiche; nur in der Ausführung haben gewisse Härten desselben eine Milderung erfahren. Der ganze Fortschritt vollzieht sich überhaupt auf der Grundlage des in der theräischen Statue gegebenen Typus, hat diesen zur Voraussetzung. Sind wir auch nicht berechtigt, die beiden Werke etwa als Arbeiten des Lehrers und des Schülers zu bezeichnen, so setzt doch die enge Verwandtschaft einen bestimmten Zusammenhang voraus, in welchem sich die Grundanschauungen durch Tradition und, wir dürfen hier hinzusetzen: schulmässig vererben.

Anders stellt sich das Verhältniss eines vierten, in Böotien ge- fundenen, jetzt im britischen Museum befindlichen Exemplars, dem nicht nur die Unterschenkel, sondern auch beide Arme fehlen (vgl. Furtwängler in d. Arch. Z. 1882, T. 4, S. 51 ff.).^) Durch die hori- zontale Anlage der Schultern und die entsprechend kürzere Anlage der Weichen entfernt sich diese Gestalt von dem theräischen Typus und nähert sich vielmehr dem von Orchomenos, allerdings so, dass er in der Durchbildung weit über diesen hinausgeht und ähnlich wie die Statue von Tenea nach Schlankheit und grösserer Feinheit strebt. Diese Richtung aber äussert sich weniger in einer Streckung des Körpers, als in der schärferen Einziehung der Taille und in einer reicheren Gliederung und abgerundeteren Ausarbeitung der Formen. Der in dem Exemplar von Orchomenos zu schwere Kopf ist in der

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Breite seines Umrisses, wie er durch die Entfernung der Ohren von einander bedingt ist, nicht geschmälert, im oberen Theile, wenigstens in der Breite der wStirn, sogar gewachsen. Indem aber die Vorder- und Seitenflächen der Wangen sich nicht in einem bestimmten Winkel von einander abheben, sondern vom Ohr bis zur Mitte des Gesichtes mehr einheitlich als eine nicht stark gewölbte Fläche verlaufen, er- hält das ganze Gesicht einen scharfen, nicht rundlichen, sondern eher keilförmigen Zuschnitt nach vorn und wirkt dadurch in seinen plasti- schen Formen eher schmächtig als breit. Dieser Eindruck wird noch weiter dadurch verstärkt, dass das Auge im Zusammenhange mit dieser Anlage schräge nach vorn gestellt ist und auch der Mund, indem er der gleichen Richtung folgt, vielmehr in seiner Form zu- gespitzt, als zu dem typischen Lächeln verzogen erscheint.

Trotzdem bleibt eine Verwandtschaft mit dem Typus von Orcho- menos bestehen, die sich jedoch auf eine Gemeinsamkeit allgemeiner Vorstellungen von der menschlichen Gestalt beschränkt, nicht aber zu- gleich für einen schulmässigen Zusammenhang geltend machen lässt. Eher möchte man geneigt sein, sie in den gleichartig wirkenden Ein- flüssen zu suchen, welche die Natur des Ortes und die besonderen auf localem Boden erwachsenen gemeinsamen Anschauungen auf den künstlerischen Charakter der innerhalb solcher Grenzen entstehenden Denkmälergruppen auszuüben pflegen. Um jedoch unser Urtheil für diesen Gesichtspunkt zu schärfen, betrachten wir jetzt zwei Sculpturen eines Fundortes, nackte Jünglingsgestalten ohne Kopf und Unter- schenkel, welche aus Actium in das Museum des Louvre gelangt sind.

Die erste, an welcher beide Arme erhalten sind (Br.-Br. 76a), nimmt ihre Stellung zwischen der von Orchomenos und der Londoner ein. Wir finden die horizontale Stellung der Schultern, die hier noch durch die schärfere Angabe des Schlüsselbeins betont wird, sodann die kurze Anlage des Unterleibes, der nur weniger bestimmt nach unten von den Schenkeln abgeschieden ist. Auch die Kürze der Brust von oben nach unten ist beibehalten, und das auf den Rücken herab- fallende Haar ist quadratisch eingekerbt, wie an dem Marmor von Orchomenos. Dagegen weist die stärkere Einziehung der Taille und ebenso die schräge, fast geradlinige Andeutung des Brustkorbes bereits auf das Londoner Exemplar hin ; und besonders nähert sich diesem die weichere und mehr rundliche Behandlung der Fläche des Körpers, wenn auch dieselbe in der Theilung und Gliederung der Formen noch nicht so weit vorgeschritten ist. Die zweite vStatue, welcher der

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linke Unterarm fehlt (Br.-Br, 76 b), erscheint, obwohl die Taille weniger eingezogen ist, doch gestreckter, weil die Schultern etwas mehr an- steigen und der Unterleib etwas nach unten verlängert und bestimmter abgegrenzt ist, sonst aber auch die ganze Vorderfläche des Rumpfes sich als eine nicht scharf gegliederte, mehr einheithche Fläche dem Auge darbietet. So nähert sich dieser Marmor in der Gesammtanlage dem theräischen, aber nicht als eine Weiterbildung, sondern eher als eine Vorstufe, deren vage und etwas schwankende Formengebung erst in dem theräischen unter dem Einflüsse künstlerischer Gesichtspunkte zu erstarken und sich schulmässig zu regeln beginnt.

Wir sehen, dass der Gemeinsamkeit des Fundortes an sich noch keine besondere Wichtigkeit für die Beurtheilung des künstlerischen Charakters beizulegen ist. Diese Erfahrung aber findet eine wesent- liche Bestätigung durch den Hinblick auf eine Oertlichkeit, die in den letzten Jahren eine reiche Ernte gerade an apollinischen Jünglings- gestalten geliefert hat : das bereits erwähnte Heiligthum des Apollon Ptoos am Berge Ptoon in Böotien, in nicht grosser Entfernung von Orchomenos wie von Theben, das nach Pausanias (IX, 23, 6) bis zur Zeit Alexanders wegen der Wahrhaftigkeit seines Orakels in hohem Ansehen gestanden haben soll.

Zahlreiche Bruchstücke, über welche nur kurze Notizen vorliegen (B. d. com hell. 1885, p. 477; 520; 1887, p. 178), müssen hier über- gangen werden. Unter den ansehnlicheren Exemplaren ist als das älteste zuerst ein Torso zu erwähnen, an dem die Oberarme nur zur Hälfte und von den Oberschenkeln nur kurze Stücke erhalten sind (B. d. corr. hell. 1887, p. 184). Die Behandlung der Oberfläche macht (in der Photographie) eher den Eindruck der Weichheit als der Härte, der aber nur darauf beruht, dass sich der Künstler mit einer noch ziemlich verschwommenen Angabe der Hauptformen begnügt, ohne zu einer scharfen Umschreibung derselben vorgedrungen zu sein. In der Gesammtanlage aber begegnen wir einer Mischung der bisher beob- achteten zwei Grundtypen, in den oberen Theilen einem Anlehnen an den von Orchomenos, während sich von der Brust abwärts eine Ten- denz zu grösserer Schlankheit geltend macht, die jedoch in der Schmal- heit des Unterleibes den theräischen nicht erreicht. Gerade umgekehrt stellen sich diese Verhältnisse in einem zweiten Exemplar (B. d. corr. hell. 1886, pl. 4; Br.-Br. 12 b): der Unterleib vom Nabel ab- wärts ist kurz; Brust und Schultern streben aufwärts. Doch richtet sich bei diesem Marmor unsere Aufmerksamkeit weniger hierauf, als

Erhaltene Werke : Weitere Betrachtung.

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auf den Gesammteindruck : wir empfinden, dass der Künstler von einem klaren, bewussten Wollen geleitet wird, das sich bestimmte, wenn auch noch beschränkte Ziele steckt, diese aber bereits in einer gewissen harmonischen Abrundung zu erreichen versteht. Darin erinnert dieser Marmor am meisten an den theräisch-teneatischen Typus, und wenn in diesem bereits der Versuch gemacht ist, die Köpfe durch den Aus- druck eines freundlichen Lächelns zu beleben, so werden wir den Künstler vom Ptoon kaum tadeln, wenn er auf dieses Wagniss ver- zichtete : die strenge Geschlossenheit des gesammten Typus findet in dem kalten Ernst des Kopfes erst ihren letzten naturgemässen Ab- schluss. Von den beiden ersten Exemplaren unterscheidet sich wesentlich das dritte, ein Torso ohne Kopf und Unterschenkel: B. d. corr. hell. 1887, pl- 8. Während die Gliederung des Körpers noch an das erste erinnert, liegen die Hände nicht mehr eng am Ober- schenkel an, sind die Arme nicht streng gestreckt, sondern in den Ellenbogen leise gebogen; auch scheinen die Beine schon etwas mehr wie zum Schreiten geöffnet. Hier tritt also deutlich die Absicht hervor, die strenge Geschlossenheit, die für das zweite Exemplar be- sonders charakteristisch war, zu lockern und die Glieder für die Bewegung frei zu machen. Wie aber diese künstlerische Absicht sich nur erst schüchtern hervorwagt, so äussert sie sich auch an der Gestalt selbst durch eine schüchterne, fast ängstliche Haltung, nicht als ob der erste freie Schritt schon gemacht sei, sondern als solle er eben erst gewagt werden. Noch sind die Hände nicht völlig frei, sondern wenn auch nur technisch, durch Stützen mit dem Körper verbunden, wie leise gefesselt. So tritt dieser Marmor an das letzte Ende der bisher betrachteten Reihe.

Das hohe Ansehen des Orakels beim Ptoon könnte wohl zu der Vermuthung Anlass geben, dass durch den vielfältigen Bedarf an künstlerischen Weihgeschenken sich an Ort und Stelle ein lebhafter Kunstbetrieb entwickelt habe. Aber gerade die Vergleichung der drei Statuen liefert den Beweis, dass, wenigstens was die Marmor- sculptur anlangt, von einem bestimmten localen Stil in den Arbeiten vom Ptoon nicht die Rede sein kann.

Der Vollständigkeit wegen sind hier noch einige Arbeiten anderer Herkunft zu erwähnen. Aus Megara stammt ein Torso etwa von doppelter Lebensgrösse, jetzt im National-^Iuseum zu Athen (Nr. 13). In dem mittleren Theile des Körpers ist er sehr schlank und gestreckt; der Unterleib kurz, die Oberfläche in ihren sehr allgemeinen Formen

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Aelterer Zeitraum, Die Plastik.

weich behandelt. Ebenfalls nach Athen (Nationalmuseum, Nr. 14) ist ein Marmor aus Naxos gebracht, der nur mit dem Spitzeisen für die Ausführung vorbereitet ist, aber wohl deshalb unvollendet blieb, weil der Kopf und besonders die Augen schon in der Anlage arg verhauen waren. Bei der benachbarten Lage von Naxos und Thera möchte man am ersten eine Verwandtschaft mit der theräischen Statue er- warten ; doch findet sich dieselbe höchstens in der Anlage der Schultern und der Brust, nicht an den unteren Partieen. Ueber einen gleich- falls nur im Rohen entworfenen Apollokoloss, der in Naxos noch in dem Steinbruche liegt, fehlen bis jetzt genauere Angaben, eben so wie über die Bruchstücke eines von den Naxiern nach Delos ge- weihten gleichfalls kolossalen Apollo, der schon die Aufmerksamkeit des Cyriacus von Ancona erregt hat: Welcker, Alt. Denkm. I, 400; Jahn im Bull. d. J. 1861, p. 182. Wahrscheinlich ist es derselbe, der durch die vom Sturme niedergeworfene eherne Palme umgestürzt wurde, welche Nikias nach Delos geweiht hatte: Plut. Nik., c. 3.^)

Das Ergebniss unserer Prüfung der nackten Jünglingsgestalten bleibt vielleicht etwas hinter den Erwartungen zurück, welche eine so ansehnliche Reihe von Wiederholungen erwecken musste. Ver- gessen wir indessen nicht die Natur unseres Materials: nur bei der Minderzahl sind die Köpfe, nur bei einer einzigen die Unterschenkel erhalten ; wieder andern fehlen die Arme. Dazu bieten sie uns sämmt- lich bis zur Einförmigkeit nur ein und dasselbe Motiv in Stellung und Haltung. Wenn es fast ein Gemeinplatz geworden ist, zu be- haupten, dass die Kunst in der Verarbeitung geistiger Ideen erstarkt, dass sie durch die Religion gefördert wird und ihr Höchstes in der

^) Späterer Zusatz :

Sauer, Ath. Mitth. 1892, S. 42, Nr. 33. Weiter mag noch einer Statue gedacht werden, die von der Insel Milo nach Athen über- geführt worden ist: B. d. corr. hell. 1892, pl. 16, p. 560 ff. Nächst der Statue von Tenea hat sie das Verdienst, die am besten erhaltene zu sein, da nur die Beine gebrochen waren, aber zusammengesetzt werden konnten. Ohne mit den Figuren von Thera und Tenea in wirkUchen Schulzusammenhang gebracht werden zu können, ist sie diesen doch einigermassen verwandt, ebenso der ptoischen Figur: B. d. corr. hell. 1886, pl. 4. Dabei zeigt sie in allem einen bestimmten Fortschritt, der wiederholt das Einzelne einer Prüfung unterzieht, Härten und Schärfen mildert und sich so der Natur immer mehr annähert.

Erhaltene Werke : Weitere Betrachtung.

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Darstellung des Götterbildes leistet, so ist das richtig für den Fort- schritt und für den Verlauf der Entwickelung, nicht aber für den ersten Anfang, für den Ausgangspunkt. Unter den „Apollo"-Statuen ver- mögen wir nicht einmal die Darstellungen sterblicher Menschen von denen des Gottes selbst zu unterscheiden, selbst äusserlich nicht, da bestimmte Attribute fehlen. Alle diese Gestalten sind nichts als der allgemeine Typus der Menschengestalt in voller Ruhe; und wenn etwas für sie bezeichnend ist, so ist es gerade die Abwesenheit jedes phantastischen Elementes, wie wir einem solchen sogar in einer früheren Periode in Darstellungen der Inselsteine begegneten. Darum ist auch dieser Typus nicht die Erfindung eines Einzelnen, die der Nachfolger von einem Vorgänger hätte entlehnen müssen: er ist viel- mehr durch die Natur selbst gegeben, aus der er nicht nur einmal, sondern beliebig oft von der Kunst übernommen werden konnte, ein Typus, der auch nicht durch prometheisches Feuer mit einem Schlage zu vollem Leben erweckt wurde, sondern in dem der Funke ruhte, der erst angefacht werden musste, um allmählich den unbelebten Stoff mit Wärme zu durchdringen. In diesem Ausgangspunkt liegt bereits eine der wesent- lichsten Grundverschiedenheiten , welche die griechische Kunst von der ägyptischen trennt , liegt aber auch die Schwierigkeit der Unter- suchung, welche uns beschäftigt. Indem die Künstler unbefangen und nicht gebunden durch gegebene theoretische Voraussetzungen von der Betrachtung der Wirklichkeit ausgehen, begegnen sie sich wohl in manchen allgemeinen Anschauungen, wie auch in einem Theil ihrer besonderen Beobachtungen: in der Mischung der verschiedenen Elemente aber macht sich überall die einzelne Individualität geltend. Dadurch muss nothwendig in diesen Anfangsstadien ein gewisses Schwanken entstehen, und so konnte der Versuch, die einzelnen Werke in bestimmte Gruppen einzuordnen, nicht wohl gelingen. Nur in den Statuen von Thera und Tenea Hessen sich die Anfänge einer ge- regelten, schulmässigen Entwickelung erkennen. Ausserdem konnte wohl auf Verwandtschaften, auf eine theil weise Uebereinstimmung in der Anlage und Gliederung der Hauptverhältnisse des Körpers hin- gewiesen werden. In der Hauptsache aber handelte es sich um Ver- suche , wie sie längere Zeit und in weiterem Umfange wiederholt werden müssen, wenn sich aus der Summe der Erfahrungen feste Regeln und bestimmte stilistische Principien entwickeln sollen.

^) Späterer Zusatz:

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Aelterer Zeitraum. Die Plastik.

Wiederholungen des Apollotypus in Broncen von grösserem Maasstabe sind bisher nicht bekannt geworden. Doch fehlt es nicht an kleineren Arbeiten in diesem Stoffe, unter denen als Vertreter einer grösseren Zahl nur die angeführt werden mag, die durch die Weihinschritt eines Polykrates früher besonderer Beachtung werth schien. Es wider- spricht indess der Charakter der Schrift einer Beziehung auf den Tyrannen von Samos und weist vielmehr auf argivische Herkunft hin: O. Müller, D. d. a. K. I., 9, 32; Kirchhoff, griech. Alphab.^ S. 28. Die zahlreichen am Ptoon gefundenen Marmorstatuen lenken sodann die Aufmerksamkeit auf die den gleichen Ausgrabungen entstammenden ßroncefiguren. Unter ihnen wird keine genannt, welche den einfachsten Typus mit enganliegenden Armen wiedergiebt. Dagegen finden wir eine, welche die Hand des gebogenen linken Armes auf den Körper legt:

Trotzdem hat man nicht unterlassen, nach anderen Ausgangspunkten zu suchen, welche der wissenschaftlichen Forschung eine sichere Grund- lage für eine engere Gruppirung zu bieten geeignet wären. Einen solchen hat man geglaubt in dem Material zu finden, in welchem eine grössere Anzahl dieser Werke gearbeitet ist, einem grobkörnigen weissen Marmor, als dessen Fundstätte der Bezirk von Tragea auf der Insel Naxos nachgewiesen werden konnte: Ath. Mitth, 1892, S. 37 ff. Auf dieser Grundlage hat Br. Sauer eine genaue Statistik solcher Funde in Athen, Delos und an anderen Orten entworfen, und wenn auch die in diesem Material gearbeiteten Stücke nicht nothwendig von der Hand naxischer Künstler gearbeitet sein müssen, so machen es doch in mehreren Fällen Nebenumstände wahrscheinlich, dass bei der Häufigkeit der Verwendung ein reger heimischer Betrieb vorausgesetzt werden darf Indessen während ich durchaus geneigt bin, mich dieser Auffassung anzuschliessen, so kann ich doch nicht zugestehen, dass es Sauer, so sorgfältig seine Untersuchung geführt ist, auch gelungen sei, in fass- barer Weise Wesen und Charakter eines eigentlich schulmässigen Zu- sammenhanges darzulegen, sondern nur eine nahe Verwandtschaft in verschiedenen Details und Praktiken der Durchführung, einen Zusammen- hang handwerksmässiger Uebung nachzuweisen, die wohl zu einer be- stimmten Schulung zu führen vermag, aber nicht führen muss. Wenn es in Naxos zu einer solchen offenbar nicht kam, sondern nur bei An- sätzen blieb, so genügen zur Erklärung äussere Umstände wi,e der, dass bessere Qualitäten Marmor und frühe Concurrenz siegten und Naxos in den Schatten stellten.

Erhaltene Werke: Weitere Betrachtung.

B. d. corr. hell. 1887, pl. 10; eine zweite (1886, pl. 9), welche beide Vorder- arme leise nach vorn bewegt, und eine dritte (1886, pl. 8), welche die- selben in rechtwinkeliger Biegung gerade nach vorn streckt. Durch Hinzufügung von Waffen, Schild, Helm, Beinschienen wird aus dem Jüng- ling ein Kriegerbild (1887, pl. 9). Der Entdecker, M. Holleaux, glaubt aus diesen Varianten auf eine gewisse Frische und Lebendigkeit in der Auffassung und Erfindung der böotischen Kunst schliessen zu dürfen. Man wird diesen Gedanken nicht ohne weiteres abweisen wollen. Aber mit weit mehr Recht wird man die verschiedenen Be- dingungen der Marmor- und Broncetechnik in Betracht ziehen. Das Geschlossene der anliegenden Arme erscheint auf den ersten Stufen der Marmorarbeit als das Naturgemässe, das Motiv des gebogenen, vorgestreckten Armes als ungeeignet wegen der Erhöhung der tech- nischen Schwierigkeiten. Nicht so bei der Bronze. Das lehrt schon die stabartige Behandlung der ältesten olympischen Wagenlenker und anderer P'iguren (s. S. 54 f.), und bekundet weiterhin eine Reihe von Statuetten, nackte wie bekleidete Gestalten, verschiedensten Fundorts.^)

B. Reliefwerke. 2)

Das Relief hängt weit mehr als die eigentliche Statuenbildung [ mit der ältesten decorativen Kunst zusammen. Eröffnete sich doch gerade in ihr dem Relief früh ein weites Feld der Bethätigung, wie in hervorragender Weise der homerische und hesiodische Schild ge- zeigt haben. Es ist deshalb nur naturgemäss, dass auch im weiteren Fortschritte die eine Art der Reliefarbeit nur die Fortsetzung der älteren Entwickelung bildet, während allerdings gleichzeitig eine andere Richtung nach grösserer künstlerischer Selbständigkeit strebt. Freilich vermischen sich die beiden Gattungen nicht selten; doch empfiehlt es sich für den Anfang, den Gegensatz durch die Bezeichnung als deco- rative und monumentale Relief bildn er ei bestimmt hervorzuheben.

Beispiele decorativer Art. Als erstes Beispiel der decorativen Gattung ist hier das wahrscheinlich der Armlehne eines marmornen Thronsessels angehörige Fragment anzuführen, welches, inSamothrake

^) Einzelköpfe aus dieser Periode finden sich in dem Nachlass nicht besprochen, auch nicht der weibliche Kolossalkopf aus Olympia: Olymp. III, T. I, sondern nur zur Besprechung notirt.

^) Von hier ab liegt nur ältere Reinschrift vor, beruht also die Darstellung noch durchaus auf dem wissenschaftlichen Material der Zeit um 1870. Der Plan einer Umarbeitung und Erweiterung ist über verschiedene Ansätze nicht hinausgerückt.

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Aelterer Zeitraum. Die Plastik.

gefunden, sich jetzt im Louvre befindet (Millingen, Anc. uned. mon. II, i ; Clarac, Mus. de sc. II, 116,23 8)/) Von den Figuren ist leider nur der sitzende Agamemnon und hinter ihm der Herold Talthybios und Epeios in ruhiger Stellung erhalten, alle durch Inschriften bezeichnet, nach welchen Kirchhoff^) die Arbeit in die Mitte des VI. Jahrhunderts setzt. Auf- fallend ist hier vor allem der Contrast in den verschiedenen Theilen der Arbeit. In dem geflochtenen Bande am unteren, in der doppelten Anthemienreihe am oberen Rande begegnen wir einer höchst präcis und sauber durchgebildeten Ornamentsculptur, wie sie erst bei einer bereits vorgeschrittenen Entwickelung künstlerischer Architektur mög- lich war. Der phantastische Drachenkopf, welcher die Ecke bildet, erinnert in seiner rundlichen Ausführung durchaus an alte Sphyrelata etwa von der Art, wie die Greifenköpfe am Krater des Kolaios zu Samos sein mochten. In den menschlichen Figuren ist es weniger Rohheit und Plumpheit, was uns auffällt, als eine gewisse Unbestimmt- heit in der Auffassung der Formen. Auch sie erinnern an Metall- arbeit, die oberflächlich mit dem Hammer aus dem dehnbaren Metall- blech herausgetrieben ist. Die scheinbare Weichheit ist Laxheit, die wir gern gegen strenge Schärfe und Herbigkeit vertauschen würden. So gewinnen wir aus diesem Relief die wichtige Lehre, dass in den ältesten Zeiten die verschiedenen Zweige der Kunst sich keineswegs immer parallel entwickelten, dass vielmehr neben rein künstlerischer Stilisirung des Architektonischen doch in den Figurendarstellungen noch ebenso wie in der älteren decorativen Kunst nur auf das Stoff- liche, den Inhalt des Gegenstandes Werth gelegt wurde, ohne dass sich bereits auch hier das Bedürfniss einer formalen künstlerischen Durchbildung geregt hätte. Ein sicilisches Terracottarelief: Viergespann in Vorderansicht nebst Wagenlenker und zwei Pferde- wärtern (Serradifalco, Ant. d. Sicil. II, t. 27 bis),^) das früher gewiss in eine architektonische Umgebung eingefügt war, mag hier zum Belege dafür angeführt werden, wie an weit von einander entfernten Orten doch dieselben Erscheinungen wiederkehren: die menschlichen Figuren verrathen in ihrer ganzen künstlerischen Behandlung mit denen des samothrakischen Reliefs eine nicht zu verkennende Analogie.

Einen entgegengesetzten Charakter trägt das Fragment eines grösseren Terracottagefässes aus Sparta, jetzt in der Sammlung

1) Br.-Br. 23 1 a.

2) 4. Aufl., S. 36.

') Vgl. Kekule, Ant. Terrakott. II, T. 54, S. 81 f.

Erhaltene Werke: Weitere Betrachtung;.

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des Münzcabinets zu Paris (Le Bas, Voy., Mon. fig. 105). Das Relief, der Kampf um eine Leiche, erinnert an das Pembroke'sche Vasenbild mit dem Kampfe um die Leiche des Achilles (Mon. d. Inst. I, T. 51). Je seltener ein Relief zu einer Vergleichung mit einem Vasenbilde auffordert, um so mehr werden wir suchen müssen, den Grad der Verwandtschaft näher zu bestimmen. Sie beschränkt sich keines- wegs auf die ungefähre Gleichzeitigkeit^) beider Arbeiten, noch auf die Aehnlichkeit des Gegenstandes, noch auf die geistige Auf- fassung desselben, welche vor allem die Handlung zwar nur in allgemeinen schematischen Zügen, aber klar und energisch zur An- schauung zu bringen bestrebt ist; sondern sie erstreckt sich auch auf die stilistische Behandlung. Wie in dem Vasenbilde sich die Zeichnung dem Charakter der Silhouette annähert, so gilt dasselbe von dem Relief, in dem das Schema im Gegensatz zur Durchbildung der Ge- stalten nach ihrer Rundung überwiegend betont ist. Die Umrisse heben sich scharf vom Grunde ab, während die oberen, fast ebenen Flächen durchaus innerhalb der tektonischen Linien des Körpers der Vase selbst liegen, so dass das Relief nicht auf die Grundfläche auf- gesetzt oder aus ihr herausgetrieben, sondern durch Herausarbeiten des Grundes von der Oberfläche aus gewonnen scheint. So opfert dieses einen Theil seines plastischen Charakters; aber indem es sich als dienender Schmuck dem tektonischen Princip des Ganzen freiwillig unterordnet, verleiht es eben diesem Ganzen einen Vorzug, welcher z, B. dem Relief von Samothrake mangelt: Einheit des Stils in allen seinen Theilen.

Unter verwandten Gesichtspunkten werden auch die bedeutendsten dekorativen Sculpturen zu betrachten sein, die aus diesem Zeitraum erhalten sind: die jetzt im Louvre befindlichen Sculpturen des in seinen architektonischen Eigenthümlichkeiten schon früher betrachteten Tempels von Assos^), theils Metopen, theils Stücke des in unge- wohnter Weise mit Sculpturen geschmückten Architravs. Es sind Sphinxe, Stiere, Eber, Löwen im Kampfe mit Stieren und Hirschen, also jene von Alters her in Asien eingebürgerten Typen, ferner Cen- tauren in lebhaftem Laufe, dazu eine Scene beim Mahle und endlich

^) Rn. : Nach der gewöhnlichen Datirung der Vase. [Vgl. Buch I, S. 159 f., wo der Ver- fasser das Vasenbild wenigstens nicht mehr als ,, originale Handschrift" gelten lassen wollte].

^) Rn: Mon. d. Inst. III, T. 34; Texier, Descript. d. l'Asie min. II, pl. 112 114; Clarke, Report on the investigations at Assos, Papers of the americ. school of archeol. I, 1881, pl. 15—16, p. iir.; [Br.-Br. 411— 412].

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Herakles mit einem fischleibigen Dämon, wahrscheinlich Triton, ringend, während einige Nereiden erschreckt fliehen. Für eine richtige Be- urtheilung ihres künstlerischen Charakters ist es nöthig, davon aus- zugehen, dass sie in einem sehr harten, lavaartigen Stein gearbeitet sind, der eine feine, ins Einzelne gehende Ausführung nicht gestattete. Da sie aber ebensowenig irgendwo eine glatte Oberfläche zeigen, so bleibt nur die Annahme übrig, dass sie, wie wahrscheinlich der ganze Tempel, mit einem feinen Stuck überzogen waren, der selbstverständ- lich eine ausgedehnte Anwendung der Malerei, namentlich für die feinere Ausbildung der Figuren, bedingte. Doch auch hiervon ab- gesehen bleibt das flach behandelte Relief für die Decoration eines monumentalen Baues auffällig, und es erklärt sich nur, wenn man es mit Semper (I, S. 436) als ein in Stein übertragenes Sphyrelaton be- trachtet, das seiner ursprünglichen Bestimmung nach nur als Bekleidung (Incrustation) eines eigentlich structiven Kerns gedacht war. Dem Stil eines getriebenen Metallbleches entsprechend, heben sich die Umrisse der Figuren mehr stumpf und allmählich vom Grunde ab, und hält sich die ganze Reliefbehandlung in breiten, nur wenig gegliederten Flächen. Man möchte also das Ganze gewissermassen als eine Zeich- nung in Relief betrachten, die der grösseren Deutlichkeit wegen in mässiger Erhöhung aus der Grundfläche heraustritt, die Ausführung der oberen Flächen aber fast mehr durch die Mittel der Malerei als der Plastik erhält. So werden sich auch die Widersprüche hinsichtlich der historischen Stellung lösen, welche man diesen Reliefs anweisen zu müssen geglaubt hat. Der Mangel eingehender plastischer Durch- bildung wird nicht mehr als ein Zeichen höchster Alterthümlichkeit betrachtet werden dürfen, sondern für die Zeitbestimmung muss die gesammte Anlage und die Zeichnung bestimmend sein. Diese erscheint nun zwar noch streng alterthümlich, aber doch innerhalb der Grenzen eines bestimmten Stils bereits sehr sicher und abgerundet, ja man möchte sagen: routinirt. Man vergleiche nur z. B. mit den Centauren des Reliefs die kleine Bronzefigur eines Centauren aus Athen (Ross, Arch. Aufs. I, T. 6), die bei besserer Durchbildung im Einzelnen doch weit ursprünglicher und ungelenker erscheint. Freilich werden wir dabei, um nicht zu günstig zu urtheilen, nicht vergessen dürfen, um wie viel grösser die Schwierigkeiten sind, die ein jedes Rund- werk darbietet gegenüber einem mässig erhabenen Relief, das sich seiner ganzen Bestimmung nach mit einem allgemeinen Schema- tismus der Figuren begnügen darf. Wie aber ausserdem ein Theil

Erhaltene Werke: Weitere Betrachtung.

der Darstellungen auf einen Zusammenhang mit dem altasiatischen Decorationssystem hinweist, so darf auch die lange traditionelle Uebung desselben nicht ausser Acht gelassen werden, wenn wir einer grösseren Unbehülflichkeit im eigentlichen Griechenland und Unter- italien gegenüber in Assos einer ausgebildeteren Praxis und grösseren Gewandtheit begegnen. Alle diese Erwägungen führen demnach zu demselben Resultat, welches sich bereits aus der Prüfung der archi- tektonischen Formen ergeben hat, dass nämlich der Tempel von Assos mit seinem Bilderschmucke etwa dem Ende der vorliegenden Periode angehören muss.

Wie oben bemerkt, darf die Unterscheidung zwischen dekorativen und monumentalen Reliefs nicht so aufgefasst werden, als ob es nicht Vermittelungsstufen zwischen beiden gäbe. Einer solchen gehört offenbar ein fragmentirtes Relief an, das aus der Nähe von Karaköi, dem Hafen des Didymaion bei Milet, in das britische Museum ver- setzt ist.^)

Nur zwei Paare im Tanze vorschreitender Frauen sind fast ganz, von zwei andern nur geringe Theile erhalten, während ursprünglich dieser Chor sich friesartig noch weiter fortgesetzt haben wird. Leider ist auch die Oberfläche vielfach beschädigt. Dem decorativen Stil schliesst sich dieses Relief insofern an, als es bei kräftigem Hervor- heben der äusseren Umrisse doch im Ganzen niedrig und flach ge- halten ist. Es war aber für eine frühe Zeit schon ein beachtenswerthes Wagniss, die Paare so zu ordnen, dass die vordere Figur die hintere zu einem grossen Theile deckt, woraus sich die Nothwendigkeit ergab, sie für das Auge auseinander zu halten, während ausserdem die Be- wegung auch trotz der langen Bekleidung klaren Ausdruck verlangte. So musste sich die Aufmerksamkeit darauf richten, den Figuren inner- halb der Flachheit des Reliefs doch eine gewisse plastische Rundung zu verleihen. Dies geschieht, indem die Beine aus der Umhüllung der Gewandung bestimmt hervortreten und von dem Gewände einzelne Falten und Zipfel sich loslösen. Freilich entspricht der künstlerischen Absicht der Erfolg noch wenig: es fehlt an Kenntniss des Nackten; die Verhältnisse sind schwer, die Bewegungen etwa wie von Leuten, die eine Last fortziehen sollen; auch in der Ausführung herrscht un- geschickte Derbheit. Allein gerade das sichtbare Ringen mit den Schwierigkeiten verbürgt den weiteren Fortschritt und sichert diesem

^) Rayet, Milet, pl. 27, 2; Br.-Br. loi b, Brunn, Gr. Kunstgeschichte II.

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Relief neben den Sculpturen von Assos und den Statuen von Milet seinen bestimmten Platz, indem es sich entschiedener als diese von der Praxis altasiatischer Kunstübung loszumachen strebt.

Eine zweite Mittelstufe, freilich von durchaus abweichendem Cha- rakter, wird durch das Relief einer spartanischen Basis^) von der Form einer abgestumpften Pyramide bezeichnet, welcher die einst vorhandene Bekrönung fehlt. Die Schmalseiten sind nur je mit einer sich emporringelnden Schlange geziert; auf jeder der Breitseiten findet sich dagegen ein Figurenpaar: das eine Mal ein Mann, der in freund- licher Begegnung einer ihm gegenüberstehenden Frau die linke Hand um den Nacken legt, während er mit der rechten einen von ihr ge- haltenen Ring oder Kranz anfasst; das andere Mal eine verwandte Gruppe, aber in feindlicher Begegnung, indem der Mann mit dem Schwert den Hals der Frau zu durchbohren sich anschickt. Eine unbestrittene Erklärung ist noch nicht gefunden; nur deuten die Verschiedenheiten in den einzelnen Gestalten daraufhin, dass die Figuren der Vorder- und der Rückseite nicht identisch sein können.^) In stili- stischer Beziehung hat man geglaubt, die Reliefs dieser Basis als den ältesten selinuntischen Metopen verwandt bezeichnen zu müssen, jedoch mit Unrecht. Gemeinsam ist beiden nur der Eindruck einer gewissen Breite und Schwere, der aber hier und dort auf sehr verschiedenen Gründen beruht. Das Relief der Basis ist seiner allgemeinen Anlage nach Hochrelief; aber in der Behandlung der oberen Plächen hat es den Charakter des Flachreliefs bewahrt und in Verbindung damit be- wegt sich auch der Umriss der Figuren in allgemeinen schematischen Linien. Der Künstler ist also auf halbem Wege stehen geblieben, und seine Figuren erscheinen massig und schwier, weil an ihnen die Aus- arbeitung der einzelnen Formen in ihrer Rundung fehlt, welche durch die stoftliche Masse des Hochreliefs geboten erscheint. Wie ganz anders sich diese Verhältnisse an den selinuntischen Metopen gestalten, werden die folgenden Erörterungen zeigen ^)

1) Br.-Br. 226. Vgl. Brunn, Athen. Mitth. VII, 1882, S. 114 f.

2) Rn: Athen. Mitth. II, 1877, S. 301 ff.; Löschcke, Dorpater Progr. 1879.

^) Im Zusammenhange mit der spartanischen Basis und dem Blundell'schen Relief sollten die älteren Vertreter jener spartanischen Relieflvomposition behandelt werden, die einen Mann mit Kantharos und eine Frauengestalt (Hades und Persephone oder heroisirte Verstorbene) thronend darstellen: Br.-Br. 227a; Furtwängler, Samml. -Sabouroff, T. i; Athen. Mitth. II, 1877, T. 20—22. Vgl. Brunn, Athen. Mitth. VII, 1882, S. 112 f.; Münchn. Sitzungsber. 1884, II, S. 526.

Erhaltene Werke : Weitere Betrachtung.

Zunächst ist indessen noch ein Rehef der Blundell'schen Sammlung (Arch. Anz. 1864, S. 222, Taf. A.^) zu erwähnen, das uns in der stiUstischen Behandlung wiederum einen Schritt über die spartanische Stele hinausführt. Es stellt einen bärtigen Mann in Unter- und Obergewand auf einem Stuhle sitzend dar. Das Relief ist in seiner oberen Fläche mit dem Rande, der es umrahmt, noch sehr in einer und derselben Ebene gehalten, erhebt sich aber nur etwa i^/g Centimeter über dem Grunde, so dass die geringe Durch- bildung der Formen nicht auffällt, um so weniger, als sich damit eine grosse Einfachheit der gesammten Anlage verbindet. Im Gegensatz zu dem spartanischen Relief sind die Proportionen zu grosser Schlankheit ent- wickelt, und in dem Zurückziehen des einen Fusses, der indess mit der Sohle noch platt auf dem Schemel ruht, so wie in der Hebung des linken Vorderarms zeigt sich bereits grössere Freiheit der Auffassung. Wir werden die Weiterentwickelung dieses Stils in der folgenden Periode an einem albanischen Relief kennen lernen.

Beispiele monumentaler Art. Die Sculpturen von Assos lieferten ein Beispiel des decorativen Reliefs an einem Tempel, jedoch nur als eine wenig stilgerechte und wohl durch asiatischen Einfluss bedingte Ausnahme. Sonst musste gerade der Tempelbau den Anlass zur Entwickelung des monumentalen Reliefs bieten; denn das Giebelfeld sowohl wie die Metope, um die es sich hier zunächst handelt, ist zwar ein architektonisch gegebener fest bestimmter Raum ; aber innerhalb desselben bietet sich dem Künstler ein um so freieres Feld dar, als beide ohne construc- tive Function ursprünglich offen zu denken und daher Statue wie Relief den Raum wohl zu füllen, aber nicht völlig zu schliessen, ja den faktischen Verschluss nur zu maskiren bestimmt sind, so dass sie bis auf die gegebenen Grenzen des Raumes durchaus unabhängig da- stehen. Den Beweis dafür liefern uns die Metopen des Tem- pels C von Selinunt^), von denen sich ausser mehreren Fragmenten drei fast vollständig erhalten haben: der Kampf des Perseus gegen die Medusa unter dem Beistand der Athena, Herakles die Kerkopen tragend, und ein Viergespann in Vorderansicht. Sie sind in sehr stark hervortretendem Relief, die Körper beinahe in voller Rundung

1) Arch. Zeit. 1874, T. 5.

2) Br.-Br. 286, 287; Benndorf, Metop. v. Sei., T. 1—4.

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Aelterer Zeitraum. Die Plastik

ausgeführt, haben also den Charakter einer »Zeichnung in ReHef« völHg verloren, so dass sich für die Durchführung hier ähnliche Forde- rungen wie bei statuarischen Werken geltend machen.

Betrachten wir die Darstellungen zunächst innerhalb des gegebenen Raumes, so fügen sie sich der Form, wie der Idee nach durchaus unge- zwungen ein: in materiell strengem Gleichgewicht der Massen bei der Quadriga und den Kerkopen, in freierer Abwägung bei dem Perseus, wo das Handgelenk der Rechten und der Unke Fuss, die beiden Punkte, auf denen die ganze Action ruht, gerade in die Mittellinie fallen, während eine gewisse äussere Ungleichartigkeit der Massen sich geistig aus- gleicht theils durch die grössere Bewegung auf der rechten Seite, theils durch das Zurücktreten der Athena, deren Bedeutung mehr auf ihrer blossen Gegenwart, als auf thätiger Mitwirkung beruht. Nicht so geschickt wusste sich der Künstler mit den Bedingungen der Relief- bildung in der Behandlung der einzelnen Figuren abzufinden. Die Stellung der Füsse im Profil und der Brust und des Gesichts in der Vorderansicht ist nahezu naturwidrig, ohne jedoch auf den unbe- fangenen Beschauer gerade in dieser Weise zu wirken. Wir empfinden vielmehr, dass sich hier zwar noch nicht ein Sinn für wirkliche Schön- heit, aber doch ein künstlerisches Gefühl offenbart, welches bestrebt ist, die Bewegungen gewissen, wenn auch nur erst halb verstandenen Stilgesetzen unterzuordnen. Es hegt im Wesen des strengen, besonders architektonischen Rehefs, dass sich die Gestalten zwischen einer realen unteren und gewissermassen ideellen oberen Fläche so bewegen sollen, dass kein Theil derselben über die letztere hervortritt. Wo es sich aber nicht um ein flaches, sondern um ein fast in voller Rundung ausgearbeitetes Relief handelt, da wird es bei der Profilstellung der Figuren eine besondere Schwierigkeit bilden, die Schultern nach ihrer natürlichen Breite dieser oberen Fläche unterzuordnen. Ihre Auf- fassung verlangt daher ein Abgehen von der materiellen Richtigkeit, eine künstlerische Abstraction, zu der sich der Künstler nicht sofort zu erheben vermochte. Er sucht einen Ausweg und glaubt ihn zu finden, indem er die hervorstehende Schulter zurückzieht und so den Oberkörper von vorn zeigt, während er für die Füsse die Profilstellung festhält. So naiv dieser Ausweg sein mag, so erreicht der Künstler dadurch doch, dass der Oberkörper zwischen den beiden Reliefflächen Platz findet und dass beiden Armen zu derjenigen freien Bewegung Gelegenheit bleibt, auf der in der Regel die Entwickelung einer leben- digen Handlung beruht. Wenn daneben in einem erst vor wenigen

Erhaltene Werke: Weitere Betrachtung.

Jahren gefundenen Fragment ^) sich auch einmal eine richtige Profil- stellung findet, so zeigt dies nur, dass der Künstler bei seinem Suchen und Versuchen nicht einseitig verfuhr, sondern überall seine Freiheit wahrte. Einen noch augenfälligeren Beweis dafür liefert das Viergespann, welches er mit einer seine Kräfte freilich übersteigenden Kühnheit geradezu in der Vorderansicht bildete. Auch ein Fehler in der Zeich- nung des linken Schenkels der Medusa ist vielleicht auf die Absicht zurückzuführen, denselben gewissermassen in halber Verkürzung zu zeigen.

Die einzelnen Figuren machen freilich zunächst den Eindruck der Plumpheit, und zwar in der gesammten Anlage, nicht etwa nur in der Ausführung des Einzelnen, auf die das Material, ein ordinärer Tuff, eine ungünstige Wirkung ausüben musste. Doch wird auch hier unser Urtheil günstiger ausfallen, sofern wir etwa die kurzen, geist- und leblosen Gestalten so mancher mittelalterlicher Sculpturen zur Vergleichung heranziehen. Wir finden bei dem griechischen Künstler allerdings zu kurze und gedrungene Proportionen verbunden mit zu massigen Fleischpartien ; aber es sind nicht erstarrte und verknöcherte und eben so wenig orientalisch üppige und verweichlichte Gestalten; sie leiden vielmehr an einer gewissen Ueberfülle noch nicht harmonisch entwickelter Kraft; es ist noch die materielle Wucht, noch nicht die kunstgerechte Anwendung der Kraft, auf welche der Künstler den Nachdruck legt. Die Bezeichnung der Formen ist eben so entfernt von allgemeinem Schematisiren, wie von ängstlicher Nachahmung der Wirklichkeit. Es zeigt sich das Streben, das Wesentliche namentlich an den Gelenken und den sich bestimmter sondernden Muskeln hervor- zuheben, wenn es auch an gewissen mit der gesammten Anlage zusammenhängenden Uebertreibungen und an mannigfachen Unrichtig- keiten im Einzelnen nicht fehlt. In der Gewandung ist wenigstens der Anfang zu strengerer Stilisirung durch Sonderung und künstliches Legen der Falten gemacht; und ebenso begegnen wir im Haar dem Bestreben, gewisse Unterschiede anzudeuten. In den Gesichtern kann zwar von eigentlichem Ausdruck noch um so weniger die Rede sein, als das Auge plastisch nur in allgemeiner Form und stark hervor- tretend angelegt ist und seine weitere Ausbildung nur vermittelst der Malerei erhielt, die auch sonst, an Gewandsäumen, an den P'esseln der Kerkopen und zur Angabe anderer Details, verwandt wurde. Aber

^) Benndorf a. a. O., T. IV, i.

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eben so bestimmt muss hervorgehoben werden, dass kein Kopf dem anderen gleicht, sondern jeder eine besondere Individuahtät zu bezeich- nen bestimmt ist, ja dass sogar in den Köpfen der beiden Kerkopen der Versuch gemacht zu sein scheint, die Gemeinheit ihrer geistigen Natur auch in den körperUchen Formen auszudrücken. Besondere Beachtung verdient endUch das Gesicht der Medusa, das der Künstler in kühner Naivetät nicht in natürlicher Rundung, sondern geradezu als Maske gebildet hat, und zwar in den ausgeprägten Formen, mit grinsenden Augen, kurzer und breiter Nase, dem breit nach oben gezogenen Munde mit Hauzähnen und herausgestreckter Zunge, die in der ganzen archaischen Kunst und noch später, auch nach der Umbildung in eine kalte, versteinernde Schönheit typisch geblieben sind. So paradox es klingen mag: wir haben in diesem Bilde das älteste Ideal der griechischen Kunst, die erste Bildung, welche die künstlerische Phantasie über das in der Wirklichkeit vorliegende Vorbild hinaus nur aus der Idee, sei es auch immer die Idee des Hässlichen, frei geschaffen hat und die hier in einem der ältesten Reliefs offenbar als bereits überliefert in ihren wesentlichen Zügen schon feststeht.

So tritt hier das monumentale Relief in seinen Anfängen den ältesten statuarischen Werken würdig zur Seite. Die Kunst hat hier ein neues Feld erobert, welches in ganz anderer Weise als das frühere decorative Relief zu selbständiger formaler Durchbildung der Gestalten hindrängt und dadurch die verwandten Bestrebungen der statuarischen Kunst sehr wesentlich unterstützt.

Nicht minder als in formaler Richtung ist dies aber auch der Fall auf dem Gebiete der poetischen Erfindung. Während die statua- rische Kunst in erster Linie auf die einzelne Figur, das Standbild, an- gewiesen, bei der Gruppenbildung aber immer gewissen Schranken unterworfen ist, bietet das Relief ein sich erweiterndes Feld für figuren- reiche und lebendig bewegte Compositionen. Das Griechenthum aber beschränkt den Künstler nicht etwa auf rituelle Cultus-, auf officielle Hof- und Staatsactionen, sondern es öffnet ihm selbst an den dem Kultus geweihten Tempeln die Mythenwelt in ihrer poetischen Fülle, und der Künstler bemächtigt sich derselben mit der vollen Freiheit künstlerischer Phantasie. Frisch und unbefangen ist der derbe Humor des Kerkopen- abenteuers in den Stein übertragen. In dem Perseusrelief aber verdient neben der Bildung der Medusa und der richtigen Auffassung des Ver- hältnisses der Athene besonders die Art Beachtung, in welcher der Künstler, ohne der Deutlichkeit Abbruch zu thun, die Geburt des

Erhaltene Werke; Weitere Betrachtung.

Pegasus mehr anzudeuten, als in der abstrusen Form der Sage wirk- lich darzustellen verstanden hat. Mag die Gesammtauffassung dieser Reliefs noch etwas fast Bäuerisches haben und manche Eigenthüm- lichkeit nur auf Rechnung eines provinciellen Elementes zu setzen sein, so liegt doch darin ein neues Zeugniss für die Selbständigkeit des Künstlers. Gerade weil hier in grösserer Entfernung von Asien wie von Aegypten jede Spur fremden Einflusses fehlt, offenbart sie sich in der vollsten Unbefangenheit. Der Keim einer gesunden Entwicke- lung ist gelegt: seine Gesundheit aber erkennen wir an den Fort- schritten, welche sofort an den Sculpturenresten eines zweiten seli nun- tischen Tempels, F hervortreten.

Leider sind nur die unteren Hälften zweier Metopen erhalten, welche den Kampf je einer Göttin gegen einen unterliegenden männ- lichen Krieger, wahrscheinlich einen Giganten darstellen. In der ersten, schwerer bekleideten Göttin, deren Gegner auf ein Knie gesunken ist, hat man, wenn auch ohne entscheidende Gründe, Athene zu erkennen geglaubt, in der andern etwa Artemis Hier ist der Gigant bereits sterbend rückwärts niedergefallen, so dass durch diese Lage wenigstens der Kopf dieser einen Figur uns erhalten ist. Wäre diese zweite Metope zufällig ausser Zusammenhang mit der ersten bekannt ge- worden, so würden wir wegen ihrer grösseren Vollendung vielleicht kaum wagen, sie mit dieser in directe Verbindung und noch in die vorliegende Periode zu setzen, auf welche doch die Architektur des Tempels bestimmt hinweist. Ihre Zusammengehörigkeit liefert daher einen Beweis für die Schnelligkeit des Fortschrittes, indem wir im Verhältniss zu den Metopen des ältesten Tempels an den beiden Frag- menten des jüngeren in der That die weitere Entwickelung als eine Abklärung des Stils in zweifacher Abstufung verfolgen können. In dem ersten zeigt sich der Fortschritt zunächst darin, dass die starre Profilstellung der Beine beseitigt und dadurch eine gewisse Vermittelung zwischen ihnen und der Haltung der Oberkörper gegeben ist. Die Formen des Nackten leiden zwar immer noch an zu grosser Schwere; doch ist eine Ermässigung sowohl hinsichtlich ihrer Fülle, als der Derb- heit ihrer Bezeichnung eingetreten. An der weiblichen Gestalt treten zwar die Formen des Körpers aus der Masse der Gewandung einiger-

^) Br.-Br. 289; Benndorf, T. 5 u. 6.

^) Auch für männlich (Dionysos) wird die Gottheit der ersten Platte gehalten, die der zweiten auch Athena benannt.

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massen hervor; diese letztere aber, obwohl im Einzehien schon feiner gegliedert, folgt fast ausschliesslich dem Gesetz der eigenen Schwere, ohne dass auf sie die Bewegung des Körpers eine Wirkung ausübte. Gerade nach dieser Seite hin tritt uns in der zweiten Metope ein Fort- schritt entgegen, indem die Formen des Körpers, die Falten des Ge- wandes und die gesammte Bewegung der Gestalt schon einheitlich verarbeitet sind. Ausserdem macht sich an dem Krieger in den feineren Falten des Schurzes, am Hals und an der Schulter eine eingehendere Beobachtung der WirkUchkeit fühlbar. Günstig, vielleicht zu günstig wirkt auch die Bildung des Panzers, insofern wir leicht geneigt sind, aus ihr auf eine vorgeschrittenere Kenntniss des Baues des menschlichen Körpers zu schliessen. Doch dürfen wir wohl vermuthen, dass wirk- liche, mit dem Hammer getriebene Panzer dem lebenden Körper in der Regel geradezu angemessen und angepasst wurden, und dass die Nachbildung einer solchen, man möchte sagen, metallenen Abformung des Körpers in Stein leichter gelingen musste, als die Darstellung eines wirklichen Körpers in seinen durch die Bewegung vielfach ver- änderten Lagen. Für die Richtigkeit dieser Ansicht spricht die un- sichere Auffassung der Formen des Unterleibes und des hnken Schenkels, die am meisten an die Behandlung der älteren Metopen erinnern. Auch der Kopf kann über das Maass des stilistischen Fortschrittes leicht täuschen. Allerdings ist der Ausdruck des Todesschmerzes in dem geöffneten und verzogenen Munde, der beide Zahnreihen sehen lässt, in dem gebrochenen Auge und in den Stirnfalten über Erwarten lebendig, und man ist dadurch veranlasst worden, diesen Kopf mit den Aegineten nicht nur zu vergleichen, sondern ihn sogar über dieselben zu stellen. Doch kann die Stärke des Ausdrucks nicht allein maassgebend sein, und wenn er in der Behandlung des Haares und des Bartes unleug- bar grössere Herbigkeit zeigt, als der sterbende Krieger des Ostgiebels von Aegina, so werden wir später erkennen, wie letzterer bei grösserer Mässigung des Ausdrucks doch dem selinuntischen an Tiefe und Fein- heit des Verständnisses weit voraus ist. Immerhin ist hier ein wesent- licher Fortschritt gegenüber den ältesten Metopen nicht zu verkennen; und wenn sich nicht über alle Theile des Reliefs gleich günstig ur- theilen Hess, so wird sich dieser Mangel harmonischer Durchbildung vielleicht daraus erklären lassen, dass die Künstler in Seliimnt mehr als im Centrum von Hellas sich selbst überlassen waren und deshalb einer sicheren Schulung entbehrten, dass sie dafür wohl an natur- wüchsiger Unmittelbarkeit manches voraus haben mochten, aber auch

Erhaltene Werke : Weitere Betrachtung.

in ihren individuellen Versuchen einem grösseren Schwanken zwischen Gelingen und Misslingen ausgesetzt waren

Nachdem die Forderungen des monumentalen Reliefs sich zunächst an den fast rund gearbeiteten Metopen geltend gemacht und eine wenigstens vorläufige Befriedigung gefunden hatten, konnte das Be- streben nicht ausbleiben, eine ähnliche plastische Durchbildung auch

^) Neben den selinuntischen Metopen dürfte der Verfasser die inzwischen entdeckten ähesten Giebelkompositionen zu behandeln gedacht haben :

1) 4 athenische Porosreliefs von der Akropolis, von denen eines, der Kampf des Herakles mit der Hydra, auch bei Brunn-Bruckmann 16 abgebildet ist,

2) das Relief vom Schatzhause der Megarer zu Olympia (Olymp. HI, T. 2 3). lieber die ersteren liegt eine Skizze vor, deren Inhalt etwa folgender ist:

So förderlich es für die Kunst war, den Typus der nackten Jünglingsgestalt immer von neuem durchzuarbeiten, so litt sie doch an der Beschränkung, dass sie die Gestalt nur in ruhiger Haltung zur Darstellung- brachte. Der weitere Fortschritt war bedingt durch Leben und Bewegung, wie sie nur in einer Mehrheit von Gestalten zur Anschauung zu gelangen vermag. Zur Gruppenbildung aber sofort überzugehen, hinderten zunächst die technischen Schwierigkeiten. Als Vorstufe tritt an die Stelle der freistehenden Gruppe als Mittel- glied die Reliefgruppe, welche das Bildwerk auf dem Hintergrund hervortreten lässt gewissermassen wie ein Gemälde.

Schon durch die Metopensculpturen schulte sich die Kunst in dieser Richtung. In höherem Maasse durch den Schmuck von Giebel- feldern. Der Raum, in der Mitte höher, nach den Ecken in zwei Spitzen auslaufend, überhaupt ausgedehnter, zwang die Phantasie zum Entwurf grösserer Figurencomplexe, verschieden nach Maass und Haltung je nach der Stelle, die sie in dem Giebelraume einnahmen. Wie die archaische Kunst sich zu dieser Aufgabe stellte, darüber geben die Funde der letzten Decennien, namentlich jene auf der Akropolis von Athen Auskunft: vier Giebelcompositionen in Relief von massiger Erhebung bis zu fast völliger Loslösung von dem Grunde. Da er- kennen wir vor allem, wie man der Schwierigkeiten, die der Raum mit sich brachte, durch die Wahl besonderer Sujets Herr zu werden versuchte, durch die Bevorzugung solcher, in denen phantastische Gestalten analog Ornamenten sich verwenden und durchführen Hessen.

So zunächst in dem am besten erhaltenen Giebel, welcher den Kampf des Herakles gegen die Hydra darstellt. Das vielköpfige Ungeheuer füllt die ganze rechte Hälfte. Unter der Spitze wird es von dem mit

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Aelterer Zeitraum. Die Plastik.

dem flacheren Relief angedeihen zu lassen, namentlich da, wo es in analoger Weise wie die Metopen in Beziehung und theilweise Unter- ordnung unter die Architektur trat. Das ist besonders beim Fries- relief der Fall. Schon das milesische Fragment, an welchem sich die ersten Spuren mehr plastischer Durchbildung fanden, hatte friesartigen Charakter. Ein wirklicher Fries aber ist das erste bedeutende Monu-

Panzer gerüsteten Herakles mit der Keule bekämpft. Der Raum in seinem Rücken wird von dem durch Jolaos gelenkten Gespann ein- genommen ; die gegen die Ecken gewendeten Rosse senken die Köpfe und machen sich mit dem Krebse zu schaffen, welcher der Hydra zu Hülfe kommt. So füllt sich der Raum ohne jeden Zwang und nicht weniger lebensvoll als ein Vasenbild mit demselben Sujet in gleicher Disposition. Die Behandlung des Reliefs ist noch eine flache, die aber gehoben wird durch Malerei, die den Grund nicht berührt, im übrigen fast ganz naturalistisch durchgeführt ist.

Eine zweite Composition, leider allzu fragmentarisch, hat ein analoges Sujet: Herakles den Triton bekämpfend.

Die Reste von zwei anderen Giebeln mit fast rund gearbeiteten Figuren scheinen einem und demselben Gebäude angehört zu haben und zeigen uns die künstlerischen Bestrebungen der erwähnten Werke auf der Höhe. Ein Bild vereinigte Zeus und Herakles, jenen gegen Typhon, diesen gegen Echidna kämpfend; das andere stellt Herakles dar, in Gegenwart des schlangenfüssigen mythischen Königs Kekrops mit dem Triton ringend. Das Phantastische der Erfindung tritt hier besonders an dem dreileibigen Typhon hervor, der drei menschliche Oberkörper und einen dreifach verflochtenen Drachenkörper vereinigt, ausserdem mit Flügeln und verschiedenartigen Schlangenzuthaten ausgestattet ist.

Es ist einleuchtend, das phantastische Element in diesen Dar- stellungen erleichterte die Lösung der Schwierigkeiten, gab den Aus- gleich zwischen Rand und Bild, dessen Gestalten frei und unge- zwungen sich entwickeln. Aber es ist für uns kaum mehr zu bestimmen, ob es sich hier um mühsame Errungenschaften der Kunst handelt oder um mehr spontane Darbietungen.

