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THE LIBRARY

OF

THE UNIVERSITY

OF CALIFORNIA

RIVERSIDE

Die

Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes

1871-1914

Herausgregeben im Auftrage des Auswärti2:en Amtes

Die

Große Politik der

Europäischen Kabinette 1871-1914

Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes

Im Auftrage des Auswärtigen Amtes herausgegeben von

Johannes Lepsius

Albrecht Mendelssohn Bartholdy

Friedrich Thimme

1

DEUTSCHE VERLAGSGESELLSCHAFT FÜR POLITIK UND GESCHICHTE M. B. H. IN BERLIN W 8

7. Band :

Die Anfänge des Neuen Kurses

I

Der Russische Draht

I

DEUTSCHE VERLAOSOESELLSCHAFT FÜR POLITIK UND GESCHICHTE M. B. H. IN BERLIN W 8

u 7

2. Auflage

Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vor- behalten/Für Rußland auf Grund der deutsch- russischen Übereinkunft / Amerikanisches Co- pyright 1923 by Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte m.b.H. in Berlin W8, Unter den Linden 17/18 / Amerikanische Schutzzoliformel: Made in Germany / Gesetzt in der Buchdruckerei Oscar Brandstetter in Leipzig / Gedruckt in der Buchdruckerei F. E. Haag in Melle i. H.

Vorwort

Die zweite Serie der Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, die hiermit in abermals 6 Bänden der Öffentlichkeit übergeben wird, behandelt die Große Politik der Europäischen Kabinette von den Anfängen des „Neuen Kurses" in Deutschland im Jahre 18Q0 bis zu dem, vor allem durch das Vorgehen in Ostasien (1897) gekenn- zeichneten Eintritt des Kaiserreichs in die Weltpolitik. Die dritte Serie, die in weiteren 6 Bänden in der Drucklegung schon weit vorgeschritten ist, wird bis zum Jahre 1904 führen. Mit dem Druck der vierten Serie, die in etwa 10 Bänden die Zeit von 1904 bis zum Ausbruche des Welt- krieges umfaßt, wird in aller Kürze begonnen werden. Es besteht volle Aussicht, daß die ganze Sammlung der diplo- matischen Akten des Auswärtigen Amtes von 1871 bis 1914 im Sommer des kommenden Jahres abgeschlossen vorliegen wird.

Wenn die jetzt vorgelegte zweite Serie ebenso wie die folgenden nur einen Zeitraum von je 7 Jahren umfaßt, während die erste der Bismarckzeit gewidmete Serie fast einen dreifachen Zeitraum umspannte, so hat das seinen guten Grund. Der oberste Zweck der Aktenpublikation: die möglichst klare und vollständige Aufdeckung der Ur- sachen des Weltkrieges, soweit sie in der Politik der Groß- mächte liegen, bringt es mit sich, daß die Zahl der abzu- druckenden Schriftstücke wächst, je mehr sich die Ereignisse der Katastrophe von 1914 nähern. Dazu kommt, daß das Schwergewicht der Großen Politik, das in der Bismarck- schen Periode hauptsächlich im europäischen Zentrum lag, infolge des Drängens aller europäischen Mächte zur kolo- nialen Expansion und zur Weltpolitik vielfach in die ent- ferntere und selbst in die außereuropäische Peripherie ver- legt wurde. Das muß sich natürlich auswirken in einer Akten-

VII

Publikation, die die gesamte Große Politik der Europäi- schen Kabinette in sich begreift. Den orientalischen Fragen, den Mittelmeer-, den Kolonial- und den ganz neu auf- tauchenden ostasiatischen Fragen, die in der Bismarckzeit durchweg noch im Rahmen der Abschnitte behandelt werden konnten, die den Beziehungen der Mächte unter- einander gelten, mußten von 1890 ab in zunehmendem Maße selbständige Kapitel gewidmet werden. Der Nach- teil, daß auf diese Weise die Sammlung der Akten von der jetzt ausgegebenen Serie ab stark in die Breite zu gehen und damit an Übersichtlichkeit einzubüßen scheint, war um der tieferen Einsicht willen in Kauf zu nehmen. Nur dann ist es möglich, die wechselnden Phasen, die die Gruppierung der europäischen Mächte in den Jahren von 1890—1897 und weiter von 1897—1914 durchlief, in Ursache und Auswirkung zu verstehen, wenn man die Stellungnahme der Mächte zu dem ganzen Komplex der Fragen kennt, die durch den allgemeinen imperialisti- schen Drang teils kompliziert, teils neu heraufgeführt wurden. Beispielsweise ist das für Deutschlands Ge- schicke so wichtige Problem, warum die Deutsche Re- gierung im Laufe der Jahre nicht einen engeren Anschluß an England oder auch an Rußland vollzog, sondern in der gefahrvollen Politik der freien Hand verharrte, bis mit der englisch-französischen Entente von 1904 und der Begrün- dung der Triple-Entente 1907 die Freiheit solchen An- schlusses wegfiel, gar nicht aufzuklären, ohne daß man aufs Genaueste über die Stellungnahme der einzelnen Mächte zu den Fragen des Orients wie des Mittelmeers, Vorderasiens wie Ostasiens, Nordafrikas wie Zentral- und Südafrikas unterrichtet wird. Die Herausgeber haben bei der Auswahl des schier unübersehbaren archivalischen Stof- fes und bei seiner Gliederung in Bände und Kapitel gerade darauf die höchste Sorgfalt verwandt, das breit und tief verzweigte Geflecht der Großen Politik der Kabinette soweit bloßzulegen, daß mit dem Zusammen- und Gegen- spiel der einzelnen Mächte in und außerhalb Europas auch die tiefere Kausalität ihrer Gruppenbildung zunächst in

Vlll

dem Zeitraum von 1890—1904 erkennbar wird, in dem sich eigentlich doch schon die Geschicke des europäischen Kontinents entschieden haben.

An der bisher geübten Editionsmethode, wie sie in dem Vorwort zur ersten Serie kurz dargelegt und seither von dem mit der abschließenden Bearbeitung der Publi- kation betrauten Herausgeber Dr. Thimme in einem Vor- trage vor der „Deutschen Gesellschaft" (veröffentlicht in den „Preußischen Jahrbüchern", Juliheft 1922) des näheren begründet worden ist, konnten wir Herausgeber in allem Wesentlichen nur festhalten. Diese Editionsgrundsätze haben ja auch im Inlande und fast noch mehr im Auslande eine weitgehende Anerkennung gefunden. Die hier und da in deutschen Besprechungen anklingende Besorgnis, daß die gekürzte Wiedergabe mancher Schriftstücke, die bei dem Prinzip der sachlichen Anordnung des ausgewählten Aktenstoffes zwangsläufig war, im Auslande ein Miß- trauen erwecken könne, hat sich nicht bestätigt. In ver- einzelten Fällen, wo englische und amerikanische Forscher bei den Herausgebern nachfragten, was in bestimmten unvollständig wiedergegebenen Schriftstücken es han- delte sich dabei um die Krisenjahre 1887 und 1888 fortgefallen sei, wurde durch die bereitwillig mitgeteilte Vervollständigung der Abschrift bewiesen, wie die Frage- steller selbst anerkannten, daß die aus raumtechnischen Gründen ausgesparten Stellen, weit entfernt auf tenden- ziöser Auslassung zu beruhen, nur dazu dienen konnten, den Friedenswillen der deutschen Regierung noch mehr zu erhärten. Die Herausgeber werden auch weiterhin bereit sein, wo irgendein ernsthafter Forscher vor allem des Auslandes das wünschen sollte, ihm über den Inhalt nicht- gebrachter Textteile genaue Auskunft zu geben.