Dem Kreise dieser Reliefcompositionen, aber nicht einem Giebel- felde gehört das Fragment einer Gruppe an, einen Stier darstellend, der von zwei Löwen niedergeworfen und zerfleischt wird, gross und höchst lebendig geschildert. Es führt uns auf den Stil der Arbeiten, bedingt durch das Material, einen w^eichen, bröckehgen, mit Muscheln

Erhaltene Werke : Weitere Betrachtung

ment, an welchem uns die Gesetze dieser Reliefbehandlung zuerst nach ihren allgemeinen Principien entwickelt entgegentreten.^)

Das sogenannte Harpy ienmonument aus Xanthos in Lycien,-^ von Fellows entdeckt und durch ihn in das britische Museum versetzt, ist ein Grabmal in Gestalt eines hohen durch mehrere über einander vor- springende Platten gekrönten vierseitigen Pfeilers. Unter den letzteren zieht sich am oberen Theile ein Relieffries von einem Meter Höhe rings herum, der nur auf der Westseite durch die niedrige thürähnliche Oeffnung der Todtenkammer theilweise unterbrochen wird. Eine Deutung des Inhalts der Darstellungen ist von verschiedenen Seiten versucht worden (Braun, Ann. d. Inst. 1844, p. 133; Curtius, Arch. Zeit. 1855, S. I u. 1869, S. 10; dagegen Conze, ebd. S.'yg; Friederichs, Bausteine, S. 37.^) Da sie jedoch nicht innerhalb des gewöhnlichen Kreises griechischer mythologischer Begriffe zu finden ist, sondern die uns so gut wie ganz fremde Kentniss der lycischen Religion voraussetzt, so wird der folgende Versuch, die Grundlage einer von der bisherigen abweichenden Auffassung zu schaffen, wenigstens den Werth einer Vermuthung für sich beanspruchen dürfen. *j

Auf drei Seiten ist die Hauptfigur eine sitzende männliche Gottheit. Beachtet man, dass dieselben auf der Nord- und Südseite gegen Osten gewendet sitzen, so ergibt sich daraus, dass nicht wie bisher die Westseite mit der Grabesthür, sondern eben die Ostseite

und Sand versetzten Porös. Zur Bearbeitung war vielfach die Säge verwendbar, sowie das Schnitzmesser, die Raspel. So erkennt man in der That, wie die ganze Kunstweise mit jener der Holzsculptur zu- sammenhängt, aus ihr hervorgegangen ist: so zu sagen Holzsculpturen in Stein. Ergänzend trat völlige Färbung hinzu. Das rein formale Element erhielt daher in diesen Arbeiten nur schwache Förderung. Erst das festere und zugleich feinere Material des Marmors führte zur Erkenntniss der Bedeutung der Form an sich und damit zu jener streng plastischen Vervollkommung, in der die entwickeltere archaische Kunst sich uns darstellt.

^) Nicht bezeichnet ist die Stelle, wo die Reliefsculpturen des älteren Artemision von Ephesus (Br.-Br. 148; Journal of hell. stud. X, 1889, pl. 3 u. 4) Besprechung finden sollten.

2) Br.-Br. 146, 147; Rayet, Mon. d. l'art ant., pl. 13 16; Mon. d. Inst. IV, T. 2— 3.

^) Friederichs-Wolters 127 130.

Deutungsversuch und künstlerische Würdigung sind mit geringen Abweichungen bereits veröffentlicht in den Sitzungsberichten der Münchn. Akademie, der erstere: 1872, S. 523 ff.; die letztere: 1870, II, S. 205 ff.

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als die vordere zu betrachten und von ihr auszugehen ist. Hier bringt dem eine Granatblume haltenden Gotte ein Knabe einen Hahn und eine Frucht dar. Drei andere von rechts und links her in Verehrung nahende männliche Gestalten scheinen in loserem Zusammenhange mit dem Hauptbilde zu stehen und entziehen sich um so mehr der Deutung, als die Attribute, wohl Blumen und Früchte, fast gänzlich zerstört sind. Folgen wir der Richtung nach rechts, so bringt dort dem Gotte ein gerüsteter Jüngling seinen Helm dar, während er den Schild vor sich auf den Boden gestellt hat. Auf der linken Seite dagegen steht vor dem zwar unbärtigen, aber keineswegs jugendlichen Gotte mit Granatfrucht und Apfel oder Quitte in den Händen ein bekleideter Mann mit betend erhobener Rechten und mit einem Vogel, wie es scheint, einer Taube in der Linken. Die Erklärung der drei Götter hat man in einer dreifachen Spaltung des Zeusbegriffes und seiner Herrschaft in den drei Weltreichen zu finden geglaubt, ohne jedoch positive äussere Beweise beizubringen. Sehen wir von jedem Namen ab, so ist dagegen ein anderes Verhältniss unzweifelhaft und klar: die, welche Geschenke bringen, sind in strenger Stufenfolge ein Knabe, ein Jüngling und ein Mann; und nach dieser Auffassung treten die drei Seiten in bestimmten Gegensatz zur vierten, auf der wir nur Wesen weiblichen Geschlechts begegnen: einer thronenden Göttin mit Granatblüte und Granatapfel nahen drei Frauengestalten, die erste ohne Attribute, die zweite mit einer Granatblüthe und einem Apfel, die dritte mit einem Ei. Der ersten Göttin gegenüber thront am andern Ende des Reliefs eine zweite von matronalerem Charakter mit einer Schale in der Rechten; die erhobene Linke ist leider zerstört. Vor dieser letzteren ist in den niedrigen Raum über der Grabesthür eine ihr Kalb säugende Kuh eingeschoben. Wenn die drei huldigenden Frauen ungesucht an Dreivereine wie Hören oder Grazien erinnern, so möchte die von ihnen verehrte Herrscherin am besten dem Begriffe der Ehegöttin entsprechen, während die matronalen Formen ihres Gegenbildes auf den Begriff einer mütterlichen Göttin hinzuführen scheinen. Bestimmte Beziehungen auf den Tod und die Fortdauer oder Erneuerung des Lebens nach dem Tode, die man namentlich in ver- schiedenen Attributen hat finden wollen, sind keinesw^egsin unzweifelhafter Weise gegeben. Denn um von dem schmückenden Beiwerke der Throne zu schweigen, liegt in der säugenden Kuh zunächst nur der Begriff der nährenden Mutter, im Ei der Begriff keimenden Lebens; der Granatapfel ist selbst in dem Mythus der Persephone zunächst Symbol

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der vollzogenen Ehe, und als Ehesymbol gab ihn auch Polyklet der Hera in die Hand. Hält endlich der Gott auf der Südseite neben der Granate auch noch den hochzeitlichen Apfel oder die Quitte, die auch in der Hand der zweiten Höre wiederkehrt, während ihm der betende Mann die aphrodisische Taube entgegenbringt, so werden wir auch hier nicht an Tod und Unterwelt denken, sondern weit eher an die eheliche Verbindung der Geschlechter als die Erfüllung des mensch- lichen Daseins ; und vielleicht liegt gerade in diesem Gedanken das Band, welches die drei ersten Seiten des Monuments mit der letzten verknüpft und zu einem Gesammtbilde der Huldigung an die Götter verbindet, welche den Menschen auf seinen Lebenswegen von der Kindheit bis zur Ablösung durch ein neues Geschlecht begleiten und beschützen. Freilich darf auf einem Grabdenkmale neben dem Bilde des Lebens auch die Hinweisung auf das Ende, den Tod, nicht fehlen. Wir finden sie in den Nebenbildern, die auf der Nord- und Südseite das Hauptbild einschliessen, in jenen Harpyien, denen das Monument seinen Conventionellen Namen verdankt. In der Weise der Sirenen aus einem menschlichen Oberkörper und einem Vogelleib zusammen- gesetzt, tragen sie in ihren Armen und Krallen kleine bekleidete Ge- stalten davon, die weder deutlich als Kinder, noch bei mangelnder Andeutung des Busens als Erwachsene charakterisirt sind und uns wohl an die anderweitigen Darstellungen von Seelen in kleiner mensch- licher Gestalt erinnern dürfen. Eine ebenfalls kleine weibliche Figur, die unter einer der Harpyien am Boden sitzt, deutet durch lebendigen Ausdruck des Schmerzes auf die Trauer der Hinterbliebenen hin. An die Sage von den durch die Harpyien geraubten Töchtern des Pandareos darf hier insofern erinnert werden, als sie nur in individuali- sirter Form die allgemeine Idee ausdrückt, nach welcher die Harpyien, die geflügelten Dämonen des Sturmes, zu Dämonen des schnell dahin- raffenden Todes werden. Aber auch ihnen hat die verschönernde Kraft der hellenischen Kunst alles Schreckhafte genommen. Nicht zum Dienste der Erinyen, wie noch Homer sagt, sondern wie liebevolle Pflegerinnen scheinen sie die von ihnen geraubten Sterblichen ins Jenseits zu tragen.

Auch wenn die hier vorgetragene Auffassung das Richtige ge- troffen haben sollte, würde sie doch nur die Grundlage für eine ein- gehendere Deutung abgeben können. Dagegen stehen die künst- lerischen Formen des Bildwerks fast unversehrt vor unsern Augen und gestatten eine genaue Analyse. Von Bedeutung ist, wie be-

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merkt, die neue Behandlung des Reliefs. Die ideelle Oberfläche ist auch hier festgehalten, jedoch nicht in dem Sinne, dass wie bei dem niedrigen und ebenen decorativen Relief fast die gesammte Fläche der Figuren innerhalb derselben liegt und die Formen in sie mehr hineingezeichnet als modellirt sind, sondern so, dass nur die hervor- tretenden Theile in ihrer Höhe durch sie bedingt sind, die zurück- Aveichenden dagegen in proportioneller Abstufung in einer zweiten und dritten tieferen Fläche liegen. Dabei findet sich schon hier, z. B. vor der zweiten Höre, das auch später vielfach angewendete Auskunfts- mittel, dass zur Gewinnung dieser Abstufungen die Grundfläche je nach Bedürfniss über das normale Durchschnittsmaass hinaus vertieft ist. Dem strengeren Princip des Reliefs ordnet sich jetzt auch die Behandlung der Schultern und der Brust unter, und es verschwindet demnach die im Verhältniss zu den Beinen unnatürliche Stellung des Oberkörpers, durch welche die Künstler der ältesten selinuntischen Metopen eine Lösung der Schwierigkeiten versuchten. Wenn nun hier die den Bedürfnissen eines architektonischen Frieses entsprechende Umbildung des Reliefstils sich in ihren wesentlichen Grundlagen bereits vollzogen hat, so darf doch nicht übersehen werden, dass die Anwen- dung im Einzelnen zuweilen noch an Unsicherheit und Unklarheit leidet. Es soll damit weniger dem Künstler ein Vorwurf gemacht, als darauf hingewiesen werden, dass die Ausführung mehr auf richtigem Tact, als auf theoretischer Erkenntniss beruht, die sich erst durch längere Uebung gewinnen liess. Die richtige Würdigung dieses Ver- hältnisses ist aber für die Beurtheilung des gesammten stilistischen Charakters dieser Reliefs von Bedeutung. Denn wenn sie auch alle bisher genannten, etw^a mit Ausnahme des letzten selinuntischen Reliefs, übertreffen, so wird doch die genauere Analyse zeigen, dass auch hier die Vorzüge mehr in der Anwendung richtiger neuer Principien, als in deren allseitiger Durchbildung liegen.

Die Untergewänder stellen einen weichen gerippten Stoff dar, welcher über den Körper nach Art eines Hemdes einfach herab- fällt. Diese Natur des Stoffes tritt mit hinlänglicher Deutlichkeit hervor, aber eine Gliederung grösserer oder kleinerer Massen, eine Motivirung der Falten durch die besondere Lage der darunter liegenden Körperformen fehlt fast gänzlich. An den Aermeln, wo eine feinere Gliederung besonders angezeigt gewesen wäre, ist zwar der Schnitt und die Zusammenfügung sorgfältig angegeben ; jedoch auch hier finden wir zwar nicht mechanisch harte, aber nach einem gewissen allgemeinen

Ei'haltene Werke: Weitere Betrachtung.

und Conventionellen Schema ausgeführte ziemlich parallele Linien ohne feinere Nuancirungen und an den unteren Begrenzungen einen kaum über die allgemeinste Form hinaus modulirten Contour: der zwar dicke, aber weiche und in der Natur leichte Stoff macht den Eindruck massiger Schwere. Bei den Obergewändern ist das System künst- lich gelegter Falten, das bei den milesischen Statuen nur erst vereinzelt und an den jüngsten auftrat, dem Princip nach bereits zu einer durch- greifenden Anwendung gelangt. Doch vermissen wir besonders an den Rändern und Zipfeln noch jene Sauberkeit der Ausführung, die uns in den Werken des entwickelten Archaismus die Befangenheit der Auffassung fast vergessen lässt; und eben so mangelt bei den durch den Wurf der Gewandung entstehenden Faltenpartieen trotz der Richtigkeit der allgemeinen Intentionen doch die feinere Gliederung nach den wichtigeren und den mehr untergeordneten Motiven, wie sie durch die stärkeren oder schwächeren Modulirungen der Körper- formen nothwendig bedingt sind.

Ueberhaupt sind die Körper durch die Gewandung zu stark be- lastet, als dass sie in allen ihren einzelnen Theilen genügend zur Geltung kommen könnten. In den Umrissen zeigt sich, abgesehen von einer gewissen Fülle der Formen und Schwere der Verhältnisse, im Allgemeinen eine richtige Grundanschauung des Ganzen und des Zusammenhanges der Theile. Dass aber daraus noch nicht auf ein tieferes Verständniss der inneren Structur geschlossen werden kann, lehrt die Behandlung des Nackten an den Armen, wo kaum die Haupt- muskeln gesondert hervortreten, die complicirten Feinheiten am Hand- gelenk, an den Fingern aber natürlich noch ganz ausser Betracht bleiben. Es ist hiernach fast selbstverständlich, dass auch die Bildung der Köpfe nicht über einen allgemeinen Schematismus hinausgehen konnte. Es mag genügen, auf die massige Form des Halses, auf die Augen hinzuweisen, die natürlich nicht im Profil, sondern mandel- förmig mehr eingravirt als modellirt sind und offenbar der Nachhülfe durch die Farbe bedurften, von deren Anwendung sich auch sonst, besonders an den Ornamenten der Stühle, in der mit einem Eierstab bemalten unteren Leiste der Reliefs, deutliche Spuren gefunden haben.

Schliesslich darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass keine der grösseren Figuren des Harpyienmonumentes irgendwie lebhaft be- wegt ist, so dass der Künstler nicht genöthigt war, über das hinaus- zugehen, was ihm die Natur in völligster Ruhe zu beobachten ge- stattete. Mag nun auch die Kleinheit der von den Harpyien geraubten

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Kinder oder Seelen eine gewisse Flüchtigkeit oder Vernachlässigung einigermassen entschuldigen, so sind doch diese Figuren in ihren aussergewöhnlicheren Stellungen so ungeschickt gerathen, dass sich gerade hier die Grenzen eines in das tiefere Verständniss des mensch- lichen Organismus noch nicht eingedrungenen künstlerischen Wissens besonders deutlich erkennen lassen.

Wenn trotzdem der Gesammteindruck des Werkes ein günstiger ist und Welcker den Stil einen „alterthümlich strengen, doch schon von Anmuth leis umflossenen" nennen konnte, so ist dieses Urtheil nicht etwa nur im Hinblick auf Werke wie die ältesten selinuntischen Metopen gerechtfertigt, sondern auch durch den Mangel streng archaischer Schärfe und Härte, durch eine gewisse Weichheit des Vortrags und scheinbar freie Unbefangenheit der Auffassung. Nur dürfen wir in allen diesen Eigenschaften nicht das Zeichen einer vorgeschrittenen Entwickelung, sondern ein Zeichen der Kindheit der Kunst sehen. Es sind hier allerdings nicht blos die Keime, sondern bereits die Grundlinien der weiteren Entwickelung gegeben. Wie aber in den ältesten Werken der dorischen Architektur sich ein üppiges Ueber- wuchern mancher Elemente zeigte, die erst allmählich ausgeschieden wurden, so ist das Gleiche hier der Fall. Das Harpyienmonument ist der Repräsentant des lax-archaischen Stiles in der Sculptur, welcher erst in der folgenden Periode seine Abklärung erhält.^)

Zu voller Würdigung der Kunst des Harpyienmonumentes muss noch ein über die Individualität des einzelnen Künstlers hinausgehender Gesichtspunkt ins Auge gefasst werden, der hier am Ende der Einzel- betrachtung der Monumente dieser Periode wie von selbst zu einer all- gemeinen Vergleichung derselben zurückführt. Indem man, -wie sich später zeigen wird, irrthümlich eine enge Verwandtschaft zwischen dem Stil des Harpyienmonuments und den attischen Sculpturen annehmen zu müssen glaubte, hat man andere unter localem Gesichtspunkte weit näher liegende Analogien nicht hinlänglich beachtet. Die milesischen Statuen sind zwar älter und unbehülflicher, als die lycischen Reliefs; aber sie bieten nicht nur hinsichtlich der Schwere ihrer Verhältnisse, der Massenhaftigkeit und Fülle ihrer Formen die schlagendste Parallele

1) In der oben citirten Abhandlung: Münchn. Sitzungsb. 1870, II, S. 205 fif. wird die Zeit des Denkmals genauer zwischen Ol. 65 70 (520 500 v. Chr.) fixirt. Dasselbe wäre demnach erst der nächsten Periode einzuordnen gewesen.

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besonders mit den sitzenden männlichen Gestalten der Reliefs dar, sondern es existiren überhaupt noch andere, weitergehende Beziehungen zwischen ihnen. Trotz der genannten Eigenschaften kann doch die Ausführung der Statuen nicht roh genannt werden, sondern gegenüber der geringen Kenntniss der Formen erscheint sie vielmehr sicher, sauber und fast glatt. Ebenso trat uns an den Reliefs von Assos eine gewisse Routine entgegen; ja selbst die ältesten cyprischen Sculpturen zeigen neben dem Schwanken der stilistischen Auffassung doch in der materiellen Ausführung ein relativ grosses Geschick. Wenn man also hier überall in der äussern Behandlung weiter fortgeschritten war, als im Innern Verständniss, so hat die Analyse der lycischen Reliefs ge- zeigt, dass bei ihnen das nämliche Verhältniss obwaltete. Wir werden daher in dieser gemeinsamen Eigenthümlichkeit einen specifischen Charakterzug der älteren kleinasiatischen Kunst erkennen dürfen, für den die Erklärung nicht weit gesucht zu werden braucht: sie ergiebt sich aus den Beziehungen zu der alten Kunstübung Innerasiens, deren Einfluss im Aeusserlichen und Praktischen fördernd wirkte, dagegen die innere Ent Wickelung eher hemmte als beschleunigte und jedenfalls der Tendenz zu orientalischer Weichheit und Ueppigkeit den bedeu- tendsten Vorschub leistete.

Die Richtigkeit dieser Auffassung wird bestätigt durch einen Blick auf die Kunstübung in anderen Gebieten von Hellas. Denn was local am entferntesten liegt, bildet auch in künstlerischer Beziehung den bestimmtesten Gegensatz. Nichts ist derber und ungelenker als die ältesten Metopen von Selinunt; und doch überragen sie an Frische und Ursprünglichkeit die gleichzeitigen asiatischen Arbeiten. Dort im Westen kam dem Künstler keine alte Kunstübung zu Hülfe, die ihm einen gewissen Vorrath formaler Mittel geliefert hätte. Indem er die Form selbst suchen musste, tritt hier das entgegengesetzte Ver- hältniss wie in Kleinasien ein: die äussere Darstellung bleibt noch zurück hinter der Frische und Lebendigkeit des Gedankens.

In der Mitte zwischen Ost und West, im eigenthchen Hellas vermitteln sich die Gegensätze. Anregungen von aussen mögen zu- gegeben werden, aber sie waren nicht andauernd und nicht massenhaft genug, um die Selbstständigkeit irgendwie zu beschränken ; und gewiss waren die Künstler nicht in der Dienstbarkeit fremder Kunstübung aufgewachsen. In den ältesten Apollostatuen entspricht der Mangel- haftigkeit der Auffassung auch die Unvollkommenheit der Ausführung ; mit der einen wächst konsequent die andere, und wir erkennen den

Brunn, Gr. Kunstgeschichte II. lO

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Aelterer Zeitraum. Die Plastik.

Läuterungsprozess einer mehr schulmässigen Ausbildung. Dass dabei die Individualität des Künstlers nicht beschränkt wurde, lehren sowohl diese Statuen, als was sonst noch aus jenen Zeiten erhalten ist. Wie weit sich innerhalb dieser für uns zunächst individuellen Unterschiede schon wieder gemeinsame Anschauungen eines Volksstammes, einer bestimmten Schule gleitend machen, das nachzuweisen, reichen vorläufig unsere Mittel nicht aus, und wo sich, wie z. B. bei den peloponnesischen Reliefs, etwas der Art vermuthen lässt, da erscheint es gerathener, erst nach einer Vergleichung mit den Erscheinungen der nächsten Periode eine bestimmte Meinung auszusprechen. Für jetzt genügt es, die drei Hauptgruppen des Ostens, des Westens und des eigentlichen Hellas nach ihren allgemeinsten Eigenthümlichkeiten geschieden zu haben.i)

Gesammtbild.

Nach der gesonderten Betrachtung der schriftlichen Nachrichten über diese Periode und der ihr angehörigen Monumente ist noch auf das gegenseitige Verhältniss dieser beiden Quellen unserer Erkennt- niss ein vergleichender Blick zu werfen. Leider zeigt sich dabei, dass sie sich fast nirgends direct decken, ja überhaupt sich selten be- rühren. Nur ganz allgemein stimmen beide darin überein, dass sie die kleinasiatische Küste als Ausgangspunkt der Bewegung er- scheinen lassen, und in negativer Weise etwa darin, dass Athen weniger hervortritt. Für die umfassende Kunstübung im Peloponnes dagegen liefern die Monumente kaum einen nennenswerthen Belegt); über Sicilien fehlen wiederum die schriftlichen Quellen. Wenn es ferner nicht auffallen kann, dass unter den wenigen überhaupt er- haltenen Denkmälern sich keines befindet, welches gleichfalls bei einem alten Autor erwähnt würde so darf doch hervorgehoben werden,

^) Es braucht kaum erinnert zu werden, dass hier, wie in dem folgenden Gesammtbild, weil älterer Redaktion, nur ein Theil der im Vorhergehenden angeführten Werke berück- sichtigt ist.

^) Rn. constatirt den inzwischen erfolgien Zuwachs an Denkmälern.

^) Diese Behauptung steht nicht in Einklang mit der oben .S. Iii berührten Hypothese, dass jenes Marmorsitzbild ein Werk desEndoios sein möge. Der Widerspruch rührt von der Verschiedenheit der Redactionen her; in der älteren waren Statue wie Künstler erst unter der nächsten Periode aufgeführt. Die gleichfalls oben S. 90 betrachtete weib- liche Flügelfigur aus Delos galt dem Verfasser nicht als »Nike des Archermos«, sondern eher als ein Werk peloponnesischen Kunstcharakters (vgl. Brunn, Münchn. Sitzungsber. 1884, II, S. 521 ff.).

Gesammtbild.

dass von der schriftlich bezeugten grösseren Verbreitung der Götter- statuen, von statuarischer Gruppenbildung die erhaltenen Monumente nur eine beschränkte Anschauung gewähren, während umgekehrt über die Reliefs, die unsere Erkenn tniss so wesentlich fördern, die Lite- ratur keine Auskunft giebt. Nur nach einer Richtung hin ist das Resultat der Vergleichung von entscheidenderer Bedeutung. Nach kritischer Sichtung der vielfach verworrenen Nachrichten über die älteste Künstlerchronologie kann das fast gleichzeitige Erblühen der ersten Künstlerschulen nicht vor die 50. Olympiade gesetzt werden. Wenn nun die Paläographie der milesischen Statuen und des Reliefs von Samothrake,^) so wie die Nachrichten über die Geschichte Selinunts die ältesten Sculpturen theils ungefähr derselben Zeit, theils einer nur wenig früheren zuweisen, so wird es nicht möglich sein, wie man ge- wollt hat, jene ältesten Kunstschulen um eine bis zwei Generationen zurückzudatiren. Was vor den uns bekannten Sculpturwerken liegt (und die Existenz früherer Kunstübung soll ja nicht geleugnet werden), war gewiss nicht der Art, dass davon als von individuellen Leistungen eines bestimmten Künstlers sich directe Kunde erhalten hätte, sondern es gehört der generellen dädalischen oder richtiger vordädalischen Kunst an ; denn in dem Namen des Dädalus ist eben nicht jener Ur- zustand, sondern das erste Heraustreten aus demselben, der Ausgangs- punkt zu Bewegung und fortschreitender Entwicklung der statuari- schen Kunst personificirt worden, in der Weise, dass die ältesten namhaften Künstler von der Sage mit ihm in directe Verbindung gesetzt werden konnten.

Wir haben die Geschichte der decorativen Kunst bis um das Jahr 600 V. Chr. oder Ol. 45 verfolgt und erkannten durch die blosse Betrachtung der Thatsachen, dass erst um jene Zeit ein principieller Wechsel sich geltend machte und die frühere Entwickelung als ab- geschlossen betrachtet werden kann.

Es drängt sich nun aber die Frage auf, welche Ursachen gewirkt haben mögen, dass gerade damals die Kunst aus dem dienstbaren Verhäl tniss blosser Decorirung zu selbständigem Leben sich empor- zuarbeiten begann. Es ist nicht ein einzelnes grosses Ereigniss, eine gemeinsame That der Hellenen, welche den Anstoss gegeben haben kann. Ebenso fehlt es in den vielen Staatenbildungen, die an die

^) Ain Rande ist noch auf die Inschriften der Weihgeschenke des Cheramyes (Samos) und der Nikandre (Delos) hingewiesen.

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Aelterer Zeitraum. Die Plastik.

Stelle der alten Königthümer getreten waren, an hervorragenden Mittelpunkten, die einen bestimmenden Einfluss auf einen weiten Um- kreis oder auf die Gesammtheit von Hellas hätten ausüben können. Das entscheidende Moment ist vielmehr in der socialen Entwickelung und geistigen Bewegung jener Zeit zu suchen.

Das Gedeihen der Kunst hat immer einen gewissen Grad mate- riellen Wohlstandes zur nothwendigen Voraussetzung. Nun weisen die Schilderungen homerischer Zeit allerdings auf das Vorhandensein reicher Schätze in den alten Dynastenhäusern bestimmt hin. Aber dieser patriarchalische Besitz ist ein langsam gesammelter, ererbter, der vor allem bewahrt, zwar benutzt, aber durch Benutzung nicht ge- schmälert werden soll. Es waren Schätze, nicht Werthe, die wieder Werthe erzeugen sollten. Zunächst also musste das patriarchalisch- feudale Wirthschaftsprincip gebrochen und das Capital beweglich ge- macht werden. Das war nur möglich durch eine bedeutende Steige- rung von Verkehr und Handel, der bei der Naturalwirthschaft der früheren Zeit unbedeutend und passiv sich fast ausschliesslich in den Händen einer fremden, seefahrenden Nation, der Phönicier, befunden hatte. Mit der Gründung der Colonien und durch den mit ihnen unterhaltenen Wechselverkehr wächst der Unternehmungsgeist und steckt sich immer entferntere Ziele. Die Erreichung derselben nimmt zunächst allerdings alle disponibeln Mittel in Anspruch. Erst wenn das Ziel in einem gewissen Umfange wirklich erreicht, wenn die aus- gesendeten Colonien einen festen Bestand gewonnen haben, strömt der Nutzen in grösserer Fülle in die Heimath zurück. Es ist nun gewiss kein zufälliges Zusammentreffen, dass gerade in der Zeit von Ol. 30 50 das Netz der griechischen Colonien in der Haupt- sache seinen Abschluss findet, und gewissermassen als Wahrzeichen dieser Zeit steht am Eingange der neuen Entwickelung der Kunst der Krater des Kolaios in Samos, geweiht aus dem Nutzen einer Handels- unternehmung nach dem weitesten Punkte des westlichen Verkehrs, Tartessos (s. Bch. I, 116). Nicht lange vorher aber tritt im Handel an die Stelle des Waarentausches als fester Werthmesser das geprägte Geld.

In dieser ganzen Bewegung offenbart sich die Expansionskraft des griechischen Bürgerthums; dieselbe äussert sich aber zugleich in dem Uebergang aus dem Feudalstaat in den Bürgerstaat, welcher es dem Einzelnen gestattet, seine Thatkraft voll zu verwerthen, welcher aber auch den Einzelnen seine Stütze nur in dem Gedeihen der Gesammt- heit finden lässt. Es widerspricht dem nicht, wenn der Uebergang

Gesamratbild.

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von dem mehr aristokratischen zum Volksstaat an vielen Orten durch die Tyrannis hindurchgeht. Diese ist vielmehr ein Symptom und ein Produkt der veränderten Lage : der Einzelne erhebt sich durch seine Thatkraft über die Gesammtheit ; aber er gebietet nicht gleich den früheren Königen über sie wie über ein ererbtes Besitzthum, sondern er muss selbst wieder seine Stütze in der Gesammtheit oder doch einem Theil derselben suchen, muss wenigstens den Schein wahren, nicht absoluter Herr, sondern Vertreter dieser Gesammtheit zu sein. Materiell musste die Vereinigung reicher Mittel in einer und derselben Hand, so wie das Bestreben der einzelnen Tyrannen, ihrem Namen Glanz zu verleihen oder die Dankbarkeit des Volkes durch nützliche Unternehmungen zu gewinnen, auch für die Kunst nur förderlich sein; und von solchem Streben zeugen Stiftungen wie jene des Myron, gemacht im eigenen und des sikyonischen Demos Namen, der Kypseliden in Olympia, Bauten wie die Wasserleitung des Theagenes zu Megara mit reichem Säulenschmuck (Paus. I, 40, i), die Beziehungen, welche ein Polykrates, Peisistratos, Lygdamis zur Kunst pflegten. Gewiss ist es aber auch hier wiederum nicht Zufall, dass gerade um die 50. Olympiade die Tyrannis an verschiedenen Orten gestürzt wurde und dafür der reine Volksstaat sich befestigte.

Mit diesen politischen und socialen Bewegungen musste auch die übrige geistige Entwickelung neue Richtungen einschlagen. Wenn es bisher fast ausschliesslich die Poesie gewesen war, in der das geistige Leben des Hellenenthums seinen Ausdruck gefunden, so drängen jetzt die gänzlich veränderten Verhältnisse und Bedürfnisse weit mehr auf verstandesmässiges Erkennen hin. Es genügt nur an- zudeuten, wie gerade damals die Anfänge der Philosophie und Natur- kunde, der Geschichte, Völker- und Länderkunde sich bilden und auch formell von der Poesie die Prosa sich scheidet.

Gewiss waren durch alle diese Verhältnisse die Vorbedingungen einer frischen Entwickelung auch in der Kunst gegeben. Lag aber nicht die Gefahr nahe, dass der neu gewonnene Reichthum in privatem Genuss und Ueppigkeit verzehrt, dass die Kunst zwar gefördert, aber eben so privatem Luxus und Ehrgeiz dienstbar gemacht wurde, wie es etwas später in Etrurien wirklich der Fall war ? Abgesehen von der Einfalt der älteren Sitte, der Thatkraft und dem Gemeinsinn der Bürgerschaft, der sich und sein Wohl als einen Teil des Ganzen be- trachtete, lag hier die wirksamste Abwehr der Gefahr wohl darin, dass diesen Tugenden ein tiefes Gefühl der Religiosität sich verband,

Aelterer Zeitraum. Die Plastik.

eine natürliche Frömmigkeit, die bei allen irdischen Erfolgen doch nie den Hinblick auf die Götter vergass. Nicht nur dass der Einzelne seine sittliche Schranke in der Religion findet, sondern in dieser Zeit werdender politischer Gestaltungen ist es besonders die Religion, die das Gemeinwesen zusammenhält, ja über die Grenzen der einzelnen politischen Gemeinde hinaus bei mangelnder politischer Einheit über- haupt das wesentlichste Band der Vereinigung unter einzelnen Staaten und Stämmen, ja wie in Delphi und Olympia des gesammten Hellenis- mus bildet. Es entwickelt sich auf solchen Grundlagen ein Geist, der uns vielfach an die Zeit des Aufblühens der Städte im Mittelalter erinnert. Wie von dem damaligen Reichthum besonders die christ- lichen Dome mit ihren Schätzen an Kunstwerken und Geräthen Zeugniss ablegen, so erstanden in Griechenland zu jener Zeit prächtige Tempel der Götter, besonders in den Colonien, deren Gründung und frisches Wachsthum fortwährenden Anlass und auch die Mittel zur Er- bauung neuer und immer grossartigerer Gotteshäuser bot. Zwar die Architektur stand im Vordergrund. Aber die Tempel verlangten ihren Schmuck in den Metopen und Giebelfeldern, wo die Sculptur ihre Betheiligung fand, die sich folgerichtig auch der Aufgabe nicht entziehen konnte, auch das Götterbild der künstlerischen Umgebung entsprechend zu veredeln, Schmuck durch künstlerische Weihgeschenke. Denn auch die geweihte Gabe sollte nicht mehr ein todter Werth bleiben : die Spartaner verwenden das dem Apollo Pythaeus von Krösus ge- weihte Gold zum Schmucke des amykläischen Gottes (Paus. III, lo, 8); und wenn auch anfangs, wie beim Zeuskolosse der Kypseliden in Olympia, das Material den Werth des Werkes noch erhöhen soll, so gewinnt doch an den Statuengruppen der lakedämonischen Künstler in Olympia nicht weniger wie an der Lade des Kypselos und dem amykläischen Throne die künstlerische Ausführung das Uebergewicht über den Werth des Materials. Erst dann erscheint es jetzt der Gottheit vöUig zu eigen gemacht, wenn es entweder praktisch als Geräth, Gefäss zu ihrem Dienste verarbeitet oder wenn es in bild- Hcher Gestaltung zur Verklärung und Verherrlichung ihres geistigen Wesens veredelt ist.

So bildet gewiss die Religion den Haupt träger der künst- lerischen Entwickelung. Aber ein grosser Irrthum, den man erst jetzt zu erkennen angefangen hat (vgl. E. Petersen, kritische Bemerk, zur ält. Gesch. der gr. Kunst, Ploen 187 1, S. 34 ff.), ist es anzu- nehmen, dass die Rehgion die Kunst beherrscht, dem freien Geiste

Gesammtbild.

anfangs Fesseln angelegt habe, aus denen er sich nur langsam zu befreien im Stande gewesen sei. Es kann natürlich hier nicht die Rede sein von der Zeit, in welcher der Sinn für die statuarische und monumentale Kunst noch schlummerte, sondern nur von der, in welcher er wirklich zu erwachen begann. Blicken wir nur auf die Reihe der Monumente zurück , die wir bisher im Einzelnen geprüft, so war es vor allem der Geist der Freiheit, der uns in diesen Schöpfungen aus der Frühzeit der griechischen Kunst anziehen musste. Nicht zwei unter ihnen tragen das gleiche Gepräge, sondern in jedem einzelnen Versuche tritt uns eine besondere Individualität entgegen, welche sei es in der Technik oder der formalen Stilistik, sei es in der Behand- lung der Körperformen, in Haltung und Bewegung, sei es in irgend einem Zuge des Ausdrucks Zeugniss von ihrer Selbständigkeit ab- legt, welche zwar den Schatz der vor ihr gesammelten Erfahrungen zu verwerthen sucht, aber nicht der Freiheit entsagt, aus eigener Er- fahrung weiter fortzuschreiten, so recht im Gegensatz zu den Künstlern Aegyptens, denen innerhalb bestimmter Satzungen nur ein äusserst enger Spielraum und fast nur hinsichtlich der materiellen Ausführung gelassen war. Wo finden wir von solchen Satzungen in den alt- hellenischen Werken eine Spur ? Und dieser Geist der Freiheit steht in völligem Einklang mit der Religion selbst, die nicht wie in Rom eine dogmatische, sondern vorwiegend poetische ist. Sie konnte, während sie den unerschöpflichen Schatz ihrer Mythenwelt der Kunst zur Benützung darbot, unmöglich die einzelnen Gestalten ihrer eigenen freien Schöpfung wieder in künstliche Fesseln legen. Freilich fühlte sich die Kunst in dieser Periode und noch auf längere Zeit hin ge- bunden, aber nicht durch willkürliche priesterliche Satzungen, sondern durch ihr eigenes Gesetz, welches nicht gestattet, blind in verschiedenen Richtungen herumzutasten, sondern jeden folgenden Schritt erst zu unternehmen, sobald der vorhergehende sicher vollzogen war. Gerade diese Selbstbeschränkung muss unsere Bewunderung erregen ; und bedürfte es noch eines Beweises für die freie Bewegung der Kunst so ist- es der, dass wir uns am Ende dieser Periode nicht einmal mehr hundert Jahre von der Höhe eines Phidias entfernt befinden.

ZWEITER THEIL/)

Jüngerer Zeitraum (Olymp. 60-80-540-460 v. Chr.).

ERSTER ABSCHNITT.

Die Baukunst.

Der entwickelte Dorismus.

Der dorische Stil trat uns in den Monumenten der vorigen Periode nicht als eine erst entstehende, sondern als eine in ihren Grund- lagen bereits fertige Bauweise entgegen. Dennoch blieb innerhalb ge- wisser Hauptrichtungen dem subjectiven Ermessen noch ein ziemlich freier Spielraum, und es war daher schwierig, die theilweise sich wider- sprechenden Erscheinungen überall zu einem streng einheitlichen Bilde zusammenzufassen. So machte sich zuletzt eine Tendenz zu massen- hafter Schwere geltend, die, durch eine vorhergehende entgegengesetzte Richtung hervorgerufen, eben darum wie jede Reaction zu Ueber- treibungen neigte.

Für die Periode, zu deren Betrachtung wir jetzt übergehen, er- gab sich daher fast mit Nothwendigkeit die Aufgabe, solchen Schwan- kungen zu begegnen und aus der Summe der bisherigen Bestrebungen dasjenige, was eine innere Berechtigung hatte, zu einem fester ge- schlossenen System zu verarbeiten. Dass dies in der That geschehen, lehren die Monumente, welche in dieser Zeit ein sehr gleichartiges Gepräge tragen und uns den dorischen Stil wirklich in der seinem inneren Wesen entsprechendsten Gestaltung zeigen.

Im Grundplane des Tempels wird der Cellenbau auf seiner Rück- seite nicht mehr durch eine einfache Mauer abgeschlossen, sondern

^) En.worfen 1872, ausgeführt 1872, 1873.

Der entwickelte Doi ismus : Denkmäler.

der Opisthodomos erhält ebenso wie der Pronaos regelmässig Säulen in antis. Ebenso verschwindet im vorderen Porticus die Säulenstellung zwischen den Frontsäulen und den Anten, wie sie sich z. B. im seli- nuntischen Tempel F fand, so wie die selbständige prostylosartige Anlage vor dem Pronaos, für welche der Tempel G ein Beispiel dar- bot. Die Anten rücken vielmehr bis in eine Linie zwischen der zweiten und dritten Säule der Langseiten des Tempels vor. Die Cella erweitert sich, und wenn ihre Breite auch noch nicht nothwendig durch die Stellung der Säulen des Peripteros bedingt erscheint, so bildet sich doch ein annähernd festes Verhältniss, indem die äussere Linie der Cellenwand meist ziemlich genau mit dem Centrum der zweiten, be- ziehungsweise fünften Frontsäule correspondirt.

Die Norm steht durchschnittlich dem Quadrat sehr nahe: die Säulen, obwohl bei einer Höhe von 4V2 4^/4 Durchmesser noch durchaus kräftig, haben nicht mehr den Charakter der Schwere und des Gedrückten, wie am Ende der vorigen Periode, und sind dazu ziemlich eng, in Entfernungen von i iVe Durchmesser gestellt. Ver- stärkt aber wird der Ausdruck der Kraft noch dadurch, dass die Säulen sich mässiger als bisher nach oben verjüngen, dass die Einkehlung des Halses (von einer Ausnahme abgesehen) völlig verschwindet und durch eine Ausbeugung desselben vielmehr eine bessere Vermittelung mit dem Echinus gefunden wird, welcher seinerseits steiler und höher als bisher ansteigt.

Das Gebälk durfte mit Rücksicht auf die Kräftigkeit nicht wesent- lich geschwächt werden und erhält ausserdem einen Zuwachs an Schwere dadurch, dass seine untere Kante nicht auf einer gerade senk- recht über dem Säulenhalse liegenden Linie ruht, sondern über dieselbe nach aussen vorgerückt ist. Durch die Enge der Säulenstellung ergiebt sich endlich die Nothwendigkeit, den Triglyphen eine schlankere, oft fast zu schmale Form zu geben.

Denkmäler.

Pästum. Die erhaltenen Monumente führen uns zunächst wieder nach Sicilien und Unteritalien. Dort finden wir im Poseidontempel zu Paestum einen Bau, welcher durch Grösse (94' X 203'), Aus- führung und gute Erhaltung sich gewissermassen als ein Normalbau für diese Periode darstellt. Nur einzelne Umstände, wie die geringe Ausbeugung des Säulenhalses, die mässige Steile und noch ziemlich

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Jüngerer Zeilraum. Die Baukunst.

Starke Ausladung des Echinus, die Stellung der Architravkante über dem Säulenhals, dürfen als Kriterien für den Anfang dieser Periode gelten. Anderes, wie die Ersetzung des Blattkranzes an der obersten Gesimsbekrönung durch Anlauf mit Plättchen, darf vielleicht als pro- vinzielle Eigenthümlichkeit gelten. Von besonderem Interesse ist die innere Einrichtung der Cella, welche wegen ihrer Breite eine hypäthrale Anlage^) nöthig machte. Die inneren, in zwei Stockwerken geordneten Säulen Stellungen sind zum grossen Theil erhalten, und es ergiebt sich, dass die obere Ordnung sich zur unteren ziemlich genau verhält, wie die untere zur Gesammthöhe beider. Die Zahl der Canel- lirungen, i6 für die oberen, 20 für die unteren, 24 für die äusseren Säulen, zeigt recht deutlich, wie bei ihrer Bestimmung nicht eine be- stimmte Theorie, sondern in erster Linie die Stärke der Säulen an sich maassgebend war.

Akra gas. Unter den Städten Siciliens tritt in dieser Periode Akragas in den Vordergrund (Serradifalco, Antich. di Sicilia, vol. III). In der 49. Ol. gegründet, wuchs es bald zu hoher Bedeutung heran, und die Nachrichten über den Tyrannen Phalaris um die Mitte der fünfziger Olympiaden weisen schon bestimmt auf Tempelanlagen hin. Dem von ihm vollendeten Tempel des Zeus Polieus auf der Burg gehören wahr- scheinlich die Reste eines Peripteros (tav. 43 44) an, welche für genauere architektonische Bestimmungen leider unzureichend sind. Aus älterer Zeit mag auch der auf der sog. Rupe Atenea gelegene Tempel der Demeter und Persephone stammen, ein Cellenbau, an dem aber von den vorauszusetzenden Säulen in antis sich nicht einmal eine Spur erhalten hat (tav. 1—2). Unter den etwas jüngeren Tempeln in der Stadt ist zuerst der des Herakles zu nennen (tav. 15 19), ein dem Poseidontempel von Paestum sehr nahe verwandter Bau. Im Grundplan ist es durch die etwas grössere Länge der Cella und die grössere Tiefe der vorderen und hinteren Halle bedingt, dass er aut den Längenseiten nicht 13, sondern 15 Säulen hat. Im Aufbau tritt hier zum letzten Male die in der vorigen Periode übliche Einkehlung des Säulenhalses hervor, jedoch schon in sehr verringertem Maass- stabe und ohne Unterhöhlung der Ringe des Echinus. Dieser letztere dagegen ist schon etwas stärker und steiler als in Paesturn gebildet. Die obere Bekrön ung des Gebälkes ist feiner geghedert und zeichnete

') S. oben S. 26, Anm.

Der enlwickellc Dorismus: Denkmäler.

sich ausserdem durch reichen und sorgfältigen Farbenschmuck aus. Eine hypäthrale Anlage im Innern ist wahrscheinlich, doch lässt sich nach geringen Resten die Art ihrer Ausführung nicht feststellen. Auch der in sehr bedeutenden Resten erhaltene Tempel der Juno Lacinia (tav. 3 7) bietet nur geringe Abweichungen von den bisher betrachteten Formen dar. Die Säulen sind um ein Weniges weiter gestellt und etwas schlanker; der Echinus steigt bei verringerter Aus- ladung etwas steiler an; der Hals, durch drei Einschnitte vom Schaft getrennt, zeigt bereits eine Tendenz zu stärkerer Ausbiegung nach oben; die Architravkante endlich rückt entschieden heraus.

Wie bei dem Tempel G in Selinunt manche Besonderheiten durch seine kolossale Grösse bedingt waren, so ist dies in Akragas in noch verstärktem Maasse bei dem Tempel des olympischen Zeus der Fall, der, dem ersteren in der Breite gleich, in der Länge unmerklich nach- stehend (340' X 160'), ihn an Höhe (120') und Massenhaftigkeit der Con- struction noch übertrifft (tav. 20 27). Ein gerade für Kolossalbauten sehr ungünstiges Material führte zu einer pseudoperipteralen Anlage, d. h. die Säulen sind durch Mauern verbunden, so dass sie nur wenig mehr als zur Hälfte aus diesen heraustreten, während sie an der Innenseite der Wand durch flache Pilaster ersetzt sind. In Ueberein- stimmung damit ist die Cella aus einer durch Zwischenwände verbun- denen Pfeilerstellung gebildet. Die Seitenhallen sind pseudodipteral, d. h. sie haben die Breite zweier Intercolumnien ; dagegen sind die vordere und hintere Halle fast ganz beseitigt, indem die Anten nur um die Breite eines Intercolumnium von den Aussenwänden abstehen, wahrscheinlich um mit diesen noch in streng constructiver Verbindung- erhalten werden zu können. Indem man nun auch für die Cella nur die Breite von zwei Intercolumnien annahm, entstand eine Fronte von sieben Säulen, welche einer regelmässigen Thüranlage bedeutende Schwierigkeiten entgegensetzte. Die verschiedenen Hypothesen, zu denen man bei der geringen Erhaltung des Baues seine Zuflucht hat nehmen müssen, flnden ihre Lösung in der an Ort und Stelle gemachten Beobachtung Krell' s, derzufolge an der Ostseite im zweiten und fünften Intercolumnium zwei Thüren anzunehmen sind, von denen aus man durch seitwärts geführte Stufen in den Pronaos gelangte. Von der Eintheilung des inneren Planes der Cella ist nur ein kleines Stück der Mauer eines Opisthodomos erhalten. Auch im Aufriss führte die Kolossalität zu neuen Auskunftsmitteln. Bei einer Breite von sieben Säulen verlangte der Tempel eine relativ grössere Höhe als bei der

Jüngerer Zeitraum. Die Baukunsl.

gewöhnlichen Sechszahl, ohne dass doch der Eindruck grosser Kraft durch grössere Schlankheit der Säulen geschwächt werden durfte. Daraus ist es zu erklären, dass man mit der Stufenanlage des Unter- baues eine Art Sockel für die Säulen und Zwischenwände verband, so dass sich die Norm ohne diese Basis als ziemlich quadratisch heraus- stellt, während mit derselben die Breite durch die Höhe etwa um einen Säulenhalbmesser überragt wird. Dagegen war es wegen der Zwischen- wände nicht nöthig, die Säulen enger iüs sonst zusammenzurücken; ja da sie die Last des Gebälkes nicht allein zu tragen hatten, so durfte man sich mit einer mässigen Verjüngung begnügen und das Kapitäl hoch und steil und weniger elastisch bilden. Die Canellirungen be- schränkte man trotz der Kolossalität auf zwanzig, wohl um sie neben den Wandflächen nicht kleinlich erscheinen zu lassen. Das Gebälk bietet keine Besonderheiten dar.

Auch der Schmuck der Sculptur fehlte dem Tempel nicht: wie Diodor (13, 82) berichtet, war im Ostgiebel die Gigantomachie, im West- giebel die Einnahme Trojas, und zwar nach den wenigen erhaltenen Fragmenten in Hochrelief dargestellt. In ähnlicher Weise, d. h. im Rücken mit den Pfeilern verbunden, war eine Reihe von kolossalen, fast 30 Palm hohen männlichen und weiblichen Gestalten gebildet, die als Telamonen und Karyatiden bei der Ausschmückung der Cella verwendet waren. Wenn es auch keinem Zweifel unterworfen sein kann, dass sie als Stellvertreter der Halbsäulen die gewaltigen con- structiven Massen zu beleben und dadurch zu erleichtern bestimmt waren, so ist doch bis jetzt noch nicht nachgewiesen, in welcher Weise, ob im unteren Cellenraume oder etwa an der Stelle der den hypäthralen Anlagen eigenthümlichen oberen Säulenordnung, sie ihre Verwendung gefunden hatten. Drei derselben, zwei männliche und eine ebenso wie diese unbekleidete weibliche, standen noch bis zum Jahre 1401 aufrecht und finden sich in einem alten Stadtwappen abgebildet (p. 3, Vign.).

Auf die Geschichte des Tempels hat man die Nachricht Diodors (11, 25) bezogen, dass die Agrigentiner nach der Schlacht bei Himera (Ol. 75,1 =-480 V. Chr.) die Unmasse der Gefangenen bei der Erbauung ihrer grossartigen Tempel beschäftigten. Obwohl unter diesen der des Zeus nicht namentlich genannt wird, so ist es doch recht wohl mögHch, dass er eben jenem Siege seine Entstehung verdankte. Nehmen wir an, dass der Bau mit der Cella begann und dieselbe etwa im Laufe von zwanzig Jahren errichtet war, so erklärt es sich, dass die Köpfe der Telamonen und Karyatiden im Ausdrucke des Gesichtes und in der

1 )er entwickelte Dorisnius : J )enkmäler.

Behandlung des Haares noch einen durchaus archaischen Charakter tragen. Langsamer scheint dagegen der äussere Bau fortgeschritten zu sein. Die Form der Kapitäle weist bestimmt auf die folgende Periode hin, und in den wenigen Fragmenten der Giebelsculpturen herrscht bereits der Stil der vollkommen freien Kunst. Bei der Einnahme der Stadt durch die Karthager (Ol. 93,3 ^ 406 v. Chr.) war aber der Tempel noch ohne Dach, und auch später wurde er nicht ganz vollendet (Diodor 13, 82; Polyb. 9, 27).

In die letzten Zeiten der archaischen Periode gehört der mit Ausschluss des Daches fast vollständig erhaltene Tempel der Concordia (tav. 8 14). Grundriss und Norm sind fast dieselben, wie am Tempel der Hera; doch sind die Säulen enger gestellt und bei schwacher Verjüngung etwas stärker. Der Säulenhals, durch keinen Einschnitt vom Stamm getrennt, sondert sich dennoch vom Schaft durch seine starke Ausbeugung nach oben und bildet mit dem steil an- steigenden, aber elastischer als am Zeustempel geschwungenen Echinus eine einzige Linie. Namentlich aber erinnern die hochangebrachten, dabei flachen und weit von einander getrennten Ringe an die Bildung dieser Glieder, wie wir sie später an den Monumenten Attikas finden werden.

Einige andere dorische Bauten in Akrages sind zu wenig er- halten, um hier ausführlicher besprochen zu werden. Eine sehr zer- störte Stoa (tav. 35, I 4) würde nach der Form eines theilweise erhaltenen Kapitäls wegen des flachen und weit ausladenden Echinus mit starker Plinthe dem Alter nach eine der ersten Stellen einnehmen. Der kleine Asklepiostempel in antis (tav. 32 34) erinnert durch die Stufenanlage seines Unterbaues und durch die Halbsäulen an der Rückwand an den Zeustempel. Der angebliche Tempel des Castor und Pollux (tav. 36), in der oberen Hälfte seines Gebälkes restaurirt, erscheint im Uebrigen dieser Periode durchaus würdig.

Syrakus. In Syracus haben sich aus dieser Zeit nur die Reste eines einzigen dorischen Baues, des zu der jetzigen Kathedrale er- weiterten A th en e tempels, erhalten (Serradifalco IV, t. 5 8). Der Grundplan ist ein regelmässiger Peripteros, an dem nur die Länge von 14 Säulen statt der gewöhnlichen 13 auf den Anfang dieser Periode hinweist. Damit stimmt überein, dass an dem Säulenhals durch eine zu schwache Ausbeugung noch nicht die richtige Vermittelung mit dem Echinus gefunden ist und dieser letztere, zwar steil und richtig pro-

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Jüngerer Zeitraum. Die Baukunst.

filirt, doch im Verhältniss zur Deckplatte zu hoch erscheint. Andere Eigenthümlichkeiten, nämlich dass die Säulen eng gestellt, die Säulen dick und bei starker Verjüngung niedrig, das Kapitäl breit gehalten sind, beruhen wie bei dem älteren Artemistempel (wS. 36 f.) auf dem ungünstigen Material, welches eine Tendenz zu schweren Verhältnissen nothwendig befördern musste.

Selinus. In Selinunt mochte zu Anfang dieser Periode die Bauthätigkeit durch die Vollendung des nicht lange vorher begonnenen kolossalen Apollotempels (Cx = T) in Anspruch genommen worden sein, während in Mitte derselben die Niederlage, welche die SeUnuntier im Bunde mit den Karthagern bei Himera 480 erlitten, wenigstens für einige Zeit hemmend wirken musste. In der That gehören die beiden noch übrigen Tempelbauten erst in die letzten Zeiten des Ar- chaismus: A und E bei Serradifalco II, t. 4 5 und 13 17 ~ A und R bei Hittorff, T. 13 16 und 35 50, indem einige Zeichen anscheinend höheren Alters sich leicht durch ein Festhalten an localen Eigenthüm- lichkeiten erklären: so die Ausdehnung der Länge des Grundplans auf 14 und 15 Säulen statt der gewöhnlichen 13, indem man nämlich neben der Opisthodomhalle auch noch den früheren Opisthodom, das Gemach hinter der Cella, beibehält. In der Breite der Cellenanlage folgen dagegen beide Tempel der späteren Regel ; ebenso in der Norm, die etwas über das Quadrat hinausgeht, nur mit dem Unterschiede, dass bei dem grösseren Tempel E die Säulen stärker und enger ge- stellt sind, während bei dem kleineren A das Gebälk im Verhältniss zum Säulendurchmesser eine etwas grössere Höhe hat. Welcher der ältere sei, lässt sich bis jetzt um so weniger bestimmen, als sich in den sonst entscheidenden Formen des Kapitäls ein individuelles Schwanken bemerkbar macht. Bei A weist die schöne Ausbeugung des Säulenhalses, die mit dem steilen, feingerundeten Echinus unter den Ringen hindurch eine einheitliche Linie bildet, auf eine relativ späte Zeit hin. Bei E deuten einerseits das Zurückweichen der Architravkante, die Form der Ringe, die starke Ausladung des in seiner Profilirung starren Echinus auf etwas höheres Alter, während andererseits die weiter unten zu betrachtenden Metopenreliefs ent- schieden der letzten Zeit des Archaismus angehören, ja chronologisch vielleicht nicht hinter den Arbeiten des Phidias zurückstehen. Bis zu dem äussersten Termin, den für die Geschichte der selinuntischen Bauten die Zerstörung der Stadt: Ol. 92,4 ^ 409 v. Chr. bildet, sind

Der entwickelte Dorismus : Denkmäler.

wir freilich nicht genöthig"t herabzugehen. Immerhin aber mag die Vollendung der jüngsten Tempel kaum ein Menschenalter vor dieser Katastrophe erfolgt sein.

Segesta. Die Veranlassung zu diesen Ereignissen boten die Grenzstreitigkeiten zwischen Selinunt und dem benachbarten Segesta. Die Segestaner hatten, um den Anfang der 91. Olympiade von den Selinuntiern in blutiger Schlacht besiegt, sodann Ol. 92, i =412 v.Chr. in die sicilischen Niederlagen der Athener verwickelt, den Schutz der Karthager angerufen, aber diese Hülfe mit dem Preise ihrer eigenen Selbständigkeit bezahlen müssen. Spätestens damals, wenn nicht schon in Folge früherer Unfälle, musste der Bau des einzigen uns erhaltenen segestanischen Tempels ins Stocken gerathen, so dass die Canellirung der Säulen und die feinere Durchbildung des Stufenbaues und einiger anderer Glieder nicht mehr zur Ausführung gelangte (Serradifalco I, t. 3 8; Hittorf, T. 2 6). Noch steht die äussere Säulenreihe nebst Gebälk im ganzen Umfange aufrecht, während vom Cellenbau sich nur schwache Spuren erhalten haben, die auf eine normale Peripteralanlage hin- deuten. Eng gestellte, aber nicht zu niedrige und schön verjüngte Säulen, ein etwas erleichtertes Gebälk, dessen Kante in richtigem Ver- hältniss herausgerückt ist, verleihen dem Aufbau des Ganzen bei fast rein quadratischer Norm den Ausdruck grosser, aber von drückender Schwere freier Kraft, während auch das Kapitäl durch elastische, nicht zu steile Profihrung zwischen Schwulst und Starrheit die richtige Mitte hält.i)

^) Hiermit bricht in dem Manuscript die Darstellung der Architekturgeschichte ab. Was der Nachlass noch auf sie Bezügliches enthält, sind nur kurze Notizen, von deren Aus- führung abgesehen werden muss.

ZWEITER ABSCHNITT.

Die Plastik.

Künstler des reiferen Archaismus.

In den literarischen Nachrichten über die Künstler scheidet sich die vorliegende Periode sehr bestimmt v^on der vorhergehenden: nur ganz ausnahmsweise fmdet sich eine directe Anknüpfung. Wie so häufig , scheint auf den ersten lebendigen Anlauf eine langsamere Bewegung gefolgt zu sein, die sich begnügte, auf den eingeschlagenen Bahnen zunächst ruhig weiter zu gehen. Erst eine ganz neue, mit den älteren Meistern sich nicht mehr berührende Generation gewann Unabhängigkeit genug , um wieder selbständiger vorzuschreiten : während zwischen Ol. 60 und 70 (540 500 v. Chr.) der Einfluss jener ältesten bahnbrechenden Meister nachwirkt, ist erst um Ol. 70 dieses jüngere Geschlecht ziemlich herangewachsen , wenn es seine volle Kraft auch meistens erst zwischen Ol. 75 80 (480 460 v. Chr.) ent- faltete. Mit der Unterbrechung der directen Schultradition geht aber meistens auch eine Veränderung in den localen Sitzen der Kunst- übung Hand in Hand.

Es hängt gewiss mit den politischen Zuständen, dem siegreichen Vordringen der Perser zusammen, dass die kleinasiatische Küste in dieser Periode ihre bedeutsame Stellung ganz verloren hat. Nur ein namhafter Künstler, Pythagoras aus vSamos (Plin. 34, 60. Diog. Laert. VIII, 46) scheint dieser Zeit anzugehören. Sehen wir von seinem Namensvetter aus Rhegion ab,^) der auf dem Uebergange zur folgenden Periode steht, so wird uns aus Unteritalien ebenfalls nur ein Name genannt, der des Dameas von Kroton (Paus. VI, 14, 5), aus Sicilien gar keiner, aus Kreta nur der des Aristokles von Kydonia (Paus. V, 25, 1 1), des Künstlers einer Gruppe des Herakles

^) Rn. constatirt die inzwischen erwiesene Identität des Samiers und Rheginers (vgl, Löwy, Inschriften gr. Bildh., No. 23).

Künstler des reiferen Archaismus.

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im Kampfe mit der Amazonenkönigin zu Olympia, der möglicher Weise noch in die vorige Periode zurückreicht. Auch von einer directen Fortsetzung der Schule spartanischer Künstler haben wir keine Nachricht. Nur Gitiadas (SQ. 357 ff.) muss in diese Zeit ge- setzt werden, von dem zwei Dreifüsse mit Figuren der Aphrodite und Artemis neben einem dritten des Aegineten Kallon (s. u.) in Amyklae aufgestellt waren. Sein Werk war ferner die Statue der Athene Chalkioikos in Sparta nebst ihrem »ehernen«, d. h. in der Weise der alten Thesauren mit Bronze bedeckten Tempel. Wenn die Verbindung mit Kallon einerseits auf einen Zusammenhang mit der Schule des Dipoinos hindeuten kann, so erinnert andererseits die Ausschmückung des Erztempeis mit zahlreichen Reliefs aus der Götter- und Heroen- sage an Bathykles und den Bilderreichthum des amykläischen Thrones. Freilich verbreitet sich dafür die Kunst nach immer zahlreichern Orten. Wir hören von Künstlern aus Troizene, Phlius, Elis, Korinth, Theben, Naupaktos, aus Faros, Naxos, Thasos. Meist ist es nur irgend ein Götterbild, welches von ihnen angeführt wird, daneben je- doch auch eine Gruppe des Herakles im Kampfe um den Dreifuss nebst Athene und Artemis von den Korinthern Diyllos, Amy- klaios und Chionis, ein delphisches Weihgeschenk der Phocenser wegen ihrer unter Tellias Leitung- erfochtenen Siege (Paus. X, 13, 7); und noch umfangreicher und eigenthümlicher war ein Werk des Kallon von Elis (SQ. 475, 476^): ein Chor von 35 Knaben mit ihrem Lehrer und einem Flötenspieler, von den Bewohnern von Messene in Sicilien nach Olympia geweiht zum Andenken an den unglücklichen Tod dieser Knabenschaar in der Meerenge von Messina. Indessen tritt unter allen diesen Künstlern keiner in bestimmterer Charakteristik her- vor, und die Isolirung, in welcher sie erscheinen, lässt nur um so deutlicher erkennen, wie die weitere Entwickelung sich um einige Hauptsitze gruppirt, die einen vorwiegenden Einfluss gewinnen, nämlich Sikyon, Argos, Aegina und Athen.

Sikyon. Aus Sikyon sind nur zwei Künstler bekannt. Aber dereine, Aristokles (SQ. 410 ff.), steht an der Spitze einer Schule, welche durch Synnoon und Ptolichos von Aegina nach einer Unterbrechung von zwei Gliedern in Sostratros und Pantias von Chios im Ganzen durch sieben Generationen bis um Ol. 100 fortlebte. Da von Aristokles

^) Vgl. Löwy a. a O., No. 33.

Brunn, Gr. Kunstgeschichte H.

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

nur eine Musenstatue, von seinen Schülern fast nur Athletenstatuen an- geführt werden, so lässt sich das Wesen der Schule nicht näher bestimmen; doch ist ihre Bedeutung schon durch ihre lange Dauer hinlänglich ver- bürgt. An persönlichem Ansehen wurde Aristokles von Kanachos (SQ. 403 ff.), seinem Bruder, noch übertroffen. Von nicht weiter be- kannten Marmorwerken abgesehen, arbeitet er in Cedernholz das Bild des ismenischen Apollo in Theben, aus Gold und Elfenbein ein Sitz- bild der Aphrodite in Sikyon, aus Erz, bei dem er sich der ägineti- schen Mischung bediente, Knaben auf Rennpferden, eine Muse, endlich den an Grösse und Gestalt mit dem ismenischen übereinstimmenden Apollo im Branchidenheiligthume bei Milet. (Ueber die chronologische Frage, ob dieses Werk vor oder bald nach Ol. 71 gearbeitet sei, vgl. die S. 67 citierten Streitschriften.) Indem über den letztern später noch genauer zu handeln ist, bleibt hier nur zu bemerken, dass Kanachos der erste Künstler ist, der als Repräsentant eines bestimmten Stils, freilich auch nur allgemein des streng archaischen, »harten« Stils in einem vergleichenden Urtheil von Cicero (Brut. 18, 70) angeführt wird.

Arges. Etw^as zahlreicher sind die Künstler von Argos. Eutelidas und Chrysothemis (um Ol. 70) sagen in der Inschrift zweier Athleten- statuen (Paus. VI, 10, 4), dass sie die Kunst von ihren Vorfahren er- erbt, weisen also auf eine ältere einheimische Kunstübung hin. Ari- stomedon (Paus. X, i, 10) arbeitet um Ol. 75 ein Weihgeschenk, w^elches die Phocenser wegen eines Sieges über die Thessalier in Delphi aufstellten: Statuen des Sehers Tellias, der übrigen Führer und einheimischer Heroen.^) Glaukos und Dionysios (SQ. 401 ff.)^) sind die Künstler der Weihgeschenke, welche Mikythos, der Vormund der Kinder des Ol. 76, i (476 v. Chr.) gestorbenen rheginischen Tyrannen Anaxilas, wegen der Heilung eines schwindsüchtigen Sohnes in Olympia aufstellte. Die grösseren, Statuen der Amphitrite, des Poseidon und der Hestia, waren Werke des Glaukos. Noch zahlreicher waren die kleineren von der Hand des Dionysios: Kora, Aphrodite, Ganymedes und Artemis; Homer und Hesiod; Asklepios und Hygieia; ferner die Personifikation des Wettkampfes, Agon, mit Springgewichten ; endlich Dionysos, Orpheus und ein unbärtiger Zeus. Noch andere dazugehörige Figuren sollte Nero weggeführt haben. Ausserdem wird von Dionysios noch ein Ross mit seinem Lenker erwähnt.

^) Rn. : Herod. VIII, 27 (Repliken in Abai). ") I^öwy 31.

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Berühmter als die bisher genannten Künstler war A g e 1 a d a s (SQ. 38g ff.).^) Von seiner Hand waren mehrere Siegerstatuen, darunter ein Viergespann nebst den Gestalten des Siegers und des Wagenlenkers in Olympia; ferner eine Gruppe von Reitern und kriegs- gefangen en Frauen, welche die Tarentiner wegen ihrer Siege über die Messapier nach Delphi geweiht hatten. Eine Muse von seiner Hand war zusammen mit denen des Kanachos und Aristokles aufgestellt. Ein Herakles und ein Zeus in Aigion, von dem ein Zeus in Ithome vielleicht nur eine Wiederholung war^ sind als Bildungen im Knaben- alter besonders hervorzuheben. Ein Herakles Alexikakos endlich führt uns nach Athen, wenn auch die Angabe (S Q. 393), dass er wegen der Pest im Anfange des peloponnesischen Krieges geweiht worden, auf Irrthum beruhen muss, indem der Künstler, bereits im Anfange der siebziger Olympiaden in Thätigkeit, damals nicht mehr am Leben sein konnte. Alle diese Thatsachen, die Mannigfaltigkeit der Werke, die Thätigkeit für verschiedene Orte, würden indessen zur Würdigung des Künstlers nicht genügen, wenn sie nicht eine wesentliche Ergänzung durch die Nachricht erführen, dass Ageladas der Lehrer des Myron, des Phidias und des Polyklet gewesen sei, also der drei grössten Künstler, auf denen die höchste Blüthe der griechischen Kunst beruht.^) Freilich vermögen wir auch hiernach die hohe Bedeutung des Künstlers mehr zu ahnen, als die Eigenthümlichkeit seines Wesens genauer zu bestimmen; aber wir dürfen doch voraussetzen, dass er in dem, was in der Kunst überhaupt lehrbar war, also zumeist im Technischen und P^heoretischen, unter seinen Zeitgenossen eine hervorragende Stellung eingenommen habe, um so mehr, als die argivisch-sikyonische Schule nach dieser Seite hin auch nach ihm und für lange Zeit unbedingt den Vorrang vor allen andern behauptete.

Aegina. Von Künstlern aus Aegina wurden Ptolichos und Syn- noon schon unter Sikyon angeführt. Glaukias (SQ. 42g ff.) ^) arbeitete mehrere Statuen von Olympioniken , unter denen ausser der des Gelon mit dem Viergespann die des Glaukos hervorzuheben ist, weil berichtet wird, dass sie in der schulmässigen Stellung kunstgerechten Auslegens und Parirens (öxtaiaa/ouvroq öXHjaa, Paus.) gebildet war.

^) Löwy 30.

^) Rn. lehnt die an der Richtigkeit dieser Nachricht ausgesprochenen Zweifel ab.

Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

Simon lieferte ein Ross mit seinem Lenker als Seitenstück zu dem des Dionysios von Argos; ob ein Hund oder ein Bogenschütz (Plin. 34, 90) von ihm oder einem anderen gleichnamigen Künstler her- rührten, muss unentschieden bleiben. Von der Hand des Anaxagoras (SQ. 433 fF.) war der 10 Ellen hohe Zeus, den die Hellenen nach der Schlacht bei Plataeae in Olympia aufstellten. Auch noch einige andere Künstler, über welche bestimmte Zeitangaben nicht vorliegen, mögen vor der Niederwerfung Aeginas durch Athen (gegen 456 v. Chr.) gelebt haben. Alle stehen indessen zurück gegen die beiden Haupt- vertreter der Schule, Kallon und Onatas. Kallon (SQ. 417 ff.) ^) hängt durch seine Lehrer Tektaios und Angelion mit der Schule des Dipoinos und Skyllis zusammen und arbeitet neben dem Spartiaten Gitiadas für Amyklä einen Dreifuss mit dem Bilde der Kora. Ausser- dem wird von ihm nur noch ein Xoanon der Athene Sthenias in Trözen erwähnt. Neben diesen spärHchen Nachrichten aber steht das Urtheil des Quintilian (XII, lo^ 7), welcher ganz in derselben Weise, wie Cicero dem Kanachos, diesen Aegineten als Repräsentanten des harten, dem tuscanischen verwandten Stils hinstellt, womit übereinstimmt, dass auch Pausanias (VII, 18, 10) beide Künstler zusammen nennt. Er gehört also jedenfalls zu den tonangebenden Künstlern dieser Periode, und zwar in der ersten Hälfte derselben, we*nn er auch bis gegen das Ende leben mochte. Etwas jünger scheint Onatas (SQ. 42 1 ff.) ^) gewesen zu sein. Ausser einem Epigramme giebt uns einzig und allein Pausanias Nachricht über ihn; aber er widmet ihm eine so auffallende Aufmerksamkeit, dass wir ihn für den hervorragendsten Künstler der äginetischen Schule halten müssen, dem auch sonst von allen bisher genannten Künstlern nur etwa Ageladas an die Seite gestellt werden kann. Wie dieser arbeitete auch er wenigstens ein Denkmal eines olympischen Wettsieges: das Viergespann des Hieron mit seinem Lenker (Paus. VIII, 42, 8). Gleich ihm war er sodann für die Tarentiner beschäftigt, für welche er unter Beistand des KalHteles, wahrscheinlich seines Sohnes, eine wegen ihrer Siege über die Peucetier in Delphi aufgestellte Gruppe (Paus. X, 13, 10) ausführte: Kämpfer zu P\iss und zu Ross, darunter der im Kampfe gefallene König der Japygier Opis, auf ihm stehend der Heros Taras und Phalanthos und in der Nähe des letzteren ein Delphin. Nicht weniger bedeutend war ein Weihgeschenk der Achäer in Olympia (Paus. V, 25, 8), die griechischen Helden vor

^) Löwy 27.

^) 'E(pT)|u. dpx- 1887, p. 146.

Künstler des reiferen Archaismus.

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Troja von Hektor zum Zweikampf herausgefordert: Nestor auf ab- gesonderter Basis schüttelte die Loose; ihm gegenüber standen Aga- memnon, Idomeneus, Odysseus und die übrigen sechs in der lUas genannten Helden. Von Götterstatuen arbeitete er in Gemeinschaft mit Kalliteles einen Hermes mit Kappe, Chiton und Chlamys, der einen Widder unter dem Arme trug, ein olympisches Weihgeschenk der Pheneaten (Paus. V, 27, 8). Bewunderungswürdig durch Grösse und Kunst war ein Erzbild des Apollo in Pergamon (Paus. VUI, 42, 7), wohl später in diese erst unter den Diadochen zur Blüthe gelangte Stadt versetzt; ebenfalls colossal, 10 Ellen hoch, ein von den Thasiern nach Olympia geweihter Herakles mit Bogen und Keule (Paus. V, 25, 12). Besonders ausführlich endlich, freilich aus rehgiösen, nicht aus künstlerischen Gründen handelt Pausanias (VUI, 42, i) über die schwarze Demeter in einer Höhle bei Phigaha in Arkadien. Er erzählt von einem alten Holzbilde der Göttin mit Pferdekopf und -Mähne, umgeben von Schlangen und anderem Gethier, welches lange Zeit nach seinem Untergange von Onatas mit Hülfe eines Abbildes und nach Traumgesichten durch ein Erzbild ersetzt worden sei. Da auch dieses schon mehr als ein Jahrhundert vor Pausanias zu Grunde gegangen sein sollte, so hat man an der Realität nicht nur des ältesten sagenhaften Bildes, sondern auch der Statue des Onatas gezweifelt, jedoch mit Unrecht (vgl. Welcker, Gr. Götterl. H, 493; Petersen, in der S. 150 citirten Schrift, S. 35). Allerdings lässt sich nicht mehr feststellen, wie sich diese zu dem angeblichen Vorbilde verhielt; und vielleicht waren die Attribute der Hände, Delphin und Taube, erst von der Statue des Onatas auf das letztere übertragen. Gewiss aber dürfen wir den Traumgesichten so viel Autorität beilegen, dass sie die der griechischen Kunst wider- sprechende symbolische Bildung mit dem Pferdekopfe beseitigten und dem Künstler gestatteten, die Göttin in voller menschlicher Gestalt darzustellen, wenn sie deshalb auch noch nicht ein Idealbild im vollen Sinne der folgenden Periode zu sein brauchte. Wie nahe er aber an die Vollendung derselben heranreichte, das zeigt das allgemeine Urtheil des Pausanias (V, 25, 13) über den Künstler: ,, Diesen Onatas, obwohl er im Stile seiner Götterbilder der äginetischen Schule angehört, werden wir dennoch keinem der Dädaliden und der attischen Kunstgilde (tcov änb AaibdXot) re xai epyaöTripioD tov 'AttixoC) nachsetzen. ^)

^) Rn.: Klein, Arch.-epigr. Mittheil, aus Oesterr. V (1881), S. 90 f. [S. auch Brunn, Münchn. Sitzungsber. 1884, S. 538, Anm. i.l

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

Athen. Diese später noch näher zu erörternden Worte führen uns jetzt nach Athen, wo aus der Zahl namenloser Dädaliden erst in dieser Zeit einzelne Künstler persönlich hervortreten. Noch als directen Schüler des Dädalus, ja als seinen Begleiter nach Kreta bezeichnet Pausanias den Endoios (SQ. 348 ff.), den man deshalb noch in die vorige Periode hat setzen wollen.^) Die Inschrift eines von ihm ge- fertigten, leider nicht erhaltenen Grabmonumentes gehört in die sech- ziger Olympiaden^). Die drei Werke, welche Pausanias von ihm an- führt, sind sämmtlich Athenestatuen. Die erste, ein Sitzbild, von einem Kallias geweiht, stand auf der Akropolis von Athen im Freien ; das Material wird nicht genannt, war aber wahrscheinlich Marmor.^) Die zweite, das Bild der Athene Alea in Tegea, ganz aus Elfenbein, hatte Augustus nach Rom in die Nähe seines Forums versetzt. Die dritte, im Tempel der Athene Polias zu Erythrae in Jonien, war ein grosses auf einem Throne sitzendes Holzbild mit der Spindel in den Händen und dem Polos auf dem Kopfe. Pausanias (VII, 5, 9) erkannte dasselbe als Werk des Endoios nach dem Stil und nach der Vergleichung mit den marmornen Statuen der Chariten und Hören, die vor dem Tempel im Freien standen und demnach ebenfalls von der Hand des Künstlers her- rührten. Es musste also in den Werken des Künstlers schon ein gewisser individueller Kunststil erkennbar sein, welcher sich besser mit der späteren Zeitbestimmung vereinigt, als mit der sagenhaften Zeitgenossen- schaft des Dädalus. Leider sind einige weitere Nachrichten über eine Athene aus Olivenholz und das Bild der ephesischen Artemis bei Athenagoras und Plinius zu verworren, als dass sie hier mit Nutzen verwerthet werden könnten (s. übrigens O. Jahn, De antiqu. Minervae simulacris; R. Förster, Ueber die ältesten Herabilder, S. 31). Doch lehren auch sie, dass Endoios vorzugsweise auf dem specifisch religiösen Ge- biete des Cultusbildes thätig sein musste. Dagegen verdanken zwei andere Künstler ihre Erwähnung besonders der politischen Be- deutung ihrer Werke: Antenor (SQ. 443 ff.)*) machte bald nach Ol. 67, 3 = 510 V. Chr. die Statuen der beiden Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, die von Xerxes weggeführt erst von

1) Löwy 8; AeXr. dpx- 1888, p. 208 f.

2) Rn.: Schütz, Hist. alph. att., p. 30.

3) Vgl. oben S. iii.

Statuenbasis mit Signatur, nach welcher Antenor Sohn eines Eumares war, vermuthlich des Malers (s. u. S. 278): 'Ecpi)ju. dp/. 1886, p. 81, Taf. 6, No. 4. Auf die sehr wahrschein- liche Zugehörigkeit der Basis zu der Frauenstatue: Ant. Denkm. d. Inst. I, 53; Br.-Br. 22 bezieht sich Rn.: Studniczka, Jahrb. d. Inst. II, S. 135 ff.

Künstler des reiferen Archaismus.

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Alexander oder seinen Nachfolgern den Athenern zurückerstattet wurden, Amphikrates (SQ. 448 ff.) das Erzbild einer Löwin ohne Zunge, durch welche, wie erzählt wird, die Athener die Hetäre Leaina, die Freundin der Mörder, wegen ihrer auf der Folter bewiesenen Standhaftigkeit ehren wollten, ohne doch das Bild einer Hetäre öffent- Hch aufzustellen^). Etwa gieichzeitig muss nach der Inschrift eines Weihgeschenkes Gorgias^) sein, vielleicht derselbe, den Plinius (34, 49) neben Ageladas und Kallon fälschlich in die 87. Ol. setzt; ferner K a 11 onides ^), des Deinias Sohn, und Aristion*) nach den Inschriften zweier Grabdenkmäler, so wie Aristokles^), den wir aus den Inschriften eines verlorenen Weihgeschenkes und einer er- haltenen, später zu betrachtenden Grabstele kennen. Sohn und Schüler eines Aristokles heisst dann wieder Kleoitas, der in Olympia die Schranken zum Wettrennen der Rosse construirte (Paus. VI, 20, 14), von demi sich aber auch auf der Akropolis von Athen die Erzstal ue eines behelmten Mannes befand, die Pausanias (I, 24, 3) wegen der sorgfältigen technischen Ausführung (die Nägel waren von Silber ein- gesetzt) besonders hervorhebt. Wiederum ein Aristokles, Sohn des Kleoitas, arbeitet die in Olympia von einem Thessalier Gnathis ge- weihte Gruppe des Zeus und Ganymedes (Paus. V, 24, 5). Ob mit ihm ein in den Schatzrechnungen des Parthenon von Ol. 95 erwähnter Aristokles identisch ist, der in nicht näher zu bestimmender Weise mit der Basis der Pallas des Phidias zu thun hatte, muss unentschieden bleiben.^) Dagegen dürfen die übrigen, wenn auch zerstreuten Notizen auf eine und dieselbe KünstlerfamiUe bezogen werden'), die freilich zur Hälfte erst der folgenden Periode angehört und auch sonst an Be- deutung den folgenden Künstlern gegenüber zurücktritt. Der erste derselben wird theils Hegias, teils Hegesias genannt (SQ. 452 ff.)^) und als seine Werke kennen wir nur Knaben mit Rennpferden und Statuen der Dioskuren. Wichtiger ist, dass er einer der Lehrer des Phidias

^) Rn. citirt als ein weiteres staatliches Denkmal der Zeit das eherne Viergespann bei den Propyläen, Stiftung wegen eines Sieges über die Böotier und Chalkidier (Ol. 68, 3 506 v. Chr.) : Paus. I, 28, 2; Herod. 5, 77.

") Löwy 36; Ab,\t. dpx- 1889, p. 119, No. 7.

3) Löwy 14.

^) Löwy II, 12.

^) Löwy 9, lo.

®) Löwy 525.

') S. dagegen Rayet, Etudes d'archeol., p. 161 ; Collignon, Hist. d. sc. gr. I, 309 f. 8) Vgl. Ae\T. ctpx. 1889, p. 37 f.

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Jüngerer Z-eitraum. Die Plastik.

war, und dass er als Repräsentant des alten Stils zusammen mit Kritios und Nesiotes (S Q. 457 If.) i) genannt wird, welche, noch enger unter einander verbunden, gemeinsam arbeiteten. Als Künstler- paar erscheinen sie in der Inschrift eines Weihgeschenkes und einer Statue des Hoplitodromen Epicharinos auf der Akropolis. Ihr gemein- sames Werk waren aber auch die Statuen der Tyrannenmörder, welche an der Stelle der von Xerxes weggeführten älteren Statuen des Antenor schon Ol. 75, 4 477 v. Chr. aufgestellt wurden und, in ver- schiedenen Nachbildungen erhalten, weiter unten genauer zu besprechen sind. Dagegen ist es Kritios allein, der einen grösseren Einfluss als Lehrer ausübt. Neben Diodoros und Skymnos ist Ptolichos von Corcyra sein Schüler, nach welchem durch Amphion von Knosos, Pison von Kalauria und Demokritos sich der Schulzusammenhang noch drei Generationen lang bis um Ol. 100 fortsetzt, ohne dass sich freilich einer dieser Künstler durch einzelne Leistungen besonders hervorgethan hätte. Ueber das Wesen dieser Schule vermögen wir um so weniger zu urtheilen, als sie von der gleichzeitigen Entfaltung der höchsten Kunstblüthe durch Phidias nicht unberührt bleiben konnte, die Urtheile über ihren Begründer aber sich mehr auf den Zeitcharakter, als auf seine persönliche Eigentümlichkeit beziehen. Lucian (Rhetor. praecept. 9) nämHch hebt im Sinne eines Puristen und im Vergleich mit dem Ver- falle der Rhetorik seiner Zeit an der alterthümlichen Kunstthätigkeit, an den Werken eines Hegesias und der Sippe eines Kritios und Nesiotes das Knappe, Sehnige und Harte, das scharf Umrissene der Zeichnung (djreöcpiYjusva xai Y8\)ptobr| xai c5xXr|pd xai dxpißco(q d7TOT8ra|ii8Ya zaiq Ypa|ujiaiq) hervor: Eigenschaften, welche zwar den archaischen Stil im Allgemeinen charakterisiren, aber nicht genügen, um den einzelnen Künstler von andern oder auch nur die attische von den übrigen gleichzeitigen Schulen zu unterscheiden.

Eine solche Unterscheidung ist überhaupt in den Urtheilen über die Künstler dieser Periode nicht gegeben. Kanachos und Aristokles, Kallon, Ageladas ebenso wie Hegias, Kritios und Nesiotes waren gewiss Künstler, in deren Werken bereits individuelle Eigenthümlich- keiten zum Ausdruck kamen- aber sie treten aus der Masse der übrigen doch nur als die namhaftesten Repräsentanten der archaischen Strenge hervor, die erst im Uebergange zur folgenden Periode durch

1) Löwy 38 40.

Künstler des reiferen Archaismus.

Kaiamis und Myron sich zu mildem und zu verschwinden beginnt. Nur Pausanias stellt einmal den Onatas als Aegineten ganz bestimmt den Attikern gegenüber (V, 25, 13) und bestätigt an einigen anderen Stellen, dass man, abgesehen von einem alten ägyptisirenden Kunststil (s. S. 76), zwischen äginetischer und attischer Kunstübung einen be- stimmten Schulunterschied erkannte. Wenn daneben auffallenderweise von sikyonischer und argivischer Schule nirgends die Rede ist, so ist dieses Schweigen vielleicht dahin zu erklären, dass unter äginetischer Kunst im weiteren Sinne auch die peloponnesische verstanden wurde. In der That weisen unsere Nachrichten auf die mannigfachsten Wechsel- beziehungen hin. Kallon der Aeginete geht aus der (sikyonischen) Schule des Dipoinos und Skyllis hervor ; er arbeitet zusammen mit dem Spartiaten Gitiadas. Der Aeginete Synnoonist Schüler desSikyoniers Aristokles. Kanachos bedient sich der äginetischen Erzmischung. Simon der Aeginete und Dionysios von Argos arbeiten gemeinsam die Geschenke des Phormis. Die Musen des Kanachos, Aristokles und Ageladas sind zusammengehörige Werke. Die Tarentiner lassen ziem- lich zu derselben Zeit bei Ageladas und bei Onatas arbeiten, die Pho- censer bei Aristomedon von Argos und bei den Korinthiern Diyllos, Amyklaios und Chionis. Selbst ein Thebaner Askaros ist Schüler eines Sikyoniers. Alle diese Künstler endlich begegnen sich wiederum in ihrer Thätigkeit für zwei Orte: Delphi und Olympia, durch ihre nationalen Pleiligthümer die religiös-politischen Vereinigungspunkte des Hellenenthums, gewinnen eine ähnliche Bedeutung auch auf dem Gebiete der Kunst. Es entsteht ein Wetteifer unter den verschiedensten Staaten, diese Göttersitze durch künstlerische Weihgeschenke zu ver- herrlichen. Die äginetischen und peloponnesischen Kunstschulen aber liefern dorthin nicht nur die meisten und bedeutendsten ihrer Werke, sondern sie haben an beiden Orten eine fast ausschliessliche Herrschaft errungen. Diese Vielfältigkeit gegenseitiger Beziehungen erscheint aber um so bedeutsamer, wenn wir damit die Nachrichten über die athenische Kunst vergleichen. Pausanias, auf dem die Nachrichten über die Werke der Aegineten und Peloponnesier fast ausschliessHch beruhen, erwähnt kein einziges Werk eines Atheners aus dieser Periode in Delphi oder Olympia. Im ganzen Peloponnes finden wir nur die Athene Alea von der Hand eines Atheners, Endoios, in Athen nur ein Werk eines Peloponnesiers, den Herakles Alexikakos des Ageladas. So tritt in der That der Gegensatz zwischen attischer und äginetisch- peloponnesischer Kunst schon äusserlich in bestimmtester Weise her-

Jüngerer Zeitraum. Die Plastik,

vor, leider aber auch nur äusserlich, da es über die inneren Verschieden- heiten an bestimmten Winken fehlt. Sie können erst später mit Hilfe der noch erhaltenen Monumente und auch da nur in allgemeinen Zügen festgestellt werden.

Ueberblicken wir jetzt nochmals unsere schriftlichen Ueberliefe- rungen nach andern Richtungen, so finden wir nicht sowohl Gegen- sätze gegen die vorige Periode, als vielmehr die En t Wickelung der damals gepflanzten Keime. In technischer Beziehung hören wir nichts von neuen Erfindungen. Dagegen ist eine andere Thatsache kaum minder wichtig, nämlich der gewaltige Aufschwung, den die Arbeit in Bronze in dieser Periode nimmt. Besonders in den ägi- netisch-peloponnesischen Schulen gelangt die Bronze fast zu ausschliess- licher Herrschaft; nur ausnahmsweise finden hier andere Stoffe Ver- wendung, zumeist für Cultusbilder und (um schon hier der äginetischen Giebelgruppen zu gedenken) für architektonische Zwecke. Diese Be- vorzugung hat aber keineswegs eine bloss äusserliche Bedeutung. Die Bronze gestattet nicht nur eine feinere, schärfere und präcisere Durch- bildung aller einzelnen Formen, als Holz und Marmor, sondern ihrer inneren Natur nach verlangt sie dieselbe geradezu; und so musste nach Ueberwindung der ersten technischen Schwierigkeiten ihre häufigere Anwendung nothwendig auf das gesammte formale Studium einen läuternden Einfluss ausüben. Die Bronze ist aber auch weit weniger mit gewissen Mängeln der Materie behaftet, welche der Ver- wendung von Holz und Marmor bedeutend engere Schranken an- weisen. Sie gestattet nicht nur ohne bedeutende Steigerung der Schwierigkeiten ein gewisses Maass von Kolossalbildung, wie sie bereits in dieser Periode sich findet, sondern, was wichtiger ist, sie vermag, ohne durch die Schwere oder Gebrechlichkeit der Materie gebunden zu sein, jede, selbst die lebendigste und erregteste Bewegung zur Dar- stellung zu bringen. Wie sehr dadurch auch auf dem geistigen Ge- biete der Fortschritt gefördert wurde, das zeigt sich an der reichen Mannigfaltigkeit der Gegenstände, an deren Ausführung sich die Künstler dieser Periode wagen durften.

Für das einfache Götter- oder Cultusbild wird seiner Bestimmung nach die ruhige Haltung im Allgemeinen maassgebend geblieben sein, wenn auch selbst hier eine chryselephantine Artemis in jagender wStellung von Menaichmos und Soidas aus Naupaktos (Paus. VII, i8, lo) als Ausnahme uns entgegentritt. Die Gottheit soll sich den Sterblichen noch zu sehr in ihrem abstracten Sein zeigen; die Attribute ruhen

Künstler des reiferen Archaismus.

noch unthätig in ihren Händen, und nur allmähhg treten sie zu dem Thun und Handeln der Gestalt in eine bestimmtere Beziehung, wofür noch in dieser Periode der Hermes des Onatas, der seinen Widder unter dem Arme trägt, ein lehrreiches Beispiel bietet. Neben diesen ruhigen Gestalten entwickeln aber die Künstler dieser Zeit eine staunens- werthe Thätigkeit in der Bildung figurenreicher statuarischer Gruppen, und hier bot die Mannigfaltigkeit der Handlung die reichste Gelegen- heit, die menschliche Gestalt in den verschiedenartigsten Stellungen und Lagen zu zeigen. Was man darin bereits zu leisten im Stande war, w^erden die noch erhaltenen Werke zeigen. Aber selbst eine lebhafte Phantasie wird sich schwer eine Vorstellung davon bilden können, wie z. ß. ein Chor von über 30 Knaben in Anordnung und Aufstellung zu einer künstlerischen Einheit zusammengefasst sein mochte; und doch müssen wir bei der strengen Consequenz, mit welcher die Griechen ihre Kunstwerke stets innerhalb der Bedingungen eines bestimmten Raumes gedacht haben, noth wendig voraussetzen, dass sie die Lösung dieses Problems ver- sucht und gewiss bis zu einem bestimmten Punkte gefunden haben. Jedenfalls tritt uns hier eine Kühnheit künstlerischer Conceptionen ent- gegen, die für den Geist der Freiheit des künstlerischen Schaffens auch in dieser Zeit das beredteste Zeugniss ablegt. Auch in diesen Schöpfungen wirkt wieder wie früher, nur in reicherer Entfaltung, jener auf gegen- seitiger Durchdringung des religiösen und politischen Lebens beruhende Volksgeist, der getragen und genährt wird von poetischer Anschauung, nicht von priesterlichen und dogmatischen Satzungen. Selbst die in Folge eines Gelübdes geweihten Geschenke des Mikythos weisen durch die Gestalten des Homer und Hesiod, des Orpheus, sowie des Agon auf einen poetischen, nicht religiösen Grundgedanken hin. Die Gruppe der vor Troia loosenden Helden ist geradezu aus Homer ge- schöpft. Die Thatsachen der Gegenwart aber werden über die Wirk- lichkeit in den Kreis einer religiösen und poetischen Anschauung emporgehoben: unter den Führern der Phocenser erscheinen die Stammesheroen; und über die besiegten Feinde der Tarentiner trium- phieren Taras und Phalanthos. Selbst die Sieger in den gymnischen Wettkämpfen erscheinen in dem Lichte einer solchen religiös-poetischen Verklärung, und so erhält in Olympia, in Delphi der Cultus männlicher Schönheit eine höhere Weihe, wie er sie bei andern Völkern nirgends wieder gefunden hat. Hier aber, in der Darstellung der zur höchsten menschlichen Vollkommenheit ausgebildeten Jünglingsgestalt, war eine nicht versiegende Quelle des Studiums der Form gegeben, welche

Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

allein im Stande war, der Kunst die nöthige Kraft zuzuführen, um auch für die Darstellung poetischer Ideen eine deren innerem Gehalt immer mehr entsprechende künstlerische Gestaltung zu finden. Von dem Streben und Ringen, von den verschiedenen Mitteln und Wegen, mit deren Hülfe die Kunst sich aus den Banden eigener Unzuläng- lichkeit zu immer grösserer Freiheit emporzuarbeiten suchte, geben uns freilich die schriftlichen Ueberlieferungen keinen auch nur an- nähernden Begriff; und es erwächst daher der Wissenschaft die Auf- gabe, durch eine gründHche Prüfung der noch erhaltenen Monumente diese Lücke so weit als möglich zu ergänzen.

Erhaltene Werke.

Wie bereits bemerkt, kommen in der Sculptur dieser Periode eben so wenig wie in der Architektur sofort neue Principien zur Geltung. Man ist zunächst beschäftigt, die gegebenen Anfänge zu entwickeln und auszubilden. Doch wächst im weiteren Verlaufe die Mannigfaltig-keit der einzelnen Erscheinungen, und es mehren sich damit die Schwierigkeiten, sie übersichtlich zu gruppiren. Dazu kommt, dass das Material der Untersuchung nicht nur lückenhaft, sondern auch sehr ungleichartig vertheilt ist. Es empfiehlt sich daher auch hier, zuerst ganz äusserlich statuarische Werke und Reliefs zu scheiden und durch eine Prüfung des Einzelnen eine Reihe von Thatsachen, V erwandtschaften und Gegensätzen festzustellen. Erst auf solcher Grundlage wird es gelingen, die einzelnen Beobachtungen unter all- gemeineren künstlerischen und historischen Gesichtspunkten zu sammeln und zu ordnen.

A. Statuarische Werke. Charakteristische Beispiele verschiedenen Ursprungs. In den Anfang dieser Periode gehört ein kolossaler weiblicher AFarmorkopf, der, von unbekannter Herkunft, lange Zeit in der Villa Ludovisi^) unbeachtet gebheben ist (Mon. d. Inst. X, i).'^). Der Abschnitt am Halse zeigt, dass er ursprüngfich in eine Statue einge- lassen war, die nach den Verhältnissen des Kopfes etwa doppelte Lebensgrösse haben musste. Da der Gesammteindruck zwischen dem eines Mädchens und einer Matrone etwa die Mitte hält, die kolossale Grösse aber eine Göttin höheren Ranges voraussetzen lässt, so darf

^) Nunmehr Museo Boncompagni : Heibig, Führer II, No. 876.

2) I5r.-Br. 223. Der Stil verweist den Kopf in etwas jüngere Zeit, als oben angegeben.

Erhaltene Werke.

vielleicht das breite Band, welches das Haar umschlingt, als das die spätere Krone ersetzende Attribut einer Hera betrachtet werden. Im künstlerischen Charakter macht sich zuerst die Einfachheit in der Be- handlung der dominirenden Linien und Flächen geltend. Die Schädel- bildung tritt in klarer Rundung hervor; das hinten herabfallende Haar ist in einer glatten Masse zusammengehalten, in welcher der wellige Charakter nur durch eingeschnittene Linien angedeutet ist. Auch die einzelnen schneckenförmigen Locken auf der Stirn, unter welchen ursprünglich noch ein Kranz von Drahtlöckchen herumlief, ordnen sich einer einheitlichen Gesammtanlage unter. In grossen Linien ist das Oval des Gesichts, sind die Augenbrauen, der Nasen- rücken umschrieben, und aus den von ihnen umgrenzten Flächen der Stirn und der Wangen treten in bestimmter Zeichnung, aber wenig gerundetem Relief Augen und Mund hervor. Wir haben es hier mit einem Künstler zu thun, der von den mathematisch-architektonischen Grundlagen des Körpers ausgeht und für den das weitere Detail nur in seiner Beziehung zu diesen Grundlagen Geltung hatte. Und inner- halb des gewollten Stiles hat er sein Ziel erreicht, nirgends zeigt sich Ungeschick oder Plumpheit. In Harmonie mit der einfachen Anlage ist das Einzelne so entwickelt, dass trotzdem die Flächen und Linien nirgends hart und leer erscheinen, sondern durch einige weichere Züge in der Umgebung des Mundes sich ein Zug von Anmuth über das Ganze verbreitet. Es ist wahr, nur in leisen Anklängen zeigt sich das Streben, mehr zu individualisiren. Ja durch diese Zurückhaltung bei sonstiger Sicherheit der Ausführung bildet das Werk fast eben so sehr den Abschluss der vorigen Periode, als den Anfang einer neuen; aber erst die Erfüllung eines bestimmten Maasses von Forderungen gewährte die Möglichkeit, zur Lösung neuer Aufgaben mit Sicherheit vorzuschreiten.

Einen lehrreichen Gegensatz zu diesem Werke bildet ein etwa lebensgrosser marmorner Pallaskopf von der Akropolis in Athen^). Es ist schwer, bei der ersten Betrachtung in ihm die Spuren jenes Charakters zu finden, der in Literatur und Kunst als Atticismus be- zeichnet wird, was freilich in gleichem Maasse von den ältesten schweren Pallasköpfen der attischen Münzen gilt. Wir erhalten zu- nächst den Eindruck einer etwas unbestimmten Weichheit. Breit und

^) 'E(pt),u. dpx- 1883, T. 4. Rn. erinnert an die 1882 erfolgte Auffindung weiterer Körperpartieen und die wahrscheinliche Zugehörigkeit der Figur zu einer die Gigantomachie darstellenden Giebelgruppe: Ath. Mitth. XI, 1886, S. 185 ff. (Studniczka).

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in rundlichen Formen sitzt der Kopf auf dem dicken Halse, die Aug- äpfel treten stark hervor, dagegen sind die Augenlider weniger scharf betont. Die Haare erscheinen wie dicke, nebeneinander liegende Fäden. Ueberall macht sich hier eine verschiedene Grundanschauung geltend. Der Künstler ging nicht, wie der des ludovisischen Kopfes, von dem festen Gerüst der Schädelbildung aus, sondern sein Augen- merk richtete sich mehr auf die dieses Gerüst umkleidenden beweg- licheren Formen. Er will Fleisch darstellen, bedeckt von weicher, geschmeidiger Haut. Das ist ihm auch gelungen, jedoch nur in so weit, als es sich um das Erfassen der physischen Eigenthümlichkeiten handelt. Wie aber in den nach innen schielenden Augen und den zum Lächeln verzogenen Mundwinkeln sich zunächst nur eine unbe- wusste Gutmüthigkeit des Naturells ausspricht, so bedürfen überhaupt noch alle Formen der Läuterung geistiger Durcharbeitung, um die Träger eines bestimmten Charakters zu werden.

Wiederum einen Gegensatz ganz anderer Art bietet der Bronze- kopf eines Jünglings aus Herculaneum dar (Mon. d. Inst. IX, i8),^) der durch eine um das ganze Haupt gelegte Flechte und durch Reihen zierlicher, einzeln angesetzter Drahtlöckchen über der ganzen Breite der Stirne einen eigenthümlichen Charakter erhält. Es lässt sich nicht sicher entscheiden, ob er ein echt archaisches Werk ist. Da jedoch Copieen in Bronze am einfachsten durch Abguss hergestellt werden, so würde sich eine Verschiedenheit von dem Originale höchstens in der Ueberarbeitung durch die Ciselirung zeigen können. In seiner Grundauffassung ist dieser Kopf dem ludovisischen gewiss verwandter, als dem der Athene, ja wir haben hier bereits einen bestimmt aus- geprägten Typus vor uns: ein schmales Gesicht, an dem die langen untern Partieen ihr Gegengewicht nicht in der niedrigen, von Locken bedeckten Stirn, sondern in dem über der Stirn noch stark nach hinten ansteigenden Schädel finden. Aber den breiten Flächen des ludovi- sischen Kopfes gegenüber erscheint nicht nur die Anlage mager, sondern recht im Gegensatze zu diesem sind die Formen sehr scharf gezeichnet. Am Ansätze des Halses treten das Schlüsselbein und die Halsmuskeln knochig und sehnig hervor; im Gesicht sind die einzelnen Flächen scharf und unvermittelt gegen einander gesetzt; so die Seiten der Wangen gegen die vorderen Flächen des Gesichts und des Kinns. Ebenso sind Lippen und Augen scharf umschrieben und die Augen-

Rayet, Mon. de l'art ant., pl. 2Ö.

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brauen sogar durch einen hervortretenden Rand bezeichnet. Zur Er- klärung dieser Behandlung würde es nicht genügen, auf den Unter- schied zwischen den weicheren und allgemeineren Formen des weib- lichen Geschlechtes und den strengeren eines Jünghngs hinzuweisen. Sie beruht zum grössten Theil auf der Natur des Materials, dessen Bedeutung hier noch schärfer als früher ins Auge gefasst werden muss. Es sind vornehmlich zwei Eigenschaften, durch welche die Bronze in einen bestimmten Gegensatz zum Marmor tritt. Ihrer Natur nach nicht von körnigem und brüchigem Gefüge wie der Marmor, sondern ein fester, homogener und dehnbarer Körper, ge- stattet und fordert die Bronze in Bezeichnung und Ausbildung der einzelnen Formen grössere Feinheit und Präcision. Während sodann die durchscheinende Oberfläche des Marmors einen Theil des Lichtes einsaugt und die Schattenwirkung durch die Rundung der Flächen, durch den Gegensatz von Höhen und Tiefen hervorgebracht wird, wirft die metallische Oberfläche das Licht zurück und verlangt, dass nicht durch die einfache Rundung, sondern durch scharfe Begrenz- ungen oder Brechungen der Flächen bestimmte Reflexe hervor- gerufen werden. Auf solche Reflexe ist offenbar die ganze Behand- lung des herculanensischen Kopfes berechnet, wie andererseits die pfropfenzieherartige Gestalt der Locken auf der zuerst betrachteten Eigenschaft der Bronze beruht. Die Uebertreibungen und Einseitig- keiten nach beiden Seiten hin werden wir einem Künstler alter Zeit eher zum Lobe als zum Tadel anrechnen müssen, insofern sie beweisen, dass das Wesen des Bronzestils im Princip bereits richtig erkannt ist.

So charakterisiren sich in den drei beschriebenen Köpfen drei sehr verschiedene Kunstrichtungen ; ja wir würden schon von Schulen sprechen können, wenn wir darüber unterrichtet wären, an w^elchen Orten ein jedes dieser Werke entstanden ist. Da dies nicht der Fall ist, so werden die folgenden Monumente nur nach ihren künstlerischen Analogien ihnen angereiht werden können.

Der herculanensische Kopf, vielleicht ein Apollo, darf uns an die Statuen dieses Gottes aus der vorigen Periode erinnern, an welche sich die ersten Versuche einer künstlerischen Durchbildung der Jüng- lingsgestalt knüpften. Dass man schon damals von dem ersten Typus mit herabhängenden Armen zum zweiten mit halb erhobenem Unter- arm und vorgestreckten Händen fortgeschritten war, zeigte der delische Apollo des Tektaios und Angelion. Jetzt scheint dieses vSchema das herrschende geworden zu sein. Der bekannteste Repräsentant des-

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selben war der schon kurz erwähnte milesische Apollo des Kanachos, der einen Theil seines Ruhmes vielleicht dem Geschicke verdankte, dass er zur Zeit des Xerxes nach Ekbatana entführt^), erst von Seleukos Nikator den Milesiern zurückerstattet wurde (Paus. VIII, 46,3; I, 16,3). Nach milesischen Münzen hielt der Gott in der Linken den Bogen, auf der Rechten einen kleinen Hirsch, und ihrer Autorität gegenüber werden wir eine unklare Notiz bei Plinius unberücksichtigt lassen, der zufolge der Hirsch, auf den Hinterbeinen aufgerichtet, stehend vom Gotte an den Vorderläufen gehalten wurde und durch einen Mechanis- mus in Bewegung gesetzt werden konnte. Mit dem Typus der Münzen stimmt eine kleine Bronze des britischen Museums,^) die aber wie andere verwandte Figuren als Nachbildung einer späteren Zeit von den Eigen- thümlichkeiten des Stils im Einzelnen keine genügende Vorstellung zu gewähren vermag. Weit geeigneter, zwar nicht direct den Stil des Kanachos, aber doch den seiner Zeit kennen zu lernen, erscheint eine im Meere bei Piombino gefundene, jetzt im Louvre aufgestellte Bronze- statue von zwei Drittel Lebensgrösse: die Haltung der Arme entspricht den milesischen Münzen und in der geschlossenen Linken konnte sehr wohl der Bogen, auf der geöffneten Rechten der Hirsch Platz finden. Leider geben die Abbildungen in den Mon. d. Inst. I, 58—59 und bei Clarac (Mus. de sculpt. 482 A) einen falschen Begriff von dem künst- lerischen Charakter des Werkes, indem sie den Eindruck einer nach- geahmt alterthümlichen Arbeit machen, während das Werk selbst die Formen echt archaischer Kunst zeigt. ^) Alles ist in diesem härter und schärfer geschnitten. Aber gerade dadurch gibt es sich als die weitere Entvvickelung jener ältesten Marmorsculpturen zu erkennen. Denn es ist nur naturgemäss, dass man das Unbestimmte und Unentwickelte der formalen Behandlung zunächst durch eine zu grosse Bestimmtheit zu überwinden sucht und erst später zu einer Ausgleichung dieser Gegensätze zu gelangen vermag. Wenn man die Beobachtung ge- macht hat, dass der Rücken die Vorderseite an Feinheit der Durch- führung übertreffe, so wird diese Erscheinung wohl ähnlich wie das relative Verdienst an den Beinen des Apollo von Tenea zu erklären

^) Die zuerst von Urlichs ausgesprochene Vermuthung, es sei bei Paus. Xerxes mit Dareios verwechselt und die Statue vielmehr schon unter Dareios Ol. 71, 3 494 v. Chr. (vgl. Ilerod. VI, 19) entführt worden, ist von dem Verfasser (s. die oben S. 67 citirten Streit- schriften) unberücksichtigt geblieben.

^) Spec. of anc. sculpt. I, pl. 12; Rayet et Thomas, Milet, pl. 28, 2.

3) Inzwischen wiederholt veröffentlicht, so bei Rayet, Milet, pl. 29, auch Br.-Er., T. 78.

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sein: auch am Rücken nämlich treten die Formen in klarerer Sonder- ung an die Oberfläche, als an der Vorderseite und erleichtern dadurch das Verständniss. Wir erkennen aber daraus, wie der Künstler sein Augenmerk fortwährend auf die Natur gerichtet hat, wie er Schritt für Schritt das Verständniss der einzelnen Theile aufschliesst, und wie er mit der Kenntniss des Einzelnen immer mehr in das Verständniss des Zusammenhanges, der ineinander greifenden Thätigkeit der Theile einzudringen sucht. Von verwandter Art ist eine noch nicht publicirte Bronzestatue eines nackten Jünglings im Palast Sciarra in Rom; vgl. Arch. Anz. 1863, S. 122.1)

Auf dem Wege zu immer weiterer Vollendung muss sich zuweilen das Bedürfniss gewisser Ruhepunkte geltend machen: ehe man einen neuen Schritt vorwärts wagt, wird sich besonders ein Künstler in gereifterem Alter daran genügen lassen, eine relative Vollendung, eine harmonische Abrundung innerhalb der Grenzen der bereits geltenden Principien zu erstreben und zu erreichen. In der befriedigenden Lösung der so gestellten Aufgabe beruht das Verdienst eines Marmortorso von 1,02 m Höhe, der aus dem Besitz des Lord Strangford in das britische Museum übergegangen ist. ^) Leider ist der Fundort un- bekannt, und ebenso lässt der Mangel der Arme und Attribute keine bestimmte Entscheidung über die Benennung zu, wenn auch künstlerisch die Gestalt sich ganz den bisher betrachteten Apollotypen anschliesst. Der Kopf, obwohl etwas runder in der Anlage des Gesichts, zeigt doch in seiner relativen Kleinheit, im Verhältniss des unteren Theiles zum oberen, in der kräftigen Bildung der Backenknochen, in der scharfen Markirung des Oberaugenhöhlenrandes, so wie in Schnitt und Bildung von Auge und Mund eine Art Familienähnlichkeit mit dem Bronze- kopf von Herculaneum. Indem aber diese Verwandtschaft in allen den Besonderheiten aufhört, welche in der Bronze durch die Natur des Materials bedingt sind, nähert er sich zugleich nicht nur in der tech- nischen Ausführung der Locken und des Haares, sondern auch in der Auffassung der Formen und Flächen dem ludo visischen Kopfe. Es ist hier ein bestimmter Typus gegeben, aber indem unser fortgeschritteneres Auge schliesslich doch den Mangel wirklichen geistigen Ausdrucks empfindet, dessen Darstellung dem Künstler damals noch versagt blieb,

^) Rn. : Rom. Mitth. II, 1887, T. 4 5. [Die Statue befindet sich jetzt in der Glypto- thek Ny-Carlsberg bei Kopenhagen.]

2) iMon. d. Inst. IX, 41; Rayet et Thomas, Milet, pl. 28; Br.-Br. 51. Analyse bereits veröffentlicht: Münchn. Sitzungsber. 1872, S. 529 ff.

Bninn, Gr. Kunstgeschichte 1 1. 12

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tritt sein Verdienst weit unbedingter in der formalen Ausbildung des Körpers hervor. Wo in früheren Versuchen sich ein mehr äusserliches Tasten zeigte, um die allgemeinen Verhältnisse der Natur annähernd festzustellen, da finden wir hier ein auf eingehender Beobachtung beruhendes Erkennen. Vor allem ist die Bedeutung des Knochen- gerüstes klar erkannt und es sind die Punkte und Linien richtig gestellt, wo dasselbe am unmittelbarsten an die Oberfläche tritc. Von der Halsgrube löst sich nach beiden Seiten das Schlüsselbein und fixirt die Schulterhöhe, von der aus der Arm seine bestimmte Richtung und Lage erhält. Deuthch tritt die MittelHnie des Brustbeines, ja sogar die sogenannte Handhabe an demselben hervor; vom unteren Ende an setzen sich die Begrenzungen des Brustkorbes nach unter- wärts bestimmt ab, während seitwärts die Rippen ohne Schärfe zu Tage treten. Während nun die Verbindung zwischen dem oberen und dem unteren Theile des Skeletts durch die Wirbelsäule gegeben ist, die nur auf dem Rücken, nicht mehr starr, sondern schon in be- wegter Schlangenlinie hervortritt, bestimmt sich jetzt die Formation des unteren Theiles nach den äusseren Rändern des Beckens (dem Darmbeinkamm), das jetzt in normalerem Verhältnisse zur Schulter- höhe entwickelt ist und nun auch erst eine richtige Verbindung mit den Schenkelknochen ermöglicht. Auf dieser Grundlage breitet sich wiederum das ganze System der Muskeln übersichtlich aus. Wir verfolgen die grossen Brustmuskeln in ihren Ansätzen, wie in ihrer Masse; wir erkennen den durch die Rippen geflochtenen Sägemuskel; wir unterscheiden an der Bauchdecke die senkrechte mittlere Bauch- linie, wie die doppelten horizontalen Einschnürungen; und nur die etwas flache Behandlung der Bauchrundung erinnert noch leise an die frühere Dürftigkeit dieser Partieen. Die Schenkel haben durch Zer- theilung und Gliederung der Massen ihren früheren Charakter über- mässiger Schwere, aber nicht den Charakter kräftiger Entwickelung verloren; erst jetzt gewinnen wir einen richtigen Begriff von den Functionen, zu deren Erfüllung eine jede Form bestimmt und befähigt ist. Ueberau zeigt sich dabei weise Beschränkung auf das Wesentliche, verbunden mit einer richtigen Würdigung des Materials. Denn bei aller Deutlichkeit in der Darlegung der Formen hat der Künstler es verstanden, für ihre Verbindungen und Uebcrgänge eine Vermittelung in der Weichheit des Marmors zu finden, ohne dabei die Formen selbst zu verweichlichen. Dem früher betrachteten Pallaskopfe gegenüber sehen wir hier überall nicht ein blosses physisches Wachsthum und

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müheloses Gedeihen, sondern ein System durch strenge und regelmässige Uebungen durchgearbeiteter Formen. Wohl dürfen wir zugeben, dass durch genaue Wiedergabe aller Sehnen und Adern eine noch weitere Verfeinerung der Ausführung möglich wäre, dass eine eingehende Berücksichtigung der verschiedenartigen Natur der Haut und der unter ihnen liegenden Fetttheile den Schein der Natürlichkeit steigern würde, dass vor allem in der Fügung der Glieder das rhythmische Element der Bewegung noch nicht zur Entwickelung gelangt, überhaupt die strengen Formen noch nicht völlig von Leben durchdrungen sind. Aber wir sind nicht berechtigt, Forderungen zu stellen, welche sich der Künstler selbst noch nicht stellen wollte. Nach den vagen und individuellen Versuchen der älteren Zeit war es seine Aufgabe, eine Reihe von fundamentalen Principien regelrecht durchzubilden. Er beschränkt sich auf die Darstellung des Knochenbaues und der Muskeln als der Träger und Werkzeuge thätigen Lebens, gelangt aber hier zu einem gewissen Abschluss, und erst jetzt können wir sagen, dass die griechische Kunst ihre systematische, schulgerechte Grundlage gewonnen hat. Wenn den Künstlern der vorigen Periode immer der Ruhm des ersten Erfindens bleiben wird, so werden wir die Bedeutung von Männern wie Kallon und Hegesias, in deren Werken die Alten den ausgeprägten archaischen Stil erkannten, gerade an Arbeiten wie dem Strangford'schen Marmor am besten zu ermessen vermögen.

Durch ein günstiges Geschick sind wir aber hier nicht auf dieses Werk allein beschränkt. Schon eine oberflächliche Vergleichung zeigt, dass der Strangford'sche Marmor den ungesuchtesten Uebergang zur Betrachtung der äginetischen Bildwerke darbietet. An ihnen haben wir Gelegenheit, dieselbe Stufe körperlicher Durchbildung, die wir zu- erst an der Gestalt in ruhiger Haltung kennen gelernt, nun auch in der lebendigen Action zu beobachten. Ein so umfangreiches Werk, das bedeutendste, welches wir überhaupt aus der Zeit der archaischen Kunst besitzen, verlangt indessen unter verschiedenen Gesichtspunkten geprüft und gewürdigt zu werden.

Giebelgruppen des äginetischen Athenetempels. ^) Die äginetischen Bildwerke, welche jetzt den werthvollsten Schmuck der Glyptothek in München bilden, wurden im Jahre 181 1 auf der Ostseite der Insel Aegina in den Ruinen eines Tempels aufgefunden, dessen Giebel sie einst zierten. Eine in scherzhafter Absicht gefälschte

1) Br.-Br. 23 28, 121. Vgl. Brunn, Beschreib, d. Glyptoth. 5, S. 66 f.

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Inschrift war die Veranlassung, dass man denselben anfangs für den Tempel des Zeus Panhellenios hielt. Doch führte der Umstand, dass in beiden Giebelgruppen das Bild der Athene die Mitte einnahm, bald auf die richtige Benennung. Die weitere Bestätigung lieferte ein noch jetzt in der Nähe der Ruinen befindlicher Stein, der zufolge seiner Inschrift die „Grenze des Tempelbezirkes der Athene" bezeichnete (vgl. Ross, arch. Aufs. I, 241).!) 1812 wurden die Bildwerke in ihrem sehr fragmentirten Zustande im Auftrage des damaligen Kronprinzen Ludwig von Bayern durch J. M. Wagner erworben und in den folgenden Jahren unter dessen Beirath in Rom von Thorwaldsen, so weit es möglich war, zusammengesetzt und stilgemäss ergänzt. Um hiervon den minder wichtigen Sculpturen der Akroterien, sogenannten Spesfiguren und Greifen, abzusehen, so liess sich die Gruppe des hinteren westlichen Giebels bis auf die eine Figur des vorgebeugten Jünglings, der nach den Füssen eines Gefallenen greift, vollständig 2) herstellen, von der vorderen östlichen Gruppe dagegen kaum die Hälfte, nämlich nur fünf Figuren. Aus der Prüfung zahlreicher Fragmente ergibt sich indessen, dass die Compositionen beider Giebel sich in der Zahl der Figuren, wie in den Hauptmotiven der Handlung ziemlich streng ent- sprechen mussten. Vor den Füssen der Athena, die nicht als Theil- nehmerin, sondern als oberste Lenkerin des Kampfes die Mitte ein- nimmt, ist ein Krieger gefallen, dessen sich ein unbewaffneter Jüngling zu bemächtigen sucht, während ein anstürmender und ein knieender Lanzenkämpfer und ein Bogenschütz auf jeder Seite sich in lebhaftem Kampfe den Besitz des Gefallenen streitig machen. Je ein Schwer- verwundeter als Opfer des Streites dient, die Composition nach den Ecken des Giebels abzuschliessen.