Die Bemerkung, die wir im Vorwort zur ersten Serie über die Auswahl der zu veröffentlichenden Randbemer- kungen Kaiser Wilhelms II. gemacht hatten, bedarf wegen eines Mißverständnisses, zu dem sie geführt hat, der Erläuterung. Es ist keineswegs eine so weitgehende Be- schränkung in der Wiedergabe dieser Randbemerkungen

IX

beabsichtigt gewesen, wie man wohl gemeint hat. Die zweite und die folgenden Serien werden aufs Schlüssigste zeigen, daß die sachlichen Bemerkungen des Kaisers, besonders alle irgendeinen Einfluß auf die Führung der Außenpolitik übenden oder bezweckenden Äußerungen ohne jede politische Rücksicht und unter völliger Hintan- stellung begreiflicher Gefühle veröffentlicht worden sind und veröffentlicht werden. Eine Auswahl, die irgend jemanden schonen wollte, wäre weder dem deutschen Volke gegenüber, dem hier Rechenschaft abgelegt wird, noch vor dem früheren Kaiser selbst zu rechtfertigen, ganz abgesehen davon, daß sie nach den bisherigen Veröffent- lichungen niemanden täuschen könnte. Weggelassen sind lediglich solche Bemerkungen, die nur den augenblicklichen Eindruck des gelesenen Schriftstücks auf den Kaiser kenn- zeichnen, aber keine Willensäußerung, ja nicht einmal sicheres Zeugnis über die Bildung des Willens enthalten, und die somit für die Publikation einen unnützen Ballast bedeuten würden. Im Verhältnis zu der Gesamtzahl der wiedergegebenen Randbemerkungen ist das nur ein ganz geringer Teil.

Indem wir Herausgeber nun der Öffentlichkeit die zweite Serie der Aktenpublikation vorlegen und das nahe Erscheinen der dritten ankündigen, halten wir uns mehr als je davon überzeugt, daß von dem mutigen und groß- herzigen Entschluß der Deutschen Reichsregierung, die Öffnung ihrer diplomatischen Archive für die ganze Vor- kriegszeit rückhaltlos durchzuführen und so der Wahrheit eine breite Gasse zu öffnen, eine heilende und versöhnende Kraft im Völkerleben ausgehen wird, der sich auf die Dauer auch nicht eine der Nationen entziehen kann, die Deutschland im Weltkriege feindlich gegenübergestanden haben. Wir Herausgeber haben nicht das Recht und nicht die Absicht, dem Urteil der Welt über Inhalt und Bedeutung des jetzt neu vorgelegten Materials vorzu- greifen. Zu der Hoffnung und der Zuversicht aber dürfen wir uns bekennen, daß der in allen Nationen liegende Wahrheitsdrang durch die nun auf die Zeit

Wilhelms IL übergreifende Erschließung des deutschen Aktenmaterials aufgerüttelt werden wird zu einem ge- rechten Erkennen und Verstehen der deutschen Dinge.

Die Herausgeber

XI

Inhaltsübersicht des siebenten Bandes

KAPITEL XLIV Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages 1890 1

KAPITEL XLV

Erneuerung des Dreibund-Vertrags. Erste Versuche Frankreichs, Italien

vom Dreibund abzusprengen 1891 51

Anhänge:

A. Aufmarsch- und Rüstungsfragen im Dreibund 1891 1892 . . 107

B. Der erneuerte Dreibund und das Italienisch-Französische Ver- hältnis 1893—1895 125

KAPITEL XLVI Erneuerung des Rumänischen Vertrages 1892 149

KAPITEL XLVII Französisch-Russischer Zweibund 1890 1894 189

KAPITEL XLVIII Deutsch-Französische Beziehungen 1890 1894 261

KAPITEL XLIX Der Draht nach Rußland 1890—1892

A. Äußere Politik 345

B. Handelspolitische Beziehungen 387

KAPITEL L Der Draht nach Rußland 1892—1894

A. Äußere Politik 405

B. Handelspolitische Beziehungen 441

Ein Namenverzeichnis für die Bände VII XII erscheint am Schlüsse des XII. Bandes; ein ausführliches Namen- und Sachverzeichnis zum Schlüsse

des gesamten Werkes

Kapitel XLIV

Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages

1890

I Die Große PoIiflK. 7. Bd,

Nr. 1366

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes

Graf Herbert von Bismarck an Kaiser Wilhelm II.