Wir sind daran gewöhnt, dass Marmorstatuen an ihren unteren Theilen, sofern nicht durch lange Bekleidung weitere Fürsorge über- flüssig wird, eine Verstärkung durch Baumstämme oder anderes Beiwerk erhalten. Die äginetischen Figuren, aus parischem Marmor gearbeitet, stehen auf dünnen Platten ; mehrere von ihnen schreiten weit aus ; ihre Arme sind mit schweren Schilden belastet, und doch haben sie kaum in mehr als einem einzigen Fall einer künstlichen Stütze bedurft. Die materiellen Schwierigkeiten der Technik sind also hier völlig über-

1) Rn. Arch. Zeit. 1873, S. 58; Ath. Mitth. 1889, S. 118 f.

■'') Rn.: Prachov, Ann. d. Inst. 1873, p. 140 ff., Mon. d. Inst. IX, T. 59 [Nachweis, dass jede Gruppe nicht einen, sondern zwei vorgebückt Zugreifende enthielt, also auch in der Westgruppe noch 2 Figuren zu ergänzen sind].

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wunden; ja man darf fast behaupten, dass in der Kühnheit des Auf- baues dem gebrechlichen Marmor beinahe zu viel zugemuthet ist. Dass hier das Vorbild und der Wetteifer mit der Bronze einen ent- scheidenden Einfluss ausgeübt hat, darf um so zuversichtlicher behauptet werden, als mit der Freiheit der Anlage eine Art der Durchbildung des Einzelnen verbunden ist, wie sie weniger dem Marmor- als dem Bronzestil eigenthümlich ist und sich fast nur in einer Kunstschule erklären lässt, welche an Bronze gewöhnt nur ausnahmsweise in Marmor arbeitet. Die antiken Erzbildner suchten nicht, wie die heutigen, ihren Ruhm darin, ganze Statuen, ja nicht einmal kleinere Figuren in ungetheiltem Gusse herzustellen: der Kopf, die Arme, auch die Beine wurden meist vom Rumpfe getrennt gegossen; ausserdem aber wurde eine Reihe von kleineren Einzelheiten separat gearbeitet und angesetzt. Dieses letztere Verfahren ist nun bei den äginetischen Marmoren in um- fassendster "Weise in Anwendung gebracht, wie sich aus der Beob- achtung der vielen an ihnen bemerkbaren Löcher, Stifte und Zapfen ergibt. Nicht nur grosse Stücke, wie Schilde und Helmbüsche, waren abgesondert gearbeitet, sondern auch Backenklappen, Nasenschilde an den Helmen, Nackenschilde und Achselklappen an den Harnischen, die Köcher, die Schlangenköpfe an der Aegis wurden einzeln angefügt; ja selbst die Haartour der Athene ist in gleicher Weise künstlich auf- gesetzt. Damit nicht genug, wurden noch viele andere jetzt fehlende Zu- thaten geradezu in Metall ausgeführt, nicht etwa nur freistehende Attribute, wie Lanzen und Schwerter, sondern auch die Wehrgehenke, Köcherbänder, Panzerschnüre, ferner verschiedene aufgesetzte Verzierungen an Helmen und Schilden, die Ohrringe, das Gorgoneion auf der Aegis. Sogar die Haare waren an mehreren Figuren aus Metall gebildet, ja was noch auf- fälliger ist, an einigen zum Theil aus Marmor und zum Theil aus Metall.

Da durch dieses Verfahren die materielle Arbeit an vielen Stellen eher vermehrt als vermindert wurde, so können wir nur annehmen, dass es mit der sonstigen Auffassung und Behandlung der Form in einem engeren innerlichen Zusammenhange steht. Es darf daher nicht für Zufall gelten, dass an dem östlichen Giebel besonders die kleineren Bronzezuthaten einigermassen beschränkt worden sind; wir müssen uns dadurch vielmehr veranlasst sehen zu prüfen, ob nicht mit dieser Beschränkung noch weitere stilistische Unterschiede in der Ausführung beider Giebelgruppen Hand in Hand gehen.

In der That lässt sich nicht verkennen, dass in der W e s t - gruppe der Schärfe und Subtilität der Technik auch eine grosse

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Knappheit der Form, eine grosse Schlankheit der Gestalten entspricht, die sich besonders in der Bildung der Extremitäten fühlbar macht. Hände und Füsse sind mit einer ins Kleine, bis auf die Ansätze der Nägel sich erstreckenden Sorgfalt streng und sauber ausgearbeitet. Unterarme und Unterschenkel zeigen besonders gegen die Gelenke zu eine fast an Magerkeit streifende Feinheit, so dass es daneben weniger in die Augen fällt, wenn die Arme im Ganzen eher etwas zu kurz als zu lang ausgefallen sind. In der strengen formalen Durch- bildung aber verrathen die Körper die auffallendste Verwandtschaft mit dem Strangford'schen Marmor. Nicht nur in den allgemeinen Ver- hältnissen, z. B. der Schultern zu den noch etwas schmalen Hüften, tritt uns dieselbe entgegen, sondern namentlich darin, dass in dem gleichen Umfange und in der gleichen Beschränkung der Knochen- bau und die Muskelbildung betont sind. Wir finden dieselbe etwas magere Behandlung der Rippen und gesägten Muskeln, die klare und übersichtliche Gliederung und Umschreibung der Brust- und Bauch- muskeln, die wohlgestalteten Beine und sauber ausgearbeiteten Kniee, alles in der nämlichen relativ vollkommenen formalen Correctheit, aber auch noch ohne das vollere, schwellende Leben. Nicht genug: wir begegnen sogar einer auffallenden Uebereinstimmung in gewissen Anomalien. Wagner ^) macht darauf aufmerksam, dass der schwert- förmige Brustknorpel, welcher in der Natur nur bei starker Rück- beugung hervortrete, bei den Aegineten stets mehr oder weniger sichtbar werde, ferner dass die horizontale Einschnürung des geraden Muskels, welcher von dem Ende der Brust gegen den Nabel per- pendiculär herunterläuft, hier die untere Abtheilung desselben grösser oder doch eben so gross erscheinen lasse, als die obere, während sonst in der Kunst das umgekehrte Verhältniss gebräuchlich sei. Diese Eigenthümlichkeiten, welche an den verschiedenen Figuren der Ost- gruppe nach und nach verschwinden und ebenso andern archaischen Werken, wie dem athenischen Kalbträger (S. 193) und der Tux'schen Bronze (S. 249), fremd sind, die wir also bis jetzt nur an dem ägi- netischen Stil und an diesem nur auf einer bestimmten Stufe kennen, kehren auch bei dem Strangford'schen Marmor wieder, so dass wir nicht umhin können, denselben für ein Werk aus der gleichen Schule und der gleichen Zeit zu halten \ wenn nicht auch derselben Hand, so ist diese Zurückhaltung durch die Rücksicht auf den Kopf geboten.

^) J. M. Wagner, Bericht über die äginetischen Giebelgruppen. Mit kunstgeschicht- lichen Anmerkungen von Schelling, München 1817.

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Formal ist zwar auch hier in der Behandlung des Haares und der Locken, in der materiellen Behandlung des Einzelnen, wie des Schnittes der Lippen, der Stirnknochen die Verwandtschaft unverkennbar. Da- gegen lässt sich ein Unterschied in der gesammten Anlage und Auf- fassung nicht leugnen. Das Gesicht des Strangford'schen Jünglings ist runder; die Stellung der Augen und des Mundes so ziemlich horizontal ; der Ausdruck bei einem leisen Zuge zur Freundlichkeit im Grunde gleichgültig. Bei den Aegineten dagegen begegnen wir jenem eigenthümlichen Schnitt, der seit ihrer Entdeckung bis jetzt aut den Beschauer einen fast verwirrenden Eindruck gemacht hat. Die Augen sind sehr hervorliegend und etwas „chinesisch" gestellt, d. h. die äusseren Winkel etwas nach oben, die inneren nach unten gezogen, während die Nase durch die Herabsenkung des Stirnknochens gegen die Nasenwurzel in ihrem Verhältniss etwas zu kurz erscheint und die Mundwinkel den Augen entsprechend wieder nach oben gezogen sind. Das auf diesen Formen beruhende „äginetische Lächeln" ist fast sprüchwörtlich geworden, und im Hinblick darauf galt bisher allgemein die Ansicht, dass die Köpfe der Aegineten im geistigen Ausdrucke hinter der Vollendung der Körper weit zurückständen. Dennoch wird die Frage gestattet sein, ob dies wirklich der Fall ist. Wir werden den Eigenthümlichkeiten eines archaischen Werkes schwer volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen im Stande sein, wenn wir es mit einem an die vollendete Kunst gewöhnten Auge messen wollen. Statt vorwärts müssen wir vielmehr rückwärts blicken. Die Apollostatuen der vorigen Periode zeigen uns die Menschengestalt, den Kopf mit eingeschlossen, in der allgemeinsten, unentwickeltsten Anlage. Nach und nach fängt man an, die einzelnen Formen zu scheiden und be- stimmter zu umschreiben. Wie wir gesehen, ist dieser Läuterungs- process in den Aegineten innerhalb bestimmter Grenzen vollendet : der Läuterungsprocess der Form. In der Form ist aber auch der Kopf dem Körper durchaus gefolgt : in der Schädelbildung, in der Angabe der Muskeln lässt sich auch hier der gewaltige Fortschritt gegen früher nicht verkennen. Wie aber verhält es sich mit dem inneren Leben der Gestalten ? Sie sind allerdings in lebhafter äusserer Action, aber da die Bewegungen vom Künstler aufgefasst sind, als seien sie in einem bestimmten Tempo, in bestimmten Absätzen commandirt, so erscheinen sie wenigstens momentan fixirt und die Muskeln, wenn auch gespannt, doch nicht fliessend bewegt. Selbst die Adern, die aus- nahmsweise an einigen schwer belasteten Armen sichtbar werden.

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machen den Eindruck, als träten sie mehr durch eine Stockung des Bkites, als durch lebendiges Pulsiren hervor. Genug: die Gestalten bieten das Bild eines gesetzmässig arbeitenden Mechanismus, in dem das Verhältniss und die Function der einzelnen Theile klar und richtig abgewogen ist, nicht aber das Bild eines aus freiem Antriebe von innen heraus wirkenden Organismus. Wie verhalten sich nun zu diesen Gestalten die Köpfe ? Indem der Künstler nach dem Aus- drucke einer gewissen Anmuth strebt, indem er einen, w^enn auch schwachen Versuch macht, die WeichUchkeit im Charakter des asiatischen Bogenschützen oder den Schmerz der Verwundung in der einen Eckfigur andeutungsweise auszudrücken, bleibt er an den Köpfen nicht hinter den Körpern zurück ; er geht vielmehr im Princip über sie hinaus und schafft dadurch einen Contrast, der allerdings auf uns verwirrend wirken muss; er beherrscht nämlich das neue Princip, welches er in den Köpfen zur Geltung bringen will, durchaus noch nicht in demselben Maasse, wie das alte, in welchem er sich bei der Darstellung der Körper mit voller Sicherheit bewegte. Man gebe den Statuen Köpfe von einem mehr gleichgültigen Ausdrucke, etwa wie im Strangford'schen Marmor, und wir w^erden den bisherigen AViderspruch nicht mehr empfinden. Man versuche dagegen, den Köpfen einen wirklich vollendeteren geistigen Ausdruck zu geben, und die Wirkung wird eine unerwartete, gerade entgegengesetzte sein : was wir bisher bewunderten, wird im Werthe sinken ; wir werden an den Körpern nicht die relative Vollendung, sondern nur die Be- schränkung in dem Principe ihrer Bildung empfinden.

Etwas anders müssen wir über die Gestalt der Athena urtheilen. Die alterthümhche Reliefstellung ihrer Füsse mag zum Teil durch die Enge des Raumes bedingt sein ; doch bleibt auch sonst ein Rest von conventioneller Starrheit in der ganzen Haltung, der in einem gewnssen Widerspruche mit der Bewegung der übrigen Figuren steht. Es liegt hier nahe, an hieratischen Zwang zu denken, der ein Festhalten an den durch die Religion geheiligten Formen geboten habe. Doch fragt es sich, ob nicht auch in diesem Falle der Zwang nur in der eigenen Anschauung des Künstlers lag, in der Erinnerung an die Erscheinung der Göttin nicht in lebendiger Phantasie, sondern in den hergebrachten Formen ihres Bildes. Jedenfalls steht auch diese Statue in der Aus- führung hinter den übrigen nicht zurück, selbst nicht in der scheinbar so steifen Gewandung. Auch hier werden wir wieder nicht vorwärts, sondern rückwärts zu blicken haben, wo sich uns zunächst die Reliefs

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des Harpyienmonuments zur Vergleichung darbieten. In ihnen ist das System der Gewandbehandlung in seinen Hauptgrundlagen bereits gegeben. Aber die scheinbare Weichheit und Freiheit wird uns gegen- über der Athena fast als Rohheit oder Plumpheit erscheinen. Die Scheidung zwischen den künstlich gelegten und den durch die Beziehung zum Körper gebildeten Falten ist hier bedeutend verschärft. Wo das Gewand am Körper anliegt, ist es straff angezogen und nur wenige Falten lösen sich von der Höhe der Formen desselben ab, erscheinen aber bereits jede einzeln durch dieselben bedingt. An den gelegten Falten aber bewundern wir nicht nur die Sauberkeit, Schärfe und Präcision der Ausführung, sondern die Vergleichung mit nachgeahmt archaischen Werken zeigt auch, wie trotz des Schematischen der all- gemeinen Anlage die Behandlung nirgends eine äusserlich mechanische ist, sondern wie der Künstler bestrebt ist, das Einzelne, besonders in den Begrenzungen und Rändern, der Natur des Stoffes entsprechend in seinen Formen durchzubilden. Was der Künstler geleistet, ist auch hier innerhalb des gegebenen Princips vortrefflich ; was noch mangelt, das ist dasselbe, was auch in der Bildung der Körper noch nicht er- reicht ist, aber auch noch nicht erstrebt war: das innere, frisch pulsirende Leben, welches allerdings an sich dem todten Stoffe fremd ist, aber auf einer vorgeschritteneren Kunststufe auch ihm in seinen Wirkungen sich mittheilt und gewissermassen in ihm spiegelt.

Dem scharf begrenzten Charakter dieser Sculpturen gegenüber stellen sich die Figuren aus dem Ostgiebel schon dem äusseren all- gemeinen Eindruck nach als Werke einer anderen Hand dar. Wie sie in den wirklichen Maassen um ein Weniges grösser gehalten sind, als die des Westgiebels, so sind sie auch in allen Formen breiter und voller und in ihren gesammten Stellungen etwas weniger gespreizt und mehr in sich abgerundet : sie sind von Anfang weit mehr auf die besondere weichere Natur des Materials, des Marmors, berechnet. Dennoch würde, wenn etw^a nur der vorgebeugte Jüngling erhalten wäre, sich im Uebrigen kaum eine bedeutende Differenz in der be- sonderen stilistischen Behandlung fühlbar machen, indem hier sogar die Absonderlichkeiten im Stil der Westgruppe zum Theil noch bei- behalten sind. Erst durch die Gestalten des Herakles und des Sterbenden wird uns die Bedeutung des Gegensatzes zum klaren Bewusstsein gebracht. Es ist, als ob der Künstler dieser Gruppe noch während der Arbeit wesentliche Fortschritte machte, und da er mit den Figuren in der Mitte begonnen zu haben scheint, so muss das Maass des von

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ihm erreichten Fortschrittes zumeist an den Figuren gemessen werden, die sich in der Nähe der Ecken befanden. Hier zeigt sich nun, dass die bisherigen Schranken nach allen Seiten hin weiter hinausgerückt sind. Um die naturgemässere Behandlung der Gewandung, das natür- lichere Wachsthum von Haar und Bart nur kurz zu berühren, so be- schränkt sich die Darstellung der Körperformen nicht mehr auf Knochen- und Muskelbau, sondern Sehnen, Adern und Haut finden, wenn auch noch nicht durchgängig, aber doch je nach den Umständen bereits eine sehr eingehende Berücksichtigung. Es handelt sich dabei aber keineswegs um eine bloss quantitative Vermehrung des Details, sondern die Adern schwellen, die Muskeln werden vollsaftiger und energischer gespannt, und die Haut erscheint nicht nur als eine äussere Hülle, sondern da- zu bestimmt, die neben- und übereinanderliegenden Muskeln einheitlicher zusammenzufassen und für ihre Thätigkeit im Einzelnen eine mässigende und ausgleichende Schranke zu bilden. Es kommt dadurch ein rhyth- misches Element zur Geltung, welches allmählich auch auf die Fügung und Bewegung der Gelenke Einfluss gewinnen muss, wenn sich auch hier die Spuren der tempomässigen Abgemessenheit nicht sofort voll- ständig verwischen lassen. An den Köpfen ist die conventioneile Stellung der Augen und des Mundes aufgegeben. Herakles blickt scharf auf sein Ziel; an dem Sterbenden aber erkennen wir in dem thränenden Auge, dem scharf nach den Seiten verzogenen Munde, in dem die Zähne sichtbar werden, die Tiefe des Schmerzes und letzten Kampfes.

So geht der Künstler des Ostgiebels im Princip überall über den des Westgiebels hinaus und hat auch innerhalb seines neuen Principes in der Ausführung der letzten seiner Arbeiten bereits einen hohen Grad von Vollkommenheit erreicht. Doch zeigen selbst hier manche Einzelheiten, wie da und dort eine zu scharfe Betonung be- stimmter Details, eine gewisse Härte und Trockenheit z. B. am rechten Handgelenk des Sterbenden, dass er noch nicht zu einer so vollen Sicherheit und Abrundung gelangt ist, wie der Künstler des West- giebels innerhalb der von ihm eingehaltenen Grenzen. Andererseits erscheint aber auch er noch durch gewisse Schranken gebunden, wie sich namentlich durch einen nochmaligen Blick auf den Kopf des Sterbenden zeigen wird. Wir werden hier gewiss nicht sagen, dass dieser Kopf an Vortreff Hchkeit hinter dem Körper zurückstehe : sein Ausdruck und die Art, wie die ganze Gestalt lang hingestreckt ist, dienen sich gewissermassen zur Ergänzung und vereinigen sich zu schöner

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Harmonie. Und doch verräth gerade der Kopf, dass wir uns noch innerhalb der Grenzen streng archaischer Kunst bewegen. Wir em- pfinden, wie das geistige Element in noch herben Formen nach Aus- druck ringt, und werden gerade dadurch aufmerksam gemacht, wie auch im Körper die letzten Bande noch nicht gelöst sind, welche den letzten Schritt auf der Bahn zu voller Freiheit hemmen.

Ziehen wir jetzt das Schlussresultat aus der Vergleichung der beiden Gruppen, so werden wir behaupten dürfen, dass der in sich ab- geschlossene und durchgebildete Stil der Westseite auf einen in Jahren schon vorgerückten, durch lange Erfahrung gereiften, der Stil der Ostseite auf einen jüngeren Künstler hinweist, der dem älteren geistig voraneilend doch noch der Zeit bedarf, die neuen Principien nach allen Seiten hin auch in der Ausführung zu voller Harmonie zu entwickeln. Wir dürfen nun bei dem Stande unseres Wissens aller- dings nicht wagen, die Arbeit des einen und des andern Giebels be- stimmten, uns gerade bekannten Künstlern beizulegen. Wohl aber wird eine Hinweisung darauf gestattet sein, dass das Verhältniss der beiden Gruppen durchaus dem Bilde entspricht, welches wir uns von den Leistungen der beiden Hauptrepräsentanten der äginetischen Kunst, von Kallon und Onatas, machen dürfen. Kallon war offenbar der eigentliche Begründer des specifisch äginetischen strengen Stils; und dass die Figuren der Westgruppe nicht in einem ganz individuellen, sondern eben in einem bestimmten Schulstil gearbeitet sind, lässt sich jetzt nach der Vergleichung des Strangford'schen Marmors noch etwas zuversichtlicher als bisher behaupten. Onatas aber musste nach den Lobsprüchen des Pausanias an der Grenze des Archaismus stehen, aut der sich auch der Künstler der Ostgruppe bewegt. Die Hauptthätig- keit des Kallon dürfen wir in die erste, die des Onatas in die zweite Hälfte der siebziger Olympiaden setzen, so dass die von ihnen reprä- sentirten Stilrichtungen sich gerade in der Mitte einerseits als bereits fest begründet, andererseits als noch in frischer Entwickelung be- griffen begegnen. Gerade in diese Mitte aber fällt die Schlacht bei Salamis, welche durch die Befreiung von der Gefahr der Fremd- herrschaft und den Ehrenpreis der Tapferkeit, welcher hier den Aegineten zu Theil wurde, den reichsten Anlass bot, für den Schutz der Götter durch die Verherrlichung ihrer Heiligthümer sich dankbar zu erweisen.

Es vereinig-en sich somit alle Umstände zu der Annahme, dass der Tempel von Aegina als ein Denkmal des Sieges bei Salamis

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bald nach demselben, zwischen Ol. 75 und 80, errichtet wurde. ^) Der künstlerische Schmuck der Giebel steht damit keineswegs in Wider- spruch. Denn wenn auch z. B. zu den Weihgeschenken der Taren- tiner von Onatas und Ageladas die historischen Thatsachen direct den Stoff lieferten, so ist es doch dem griechischen Geiste nicht minder entsprechend, wie in einem pindarischen Siegesliede den Ruhm der Gegenwart durch die Analogie der Grossthaten einer poetisch-sagen- haften Vergangenheit zu feiern. Auf diese letztere weist zunächst die Gestalt des Herakles im Ostgiebel hin. Indem nun im Westgiebel ebenfalls durch äussere Charakteristik zuvörderst ein asiatischer Bogen- schütz hervortritt, werden wir nach dem Orient, auf den zweimaligen Krieg gegen Troja hingeführt, an dem zwei Generationen äginetischer Helden einen hervorragenden Antheil nahmen. In dem Zuge des Herakles gegen Laomedon war Telamon nicht nur sein vornehmster Begleiter, sondern es wurde ihm sogar der Preis der Tapferkeit zu- erkannt. So passend nun gewiss die Darstellung seiner Heldenthat an einem dem Siegesruhm der Aegineten geweihten Tempel war, so sind wir doch bei dem Zustande dieser Gruppe leider nicht im Stande, diese Deutung im Einzelnen weiter zu verfolgen und zu begründen. Nur das lässt sich aus den Spuren der Verwitterung am Marmor be- weisen, dass Herakles sich nicht, wie gewöhnlich angenommen wird, auf der linken Seite befand, sondern in der Composition dem asia- tischen Bogenschützen der Westseite entsprach, die Hellenen also die rechte Seite des Giebelfeldes einnahmen.

In dem zweiten Kriege gegen Troja treten die Kämpfe um die Leichen des Patroklos und des Achilleus als fast gleich bedeutsame Episoden hervor.^) Es ist nun vielleicht weniger Nachdruck darauf zu legen, dass nach Homer Patroklos seiner Waffen beraubt wurde, der Gefallene des Westgiebels dieselben aber noch besitzt. Dagegen ist bei seinem Tode Paris unbetheiligt, den wir doch nicht blos wegen seines Costüms, sondern auch wegen des Ausdruckes besonderer Weichheit in dem asiatischen Bogenschützen erkennen müssen. Seine Heldenthat ist die Tödtung des Achilleus. Die Leiche dieses dem äginetischen Geschlechte der Aiakiden entsprossenen Helden aber rettet ein anderer Aiakide, nämlich Aias. Demnach erkennen wir in

^) Vgl. Brunn, Ueber das Alter der äginet. Bildwerke: Münchn. Sitzungsber. 1867, I, S. 405 ff.

^) Rn. : Burckhardt, Ueber die äginetischen Giebelgruppen, l'rogr. d. Pädagog. z. Basel, Bas. 1879.

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dem Gefallenen Achilleus, in dem Vorkämpfer der Hellenen Aias, in dem Bogenschützen auf seiner Seite seinen in dieser Kampfart be- rühmten Halbbruder Teukros. Ihr Sieg ist durch die Gegenwart der Schützerin der Hellenen im Allgemeinen und dieser Helden im Be- sonderen, durch Athene verbürgt. Unter den Troern nimmt, von Paris abgesehen, wahrscheinlich Aeneas die erste Stelle ein. Die übrigen Kämpfer und Gefallenen lassen sich nicht bestimmt benennen.

So genügen die vorhandenen Elemente allerdings, um den Inhalt der Compositionen im Allgemeinen zu bestimmen; aber sie zeigen auch zugleich, dass von einer individuellen Entwickelung desselben noch nicht die Rede sein kann. Nur in den beiden Gestalten des Herakles und Paris konnte auf Grundlage der äusseren unterscheidenden Merk- male auch ein erster Versuch zu weiterer Schilderung des Charakters gemacht werden. Aber etwa einen Aias oder Aeneas anders als durch seine Stellung im Kampfe kenntlich zu machen, fehlten noch die Mittel. In richtiger Selbsterkenntniss haben sich daher die Künstler, oder sagen wir lieber zunächst : hat sich der Künstler der Westgruppe darauf beschränkt, den Kampf als solchen und seinen Zweck deutlich vor Augen zu stellen. Wie er in der Behandlung der Körper vorzugs- weise Knochenbau und Muskeln betont, so bietet er uns auch in der Verbindung der Figuren zu einem Ganzen zunächst das Gerüst der Handlung und die klare Abwägung der in der Handlung wirkenden Kräfte. Die sichere Grundlage für eine künstlerische Gestaltung der- selben bietet ihm aber das architektonische Gesetz, dem er seine zur Füllung eines gegebenen Raumes bestimmten Figuren willig unter- ordnet. Freilich gelangt dieses bei der jetzigen Aufstellung der Origi- nale nicht zur Geltung, sondern es ist dazu nöthig, die Figuren in der Weise umzuordnen , dass auf die Vorkämpfer die knieenden Lanzen- kämpfer und erst auf diese die Bogenschützen folgen, wofür ein ganz materieller Beweis z. B. in dem Umstände vorliegt, dass das rechte Bein des Aias von dem Einflüsse der Witterung ganz unberührt ge- blieben ist, indem es ursprünglich durch den Schild des knieenden Kriegers gedeckt war. Durch diese Anordnung^) gewinnt die Compo- sition zunächst sachlich unbedingt an Klarheit und Uebersichtlichkeit : die Hilfskämpfer kauern hinter den Vorkämpfern, um im richtigen Momente ihnen sofort Beistand leisten zu können; die Bogenschützen nehmen dagegen die entfernteren Plätze ein, welche ihrer zum Fern-

^) Vgl. Brunn, Ueber die Composition der Aegineten : Münchn. Sitzungsber. 1868, II, S. 445 fif. Schildt, Giebelgruppen von Aegina, Leipzig 1895, S. 91 fif.

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kämpf bestimmten Waffe mehr entsprachen. Mit ihnen scMiesst die eigenthche Kampfscene scharf ab, und die beiden ausser Kampf ge- setzten Verwundeten in den Ecken sondern sich auch räumlich in bestimmtester Weise von derselben ab. Zugleich aber erscheint die ganze Composition künstlerisch in einem ganz neuen Lichte. Nach den Höhen Verhältnissen der Figuren (an denen allerdings der Helm- busch des griechischen Bogenschützen und die hohe Spitze an der Mütze des Paris wegzufallen hat) entsteht ein wellenförmiges Auf- und Absteigen, eine regelmässige, ja streng mathematische Folge von Hebungen und Senkungen, die von der Ecke beginnend im räum- lichen Centrum gipfeln und sich einheitlich zusammenschliessen. Das Knieen der Figuren wirkt nicht mehr als ein durch den Raum auf- erlegter Zwang, sondern als eine aus freier Wahl in der künstlerischen Benützung des Raumes hervorgegangene Anordnung Aus den Be- wegungen der Figuren aber entwickelt sich ein neuer Rhythmus der Linien, indem sich von den Füssen der die Mitte ruhig beherrschen- den Athena aus die Hauptmassen nach rechts und links in schönen Bogenlinien aufbauen, die bis zu den Häuptern der Vorkämpfer empor-, dann in der Neigung ihrer knieenden Genossen wieder herabsteigen, um in der streng aufrechten Haltung der Bogenschützen nochmals emporzustreben, während in den beiden Gefallenen das Gleichgewicht der beiden Seiten leicht und harmonisch ausschwingt. So stellt sich endlich die gesammte Composition, der griechischen Bezeichnung des Giebelfeldes als „Adler" entsprechend, gewissermassen wie ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln dar.^)

Dass die leider weit unvollständiger erhaltene Ostgruppe in der gesammten Disposition mit der Westgruppe übereinstimmte, ist schon früher bemerkt worden. Doch dürfen wir vermuthen, dass die Ver- schiedenheit der stilistischen Behandlung auch auf das System des architektonischen Aufbaues nicht ganz ohne Einfluss gewesen sein wird.*'') Es wird genügen, an die grössere Breite und Fülle der Formen, an die grössere Geschlossenheit der Stellungen und Bewegungen gegenüber der fast mageren Knappheit der Körper, der Feinheit der Extremitäten und den schärfer markirten Bewegungen der Westseite

^) Rn. : Lange. [Der Verfasser hat Lange's (Berichte d. sächsischen Gesellschaft d. Wissensch. 1878, II, S. i ff.) Annahme von je zwei Vorkämpfern auf Seiten der einzelnen Parteien bekanntermassen nicht gebilligt, so wenig als Julius: Jahrb. f. Philol. 1880, S. i ff.]

2) Rn. : Prachov [durch dessen Untersuchungen die oben ausgesprochene Vermuthung nur bestätigt worden ist].

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ZU erinnern, um zu verstehen, wie hier das ganze Feld des Giebels weit vollständiger angefüllt erscheinen, gewisse Lücken und leere Stellen der Composition beschränkt oder ganz beseitigt sein mussten. Während aber im Westgiebel die F'iguren fast nur dem Zwecke zu dienen scheinen, das Schema der architektonischen, die gesammte Giebeldecoration beherrschenden Linien zur Anschauung zu bringen, werden diese Linien zwar auch hier noch erkennbar, aber doch in ihrer Wirkung nur ein Mittel gewesen sein, um die grösseren Massen, zu denen sich die Figuren zusammenschlössen, zu ordnen und zu gliedern. Wie also in der einzelnen Figur die Herbigkeit eines mechanischen Schematismus einer lebensvolleren Fügung der Glieder und fliessenderen Bewegung gewichen ist, so scheint in ganz gleicher Weise der rein architektonische Grundcharakter der Composition durch das Eindringen frischeren organischen Lebens eine wesentliche Um- bildung oder richtiger eine weitere naturgemässe Entwickelung erfahren zu haben.

Es leuchtet somit ein, wie der Charakter der äginetischen Sculp- turen in sehr wesentlichen Beziehungen durch den Zusammenhang mit der Architektur bedingt war; ja es wird sich sogar über das ganze Gefüge der Linien ein abschliessendes Urtheil erst dann feststellen lassen, wenn man den Versuch gemacht haben wird, die einzelnen Figuren sowohl in der Drehung und Wendung ihrer eigenen vStcllung, wie in ihrem Verhältniss zu den Nachbarfiguren genau der ursprüng- lichen Aufstellung gemäss in einem entsprechenden Räume zu ordnen. Für den Gesammteindruck war indessen auch die Beihülfe einer dritten Kunst, nämlich der Malerei, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Es ist nicht glaublich, dass die früher besprochenen metallischen Zu- thaten überall unvermittelt mit dem weissen Marmor in Verbindung gesetzt gewesen sein sollten ; vielmehr würde schon das Vorkommen von Marmor und Metall an den Haaren eines und desselben Kopfes auf eine Ausgleichung durch künstliche Färbung schliessen lassen, wenn auch nicht sonst mannigfache Spuren von Bemalung, freilich meist nur dadurch nachweisbar wären, dass die Witterung auf die mit Farben bedeckte Oberfläche des Marmors in anderer Weise gewirkt hat, als auf die unbedeckte. Nach dem früher dargelegten System beschränkte sich bei den offenbar nur gebeizten nackten Körpern die Bemalung auf die Augen, die Lippen und das Haar. In vollen Flächen oder breiten Streifen fand dagegen die Farbe an der Bewaffnung und den Gewändern eine ausgedehnte Verwendung. Die Helme scheinen

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blau, die Helmbüsche roth gewesen zu sein ; die Schilde innen roth, aussen, wenigstens am Rande blau, während durch ein kleines Frag- ment auch die Decorirung mit flachem Relief, wohl nur ausnahmsweise, etwa für den Schild der Athena im Ostgiebel, nachweisbar ist. An den Gewändern sind allerdings nur wenige Reste von rother Farbe gefunden worden; es ist aber keinem Zweifel unterworfen, dass z. B. die gesammte enge Bekleidung des Paris, sowie das auf die Füsse herabfallende Gewand der Athena im Ostgiebel vollständig mit Farbe bedeckt war. In farbiger Zeichnung waren die Schuppen der Aegis, die netzförmige Verzierung eines Helmes, die Federn an den Flügeln der als Akroterien dienenden Greife ausgeführt. Dass es bei den Schwertern und Speeren, bei den Buckeln und Nägeln hie und da auch nicht an Vergoldung und Versilberung gefehlt haben wird, darf wenigstens vermuthet werden. Alles aber setzte sich auf dem blauen Grunde des Giebelfeldes ab, welches wiederum in den reich mit Farben decorirten Gesimsen seine architektonische Umrahmung erhielt.

Attische Arbeiten. Nach der Klarheit, die uns in der Ent- wickelung der äginetischen Kunst entgegentrat, machen die statuarischen Arbeiten, welche sich aus dieser Periode in Athen erhalten haben, zuerst einen fast beunruhigenden Eindruck, wobei allerdings in An- schlag zu bringen ist, dass wir nur wenige und vereinzelte Reste besitzen, die ausserdem zumeist den Anfängen dieser Periode anzu- gehören scheinen.^)

Einen weit entschiedeneren Charakter als das Athenebild, das man dem Endoios zuzuschreiben pflegt, trägt ein attisches Werk, das auf der Ostseite der Akropolis schon im Jahre 1864 theilweise gefunden und publicirt (Arch. Zeit. 1864, T. 187) erst später zu einer Statue [Kalbträger] vervollständigt werden konnte. '-^J Obwohl das ge-

^) So Hess sich schreiben um 1870. Heute sind wir dank den ergebnissreichen griech- ischen Ausgrabungen auf der Akropolis (1882 1889) in der Lage, von der archaischen Plastik in Attika so zahlreiche Proben zu haben, wie in keiner anderen Kunstprovinz, Aegina nicht ausgenommen. In Anbetracht dessen ist es hier besonders zu bedauern, dass ein vor- liegender Versuch des Verfassers, den Abschnitt neu zu bearbeiten und mit dem zugewachsenen Material auszustatten, nicht wenigstens so weit gediehen ist, dass er sicher in dessen Sinn hätte ausgeführt werden können.

Auf den einleitenden Satz folgten in dem Ms. ursprünglich jene Athenebilder, welche später von dem Verfasser unter die Denkmäler der vorangehenden Periode eingereiht wurden (s. oben S. i lof.). Heute würde derselbe wohl ein Gleiches mit dem Bilde des Moschophoros thun.

2) Ath. Mitth. XIII, 1888, S. 113 ff. Br.-Br. 6.

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wohnliche Attribut des Hermes der Widder ist, so wird doch die Ge- stalt des Tragenden theils wegen der Bärtigkeit, theils wegen der Bekleidung mit der Chlamys, theils wegen der Art des Tragens nicht wohl als Apollo, der als Nomios sonst wohl ein Kalb als Attribut haben könnte, sondern nur als Hermes zu erklären sein. Denken wir an die älteren Götterbildungen zurück, welche ein Hirschkalb oder ein anderes Thier, ja sogar ganze Gruppen, wie die Grazien, nur zu sym- bolischer Andeutung auf der vorgestreckten Hand trugen, so gewinnen wir hier ein weit lebensvolleres Bild, wo der Gott das Thier in seiner wirklichen Grösse ganz so wie im Leben sich auf die Schultern ge- legt hat, wenn sich auch die Behutsamkeit nicht verkennen lässt, mit welcher die griechische Kunst in ihren Anfängen jeden einzelnen Schritt vorwärts wagt. Noch ist die Gebundenheit der alten Kunst nicht bloss in der Stellung der Füsse beibehalten, sondern auch die Ober- arme liegen noch am Körper an, die Ellenbogen sind ganz symme- trisch gebogen, und die Hände haben das Thier ganz gleichmässig gefasst. Dennoch glauben wir in der Art, wie die Hände gegen die Brust gedrückt sind, wie um das Thier recht sicher zu halten, ein über das blosse Schema der Stellung hinausgehendes Empfinden zu erkennen und gewinnen ausserdem den Eindruck einer relativen Frei- heit dadurch, dass der hintere Theil des Thieres auf die Seite gelegt ist, während Hals und Kopf in aufrechter Lage sich befinden. In den Verhältnissen des Körpers, dem der Schultern zum Halse, in der Knapp- heit der Hüften erinnert noch Manches an die ältesten Apollofiguren, aber die Behandlung der einzelnen Formen beruht auf durchaus ver- änderten Grundanschauungen. Wir werden vielmehr an den alten Pallaskopf von der Akropolis (S. 173) erinnert, wenn auch der an ihm hervorgehobene fleischige Charakter bei dem palästrischen Gotte in etwas anderer Weise zur Geltung kommen muss, wie bei der Göttin. Vor allem macht sich an den Armen eine grosse Fülle der Substanz und Breite der Anlage bemerkbar, die noch dadurch verstärkt wird, dass in Folge der Biegung des Ellenbogens und des festen Anfassens des Thieres die Muskeln stark an die Oberfläche treten. Wenn damit die Formen des Leibes fast in Widerspruch zu stehen scheinen, so muss um so bestimmter darauf hingewiesen werden, dass dieser Ein- druck fast ausschliesslich durch die Behandlung der Chlamys hervor- gerufen wird. Diese klebt so eng am Körper, dass man, als nur der obere Theil des Körpers bekannt War, ihr Vorhandensein gar nicht einmal bemerkt hat. Erst am Leibe trat nicht sowohl sie selbst

Brunn, Gr. Kunstgeschich

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durch stoffliche ModelHrung, als nur die gesäumte Kante als scharfer Contour hervor, und auch, wo sie von den Armen herabfallend doppelt und dreifach über einander liegt, finden wir nur eine zweite und dritte Kante ohne Angabe irgend einer Falte, während überall die Formen des Körpers noch deutlich durchscheinen. Dieses freilich verunglückte Experiment, welches auf der an sich richtigen Intention beruhte, die Bedeutung des Körpers auch unter seiner Hülle erkennen zu lassen, musste allerdings den Körper wie eingeschnürt erscheinen lassen; und es soll ausserdem nicht geleugnet werden, dass gerade am Leibe das Streben sichtlich hervortritt, die Formen bestimmt herauszuarbeiten: man beachte nur die an sich freilich falsche Dreitheilung des geraden Muskels zwischen Brust und Nabel und die scharfe Betonung dieses letzteren selbst. Trotz alledem werden wir hier nicht den Charakter eines Fleisches verkennen dürfen, das sich von innen heraus in kräftigem Leben entwickelt. Doch am eigenthümlichsten verräth sich der Charakter des Werkes in den Formen und dem Ausdrucke des Kopfes, an dem Breite und Kräftigkeit der Anlage und Schärfe der Begrenzung in einer fast fremdartigen Weise miteinander verbunden sind. Man möchte sagen, dass die kräftigen Wangen, die Stirn, be- sonders in der Gegend des Ansatzes der Nase, von innen heraus drängen, die Augen fast hervorquellen, die Lippen gespannt sind, und dass nun dagegen das Streben des Künstlers darauf gerichtet ist, das überschüssige Leben in bestimmte Grenzen zu bannen und in seinen Formen scharf zu umschreiben, dass es aber doch in dem Lächeln des Mundes, in dem scharfen Blicke der Augen, deren Sterne offenbar von einem dunkleren Stoffe eingesetzt w^aren, diese Schranken wieder durchbricht. Selbst in Nebendingen, wie in dem derb schematisirten Haar, das lang hinter den Ohren herabfällt, zeigt sich immer noch mehr eigenes Leben, als in den weit sorgfältiger ausgeführten Löckchen der Aegineten. Auch das Thier darf nicht übersehen werden. Man hätte hier nicht das bei alterthümlichen Werken fast zum Gemeinplatz ge- wordene Urtheil wiederholen sollen, dass die Bildung des Thieres der Menschengestalt überlegen sei : genauer betrachtet, ist es voll von Incor- rectheiten, ja der Künstler hat sich so sehr begnügt, für den allge- meinen Eindruck zu arbeiten, dass er es ganz versäumt hat, von dem Verbleiben der rechten Beine des Thieres überhaupt Rechenschaft zu geben. Dagegen steht der fleischige Charakter der hinteren Hälfte durchaus auf derselben Linie mit der Kräftigkeit der Arme des Gottes und ebenso der Kopf mit dem Kopfe, nur mit dem Unterschiede, dass

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gegenüber der Gleichgültigkeit des Thieres der Gott durch seinen Blick sich in freundliche Beziehung zu seiner Umgebung setzen zu wollen scheint.

So begegnen wir auch hier, wie bei der sitzenden Pallas, einer Reihe von Widersprüchen, von noch nicht oder nur halb gelösten Contrasten. Es ist ohne weiteres klar, dass das Werk in der correcten Durcharbeitung der Form, wie sie nur durch eine strenge systematische Schulung erreicht werden kann, noch weit hinter den Aegineten zurück- steht. Und doch wird sich ein naives Gemüth von dem attischen Marmor wahrscheinlich weit stärker anziehen lassen, als von jener relativen Correctheit der Aegineten. Denn ehe noch der Verstand Zeit gefunden, das Einzelne zu prüfen, fühlt sich unser Empfinden durch das innere Leben, welches nach Ausdruck ringt, sympathisch berührt. Hierin, in diesem Wachsen des Ganzen von innen heraus im Gegensatze zu bewusster Durchbildung der einzelnen Formen dürfen wir ein specifisch attisches Element erkennen, während gegenüber der sitzenden Athene und dem Pallaskopf der Akropolis der Kalbträger eine Stufe innerhalb des Atticismus repräsentirt, auf welcher ein for- maler Läuterungsprocess allerdings bereits eingeleitet, aber noch in keiner Weise zum Abschluss gelangt ist.^)

Wir werden die Entfaltung des attischen Geistes später in einigen Reliefs weiter zu verfolgen im Stande sein. Dass der Umschwung um die Zeit der Schlacht bei Salamis sich innerhalb gewisser Grenzen bereits vollzogen haben musste, lehren die Nachrichten über Kritios und Nesiotes, welche auf gleicher Linie mit Kallon und Kanachos als Vertreter des streng archaischen Stils in Attika genannt werden. Es würde von höchster Wichtigkeit sein, von ihrem individuellen Stil eine genaue Anschauung zu gewinnen; doch müssen wir uns mit einem allgemeineren Bilde begnügen, indem wir von ihnen nicht ein Original- werk, sondern nur Copieen besitzen, an denen die feineren Eigenthüm- lichkeiten ja in der Regel zuerst verwischt zu werden pflegen. Schon früher wurden von Stackelberg in den Reliefs eines Marmorsessels ^) und in dem Beiwerk einer Tetradrachme von Athen kleine Nach- bildungen der berühmten Gruppe des Harmodios und Aristogeiton (s. S. 168) erkannt. Aber erst Friederichs wies in zwei reichlich lebens-

^) Nach einer Rn. sollten hier angereiht werden: Sphinx von Spata (Ath. Mitth. IV, 1879, S. 45, T. 5 ; Br.-Br. 66); Frauen gestalt von der Akropolis, dem Antenor zu- geschrieben: Br.-Br. 22; vgl. oben S. 166 Anm. 4.

2) Rn.: Michaelis, Journal of hell. stud. 1884, p. 146, T. 48.

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grossen farnesischen Marmorstatuen des Neapeler Museums Copieen nach, ^) die auch in ihrer Grösse den Originalen entsprochen haben werden. Andere weniger gut erhaltene Marmorcopieen fanden sich sodann im Garten Boboli zu Florenz,^) zu denen sich endlich noch ein kleines Bleirelief und ein kleines skizzirtes Bild als Schildzeichen der Pallas auf einer panathenäischen in Cyrene gefundenen Preisvase etwa aus der Zeit Alexanders gesellten (Stackelberg, Gräber, S. 33; Friederichs, Arch. Zeit, 1859, S. 65; Benndorf, Ann. d. Inst., 1867, p. 304, Mon. VIII, 46; Arch. Zeit. 1869, S. 106; Schwabe, Dorpater Programm von 1868.^) Die mehrfache Verwendung der Gruppe zu so verschiedenen Zwecken zeigt, dass sie gewissermassen als das Wahr- zeichen der athenischen Freiheit betrachtet wurde. Nur diesem politi- schen, nicht einem künstlerischen Interesse ist es ja zuzuschreiben, dass die Athener nach der Wegführung der alten Gruppe des Antenor durch Xerxes sofort für einen Ersatz durch Kritios und Nesiotes Sorge trugen. Es ist dabei wohl möglich, dass sich diese Künstler in ihrem Werke den im Gedächtnisse des Volkes lebenden Hauptmotiven der Gruppe ihres Vorgängers anschlössen.*) Schwerlich aber sind wir da- durch berechtigt, gewisse Verschiedenheiten der uns bekannten Wieder- holungen auf die Verschiedenheiten jener beiden Originale zurück- zuführen und etwa zu behaupten, die stilistisch strengere farnesi- sche Gruppe sei eine Copie nach Antenor, die freiere und weichere Florentiner dagegen eine Copie nach Kritios und Nesiotes. Eben jene Freiheit, die besonders in der Behandlung des Haares über die Grenzen des Archaismus hinausgeht, beweist, dass wir hier nicht blosses Copieren, sondern Umarbeiten stilistischer Eigenthümlichkeiten anzunehmen haben.

Von den zufälligen Umständen bei Vollbringung der That, von dem panathenäischen Festschmuck, unter dem die beiden Freunde die Waffen verborgen hielten, haben die Künstler abgesehen. Sie stellten ihre Helden in heroischer Nacktheit hin, ebenso wie die äginetischen Meister bei den Trojanern, Paris ausgenommen, das asiatische Costüm bei Seite setzten. Harmodios, der jüngere, schreitet mit dem rechten Fusse weit vor und schwingt mit der hocherhobenen Rechten das Schwert zu tödtlichem Schlage. Aristogeiton, dessen Kopf in beiden Marmorgruppen fehlt, der aber in dem Relief des Marmorsessels bärtig

1) Br.-Br. 326—328.

Rn.: [S. dagegen] Dütschke, Arch. Zeit. 1875,8. 162 f.; Bildwerkein Oberitalien II, S.38, Rn.: Petersen, Arch.-epigr. Mitth. aus Oesterr. III, S. 73 ff., T. 6. ^) Rn. : Motive nach Antenor, Ausführung von Kritios und Nesiotes.

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erscheint, steht zur Rechten des Harmodios in entsprechender Bewegung, nur dass bei ihm die hnke Seite nach vorn gewendet ist : indem er die Linke, über die er die Chlamys geworfen, vorstreckt, wie um im Nothfalle den Freund damit decken zu können, zückt er in der zurück- gezogenen Rechten ein kürzeres, dolchartiges Schwert. Nur bei dieser, durch die kleinen Nachbildungen gerechtfertigten Anordnung der Gruppe, bei welcher die Rücken halb gegen einander gewendet sind und die allerdings nur im Marmor hinzugesetzten Baumstämme dem Auge einigermassen entzogen werden, ist es möglich, die Hauptseiten der beiden Körper, wenn auch nicht gleichzeitig und auf einen BHck zu voller Geltung zu bringen. 1) Zugleich aber tritt dadurch der künst- lerische Gedanke klar und präcis hervor, nämlich ein gleichmässiges, einheitliches Vorwärtsstürmen beider Figuren wie in Reihe und Glied nach einem Ziele, wobei auch dem künstlerischen Principe des Wechsels und Gegensatzes Genüge geleistet wird, indem in den Bewegungen der beiden Figuren Rechts und Links und umgekehrt sich entsprechen. Wenn trotzdem in jeder Figur einzeln für sich eine gewisse Gebunden- heit übrig bleibt, so hat das seinen Grund eben darin, dass dieses Princip des Wechsels, der Kreuzung nicht auch bereits auf die Bewegung der einzelnen Figuren angewendet ist, dass hier noch rechter Arm und rechtes Bein und umgekehrt der gleichen Bewegung folgen.

Es entsteht dadurch ein gewisser Stillstand : die Vorwärtsbewe- gung der einen Seite ist am Ziel; in der andern hat sie noch nicht wieder begonnen, während in der Natur die eine und die andere wechselseitig in einander greifen. Sonst sind in der Bewegung kaum noch einzelne Härten übrig geblieben, wie etwa in der etwas steifen Haltung des linken Armes des Aristogeiton, so wie darin, dass an der über ihn hängenden Chlamys keine Wirkung des starken Vor- wärtsschrei tens bemerkbar ist, was um so mehr auffallen muss, als in den Falten (vielleicht in Folge einer besonderen Art der Bronze- behandlung ^) der gewöhnliche strenge Schematismus völlig aufgegeben ist. In der übrigen Ausführung tritt der archaische Charakter be- sonders an dem Kopfe des Harm odios hervor (der des Aristogeiton ist zwar alt, gehört aber nicht zur Figur). Das Haar ist aus typisch geringelten Löckchen gebildet, zeigt indessen einen wesentlichen Fort- schritt insofern, als dieselben über der Stirn nicht mehr in regel- mässigen Reihen geordnet sind. Im Gesicht herrscht noch der alter-

^) Rn.: Aufstellung auf freiem Platze? 2) Rn.: Sphyrelaton?

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thümliche Typus: die niedrige Stirn, die Kräftigkeit der unteren Partieen, die scharfe Umschreibung der Augenbrauen und Lippen, das Indiffe- rente des BHcks. Doch ist auch hier die Anlage des Gesichtes, wie des gesammten Schädels breiter und voller gerundet, als z. B. in den Aegineten. Mit diesem Kopfe steht allerdings die Durchbildung der Körper nicht in voller Harmonie. Namentlich am Harmodios ist durch die starke Hebung des rechten Armes alles in der grössten Anspan- nung. Die Brustmuskeln heben sich kräftig von dem Knochengerüst ab; an diesem sind nicht nur die Rippen ausgeprägt, sondern auch die Abgrenzung der falschen Rippen ist bestimmt angegeben. Die Muskeln des Bauches sind angezogen ; in den Hüften ist die archaische Schmalheit verschwunden. Es mag vielleicht da und dort etwas zu viel Detail hervortreten und zu scharf umschrieben sein, doch würden wir auf den Marmor, wie er ist, das Urtheil Lucians über Kritios und Nesiotes und die alterthümliche Herbigkeit ihres Stils kaum anzuwenden wagen und müssen vielmehr annehmen, dass der Künstler, welcher diese Copieen arbeitete, die Härten der Originale unwillkürlich ab- geschliffen und gemildert und dadurch den Körper in Widerspruch mit dem Kopf gesetzt hat. Leider verlieren wir durch ein derartiges Verwischen des Charakters der originalen künstlerischen Handschrift die Berechtigung, diese Werke zu einer Vergleichung attischen und äginetischen Stils auf einer Stufe gleichzeitiger Ent Wickelung im Ein- zelnen zu verwerthen. Wir dürfen höchstens darauf hinweisen, dass eine Berücksichtigung der Adern und der Haut, wie sie an den besten Figuren des äginetischen Ostgiebels sich bereits deutlich ausspricht, an dem Werke der Attiker allerdings noch nirgends Platz gegriffen hat, wohl aber dass sie, auch nach einem bedeutenden Abzüge dessen, was auf Rechnung des Copisten zu setzen ist, in der formalen Durch- bildung nicht nur gegen früher bedeutend fortgeschritten sind, sondern sogar nicht ohne Glück mit den Aegineten zu wetteifern begonnen haben. Dabei scheinen sie die an frühern Werken hervorgehobene Tendenz nach einer grösseren Fülle und Kräftigkeit der Formen keineswegs verleugnet zu haben. Endlich aber tritt der attische Geist besonders in der Frische der Conception und der lebensvolleren Action den Aegineten gegenüber in überlegener Weise zu Tage. Das Schematische der Composition, was dort allerdings zum Theil durch den architektonischen Raum bedingt war, ist hier verschwunden, und selbst der Rest formaler Gebundenheit tritt zurück gegen den Drang inneren Lebens, durch welchen beide Gestalten vorwärts getrieben

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werden. Wenn wir uns bei den Aegineten unwillkürlich von dem Eindruck der Form beherrschen lassen, deren Durchbildung fast als das ausschliessliche Ziel des Künstlers erscheint, so ist hier die Form nur das Mittel zum Ausdruck der Handlung; ja es lässt sich die Be- hauptung wagen, dass in der minder routinirten Ausführung der Originale, an denen man das Ringen mit den Schwierigkeiten der Darstellung der Form noch unmittelbarer empfunden haben muss, die Energie des künstlerischen Gedankens auf den Beschauer eine nur um so fesselndere Wirkung ausgeübt haben wird.

B. Reliefwerke.

Spartanisches und sog. Leukothea-Relief Schon in der vorigen Periode hatte sich neben der statuarischen Kunst auch das Relief bereits zu grosser Selbständigkeit emporgearbeitet, so dass die rein decorative Behandlung desselben mehr und mehr in den Hintergrund trat. An die letztere erinnert in der vorliegenden Periode zunächst ein kleines spartanisches Relief (Ann. d. Inst. 1870, t. Q): ^) Dionysos, bärtig, mit einem langen Chiton und einem Mantel über Rücken und Armen bekleidet, sitzt auf schönem Thron und hält in der Linken einen Granatapfel, während er in der Rechten seinen Trinkbecher vorstreckt, wie um ihn füllen zu lassen. Neben ihm und zum grössten Theil durch ihn verdeckt sitzt eine weibliche Gestalt, sei es seine Mutter oder seine Gattin, die mit der weit vorgestreckten Rechten das schleierartige Obergewand erhebt. -) Die geringe Mo- dellirung der oberen Fläche hat die Annahme veranlasst, dass das Ganze als der in schwachem Relief erhobene Untergrund für eine Ausführung in Farben und daher nicht das Relief, sondern die Malerei als Hauptsache zu betrachten sei. Eine gewisse Berechtigung dieser Annahme soll nicht geleugnet werden; nur muss dabei auch dem Relief seine selbständige Bedeutung gewahrt bleiben, dessen Eigen- thümlichkeit theils in dem Zusammenhange mit der alten decorativen Behandlung, theils in der Besonderheit des Stils beruht. Für die erstere mag an die Reliefs von Assos, noch mehr aber in beiden Beziehungen an das Terracottafragment von Sparta (S 127) erinnert werden. Im Stil tritt uns ein gewissermassen geometrischer Charakter ^)

^) Br.-Br. 227 b.

Andere Deutungen: Asklepios und Hygieia, Hades und Persephone, heroisirte Verstorbene. Jüngeres Exemplar der oben S. 130, Anm. 3 bezeichneten Serie.

3) Vgl. Brunn, Ath. Mitth. VII, 1882, S. 1 12 f. ; Münchn. Sitzungsber. 1884, II, 8.52^).

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

entgegen, der alle Hauptformen bei geringer Detail -Gliederung in einfachen Linien umschreibt und ebenso im Relief nur die Hauptflächen in klaren Abstufungen sondert, ohne sie in gerundeten Model lirungen durchzubilden. Auf dieser Einfachheit beruht es, dass das Ganze zuerst alterthümlicher erscheint, als es in der That ist. Einen äusser- lichen Maassstab der Beurtheilung vermag schon der Stuhl zu ge- währen, an dem sich ein weit feinerer Sinn für Formen und Linien offenbart, als z. B. an den Stühlen der milesischen Statuen und denen der xanthischen Reliefs. Wir werden sodann in der etwas geneigten Lage der Schenkel und in der Bewegung der Arme einen Fortschritt zu grösserer Leichtigkeit der gesammten Haltung nicht verkennen dürfen. Mag ferner die Zeichnung, z. B. der Brust des Dionysos, nicht correct, mögen die Füsse zu lang sein, so herrscht doch in der ganzen Auffassung grosse Klarheit, und bei aller Einfachheit der Ausführung fehlt es nicht an einem gewissen Reichthum in der Verbindung der Linien und Flächen. Selbst die Köpfe zeigen in ihrer äusseren Form einen klar entwickelten Typus. Das Ganze aber gewährt den Eindruck plastischer Ruhe und Sicherheit. Allgemeinere Folgerungen werden sich aus der Eigenthümlichkeit dieses Stils erst später ziehen lassen.

An diese spartanische Arbeit, so wie das in der vorigen Periode erwähnte Blundell'sche Relief schliesst sich das sogenannte L e u k o - thearelief der Villa Albani^) nicht etwa durch bloss äusserliche Ver- wandtschaft an. Es ist jetzt als das Grabmonument einer Frau aner- kannt, die ihr Kind auf dem Schoosse hält, während ihr gegenüber drei Frauengestalten in absteigender Grösse stehen, nicht zur Andeutung der Perspective, sondern nach dem aus Votivreliefs bekannten Verfahren zur Bezeichnung der Rangordnung. Man hat dieses Relief bisher gerne mit dem Harpyienmonument zusammengestellt, wozu indessen nur der äussere Schein berechtigte^). In der übersichtlichen Klarheit der Umrisse, in der Anordnung der Flächen tritt eben vielmehr die innere Verwandtschaft mit dem spartanischen und dem Blundell'schen Relief hervor. Wenn nun auch hier noch manches, besonders an dem Stuhle und dem unter ihm stehenden Arbeitskorbe, der Farbe über- lassen blieb, so verlangte doch schon die bedeutendere Grösse und die derselben entsprechende grössere wirkliche Höhe des Reliefs eine andere Art der Ausführung. Die kleinste der stehenden Figuren ist ganz flach behandelt ; in der zweiten ist die Hauptrichtung der Falten

^) Rn.: Zoega, Bassirilievi I, T. 41; [Br.-Br. 228.].

2) Vgl. Brunn, Münchn. Sitzungsber. 1870, II, S. 211 f.

Erhaltene Werke.

20I

schon durch den Wurf und die Biegung des Armes motivirt. Die vorderste soll der thronenden gegenüber untergeordnet erscheinen ; sie trägt daher nur einen Doppelchiton ohne Mantel ; aber wir erkennen unter ihm die Formen des Körpers schon weit richtiger durchge- bildet, als an dem Harpyienmonument ; und obwohl nicht Falten, sondern nur die Rippen des GewandstofFes angegeben sind, so finden wir doch kaum je streng parallele, conventionelle Linien, sondern jede Linie des Gewandes hat bereits ihre Beziehung zu den Formen des Körpers. An der sitzenden Figur ist zwar der Künstler in der An- ordnung des Mantpls noch nicht aller Schwierigkeiten Herr geworden, so dass bei grösserer Freiheit doch noch nicht volle Klarheit herrscht. Dagegen erkennen wir am Untergewand, besonders am Aermel, deut- lich die sich anschmiegende Qualität des Stoffes. Allerdings tritt uns gerade hier die Gebundenheit des archaischen Stils entgegen, die alles wie mit einer Hülle umschliesst; aber wie wir an der Puppe durch die Hülle schon die Formen des Schmetterlings erkennen, so empfinden wir auch hier schon das von innen keimende Leben : die Andeutungen der welligen, nicht parallelen, sondern convergirenden und divergirenden Linien brauchen nur wie der , Schmetterlingsflügel auseinandergelegt zu w^erden, und wir gelangen plötzlich zu voller Freiheit. Vielleicht noch deutlicher spüren wir dieses Herannahen der Freiheit in der Figur des Kindes, gleichsam als habe der Künstler seinen sonst so strengen Ernst fast unbewusst durch die unbefangene Naivetät des Kindes mildern lassen. Gerade hier lässt sich den kleinen Figuren des Harpyienmonuments gegenüber der Fortschritt am sichersten er- messen. Wir stehen hier nicht am Anfang, sondern am Ende einer Entwickelungsreihe : weit entfernt von Unbeholfenheit trägt alles viel- mehr den Charakter einer bew^ussten Zurückhaltung, die mit noch be- schränkten Mitteln sparsam haushält, aber dieselben mit voller Sicherheit handhabt und dadurch den Weg zum Gebrauche grösserer Freiheit ebnet.^)

Mittelgriechenland. Einen ähnlich in sich abgeschlossenen, wenn auch auf sehr verschiedenen stilistischen Grundlagen beruhenden Charakter trägt die bei Velanideza im nordöstlichen Attika gefundene, jetzt im Theseion^) autbewahrte Grabstele des Aristion von der

^) Rn.: Römische Stele. [Gemeint ist wohl die es([uilinische Grabstele des Conser- vatorenpalastes : Bull. com. di Roma, 1883, S. 13 14; Br.-Kr. 417 b, die hier folgen sollte.]

^) Heute in dem Nationalmuseum, Kaßßabta;;, Kard.Xoyo:; 29. Br.-Br. 41a; Conze. Att. Grabreliefs Bd. I, No. 2, T. II, i.

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Jüngerer Zeitraum. Die T'lastik.

Hand des schon früher (S. 167) erwähnten Künstlers Aristokles. (Ueber die früheren Pubhcationen und Besprechungen s. Kekule, Bildw. im Theseion, No. 362.) Es ist das einfache Rehefbild eines Kriegers, welcher mit Helm, Panzer und Beinschienen gerüstet, die Lanze in seiner Linken auf den Boden stützt, wie ein Soldat, der ruhig auf seinem Posten steht. Wir finden hier weder jene mathematisch über- sichtliche Behandlung der Linien und Flächen, wie in dem Albanischen Relief, noch die überwiegende Durchbildung der Formen, wie in den Aegineten. Ja äusserhch ist sogar die plastische Ausführung noch geringer, als es nach der Abbildung scheint. Denn der Panzer, der von den Formen des Körpers nur die allgemeinste Rechenschaft giebt, hat seinen feineren Schmuck nicht durch den Meissel, sondern durch ausgedehnte Anwendung^ der Malerei erhalten. Die Falten des kurzen Rockes aber sind mehr oberflächlich eingeschnitten, als im Einzelnen modellirt. Allerdings sind die Beinschienen sogar mit einer grossen Schärfe durchgebildet; doch gilt von ihnen in noch verstärktem Grade, was bereits über den Panzer des Giganten einer selinuntischen Metope (S. 136) bemerkt wurde: indem sie sich in der Wirklichkeit durch ihre eigene Elasticität halten sollen, müssen sie sich nicht allein den Formen des Beines eng anschliessen, sondern in die durch das Zusammen- stossen der Muskeln gebildeten Vertiefungen geradezu einklemmen; und nur diese ihre technische Natur ist es, die der Künstler im Marmor ausprägte. Die Formen des Nackten sind dagegen sogar nicht frei von starken Incorrectheiten. Die Oberschenkel sind in ihrer Anlage viel zu breit und beeinträchtigen dadurch die Theile, die oberwärts sich an sie anschliessen. Am rechten Arme fehlt namentlich am Handgelenke und an der Hand die feinere Durchbildung. Nehmen wir dazu, dass beide Füsse noch gleichmässig platt aufstehen und dass von einer Profilbildung des Auges noch nicht die Rede ist, so möchte man leicht geneigt sein, den Werth des Werkes nicht besonders hoch anzuschlagen. Und doch gehört es zu denen, die den unbefangenen Beschauer besonders anzusprechen pflegen. Wie bei dem athenischen Pallaskopfe und bei dem Kalbträger empfinden wir das Leben, das von innen heraus sich entwickelt, und stossen uns nicht an den Fehlern des Nackten, da wir für die Form durch das Wesen, durch die ge- sunde und kräftige Bildung des Fleisches entschädigt werden. Auch an dem Haare berührt uns das Archaische der Ausführung weniger, indem in den Locken des Kopfes und dem welligen Barte wenigstens die Verschiedenheit des Haares an sich hervortritt. Eben so wenig

Erhaltene Werke.

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empfinden wir das Gebundene der Stellung, in der noch der Wechsel und Gegensatz tragender und ruhender Theile fehlt. Denn trotzdem ist die Haltung nicht mehr die, sozusagen, festgeschnürte des Recruten, sondern nur noch die des streng geschulten Soldaten, und in der Fügung des Nackens, wie in der Haltung der Arme tritt bereits ein leiser Zug zu rhythmischer Vermittelung mildernd ein. So schmal und lang gestreckt ferner der gegebene Raum ist, so wird doch die Figur durch ihn nirgends beengt. Die anscheinende Ungleichheit, dass sie nach links mit dem Rücken scharf an den Rand des Reliefs gerückt ist und sich vor ihr noch etwas freier, nur von der Lanze durchschnittener Raum befindet, zeugt vielmehr für ein feineres Ver- ständniss des Gleichgewichts, indem dadurch die Möglichkeit einer, wenn auch noch so geringen Freiheit der Bewegung gesichert er- scheint. Der gleichen Unbefangenheit, die sich hier in der Accommo- dation an den gegebenen Raum ausspricht, begegnen wir nicht minder in der Behandlung des Reliefs. Die oberen Flächen waren durch die Höhen des Rahmens gegeben, und auch für die Abstufungen ist ein gewisser mittlerer Durchschnitt festgehalten, dabei aber doch auch die Freiheit gewahrt, in die Grundfläche tiefer hineinzugehen, wo eine etwas grössere Rundung nöthig schien, um den Eindruck des Ge- quetschten zu vermeiden. Endlich ist die Bedeutung des Farben- schmuckes nicht zu übersehen: durch ihn treten nicht nur die ein- zelnen Theile übersichtlicher auseinander, sondern die Sparsamkeit der plastischen Behandlung erhielt auch eine wesentliche Bereicherung, ohne dass doch die detaillirte Feinheit und Sauberkeit der aufgemalten Zierrathen den plastischen Charakter des Ganzen beeinträchtigt hätten. Dass selbst jetzt noch die nur zum kleinsten Theile erhaltenen Farben den Eindruck der Lebendigkeit wesentlich steigern, wird von allen bestätigt, welche das Original zu sehen Gelegenheit hatten.

Von einer zweiten attischen Stele mit dem Relief eines Kriegers ist früher (Arch. Zeit. 1860, Taf 135) das obere Stück bis zum Ellen- bogen, neuerdings ein unteres, bis etwas oberhalb der Kniee, gefunden worden. ^) Die Mitte fehlt, und der obere Theil ist so stark zerstossen, dass eine Beurtheilung im Einzelnen unmöglich w4rd. Im Relief ist die Arbeit etwas höher gehalten, aber weniger durchgebildet und von etwas alterthümlicherem Charakter. Doch entbehren auch diese Frag-

^) Athen: Nationalmuseum, Kabbadias 33, 34. Conze, Att. Grabreliefs, No. 4, T. III u. No. 10, T. VIII, I. Die Zusammengehörigkeit der beiden Stücke ist übrigens bezweifelt.

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

mente nicht eines gewissen Interesses, indem einestheils auch in ihnen die Tendenz nach einer fleischigen Behandlung bestimmt hervortritt, anderntheils aber durch sie der Beweis geUefert wird, wie anspruchs- los sich Aristokles in der allgemeinen Anlage seiner obengenannten Arbeit einem hergebrachten Typus angeschlossen und sich begnügt hat, denselben nach dem Maasse seines Könnens zur Darstellung zu bringen.

Bedeutender ist eine durch Conze (Beiträge zur Gesch. d. Plast., Taf. XI, i) bekannter gewordene Grab s tele aus der Nähe von Or- chomenos von der Hand eines Alxenor aus Naxos^), dessen metrische Unterschrift mit dem Ausrufe schliesst : ,,doch schaut nur !" Ein bärtiger, mit einfachem Mantel bekleideter Mann steht, die linke Schulter durch einen knotigen Stab unterstützend, mit übergeschlagenem linken Bein da, den Blick nach unten gerichtet und seinem gegen den Rahmen des Reliefs emporspringenden Hunde eine Heuschrecke mit der Rechten hinhaltend. Zur Orientierung in den uns hier entgegentretenden wesentlich neuen Eindrücken mögen wir einmal nicht mit der Be- trachtung der Hauptfigur, sondern des Hundes beginnen. Hier muss uns zunächst die sehr ins Einzelne gehende, fast magere Ausführung, die genaue Angabe der Rippen, des Vorderblattes, die Feinheit der Beine auffallen; ebenso das Streben nach lebendiger Bewegung. Ist aber diese gelungen? Wir werden nicht leugnen können, dass sie den Eindruck des Verdrehten, Gezwungenen macht, dass wir es hier mehr mit einem äusserlichen, als einem innerlichen Verständniss- der Natur zu thun haben. Gehen wir zur Gestalt des Mannes über, so entfernt sich der Künstler bei der Bildung des Haares und Bartes von dem gew^ohnten Schematismus und strebt nach grösserer Natürlich- keit. An der blossen Schulter und dem Arme begegnen wir wiederum dem Streben nach Durchbildung im Einzelnen, des Schlüsselbeins, der Muskeln, ja selbst der Adern , sowie einer absichtlichen Zierlichkeit in der Bildung der Hand. Weiter unten werden die Formen des linken Schenkels durch das Gewand hindurch sichtbar, und auch hier erstreckt sich die Sorgfalt bis auf die Zehen herab. Das Gewand ist im Princip seiner Bildung, in dem Wurf und der Lage der Falten beinahe schon frei; höchstens an den Rändern erscheint es noch archaisch, und wo es oben durch den Stab zusammengedrückt ist, zeigt sich ein fast naturalistisches Motiv. Giebt es aber in seinen langen, gleichmässig abgestuften Falten einen hinlänglich klaren

^) Athen: Nationalmuseum, Kabbadias 39. Br.-Br. 41b.

Erhaltene Werke. 205

Begriff von den Formen des Körpers? Man denke diese Hülle vom Körper hinweg, und wir werden in der Stellung, in der Verbindung der Theile zu einem Ganzen kaum geringere Mängel, als in der Bildung des Hundes entdecken: namentlich der mittlere Theil des Körpers bleibt unklar. Hierzu kommt die Art der Relief behandlung : die untere Fläche ist ganz eben gehalten; die obere erhebt sich nicht bis zur Höhe des Rahmens. Den hierdurch bedingten Charakter des Flachreliefs suchte der Künstler allerdings im Kopf, der rechten Schulter und dem Arme festzuhalten, die fast wie gequetscht erscheinen ; auch das Auge ist zu flach, fast ohne alle Rundung gebildet; aber er verkannte, dass das sonstige Arrangement der Figur, die Stellung des rechten Schenkels in der Vorderansicht diesem Charakter durchaus widersprach und die kühne Verkürzung des rechten Fusses noth wendig misslingen musste. Durfte also der Künstler sich nicht seines Werkes rühmen, wie er es gethan hat? Allerdings nicht, sofern formelle und stilistische Correctheiten den einzigen Maassstab für Beurtheilung eines Kunstwerkes bildeten. Alxenor scheint indessen seinen Ruhm in einer ganz andern Richtung gesucht zu haben : er steht da als ein Neuerer, der die Schranken des bisherigen Stils nach verschiedenen Richtungen zu durchbrechen unternimmt, freilich nicht überall mit günstigem Er- folge ; er hängt noch zu sehr an einer bloss äusserlichen Beobachtung, ohne in den Zusammenhang der Formen und die Gesetze des Stils einzudringen. Aber auch ein einseitiger Fortschritt bleibt immer ein Fortschritt, dessen sich ein Künstler w^ohl rühmen darf, namentlich in einer Zeit, welche die volle Freiheit noch nicht errungen hat, sondern nach Beseitig'ung so mancher hemmenden Fessel streben muss. So befriedigend der Krieger des Aristokles in seiner Abgeschlossenheit erscheint, so konnte doch die Kunst nicht lange auf der gleichen Stufe der Beschränkung verharren. Um indessen den Bestrebungen des Alxenor noch weiter gerecht zu werden, ist es nöthig, hier noch einer vierten Grabstele zu gedenken, welche, im Museum von Neapel befindlich, das Motiv der Composition in der Hauptsache mit der von Orchomenos gemein hat (Mus. Borb. XIV, lo; Conze a.a.O. XI, 2).^) Nur ist der kurze Mantel nicht über die linke Schulter der Figur geworfen und reicht nur bis zur Mitte der Schenkel. Der ruhig stehende Hund blickt zwar nach seinem Herrn auf; dieser aber hält weder eine Heuschrecke in der Hand, noch blickt er nach

^) Rayet, Mon., pl. 19; Br.-Br. 416.

2o6 Jüngerer Zeitraum. Die Plastik,

unten. In Begleitung seines Hundes, etwa auf dem Wege zum Bade, worauf das Salbfläschchen deutet, ruht er nur momentan, vielleicht im Gespräche mit einem Freunde aus. Dem Relief des Alxenor gegen- über erscheint hier die ganze Ausführung routinirt: Bart und Haar leicht gekräuselt, die Formen des Körpers ohne viel Detail in kräftig gerundetem Relief sicher, fast derb ausgedrückt. Selbst an der Ge- wandung ist die Handhabung des Meissels im Einzelnen frei. Aber eben darum empfinden wir gerade hier das trocken Schematische der Anlage zuerst und werden dadurch weiter darauf aufmerksam, wie die Haltung der Arme gezwungen und unrhythmisch, die archaische Profilstellung des linken Fusses in Verbindung mit der Vorderansicht des Kniees womöglich noch unglücklicher gerathen ist, als die Ver- kürzung in dem Werke des Alxenor, wie das fast völlige Zusammen- fallen der Linie des linken Schienbeins mit der Rückenlinie des Hundes jedenfalls ein geringes Gefühl für Linienführung bekundet. Das Werk, dessen Herkunft leider nicht bekannt ist, scheint demnach in einer Gegend entstanden zu sein, die mit den Mittelpunkten des gei- stigen und künstlerischen Lebens in weniger enger Berührung stand und daher trotz einer praktischen Routine sich auch da noch nicht von den Nachwirkungen des archaischen Geistes frei zu machen wusste, wo die Schranken desselben anderwärts bereits durchbrochen waren.

So hinterlässt dieses letztere Relief den am wenigsten befriedigenden Eindruck, indem das theilweise Festhalten am Alten wie eine leise geistige Erstarrung wirkt. Ihm gegenüber lernen wir an dem Werke des Alxenor selbst die Fehler gewissermassen liebgewinnen; denn wir können uns, wenn auch nicht überall an dem Erfolge, doch an dem Streben erfreuen, dem Leben und der Wirklichkeit eine Menge von neuen Formen und neuen Zügen abzulauschen. Freilich äussert sich dieses Streben in etwas zu subjectiver Weise, und wie es dem Künstler gefallen hat, die Gestalt seines Reliefs in behaglichster Nach- lässigkeit und wie im eigenen Hause ganz sich selbst überlassen hin- zustellen, so möchte man behaupten, dass er auch in seiner Kunst fast nur das Wesen seiner eigenen Persönlichkeit zeigt, die schliesslich doch nicht bedeutend genug war, um sofort durch eigene Kraft eine Reihe wichtiger Neuerungen als bleibenden und sicheren Besitz für die Kunst zu verarbeiten. Gegenüber diesem experimentirenden Charakter beruht die Eigenthümlichkeit des Aristokles in der ruhigen Unterordnung unter die allgemeinen Anschauungen, welche im Leben, wie in der Kunst seine Umgebung beherrschten. Man hat

Erhaltene Werke,

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sich durch seinen Krieger nicht mit Unrecht an die alten Marathons- kämpfer erinnern lassen, und allerdings verspüren wir an ihm noch ein Stück von jener altvaterischen Beschränktheit, die den bald er- folgenden hohen geistigen Aufschwung kaum ahnen lässt. Nicht minder aber werden wir angenehm berührt durch den ehrbaren, von jeder Nachlässigkeit, wie von jedem Zwange entfernten Anstand, durch den strengen Ernst und die solide Tüchtigkeit des ganzen Auftretens. In dem Werke aber spiegelt sich der Geist dessen, der es geschaffen. Der Künstler folgt derselben Richtung, die bereits in älteren attischen Werken, dem Pallaskopf und dem Kalbträger, eingeschlagen war; aber während sich in diesen das von innen sich entwickelnde Leben noch in einem nicht gelösten Contrast mit dem Bestrebe a nach strengerer schulgemässer Durchbildung der Form befand, ist hier Gedanke und Ausführung bereits von einem einheitlicheren, in sich harmonischeren Geiste durchdrungen, dem noch etwas beschränkten, aber innerlich soliden und tüchtigen Geiste der Zeit eben jener Marathonskämpfer.

Von einer veränderten Richtung der attischen Kunst legen zwei leider sehr unvollständig erhaltene Werke Zeugniss ab : das eine, fälschlich dem älteren Parthenon zugeschrieben (vgl. Michaelis, Parthenon, S. 125), ist unter dem Namen der wagenbesteigenden Frau bekannt, scheint indessen trotz der zarten Arme und Hände wegen des Unter- gewandes, das bei einer Frau unten am Mantel wieder sichtbar werden müsste, vielmehr einen zwar jugendlichen, aber männlichen Wagen- lenker darzustellen (Schöll, Mittheil, aus Griech., T. 2, 4; Le Bas, Voyage, Mon. flg. pl. i).'^) Von dem andern besitzen wir nur den obern Theil einer männlichen Figur, die durch Chiton, Petasus und Spitzbart als Hermes charakterisirt scheint, möglicher Weise aber auch mit Conze auf Theseus, etwa im Kampfe mit dem Minotauros, bezogen werden kann (Nuove Memor. d. Inst. II, t. 13). Aeusserlich betrachtet haben wir es bei beiden nur mit den gewöhnlichen Formen der archaischen Kunst zu thun. Haupt- und Barthaar, das Haar der Pferdeschweife sind durch feine und enge, meist leicht gewellte Parallellinien bezeichnet. In ähnlicher Weise ist der weiche gerippte Stoff der Untergewänder behandelt, der glatte der Obergewänder dagegen in künstliche Falten gelegt. Allerdings spricht sich in den fächerförmig von der Schulter der Frau sich ausbreitenden Falten wenigstens dem Hauptmotiv nach eine bestimmte Beziehung des Wurfes zu den Formen des Körpers

^) In marathonische Zeit freilich gehört das Werk nicht, sondern in den Anfang der Periode. 2) Br.-Br. 21.

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastik

aus ; die über den linken Schenkel gelegte Partie aber hätte vielmehr in der Mitte zwischen den Beinen herabfallen sollen, und wohl nur die Schwierigkeit, sie in der Profilansicht darzustellen, führte den Künstler auf das Auskunftsmittel einer im Grunde ganz falschen An- lage; hinsichtlich der Formen des Körpers ist zwar das Bestreben anzuerkennen, in ihr Verständniss tiefer einzudringen; wie wenig aber ein klares und sicheres Verständniss wirklich erreicht war, zeigt namentlich der Rücken der Frau. Der Kopf des Hermes endUch mit seinem fast grinsenden Lächeln trägt sogar ein auffallend alterthüm- liches Gepräge. Und doch treten diese beiden Reliefs aus der Masse aller bisher betrachteten Werke in sehr entschiedener Weise heraus; und zwar nicht etwa nur durch äussere Feinheit und Sauberkeit der Ausführung, welche alles Derbe und Schwere beseitigt, sondern durch innerliche Eigenschaften. M^ir begegnen hier zuerst den Spuren jenes eigenartigen Geistes, den wir in seinen Aeusserungen auf den verschie- densten Gebieten des Lebens als Atticismus zu bezeichnen und mehr in seinen Wirkungen zu empfinden pflegen, als dass wir ihn überall in seinem Wesen genau zu definiren vermöchten. Es ist ein gewisser sympathischer Zauber, eine Feinfühligkeit, welche uns sagt, dass hier jede Linie innerlich warm empfunden ist, und dass die ganze Persön- lichkeit, welche diese Formen dem Marmor einprägte, von dieser Empfindung, man möchte sagen, bis in die Spitze der Finger durch- drungen war, so dass sie nirgends den Eindruck der Kälte, der Leere zurücklässt. Zum Vergleich bietet sich am einfachsten die Athene aus dem Giebel des äginetischen Tempels dar. Sie steht an Tüchtigkeit der Ausführung diesen attischen Werken nicht nach und übertrifft sie gewiss an formaler Correctheit; wir erkennen überall den Geist der strengen, soliden Schule, die durch systematische Arbeit sich bereits in den Besitz tüchtigen Wissens und Könnens gesetzt hat. Aber nirgends finden wir so wie hier die Plber individuellen Lebens, das auch innerhalb der durch Convention gezogenen Schranken bereits alles durchdringt und uns darüber sogar die Incorrectheiten der Form fast vergessen lässt. So sehr indessen die beiden attischen Arbeiten in ihrer geistigen Richtung unter einander verwandt sind, so stehen sie doch in stilistischer Beziehung nicht auf gleicher Linie und dürfen keineswegs, wie man vermuthet hat, als Theile eines und desselben grösseren Werkes betrachtet werden.') An dem Fragment des Hermes

^) S. dagegen wieder Hauser, Jahrb. d. arch. Inst. 1892, S. 54 ff.

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ist nicht nur das Relief an sich höher, sondern es hebt sich, pastoser behandelt, namentlich an den Umrissen der Figur sofort weit kräftiger und gerundeter vom Grunde ab. Im Zusammenhange damit behauptet die Tendenz der älteren Werke, den Charakter des Fleisches voll und weich hervortreten zu lassen, noch immer eine ausgesprochene Geltung und gewinnt sogar einen neuen Reiz, indem sie sich hier, wie in der Behandlung des Haares und der Gewandung mit einer besonderen Weichheit der Meisselführung verbindet. Das Relief der wagen- besteigenden Frau stellt sich dazu in einen bestimmten Gegensatz. Hier ist nicht nur alles Einzelne technisch scharf geschnitten, sondern diese Schärfe erstreckt sich auch auf die Durchbildung der Form über- haupt, indem durch sorgfältiges Ab- und Ausarbeiten in das Feine alle Fülle und Schwere beseitigt und dafür der Charakter einer fast gesuchten, aber höchst sauberen Zierlichkeit (XeTTTOTr^q) erreicht wird. Jenes an der Figur des Kalbträgers noch unharmonische und zumeist an der Gewandung hervortretende Streben, die Formen zu läutern und knapp zu umschreiben, hat hier bereits eine durchgreifende und con- sequente Anwendung gefunden, so dass wir das Werk als Repräsen- tanten eines wesentlich neuen Stils bezeichnen dürfen. Von welcher Bedeutung derselbe für die Folge war, können erst spätere Erörter- ungen zeigen.^)

Nordgriechenland^). In den nördlich vom eigentlichen Hellas gelegenen Ländern, Macedonien und Thracien, sind erst in neuerer Zeit einige Marmorsculpturen entdeckt worden, die wohl geeignet sind, diesen

^) Erweitert werden sollte der Abschnitt, so weit aus Noten ersichtlich, noch durch Heranziehung wenigstens folgender Werke :

Grabdenkmal aus Lamprika, »Beispiel rein decoi'ativer Darstellung« : Nationalmuseum, Kabbadias 41; Br.-Br. 66 b; Conze No. 19, T. XI;

Stelefragment mit dem Kopfe eines Diskophoros ; Nationalmuseum, Kabbadias 38 ; Conze No. 5, T. IV [Arbeit wohl noch vom Ausgang der vorigen Epoche].

Speerwerfer: Ann. d. Inst. 1875, tav. d'agg. P; Conze No. 7, T. VI, i;

Opfer an Athene, Votivrelief: Akropohsmuseum ; 'E(pi\ju. dpx- 1886, T. q; Br.-Br. 17a;

Athene, Bronzerelief: Akropolismuseum ; 'E(pr(|Li. dp/. 1887, T. 4; Br.-Br, 81 a;

Stehende und sitzende Frau: Nationalmuseum, Kabbadias 36; Schöne, Gr. Reliefs, T. 29, 122; Br.-Br. 17 b; Conze No. 20, Taf. XII;

Stele aus Laurion : Br.-Br. 37 a; Conze No. 11, T. VIII, 2;

Stele des Gathon und Aristokrates aus Thespiae: Nationalmuseum, Kabbadias 32; Ath. Mitth. 1878, T. 15; Br.-Br. 37 b.

^) Grösstentheils bereits gedruckt in den Sitzungsber. d. Münchn. Akad. 1876, I,

s. 323 ff-

Bninn, Gr. Kunstgeschichte II. I4

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

Gegenden in der kunstgeschichtlichen Forschung eine erhöhte Aufmerk- samkeit zuzuwenden. Wir werden uns ihrem Verständnisse auf einem kleinen Umwege durch Herbeiziehung einer anderen Denkmälerklasse zu nähern suchen, nämlich der alterthümlichen Silbermünzen von Thasos und den diesen Inseln gegenüberliegenden Gebieten der Letäer, Orreskier und Bisalter, denen sich die der ersten macedonischen Könige sowie einiger chal- kidischer Städte, besonders Akanthos, anschliessen. Die ältesten Typen zeigen uns einen Satyr mit Thierhuf, der eine fliehende Nymphe erfasst oder in seinen Armen davonträgt, einen Kentauren gleichfalls als Frauen- räuber, oder auf den kleineren Stücken einen kauernden oder knieenden Satyr (Mionnet, Suppl. III, pl. 6 und 8). Man hat in ihnen eine bar- barische Nachahmung griechischer Fabrik sehen wollen, allein mit dem barbarischen Charakter, den die späteren Nachahmungen der Münzen Philipps von Macedonien und der Tetradrachmen von Thasos tragen, haben sie nicht das Mindeste gemein. Allerdings sind die Figuren in ihren Umrissen von einer aussergewöhnlichen Breite und Massivität, welche die der ältesten selinuntischen Metopen noch weit übertrifft, und auch in der Modellirung des starken Reliefs treten die Formen in grosser Fülle und Massenhaftigkeit auf. Aber es fehlt diesen Figuren innerhalb solcher Schwere und Plumpheit keineswegs an dem richtigen inneren Zusammen- hange, so wie an einem ziemlich richtigen Verständniss der Hauptformen, a hie und da sogar nicht an einem Eingehen auf charakteristische Details. In den Köpfen der Satyrn, wie der Kentauren ist der derb thierische Charakter schon ziemlich bestimmt typisch entwickelt. Endlich aber verräth sich in der Technik keine Unbeholfenheit, sondern bewusste Handhabung der in so alter Zeit überhaupt verfügbaren Mittel, eine materielle Routine, welche durch mancherlei Detail, wie das perlenartige Haar, die Andeutung von Knöchel und Kniescheibe, den Eindruck der Schwere zu mildern, zu verfeinern strebt. Für die UrsprüngHchkeit dieser besonderen stilistischen Behandlung spricht der Fortschritt, der sich inner- halb der verwandten Typen verfolgen lässt, an den thasischen Nymphen- räubern z. B. sogar bis zu freier und schöner Durchführung im Einzelnen neben dem Festhalten am Typischen in Haltung und Bewegung (Mionnet, Suppl. II, p. 545, 2 4 der Tafel). In dem, wie es scheint, etwas jüngeren Typus eines speertragenden Mannes, der zwei Stiere führt (Mionn. S. III, pl. VIII, 2), in dem knieenden und zurückschauenden Ziegenbock (ib. IX, 4—6), sowie den Rossen (V, 6 7; X, i) können wir nicht umhin, den Sinn für scharfe Charakteristik der Thierformen an- zuerkennen. Der bogenschiessende Herakles auf thasischen Münzen

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(II, pl. VIII, 4 und 6) braucht den Vergleich mit dem Herakles im ägi- netischen Ostgiebel nicht zu scheuen. In den Münzen von Akanthos aber mit dem mehrfach variirten Typus eines Löwen, der einen Stier zerfleischt (III, pl. IV und V) überrascht uns ein zu hoher Vollendung durchgebildeter decorativer Stil. Die übermässige Breite und Massen- haftigkeit ist gemildert ; aber es bleibt immer eine breite Fülle der An- lage, die schon äusserlich das Feld der Münze fast vollständig zudeckt, sowie ein pastoser Auftrag des Reliefs. Es erhält sich ebenso neben den vollen und gerundeten Hauptformen die scharfe Betonung gewisser Details, namentlich an den Extremitäten, an den starken Halsfalten des Stieres, die feine decorative Durchbildung der Löwenmähne.

So im Zusammenhange betrachtet, liefern diese Münzen den Be- weis, dass jene thracisch-macedonischen Gegenden eine kunstgeschicht- liche Provinz für sich bilden, welcher einheitliche künstlerische Grund- anschauungen eigen sind, ein besonderer Stil, der in seinen derben An- fängen ziemlich weit in das sechste Jahrhundert zurückgehen mag und sich mindestens bis an die Grenze der archaischen Kunst, also gegen die Mitte des fünften verfolgen lässt, ja in manchen Eigenthümlichkeiten wohl bis in die Blüthezeit der Kunst nachwirkt, wie z. B. die volle und breite Behandlung der Köpfe auf Münzen von Aenos zeigt (Mionn. S. II, pl. V, 4). Bei aller Selbständigkeit dieses Stils weist indessen schon der Umstand, dass die ältesten jener Münzen in asiatischer Währ- ung geprägt sind, auf Verbindungen mit den älteren Culturländern Asiens hin, die gewiss auch auf die Ausübung der Kunst nicht ohne Einfluss waren. An Asien erinnert die anfangs überschüssige Breite, an Asien die decorative Betonung nicht nur des Haares, der Mähnen, sondern auch gewisser Detailformen, besonders der Beine, an Asien endlich die routinirte Technik, wenn auch natürlich alles durch den besonderen Volkscharakter wieder sein besonderes Gepräge erhielt.

Die materielle Grundlage, auf der diese Entwickelung der Münz- prägungen beruhte, ist in augenfälligster Weise durch den Metallreich- thum dieser Gegend und den lebhaft betriebenen Bergbau gegeben, der in Verbindung mit andern günstigen Naturverhältnissen von früh an den Wohlstand fördern musste. In politischer Beziehung aber nahm offen- bar die Insel Thasos die erste Stelle ein, sowohl durch eigene Frucht- barkeit und Metallreichthum sowie die Besitzungen auf dem Festlande, als durch die Gunst der Lage, die es zur Vermittlerin des Handelsverkehrs machte. Um von anderen Nachrichten zu schweigen, sei hier nur der Schilderung Herodots (VII, ii8 i2o) über die Bewirthung des Xerxes

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bei seinem Vorbeimarsch auf dem Festlande gedacht. Alles athmet hier asiatische Ueppigkeit, bei der auch der Luxus reichen goldenen und silbernen Tafelgeschirres nicht fehlt. Wollen wir aber einen Beweis, dass auch der Kunst als solcher die Pflege nicht fehlte, so liefert ihn uns der Name des Aglaophon, eines der ältesten namhaften Maler, und der noch berühmtere seines Sohnes, des durch Kimon für Athen gewonnenen Polygnot; und mit diesem ziemlich gleichzeitig ist Neseus von Thasos, der Lehrer des eine neue Richtung der Malerei begründenden Zeuxis. So stehen wir hier plötzlich nicht etwa einigen vereinzelten Künstlern, sondern einer Kunstschule von der tiefgreifendsten Bedeutung gegen- über. Aber Thasos besass noch einen Reichthum anderer Art, den es mit Faros, von wo aus es früh colonisirt wurde, gemein hatte, nämlich seinen Marmor. Die Förderung, welche dadurch in erster Linie die Marmorsculptur erfuhr, wird indessen auf die übrigen Zweige der Plastik nicht ohne Einfluss gebheben sein, und so gewinnt hier die Thatsache erhöhte Bedeutung, dass Polygnot, wenn auch ungleich berühmter als Maler, doch zugleich als Bildhauer mit Ehren genannt wird.

Unter den hier dargelegten Voraussetzungen wird Allem, was von Resten der Sculptur aus Thasos und seiner Umgebung erst in den letzten Zeiten bekannt geworden ist, erhöhte Aufmerksamkeit zuzu- wenden sein.

Aus der Umgebung von Abdera ist kürzlich das Fragment einer Grabstele nach Athen gelangt, leider nur ein Jünglingsko pf mit leicht ge- welltem, an den Spitzen geringeltem Haar (Schöne, Griech. Rel., T. 29, 123).!) In mässig hohem, nach der Mitte etwas gerundetem Relief gearbeitet, zeichnet er sich vor den bisher behandelten Werken durch breite, pastose Behandlung aus. Allerdings steht er, obwohl er dem schon vorge- schrittenen Archaismus angehört, hinsichtlich des innerlichen Lebens selbst den älteren attischen Arbeiten nach und strebt ebensowenig nach der scharfen und herben Correctheit äginetischer Formen. Dagegen hat er vor ihnen, selbst in dem noch schematischen Haar, eine w^eiche Fülle und eine künstlerische Abrundung voraus, wie sie nur das Resultat einer langen Uebung zu sein pflegt, welche ein ruhiges Fortschreiten nicht ausschliesst, aber von energischen Neuerungen wenig beunruhigt wird. Suchen wir eine Parallele für diesen Stil, so finden wir sie in einem der älteren Hermesköpfe auf Münzen von Aenos (Imhoof-Biumer, Choix de monn. I, 4), an dem nur das Haar in Folge der Metalltechnik eine

Vgl. Ath. Mitth. VIII, 1883, T. 6, S. 91 (Brunn).

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etwas grössere Schärfe zeigt, während die Breite der Anlage, die Weich- heit der Formen, ja die ganze Art der Reliefbildung die grösste Ver- wandtschaft mit dem Marmor verräth.

Eine noch nähere Parallele bietet für die Münzen von Akanthos ein Relief vom Thore dieser Stadt^), jetzt im Louvre befindlich, dar, indem es auch in der Darstellung des Stadtwappens, wie wir wohl sagen dürfen, nämlich dem Löwen, der einen Stier überfällt, mit den Münz- typen übereinstimmt. Freilich gehört es kaum noch der eigentlich archaischen Kunst an, und es fehlt ebenfalls die feine und scharfe decorative Durchbildung des Details, zu welcher die Technik der Stempelschneide- kunst einlud. Aber geblieben ist auch hier die Breite und Fülle in der Anlage, wie in der Ausführung aller Formen, jenes auf langer Schul- tradition beruhende allgemeine Verständniss bei geringerer individueller Eigenthümlichkeit und geringerer Energie eines in das Innere eindringenden Studiums.

Nicht so einfach liegen die Verhältnisse bei einem Monument, welches die vorhergehenden an Bedeutung weit überragt, aber bei flüchtiger Betrachtung den bisherigen Beobachtungen ehei zu widersprechen, als sie zu bestätigen scheint. Dasselbe wurde 1864 auf der Insel Thasos entdeckt und befindet sich jetzt ebenfalls im Museum des Louvre (E. Miller in der Revue arch. 1865, II, pl. 24 25; Michaelis in der Arch. Zeit. 1867, No. 217.'^^) Es ist eine Art Basis von 0,92 m Höhe, 2,iom Breite und etwa i m in der Tiefe, die auf drei Seiten mit Reliefs geschmückt ist. Die Mitte der Vorderseite nimmt eine nach Art einer Thür umrahmte Nische ein. Neben derselben steht links vom Beschauer ziemlich in Vorderansicht Apollo in langem Chiton und Mantel, die Leier an der linken Seite tragend, dem eine weibliche Gestalt mit beiden Händen das Haupt zu schmücken in Begriff ist. Auf der Schmalseite schliessen sich drei andere weibliche Gestalten mit Tänien und Früchten in den Händen an. Rechts von der Nische stehen wiederum drei Frauen mit ähnlichen Attributen. Auf der Nebenseite folgt Hermes mit spitzer Mütze, Chlamys und Caduceus, die Rechte lebhaft ausstreckend und vor- schreitend, hinter dem noch eine Frau mit einer Tänie in den Händen steht. Eine Inschrift über der Nische (eine andere auf dem oberen Thürgesims ist späterer Zusatz) besagt, dass man den Nymphen und dem Apollon Nymphegetes Männliches und Weibliches nach Belieben , aber

^) Br.-Br. 231b, Vgl. Brunn, Münchn. Sitzungsber. 1877, I, S. 17. ^) Rn.: Rayet , Mon. de l'art ant., pl. 20 21; [Br.-Br. 61]. Zur Anordnung: Michaelis, Americ. Journ of Arch. V, 1889, p. 417 fif., fig. 41.

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kein Schaf oder Schwein darbringen dürfe und dass kein Paean ge- sungen werde. Dazu wird in einer Inschrift unter dem Hermes bemerkt, dass beim Opfer der Chariten Ziege und Schwein ausgeschlossen sei. In den Frauengestalten sind demnach Nymphen und Chariten zu er- kennen, die jedoch durch Attribute nicht hinlänglich von einander unter- schieden, auch nicht durch eine bestimmte Handlung näher mit einander verknüpft sind. Für ihre Reihenfolge mögen Rücksichten des Cultus maassgebend gewesen sein; denn bei freier Wahl würde der Künstler den Hermes besser dem Apollo gegenübergestellt und die drei Frauen- gestalten der Vorderseite auf die Nebenseite, dem andern Dreiverein ent- sprechend, versetzt haben. Die Inschriften sind in ionischem Dialect abgefasst, der in Thasos durch die Colonisation von Faros aus bis zur Niederwerfung des thasischen Aufstandes im J. 463 v. Ch. durch die Athener herrschte. Allerdings wäre es nicht unmöglich, dass die ältere ionische Schrift statt der attischen auch noch später auf einem Privat- monumente vorkäme, als welches die vorliegende Basis übrigens keines- wegs nothwendig zu betrachten ist. Doch ist es wahrscheinlicher, dass das Werk den letzten Zeiten der Unabhängigkeit von Thasos angehört.

Leider war es mir im Herbst 1871 nur wenige Minuten vergönnt, das Original zu betrachten, zu kurz, um die Eigenthümlichkeiten des Stils genauer zu untersuchen, aber doch lange genug, um mich zu überzeugen, dass die bisherigen Abbildungen einen ungenügenden Begriff von dem Charakter des Werkes geben, welches unter den uns erhaltenen Monu- menten dieser Periode unbedingt eine der ersten Stellen einnimmt. Der fast verwirrende Eindruck, den die Masse des Details in den Abbildungen macht, ist dem Original fremd. Das Relief ist nicht nur hoch, sondern auch in kräftiger Rundung gearbeitet, und alle Hauptformen treten voll und in vortreftlicher plastischer Wirkung hervor. Allerdings ist auch das reiche Detail nicht nur vorhanden, sondern auch mit Sicherheit, Präcision und Feinheit ausgeführt, aber es liegt in der ganzen Behandlung etwas Knappes, Enges. Alles ist den Hauptformen in einer fast einseitigen Weise untergeordnet: es sind zwei verschiedene, ja entgegengesetzte Principien, die hier noch ohne die richtige Vermittelung neben einander herlaufen. Diese Zwiespältigkeit macht sich aber fast in allen anderen künstlerischen Beziehungen geltend, so zunächst in der allgemeinen An- lage der Figuren. Die Frauen beharren in Stellung und Haltung noch ganz in dem alterthümlichen Schematismus, so dass sie z. B. über das, was die verwandten Gestalten des Harpyienmonuments darbieten, kaum hinausgehen. Die Füsse stehen gleichmässig auf dem Boden; die Be-

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wegung- der Arme übt auf die Haltung des Körpers keinen Einfluss. Nur in der einen Gestalt, welche Apollo bekränzt, zeigt sich ein Fort- schritt zu grösserer Freiheit. Dagegen herrscht in der Gestalt des Hermes, besonders in ihrem oberen Theile, bereits lebendige Bewegung. Noch auftälliger ist am Apollo gerade bei seiner ruhigen Stellung das Abgehen von dem hergebrachten Schematismus. Nicht nur hat der Künstler hier die gewöhnliche Pronlstellung aufgegeben, sondern auch darin, dass der Schwerpunkt des Körpers ganz in das rechte Bein gelegt ist, tritt uns ein durchaus neues Princip entgegen, wenn es auch, wie die Bildung des linken zeigt, noch keineswegs klar und vollständig erkannt und verstanden ist. Eben so möchte man die Gewandung der männlichen Figuren der Disposition nach schon im Princip frei nennen und nur von Resten des Archaismus in der Ausführung sprechen, während umgekehrt in den Frauengestalten zwar alles Detail sehr sauber behandelt, in demselben auch nach Mannigfaltigkeit und Abwechselung gestrebt ist, in der Beziehung der Gewandung zu den Formen des Körpers dagegen dem Harpyien- monument gegenüber sich kein wesentlicher, wenigstens kein principieller Fortschritt offenbart. Denn noch immer herrscht entweder trotz der Umhüllung die Form des Körpers oder es macht sich ebenso ausschliesslich das rein Stoftliche des Gewandes und seine künstliche Faltenlegung geltend, ohne dass eine Vermittelung beider Principien auch nur ernstlich erstrebt wäre. Und doch lässt sich ein bedeutender Fortschritt, eine Durchbildung und Verfeinerung in den verschiedensten Richtungen nicht leugnen. Zur richtiger Würdigung dieser Gegensätze werden wir nach den inneren Gründen derselben forschen und uns zunächst an die Bemerkungen über den allgemeinen Kunstcharakter jener Gegenden erinnern müssen. Auf diesen weist die Fülle und Rundung der Hauptformen in der bestimmtesten Weise hin, so dass wir den Stil des Werkes in seiner Grundlage als einen einheimischen bezeichnen dürfen. Seine natürliche Entwickelung musste aber durch neue Einflüsse in ziemlich plötzlicher Weise gestört worden sein. Wir wissen nun, dass unmittelbar nach den Perserkriegen Athen in jenen Gegenden schnell einen massgebenden Einfluss gewann, dem sich Thasos durch seinen Abfall nicht zu entziehen vermochte, viel- mehr durch seine Besiegung im J. 463 v. Chr. in noch verstärktem Maasse verfallen musste. Jenes verfeinerte Detail aber, das mit den Hauptformen so merkwürdig contrastirt, erinnert in auffallender Weise an die Verfeinerung der attischen Kunst, wie wir sie in dem Relief der den Wagen besteigenden Frau kennen gelernt haben. Nehmen wir also an, dass sich hier plötzlich ein attischer Einfluss geltend machte, so wird es

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nicht Wunder nehmen können, dass bei der alten Praxis der thasischen Marmorarbeit die Neuerungen in ihrer materiellen Ausführung sofort eine relativ hohe Vollendung, eine sichere, feine Hand zeigen; aber ebenso erklärt es sich, dass sie nicht sofort die alten Grundanschauungen voll- ständig durchdrangen und umschufen, sondern sich uns als ein mehr äusserlich aufgetragenes Element verrathen. Ohne Einfluss scheinen sie jedoch auch nach dieser Seite nicht geblieben zu sein. Denn die Breite in der Anlage der Umrisse hat bereits einer grösseren Schlankheit Platz gemacht, wenn dieselbe auch z. B. bei den drei Frauen der Vorderseite zum Theil durch die Accommodation an die Knappheit des Raums bedingt erscheinen mag, so dass sich das einheimische Element mehr auf die Entwickelung des Reliefs in der Höhe und die dadurch erzielte Sättigung der Formen beschränkt sieht.

Erst eine weitere Durchforschung von Nordgriechenland wird die Mittel zur Beantwortung der Frage bieten, in welcher localen Aus- dehnung die allgemeinen Kunstanschauungen jener Gegenden sich geltend gemacht haben mögen. Für jetzt darf wenigstens auf eine Thatsache hingewiesen werden , nämlich dass selbst Thessalien in künstlerischer Beziehung jenem Nordgebiet in damaliger Zeit angehört haben muss. Denn nur im Anschluss an die oben angeführten Monumente lässt sich ein Relief aus der Gegend von Pharsalos behandeln, welches vor wenigen Jahren durch Heuzey in das Museum des Louvre gelangt ist (Heuzey, Mission scientif. en Macedoine, pl. 23; Journal des Savants 1868, p. 380)^). Zwei nur bis zur Höhe des Ellenbogens erhaltene Mädchen- gestalten stehen einander gegenüber mit Blumen in den Händen, wie um sich dieselben gegenseitig zu zeigen. Eine eigenthümliche Würde und stille Ruhe sind über dem Ganzen verbreitet. Es lässt sich nicht wohl entscheiden, ob in der Darstellung ein tieferer symbolischer Sinn ver- borgen liegt, allein schon das blosse Halten und Zeigen der Blumen, die Aufmerksamkeit des gegenseitigen Anschauens zieht uns an. Eine feine, noch etwas befangene Empfindung macht sich nicht nur in der leisen Neigung der Köpfe, sondern auch in der Bewegung und Anord- nung der Hände geltend, auf welche der Künstler eine besondere Sorg- falt verwendet hat. Wenn ferner unter den Fortschritten der Malerei des Polygnot angeführt wird, dass er die Köpfe der Frauen mit bunt- farbigen Binden schmückte, so sehen wir an diesem Relief, was auch die Plastik nach dieser Richtung zu leisten vermochte. Nehmen wir dazu

^) Rayet, Mon. de l'art ant., pl. 12; Br.-Br. 58.

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die grosse Breite der Formen im Einzelnen, wie in der Anlage des Ganzen, welches die Grundfläche des Reliefs fast vollständig bedeckt, so möchte man sich fast in eine Zeit vollkommen freier und grossartiger Entwickelung versetzt glauben, wenn nicht einige Spuren von schema- tischer Behandlung in den Falten der Gewänder und Binden, in der An- lage des übrigens in der Ausführung fein empfundenen Haares, nament- lich aber das noch etwas starre Lächeln des Mundes und die von richtiger Profilbildung noch durchaus entfernte Auffassung des Auges uns fast wider unsern Willen auf die Schranken des Archaismus zurückwiese. Setzen wir aber die kritische Betrachtung noch weiter fort, so nehmen wir zu unserer Ueberraschung wahr, in welcher Weise der Künstler unser Auge zuerst geblendet hat. An der Figur rechts kann die stark ange- deutete Brust doch nur die rechte sein, wo aber befindet sich die linke Der Daumen der erhobenen Hand hat eine unmögliche, die Rechte der gegenüberstehenden Figur eine gezwungene Haltung, in welcher sie sofort ermüden musste. Wie haben wir uns die Formen ihres Körpers unter der Gewandung in der Höhe des Ellenbogens, wie die rechte Schulter und die Rückenlinie zu denken.^ Wie verhält es sich mit der Durch- bildung der einzelnen Formen an den Armen? Unterliegt nicht auch die Art, wie die Umrisse der Oberarme vom Gewände verdeckt sind, von künstlerischer Seite einem gewissen Tadel r Und dennoch : wenn wir uns aller dieser Mängel bewusst geworden sind, so wird trotzdem unser Gefühl dagegen protestiren, dass wir hier überall wirkliche Fehler anerkennen sollen: wir werden gefangen bleiben durch den Eindruck des Ganzen. Angesichts dieser Widersprüche werden wir uns der früher aufgestellten Scheidung zwischen decorativem und monumentalem Relief erinnern müssen. Indem das erstere wenigstens in seinen Anfängen als eine Art Bilderschrift bezeichnet werden konnte, machte sich in ihm als eine der ersten Forderungen ein klarer, nicht selten bis zum Schema- tischen gesteigerter Ausdruck in den künstlerischen Motiven der Be- wegung und Handlung geltend. In formeller Beziehung aber musste das gewissermassen als erhabene Zeichnung behandelte Relief sich durch- aus den tektonischen Forderungen decorativer Raumfüllung und Gliede- rung unterordnen und in dieser relativen künstlerischen Unselbständigkeit durfte es eine vollkommene plastische Durchbildung, wie wir sie vom monumentalen Relief verlangen, nicht einmal erstreben, üfienbar ist das schöne Fragment von Pharsalos auf den gleichen Grundlagen erwachsen und erfüllt alle Forderungen eines decorativen Reliefs in vollendetem Maasse. Um aber ganz zu verstehen, wie es zu dieser Stufe der Vollen-

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dung gelangte, dürfen wir nicht vergessen, dass gerade die decorative Kunst in ihren Ursprüngen auf Asien hinweist, dass sie von früh an in Kleinasien in ausgebreiteter Uebung war, und dass die künstlerischen Be- ziehungen Nordgriechenlands uns ebenfalls nach Kleinasien weisen. Während sich nun im eigentlichen Griechenland der Entwickelungsprocess der Kunst bis zu voller Freiheit in die kurze Zeit von kaum mehr als einem Jahrhundert zusammendrängte, in welcher sie überall durch ener- gische Arbeit vorwärts strebt und sich der noch hemmenden Bande zu entledigen trachtet, spüren wir an den nordgriechischen Arbeiten und besonders in dem Relief von Pharsalos nichts von solchem Ringen und Kämpfen, sondern empfinden, dass wir es mit einer Kunst zu thun haben, die seit lange sich im Besitze gewisser Mittel befindet, aber mehr danach strebt, sich dieser Mittel mit Geschick zu bedienen und dieselben auch innerhalb gewisser Grenzen weiter zu entwickeln, als dass sie darauf bedacht wäre, diesen Besitz durch strenge Arbeit auf neuen, bisher nicht betretenen Gebieten zu vermehren. Daher jene Ruhe, man möchte sagen : Stille, welche über das Relief von Pharsalos verbreitet ist. Dem Künstler genügt es zu geben, was er ohne Mühe zu geben vermag, und wir begnügen uns, nicht mehr von ihm zu fordern/)

Als A. Dürer im J. 1505 Venedig besuchte, da hatte die Kunst Italiens die längere Uebung, die an das Alterthum anknüpfende Tra- dition voraus, während seine eigenen Werke die Spuren sauerer, persön- licher Arbeit nicht ganz verleugnen konnten. Ihm mochten die Arbeiten der Italiener erscheinen etwa wie uns jene Arbeiten aus Nordgriechen- land, ihnen die seinigen etwa wie uns die Statuen der Giebel von Aegina. Aber keiner achtete den andern gering. Freilich übte bald nachher die grössere Freiheit der Italiener auf die Eigenartigkeit der deutschen Kunst eine fast erdrückende Wirkung. Glücklicher lagen die Verhältnisse in Griechenland. Das durch die Kämpfe mit den Persern erstarkte eigent- liche Hellas assimilirt sich, wie wir sehen werden, den Bezitz seiner nördlichen Stammesgenossen, aber erfüllt ihn durch eigene Arbeit mit einem neuen noch höheren Geiste.

Sicilien. Im eigentlichen Hellas bot die Kunst dieser Periode nur wenig directe Berührungspunkte mit der vorangehenden dar. Anders in

1) Rn.: Stele von Phalanna, Bull. d. corr. hell. XII, 1888, pl. 16, p. 373 ff. [Weitere, nächstjüngere Reliefproben aus dem thessalischen Kunstbezirk: ebenda, pl. 6, p. 179 (Fougeres); Ath. Mitth. VIII, 1883, T. 2— 7, S. 81 ff. (Brunn), vgl. Br.— Br. 233 ; XII, 1887, S. 73 ff. (Wolters); XV, 1890, T. 4—7, S. 199 ff. (Heberdey).]

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Sicilien, wo wir sofort wieder nach Selinunt zurückgeführt werden. Die Ent- wickeking, die wir früher an den Metopen der Tempel C und F in zwei Stadien kennen lernten, findet hier ihre Fortsetzung in den Sculpturen des Tempels E (Serradifalco II, t. 30 35)^). Abgesehen von einigen Bruchstücken und Köpfen, sind fünf Metopen erhalten, eine darunter freilich in so verwittertem Zustande, dass die Deutung auf Apollo und Daphne durchaus zweifelhaft bleiben muss. Unverkennbar sind die Gegenstände der übrigen : Athene als Ueberwinderin eines Giganten; Herakles eine zurückweichende Amazone mit dem Tode bedrohend ; Aktäon, auf Geheiss der Artemis von drei Hunden angefallen ; endlich Zeus, der sitzend die vor ihm stehende Hera voll Liebesverlangen an sich zu ziehen sucht. Betrachten wir diese Compositionen theils für sich, theils im Verhältniss zum gegebenen Räume, so lässt sich den älteren Metopen gegenüber ein Fortschritt zu grösserer Freiheit und Lebendigkeit, aber eben so wenig doch noch eine gewisse Beschränktheit des künstlerischen Vermögens nicht verkennen. Es spricht nicht gegen die Selbständigkeit des Künstlers oder der Künstler, dass die Grundmotive in Stellung und Bewegung der handelnden Hauptfiguren sich nur wenig verändert schon in der etwas älteren Gruppe der athenischen Tyrannenmörder finden. Aber einiges Bedenken erregt es, dass ein und dasselbe Motiv, die Vorwärtsbewegung des linken Fusses und Armes und das gleichzeitige Zurückweichen der rechten Seite, ziemlich gleich- mässig an dem angeblichen Apollo, der Athene, dem Herakles und in umgekehrter Anordnung auch an dem Aktäon wiederkehrt, dass ebenso das Hauptmotiv der Daphne und Amazone im Ganzen übereinstimmt, während der Versuch, es in dem stürzenden Giganten weiter zu ent- wickeln, ziemlich verunglückt ist; dass auch (von Kopf und Armen ab- gesehen) im Motiv der Hera und Artemis eine gewisse Gleichförmigkeit hervortritt. Nur bei der Figur des Zeus ist durch die Biegung des rechten Kniees und das Aufstützen des linken Armes nach rückwärts ein grösserer Wechsel der Linien erzielt und die mehr rhythmische Kreuzung in der Bewegung von Arm und Bein eingeführt. Es darf ferner nicht verschwiegen werden, dass für die Composition im Räume die parallele Haltung der Figuren, welche in ihren Hauptlinien den gegebenen Raum in schräger Richtung durchschneiden, sowohl an sich, als wegen ihrer drei- fachen Wiederholung in den Gruppen des Apollo, des Herakles und der Athene ungünstig wirkt, während beim Aktäon die gleiche Linie mit der starren Haltung der xA.rtemis in einen unangenehmen Contrast tritt. Es

^) Benndorf, Metopen v. Selinunt, T. 7 11; Br.-Br. 290 293.

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ergiebt sich daraus, dass der Künstler zwar das streng architektonische Gleichgewicht in der Gliederung des Raumes, das in den ältesten Metopen herrscht, als ein zu mechanisches Princip aufgegeben hat, dass er nach grösserer Freiheit strebt, aber noch nicht verstanden hat, diese Frei- heit mit den berechtigten Forderungen jenes architektonischen Princips durch eine rhythmische Gliederung zu versöhnen. Ganz dasselbe gilt von der Be- handlung des Reliefs. In den ältesten Metopen beruhten die im Grunde naturwidrigen Stellungen der Figuren innerhalb des Reliefs doch immer auf einem, wenn auch nur halbverstandenen stilistischen Gesetze. Durch Modificationen, besonders in der Stellung der Füsse wie des Kopfes, ist allerdings jene Naturwidrigkeit jetzt aufgehoben. Aber indem der Künstler noch überall daran festhält, die Brust fast ganz in der Vorder- ansicht zu zeigen, verräth er, dass er das eigentliche Gesetz strenger Relief- bildung noch nicht erkannt hat ; ja materiell betrachtet stehen diese jüngeren Sculpturen hinsichtlich des Reliefstils hinter den älteren sogar zurück, indem durch die grössere Freiheit der Stellungen die stilistische Bedeutung der oberen Relieffläche, durch welche vorzugsweise der Eindruck plastischer Ruhe bedingt ist, nicht zu genügender Geltung gelangt. Auch in der Durchführung zeigt sich ein eigenthümliches Schwanken : wir finden in der Gewandung zwar eine eingehende Berücksichtigung der Natur des Stoffes, der dadurch bedingten Art der Falten und einigermassen auch ihres Verhältnisses zu den Formen des Körpers, aber mit diesen Fort- schritten im Einzelnen tritt die alterthümliche Anlage des Ganzen, der Charakter lastender Schwere um so mehr in Contrast, als in der Ge- wandung einer Figur, der des Zeus, der Standpunkt der archaischen Kunst völlig überwunden scheint, wenn auch mehr durch eine glück- liche Beobachtung der Natur, als durch wirkliche Erkenntniss neuer stilistischer Gesetze. In der Modellirung des Nackten ist die alte Schwere gemieden und nur hie und da eine Tendenz zu starker Rundung der Formen geblieben. Das vorgerücktere Alter des Zeus ist durch die grössere Breite der Anlage in gelungener Weise den jugendlicheren Ge- stalten eines Herakles und Aktäon gegenüber hervorgehoben, die ihrer- seits in Verhältnissen und Formen einen unleugbaren Fortschritt bekunden. Aber auch hier beruht alles mehr auf einer richtigen Beobachtung der Natur, als auf einem eindringenden Studium und strenger Stilisirung der Form. Die Köpfe stehen auf der Stufe des entwickelten Archaismus. Wie der verschiedene Charakter des Haars durch bestimmte typische Bezeichnungsweisen unterschieden wird, ohne eigentlich naturwahr zu sein, so treten uns auch in den Gesichtern verschiedene Typen in be-

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stimmter Sonderung entgegen. Indem aber der Gemüthsausdruck der mit dem Tode bedrohten Amazone und des liebessehnsüchtigen Zeus ziem- lich auf dieselbe Weise durch das Sichtbarwerden der Zähne angedeutet wird, empfinden wir, dass durch äussere Mittel ersetzt werden soll, was an innerem Verständni.ss noch abgeht.