Eigenhändige Ausfertigung Geheim Berlin, den 20. März 1S90

Euerer Majestät melde ich alleruntertänigst, daß der russische Botschafter mir gestern abend ganz vertrauHch sagte, er sei von dem Zaren ermächtigt worden, den geheimen russisch-deutschen Vertrag, welcher uns bei einem französischen Angriff Rußlands Neutralität zu- sicherte, und welcher im Juni dieses Jahres abläuft*, auf sechs Jahre zu verlängern, und zwar in der Absicht, die bezügliche Abmachung als eine dauernde anzusehen i. Graf Schuwalow habe nun am Tage seiner Rückkehr von Petersburg, am 17. d. Mts.**, gleich den Reichskanzler auf- gesucht, um ihm die obenerwähnte Eröffnung zu machen; dabei habe er erfahren, daß Euere Majestät an dem gleichen Morgen dem Reichs- kanzler hätten sagen lassen, Allerhöchstdieselben sähen dem Entlas- sungsgesuch des Reichskanzlers entgegen. Graf Schuwalow habe dar- auf seine Anerbietungen zurückgezogen; nachdem er nun bis gestern abend erfahren habe, daß Euere Majestät keinen Anstand nehmen würden, die Entlassung des Fürsten Bismarck zu vollziehen, würde der Kaiser Alexander auf die Verlängerung des geheimen Vertrages verzichten, da eine so geheime Angelegenheit mit einem neuen Reichs- kanzler nicht verhandelt werden könne 2***. H. Bismarck

Bemerkung Kaiser Wilhelms II. am Kopf des Schriftstücks: Einverstanden mit Erneuerung des Vertrages und ermächtige Sie das Schuwaloff mitzutheilen 20. 111. 90. Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.: 1 Einverstanden * warum?

Siehe den Text des Vertrages in Bd. V, Kap. XXXIV, Nr. 1092. ** Graf Schuwalow war, nachdem er am 10. Februar (nicht am 12., wie Goriainow, The end of the Alliance of the Emperors, The American Historical Review Vol. XXIIl, p. 340 anführt) eine eingehende Erörterung mit Fürst Bismarck über den Rückversicherungsvertrag und seine wünschenswerte Verlängerung gehabt hatte, und nachdem er in Verfolg dieser Unterredung von Kaiser Wilhelms II. Bereitwilligkeit, auf die Verlängerung einzugehen, verständigt war (siehe Nr. 1367), am 27. Februar nach Petersburg gefahren, um dort die Angelegenheit zu be- treiben. Über die Unterredung zwischen Bismarck und Schuwalow vom 10. Fe- bruar liegt keine Aufzeichnung bei den Akten; wir sind hier ganz auf den ausführlichen Bericht Graf Schuwalows (Goriainow, a. a. O., p. 340 ff.) angewiesen. *** Vgl. H. Hofmann, Fürst Bismarck 1S90— 1S93 Bd. I (1913), S. 113 f. Nach Graf Schuwalows Bericht (vgl. Nr. 1373, Anlage) hätte er nicht gesagt, daß Kaiser Alexander nunmehr auf die Vertragserneuerung verzichte, sondern nur, daß er, Schuwalow, angesichts der Entlassung Bismarcks erst die Befehle seines Gou- vernements einholen müsse. Vgl. Goriainow a. a. O., p. 343.

Nr. 1367

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Graf Herbert von Bismarck an Kaiser Wilhelm II.

Eigenhändige Ausfertigung Geheim Berlin, den 20. März 18Q0

Aus Euerer Majestät Allerhöchstem Marginaldekret zu meinem wiederangeschlossenen ehrfurchtsvollen Immediatbericht von heute mit- tag* entnehme ich, daß ich denselben nicht klar genug abgefaßt habe, und ich gestatte mir daher, die nachstehende alleruntertänigste Erläu- terung Euerer Majestät zu unterbreiten.