Durch diese Bemerkungen soll die Bedeutung dieser Sculpturen keineswegs herabgesetzt werden. Sie sollten nur dazu dienen, das zu hohe Lob einer absoluten Vortrefflichkeit, welches man ihnen hat zuerkennen wollen, etwas herabzustimmen und den Weg zu einer sicheren relativen Schätzung zu bahnen. Eine vergleichende Hinweisung auf die Werke des Phidias und seiner Schule ist nur in so fern gerechtfertigt, als sie gewiss sehr nahe an dessen Zeit heranreichen, kann ihnen aber sonst nur nachtheilig sein. Denn sie veranlasst uns, Ansprüche zu erheben, die der Künstler selbst gar nicht an sich hat stellen wollen. In ihren Fortschritten trennen sich diese Sculpturen allerdings nicht von der all- gemeinen Entwickelung der griechischen Kunst; aber wohl in noch höherem Maasse geben sie sich als die directe Weiterbildung der früheren selinuntischen Kunstweise zu erkennen: man kann sagen, dass selbst die allgemeinen Principien des Fortschrittes eine locale Färbung annehmen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Selinunt fast am westlichsten Punkte griechischer Cultur gelegen ist, und eben so wenig, dass es trotz hohen materiellen Gedeihens doch nie Sicilien, geschweige denn weiteren Ge- bieten gegenüber eine dominirende Stellung, etwa in dem Maasse wie Syracus, eingenommen hat, dass sein Verkehr und Handel mit dem Aus- land überwiegend mehr passiv als activ war. Wir dürfen ferner nicht übersehen, dass auch diese jüngeren Sculpturen noch wie die älteren, von den aus Marmor eingesetzten Köpfen, Armen und Füssen der Frauen abgesehen, aus dem gewöhnlichen einheimischen Stein und daher gewiss nicht von den ersten Künstlern ihrer Zeit, vielleicht nicht einmal der Stadt ausgeführt sind. In den Hauptsitzen der Kunst, wie Athen, Aegina, Sikyon, wird sich auch schon damals der Charakter einer bestimmten Schulung selbst in untergeordneten Arbeiten ausgeprägt haben ; solche Einwirkungen konnten sich aber in weiter abgelegenen Orten wie Selinunt nur theilweise und ungleichmässig äussern; auch das Gute musste zum Theil gewissermassen unverdaut bleiben, und da es nicht aus der localen Uebung herausgewachsen, nicht organisch mit ihr verwachsen war, so entsteht nothwendig ein Schwanken; Gelingen und Misslingen beruht mehr auf Zufall, als dass es das Ergebniss sicherer Voraussetzungen wäre. Wenn endlich eine gewisse W^eichheit der gesammten Behandlung als Zeichen

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einer weit fortg-eschrittenen Entwickelung betrachtet worden ist, so werden wir auch diese jetzt weit mehr auf den Mangel einer schulmässigen Durchbildung zurückführen, nicht als ein Zeichen grösserer Freiheit, sondern als Laxheit bezeichnen müssen, die allerdings zum Theil wieder durch locale Verhältnisse bedingt erscheint, indem in dem gebotenen Material eine präcise Ausführung kaum möglich war. So haben diese Sculpturen für die Geschichte der Kunst weniger eine absolute, als eine relative Bedeutung. Sie zeigen allerdings, wie die allgemeinen Fortschritte sich auch über die entfernteren Gebiete hellenischer Herrschaft verbreiten, wie aber eben in der Entfernung von den Knotenpunkten der Entwickelung die strenge Zucht der Schule sich lockerte und localen Einflüssen einen weiteren Spielraum gestattete. Wir dürfen diese Sculpturen nicht einmal als Repräsentanten eines sicilischen, sondern nur eines selinuntischen Kunststiles betrachten. Das lehrt namentlich eine Vergleichung der gleichzeitigen Münzen Siciliens, denen die speciellen Eigenthümlichkeiten der selinuntischen Reliefs durchaus fremd sind.')

Kleinasien. Aehnliche Erscheinungen wie in Selinunt wiederholen sich an den entgegengesetzten Grenzen der hellenischen Cultur. Klein- asien, von wo im Anfange der vorigen Periode die wichtigsten An- regungen ausgegangen waren, vermochte diese einflussreiche Stellung in der darauf folgenden Zeit nicht zu behaupten. Das Vordringen der persischen Macht, welches die politische Selbständigkeit der dortigen griechischen Colonien brach, musste natürlich auch das geistige Leben beeinträchtigen und grössere öffentliche Unternehmungen auf dem künst- lerischen Gebiete unmöglich machen. So sah sich die Kunst auf Arbeiten für private Zwecke, besonders für Grabdenkmäler beschränkt, deren einige aus Xanthos in Lykien jetzt im britischen Museum neben dem Harpyienmonument aufgestellt sind,^) an welches sie sich auch in kunst- historischer Beziehung anschliessen. Am nächsten steht ihm ein wahr- scheinlich aus dem Giebeldreieck eines Grabmals herrührendes ReHef, (Ann. d. Inst. 1844, p. 150), in dessen Mitte sich eine ionische Säule erhebt, auf welcher eine den Harpyien verwandte weibliche Gestalt mit Vogelfüssen und ausgebreiteten Flügeln sitzt; wohl als Darstellung eines Grabdenkmals aufzufassen. Zu Füssen der Säule sitzen zwei Greise, wie in ernster Unterredung begriflen, einander gegenüber. Die Verwandt-

^) Rn.: Head, History of the coinage of Syracus (Num. Chron. XIV); Gardner, Sicilian Studies (Num. Chron. XVI).

^) Rn.: H. Prachov, Antiquissima monumenta Xanthiaca, Petersb. 187 1.

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Schaft dieser asiatisch schweren Gestalten mit den sitzenden Göttern des Harpyienmonumentes ist unverkennbar; nur zeigt sich in der ganzen Anlage, besonders der Gewandung, eine etwas grössere Freiheit. Leider aber beruht dieselbe nicht auf einem selbständigen Verständniss des ausführenden Künstlers; er folgt vielmehr nur dem allgemeinen Fort- schritte der Zeit, während die Behandlung selbst eine trockene und handwerkmässigere geworden ist. Mehrere andere Stücke,^) die sich in späten Befestigungen von Xanthos eingemauert fanden, scheinen Theile eines einzigen Grabmales zu sein. Hinter einem Wagen, von dem nur der Rest eines Rades erhalten ist, sehen wir einen Knecht neben seinem Pferde; ferner auf zwei weiteren Platten einen zweiräderigen mit zwei Pferden bespannten Wagen, auf dem ein bärtiger Mann sitzt und eine jugendlichere Gestalt als Lenker steht ; dahinter ein jugendlicher Reiter. Die gleiche Grösse hat eine Art Procession von sechs vollständig be- kleideten weiblichen und männlichen Gestalten mit Stäben und Fackeln. Eine schmalere Platte zeigt eine Frau und einen Jüngling nebst dem Rest eines Bettes, worauf der Fuss einer gelagerten Gestalt. In allen diesen Stücken ist eine weitere Entwickelung zu grösserer Freiheit un- leugbar vorhanden : die Stellungen sind weniger gebunden ; die mittlere Figur der Procession z. B. wendet sich frei nach der ihr folgenden zurück; der Reiter sitzt in freier Haltung auf seinem Ross; auch die Bewegung des Wagenlenkers ist richtig beobachtet. Die Behandlung der Obergewänder weist sogar schon über die Zeitgrenzen der vorliegen- den Epoche hinaus, und nur in den Falten der Untergewänder ist noch der Zusammenhang mit archaischer Kunstübung erkennbar. Allein mit der Freiheit ist keineswegs die Kraft gewachsen. Schon am Harpyien- monument entsprach das innere Verständniss nicht völlig der äusseren Gesammtwirkung ; aber auf dieser älteren Stufe des Archaismus bildete schon die durch eigene lange Uebung gewonnene Geschicklichkeit und Gewandtheit ein hohes Verdienst, welches bei ruhiger Weiterentwickelung auch die Gewähr für eine spätere grössere Vertiefung des Verständnisses zu bieten schien. In diesen späteren Reliefs vermissen wir jedoch sogar dieses frühere Verdienst; der Künstler besitzt nicht einmal die Kraft, die ihm von anderswoher dargebotene Freiheit zu benutzen: die Aus- führung ist ängstlich, mager und trocken. Noch mehr offenbart sich dieses Unvermögen, wo der Künstler seine eigene Kenntniss zeigen soll. Gelingt ihm auch zuweilen ein einzelnes Motiv, so ist doch das Ver-

^) Prachov, T. i, 2. 3a c; Br.-Br. 102.

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ständniss der Formen im Einzelnen, wie in ihrem gegenseitigen Ver- hältnisse, namentlich bei den Pferden, wo so manche Schwäche nicht durch die Gewandung versteckt werden kann, ein sehr mangelhaftes: sie sind in ihren Bewegungen durchaus steif und hölzern; und wenn sich der Künstler über manche Schwierigkeiten durch eine schematische Be- handlung der Massen hinwegzuhelfen sucht, so tritt er dadurch mit sich selbst in Widerspruch, indem er umgekehrt bei den bekleideten Gestalten das Detail den Massen nicht unterzuordnen versteht. So ist aus der Kunst in Lykien, die so üppig gedeihen zu wollen schien, der eigene Lebenssaft geschwunden, und zu einer Zeit, wo sich offenbar in Hellas schon die vollste Blüthe entfaltet hatte, bietet sich hier das Bild eines verkümmerten, in der Entwickelung zurückgebliebenen Gewächses dar. Mag dabei ein Theil dieser Schwächen auf Rechnung einer künstlerischen Individualität untergeordneten Ranges zu setzen sein, so müssen wir doch ihren tieferen Grund in der Loslösung Lykiens von dem lebendigen Zu- sammenhange mit Griechenland erkennen.

Gegen diese Auffassung scheint allerdings eine andere Sculptur zu sprechen, ein Fries von Hühnern und kämpfenden Hähnen.^) Hier ist in der Ausführung alles präcis, ja scharf geschnitten; die Charakteristik der Thiere sicher und klar, die Stellungen und Bewegungen höchst lebendig aufgefasst: also überall das gerade Gegentheil dessen, was wir an den vorigen ReHefs beobachtet haben. Und doch, beachten wir bei diesen letzteren den künstlerischen Vortrag in dem wohlerhaltenen Kopfe des Reitknechts, besonders aber in den Pferden, so stellen sich wiederum Aehnlichkeiten heraus, welche geradezu auf eine enge Verwandtschaft zwischen beiden Sculpturwerken hindeuten. Um diesen Widerspruch zu lösen, müssen wir uns das Bildungsprincip klar machen, auf welchem die Darstellung des Hahnenfrieses beruht. Derselbe gehört der decorativen Sculptur an, welche die Auffassung der Figuren durchaus dem architekto- nischen Princip unterordnet. Der Künstler modellirt nicht das Einzelne genau der Natur entsprechend durch, sondern unter Beseitigung alles mehr Zufälligen und Individuellen sucht er überall das mathematische Schema auf, welches den Linien und Formen zu Grunde liegt: selbst die einzelne Feder dient nur, dieses Princip zur Geltung zu bringen. So lässt sich dieses Relief der Zeichnung eines Architekten vergleichen, die nicht aus freier Hand, sondern mit Anwendung mechanischer Hülfs- mittel ausgeführt ist. Auf diesem Wege ist es möglich, eine relativ hohe

Br.-Br. 103

Erhaltene Werke.

materielle Vollendung, grosse Sauberkeit und Präcision zu erreichen, ohne dass dabei das individuelle künstlerische Empfinden wesentlich in Anspruch genommen würde. Dagegen verändern sich bei freier, durch ein mathe- matisches Princip nicht bedingter Auffassung die Bedingungen des künstlerischen Schaffens. Hier bestimmt sich unser Urtheil nach dem Maasse eben jenes künstlerischen Empfindens. Je mehr sich daher in den zuerst behandelten Reliefs der Mangel organischen Verständnisses fühlbar macht, in um so ungünstigerem Lichte wird uns die ganze Arbeit erscheinen, obwohl sie materiell hinter der des kleinen Frieses im Grunde nicht zurücksteht. Um uns vor Ueberschätzung dieses letzteren zu hüten, mag hier auf die archaischen Münzen von Himera in Sicilien verwiesen werden. ^) Der auf ihnen dargestellte Hahn zeigt trotz strenger Stilisirung eine auf tieferem Studium der Natur beruhende Durchbildung.

Auf gleicher Linie mit dem Hahnenfriese stehen zwei Reliefs aus den spitzbogigen Giebelflächen eines Grabdenkmals : ^) je zwei geflügelte Sphinxe, die einander gegenüber kauern. Auch hier das Schematische in der Anlage und besonders in den Flügeln die gleiche mathematische Präcision der Ausführung; dagegen an den Thierleibern wiederum mangel- haftes Eindringen in das Organische der Formen. Nicht unmöglich ist es daher, dass Sphinxe und Hähne einem und demselben Monumente angehören.

Den Schluss dieser Reihe bilden mehrere Friesstücke: ^) ein Löwe, der einen Hirsch zerfleischt, ein Eber, Panther, am Boden kriechende Satyrn. Durch Grösse und Darstellung fordern sie zu einer Vergleichung mit dem Fries von Assos auf. Sie tragen nicht mehr den Charakter des Sphyrelaton, sondern setzen die Ausbildung des monumentalen Reliefs voraus. Doch bleiben sie in der Einfachheit der Umrisse, sowie der Modellirung in grossen Flächen dem Wesen der decorativen Kunst treu. Von strengem Archaismus sind nur wenige Spuren zurückgeblieben, die sich noch mehr in Anlage und Bewegung, z. B. der Satyrn, offenbaren, als in den einzelnen Formen, und streng chronologisch betrachtet mögen diese Reliefs sogar in die folgende Periode gehören. In ihrem Geist jedoch entfernen sie sich noch nicht von der bisherigen Praxis, ja ihre Bedeutung liegt vielmehr darin, dass sie uns zeigen, bis zu welchem Punkte die künstlerische Routine, die wir als altes Erbtheil der klein- asiatischen Kunst betrachten dürfen, ohne neuen geistigen Anstoss auf dem Gebiete der decorativen Kunst vorzuschreiten fähig war.

^) Rn.: Gardner, Types of gi-eek coins, pl. II, 13, vgl. 41 (Adler). 2) Prachov, T. 4—5; Br.-Br. loia. ^) Prachov, T. 6; Br.-Br. 104.

Brunn, Gr. Kunstgeschichte II.

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

Cypern. Nicht weit von der Küste Lykiens entfernt liegt Cypern. Die Bedeutung dieser Insel für die Anfänge der griechischen Kunst ist bereits früher gewürdigt worden. Doch musste in der Kreuzung der verschiedenartigsten Einflüsse, die anfangs so befruchtend wirkte, wiederum die Ursache erkannt werden, dass sich gerade in Cypern die griechischeKunst nicht aus sich heraus zur Selbständigkeit zu entwickeln vermochte. Die all- gemeinen Verhältnisse bleiben auch nach dem Ende der ägyptischen Oberherrschaft unter den Persern bis um die Mitte des fünften Jahr- hunderts unverändert und finden ihren unzweideutigen Ausdruck in den Kunstwerken dieser Epoche. Unter den Sculpturen von Golgoi ist die Statue eines bärtigen Mannes, wahrscheinlich Priesters, in langem Ge- wände und mit der eigenthümlichen cyprischen Mütze besonders charakteristisch (Taf. I, Nr. 12 der S. 74 citirten Abhandlung von DoelH). Unzweifelhaft ist der asiatische Einfluss im Kopfe, der sich nur wenig von dem einer der S. 74 erwähnten Figuren entfernt und mehr äusserhch eine griechische Zuthat in den lang herabhängenden einzelnen Haar- zöpfen erhält. Griechisch ist auch die Haltung der etwas gehobenen und vorgestreckten Vorderarme, die in andern cyprischen Statuen, freilich besonders wegen des gebrechlichen Materials, am Körper anzuliegen pflegen. Dieser selbst kommt unter dem Gewände etwas mehr als sonst zur Geltung, aber doch nicht so weit, dass die Darstellung seiner Formen der eigentliche Zweck des Künstlers wurde. Am meisten griechisch ist die Gewandung; aber ist sie das geistige Eigenthum des Künstlers.^ Wir erhalten vielmehr den Eindruck, dass er das ganze System der Faltengebung von anders woher entlehnt und zwar in sauberer Ausführung, aber mit einem nur äusserlichen Verständniss auf sein Werk übertragen habe. Mehrere andere Statuen (Doell, Taf IV und V) unterscheiden sich von der eben betrachteten nicht dem Princip nach, sondern nur in dem Maasse der Anwendung desselben : die Köpfe werden im Ausdruck individueller und nähern sich in der Form dem Griechischen. In den gerippten Untergewändern, wie in den sich nach und nach dem Wurfe gemäss gliedernden Obergewändern sind überall die weiteren Fortschritte der griechischen Kunst erkennbar ; aber überall fehlt die Frische eigenen Erfindens und Schaffens und die selbständige Durchdringung des Stofles. Der Mangel strenger Schule hindert die Ausbildung eines festen Stils, und die scheinbare Weichheit ist Verweichlichung. Wir befinden uns einem ungelösten Gegensatze gegenüber: der Boden, auf dem die

^) Br.-Br. 206.

Erhaltene- Werke.

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Künstler leben , die Atmosphäre , in der sie sich bewegen , sind asiatisch, aber von allen Seiten dringt griechischer Einfluss ein, der jedoch, so lange er sich nicht auf politische Herrschaft stützt, noch nicht stark genug ist, das innere Wesen der Kunst von Grund aus zu verändern.

Verwandten Erscheinungen begegnet man in der etruskischen Kunst. An dieser Stelle wird es aber lehrreicher sein, einen flüchtigen Blick nach dem Innern Asiens zu werfen. In den persischen Sculpturen aus der Zeit des Darius und Xerxes ist die Behandlung der mensch- lichen Figur und ihres natürlichen Schmuckes, des Haares und des Bartes, rein asiatisch ; die persische Kunst erweist sich hier in ihren geistigen Grundlagen als die directe Fortsetzung der assyrischen, wenn auch manche charakteristische Eigenthümlichkeiten derselben nicht weiter entwickelt, sondern vielmehr abgeschwächt sind. In formaler Beziehung dagegen ist das aus der Nachahmung der Teppichweberei hervorgegangene Flachrelief der assyrischen Kunst einer plastischeren Behandlung ge- wichen, die offenbar in dem monumentalen Relief der Hellenen ihr Vorbild hatte. Nicht weniger macht sich ein hellenisches Element in der Gewandung geltend, deren Stoffe nicht mehr glatt über den Körper gespannt, sondern in künstliche Falten gelegt sind. Aber weder der Reliefstil, noch die Faltengebung haben einen tiefern Einfluss auszuüben vermocht. Die Körperformen sind vielmehr noch weniger durchgebildet als früher, und die Falten sind sofort in asiatischem Schematismus erstarrt

Fassen wir jetzt die Betrachtungen der letzten Seiten kurz zu- sammen : in Lykien, wo zur Zeit des Harpyienmonumentes durchaus griechischer Geist mit massiger asiatischer Färbung herrschte, wird jetzt durch den politischen Druck Asiens die lebendige Berührung mit Hellas abgeschnitten. Die Kunst bleibt zwar griechisch, sie folgt sogar äusser- lich noch den weiteren Phasen der Entwickelung ; aber ohne innere Kraft muss sie mehr und mehr verkümmern. In Cypern Hess sich der Wechsel verkehr der Nationen nicht unterdrücken. Hier wirkt der griech- ische Geist zersetzend ; er greift das asiatische Wesen in seinem Innern an und bildet es theilweise um ; theilweise jedoch unterliegt er, da er nicht von politischer Herrschaft getragen wird, selbst wiederum den ihn umgebenden Einflüssen und verweichlicht. In Persien endlich leistet der alt-asiatische Geist einen nachhaltigen Widerstand, und die griechische Einwirkung bleibt daher eine äusserliche, die den Kern un- berührt lässt.

t 15*

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

Ergebnisse.

Die Einzelbetrachtung einer langen Reihe von Monumenten hat wohl etwas Ermüdendes, sie war aber hier nicht zu umgehen. Es galt zunächst das Material zu sichten und für die Feststellung einzelner That- sachen zu verwerthen. Es wurde allerdings darauf Bedacht genommen, die Monumente sofort nach gewissen Gesichtspunkten zu ordnen ; doch wird es erst jetzt möglich sein, aus einer zusammenfassenden Betrachtung allgemeinere Resultate zu gewinnen.

Auch in dieser Periode finden sich nur wenige directe Berührungs- punkte zwischen den schriftlichen Nachrichten und den erhaltenen Monumenten. Doch ergeben sich aus jeder der beiden Quellen gewisse Resultate, die sich gegenseitig bestätigen und decken. So tritt uns aus beiden vor allem die Thatsache entgegen, dass jetzt das eigentliche Hellas die Führung in der Kunst übernommen hat. Wir werden später von einer sehr beachtungswerthen Kunstentwickelung in Nord- griechenland Kenntniss zu nehmen haben, aber zugleich erkennen, dass sie in der Zeit, welche uns jetzt beschäftigt, sich nur wenig mit den von uns hier betrachteten Erscheinungen berührt und ihre Bedeutung vielmehr in der folgenden Periode geltend macht. Von den früheren Sitzen der Kunst haben die an der Küste Kleinasiens ihren Einfluss eingebüsst, und es bedarf wohl keines weiteren Beweises, dass die dort sichtbar werdende Verkümmerung auf die unglücklichen politischen Verhältnisse zurück- zuführen ist. Aus andern Ursachen ist es zu erklären, wenn wir über bedeutende Künstler Siciliens und Unteritaliens keine Kunde erhalten. Der staunenswerthen Thätigkeit auf dem Gebiete der Architektur entsprechen keineswegs die Leistungen in der Sculptur. Bedenken wir jedoch, dass in Selinunt der Torso einer Statue aus dem Tempel G und ebenso der wahr- scheinlich dem Cultbilde angehörige Kopf aus dem Tempel E in Tuff gearbeitet war,^) dass selbst an den jüngsten Metopen nur erst die nackten Theile der Frauen aus Marmor angesetzt sind, ja dass eine ähnliche Sparsamkeit sogar in noch viel späterer Zeit an einer Zeusstatue aus Solunt hervor- tritt (Serradifalco V, t. 38), so werden wir nicht umhin können, in dem Fehlen des Marmors eines der wesentlichsten Hindernisse zu erkennen, welche sich einer regelmässig fortschreitenden, formal stilistischen Aus- bildung der Sculptur auf dortigem Boden entgegenstellten, um so mehr, als bei dem Mangel eigener Metallproduction auch die materielle Grund- lage für eine ausgedehnte einheimische Uebung der Bronzetechnik fehlte.

^) Benndorf a a. O., S. 195, T. XI, 4.

Ergebnisse.

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So verkümmert in Sicilien die Kunst zwar nicht wie in Kleinasien; aber sie verdankt ihren Fortschritt weniger der eigenen Kraft, sondern unter Bewahrung einer localen Färbung folgt sie mehr nur den allgemeinen Fortschritten, und ihre Thätigkeit bleibt auf den heimischen Bedarf be- schränkt. In Olympia und Delphi, den durch die Kunst verherrlichten Nationalheiligthümern, wagte man nicht zu concurriren. Die dort auf- gestellten Weihgeschenke der Tarentiner, des Gelon, Hieron, Mikythos sind Werke des Onatas, des Glaukias, Glaukos, Dionysios, des Ageladas, also äginetischer und peloponnesischer Künstler. Erst in der Zeit des Uebergangs zur folgenden Periode werden wir auch einen Künstler aus Rhegion, den Pythagoras, in den Wettkampf eintreten sehen, aber auch ihn als Zögling einer peloponnesischen Kunstschule.

Worauf beruht nun der bezeichnete Wechsel und jenes Ueber- gewicht der durch mannigfache Bande verknüpften Schulen von Aegina, Argos und Sikyon nicht nur Sicilien, sondern auch Athen und andern Orten gegenüber? In Aegina fällt die Blüthe der Kunst mit dem Höhe- punkte der politischen Macht zusammen, welche diese Insel besonders durch ihren Handel erworben hatte : mit dem Verluste der politischen Selbständigkeit (456 v. Chr.) verschwindet auch die Blüthe der Kunst. Im Peloponnes ist dagegen weder Argos, noch Sikyon, sondern Sparta die führende Macht, und von irgend welchen bedeutenderen politischen Er- eignissen ist an den erstem Orten in der Zeit kurz vor den Perserkriegen keine Rede. Noch mehr: von den Kunstwerken, die erwähnt werden, befindet sich keines in Argos oder Sikyon selbst oder ist auch nur auf Kosten dieser Staaten in Olympia oder Delphi aufgestellt worden. Also auch eine öffentliche Förderung der Kunst etwa aus politischen Rück- sichten darf nicht vorausgesetzt werden. Vielmehr gedeiht die Kunst und wächst bereits durch ihre eigene Kraft. Eutelidas und Chrysothemis aus Argos (um Ol. 70) rühmen sich, die Kunst von ihren Vorfahren ererbt zu haben. Sikyon und die Nachbarschaft waren das Hauptfeld der Thätigkeit des Dipoinos und Skyllis. Aegina hatte in der vorigen Periode wenigstens einen namhaften Künstler, den Smilis. In Folge alter Uebung und durch erfahrene Meister setzten sich also an diesen Orten frühzeitig bestimmte Traditionen fest, entstanden Schulen der Kunst. Die Bildnerkunst hängt durch einen grossen Theil ihrer Ver- richtungen mit dem Handwerk zusammen. Die Erzbildnerei, der sich die peloponnesischen und äginetischen Künstler vorzugsweise zuwendeten, verlangt wohleingerichtete Giessereien, die sich nicht ohne Umstände von einem Orte zum andern versetzen lassen, verlangt ferner ein mit der

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

Technik des Gusses wohlvertrautes Personal. So knüpft sich die Aus- übung der Kunst an bestimmte Localitäten. Dort sammeln, bewahren und vermehren sich nicht nur die technischen Erfahrungen : das Zu- sammenwirken, die Schule, gewinnt eine tiefere Bedeutung. Die hervor- ragendere Individualität wirkt sofort tonangebend; sie mehrt den Schatz des Wissens und Könnens, der alsbald zum Gemeingut wird. Die ver- schiedenen Seiten der noth wendigen Thätigkeiten finden in der Ver- schiedenheit der Individualitäten ihre Vertretung und Förderung, und doch entwickelt sich aus der Gemeinsamkeit der Arbeit wieder eine ge- meinsame geistige Strömung. Der auf der Tradition begründeten Sicher- heit des Fortschrittes aber verdankt die Schule wiederum ihre Autorität nach aussen, durch welche sie sich den auswärtigen Markt und dadurch die Bedingungen einer gesicherten Existenz erobert. Fördernd wirkten dabei allerdings die allgemeinen Verhältnisse, die innere Erstarkung Griechenlands, das wachsende Gemeingefühl, welches gerade in den religiösen Mittelpunkten Delphi und Olympia hervortritt, abgesehen davon, dass die an Bedeutung zunächst folgenden Nationalheiligthümer der Nemeen und Isthmien so recht im Centrum der drei Kunstschulen gelegen waren. Was die Kunst selbst anlangt, so darf man behaupten, dass auf der Stufe, auf welcher sie sich damals befand, gerade der Mangel bedeutender politischer Zwischenfälle günstig wirkte man beachte nur, wie die etwas spätere Unterjochung Aegina's durch Athen die äginetische Kunst sofort gänzlich vom Schauplatze verschwinden lässt, und bedenke, wie ein um ein bis zwei Menschenalter früheres Ein- treten dieser Katastrophe die ganze Existenz der äginetischen Kunst- schule unmöglich gemacht hätte. Wie die Verhältnisse lagen, gewann die Kunst Zeit, sich aus sich selbst zu entwickeln, sich durch ruhiges Fortschreiten Schritt für Schritt in sich zu festigen. Freilich war es wiederum eine besonders günstige Fügung, dass diese Zeit nicht zu lange dauerte und nicht etwa geistige Erstarrung und Verknöcherung eintreten konnte. Denn gerade als nur noch die letzten Schritte zu voller Freiheit zu thun waren, erfolgte der gewaltigste politische Um- schwung durch die Perserkriege, der auf das gesammte geistige Leben der Hellenen und somit auch auf die Kunst den tiefgreifendsten Einfluss ausüben musste. Allerdings gehört zu den indirecten Folgen desselben auch der schon erwähnte Untergang der äginetischen Kunstschule ; doch hatte diese eben noch Zeit gehabt, die ihr zunächst gewordene Aufgabe formaler Begründung der Kunst bis zu einem gewissen Abschlüsse zu bringen. Ausserdem darf nicht übersehen werden, dass gerade Argos

Ergebnisse.

und Sikyon durch die Folgen des Krieges am wenigsten direct berührt wurden. Die äusseren Verhältnisse und Bedingungen der Kunstübung blieben hier sogar fast unverändert, und so brechen die dortigen Kunst- schulen auch nicht mit ihren früheren Traditionen , sondern bewahren in der Folge ihren bisherigen Grundcharakter. Aber wie sie einestheils nicht verhindern können, dass Athen den von ihnen gesammelten Schatz künstlerischer Erfahrungen für seine eigene Kunst verwerthete, so können sie anderntheils von dem neuen geistigen Aufschwünge, der besonders von Athen ausgeht, nicht unberührt bleiben und gewinnen dadurch die Kraft, auch unter den neuen Verhältnissen und auf einer höheren Stufe des Fortschrittes ihre Bedeutung gerade als künstlerische Bildungsstätten zu bewahren.

Bis zu den Perserkriegen scheint zwischen ihnen und der Kunst Atticas jeder Zusammenhang zu fehlen ; ja die letztere scheint überhaupt erst von da an zu eigener Bedeutung zu gelangen. Es wird überhaupt nöthig sein, dass wir uns zu richtiger Würdigung der attischen Verhält- nisse von einer gewissen Voreingenommenheit frei machen. Wie wir uns schwer in den Gedanken hineinfinden, dass die spätere Weltbe- herrscherin Roma in den ersten Jahrhunderten nach ihrer Gründung nur ein mässiges städtisches Gemeinwesen mit einem geringen Territorium war, so sind wir nur zu sehr geneigt, von dem plötzlichen Glänze, zu dem sich Athen durch die Perserkriege erhebt, einen zu starken Ab- glanz auf die vorhergehenden Zeiten fallen zu lassen. Auch die Ge- schichtsschreibung der Alten hat sich von solchen Vorstellungen nicht frei zu halten gewusst, und wenn dieselben in Athen auch nicht wie in Rom zu einer förmlichen Fälschung der alten Geschichte geführt haben, so erscheint doch manche Nachricht in dem Lichte einer höheren Be- deutung, als ihr ohne Rücksicht auf die Folgezeit zukommen würde. Die poHtische Macht Athens war bis zur Schlacht von Marathon gering; sein Einfluss auf die übrigen Staaten von Hellas erstreckte sich wenig über die nächsten Umgebungen. Im Angesicht der Stadt beherrschte noch Aegina das Meer, und die Quellen des späteren Reichthums waren daher noch nicht erschlossen. Allerdings hatten sich die Grundlagen der solonischen Verfassung trotz der Unterbrechung durch die Tyrannis der Pisistratiden erprobt, die Tyrannis selbst sich als Förderin der Kunst erwiesen, und von der Bewegung auf dem geistigen Gebiete legt die gerade im Beginn der Perserkriege erblühende Tragödie Zeugniss ab. Im Leben herrschte noch strenge Zucht und Sitte, jener altväterische Zuschnitt mit der Cicade im Schopf, die wir als Symbol der alten Zeit

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Jün<rerer Zeitraum. Die Plastik.

aus den einleitenden Kapiteln des Historikers Thukydides, wie aus der ernsten Ironie des Komikers Aristophanes kennen lernen. So fehlte es nicht an tüchtigen Grundlagen, durch welche ein schneller Aufschwung ermöglicht wurde, aber der eigentlich attische Geist war noch nicht zur Entfaltung gelangt. Die altattische Sculptur wird durch den Namen des mythischen Dädalus repräsentirt. Aber während aus der Reihe der kretischen Dädaliden schon bald nach Ol. 50 Dipoinos und Skyllis als namhafte Künstler hervortreten, sondert sich aus den namenlosen attischen Dädaliden erst geraume Zeit später Endoios als historische Persönlich- keit aus, dem als die nächstältesten die Künstler der Tyrannenmörder und der Leaina zur Seite stehen. Wir hören dann allerdings, dass Pausanias attischen Stil dem äginetischen gegenüberstellt ; ob er aber dabei gerade die eben genannten Künstler und nicht vielmehr die um die Zeit der Schlacht von Salamis blühenden Hegias, Kritios und Nesiotes im Auge hat, lässt sich wenigstens nicht sicher entscheiden. Jedenfalls sind es erst die letzteren, die uns auch sonst als die Repräsentanten der ältesten attischen Schule entgegentreten. In den erhaltenen Werken finden wir allerdings gewisse gemeinsame Züge, aber Züge, die mehr auf die Verwandtschaft der natürlichen Anlage, als auf Gemeinsamkeit künstlerischer Schulung zurückgehen. Gerade hinsichtlich der letzteren treten ferner mit den Perserkriegen ganz neue und verschiedenartige Er- scheinungen hervor, neue Ansätze, deren Bedeutung sich vielfach erst aus ihrer späteren Entwickelung richtig würdigen lässt. Sollten da nicht etwa diese späteren Erfolge das Ihrige dazu beigetragen haben, dass man auch schon die ältere attische Kunst als der peloponnesischen gleichberechtigt hinzustellen wagte, wenn sie auch erst gegen das Ende dieser Periode sich eine solche Stellung erkämpfte.^ So weit wir sie bis jetzt kennen, bietet gerade sie am wenigsten einen streng ein- heitlich geschlossenen Charakter dar, und jene Gleichstellung kann ihre Berechtigung für die ältere Zeit fast nur darin finden, dass die attische Kunst sich mit der peloponnesischen so gut wie gar nicht berührt und dadurch mit ihr schon da in einen gewissen Gegensatz tritt, wo sie selbst noch zu keinem fest ausgeprägten Charakter ge- langt ist. Im Verlaufe der Zeit macht sich freilich dieser Gegen- satz immer bestimmter geltend, und um seine spätere Bedeutung vollkommen zu ermessen, werden wir ihn bis zu seinen Wurzeln zu verfolgen haben, was nur möglich ist, indem wir das Wesen der ver- schiedenen Schulen noch schärfer, als es bisher geschehen ist, festzu- stellen versuchen.

Ergebnisse.

Wir haben schon früher Gelegenheit gehabt, aut die engen Be- ziehungen zwischen den äginetischen und den peloponnesischen Schulen hinzuweisen, und dürfen daraus auch wohl eine gewisse Verwandtschaft des künstlerischen Charakters folgern, die aber keineswegs bis zur Identität des Stils auszudehnen sein wird. Im Allgemeinen ist eme Tendenz zu formaler Durchbildung unverkennbar, und eine Hauptaufgabe, deren Lösung diesen Schulen zufiel, bestand demnach darin, den menschlichen Körper als das vorzüglichste Object künstlerischer Darstellung in seinen Verhält- nissen, seinen Formen und Bewegungen gründlich kennen zu lernen und dadurch der Kunst völlig zu unterwerfen. Diese scheinbar einfache Auf- gabe bietet aber verschiedene Seiten dar, von denen aus ihre Lösung versucht werden konnte. ^)

Der menschliche Körper ist ein architektonisches Gebilde, welches sich aus verschiedenen Stoffen in bestimmten Formen nach bestimmten Maassen und Verhältnissen aufbaut, auf denen wiederum das System seiner Funktionen beruht. Die Kunst hat zunächst diese Grundverhält- nisse festzustellen und daher dem Knochengerüst eine besondere Auf- merksamkeit zu widmen, durch welches eine Reihe der wichtigsten Punkte und Linien fest bestimmt wird. Je mehr aber alle übrigen Formen eine bestimmte Beziehung zu diesem Kern bewahren und sich ihm unter- ordnen, um so mehr wird jener architektonische Charakter der Gestalt in Linien und Flächen zu Tage treten. Hierin fanden wir die Eigen- thümlichkeit von Werken begründet, wie der ludovisische Kolossalkopf (S. 172) und das albanische sogenannte Leukothearelief, deren Herkunft

^) Eine Skizze jüngeren Datums stellt zunächst eine Anzahl theils besprochener, theils in der Neubearbeitung zu besprechender Werke aus dieser, wie der vorangehenden Periode zusammen, die theils sicher peloponnesischen Ursprungs sind, theils als solche von dem Ver- fasser in Anspruch genommen wurden (angeführt sind: Sitzbilder aus Arkadien und Sparta, S. 109 ff. Sog. Nike des Archermos, S. 90 fif. Apollo Piombino, S. 176 Weiblicher überlebensgrosser Kopf, Rest eines Cultbildes aus Olympia: Olympia III, T. i Weibliches Köpfchen, Hochreliefform ebendaher: Olympia IV, T. 7, 88 Zeus, Bronzekopf ebendaher: Olympia IV, T. i Zeus, Terracottakopf ebendaher: Olympia III, T. 7, 14 Bronzekopf aus Kythera in Berlin: Arch. Zeit. 1876, S. 20 ff. (Brunn), T. 3, 4 Marmorköpfchen aus Meligu: Ath. Mitth. VII, 1882, S. 113 ff. (Brunn), T. 6 Bronzekopf eines Jünglings aus Herculaneum, S. 174 Weiblicher Kolossalkopf aus Villa Ludovisi, S. 172 Relief aus Chrysapha und jüngere Wiederholungen, S. 130, Anm. 3 Fragment eines Terracottareliefs aus Sparta, S. 127 Sog. Leukothearelief, S. 200) und fährt dann weiter: ,,Wir werden nicht in Abrede stellen, dass allen diesen Arbeiten gewisse Züge gemeinsam sind, durch welche sie sich zu einer einzigen Gruppe zusammenschliessen. Wollen wir uns über dieses Gemeinsame klar werden, so mögen wir einmal ganz allgemein den Satz voranstellen, dass der menschliche Körper ein architektonisches Gebilde ist, welches sich" u. s. w.

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

leider unbekannt ist. Während sie jedoch mit attischen Arbeiten durch- aus keine Verwandtschaft verriethen und auch mit dem Wesen der Aegineten keineswegs übereinstimmten, gruppirten sie sich in ungesuchter Weise mit den wenigen sicheren Resten peloponnesischer Kunst, die wir aus der vorigen und der vorliegenden Periode kennen gelernt haben. Trotzdem würde es gewagt sein, einen directen Zusammenhang der Schule anzunehmen, wenn wir nicht wüssten. dass die peloponnesische Kunst auch in der folgenden Periode denselben Grundcharakter bewahrte, und wir bei der Consequenz in der Entwickelung der griechischen Kunst nicht genöthigt wären, für den späteren Fortschritt eine Vorstufe anzu- nehmen, wie sie uns nicht besser geboten werden kann, als in den ge- nannten Werken.

Der menschliche Körper ist aber nicht weniger ein mechanisches Gebilde, das sich bewegen und in der Bewegung bestimmte Kräfte ent- falten soll. Natürlich bewahrt das Knochengerüst als die feste Basis des ganzen Gebildes auch hier noch in hohem Grade seine Bedeutung, je- doch nicht mehr blos in seinen Maassen und Grundformen, sondern eben- so in der Verbindung seiner Theile, welche durch wenig nachgiebige Bänder zusammengehalten der Bewegung innerhalb bestimmter Grenzen freien Spielraum gewähren, während die Bewegung selbst auf der Fähig- keit der Muskeln beruht, sich durch Zusammenziehung zu verkürzen und umgekehrt durch Nachlassen der Spannung ihre frühere Form wieder anzunehmen, wobei nur die den ganzen Muskelkörper umfassende dehn- same Hülle der Haut auf ein zu einseitiges Hervortreten einzelner Muskeln einen mildernden Einfluss ausübt. Es wird keines besonderen Beweises bedürfen, dass die Erforschung dieser mechanischen Seite der mensch- lichen Gestalt, bei der nicht der einzelne Theil an sich, sondern der durch die Bewegung bedingte Wechsel in Lage und Ausdehnung dieses Theils in den Vordergrund tritt, in der ägineti sehen Kunst eine über- wiegende Pflege fand, ja dass gerade darin der eigenthümliche Charakter dieser Schule begründet ist. Sie bildet dadurch die nothwendige Er- gänzung der peloponnesischen, insofern sich beide in dem einen allge- meinen Ziele vereinigen, der Kunst ein umfassendes Verständniss der menschlichen Gestalt nach ihrer formalen Seite zu erschliessen.

Was befähigte aber diese Schulen, der Erreichung dieses Zieles mit demjenigen Erfolge nachzustreben, den wir aus der Betrachtung der ein- zelnen Monumente kennen gelernt haben? Angeborene Anlage und Be- fähigung sind Grössen, mit denen sich nicht bestimmt rechnen lässt, sind das Product von Factoren der verschiedensten Art, und noch wichtiger

Ergebnisse,

ist es, zu erforschen, wie diese Anlagen verwerthet wurden oder genauer: auf welchen Grundlagen sich jene strenge Zucht der Schule entwickelte, ohne welche die besten Anlagen häufig der Gefahr der Ausartung aus- gesetzt sind. Man hat auf die vSchönheit der Race, man hat ferner darauf hingewiesen, wie in Gymnasien und Palästren den Künstlern Ge- legenheit geboten war, schöne Körper nackt und in mannigfachster Be- wegung zu beobachten, wie sodann der gegen die 60. Ol. aufkommende Gebrauch, die Sieger in den gymnischen Wettspielen durch Ehren- statuen zu feiern, die Kunst nothwendig auf das Studium des nackten Körpers hinweisen musste. Dass darin eine Förderung der Kunst lag, soll keineswegs geleugnet werden ; aber zu einer vollständigen Erklärung ihres sichern und consequenten Fortschreitens von Stufe zu Stufe reichen diese fast zu Gemeinplätzen gewordenen Sätze nicht aus. Dennoch liegt ihnen eine Ahnung des Wahren zu Grunde.

Gymnastik und Agonistik waren bei den Griechen nicht bloss eine Kunst, sondern eine Wissenschaft, für welche alles, was etwa in neuerer Zeit für eine rationelle Begründung des Turnens geschehen ist, nur eine schwache Parallele darbietet. Mögen auch in der älteren Zeit ihre Lehren nicht in der Weise theoretisch formulirt gewesen sein, wie sie uns in der späten Schrift des Philostratus vorliegen, und mag auch die gewerbsmässige Athletik schon in der Blüthezeit Griechenlands zu Aus- artungen geführt haben ; sicher wurde sie in der Periode, mit der wir es hier zu thun haben, nach den strengsten Regeln und mit den grössten Feinheiten geübt, und die Bedeutung einer strengen schulgemässen Unter- weisung tritt noch besonders in der ruhmvollen Anerkennung hervor, welche Pindar dem Aegineten Milesias, Plato und andere einem Ikkos von Tarent, einem Hippomachos von Elis als Lehrern der Gymnastik zu Theil werden lassen (Pindar, Ol. VIII, 70 und SchoL; Plato, Leg. VIII, 840a; Protag. 3i6e; Aelian, V.H.II, 6; Paus. VI, 10, 5). Die Aufgabe, den Körper rationell durchzubilden, das Ziel, den Körper geschickt zu machen zur Entfaltung der grössten Kraft, die Wirkung der Kraft aber durch ihre richtige Anwendung zu erhöhen, musste zu einem genauen Studium des Körpers selbst führen. Wie bei einem edlen Renner war schon die Abstammung des jugendlichen Kämpfers nicht gleichgültig. Jede besondere Art der Kampfesübungen verlangte besondere Anlagen des Körpers, verlangte eine besondere Art der Pflege und Ernährung des Körpers. Die Tüchtigkeit aber wurde erzielt durch eine streng ge- regelte Reihe von Uebungen, durch welche hier der eine, dort der andere Theil gestärkt und entwickelt, dann verschiedene Theile in ihrem

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Zweiter Abschnitt. Die Plastik.

gegenseitigen Verhältniss zu complicirterer Thätigkeit ausgebildet wurden. Alles das war nur möglich bei einem bewussten Eingehen auf die Be- deutung jedes einzelnen Theiles für sich und in seinem Zusammenhange mit dem Ganzen. Der Gymnastes musste seinen Zögling mit nicht minder geübtem Kennerblick betrachten, als der Meister des Sports die Eigen- schaften des Rennpferdes beurtheilt, auf dessen Sieg er hohe Summen wettet.

Das gleiche Verständniss, welches wir hier beim Gymn asten vor- aussetzen, verlangen wir vom Künstler. Was vermochte aber diesem dasselbe besser zu vermitteln, als eben die Gymnastik? Die Gymnastik nicht etwa nur in ihren Erfolgen, sondern in den Wegen, durch welche sie dieselben errang? Man hat oft seine Verw^underung darüber aus- gesprochen, wie die Kunst der Blüthezeit ohne Studium der Anatomie •zu einem so tiefen anatomischen Verständniss des Körpers zu gelangen vermochte. Aber das Studium am Leichnam wurde weit aufgewogen durch eine eingehende Betrachtung des Körpers, welche denselben nicht nur nach seiner materiellen Substanz und äusseren Form, sondern als lebendigen Organismus nach den seiner Thätigkeit zu Grunde liegenden Gesetzen kennen lehrte. Man wird vielleicht einwenden, dass über eine derartige Verwerthung der Schule der Gymnastik für die Ausbildung des Künstlers uns bestimmte Nachrichten fehlen. Aber was bietet die Geschichte der Plastik, so w^eit wir sie verfolgt haben, anderes dar als einen dem Entwicklungsgänge des Athleten durchaus parallelen Fortschritt? Wir haben die ältesten Apollostatuen mit dem Recruten verglichen, der gewissermassen nur das Material ist, um einen tüchtigen Krieger daraus zu bilden. Dies geschieht, indem der Körper nach den Gesetzen seines eigenen Organismus schul- und kunstgerecht entwickelt wird. Der Recrut lernt nicht erst die Füsse bewegen, sondern er lernt, sie nach dem Gesetz, nach dem Tempo be- wegen, ebenso schreiten, laufen, knieen; er lernt es, nach bestimmtem Tempo die Arme zu bewegen, zu heben, auszuholen zum Schlag, zum Stoss, zum Wurf. Diese regelrechte Schulung aber, tritt sie uns nicht in schlagendster Weise an den Aegineten vor Augen? Jeder der Kämpfer zeigt, wie er zu dem Kampfe erzogen, geschult worden, wie er seinen Körper dazu tüchtig gemacht, jede Bewegung streng nach der Regel auszuführen. Es ist gewiss nur Zufall, dass die einzige Statue eines Olympioniken aus dieser Zeit, über deren Haltung wir etwas erfahren, die des Karystiers Glaukos von der Hand des Aegineten Glaukias, in der Stellung einer schulmässigen Uebung, des c5xia|Liaxeiv,

Ergebnisse.

gebildet war. Aber selbst dieser Zufall ist charakteristisch. Denn ist der Kampf in den äginetischen Giebelgruppen im Grunde nicht auch eine öxia|aaxia, eine Uebung auf dem Exercirplatz? Das Mechanische der Uebung herrscht vor, jedoch nicht um den Menschen zur Maschine zu erniedrigen, sondern um den Körper dem Geist unterthan zu machen, damit er ohne Widerstand dem geistigen Impulse zu folgen lerne. Ganz dasselbe gilt von der Kunst, welche diese Kämpfe darstellt. Auch sie strebt, den Körper sich vollständig zu unterwerfen, und sie verfolgt dabei denselben Weg, wie die Athletik; sie studirt ihn nicht nach den Beobachtungen der mehr zufälligen äusseren Erscheinung, sondern nach der Stufenleiter seiner schul- und gesetzmässigen Aus- bildung.

Erst bei einer solchen Betrachtungsweise werden wir uns über das Wesen dieser Werke vollkommen klar werden. Wir bewundern ihre Naturwahrheit und müssen trotzdem gestehen, dass sie das Gegen- theil von naturalistischer, am Zufälligen haftender Behandlung zeigen. Ebenso entfernt sind sie von realistischer Auffassung, die vorzugsweise das Charakteristische betont. Man wird sich allerdings sträuben, hier eine idealistische Richtung anzuerkennen, und es ist zuzugeben, dass das höchste ideale Ziel noch keineswegs erreicht ist. Allein wir müssen unterscheiden zwischen dem Ziel und dem Wege zum Ziel. Das Ziel ist noch beschränkt; wie noch heute so manche englische Pferdebilder nicht den Kunst-, sondern Pferdekenner zu befriedigen bestimmt sind, so war in jenen Darstellungen noch nicht die Verkörperung eines allgemeinen Ideals der Menschengestalt die Aufgabe, sondern die Gestalt sollte bestimmte Eigenschaften der Form oder der mechanischen Thätigkeit, einen bestimmten Grad körperlicher Ausbildung erkennen lassen. Der Weg dagegen, auf welchem dieses Ziel erstrebt wurde, war unbedingt der, welcher zum Ideale führt, indem die Darstellung unter Ausscheidung alles durch den Zweck nicht nothwendig Bedingten nur das Allgemein- gültige, Gesetzmässige ins Auge fasst. Gerade in diesem idealen Streben findet manche Eigenschaft ihre Erklärung, welche wir vom »Standpunkte der vorgeschritteneren Kunst aus als Mängel zu betrachten pflegen, so die Beschränkung in der Darstellung der Adern und anderer Einzelheiten an der Oberfläche der Körper, so die noch unrhythmische Gebundenheit der Bewegungen, so endlich das Fehlen geistigen Aus- drucks in den Köpfen. Man hört wohl die Behauptung aussprechen, dass Werke wie die Aegineten trotz der Vortrefflichkeit der Form unsere Empfindung kalt lassen und ohne Tiefe der Gedanken unserer

Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

Phantasie keine Anregung zu gewähren vermögen. Wenn es indessen richtig ist, dass die Köpfe der Westgruppe von Aegina unharmonisch wirken, weil der Versuch, sie durch den Ausdruck der Empfindung zu beleben, noch verfrüht war, so liegt darin der besta Beweis, dass jener Vorwurf der Berechtigung entbehrt. Solange in Formen und Bewegungen zwar nicht Unfreiheit, aber doch die Gebundenheit der Schule herrscht, solange die gesammte Handlung, so zu sagen, noch unter einem fremden Commandoworte steht, konnte und durfte in den Köpfen noch nicht ein selbständiger geistiger Ausdruck erstrebt werden. Nur in dem Maasse, wie das Mechanische, das Uebungsmässige schwindet, darf er sich Geltung verschaffen. Der Kopf des Sterbenden aus dem Ostgiebel bildet die Grenze, bis zu welcher wir in der ägi- netischen Kunst den Fortschritt zu verfolgen im Stande sind; doch täuschen wir uns nicht: auch hier ist es noch nicht ein geistiges Leiden, welches der Künstler ausdrückt, sondern der physische Schmerz des Todeskampfes durchaus innerhalb der Grenzen, welche damals noch durch die formale Entwickelung der Kunst gezogen waren.

Gegenüber den bisher betrachteten Schulen wird sich jetzt auch das Wesen der attischen Kunst schärfer bestimmen lassen. Wir erkennen leicht, dass hier die formale Durchbildung keine so über- wiegende Bedeutung hat, und ebenso, dass es keine so fest bestimmten Traditionen der Schule gab. Die Individualität des Einzelnen, welche anderwärts durch den Einfluss der Schule begrenzt und gebunden ercheint, macht sich weit bestimmter geltend und verleiht auch jedem einzelnen Erzeugniss ein individuelleres Gepräge. Allerdings fehlt es auch nicht an gewissen gemeinsamen Zügen, die aber weniger auf der Gemeinsamkeit der künstlerischen Zucht und Uebung, als auf den allgemeinen geistigen Anschauungen beruhen. Die Künstler betrachteten den Körper nicht vorzugsweise von der architektonischen oder mecha- nischen Seite, sondern er ist ihnen ein zugleich mit eigenem Leben begabter Organismus, wenn auch zunächst gleichfalls nur im physischen Sinne. Der Krieger des Aristokles, wie die sitzende Athene, selbst der Kalbträger zeigen in Stellung und Haltung nicht jene streng systematische Gebundenheit, sondern eine auf unbefangener Beobachtung beruhende lockere Fügung der Glieder. Es tritt uns ferner die Tendenz entgegen, den Muskel nicht so sehr als Factor der Bewegung, sondern als vollsaftiges Fleisch und in seinen Beziehungen zu Fett und Haut zur Darstellung zu bringen. Besonders aber offenbart sich die indivi- duelle Auffassung in den Köpfen dieser Werke, wie in dem der Athene,

Ergebnisse.

des Diskophors, an denen der zwar noch nicht geistig gebildete Blick des Auges durch eine lebendige Frische überrascht, welche den Be- schauer sympathisch berührt und erwärmt.

Wesentlich verschieden ist der Eindruck der etwas jüngeren Arbeiten : der wagenbesteigenden Frau und des Hermesfragmentes. Ebenso unerwartet als unverkennbar treten hier namentlich in der Gewandung die Spuren einer strengeren Zucht der Schule hervor, die sich kaum anders als durch die Annahme erklären lassen, dass mit dem Umschwünge der politischen Verhältnisse in Attika auch die dortige Kunst mit den Schulen der local benachbarten Aegineten und Peloponnesier in nähere Berührung getreten sei. Trotzdem vermochte der Wechsel in der formalen Stihstik bei der natürlichen Begabung des Volkes nicht ebenso eine Umgestaltung des inneren Wesens her- vorzurufen. Im Gegentheil, das künstlerische Empfinden bleibt auch jetzt durchaus attisch; und w^enn auch z. B. die Gewandung der Pallas aus dem Westgiebel von Aegina innerhalb des gegebenen Stils eine grössere Schärfe und materielle Correctheit vor den attischen Arbeiten voraus haben mag, so werden doch diese durch die feinere und indivi- duellere Empfindung in der Meisselführung eine grössere Anziehungs- kraft auf uns ausüben.

Auffallend mag es erscheinen, dass das hier angenommene System der Gew^andbehandlung in der Gruppe der Tyrannenmörder wieder auf- gegeben ist. Man erkannte offenbar, dass die in dem spröden Marmor zu entschuldigende Starrheit des Systems der Natur der Bronze weniger entsprach, und gab deshalb einer Behandlung den Vorzug, welche ihre Wurzeln in der Technik des Sphyrelaton, der getriebenen Arbeit, hat. In der Marmorcopie tritt freilich dieser Charakter weniger wirksam hervor; im Original dagegen wird die Chlamys den Eindruck eines leicht über den Arm geworfenen Stoffes gemacht haben. Im Uebrigen tritt gerade an dieser Gruppe der formale Fortschritt besonders bedeutend hervor, und wir begreifen daher, wenn es die Meister derselben sind, welche als die Häupter der ersten attischen Schule genannt werden, die durch ihre Schüler sofort auch über die Grenzen Attikas hinaus Bedeutung gew^innt. Leider dürfen w^ir nicht wagen, aus den uns er- haltenen Copieen das Verhältniss besonders zur äginetischen Schule im Einzelnen genauer bestimmen zu wollen. Sollte aber auch das Original in der Durchbildung der Form hinter den Aegineten zurück- geblieben sein, so übertraf es doch dieselben gewiss in einer Beziehung, nämlich in der Darstellung der Bewegung. Allerdings macht die-

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Jün<jerer Zeitraum. Die Plastik,

selbe noch nicht den Eindruck voller Freiheit; aber das Tactmässige, Commandirte ist verschwunden, die Bewegung ist weniger schulmässig, aber selbständiger. Die Gestalten folgen ihren eigenen Impulsen und die Wirkung erscheint im vorliegenden Falle um so grösser, als beide zu einer gemeinsamen Handlung vereinigt auch nur einem Impulse folgen.

So ist die attische Kunst jedenfalls die bewegtere und vielseitigere; und zeigt sie uns eine weniger consequente und einheitliche En twickelung, so liegt das eben in ihrer Beweglichkeit. Ohne Zweifel erkennen wir hier die Wirkungen des gewaltigen politischen Umschwunges, der sich gerade in der Mitte dieser Periode vollzog, aber schon seit der Vertreibung der Pisistratiden vorbereitet hatte. Denn, wie Herodot (V, 78) bemerkt, unter der Tyrannenherrschaft zeichneten sich die Athener vor keinem der umwohnenden Völker durch Tapferkeit aus- von den Tyrannen befreit, wurden sie aber bei Aveitem die ersten; denn die Freiheit erweckte bei jedem Einzelnen den Trieb vorw^ärts zu streben. Und noch bezeichnender äussert sich Aristoteles (Polit. VIII, 6, 6; p. 1341 a), dass damals, als der steigende Wohlstand einen höheren Schwung des Geistes erzeugt und besonders das Gefühl der Thaten in den Perserkriegen jeden mit Stolz erfüllt, die Athener mit einer beinahe unersättlichen Lernbegier sich jeder Art des Wissens zu bemächtigen bestrebt gewesen seien. Aber alle diese Erfolge und dieser ganze geistige Umschwung haben doch ihren tieferen Grund wiederum nur in der Eigenart des attischen Volkes, jener wunderbaren geistigen Elasticität, welche alle Schwierigkeiten und Hindernisse mit noch überraschenderem Erfolge zu überwinden verstand, als es eine intensivere, aber weniger bewegliche Kraft im Stande gewesen sein würde. Wenn wir die Bedeutung dieser Eigenart für die Kunst in vollem Umfange auch erst in der folgenden Periode kennen lernen werden, so tritt sie doch schon jetzt als für den Fortschritt der Ent- wickelung bestimmend und entscheidend hervor.