Bereits vor der Abreise des Grafen Schuwalovv nach Petersburg hatten Euere Majestät den Fürsten Bismarck ermächtigt, dem rus- sischen Botschafter auf dessen damalige vertrauliche Anregung zu sa- gen, daß Allerhöchstdieselben geneigt seien, den in drei Monaten ab- laufenden geheimen Vertrag zu erneuern, und dies war dem Grafen Schuwalow damals mitgeteilt. Letzterer beabsichtigte, in diesen Tagen auf Grund der ihm vom Zaren gegebenen Vollmacht mit dem Fürsten Bisrparck in Verhandlung zu treten. Nachdem Fürst Bismarck aber inzwischen von Euerer Majestät aus seinen Ämtern entlassen ist, hat mir der Graf Schuwalow, wie ich im letzten Satz der Anlage alier- untertänigst berichtete, nun mitgeteilt, daß russischerseits auf eine Ver- längerung des Vertrages verzichtet ^ würde.

Nach dieser Eröffnung des Grafen Schuwalow vermag ich also nicht, auf die Sache zurückzukommen, da derselbe nicht darüber im unklaren ist, daß Euere Majestät die Ermächtigung zur Verhandlung über Erneuerung des geheimen Abkommens früher erteilt hatten, und mir trotzdem gestern abend die Allerhöchstdenselben in der Anlage ehrfurchtvollst gemeldete negative Äußerung machte.

H. Bismarck

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: 1 Warum?

Nr. 1368

Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt Grafen von Berchem

Reinschrift, am 25. März dem Reichskanzler von Caprivi eingehändigt, von diesem am 28. zu den Akten gegeben**

Berlin, den 25. März 18Q0 Der Vertrag, um dessen Erneuerung es sich handelt, hat den Zweck, kriegerische Ereignisse hervorzurufen, deren LokaHsierung

Siehe Nr. 1366.

♦* Später, im Jahre 1904, hat der als Unterstaatssekretär a. D. in München lebende

Graf von Berchem in der irrtümlichen Meinung, daß seine Aufzeichnung vom

äußerst unwahrscheinlich ist; wir können demnach leicht auf diesem Wege den allgemeinen Krieg herbeiführen, den wir sonst vielleicht heute vermeiden können und vermeiden sollen, auch nach der Meinung des Fürsten Bismarck; selbst im Falle unserer Neutralität würden wir am Ende immer in die undankbare Situation des Jahres 1878 geraten.

Durch den zu erneuernden Vertrag würde jedenfalls eine Macht von uns getäuscht, wahrscheinlich aber würden beide in Frage stehen- den östlichen Nachbarn dadurch mystifiziert werden; denn zunächst verweigern wir den Österreichern die Bundeshülfe in der ersten ent- scheidenden Zeit der Entwickelung der bulgarischen Sache; sobald dieselbe einen weiteren Umfang genommen, müssen wir jedoch nach der oft ausgesprochenen Meinung des früheren Reichskanzlers den- noch für Österreich-Ungarn fechten, wenn dasselbe in Bedrängnis ge- ratet, wodurch wir den Russen die Treue verletzen. Ein guter Friede kann daraus nicht erwachsen, wohl aber eine dauernde Verstimmung zweier großer Nationen, wie sie sich aus der Haltung Österreichs gegen Rußland im Krimkriege ergeben hat.

Der Vertrag liefert uns schon in Friedenszeiten in die Hand der Russen; sie erhalten eine Urkunde, womit sie jeden Augenblick un- sere Beziehungen zu Österreich, Italien, England und der Pforte trüben können*. Wir haben die letzten Jahre namentHch England und Italien

25. März 1890 nicht zu den Akten gelangt sei, dem Reichskanzler Grafen von Bülow mittels Schreibens vom 3. Juni (siehe Nr. 1391) eine eigenhändige Ab- schrift eines von ihm zurückbehaltenen Entwurfs zu jener Aufzeichnung übersandt Dieser Entwurf, der seither auszugsweise, jedoch nicht überall ganz wortgetreu von Julius von Eckardt (Aus den Tagen von Bismarcks Kampf gegen Caprivi, S. 53ff.) veröffentlicht worden ist, weist gegenüber der im März 1890 zu den Akten gekommenen Reinschrift mancheriei Abweichungen auf. So lautet gleich der erste Satz in der ursprünglichen Fassung: „Der Vertrag hat den Zweck, einen Krieg her\^orzurufen, dessen Lokalisierung äußerst unwahrscheinlich, den wir heute vielleicht vermeiden können und sollen, auch nach der Meinung Seiner Durchlaucht." Aus den Worten „auch nach der Meinung Seiner Durchlaucht'' braucht nicht notwendig geschlossen zu werden, daß der erste Entwurf noch in die Tage der Kanzlerschaft Bismarcks zurückreicht, denn Im weiteren Verlauf des Entwurfs wird bereits des Rücktritts Bismarcks als einer vollzogenen Tatsache gedacht. Jedenfalls ist ausgeschlossen, daß Graf Berchem zu Amtszeiten Bis- marcks der Auffassung dienstlich Ausdruck gegeben hätte, daß der Rückversiche- rungsvertrag den Zweck gehabt habe, einen Krieg her\-orzu rufen. Dieser Berchem- sche Satz würde die ganze Aufzeichnung geradezu in das Licht einer gegen Bis- marck gerichteten Intrige rücken, wenn nicht die Deutung möglich wäre, daß der Vertrag nach Rußlands Willen den Zweck haben sollte, kriegerische Ereignisse hervorzurufen. In diesem Sinne hat auch Julius von Eckardt, der sich auf mündliche Äußerungen Berchems beruft (a. a. O., S. 53), den Satz inter- pretiert

Vgl. dazu Bismarcks Diktat vom 28. Juli 1887 und seinen Immediatbericht vom gleichen Tage Bd. V, Kap. XXXIV, Nr. 1099, 1100. Bismarck war durchaus nicht der Ansicht gewesen, daß durch ein Bekanntwerden des Vertrags die Beziehungen Deutschlands zu Österreich leider, könnten; im Gegenteil, er fand es wünschens- wert, „wenn die Sache von Rußland ebruitiert wird".

stets darauf hingewiesen, in Konstantinopel den Sultan zu unterstützen; die gegenteilige Sprache führen wir in der Urkunde, worin wir Bul- garien, das Tor von Konstantinopel, und die Meerengen an Rußland vertragsmäßig ausliefern. Sobald die Lage für Rußland kritisch werden sollte, dürfte Österreich, von Petersburg aus über dieses Abkommen unterrichtet, mit Rußland einen Separatfrieden auf unsere Kosten schließen, der in diesem Falle wegen des nicht ganz unbegründeten Verdachts unserer Felonie in Österreich-Ungarn nicht unpopulär sein würde.

Der Vertrag gewährt keine Gegenseitigkeit. Aller Vorteil daraus kommt Rußland zugute. Frankreich wird uns nicht angreifen, ohne Rußlands Mitwirkung sicher zu sein. Eröffnet aber Rußland den orien- talischen Krieg, was die Absicht des Vertrags ist, und schlägt, wie voraussichtUch, Frankreich gleichzeitig gegen uns los, so ist die Neu- tralität Rußlands gegen uns ohnedies in den Verhältnissen gegeben, sie liegt auch ohne Vertrag in diesem Falle im russischen Interesse. Der Vertrag sichert uns demnach nicht gegen einen französischen An- griff, gewährt hingegen Rußland das Recht der Offensive gegen Öster- reich an der unteren Donau und verhindert uns an der Offensive gegen Frankreich, abgesehen davon, daß er in seiner Tendenz mit dem deutsch-österreichischen Bündnis schwer vereinbar ist.