Es drängt sich uns dabei die Frage auf, ob wir den Gegensatz der verschiedenen Kunstschulen auch auf den Unterschied der Stammes- eigenthümlichkeiten zurückführen, ob wir die Schulen von Aegina, Argos und Sikyon als dorische der attisch-ionischen gegenüberstellen sollen.^) Dorisch, hat man gesagt, ist die strengere Zucht, die Bevor- zugung der energisch durchgebildeten männlichen Gestalt in ihrer

^) Rn. : Friederichs, Nationum graecarum diversitates etiam ad artis statuariae et sculpturae discrimina valuisse. Erlangen 185 5.

Ergebnisse.

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Nacktheit, die Bevorzugung der für solche Gestalten besonders ge- eigneten Bronze; attisch die grössere Mannigfaltigkeit in den Gegen- ständen, im Alter der Gestalten, die grössere Berücksichtigung des weiblichen Geschlechts in seinen weicheren Formen, das Ueberwiegen des Marmors. Die Betrachtung der Thatsachen mag uns zur Vorsicht mahnen. Wir kennen von Onatas eine Demeter, von Ageladas kriegs- gefangene Frauen, von ihm, Kanachos und Aristokles drei Musen ; eine Kora von Kallon, eine Aphrodite und Artemis von dem Spartiaten Gitiadas. Unter den Weihgeschenken des Mikythos von Glaukos und Dionysios befanden sich sechs Göttinnen. Dass den Aegineten der Marmor nicht fremd war, lehren die erhaltenen Giebelstatuen und der Strangford' sehe Apollo. Umgekehrt sind in Athen die ältere und die jüngere Gruppe der Tyrannenmörder, die Löwin des Amphikrates, eine wegen eines Sieges über die Euböer geweihte Quadriga (Herod. Y, 77) Arbeiten in Bronze; Kritios ist Haupt einer Schule von Erz- bildnern; die Tyrannenmörder sind athletisch durchgebildete nackte Gestalten. Wenn aber auch zuzugeben ist, dass die behaupteten Gegensätze der Schulen in der folgenden Periode noch etwas stärker hervortreten als bisher, so fragt sich doch, ob sie durchaus auf Rechnung der Stammesverschiedenheiten zu setzen sind. Attika ist allerdings ein einheitlicher Staat von durchaus eigenartigem Charakter. Handelte es sich nun in der Kunst, wie es in der Politik der Fall war, einzig um den Gegensatz zu Sparta, so stünde hier in der That dem Atti- cismus ein ebenso reiner Dorismus gegenüber. Aber gerade Argos und Sikyon haben den dorischen Charakter keineswegs rein und un- vermischt bewahrt, und auch in Aegina mussten sich bei der auf See- herrschaft begründeten Macht des Staates vielfach fremdartige Ver- hältnisse geltend machen. Werden wir ferner wagen dürfen, die Kunst in Selinunt als dorisch, auch nur in ihren Grundlagen, mit der peloponnesischen auf eine Linie zu stellen, oder umgekehrt den Alxenor aus dem von Attika aus colonisirten Naxos unter die attischen Künstler einzureihen ? Wenn daher ein limitirter Einfluss des dorischen Stammes- charakters auf die peloponnesische Kunst nicht abgeleugnet werden soll, so darf derselbe doch nicht als ein ausschliesslich bestimmender in erste Reihe gestellt werden. Gewiss ebenso wichtig und künstlerisch entscheiden- der ist der Grundcharakter schulmässiger Durchbildung und dazu die poli- tische Stellung dieser Schule, oder vielmehr ihre Unabhängigkeit von der Politik. Wird in Athen die Kunst auch erst in der folgenden Periode zu einem Factor der Politik, so tritt sie doch schon jetzt in eine

Brunn, Gr. Kunstgeschichte II. l5

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engere Beziehung zum Staate und zur Heimath: die vorhin genannten Hauptwerke dieser Zeit verdanken ihren Ursprung poHtischen An- lässen. Tn Aegina und dem Peloponnes steht die Schule auf eigenen Füssen ; sie muss selbst für ihre Bedürfnisse sorgen, muss wie jede andere Industrie zuerst den Ruf ihrer Tüchtigkeit und Solidität zu be- gründen und nicht weniger diesen Ruf sich dauernd zu erhalten be- strebt sein.

Wenn es gelungen ist, das Wesen der Kunstschulen in einiger- massen bestimmten Linien zu charakterisiren, so konnte doch der Ver- such nicht gemacht werden, den Antheil einzelner Künstler an den Fortschritten genauer festzustellen. Allerdings werden von den Alten Kallon und Kanachos, Hegias, Kritios und Nesiotes als Vertreter des Archaismus besonders erwähnt, und Ageladas und Onatas standen ihnen an Bedeutung gewiss nicht nach. Allein wir wissen nur, dass, aber nicht: in welcher Richtung sie Träger des Fortschritts waren, und es liegt überhaupt in der Natur der künstlerischen Entwickelung, dass sich zuerst, wenn auch gewiss zum Theil durch bestimmte Persönlich- keiten, mehr generelle Unterschiede ausbilden und feststellen, und dass erst auf einer bestimmten Stufe des Fortschrittes die Eigenthüm- lichkeit bestimmter Individualitäten sich in entscheidender Weise geltend macht- Diese Wendung tritt in der griechischen Kunst am Ende der archaischen Periode ein; sie gehört nach ihrem inneren Wesen noch durchaus dieser Zeit an, verlangt aber eine gesonderte Betrachtung, damit die letzten Fortschritte, durch welche eine neue Zeit eingeleitet wird, sich in klarer Weise von den bisherigen mehr allgemeinen Gruppirungen loslösen. Zw^ei Namen treten hier in den Vordergrund, in denen die beiden bis jetzt herrschenden Hauptrichtungen der Kunst, so zu sagen, eine persönliche Spitze gewinnen : Pythagoras und Kaiamis.

Meister der Uebergangszeit.

Pythagoras.

Die Heimath des Künstlers (SQ. 489 507) war Rhegion in Unteritalien. Dass ein gleichnamiger Bildhauer aus Samos, der dem Rheginer zum Verwechseln ähnlich ausgesehen, mit ihm zu identificiren sei, lässt sich nicht streng beweisen. Da jedoch bald nach der Zerstörung Milets (Ol. 71, 3) flüchtige Samier auf Betrieb des Anaxilas, Tyrannen von Rhegion, das gegenüberliegende Zankle

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(Messana) einnahmen und einige Zeit besetzt hielten (Urlichs, Chrestom. Plin., p. 320), so ist wenigstens die Möglichkeit zuzugeben, dass jener Samier seinen Wohnsitz in Rhegion genommen habe und dadurch zum Rhegier geworden sei.^) Unter den Werken des letzteren müsste die Statue des Krotoniaten Astylos bereits in der 73. Ol. (488 V. Chr.) gearbeitet sein, sofern es sicher wäre, dass dieselbe in Olympia bald nach dem ersten der in drei aufeinander folgenden Olympiaden er- kämpften Siege aufgestellt worden, was noch nicht nothwendig daraus folgt, dass schon damals ein Bild dieses Läufers im Tempel der Hera Lakinia geweiht, aber wieder vernichtet wurde, als er sich bei den späteren Siegen als Syrakusaner ausrufen Hess. Eine weitere Zeit- bestimmung gewährt die Statue des Faustkämpfers Euthymos, der in der 74., 76. und 77. Ol. (472 v. Chr.) siegte. Mag nun Pythagoras noch längere Zeit gelebt haben, so muss doch die Angabe des Plinius, der ihn in die go. Ol. herabrückt, als ein Irrthum bezeichnet werden. Als Lehrer des Künstlers wird Klearchos von Rhegion genannt, den Pausanias einmal (VI, 4, 3) als Schüler des Eucheiros von Korinth, eines Schülers der Spartiaten Syadras und Chartas, ein anderes Mal (III, 17, 6) als Schüler des Dipoinos und Skyllis bezeichnet. Beide Nachrichten weisen auf den Peloponnes hin, und an die dortigen Kunstschulen schliesst sich Pythagoras in jeder Beziehung an. Wie diese giebt er der Bronze den Vorzug; er arbeitet für Delphi und namentlich für Olympia, und nicht etwa nur die Statuen von Siegern aus der Umgebung seiner Heimath, aus Messana, Kroton, Lokroi, sondern auch von zwei Arkadiern und zwei Libyern, während ausserdem nicht nur in Tarent und Syrakus, sondern auch in Theben Werke von seiner Hand aufgestellt waren. Wie jene Künstler ist er ausgezeichnet in Athletenstatuen verschiedenster Art. Angeführt werden Astylos aus Kroton, Sieger im einfachen und Doppellaufe, Dromeus aus Stymphalos im Dolichos, Mnaseas aus Kyrene, genannt „der Libyer", im Waffen- laufe, Leontiskos aus Messana im Ringen, Protolaos aus Mantineia im Faustkampfe der Knaben, Euthymos aus Lokroi in dem der Männer, ein Pankratiast in Delphi, mit dem er den Sieg über Myron davon- trug, Kratisthenes, des Mnaseas Sohn, der nebst einer Nike auf seinem Viergespann dargestellt war. In Theben stand das Bild eines Citharoeden

1) Rn.: Arch. Zeit. 1878, S. 82; 1881, S. 181; Löwy, Inschrift, gr. Bildh. 23 [In- schrift von der Basis der Statue des Euthymos (Paus. VI, 6, 4), durch welche die Identität des Rheginers und Samiers, der nach Plin. 34, 60 in seinen jüngeren Jahren Maler war, er- wiesen ist].

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Kleon, unter dem Namen Dicaeus bekannt, weil es das bei der Zer- störung- der Stadt in den Falten seines Mantels versteckte Geld seinem Eigenthümer dreissig Jahre lang treu bewahrt hatte. Von Heroen- gestalten ist zunächst zu nennen : Perseus mit Flügeln (d. h. doch wohl nur an den Füssen oder am Helme), wahrscheinlich in lebhafter Bewegung, so- dann eine Gruppe der sich gegenseitig mordenden Brüder Eteokles und Polyneikes. (Urlichs, der den Rheginer und den Samier Pythagoras für eine Person hält, möchte diese letzteren für Theile einer grösseren Gruppe nehmen, die Plinius als Werke des Samiers und beim Tempel der Fortuna huiusce diei in Rom aufgestellt erwähnt: signa Septem nuda et senis unum. Wenn diese acht Plguren sich ihrer Zahl nach wohl auf die Sieben gegen Theben und den Eteokles beziehen Hessen, so erscheint es doch bedenklich, in dem Greise den Amphiaraos erkennen zu wollen.) Ob in einer nackten Gestalt, welche Aepfel trug, Melanion oder Hippo- menes, die Freier der Atalante, dargestellt waren, mag dahingestellt bleiben. Dagegen herrscht Uebereinstimmung, dass in der zu Syra- kus bewunderten Figur „eines Hinkenden, bei dem der Beschauer den Schmerz der Wunde mitzuempfinden meinte", Philoktet zu erkennen sei. Als eine Hauptzierde ihrer Stadt hielten die Tarentiner eine Gruppe der vom Stier entführten Europa in hohen Ehren. Endlich steht unter den Werken des Künstlers ein Apollo als Götterbild ver- einzelt da; indem aber der Gott dargestellt war, wie er einen Drachen, wohl den Python, mit seinen Pfeilen tödtete, näherte er sich in seinem Charakter wieder den anderen Werken des Künstlers.

Von keinem andern haben wir bisher eine so beträchtliche Reihe von Werken zu verzeichnen gehabt, und von keinem so viele, die noch besonders der Beachtung empfohlen werden. Pausanias, welcher den Künstler als einen der ausgezeichnetsten Plasten rühmt, gedenkt mit besonderem Lobe der Statue des Euthymos, Cicero und Varro der Europa, Plinius des Pankratiasten, und auch die Anführungen bei Rhetoren und Kirchenvätern wie Dio Chrysostomus und Tatian, so wie das dem Philoktet in einem Epigramme gespendete Lob weisen auf die weite Verbreitung, wie auf die Dauer seines Ruhmes hin. Er ist aber auch der erste Plastiker, dem bestimmte, ganz individuelle Fort- schritte beigelegt werden, durch welche die sonstigen Lobsprüche erst in ihr rechtes Licht treten. Sie dienen zur weiteren Bestätigung seines Anschlusses an die peloponnesischen Schulen: denn sie zeigen^ wie auch er den Nachdruck auf die formale Durchbildung der Menschen- gestalt legte.

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,,Er drückte zuerst Nerven und Adern aus und behandelte das Haar sorgfältiger", sagt Plinius (34, 59). Der Ausdruck „zuerst" ist hier, wie gewöhnlich bei ähnlichen Erfindungsnotizen, nicht von abso- luter Neuheit, sondern von der systematischen Einführung oder Durch- bildung einer Neuerung zu verstehen. Vereinzelte Andeutungen von Adern finden sich bereits an der Westgruppe der Aegineten; sie ver- mehren sich an den Figuren der Ostgruppe, erscheinen aber in einer gewissen Vollständigkeit erst an der wahrscheinlich zuletzt ausgeführten Figur des Sterbenden, während sie z. B. an der Gruppe der athenischen Tyrannenmörder noch zu fehlen scheinen. Dieser Sterbende darf uns also als ungefährer Maassstab dienen für das, was Pythagoras in mehr systematischer und consequenter Weise erstrebt und erreicht haben mag. Zugleich aber führt uns diese Vergleichung auf die richtige Auffassung des zweiten Fortschrittes. Was wir heutzutage unter „Nerven" verstehen, kann so gut wie gar nicht Gegenstand materieller künstlerischer Darstellung sein, indem die feinen Verästungen der im Innern des Körpers liegenden Nervenstämme nicht sichtbar an die Oberfläche treten. Es können also nur die Sehnen gemeint sein, welche mit den Spitzen der Muskelfasern eng verwachsen die Be- stimmung haben, die Enden der Muskeln selbst an dem Knochen- gerüst zu befestigen. Ist auch ein grosser Theil von ihnen durch darüberliegende Muskelschichten dem Auge entzogen, so wird doch ein anderer Theil in Folge der durch mannigfache Bewegungen ver- ursachten Spannung besonders an den Gelenken sichtbar. Auch hierin lässt die Figur des Sterbenden dem Westgiebel gegenüber den Fort- schritt deutlich erkennen, wenn auch mehr nach der Tendenz, als in der Erreichung des Zieles. Hier also blieb dem Pythagoras ein reiches P^eld, diesen Fortschritt weiter zu begründen; und wenn bei der Wiedergabe der Adern auch schon äussere Beobachtung die günstigsten Resultate zu erzielen vermochte, so verlangte die Dar- stellung der Sehnen weit mehr ein Eindringen in die innere Fügung des ganzen Organismus. Jene besonders von den Aegineten gepflegten Studien des körperlichen Mechanismus mussten unter einem neuen Gesichtspunkte wieder aufgenommen werden: es genügte nicht mehr, * die Muskeln nach ihren Massen und ihrer Spannung zur Anschauung zu bringen, sondern es wurde nöthig, sie nach ihrer durch die Ansätze bedingten Fügung zu verfolgen, indem erst dadurch ein tieferer Blick in die Gesetze der Bewegung nach ihren feineren Modificationen er- möglicht wurde. Dass Pythagoras auf die Darstellung der Sehnen in

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diesem Sinne sein Augenmerk gerichtet habe, darf aus einem andern Urtheile geschlossen werden, welches uns Diogenes von Laerte VIII, 46 aufbewahrt hat: nämlich dass er zuerst Rhythmus und Symmetrie berücksichtigt habe. „Symmetrie" gebrauchen die Alten nicht in unserem heutigen engeren Sinne des Gleichmaasses oder des Gleich- gewichtes der Massen, sondern allgemeiner von dem Zusammenstimmen der Maasse nach bestimmten Verhältnissen, so dass die Lehre von den Symmetrieen ziemlich dem entspricht, was wir unter Proportions- lehre verstehen. Sie beruht auf streng mathematischen Gesetzen und bestimmt das Verhältniss der Theile in festen Maassen und Zahlen. Ihr entspricht in der Kunst der Rede das Metrum. Aber wie aus tadellosen Daktylen oder Jamben gebildete Reihen von Hexametern oder Senaren des Reizes entbehren würden, so können uns im Extrem die ägyptischen Statuen zeigen, wohin eine einseitige Betonung einer sirengen Proportionslehre in der bildenden Kunst führt. Sie vermag nur die Grundlage der körperlichen Formenlehre zu bieten, bedarf aber als nothwendiger Ergänzung des rhythmischen Elementes, welches die Schärfen und Härten des mathematischen Gesetzes namentlich in der Bewegung organischer Gestalten zu mildern bestimmt ist. Er- innern wir uns jetzt nur an das Eckige und Taktmässige der Aegineten, so werden wir leicht verstehen, wie viel dem Pythagoras in der rhyth- mischen Fügung der Glieder noch zu thun übrig blieb.

Wenn wir früher das Wesen der peloponnesischen Kunst richtig darin erkannt haben, dass sie den mathematischen Grundcharakter der Form, das Wesen der äginetischen darin, dass sie das mechanische Element des Körpers vorzugsweise betonte, so möchte das Verdienst des Pythagoras darin zu suchen sein, dass er die Richtungen beider Schulen in sich vereinigt und beide in gegenseitiger Durchdringung auf eine höhere Stufe der Ausbildung erhoben habe. Die feinere Gliederung der an die Oberfläche der Körper tretenden Formen, wie sie aus der Berücksichtigung der Adern und Sehnen sich ergab, machte eine erneute Prüfung der Grundlagen nöthig, auf denen sich diese äusseren Formen ausbreiten. Es mussten also z. B. Mängel, wie die in den Proportionen der Arme an der äginetischen Westgruppe, be- seitigt werden. Andererseits musste eben diese feinere Ghederung, die Berücksichtigung der Spannung der Sehnen und ihrer Ansätze darauf führen, die durch den Zug der Muskeln bedingte gegenseitige Stellung der einzelnen Glieder, oder mit andern Worten die Gesetze der Bewegung ebenso im Einzelnen mehr zu erforschen. Denn wenn

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auch jede Bewegung im Wesentlichen durch einen Hauptmuskel hervorgerufen und beherrscht wird, so wirkt doch selten dieser eine Muskel isolirt: andere treten unterstützend oder auch hemmend ein, und eben diese sind es, welche, ohne das Hauptmotiv zu zerstören, doch dasselbe in seiner Einseitigkeit modificiren und rhythmisch aus- gleichen.

Wie weit Pythagoras in dieser Richtung vorwärts ging, dürfen wir aus einem seiner Werke folgern : dem hinkenden Philoktet. Denn dass der Beschauer den Schmerz der W^unde mitzufühlen glaubte, konnte nur darauf beruhen, dass er sofort in der Wunde das Grund- motiv der künstlerischen Gestaltung erkannte. Dieses Grundmotiv aber ist ein pathologisches: die Wunde am Fusse verursacht eine Hemmung der Functionen der Bewegung. Die Lösung der künstleri- schen Aufgabe konnte also dem Pythagoras nur gelingen, wenn er nicht nur die Gesetze der normalen Bewegung erforscht, sondern auch erkannt hatte, in wie weit sich dieselbe nach den Bedingungen jener Hemmung modificiren musste, um aus der Disharmonie des Grund- motives eine neue Harmonie nach den Gesetzen eines besonderen Rhythmus zu entwickeln.

Wir besitzen kein Werk, welches wir als eine directe Copie dieses Philoktet zu bezeichnen berechtigt wären. Mehrere geschnittene Steine zeigen aber im Grundmotiv unter einander eine solche Ueber- einstimmung, dass dieselbe sich nur durch die Annahme eines gemein- samen Vorbildes erklären lässt (Miliin, Gal. myth. 115,603 von der Gegenseite gezeichnet; Ann. d. Inst. 1857, H.).i) Der Heros, der in der Linken Bogen und Köcher hält, stützt den Körper gleichzeitig auf den linken Fuss und auf den Stab in seiner Rechten^ während er vorsichtig mit dem rechten verwundeten Fusse vorschreitet. Nur wenig verschieden ist es, wenn er auch den linken Arm benützt, um vermittelst eines Stabes oder durch Aufstützen auf einen Felsen dem gebrechlichen Körper noch einen weiteren Halt zu geben versucht. Sofern wir das Gemeinsame dieser Darstellungen auf die Statue des Pythagoras zurückführen dürfen, gewinnen wir die Möglichkeit, den rhythmischen Fortschritt des Künstlers wenigstens nach einer Seite fester zu bestimmen. Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, wie alle Plguren der älteren Kunst, sei es in statuarischen, sei es in Relietbildungen, einen gewissen Stillstand in der Vorwärts-

^) Rn,: Milani, II milo di Filottete, Firenze 1879 [T. 2; p. 77 ff.].

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bewegung zeigen, indem gleichzeitig Arme und Beine der einen Seite nach vorwärts gerichtet sind, während die der andern Seite zurückbleiben. Im Motiv des Philoktet dagegen begegnen wir zuerst einer Kreuzung der Glieder in der Weise, dass sich in der Bewegung rechter Arm und linker Fuss, und umgekehrt entsprechen. Uns mag dieser Wechsel als durch das Gesammtmotiv der Figur selbstverständ- lich gegeben erscheinen; die historische Betrachtung muss dagegen hier einen der folgenreichsten Fortschritte in der Geschichte der Kunst anerkennen; denn erst durch diese Kreuzung ist es möglich, jenen Stillstand zu überwinden und wirkliche Bewegung, d. h. nicht einen fixirten Moment in der Bewegung, sondern die Bewegung in ihrem Verlaufe zur Anschauung zu bringen.

Im engsten Zusammenhange mit diesem Fortschritte steht aber ein anderer in der Bildung der Körper selbst oder richtiger in dem Rumpfe der Gestalten. In Folge der Kreuzung der Glieder werden nämlich die Querachsen der Schultern und Hüften, die bei normaler Haltung parallel in einer Ebene liegen und auch bei einseitiger Vorwärtsbewegung in dem gleichen Verhältnisse verharren, aus dieser Lage verschoben und bewirken dadurch eine mehr oder minder starke Drehung des gesammten Rumpfes. Es genügt auf die Kämpfer der äginetischen Gruppen hinzuweisen, um sich bewusst zu werden, dass der Eindruck der Starrheit in der Bewegung zum grossen Theil auf dem Fehlen dieser Drehung beruht. Bei den liegenden Figuren war sie nicht ganz zu umgehen, ist aber mangelhaft durchgeführt, weil ihre principielle Bedeutung noch nicht erkannt war. Nur an dem Sterbenden des Ostgiebels, der ja auch sonst mit der Kunst des Pythagoras eine nähere Verwandtschaft verrieth, überrascht uns das tiefere und klarere Verständniss des Motivs. Immer aber bleibt von dieser Stellung der Ruhe zu einer principiellen Verwendung für leb- hafte Bewegung und Handlung noch ein bedeutender Schritt, und nur ein Künstler wie Pythagoras, dem ausser Kenntniss der Formen im Einzelnen der Sinn für ihre rhythmische Verbindung sich erschlossen hatte, vermochte ihn mit Erfolg zu wagen. In der Figur des Philoktet beruhte gewiss der Eindruck der Gebrechlichkeit der ganzen Gestalt zum grossen Theil auf dieser Drehung, durch welche der ganze Rhyth- mus des Motivs bedingt war. ^)

^) Rn : capillumque diligentius. zur Charakteristik.

An dem Bilde des Philoktetes diente das Haar mit

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Liesse sich besser, als es der Fall ist, die Vermuthung begründen, dass der neben einem Dreifuss auf eine Schlange zielende Apollo auf einer Münze von Kroton (Müller, D. a. K. II, 13, 145)^) nach dem drachentödtenden Apollo des Pythagoras copirt wäre, so würden wir unter den Werken des Künstlers ein zweites Beispiel einer stark ge- drehten Figur gewinnen. AVir dürfen aber wohl voraussetzen, dass auch am Perseus jene rhythmischen Fortschritte Berücksichtigung ge- funden haben werden, sowie nicht minder an seinen Athletenbildern, insofern es sich aus solchen Vorzügen am besten erklärt, dass er mit einem derselben, einem Pankr atiasten, sogar über Myron den Sieg davon zu tragen vermochte.

Wo uns die Mittel fehlen, das Bild eines anerkannt bedeutenden Künstlers durch die Anschauung originaler Arbeiten oder sicherer Copieen lebendiger zu gestalten, werden wir immer geneigt sein, aus dem Vorrath unserer Monumente irgendwie verwandte Werke herbei- zuziehen, auch wenn uns nichts berechtigt, sie mit der Person dieses Künstlers in directe Beziehung zu setzen. Muss ja doch der Einfluss bestimmter Fortschritte sich auch in weiteren Kreisen der Zeitgenossen äussern. Aus diesem Grunde ist bis auf diesen Punkt die Besprechung einer Bronze verschoben worden, die trotz ihrer Kleinheit unter allen archaischen Arbeiten eine hervorragende Stellung einnimmt, nämlich die sogenannte Tu x 'sehe Bronze im Besitze der Universität Tübingen.^) Ein nackter bärtiger Mann, durch den Helm als dem Kriegerstande angehörig charakterisirt, steht mit etwas eingebogenen Knieen und leise vorgeneigtem Oberkörper aufrecht, indem er den rechten Arm mit nach unten geöffneter Hand fast horizontal ausstreckt, den im spitzen Winkel gebogenen linken Arm dagegen scharf nach rückwärts anzieht. Es ist die Haltung eines im Wagen Stehenden, der durch die Biegung der Kniee den Stössen desselben elastisch nachgiebt. Die Linke zieht die Zügel der Rosse straff an; die Rechte scheint ihr Feuer mildern zu wollen. Der Helm hindert, an einen gewöhnlichen Wagenlenker zu denken. Aus dem Kreise der Heroenwelt bietet sich aber zur Erklärung vor allem die Sage von Amphiaraos dar, der auf Befehl des Zeus mit seinem Gespann von der Erde verschlungen und unsterblich gemacht wurde. Nach der gewöhnlichen Erzählung nahm an diesem Schicksal auch sein Wagenlenker Baton Theil und ihn hat

^) Overbeck, Kunstmythol., Apollon, Münzt. 5, 21. Schwabe, Jahrb. d. arch. Inst. 1886, T. 9.

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man daher auch wegen der durch den Hnken Arm ausgedrückten Handlung hier erkennen wollen. Doch scheint für ihn der Helm weniger passend, und da seine Gegenwart nicht durchaus nothwendig ist, so wird die Deutung auf Amphiaraos selbst vorzuziehen sein, die Grüneisen in seiner vortrefflichen Besprechung des kleinen Werkes (Die altgriechische Bronze des Tux'schen Kabinets in Tübingen, 1835) S. 53 aufgestellt und begründet hat: „Dieser Amphiaraos nun, wo er forteilend und die Rosse treibend den sich aufthuenden Erdschlund erblickt, vor dem sich ohne Zweifel auch die Thiere bäumen, zieht mit der Gewalt des Nemeischen Wagensiegers die Leinen in kräftiger Linken zurück, während er mit seinem Körper noch immer vorgelehnt ist und die rechte Hand ausstreckt; nicht aber, um wie bisher die Richtung des Weges sich und den etwaigen Gefährten zu bezeichnen und durch Zuruf, welchen die Bewegung der Hand begleitet, die Rosse zur Beschleunigung und Verdoppelung der Eile anzuhalten, sondern weil die Rosse sich sträuben und in Unordnung zu gerathen drohen, streckt er unwillkürlich die Hand nach ihnen aus und scheint ihnen beschwichtigend zuzurufen; nun aber, indem seinem ahnenden Geiste zugleich eine Erkenntniss des Rathschlusses der Götter aufgeht, wird das beschwichtigende und ordnende Zeichen wiederum zur Aufmunterung, den Sprung in die rettende Tiefe zu thun." ^)

In künstlerischer Beziehung hat man die Figur bisher gewöhnlich mit den Aegineten zusammengestellt, welche allerdings mehr als einen Vergleichungspunkt darbieten. Wie in diesen, überwiegt das Streben nach Durchbildung des Körperlichen, und die Bronze steht ihnen darin durchaus nicht nach. Doch unterscheidet sie sich von ihnen nicht nur durch das Fehlen der früher (S. 182) hervorgehobenen Anomalien, sondern überhaupt durch grössere Schlankheit der Verhältnisse. "Frei- lich darf sie ebensowenig direct auf Pythagoras zurückgeführt werden : das Haar um die Stirn herum ist noch in regelmässige Reihen von Löckchen gelegt und der Bart steht nur etwa auf gleicher Stufe mit dem des Sterbenden unter den Aegineten. Auch fehlt die Andeutung von Adern und Sehnen, wenn auch dabei in Betracht zu ziehen ist, dass die Kleinheit der Figur einer zu detaillirten Ausführung nicht günstig war und dass ausserdem gerade die Theile, wo solche Einzel-

^) Die vorstehende Erklärung ist nachträglich eingeklammert und am Rande aut Hauser, Jahrb. d. arch. Inst. II, S. 95 ff. verwiesen, v^^o die Figur als die eines Hoplitodromos erklärt wird (vgl. dagegen Schwabe, Gesch. d. arch, Samml. d. Univers. Tübingen, Tüb. 1891, S. 23 f) u. wieder Häuser, Jahrb. d. arch. Inst. X, S. 182 ff.

Meisler der Uehergangszeit.

heiten besonders hervortreten, wie Handgelenk und Knöchel, durch ungeschicktes Putzen scharf angegriffen sind. Nach andern Seiten aber scheint die Figur ganz besonders geeignet, um uns von sehr wesentlichen Eigenschaften der Kunst des Pythagoras ein anschau- liches Bild zu gewähren ; so zuerst darin, dass gegenüber den Aegineten die Proportionen einer erneuten Reinigung und Richtigstellung unter- zogen sind, sodann aber besonders darin, dass das rhythmische Element eine weit stärkere Betonung erfahren hat. ,,Mit dem Vorliegen des Ganzen/' sagt treffend Grüneisen S. ii, „contrastirt das Zurücktreten des Einzelnen, mit dem nahen Stand der Beine die weite und fast polarische Bewegung der Arme, mit der Kraft, welche den vor- herrschenden Ausdruck der edelgebauten , weichgegliederten, schön- entwickelten männlichen Gestalt bildet, eine gewisse Schüchternheit oder Erschrockenheit und Zaghaftigkeit, die sich in dem unmittelbaren Zustande ausspricht. Und wiederum waltet durch diese Mannich- faltigkeit der Verhältnisse und Bewegungen ein weises Maass, eine beziehungsreiche, befriedigende Ordnung, worin dem Vortreten der rechten Seite des Oberleibes dasjenige des linken Beines, dem Zurück- weichen der linken Obertheile die Stellung des rechten Beins entspricht, sodann nicht minder die Richtung des Rumpfes, der Unterschenkel und so, wie man dieselbe hinzuzudenken genöthigt ist der Crista des Helmes; (worin) ferner der die Haltung des Kopfes am stärksten bezeichnende Kinnbart, der linke Oberschenkel und rechte Oberarm, der linke Oberarm und der vordere rechte, der linke Vorder- arm und der rechte Oberschenkel einen freien belebten Organismus bilden, während die vorwärtsdrängende Bewegung der rechten Hand und die rückwärtsziehende Thätigkeit der linken, sammt allen Muskeln und Sehnen, welche durch die gedoppelte Richtung hervor- und zurück- treten, in der starken gewölbten Brust und auf der affectlosen Stirne sich berühren und versöhnen."

Nicht besser als durch diese Schilderungen werden wir uns von den Wegen und Zielen einen Begriff zu machen vermögen, welche Pythagoras in seinen rhythmischen Bestrebungen verfolgte. Denn hier erkennen wir klar den Fortschritt gegen die Aegineten, und doch, wie es nothwendig: nur einen Schritt, wenn auch einen bedeutenden. Denn trotz alledem sind die Schranken des Archaismus noch nicht überwunden. Noch waltet im Ganzen eine gewisse Zurückhaltung und Schüchternheit, die nicht über dem Wagniss bedeutender Neue- rungen die sichere Basis des ererbten Besitzes zu gefährden Neigung

Jüngerer Zeitraum. Die Plastik

zeigt. Noch fehlt die volle geistige Durchdringung des Ganzen. Die Behandlung des Gesichts ist allerdings minder streng und alterthüm- lich, als in den Aegineten, den Herakles und den Sterbenden kaum ausgenommen. Aber wenn Grüneisen S. i8 sehr bezeichnend sagt: „Das Gesicht verbiete wenigstens nicht, in den ernsten und zugleich milden Zügen ein Bewusstsein der Thätigkeit zu suchen, welche den Körper in Thätigkeit setzt", so liegt eben darin ausgesprochen, dass das Ganze von dem Ausdrucke des Kopfes noch nicht eigentlich und völlig beherrscht wird.

Kaiamis.

Eine sichere Zeitbestimmung für diesen Künstler (SQ. 508 532) gewährt uns die Nachricht, dass er Ol. 78 (468 464 V. Chr.) in Verbindung mit Onatas für Hieron von Syrakus beschäftigt war. Damit stimmt überein, dass er auch für Pindar arbeitete, der Ol. 85, 2 in hohem Alter starb, ^) sowie ausserdem, dass sein künstlerischer Charakter von Cicero und Quintilian etwas alterthümlicher als der des Myron genannt wird. Ueber die Heimath fehlen bestimmte Angaben. Einige seiner Werke befanden sich in Athen, und ein athenischer Künstler wird als sein Schüler angeführt. Gewiss ebenso wichtig ist es aber, dass auch seine künstlerische Eigenthümlichkeit uns dorthin weist. Wir dürfen indessen nicht übersehen, dass seine äussere Stellung eine wesentlich andere ist, als die aller bisher behandelten athenischen Künstler. Er arbeitete nämlich nicht nur für Theben und Tanagra in Böotien und für das weiter entlegene Apollonia am Pontus, sondern sogar für das an eigenen Künstlern nicht arme Sikyon und tritt in Delphi und Olympia als ebenbürtiger Concurrent der peloponnesischen Kunstschulen auf. Hieron z. B. lässt in Olympia neben einem Vier- gespann von der Hand des Aegineten Onatas zwei Rennpferde mit Knaben von Kaiamis aufstellen. Ist es nun auch möglich, dass die attische Kunst durch eigene Kraft und durch den Geist eines einzelnen Künstlers zu solchem Wettstreit befähigt wurde, so werden wir doch die andere Möglichkeit nicht aus den Augen verlieren dürfen, dass sie sich gerade durch die Berührung mit den auswärtigen Schulen und durch theil weise Aneignung der Vorzüge derselben zu solcher Be-

^) Das Todesjahr des Dichters ist keineswegs so sicher, fällt wahrscheinlich etwas früher ^^^448 444 V. Chr.).

Meister der Uebergangszeil.

deutuiig erhob, oder dass, mit andern Worten, Kaiamis mit attischem Geist und attischem Empfinden peloponnesische Bildung, wenn auch nur subsidiarisch verband.

Denn eine von jenen Schulen abweichende Geistesrichtung offen- bart sich schon bei einem Blicke auf die Reihe seiner Werke. Vor- angegangen waren sie ihm allerdings in der Darstellung des Rosses, und Kaiamis hat hier nur den Ruhm, alle Nebenbuhler so weit über- troffen zu haben, dass sogar Praxiteles sich später bewogen fand, zu einem seiner unvergleichlichen Viergespanne einen Wagenlenker zu machen, damit nicht das Verdienst der Rosse durch die weniger ge- lungene Figur des Lenkers beeinträchtigt erscheine. Statuen von Athleten dagegen fehlen unter seinen Werken. Die von den Akra- gantinern wegen eines Sieges über Motye nach Olympia geweihten Knabengestalten, welche in der Haltung von Betenden die Rechten vorstreckten, verrathen sogar einen gewissen Gegensatz zu der auf blosse Körperschönheit gerichteten Tendenz der Athletenbildungen, indem wir doch wohl von der äusseren Haltung auf eine ihr ent- sprechende religiöse Stimmung schliessen dürfen. Wir dürfen dies umsomehr, als überhaupt unter seinen Werken die Götterbilder über- wiegen. Darunter finden sich von bärtigen Gestalten Ammon für Pindar in Theben, ein Dionysos und ein Hermes Kriophoros, d. h. der einen Widder auf den Schultern trug, für Tanagra, in jugendlicher Bildung ein Asklepios mit Scepter und Pinienapfel für Sikyon und dreimal Apollo, der eine, als Alexikakos bezeichnet, im Kerameikos zu Athen, der andere in den Servilianischen Gärten zu Rom, der dritte, ein Koloss von 30 Ellen Höhe, von Lucullus aus Apollonia am Pontus auf das Capitol versetzt. Hierzu gesellen sich von weiblichen Gottheiten eine Aphrodite am Aufgange der Akropolis zu Athen, eine nach dem Vorgange der athenischen Apteros ungeflügelt dargestellte Nike, von den Mantineern nach Olympia geweiht, und eine Erinys, zu Athen zwischen zwei andern des Skopas aufgestellt. Ob die später noch genauer zu besprechende Sosandra für die eben erwähnte oder eine andere Aphrodite, oder für eine Hera zu halten, ist trotz viel- fältiger Erörterungen noch immer nicht festgestellt (s. Overbeck, SQ. 520). Dem Kreise der Heroinen gehört dagegen die von den Lakedämoniern

Rn.: Arch. Zeit. 1883, S. 255 ff; [vgl, Imhoof-Gardner, Journ. of hell. stud. 1887, Atl. T. 74, 7 u. 8: vermuthete, doch von A. wieder bezweifelte Nachbildungen des Dionysos auf Münzen vom Tanagra, die den Gott mit einem Triton zu Füssen in einer Aedicula dar- stellen.]

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jiing^erer Zeitraum. Die Plastik.

nach Delphi geweihte Hermione, sowie die von Plinius besonders ge- rühmte Alkmene an.

Leider werden uns diese Werke nicht genauer beschrieben, und ebenso wenig besitzen wir von ihnen nur einigermassen gesicherte Nachbildungen. Ein Hermes Kriophoros der Pembrokeschen Sammlung (Müller, D. a. K. II, 29, 324) weicht von dem, was wir über den Kunstcharakter des Kaiamis erfahren, zu bedeutend ab, als dass er auf das Original dieses Künstlers zurückgeführt werden dürfte; und dasselbe gilt von einer Münze von Tanagra (Arch. Z. 1849, T. 9, 12),^) wo die Darstellung des Widderträgers wegen alter Sühngebräuche wahr- scheinlich schon lange vor der Zeit des Kaiamis üblich war.

So bleiben zunächst die Nachrichten über das Material seiner Werke zu beachten. Auch bei Kaiamis überwiegt noch die Bronze; doch arbeitet er daneben in Marmor, und wenigstens ein Werk, sein Asklepios in Sikyon, gehört der chryselephantinen Technik an, deren Vorstufen wir bereits in der Schule des Dipoinos und Skyllis be- gegneten, während das älteste uns bekannteste Werk dieser Gattung, eine Aphrodite des Kanachos, sich ebenfalls in Sikyon befand. Daran reihte sich endlich die Thätigkeit in der Ciselirung des Silbers, in welcher Kaiamis von Plinius als einer der bedeutendsten Meister gefeiert wird. (Man hat allerdings den Caelator von dem uns bekannteren Kaiamis als eine zweite Person unterscheiden wollen, indem Plinius 36, 36 einen Apollo in den servilianischen Gärten als ein Werk Calamidis illius caelatoris anführe, was doch nur im Gegensatze zu dem sonst bekannten gesagt sein könne. Allein es handelt sich nur um eine Rückweisung auf den hohen Ruf in der Caelatur, durch den Kaiamis gerade dem Plinius wegen der von Zenodor copirten Becher bekannt war. Im 34. Buche erscheint er nicht streng in der Reihe der bedeutendsten Erzbildner, sondern er wird einmal wegen einer Kolossalstatue, das andere Mal zwar etwas nachdrücklicher, aber nur bei Gelegenheit des Praxiteles erwähnt.) Zwei Becher von ihm copirte noch Zenodor, der Künstler des neronischen Kolosses. Stellen wir diesen kleinen Arbeiten seinen 30 Ellen hohen Apollo gegenüber, so tritt uns eine grosse technische Vielseitigkeit entgegen, welche der Vielseitigkeit in der Wahl der Gegenstände nichts nachgiebt.

Dennoch wird uns die Bedeutung des Künstlers erst aus andern Nachrichten klar. Im Allgemeinen wird seine kunstgeschichtliche

Imhoof-Gardner, Journ. of hell. stud. 1887, Atl. T. 74, Ii u. 12.

Meister der Uebergangszeit.

Stellung dadurch charakterisirt, dass er bei Cicero und Quintilian den ältesten namhafteren Vertretern der archaischen Kunst, einem Kanachos, Kallon und Hegesias gegenüber als minder hart im Stil, aber doch noch härter als Myron hingestellt wird. Er steht also formell noch innerhalb der Schranken der archaischen Kunst, musste aber dem Stil seiner Werke bereits einen sehr individuellen Charakter aufgeprägt haben, indem z. B. Pausanias (V, 25, 5) an dem Knabenchor der Akra- gantiner die Hand des Meisters auch ohne äussere Beglaubigung er- kennt. Diese Eigenthümlichkeit erhält Beleuchtung durch ein weiteres Zeugniss des Dionys von Halikarnass: wie sich Isokrates hinsichtlich der ernsten Würde, der Grossartigkeit und Erhabenheit mit Phidias und Polyklet vergleichen lasse, so Lysias mit Kaiamis und Kallimachos hinsichtlich der zarten Feinheit und Anmuth, wie die schwer wieder- zugebenden Worte: Tr\c XeTTTorriToc evexa xai Tf\c x^P^'^^^ ^^^^ vor- läufig übersetzt werden mögen. Ihr feineres Verständniss wird uns durch die doppelte Erwähnung eines seiner Werke bei Lucian er- leichtert werden. In der einen Stelle (Dial. meretr. III, 2) wird ironisch erzählt, wie ein Liebhaber den Tanz einer Hetäre Thais schildert: er rühmt „den schönen Rhythmus und das Chormässige der Bewegung, dass der Fuss wohl stehe zur Cither, wie schön der Knöchel sei, und tausend anderes, gleich als ob er die Sosandra des Kaiamis lobe und nicht die Thais, die du ja vom Bade her kennst." Wie der Zusammen- hang noch weiter bestätigt, liegt hier der Gegensatz in dem hetären- haften Wesen der Thais und dem strengen, züchtigen Anstand der Sosandra. In der andern Stelle (Imagg. 6) handelt es sich um das Ideal einer Frauenschönheit, das durch den Vergleich mit den einzelnen Vorzügen der berühmtesten Kunstwerke veranschaulicht werden soll: „wSosandra und Kaiamis mögen dieses Ideal mit verschämter Züchtig- keit (aiboi) schmücken, und das ehrbare und unbewusste Lächeln sei wie das ihrige; auch das Wohlgeordnete und Anständige der Ge- wandung nehme man von der Sosandra, nur dass unser Ideal das Haupt unverhüllt haben soll'\

Fassen wir diese Urtheile zusammen, so ist zunächst hervorzuheben, dass in ihnen nichts auf eine vorwiegende Betonung der formalen Durchbildung der Gestalten hindeutet. Denn auch jene zarte Feinheit, welche durch sauberes und sorgfältiges Ab- und Ausarbeiten, durch Beseitigung aller Fülle und Schwere zur Charis, zu zierlicher Anmuth führt, bezieht sich weniger auf das tiefere Verständnis, als auf den besonderen Charakter der Wiedergabe der Form, Wir dürfen hier

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jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

wohl an das Relief der wagenbesteigenden Frau (S. 207) erinnern, an welchem wir zuerst, wenn auch in dem Stil einer noch etwas älteren Zeit, jenen Charakter zarter Feinheit zu beobachten Gelegenheit hatten, ohne dass das Werk sich zugleich durch strenge Correctheit der Form besonders auszeichnete. Aber weist nicht wenigstens der hohe Ruf, dessen sich die Rosse des Kaiamis selbst über seine Zeit hinaus er- freuten, auf ein bedeutendes formales Verdienst hin? Blicken wir nochmals auf das eben genannte Relief, wenn auch an demselben von den Pferden nur die Schweife und ein Stück eines Hinterfusses erhalten sind: mussten dieselben nicht, um der menschlichen Gestalt zu ent- sprechen, denselben Charakter der Zartheit und Feinheit zeigen? Lag nun aber das Verdienst der Rosse des Kaiamis in den gleichen Eigen- schaften, so lernen wir vielleicht gerade am Thiere die Auffassung des Kaiamis am leichtesten verstehen. Jene P^einheit Hess sich nämlich kaum anders als dadurch erreichen, dass der Künstler den Nachdruck auf das Edle der Race legte, wie es sich in Gestalt und Form und in Verbindung damit auch in edlerer, vornehmerer Bewegung offenbart. Uebertragen wir jetzt diesen Satz auf die menschliche Gestalt, so wird auch hier jene Verfeinerung nur eine Veredlung der Form be- deuten können.

Zugleich aber, oder vielmehr auf diesem Wege strebt der Künstler nach „Anmuth"; er wendet sich nicht an den Verstand des Beschauers, sondern er will in ihm ein Gefallen, ein sympathisches Gefühl erwecken. Nichts Unedles soll ihn stören oder abstossen : daher das Anständige, Wohlgeordnete in der Gewandung, jene züchtige und fast schüchterne Befangenheit in der Haltung, jenes unbewusste ehrbare und verschämte Lächeln der Sosandra.

Es ist nicht zu leugnen, dass hiermit ein neues Element in der Kunst nach Geltung strebt. Sehen wir auch von den äginetisch- peloponnesischen Schulen ab, welche bisher ihre ganze Kraft der Auf- gabe zuwenden mussten, die Herrschaft über die Form zu gewinnen, so beschränkte sich doch auch die grössere Frische und Lebendigkeit der attischen Kunst bis jetzt auf die Auffassung des physischen Lebens und Wachsthums der Gestalten. Erst in der wagenbesteigenden Frau und dem Hermesfragment traten uns die Spuren des Umschwunges im attischen Geiste entgegen, der sich in Folge der Perserkriege zu entwickeln begann. War es allerdings die strenge altväterische Zucht der Marathonskämpfer, welche auf dem Schlachtfelde den Sieg er- fochten, so waren doch die Kämpfer nach dem Siege nicht mehr die-

Meister der Uebergangszeit.

selben wie vorher. Ein neuer Geist war erwacht und begann die alten Formen im Staat und im Leben zu durchdringen, wenn es auch erst der folgenden Generation aufbewahrt blieb, ganz neue Gestaltungen an die Stelle des Alten zu setzen. Die Poesie, an keinen materiellen Stoff gebunden, mochte im freieren Fluge der Gedanken voraneilen, und von den bildenden Künsten schloss sich, wie wir später sehen werden, die leichter bewegliche Malerei ihr zunächst an. Langsamer folgte die Plastik; ehe sie es wagen durfte, die alten Formen zu sprengen, galt es dieselben geistig zu läutern und über die äussere Action und die physische Lebensthätigkeit hinaus mit menschlichem Empfinden zu durchdringen. Wir werden hier lebhaft an eine ver- wandte Ent Wickelung der Kunst in Italien am Ende des XV. Jahr- hunderts erinnert. Dort trat neben die florentinische Schule die umbrische, nicht mit dem Streben, die Form von Grund aus umzu- gestalten und die volle Freiheit zu erkämpfen, sondern in der Ver- feinerung der Form, in naiv zierlicher Anmuth der Bewegungen und in dem unbewussten und verschämten Lächeln einer gesteigerten Innigkeit der Empfindung Ausdruck zu verleihen: eine Richtung, die in ihrer Rückwirkung auf Toscana selbst in den Werken des Leonardo da Vinci sehr entschieden nachklingt. Die gleiche Aufgabe also ver- folgt die Kunst des Kaiamis: auch sie strebt nicht nach einer Um- gestaltung von Grund aus, sondern in ihr entfaltet sich das bisherige Wachsthum bis zum Ansatz der Knospe, die noch gebunden und in sich geschlossen erscheint, deren Anblick aber gerade dadurch uns fesselt, dass sie die volle Schönheit der Blüthe uns noch nicht ent- hüllt, sondern als in ihr verborgen erst ahnen lässt.

Wie bei Pythagoras empfinden wir auch bei Kaiamis das Bedürf- niss, in Ermangelung von Originalen oder guten Copieen uns das Bild seiner Kunst durch die Betrachtung von Arbeiten einer verwandten Geistesrichtung zu ergänzen und zu beleben. Dadurch lenkt sich unsere Aufmerksamkeit auf zwei nur zur Hälfte erhaltene Relieffiguren eines in Athen gefundenen vierseitigen Altars,^) wenn es auch als ein Zufall be- trachtet werden muss, dass die eine derselben gerade einen Hermes Kriophoros darstellt, also denselben Gott, den Kaiamis in einem statua- rischen Werke für Tanagra bildete, während die andere, eine weibliche Gestalt, uns wenigstens flüchtig an die Sosandra des Künstlers zu er-

^) Nationalmus., Kabbadias 54; Ann. d. Inst. 1869, tav. d'agg. I K, p. 253 ff.; vgl. P riederichs-Wolters, Gipsabgüsse 418, 419.

Brunn, Gr. Kunstgeschichte II,

Jüngerer Zeitraum. Die Plastik

innern vermag. Unverkennbar ist der archaische Charakter des Ganzen; und doch geht in dem künstlerischen Empfinden das Werk über alle bisher betrachteten archaischen Arbeiten unzweifelhaft hinaus. Beginnen wir bei dem Widder auf den Schultern des Gottes, so finden wir hier bestätigt, was oben über die Rosse des Kaiamis vermuthet wurde: es ist ein Thier edler Race, das zeigen die scharfen Brüche des Vliesses, an denen wir eine Wolle von feiner Qualität erkennen ; und diesem Charakter entspricht nicht weniger der feine Bau der Glieder, besonders der Beine. Wie aber das Thier, so auch sein Träger. Wenn wir an den Aegineten die Körper bewundern, wie sie im Leben durch schul- mässige Uebung sich ausbilden und durch den Künstler in Folge eines analogen Studiums zur Darstellung gelangen, so vermissen wir trotz einiger Fehler (z. B. in der Zeichnung des linken Armes und der Hand) zwar auch an dem Hermes nicht ein genügendes Verständniss, aber wir empfinden, dass es hier nicht mühsam erarbeitet und angelernt ist, dass überhaupt die Form für sich allein keinen besondern Werth beansprucht, sondern dass vielmehr der Künstler von einer Gesammtanschauung des Gottes als eines feiner organisirten Wesens ausging, dem von Natur aus mit edleren Formen auch ein edleres Empfinden verliehen war. Der alte Kalbträger (S. 192) hält die Füsse des Thieres fest gefasst und presst sie an sich; der Gott in dem Relief lässt den Vorderbeinen möglichste Freiheit, sich nach vorn auszustrecken, während der leicht spielende Zeigefinger seiner Rechten uns erkennen lässt, dass er die Hinterbeine nur leicht gefasst hat, wie um dem Thiere nicht wehe zu thun. So tritt uns bei der weiblichen Gestalt trotz arger Zerstörung an dem Schleier ein feiner Geschmack der Anordnung, und in der Art, wie die Linke ihn lüftet, ein Zug von ungesuchter, angeborener Anmuth entgegen. An dem Haar des Hermes übersehen wir fast das Archaische der Stilisirung, während uns die feine Linienführung in den am Schädel anliegenden Partieen fesselt und die hinter dem Ohr herabfallende Locke, sowie der Schnurrbart sich schon von den starreren Massen zu lösen und in selbst- ständiger Freiheit zu gestalten beginnen. Ueber die feineren Züge des Antlitzes lässt sich bei dem heutigen Zustande des Marmors nicht sicher urtheilen; aber die Gesammtanlage, die Form des Kopfes, der Schnitt des Profils erscheinen bereits gereinigt, mit der leisen Neigung des Halses scheint auch die Starrheit des Blickes gebrochen, und nur der letzte, allerdings entscheidende Schritt bleibt noch zu thun, um das in einem Zustande unbewussten Empfindens halb schlummernde Auge zu geistigem Leben und Ausdruck zu erwecken.

Meister der Uebergangszeit.

Einer ähnlichen Uebergangsperiode gehört endlich ein statuarisches Werk an, das, als bedeutend anerkannt, doch bisher einen festen Platz in der Kunstgeschichte noch nicht erhalten hat, nämlich eine Amazone des Wiener Museums (v. Sacken, Antike Sculpturen in Wien, T. i)^). Ihre Herkunft ist unbekannt, und eine äussere Berechtigung, sie unter die attischen Werke einzureihen, kann höchstens der Umstand gewähren, dass der Marmor attisch sein soll. Leider fehlen an der etwa in halber Lebensgrösse gebildeten Figur beide Arme und von den Beinen das linke, ganz, sogar bis über den Ansatz des Schenkels hinaus, das rechte vom Knie abwärts. In der Brust verwundet, sinkt sie zusammen, und auf Grund der Vergleichung einer Pulszky 'sehen Gemme ^) dürfen wir ver- muthen, dass sie von rückwärts durch einen hinter ihr stehenden Krieger emporgehalten wurde, wonach sich die Deutung auf Achilleus und Penthesilea fast von selbst ergiebt. Trotzdem ist es schwer, sich von dem Ganzen der Gruppe eine hinlänglich klare Vorstellung zu machen, und wir begnügen uns daher mit der Prüfung des erhaltenen Theiles. Abweichend von späteren Bildungen trägt sie unter dem kurzen Chiton, der die linke Seite der Brust frei lässt, noch ein ebenfalls kurzes hemdartiges Untergewand, das aber nicht, wie z. B. an dem Hermesfragment (S. 207), aus weichem, gewelltem Stoffe gebildet ist, sondern in feine, nicht mehr streng parallele Falten gelegt ist, welche, jede einzeln, durch geschickte Führung des Meisseis in seiner Breite erzeugt und scharf abgegrenzt sind. Am Chiton weisen die noch sorgfältig, aber nicht in steifem Zickzack ge- legten Ränder bestimmt auf die archaische Kunst zurück. Dagegen sind die Falten auf den Flächen des Körpers freier behandelt. Aber während früher die Gewandung häufig eine zu grosse Selbständigkeit bewahrte und den Körper mehr verhüllte als zeigte, tritt hier eine entgegengesetzte Tendenz hervor, nämlich die Formen dadurch zu deutlicher Anschauung zu bringen, dass die Gewandung sich eng an den Körper anschmiegt, ja fast an demselben klebt, so dass sich nur die Ränder der erhobenen Falten reliefartig von ihm abheben. Wohl aber folgen sie nicht nur den Formen, sondern einiger massen auch der Lage des Körpers, so dass nur noch der letzte Schritt zu völlig freier Behandlung übrig bleibt. Noch stark archaisch ist die Behandlung des Haares; es ist mehr nach Art der Bronze gravirt als modellirt, und zwar besonders in den von der

^) Br.-Br. 418; R. v. Schneider, Album d. Anlikensamml. Wien, T. 2.. ^) Overbeck, Gesch. d. gr. PI., Fig. 63a; Brit. Mus., Catalogue of engrav. gems, pl. D, 281.

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

Hauptmasse sich lösenden Löckchen mit der grössten Zierlichkeit, womit die sauberen Ornamente am Stirnschilde des Helmes im schönsten Ein- klänge stehen. So zeigt sich eine in der Ausführung des Einzelnen zu- weilen etwas scharfe, aber doch überall feinfühlende Hand, die nur mit einer gewissen Zurückhaltung die Fesseln der Ueberlieferung zu sprengen noch Anstand nimmt. Nicht weniger verräth sich dieses feinere Empfinden in der ganzen Gestalt. Obwohl kräftig durchgebildet, um zum Kampfe befähigt zu sein, fesselt an ihr doch nicht die materielle physische Tüchtigkeit, sondern vor allem das Edle und Reine der ganzen Bildung, welches aber wiederum nur die Grundlage bildet, auf der sich ein neues geistiges Element, eine neue psychologische Wirkung entwickelt, freilich zum grossen Theil ebenfalls auf der Basis weiterer formaler Fort- schritte. Wie das Gelingen der Darstellung des Philoktet in der Statue des Pythagoras die rhythmischen Fortschritte des Künstlers zur Voraus- setzung hatte, so spricht sich auch an der Amazone das Empfinden des Künstlers in einer wesentlich verfeinerten rhythmischen Fügung der Theile aus. Im Sterbenden des Ostgiebels von Aegina ist noch ein Rest von Kraft vorhanden, um die Bewegung der Glieder zu beherrschen; hier dagegen übt der Tod bereits seine gliederlösende Wirkung, die als ein- heitliches Motiv das Ganze beherrschen muss. Leider ist es uns wegen der Zerstörung der Extremitäten versagt, sie bis ins Einzelne zu ver- folgen; aber wir erkennen sie mit tiefem Mitgefühl in der Beugung des Halses und in der Neigung des Kopfes, obwohl im Antlitz noch jede pathetische Erregung fehlt. Und doch gipfelt das Verdienst des ganzen Werkes gerade in der Bildung des Kopfes, so dass man sogar einen schwer löslichen Widerspruch zwischen seiner Bedeutung und der archai- schen Herbigkeit in so vielen Einzelheiten des Werkes hat finden wollen. In der That stehen wir hier vor einem entscheidenden Wendepunkte in der Entwickelung der griechischen Kunst, und es wird daher nothwendig sein, an dieser Stelle über das einzelne Monument hinaus eine allgemeinere Frage einer ausführlicheren Erörterung zu unterziehen.

Vom Standpunkte der Kunstbetrachtung unserer Zeit, der nicht nur die Kunstgeschichte des Alterthums, sondern auch die des Mittel- alters und der Neuzeit vor Augen steht, galt es seit lange als eine auf- fallende Erscheinung, dass in der archaischen Kunst der Griechen der geistige Ausdruck hinter den Fortschritten formaler Durchbildung zurück- zubleiben schien, während sich in W^erken des spätesten Mittelalters häufig eine Beobachtung des Empfindungs- und Seelenlebens zeigt, die zu den Mängeln der Form gerade in dem umgekehrten gegensätzlichen

Meister der Uebergangszeit.