Die Bestimmung des Zeitpunktes des europäischen Krieges der Zukunft wird durch den Vertrag demnach in Rußlands Hände gelegt, und es erscheint nach den vorliegenden Anzeichen nicht ganz un- wahrscheinlich, daß Rußland, gedeckt durch Deutschland, ein Interesse hat, bald loszuschlagen. Es darf dahingestellt bleiben, ob unser und unserer Verbündeten militärisches Interesse sich hiermit deckt.

Die Vereinbarung steht, wenn nicht dem Buchstaben, so jedenfalls dem Geiste der Triplealiianz direkt entgegen* und wird uns, wenn die Russen im Süden losbrechen, voraussichtlich in Gegensatz zu be- freundeten Mächten bringen. Der Vertrag ist aber auch praktisch un- durchführbar.

Wenn Graf Kälnoky noch so sehr bestrebt ist, unserem bisherigen Standpunkt entgegenzukommen, wenn er vermieden hat, die Erklärung

* Der Auffassung, als ob der Rückversicherungsvertrag „wenn nicht dem Buchstaben so jedenfalls dem Geiste" des Dreibundes direkt zuwider- gelaufen sei, ist Bismarck mit allem Nachdruck entgegengetreten. So heißt es in dem Artikel der „Hamburger Nachrichten" vom 31. Oktober 1896, der den berühmten „Enthüllungs"-Artikel vom 24. Oktober rechtfertigen sollte: „Die Be- hauptung, daß das 1890 abgelaufene deutsch-russische Abkommen mit der Treue gegen den Dreibund nicht verträglich wäre, ist vollständig aus der Luft ge- griffen für jeden, der es kennt, und der die Dreibundverträge auch nur ober- flächlich liest." H. Hofmann, Fürst Bismarck 1890—1898 Bd. 11 (1913), S. 374. Auch Staatssekretär Freiherr von Marschall, der in den entscheidenden Märztagen des Jahres 1890 offenbar der Berchcm-Holsteinschen Auffassung von der Unverein-

festzulegen, daß eine Besetzung Bulgariens durch Rußland einen Kriegs- fall für Österreich-Ungarn bildet, und wenn auch der einflußreiche un- garische Minister Desider Szilagyi für die Teilung der Interessen- sphären auf der Balkanhalbinsel eintreten sollte, so wird doch Kaiser Franz Joseph das Vorgehen der Russen mit einer Truppenaufstellung an der serbischen oder rumänischen Grenze beantworten, welche unter Umständen militärische Rückwirkungen an der galizischen Grenze und demnach den wahrscheinHchen Eintritt des casus foederis Öster- reich gegenüber für uns zur Folge haben wird. Das in auswärtigen Fragen entscheidende ungarische Parlament wird die österreichische Politik ins Schlepptau nehmen, selbst wenn dieselbe zu einer neutralen Haltung geneigt wäre. Graf Kälnoky wird nicht imstande sein, die Russen auch nur in die Stellung von 1854 einrücken zu lassen; die Verwickelungen werden schon früher beginnen. In einem frühen Sta- dium der Ereignisse wird die österreichische Armee die serbische Grenze überschreiten müssen, was zum Kampfe mit den Serben und Montenegrinern, den Bundesgenossen der Russen, führt und voraus- sichtlich unseren casus foederis mit Österreich nach sich ziehen könnte. Wird die österreichische Aufstellung aber auch an der rumänischen Grenze genommen, so tritt für uns in naher Zeit auch noch der rumänische casus foederis in Kraft, und können wir Rußland unsere Zusage nicht halten.

Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß die Russen 60 000 wohl- bewaffneten Bulgaren gegenüber die Aktion durch eine Landung in Varna einleiten werden, nach den ohne vorgängige Sicherstellung einer Operationsbasis bei Plewna gemachten Erfahrungen. Sie werden demnach die Neutralität Rumäniens zu verletzen gezwungen sein, so- daß nicht nur im Westen sondern auch im Osten der rumänische casus foederis für uns vorliegen wird. Sollten wir Rumänien im Stich lassen, so trieben wir dasselbe in Rußlands Arme. Es kommt hierzu, daß Graf Kälnoky noch vor wenigen Tagen laut amtlichen Berichtes des Prinzen Reuß darauf hingewiesen hat, wie Österreich-Ungarn im Streitfalle auf die Kooperation mit der bulgarischen Armee zu zählen gezwungen sei in Anbetracht der Feindschaft Serbiens; wir würden nach dem Vertrage hierzu eine unfreundliche Stellung einnehmen müssen.