Verhältniss steht. Es ist bei der Betrachtung der Aegineten hoffentlich der Nachweis gelungen, dass der behauptete Gegensatz bei den Griechen gar nicht existirt, indem gerade der misslungene Versuch an den Gestalten des Westgiebels, im Ausdruck über die Form hinauszugehen, den Beweis lieferte, wie im Allgemeinen sich Form und Ausdruck durchaus consequent und harmonisch entwickelten. Bedenken wir indessen, dass wir in unserer Betrachtung bis unmittelbar an die Zeit des Phidias vorgeschritten sind, durch den die höchsten Ideen des Griechenthums in den Götteridealen einen vollendeten künstlerischen Ausdruck erhielten, so bleibt immer noch die Frage zu beantworten, auf welchem Wege und durch welche Mittel plötzlich ein so gewaltiger Umschwung und Fortschritt möglich wurde , dass wenigstens scheinbar an Stelle der bisherigen formalen Grundlagen der griechischen Kunst durchaus neue Principien zur Geltung gelangten. Ein Blick auf die Malerei wird uns den Schlüssel zur Er- klärung liefern.

In der älteren Malerei wurde trotz der gewöhnlichen Profilstellung der Köpfe das Auge wie in der Vorderansicht gezeichnet. Da erfindet Kimon von Kleonae die Profilzeichnung des Auges, er lernt das Auf-, Nieder-, Zur Seite-blicken darzustellen, überhaupt dem Blick eine bestimmte Richtung zu geben, und eben dadurch erschliesst er mit einem Male das Gebiet des physiognomischen Ausdrucks. Wir dürfen ihn als den un- mittelbaren Vorgänger des Polygnot betrachten, dessen epochemachende Bedeutung für Darstellung geistigen Lebens später ausführlich erörtert werden wird. Wenden wir jetzt den Blick auf die Werke der Sculptur zurück, so erkennen wir leicht, dass nicht bloss in Reliefs das Auge ähn- lich, wie in der älteren Malerei, wie in Vorderansicht gezeichnet, sondern dass es auch in statuarischen Werken nach demselben Princip behandelt wurde, d. h. es liegt ohne Rundung in der Fläche; die Profilansicht ist durchaus unberücksichtigt geblieben. Das ist selbst bei dem Sterbenden des Ostgiebels von Aegina noch der Fall, obwohl dort z. B. die Be- deutung der Thränendrüse für den Ausdruck bereits richtig erkannt ist. Rundung des Augapfels finden wir allerdings an dem alten athenischen Pallaskopfe (S. 173); aber dort ist es mehr ein Hervorquellen, als dass den Künstler der Gedanke an die tiefere geistige Bedeutung des Auges geleitet hätte. Sobald diese auf dem Gebiete der Malerei erkannt und durch die Neuerung in der Zeichnung zu bestimmter Geltung gelangt war, konnte natürlich die Sculptur nicht zurückbleiben. Den Beweis liefert die Wiener Amazone ; sie ist das erste Werk, an welchem wir ein Auge finden, das nicht bloss für die Vorder-, sondern zugleich für die

202

Jüngerer Zeitraum. Die Plastik

Profilansicht gearbeitet ist. Schon hier aber tritt hervor, was wir über- haupt als eine Eigenthümlichkeit der entwickelten griechischen Kunst er- kennen werden, nämlich dass sie in der Darstellung des Auges von einer naturalistischen Bildung desselben durchaus absieht und vielmehr die Formen zu Gunsten des geistigen Ausdrucks einer durch die Gesetze der Plastik bedingten Umgestaltung unterzieht. Der innere Augenwinkel setzt im Verhältniss zum Nasenwinkel weit tiefer ein, als wir es bisher irgendwo gefunden haben, und diese Stellung gewinnt noch grösseren Nachdruck dadurch, dass der Winkel der Lidspalte durch feine Benutzung des Bohrers vertieft und dadurch betont ist. Dagegen ist der Augapfel fast flach gehalten, und auch das untere Augenlid verräth nur massige Spannung. In um so stärkerem Relief ist das obere gearbeitet, das nach der Mitte stark gerundet ist und sich durch einen scharfen und tiefen Abschnitt vom Augapfel absetzt. Indem es aber schwer herabsinkt und den Augapfel zum grössten Theile zudeckt, erlischt in der schmalen und ebenen Lidspalte der Glanz des Auges. Und doch empfinden wir nichts von den Schrecken des Todes. Mag es sein, dass die Erstarrung des- selben noch nicht vollkommen correct wiedergegeben ist, so ist doch auch das wieder charakteristisch für das Empfinden des Künstlers. Wenn das Lächeln des Kaiamis ein reines, ehrbares und unbewusstes genannt wird, so möchten wir das Sterben der Amazone fast mit den gleichen Worten bezeichnen: mehr ein Entschlafen ist es, als ein Sterben; ein leidenschafts- loser, stiller Friede, eine unbewusste Anmuth ruht auf diesem Antlitz, und die Herbigkeit des Charakters, die diesen mannhaften, aber männer- verachtenden Jungfrauen eigen ist, klingt höchstens in einem strengen Zuge der Unterlippe noch leise nach.

Wenn Kaiamis durch zarte Anmuth charakterisirt wird, wenn theil- weises Festhalten am Alten sich bei ihm mit einem fortgeschritteneren Empfinden verbindet, so werden wir darum allerdings die Amazone noch nicht als ein Werk seiner Hand bezeichnen dürfen ; wohl aber dürfen wir behaupten, dass unter den erhaltenen Monumenten keines so wie sie geeignet ist, uns von seiner Kunstrichtung ein anschauliches Bild zu ge- währen. Zugleich aber erkennen wir, dass wir an den äussersten Grenzen des Archaismus stehen, dass bereits ein neuer Geist das Ganze erfüllt und den Rest von Alterthümlichkeit in den Formen bald völlig überwinden wird.

Schlussbeirachtungen ii])er den sog. archaischen Stil.

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SclilUvSsbetrachtungen über den vSog. arcliaisclien Stil.

Ehe wir die entscheidende GrenzHnie überschreiten, wird es gerecht- fertigt sein, den Blick nochmals auf das bereits durchmessene Gebiet zLirückzulenken. Wir haben die statuarische Kunst von ihren Anfängen um die 50. Ol. an durch etwas mehr als ein Jahrhundert verfolgt. So gewaltig in dieser Zeit der Fortschritt von unbehülflichen Versuchen bis an die Grenze voller Freiheit war, so begegneten wir doch nirgends einem Sprunge : alles entwickelt sich folgerecht von Stufe zu Stufe, und selbst die Scheidung in zwei Perioden war mehr eine äusserliche, durch praktische Rücksichten bedingte, mehr die Theilung einer längeren Zeit- abfolge, als auf principiellen Gegensätzen beruhend, eine Scheidung von Anfang und Ende, die sich aber zu einem einheitlichen Ganzen zusammen- schliessen, für das sich auch im Sprachgebrauch eine einheitliche Be- zeichnung als ,, archaische Kunst" festgesetzt hat: trotz vieler Unterschiede im Einzelnen herrscht doch im Ganzen ein gemeinsamer Charakter des Alterthümlichen. Wer sein Auge an den W^erken einer späteren Zeit verwöhnt hat, der wird zwar diesen Charakter zunächst nur in einer negativen Eigenschaft erkennen wollen, in dem Mangel an Freiheit. Er wird Anstoss nehmen an der Härte und Schärfe der Zeichnung, an der Eckigkeit, dem Mechanischen der Bewegung, an dem Mangel an Aus- druck in den Gesichtern. Wer indessen öfter zur Betrachtung archaischer Werke zurückkehrt, den werden nach und nach diese Unvollkommen- heiten immer weniger abstossen ; es werden ihm dafür andere Eigen- schaften entgegentreten, welche jene Mängel fast vergessen machen und den Beschauer, wenn auch nicht zu hoher Begeisterung erheben, doch innerlich erwärmen und befriedigen. Welches sind diese guten Eigen- schaften.? Keine andern als diejenigen, welche überhaupt keinem wahren Kunstwerke fehlen sollten : Harmonie zwischen Wollen und Können in der Auffassung und der Ausführung. Die Bedeutung dieses Verdienstes wird sich am leichtesten durch den Gegensatz klar machen lassen. Wir mussten den Werken der ägyptischen Kunst zum Lobe nachsagen, dass die Durchführung der Grundanschauung entsprach ; und doch fehlt ihnen das Erwärmende, welches griechischen Werken eigen ist; denn das Wollen ist nicht ein noch durch Verhältnisse gebundenes, sondern ein im Princip unfreies, und diese Unfreiheit ist es, die wir nun auch in der ganzen Auffassung und Ausführung empfinden. Versetzen wir uns da- gegen in eine Zeit, in welcher sich die Kunst schon seit lange zu voller Freiheit entwickelt hat. Die technischen Mittel der Darstellung sind

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jüngerer /citrauni. T)ie Plastik.

reichlich vorhanden, und jeder vermag- sie ohne zu grosse Mühe sich an- zueignen. Aber je mehr dies erleichtert wird, je eher es gelingt, ohne grosse Anstrengung ein für flüchtige Betrachtung erträgliches Werk her- zustellen, um so näher pflegt der Verfall zu sein. Ueber der äusserlichen, technischen Bravour geht die Tiefe der Auffassung verloren, und so blendend oft die äussere Seite von Arbeiten dieser Richtung ist, so werden sie uns doch bei öfterer Betrachtung abstossen, indem sich da- durch ihre geistige Leere um so sicherer offenbaren wird: den auf- gewendeten Mitteln entspricht nicht die Tiefe und der Reichthum des Inhalts; der glänzenden Schale fehlt der Kern. Darin liegt der Grund, dass uns überhaupt die auf die Blüthezeiten der Kunst folgenden Ent- wickelungen so wenig zu fesseln vermögen, weil Technik und Bravour über das geistige Streben siegen, bis zuletzt auch sie verschwinden und gänzlicher Verfall eintritt.

Es ist naturgemäss, dass man bei zunehmendem Verfalle das Be- dürfniss empfindet, das gestörte Gleichgewicht zwischen Inhalt und Form wieder herzustellen. Die Religion pflegt darin voranzugehen ; und wie sie der Auflösung durch Rückkehr zum alten Glauben und zu alter Sitte zu begegnen sucht, so glaubt auch die Kunst in der Rückkehr zu alter- thümlicher Einfachheit und Strenge das Heilmittel zu finden. Dem Nazarenerthum unseres Jahrhunderts entsprechend hatte auch das Alter- thum seine hieratische oder archaisirende, d. h. auf bewusster Nach- ahmung des echten Archaismus beruhende Kunst, auf welche später noch öfter zurückzukommen sein wird. Hier genügt es z. B. auf die Dresdener Pallas (Becker, Augusteum, T. 9. 10) und Kandelaberbasis (ebenda, T. 5 7) als die bekanntesten Repräsentanten derselben hinzuweisen. Warum ver- mögen uns aber Werke dieser Art ebensowenig zu erwärmen, wie die glänzenden, aber hohlen Prachtstücke der späteren profanen Kunst? Weil sich in ihnen ein ähnlicher Contrast offenbart zwischen Wollen und Können. Es ist dem innersten Grunde nach eine Lüge, unvollkommenere Formen der Darstellung absichtlich zu wählen , wo die vollkommneren längst bekannt sind, eine Lüge, in der beschränkteren Auffassung einer früheren Zeit eine grössere Tiefe des Geistes zu suchen, als in der höchsten, freiesten Entwickelung. Diese Lüge wird dem aufmerksamen Beobachter nicht verborgen bleiben können. Der Künstler wird stets an irgend einem Punkte verrathen, dass er freier arbeiten könnte, wenn er wollte, dass das, was er bietet, ihm nicht natürlich, sondern von ihm nur äusserlich angenommen ist. Statt eines einheitlichen und har- monischen Stils finden wir Affectation und Manier, die gewisse äussere

Schlussbetrachtuntren Uber den sog. archaischen Stil.

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Kennzeichen des alten Stils in conventionellen Formen nachbildet und häufig übertreibt, ohne dieselben nach ihrer inneren Bedeutung verstanden zu haben.

Im Gegensatz hierzu wird das wirklich Alte in seinem richtigen Lichte erscheinen. Der Grundgedanke spricht sich hier einfach und klar aus ; nirgends wird er durch überflüssiges Beiwerk verdeckt. Der Kün.stler benützt nicht die Formen, die Mittel der Kunst, um sich selb.st, seine Meisterschaft daran zu zeigen, sondern er benutzt davon nur so viel, als zum klaren Ausdruck seines Gedankens nothwendig ist. Freilich sind diese Gedanken oft einfach und naiv kindlich. Aber in der alten Zeit, in welcher der Sinn noch nicht durch die Werke der entwickelteren Kunst verwöhnt ist, bringt auch der Beschauer noch mehr Wärme und Phantasie mit, gleich dem Kinde, das sich meist durch einfache An- deutungen der Hauptmotive mehr angeregt fühlt, als durch eine allseitige Durchbildung des Einzelnen. In der Art, wie der Künstler seinen Ge- danken Form giebt, zeigt sich allerdings noch der Mangel an Freiheit: die Bewegungen der Gestalten sind eckig und ungelenk. Aber wir er- kennen nicht nur, wie sich der Künstler der Darstellung des Einzelnen mit Liebe hingiebt, sondern wie er überall strebt, nach Regel und Gesetz, knapp und in genauer Beschränkung auf den Zweck zu schaffen, so dass övöToXi) und löyy^-ÖTxyq geradezu als Eigenschaften dieser Kunst hingestellt werden. Der Beschauer aber empfindet Befriedigung, sobald er sich dieses Waltens des Gesetzes bewusst wird ; er verlangt nicht mehr, als dem Künstler nach dem Gesetz zu leisten erlaubt war. Und doch ist wiederum dieses Gesetz nicht tyrannisch, nicht hemmend; es wirkt nur regelnd. Der Künstler ist ja innerhalb des Gesetzes geboren; er kann sich ihm ganz hingeben, ohne seine Freiheit zu opfern. Ja hat er die Forderungen erfüllt, die ihm der Geist seiner Zeit auferlegte, so war es ihm auch gestattet, einen Schritt auf der Bahn der Freiheit weiter zu wagen, einen Schritt, der aber immer nur die Folge, die Frucht der vorangegangenen Erfahrungen war. So bleibt bis zum Ende, auch als im Fortschritte der Entwickelung bereits eine Scheidung in verschiedene Schulen eingetreten war, doch die Harmonie zwischen Wollen und Können gewahrt. Wille, Verständniss und Hand sind eins, und alles ist so vor- bereitet, dass unter der Gunst besonderer Umstände auch der letzte Schritt zu voller Freiheit ohne Gefahr gewagt werden kann.

Es kann nicht auffallen, dass auch, nachdem derselbe geschehen, sich da und dort noch einzelne Reste von Archaismus erhalten, auf welche

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Jüngerer Zeitraum. Die Plastilv.

an den betreffenden Stellen hingewiesen werden wird. Doch werden wir uns hüten müssen , nur unter diesem Gesichtspunkte eine Reihe von kleineren Denkmälern zu betrachten, die sich keiner der bisherigen Gruppen einordnen liefen. Es sind dies die in Attika, auf Aegina und anderen Inseln des ägäischen Meeres, am zahlreichsten auf Melos gefundenen Terracottareliefs, für die man daher, wenn auch wohl zu eng, Melos als Fabricationsort anzunehmen pflegte.^) (S. die Zusammenstellung bei Schöne, Griech. Reliefs, S. 59 ff., T. 30 35. Einen ähnHchen, aber doch im Einzelnen abweichenden Charakter tragen einige Reliefs unteritalischer Herkunft, die zunächst unberücksichtigt bleiben mögen.) Sie sind in sehr flachem Relief behandelt, und die Mehrzahl zeigt die Eigenthümlichkeit, dass an den Umrissen der Figuren die Grundfläche ganz oder theilweise weggeschnitten ist, während einzelne Löcher erkennen lassen, dass die wie ein durchbrochenes Gitter übrig bleibenden Figuren bestimmt waren, auf eine andere Fläche aufgeheftet zu werden. Schon das Vorkommen genauer Repliken beweist, dass die einzelnen Exemplare nicht frei modellirt, sondern aus Formen genommen sind, und eine genauere Betrachtung der Technik, namentlich an dem Relief der Gewandfalten und des Haares, deutet darauf hin, dass diese Formen nicht selbst wieder über ein Originalrelief geformt, sondern vertieft, als IntagHo gearbeitet, vielleicht wie unsere Butterformen aus Holzstöcken ausgestochen sind. Mit Recht hat Schöne darauf hingewiesen, dass sie im Stil nicht völlig unter einander übereinstimmen, sondern dass sich etwa drei Hauptgruppen scheiden lassen. Doch bewegen sich die Unterschiede innerhalb enger Grenzen, indem auch die relativ freiesten Darstellungen unter ihnen doch noch hinlängliche Spuren einer gewissen Strenge der Auffassung erkennen lassen. Für die älteste Gruppe bieten noch immer die beiden zuerst bekannt gewordenen Stücke die mustergültigsten Beispiele : Perseus, der mit der Harpe und dem Medusenhaupte über die knieende Medusa hin- wegreitet, aus deren Halse Chrysaor emporsteigt, und Bellerophon, der in ähnlicher Haltung mit gezücktem Schwerte über die Chimaera hinwegeilt. ,, Diese Reliefs zeigen eine bis zu einer gewissen Feinheit ausgebildete Alterthümlichkeit, die sich weniger durch Steifheit, als durch übermässige Schärfe der Formen und durch sehr starke Bewegungen fühlbar macht." Wenn nun in der Schlankheit und Sauberkeit der Formen manches an die Kunstrichtung des Kaiamis erinnern könnte und auch in der Behandlung, z. B. der Gewandfalten, in der Bildung des Gesichts,

^) Die folgenden Ausführungen finden sich bereits veröffentlicht in d. Münchn. Sitzungsl)er. 1883, S. 300 ff.

Schlussbeirachtungcn ül)er den sog. archaischen Stil.

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unverkennbare Spuren des Archaismus zu Tage treten, so darf doch nicht übersehen werden, dass in den Beispielen entwickelteren Stiles, in denen diese Reste mehr oder weniger verschwinden, doch gerade in den Linien der Composition, wie in den Bewegungen der einzelnen Figuren sich jene Schärfe und Eckigkeit in auffälliger Weise erhält. Wir werden also die Erklärung dieser Eigenthümlichkeit nicht im Archaismus, sondern in einer andern principiellen Ursache zu suchen haben. Um es kurz zu sagen: diese Reliefs gehören der rein decorativen Kunst an, indem sie ihrem Zwecke nach zu tektonischer Felderfüllung bestimmt sind. Das tritt sogar in der geistigen Auffassung der Composition bestimmt hervor. Bellerophon zückt das Schwert gegen die Chimaera : sie müsste ihm also gegenüber stehen; Perseus hat das Haupt der Medusa bereits abge- schnitten und blickt rückwärts : wir müssten sie also hinter ihm voraus- setzen ; und doch befindet sich der eine wie der andere Held gerade über seiner Gegnerin. Würde eine solche Auffassung bei einer vollkommen freien Kunstschöpfung gerechtfertigt sein? Anders verhält es sich, wo dem Künstler die Aufgabe zufällt, einen oder mehrere entsprechende architektonische Räume oder Felder mit bildlichem Schmucke auszufüllen und zu gliedern. Hier sind zuerst die Forderungen des Raumes zu be- friedigen, und je mehr der Künstler sich ihnen unterordnet, um so mehr tritt die Phantasie des Beschauers ergänzend ein, um die einzelnen Momente der Handlung, welche der Künstler nach dem Zwange des Raumes vertheilt, sich nach ihren geistigen Beziehungen zurecht zu legen, so dass in der Darstellung das factisch Unmögliche doch künstlerisch wahr oder wahrscheinlich erscheint. Dieses architectonisch räumliche Princip aber beherrscht nicht nur den Gedanken, sondern, und vielleicht noch mehr, auch die künstlerische Form. Wir erkennen es in den beiden Seitenstücken zuerst und am deutlichsten in der gesammten Disposition der Massen. Aber auch die von Schöne betonte Schärfe der Formen und der Bewegungen findet eben hierin ihre einfachste Erklärung; fast überall, in den Formen der Chimaera, an ihrer Mähne, in den Formen der Pferde, besonders an ihren Köpfen, an den Flügeln der Medusa, macht sich dieser architektonisch schematisirende Charakter geltend ; ja selbst die Magerkeit der Gestalten, die in einigen anderen Compositionen fast bis zum Extrem geht, scheint darauf berechnet, im Gegensatz zu plastischer Modellirung und Rundung recht augenfällig die Bedeutung der Linien hervortreten zu lassen : manche Figur möchte man fast als eine belebte oder personificirte architektonische Linie bezeichnen. So tritt bei näherer Betrachtung in diesen Arbeiten die Bedeutung des Archaischen

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jüngerer Zeitraum. Die Plastik.

immer mehr zurück zu Gunsten des architektonisch-decorativen Princips, womit keineswegs geleugnet werden soll, dass die Erfindung des grössten Theils dieser Reliefs den letzten Zeiten des Archaismus angehören mag. Nur das soll behauptet werden, dass das schematisch Mechanische der archaischen Weise, welches die der Freiheit zueilende Kunst durch das organisch Rhythmische immer mehr zu überwinden bestrebt ist, hier zu neuen Functionen berufen und für dieselben umgebildet wird. Auch die statuarische Kunst war von der decorativen ausgegangen und hatte einen wesentlichen Theil der Frincipien dieser letzteren in sich aufgenommen und verarbeitet. Als nun die archaische Kunst ihre Bahn durchschritten, da tritt uns die eigenthümliche, aber im Grunde naturgemässe Erscheinung entgegen, dass jene Elemente der decorativen Kunst sich wieder ablösen und sich wieder eine immerhin beschränkte, aber selbständige Sphäre erobern. Während sie aber früher vorangegangen war und der monumen- talen Kunst vorgearbeitet hatte , gewinnt sie ihre neue Stellung auf der Basis der formalen Verfeinerung, die sie durch die Verbindung mit der letzteren erfahren hatte. Es handelt sich also nicht um ein einfaches Festhalten des Archaismus, sondern um eine Verwerthung der in diesem erhaltenen brauchbaren tektonischen Frincipien. Eben darum aber vermag sie auch nicht die auf wesentlich neuen Frincipien beruhenden Fortschritte der monumentalen Kunst sich sofort zu assimiliren, und so entsteht bei successiver Aufnahme freierer Elemente im Einzelnen jene scheinbare Mischgattung von freierem Archaismus oder archaisirender Freiheit, wie sie uns in den jüngeren Gruppen dieser Reliefs vor Augen tritt. Erst später erfährt auch die decorative Kunst tiefgreifendere Umgestaltungen, von denen die Reliefs am Throne des Dionysospriesters im Theater zu Athen und in einer weiteren Abstufung die griechisch-römischen Terracotta- reliefs genügendes Zeugniss ablegen.

So haben uns am Ende der archaischen Kunst diese Reliefs wieder auf die Anfänge derselben zurückgewiesen. Der erste Kreislauf ist voll- endet.

DRITTER ABSCHNITT.

Die Malerei.

Anfänge.

Dieselben Gründe, welche uns veranlassten, in der Geschichte der Bildhauerei die Anfänge der statuarischen Kunst von der weit älteren Uebung einer decorativen Sculptur bestimmt zu scheiden, machen sich auf dem Gebiete der Malerei fast in noch verstärktem Maasse geltend. Gewiss noch früher als der plastische Sinn erwachte das Gefallen an farbiger Ausschmückung. Fühlt doch selbst der Wilde auf der niedrigsten Culturstufe das Bedürfniss, die nackte Haut durch den Schmuck der Farbe, durch Täto wirung, zu einer künstlichen Decke des Körpers umzugestalten! Die Beschaffung der Kleidung, das Flechten und Weben aus verschiedenartigen Stoffen, aus farbigen, in verschiedenen Lagen sich kreuzenden Fäden oder Streifen, ihre Zu- sammenfügung und Säumung führen auf das farbige Muster und die Stickerei, und so erscheinen Weben und Sticken recht eigentlich als die Ausgangspunkte für die Malerei. Von der Bekleidung des Körpers aber überträgt sich die farbige Decke auf das verschieden- artige den Menschen umgebende Geräth, erscheint aber hier bedingt durch die Form desselben und daher in bestimmter Unterordnung unter das tektonische Gesetz. Dieses Gesetz waltet auch noch, wo bei fortschreitender Cultur der Malerei die weitere Aufgabe zufällt, die breiten Wand flächen bewohnter Räume oder von Tempeln zu schmücken, allerdings zumeist nur noch in den Grundlagen der Raum- gliederung und nicht in der Behandlung des Einzelnen. Die volle Freiheit tritt erst da ein, wo der Künstler, auch im Räume unabhängig, diesen vielmehr frei nach dem Inhalte der Darstellung bestimmt, d. h. nach der heutigen Ausdrucks weise: bei dem freien Staffeleibilde.

Es ergeben sich auf diesem Wege eine Reihe von Mittelstufen und Uebergängen, und es ist daher schwer zu bestimmen, von welchem

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jüngerer Zeilraum. Die Malerei.

Punkte an wir berechtigt sind, im Gegensatze zu farbiger Dekoration von Malerei im eigentlichen Sinne zu sprechen. Praktisch möchte die Scheidung etwa da anzunehmen sein, wo die Malerei auf der räumlich ausgedehnten Wandfläche die Freiheit gewinnt, die einzelnen Figuren oder Gruppen nach künstlerischen Gesetzen selbständig und, um auch hier den bei der Sculptur gebrauchten Ausdruck anzuwenden, monu- mental durchzubilden. Ueber die Anfänge dieser monumentalen (oder, wie wir sagen, Historien-) Malerei besitzen wir jedoch nur die kümmerlichsten Nachrichten, und selbst diese werden wir kaum richtig verstehen, wenn wir zu ihrer Erläuterung nicht die Vorstufen der decorativen Kunst zu Rathe ziehen. Für diese liegt wenigstens auf einem Gebiete, dem der Vasenmalerei, ein genügendes Material vor, welches uns bis auf die ältesten Zeiten der Kunst zurückführt.

Ihre Anfänge wurden bereits früher in einem andern Zusammen- hange betrachtet, ja sogar schon bis zu einer relativ hohen Stufe ihrer Ausbildung verfolgt, indessen mehr im Hinblick auf das decorative System, welchem sie diente, und auf den in ihr erreichten Ausdruck poetischer Gedanken, als in Rücksicht auf die formal künstlerische und stilistische Ausbildung. Freilich konnte auch Anfangs nicht von einem bestimmten Stile die Rede sein: es waren kindliche Versuche, welche allerdings sofort, besonders in der Auffassung der menschlichen Gestalt, eine grosse Selbständigkeit verriethen und manchen Keim der späteren Entwickelung erkennen Hessen. Zunächst indessen sollten die Figuren etwas bedeuten, wobei der Nachdruck mehr auf die Hauptmotive, das Schema der Bewegung, als auf die Zeichnung des einzelnen Theiles zu legen war. Erst etwa auf der Stufe, welche durch die Pembroke'sche Vase (vgl. Bch. I, S. 159 f) mit dem Tode des Achilleus bezeichnet wird, begegneten wir einer fester ausgebildeten formalen Ausdrucksweise, welche mit der eines fragmentirten Terra- cottareliefs aus Sparta (s. oben S. 126 f) etwa auf gleicher Stufe stand. Gemäss der Technik, welche die Figuren dunkel auf hellem Grunde aufträgt, gelangt zuerst die Silhouette zu einer gewissen Durchbil- dung, indem hier, von den Motiven der Bewegung abgesehen, die Ver- hältnisse der Gestalten und ihre Umrisse, wenn auch fast noch ohne Berücksichtigung ihrer Rundung, eine mehr selbständige Geltung ge- winnen. Die Beschränktheit der technischen Mittel führt ferner zur Fixirung gewisser conventioneller Ausdr u cks weis en : das grössere, weit geöffnete Auge der Männer erhält eine runde, das lieb- liche, gewissermassen blinzelnde der Frauen eine mandelförmige Ge-

Anfänge.

271

stalt. Von dem dunkleren Colorit der Männer wird das zartere der Frauen durch aufgesetztes Weiss unterschieden. Beachtung verdient endHch der freihch ziemlich misslungene Versuch, an der Arkesilaos- vase (Mon. dell' Inst. I, 47; vgl. Bch. I, S. 160 ff.) den fremdartigen Typus der nordafrikanischen Völker anzudeuten. Auf der nächsten, besonders durch die Francoisvase (vgl. Bch. I, S. 164 ff.) repräsentirten Stufe der Entwickelung tritt der Charakter der Silhouette bereits wieder in den Hintergrund. In den Ornamenten und den sich ihnen an- schliessenden Sphinxen und Grreifen begegnen wir einem streng durch- gebildeten System der Zeichnung, das in seiner knappen und scharfen For m bezeich nu ng an den Bronzestil erinnert, und in ähnlicher Weise zeigt sich in den Figuren ein innerhalb bestimmter Grenzen sehr durchgebildeter und gefestigter Stil, dessen Tendenz in ähnlicher Richtung, wenn auch in geringerer Vollendung, wie etw^a am Westgiebel der Aegineten auf eine Einschränkung der über- schüssigen Fülle und Ueppigkeit in den Formen und im Ausdruck der Bewegung gerichtet ist und an die Grenze einer fast mageren Knapp- heit streift. Wir erkennen innerhalb der Grenzen des Typischen doch das Streben, eben diese Typen zu vermehren und zu vervielfältigen, zunächst zwar nur in der Scheidung zwischen Jüngling, Mann, Greis, in der Charakteristik der Kentauren, Silene, in den Rossen und ihren Lenkern namentlich beim Wettrennen , und natürlich noch ohne Berücksichtigung physiognomischen Ausdrucks. Uebergangs- bewegungen, wie die des Schreitens in dem Bilde der Eberjagd, sind zwar noch nicht gelungen, wohl aber selbst complicirte Motive, wenn ihrer Natur nach auch nur momentan fixirt, nicht ohne Verständniss aufgefasst. Fast auffallend muss neben diesen Fortschritten der Zeich- nung die Behandlung der Gewandung erscheinen, an der, von einigen kaum nennenswerthen Ausnahmen abgesehen, die Angabe von Falten durchaus vermisst wird, und vielleicht dürfen wir annehmen, dass sich der Künstler nicht mit einem mehr malerischen Principe in Conflict zu setzen wagte, dem zufolge er auf die Darstellung der bunten Stoff- muster und reichgezierten Umsäumung'cn einen besonderen Nachdruck legte.

Weitere Fortschritte lernen wir aus verschiedenen attischen Fragmenten kennen, die von Benndorf in seinen „griechischen und sicilischen Vasenbildern-' publicirt w^orden sind. So finden wir T. IV, i an dem Obergewand der Athene die aus archaischen Sculpturen hinlänglich bekannten künstlich gelegten Falten; an der Chlamys

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Jünj^erer Zeitrauin. Die Malerei.

des Hermes sogar schon eine Andeutung des Faltenwurfes. Ein Achilleus vor seinen Rossen stehend (T. XIII) erinnert uns einiger- massen an den Krieger auf der Stele des Aristokles. Wir übersehen gern das Verfehlte in den Verhältnissen der Figur und freuen uns an dem Ernste in der Auffassung und an der Hingebung in der sauberen Ausführung des Ganzen. In den noch starren Formen des Kopfes spricht sich doch bereits ein gewisser Adel gegenüber, dem gemeineren Charakter des dienenden Knechtes aus, in der Bildung der Hände aber tritt an die Stelle bloss schematischer Behandlung bereits das eigene individuelle Empfinden des Künstlers. Ueberhaupt ist es bei vielfachem Ungeschick der ausführenden Hand das dieselbe durch- dringende innere Leben, welches diesem Fragmente seinen besondern Werth verleiht. An andern Fragmenten eines Herakles und Jolaos auf einer von Athene begleiteten Quadriga (T. III) nähert sich die Behandlung der Falten am Chiton der Athene der an der wagen- besteigenden Frau (s. oben S. 207 ff.) an und beginnt sich an einer Gewandpartie auf der Schulter des Jolaos bereits von den Fesseln des Conventionellen zu lösen. Das jugendliche Gesicht des letzteren ist scharf von dem bärtigen des Herakles geschieden, in dem sich bereits ein bestimmter Typus ausgeprägt hat, dessen Grundzüge sich auch in späteren Bildungen nicht verleugnen. Wie sehr wir uns aber bei allen diesen Malereien noch innerhalb der Grenzen des strengen Archaismus befinden, lehrt die Bildung der Augen, in denen sich durchaus noch kein Fortschritt zu naturgemässerer Zeichnung und da- durch zu lebensvollerem Ausdrucke findet.

Die allmählichen Uebergänge zu grösserer Freiheit lernen wir aus einigen attischen Grabvasen (Mon. d. Inst. III, 60; VIII, 4 5) und einer verwandten Thonplatte (Benndorf T. I) kennen: Darstellungen von Todtenklagen, die sich sachlich in auffälliger Weise an die ältesten Producte attischer Gefässmalerei anschliessen (vgl. Bch. I, S. 57,) und sich somit als durch die Sitte von Jahrhunderten geheihgt erweisen. Aus dem hierdurch bedingten Massenbedarf erklärt es sich, dass sie mehr als andere Vasenmalereien eine etwas fabrikmässige und daher losere und routinirte Behandlung zeigen und im allgemeinen einen mehr decorativen Charakter bewahren. Zwar hat sich die schwere Form der Gefässe zu einer Amphora der schlanksten Art ausgebildet; die früher bunte und zerstreute Ornamentik hat sich auf die Haupt- gUederungen zurückgezogen und auf das Schönste mit den tektonischen Formen des Gefässes verbunden ; aber auch die Figuren sind mit dem

Anfänge.

Gefässe so zu sagen zusammengewachsen, so dass namentlich die Gestalten am Halse mit diesem zu übermässiger Länge gestreckt erscheinen. An den älteren Exemplaren sind die Untergewänder noch faltenlos, die Obergewänder künstlich in Falten gelegt; an den jün- geren treten sie bereits in bestimmte Beziehungen zu den Formen des Körpers und erinnern an archaische Behandlung eigentlich nur noch dadurch, dass alle Falten noch zu gleichmässig über die ganze Breite oder Länge des Körpers hin weggeführt werden, während doch in der Natur ein Theil derselben in der Mitte sich brechen oder verschwinden müsste. Die Proportionen werden correcter, die Bewegungen rhyth- mischer. In den Köpfen wächst die Mannigfaltigkeit der Typen, wobei auch die Verschiedenheit des Haares als Mittel der Charakteristik nicht ausser Acht gelassen wird. Das Auge bleibt zwar noch incorrekt, aber es verliert das rein Schematische der Zeichnung und gewinnt dadurch an Lebendigkeit. Noch mehr ist dies bei der Bildung des Mundes der Fall, der theils noch geschlossen, theils schon geöffnet ist, aber in dem einen, wie in dem anderen Falle schon vielfach zur Bezeichnung eines bestimmten psychologischen Ausdruckes verwendet wird. Wo sich jedoch dem einen der Maler Gelegenheit zu einer Charakteristik besonderer Art bot, da ist sie von ihm in geschicktester Weise benutzt worden. In einer Gruppe von vier Todtengräbern, die im Begriff sind, einen Sarg in die Erde zu senken, ist der Ausdruck der niedrigeren Geistesart dieser dem Sklavenstande angehörigen Ge- stalten in bestimmtem Gegensatze zu den übrigen P'iguren ausgeprägt. Ueberhaupt verdient diese Gruppe besondere Beachtung: indem der Künstler aus dem Kreise der routinirten Auffassung klagender Gestalten heraustrat und zu erneuter Beobachtung der Natur veranlasst war, gelang ihm hier der frische Ausdruck der Realität in solcher Weise, dass wir dadurch erst inne werden, wie nahe wir uns bereits einer Entwickelung zu voller künstlerischer Freiheit befinden.

Zur Erlangung derselben war freilich ein entscheidender Um- schwung in der Technik nothwendig. Die schwarzen Figuren auf hellem Grunde behielten noch immer etwas vom Charakter der Silhouette. Erst die rothen Figuren auf dunkelem Grunde gestatteten eine grössere Freiheit der Bewegung und boten für die Durchbildung vermittelst der Zeichnung ein unbeschränkteres Feld. Die ganze Bedeutung dieses Wechsels lässt sich vortrefflich an einigen Fragmenten ermessen, welche sich durch ihre Darstellung, wiederum eine Todtenklage, eng an die eben besprochenen Malereien anschliessen (Mon. d. Inst. VIII, 5).

Brunn, Gr. Kunstgeschichte H. lg

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Jüngerer Zeitraum. Die Malerei.

Hier finden Avir Untergewänder von leichtem und zartem, feinfaltigem Stoffe, darüber andere, die schwerer herabfallen, aber nicht mehr am Körper gewissermassen festkleben, sondern ihn in theils lang gezogenen, theils gebrochenen Falten frei umgeben. In der Haltung der Gestalten durfte die silhouettenhafte reine Profilstellung aufgegeben werden und es war nicht mehr nöthig, zur Darstellung der Bewegung die Arme vom Körper scharf loszulösen; die Zeichnung gestattete jetzt, dieselben auch auf oder vor dem Körper oder theilweise von ihm bedeckt zur Dar- stellung zu bringen. So sind gerade hier die Bewegungen der Arme für die verschiedenen Abstufungen der Trauer und des Schmerzes mit einer feinen Empfindung verwendet, die sich in den an das Achilleus- fragment erinnernden Händen und Fingern bis zum Ausdrucke lebhaften Affectes steigert. Nicht weniger hat der Künstler von der technisch frei gewordenen Behandlung des Haares für die Darstellung der inneren, geistigen Stimmung Nutzen zu ziehen gewusst, so wie anderer- seits der schöne Kopfschmuck an dem Haupte der Todten ihm diente, dieses selbst künstlerisch bedeutsam hervorzuheben. Während wir sodann in der Bildung des hier überall leise geöffneten Mundes nur der consequenten Entwicklung des schon früher Beobachteten begegnen, erkennen wir endlich den entscheidensten Fortschritt in der Auffassung des Auges. Denn erst jetzt ist durch die Einführung der reinen Profilzeichnung die Möglichkeit geboten, das Auge als den eigentlichen Träger geistigen und seelenvollen Ausdrucks zu verwerthen. Bedenken wir dabei, dass wir hier nur eine flüchtige Decorationsmalerei, nur einen Abglanz dessen, was die bedeutenden Künstler einer gleichen Zeit zu leisten vermochten, vor Augen haben, so können wir uns der Ueberzeugung nicht verschliessen, dass wir hier an einem bedeutsamen Wendepunkte in der Geschichte der Malerei stehen. Für eine genauere Zeitbestimmung fehlen uns allerdings sichere äussere Anhaltspunkte. Dass wir uns aber noch in nächster Nähe jenes Wendepunktes befinden, lehrt die Einfachheit in den Motiven der Gewandung, lehrt die Ge- messenheit, man möchte sagen Zurückhaltung im Ausdrucke der Afifecte. die sich weniger durch ein lebhaft erregtes Pathos, als durch tief innerlich empfundene Stimmungen offenbaren.

Es wird sich später Gelegenheit finden, auf diese P>agmente nochmals zurückzukommen. Zunächst aber ist unter Benützung der bisher gewonnenen Resultate zu prüfen, was die Schriftsteller der Alten über die Anfänge der Malerei überhaupt zu erzählen wissen.

Die ältesten Maler

Die ältesten Maler.

Erst in neuerer Zeit ist auf einige Nachrichten ein grösserer Nachdruck gelegt worden, welche auf eine alte Ausübung der Malerei in Klein asien hinweisen. Schon früher (vgl, Bch. I, S. 106) wurde der alten cyprischen Teppichweber Akesas und Helikon gedacht, deren kunstreiche Arbeiten der Malerei im weiteren Sinne wohl zugetheilt werden dürfen. Plinius sodann erwähnt an zwei Stellen (7, 126; 35, 55) ein umfangreiches Gemälde des Bularchos, eine Niederlage der Magneter darstellend, welches Kandaules (f Ol. 15,2) mit Gold auf- gewogen haben soll. Man hat darauf hingewiesen, dass diese Nach- richt aus den unter dem Namen des Xanthos gefälschten Lydiaca entnommen sein möge und ausserdem eine Verwechselung mit der Zerstörung von Magnesia in der 26. Olympiade stattgefunden haben könne (Welcker, Kl. Schrift. I, 439). Allein der Anstoss, den früher ein so altes Gemälde erregen musste, verschwindet jetzt, sofern wir annehmen, dass jenes Gemälde ganz in der Art der historischen Reliefs Assyriens gearbeitet war; ja dasselbe darf jetzt vielleicht als eine un- erwartete Bestätigung für die früher (vgl. Bch. I, S. 107) entwickelte Ansicht angeführt werden, derzufolge das Auftreten eines ganz neuen, lebensvolleren Elementes in den jüngsten Werken der assyrischen Kunst auf einen hellenischen Einfluss zurückgeführt wurde. Dass daneben die altasiatische Weise der Gesammtauffassung sich auch in der Folge noch erhielt, darf aus einer Nachricht des Herodot (IV, 88) über Man- drokles von Samos geschlossen werden. Derselbe hatte die Brücke erbaut, auf welcher Ol. 66, 2 das Heer des Darius über den Bosporus ging. Vom Könige reich beschenkt, weihete er in das Heraion von Samos ein Gemälde, darstellend die ganze Ueberbrückung, den König Darius wie zum Abnehmen der Parade dasitzend und den Uebergang des Heeres. Malereien werden auch schon bei Gelegenheit der Be- lagerung von Phocaea durch Harpagos in der 58. Olympiade erwähnt (Herod. I, 164). Einer alten Zeit scheint ferner der Samier Kalliphon anzugehören. Im Artemision von Ephesus malte er ein Bild aus dem troischen Kriege: die Schlacht bei den Schiffen und des Patroklos Rüstung. Pausanias erwähnt es wegen der alterthümlich hässlichen Bildung der Eris, sowie wegen der ebenfalls alterthümlichen Gestalt des Panzers, welchen Frauen dem Patroklos anlegten (V, 19, i; X, 26, 6). Einen andern Samier, Agatharchos, werden wir im Anfange der folgenden Periode als Begründer der Skenographie finden.

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Jüngerer Zeilraum. Die Malerei

In Thasos war um Ol. 70 Aglaophon thätig, ein noch in römi- scher Zeit mit Ehren genannter Maler, wenn auch sein Ansehen durch den Ruhm seines Sohnes und Schülers Polygnot weit überstrahlt wurde. Derselben Insel gehört aber auch der dem Sohne etwa gleichzeitige Neseus (Plin. 35, 61) an, der Lehrer des Zeuxis, so dass wir wohl be- rechtigt sind, Thasos nicht bloss als die Heimath einer berühmten Künstlerfamilie, sondern als den Sitz einer alten und bedeutenden Maler- schule zu betrachten. Etwa der gleichen Zeit mögen die neben Polygnot als alte enkaustische Maler angeführten Nikanor und Arkesilaos (Plin. 35, 122) von der Insel Paros angehören.

Alle diese Nachrichten tragen einen rein historischen Charakter und erscheinen um so zuverlässiger, als ihnen zufolge die Malerei in ähnlicher Weise wie die Sculptur sich von Kleinasien zunächst über die Inseln verbreitet. Von ihnen aber sondert sich ganz bestimmt eine weitere Reihe von Notizen, die uns über die Erfindung der Malerei Aufklärung verschaffen sollen. Plinius berichtet (7, 205): Der Lydier Gyges habe die Malerei in Aegypten erfunden, in Griechenland nach der Meinung des Aristoteles Eucheir, ein Verwandter des Daedalus, nach Theophrast dagegen Polygnot. In ähnlicher Weise legt der späte Athenagoras (Leg. pro Christ. 14, p. 59 Dechair) dem Saurias von Samos die Erfindung des Schattenrisses bei, indem derselbe den Schatten eines Pferdes in der Sonne umschrieben, die Erfindung der Graphik dem Kraton von Sikyon, der den Schatten eines Mannes und einer Frau auf einer weissen Tafel mit Farbe ausgefüllt habe. Als dritter Erfinder wird von ihm Kleanthes von Korinth genannt, ein rein historischer Name: denn Strabo (VIII, 343) führt von ihm eine Einnahme Ilions und eine Geburt der Athena, bei welcher nach Athenaeus (VIII, 346 B. C) Poseidon dem Zeus einen Thunfisch reichte, als im Tempel der Artemis Alpheionia unweit Olympia existirend an und fügt dazu noch die Erwähnung eines zweiten korinthischen Künstlers Areg-on, der an demselben Orte Artemis von einem Greif emporgetragen malte. AVieder eine andere Färbung trägt der Bericht bei Plinius 35, 15. Er hält sich über die Aegypter auf, welche die Malerei schon 6000 Jahre vor den Griechen erfunden zu haben sich rühmten. In Griechenland sei sie nach den einen in Sikyon, nach den andern in Korinth er- funden worden, nach übereinstimmender Annahme durch Umschreibung des menschlichen Schattens. Das sei die erste Art gewesen, die zweite Art die mit einer einzelnen Farbe, als monochrome bezeichnet, nachdem die kunstvollere erfunden worden. Die von dem Aegypter Philokles und

Die ältesten Maler.

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dem Korinther Kleanthes erfundene Linearmalerei sei dann durch Aridikes von Korinth und Telephanes von Sikyon zuerst weiter aus- gebildet worden, auch von ihnen noch ohne Anwendung von Farbe, aber doch schon unter Hinzufügung innerer Linien (nämlich zu den äusseren Umrissen) ; weshalb man auch die Namen der dargestellten Figuren beizuschreiben begonnen (?). Mit Farbe, von geriebenem Ziegel, solle sie zuerst Ekphantos von Korinth angestrichen haben. (Vgl. über den Text des Plinius : Michaelis in der Arch. Zeit. 1864, S. 203.) Noch an einer dritten Stelle (35 öö) nennt Plinius als älteste Monochromen- maler Hygiaenon, Dinias und Charmadas.

Die Nachrichten über die ersten Erfinder sind offenbar den Listen entnommen, welche man in alexandrinischer Epoche über alle mög- lichen Erfindungen aufstellte. Namen wie Kleanthes und noch mehr Polygnot zeigen zur Genüge, in wie weitem Sinne man den Begriff von Erfindung- fasste, so dass er seinen wahren Sinn eigentlich völlig verlor. Einen mehr kunstgeschichtlichen Charakter hat scheinbar die zweite Reihe bei Plinius, aber auch nur scheinbar: gar zu deutlich tritt das systematische Schema der Entwickelung hervor, für w^elches man sich dann die Namen, zumeist historische Namen, zusammen- suchte. Allein wie ungeschickt man dabei verfuhr, das zeigt sich wiederum darin, dass man den bereits erwähnten Kleanthes ganz an die Spitze stellte. Will nun gar Plinius diese ganzen Reihen wegen der Zeit des Bularchos noch vor den Anfang der Olympiaden setzen, so wird dieser Fehlschluss einer weiteren Widerlegung nicht be- dürfen. Nur nach einer Richtung scheint den verschiedenen Nach- richten eine bestimmte Thatsache zu Grunde zu liegen, nämlich dass als Haupt sitze der ältesten Malerei auf dem Boden des eigent- lichen Hellas Korinth und Sikyon anzuerkennen sind.

AVo beginnt nun aber bei Plinius, der hier fast unsere einzige Quelle ist, die eigentlich historische UeberHeferung ? Auf die alten Monochromenmaler folgen bei ihm Eumares von Athen und Kimon von Kleonai, an welche sich sofort Panainos, der Verwandte des Phidias, und Polygnot anschliessen. Man hat den beiden ersten Namen keinen höheren Werth, als allen den übrigen in der vorangehenden unkritischen Zusammenstellung beilegen wollen (Wustmann im Rhein. Mus. XXIII, 225). Aber sollte über alles, was so bedeutenden Meistern wie Panainos und Polygnot vorangegangen, jede sichere historische Tradition ver- loren gegangen sein? Prüfen wir im Einzelnen, was Plinius (35, 56) berichtet.

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Jüngerer Zeitraum. Die Malerei.

E u m a r e s von A t h e n ^) soll zuerst in der Malerei Mann und Frau unterschieden und überhaupt gewagt haben, jegHche Art von »Figuren« nachzubilden (figuras omnis imitari ausum). Die Vasen- malerei hat uns gelehrt, wie die Unterscheidung von Mann und Frau den ersten Anfängen gegenüber bereits einen bedeutsamen Fortschritt bezeichnete. Wenn sich derselbe hier fast nur schematisch in dem Weiss der Frauen und der Zeichnung der Augen offenbarte, so ist wohl anzunehmen, dass bei den reicheren Mitteln farbiger Malerei das Verdienst des Eumares in gleicher Richtung, aber in vielfältigeren und feineren Unterscheidungen zu Tage getreten sein wird. Schwieriger ist zu sagen, was unter den verschiedenen »Figuren« zu verstehen ist, wenn es auch im Allgemeinen sicher scheint, dass auf einen grösseren Wechsel in Stellung und Bewegung hingedeutet werden soll. Nur kann es sich nicht, wie bei statuarischen Werken, um einen Fortschritt von ruhiger zu bewegter Haltung handeln, indem ja schon in der ältesten decorativen Malerei die Darstellung Bewegung erforderte und dieselbe sich sogar in der Regel vielmehr durch Uebertreibung als in ängstlicher Zurückhaltung ausgedrückt findet. Auch hier werden wir nach Analogie der Vasenmalerei annehmen dürfen, dass Eumares über den Silhouettenstil hinausgegangen sei, welcher die Gestalt nur in einem einfachen Durchschnitt auf die Fläche projicirt. Erst wenn die Zeichnung die Rundung der Körper auszudrücken unternimmt, kann es ihr gelingen, »alle Figuren«, d. h. die Gestaltungen in ihren natürlichen Bewegungen und verschiedenartigen Wendungen zur Dar- stellung zu bringen.

K i m o n von K 1 e o n a i , heisst es weiter, bildete die Fortschritte des Eumares noch mehr aus, wodurch ziemlich deutlich auf einen Schulzusammenhang hingewiesen wird. »An den Gliedern hob er die Gelenke hervor« (articulis membra distinxit), d. h. er legte den Zu- sammenhang der Theile im Einzelnen bestimmter und klarer dar, offen- bar um eben von jenen Drehungen und Wendungen, welche Eumares eingeführt, genauere Rechenschaft zu geben. »Er drückte die Adern aus« : ein Fortschritt, für den freihch die Vasenmalerei keinen Beleg liefern kann, dessen Bedeutung wir aber an Werken der Sculptur, z. B. an der Gruppe des Ostgiebels von Aegina, zu beobachten Gelegenheit hatten. »An der Gewandung erfand er die Falten in ihrer Erhöhung

1) Rn.: Antenor, der Bildhauer, Sohn des Eumares, s. Studniczka, Jahrb. d. arch. Inst. II, S. 135 ff. ; [vgl. oben S. 166, Anm. 4].

1 )ie ältesten Maler.

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und Vertiefung (rugas et sinus) darzustellen.« Es genügt ein ver- gleichender Blick auf die Frangoisvase, welche eine solche Faltenan- gabe noch nicht kennt, und die nach ihr folgenden Vasenmalereien, um auch hier eine weitere Erläuterung dieser Worte überflüssig zu machen. Noch wichtiger sind endlich die Neuerungen in der Bildung des Gesichts. »Er erfand catagrapha (was durch obliquas imagines übersetzt wird) und die Gesichter mannigfach zu gestalten, an-,i) auf- und niederblickend.« In dem ersten Ausdrucke ist es ausgesprochen, dass Kimon zu richtiger Profilbildung oder, um genauer zu sprechen, zu richtiger Profilzeichnung des Auges fortschritt, durch die allein es erst möglich wurde, dem Blick eine bestimmte Richtung zu geben und überhaupt das Auge zum Träger des geistigen Ausdrucks zu machen. Wenn dabei auch das »Anblicken«, also die Bildung des Gesichts in der Vorderansicht^) denn darauf ist der Ausdruck respi- cientes mit Recht von Ch. Lenormant bezogen worden: Memoire sur les peintures de Polygnote, p. 3 3 ff. im 34. Bande der Memoires der belgischen Akademie erwähnt wird, so ist dies nur ein weiterer Schritt auf der einmal eingeschlagenen Bahn. So finden wir in der Malerei des Kimon bereits einen grossen Theil derjenigen Vorzüge, durch welche die letzten Vasenfragmente eine so hohe Bedeutung für uns erhielten, und auf Grund dieser Vergleichung werden wir es ver- stehen, wenn Aelian (V. H. VIIT, 8) über Kimon urtheilt: durch ihn sei die Malerei, die damals noch in der ersten Entwickelung von seinen Vorgängern ohne richtiges Verständniss ausgeübt worden, überhaupt gewissermassen noch in den Windeln gelegen habe, zuerst zu ratio- neller aiVusbildung gelangt.

Zu richtiger Würdigung des Vorhergehenden wird es nöthig sein, den späteren Erörterungen über Polygnot theilweise vorzugreifen und schon hier das Urtheil des Plinius (35, 58) über die formale Seite seiner Kunst in Betracht zu ziehen. »Er malte zuerst die Frauen mit durch- scheinendem Gewände, bedeckte ihre Köpfe mit buntfarbigen Binden und war der erste, der bedeutend zum Fortschritt der Malerei beitrug, insofern er es einführte, den Mund leise zu öffnen, die Zähne sehen zu lassen und statt der alterthümlichen Starrheit dem Gesicht verschiedenen Ausdruck zu geben. « Es leuchtet ein, dass dieses Urtheil in nächster Beziehung zu dem über Kimon steht und dass die scheinbar auf Einzelheiten hinaus-

1) Vgl. S. 261.

^) [Lenormant: des tetes de face ou de trois quarts.]

jüngerer Zeilrauni. Die Malerei.

laufenden Fortschritte des Polygnot durchaus an denen seines Vor- gängers gemessen werden müssen. Durchscheinende Gewänder meint man (vergl. Blümner im Rhein. Mus. XXVI, 366), könnten doch nur ausnahmsweise zur Anwendung kommen. Erinnern wir uns aber der dünnen feinfaltigen Untergewänder, die zuerst in den jüngsten Vasen- fragmenten vorkommen, so werden wir zugeben müssen, dass diese Art der Gewandbehandlung, welche über die Fortschritte des Kimon bestimmt hinausgeht, den Worten des Plinius sehr wohl entspricht, sofern wir sie nur nicht von einem Durchscheinen der Farbe, sondern der Formen des Körpers verstehen. Damit verträgt es sich sehr wohl, dass Aelian (V. H. IV, 3) von Feinheiten der Gewänder bei Polygnot spricht und Lucian (Tmagg. 7) das Kleid seiner Kassandra auf das Feinste ausgearbeitet nennt, so dass es so viel als nöthig an- oder zusammen- gezogen, zum grossen Theile aber wie vom Winde durchweht erscheine. Auf der höchsten Stufe der Vollendung finden wir das gleiche System in der Sculptur an dem gewöhnlich als Nike bezeichneten Torso des östlichen Parthenongiebels. iVuch die bunten Kopf binden der Frauen sind keineswegs ein bloss äusserlicher Schmuck. Schon oben wurde bemerkt, wie in jenen Vasenfragmenten der Kopf der Todten durch die Krone künstlerisch bedeutsam hervorgehoben wurde ; und welchen Reiz verlieh die künstlerische Anordnung der Kopf binden dem Relief von Pharsalos! Wenn nun ein genaueres Studium der griechischen Götterideale uns lehrt, dass in denselben das F[aar und verschieden- artiger Kopfschmuck mit grosser Feinheit verwendet wurden, den Ein- druck der Schwere gewisser Formen zu mildern, der Zartheit zu kräf- tigen, überhaupt aber den in den Formen des Gesichts angeschlagenen Accord harmonisch ausklingen zu lassen, so werden wir auch der Neuerung des Polygnot diese tiefere Bedeutung beizulegen durchaus berechtigt sein, zumal sie in dem Urtheil bei Plinius nicht vereinzelt dasteht, sondern gerade mit andern Fortschritten der Gesichtsbildung in Verbindung gebracht wird. Diese letzteren aber bilden wiederum die genaue F'ortsetzung dessen, was über Kimon berichtet wird. Um das Antlitz von der alterthümlichen Starrheit zu befreien, genügte nicht die Profilbildung des Auges allein, sondern mit dem Auge mussten auch die übrigen Formen des (xesichtes in Harmonie gesetzt werden, namentlich der Mund, durch den nicht nur der Odem des physischen Lebens ein- und ausströmt, sondern auch die Erregungen und Stim- mungen des Innern sich äusserlich zu verrathen pflegen. Auch hier gewähren uns die Vasenfragmente wenigstens in der Hauptsache eine

Die ältesten Maler.

281

richtige Anschauung, wenn sie auch bei ihrem flüchtigen Charakter die ohnehin gewiss nur für besondere Arten des Ausdrucks reservirte Andeutung der Zähne übergehen.

Die Urtheile über Eumares, Kimon und Polygnot bilden somit eine geschlossene Kette, welche da beginnt, wo in der Malerei die ersten Schritte geschehen, um den einzelnen Gestalten durch eine formale Durchbildung einen selbständigen künstlerischen Werth zu verleihen, oder mit anderen Worten, wo die Malerei beginnt, einen monumentalen Charakter zu erstreben. Diese Kunst durfte ihrer Natur nach länger als die Sculptur ihren doppelten Character als dekorative Kunst und Bilderschrift wahren. Als aber um Ol. 60 die Freisculptur und das monumentale Relief die ersten Stadien selbständiger Ent- wickelung zurückgelegt hatten, da konnte die Malerei ihrerseits nicht länger auf den Versuch der Darstellung der plastischen Rundung der Körperformen verzichten. Zwischen OL 60 70 mochte Eumares die ersten namhaften Fortschritte machen. Ihm folgte im Anfange der siebziger Olympiaden Kimon, und unter Polygnot, dem Freunde des athenischen Staatsmannes Kimon, gelangt diese erste Entwickelung zum Abschluss, für deren einzelne Stufen uns die Vasenmalerei einen anschaulichen Commentar bietet. Man hat nicht nur die Schwierig- keit der Darstellung des Körpers in den Formen seiner Erscheinung überwunden, sondern hat sich auch der Mittel bemächtigt, in den P^ormen nicht nur Bewegung und Handlung, sondern auch Ausdruck und Empfindung darzustellen. Hiermit aber ist ein Wendepunkt ge- geben, der erst durch die spätere Würdigung der geistigen Seite der polygnotischen Kunst vollständig erkannt werden kann, aber doch sich ahnen lässt, wenn wir etwa die Frangoisvase und die letzten Vasenfragmente vergleichen. Erst dort auch über die Farbe.

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