barkeit des Rückversicherungsvertrages mit dem Dreibundvertrage nachgegeben hat, hat am 16. November 1896 bei Gelegenheit der durch die Bismarckschen Enthüllungen veranlaßten Reichstagsinterpellation die Berchemsche Theorie der Unvereinbarkeit so nachdrücklich wie möglich perhorresziert: „Ich weise mit aller Entschiedenheit den Gedanken zurück, als ob jemals von deutscher Seite mit irgendeinem Staate etwas verabredet worden sei, was unvereinbar wäre mit bestehenden Verträgen. Das ist nicht geschehen, nicht dem Wortlaut, auch nicht dem Geiste nach; denn was je von uns verabredet wurde, sollte dem Frieden dienen, also demselben Zweck wie unsere Verträge." Steno- graphische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags 1895/97 Bd. V, S. 3262.

Wenn wir die Autonomie Bulgariens preisgeben, so gehen wir einem Zerwürfnisse auch mit Italien entgegen. Crispi, so fest seine Stellung zurzeit ist, wird nicht imstande sein, eine Politik zu führen, die gegen die Selbständigkeit der Balkanländer gerichtet ist. Sobald wir Österreichs Orientpohtik nach dem Vertrage entgegenzutreten ge- zwungen sein werden, so wird auch Italien beim österreichischen Bünd- nisse nicht festzuhalten sein, freie Hand gewinnen und seinen Vorteil da suchen, wo es ihn finden kann, d. h. auf Kosten Österreichs.

Artikel I und III des Vertrags zu Dreien mit ItaHen von 1882 und 1887, sowie unser Separatvertrag mit ItaHen (Küste des Ägäischen Meeres)* werden ihrem Geiste nach durch den zu erneuernden Ver- trag gleichfalls verletzt.

Was die Türkei betrifft, so kann dieselbe auf Grund eines solchen Abkommens schon in Friedenszeiten dauernd in Rußlands Arme ge- trieben werden. Sie wird diesem Einfluß im Falle der Verletzung des Geheimnisses russischerseits um so leichter verfallen, als wir ihr zu verschiedenen Zeiten geraten haben, ihre militärischen Rüstungen offenbar nicht gegen Westen zu verstärken, ein Ratschlag, mit dem wir uns hiermit in Widerspruch setzen würden.

Es unterliegt zwar keinem Zweifel, daß es für uns vorteilhaft ist, je mehr die Russen ihre Rüstungen gegen unsere südöstliche Grenze ver- mehren und ihre offensiven Absichten dahin und nach der Balkanhalbinsel richten. Wie die Verhältnisse heute nach dem Rücktritt des Fürsten Bis- marck liegen, werden sie das bulgarische Abenteuer jedoch nicht leicht unternehmen, und das in Rede stehende Abkommen wird uns dem- nach den Nutzen der Ablenkung der russischen Unternehmungslust nach Südosten nicht bringen, wohl aber alle vorerwähnten Nachteile. Eine so komplizierte Politik, deren Gelingen ohnedies jederzeit frag- lich gewesen ist, vermögen wir nicht weiter zu führen nach dem Aus- scheiden eines Staatsmannes, der bei seiner Tätigkeit auf dreißig- jährige Erfolge und einen geradezu magnetisierenden Einfluß im Aus- lande sich stützen konnte. Aber auch dem Fürsten Bismarck ist es nicht gelungen, aus dem Vertrage Vorteile zu ziehen; derselbe hat uns nicht vor kritischen Situationen Rußland gegenüber bewahrt, nicht vor den Truppenkonzentrationen Rußlands an unserer Grenze und vor lebhaften Verstimmungen des Zaren. Keinenfalls aber werden wir nach russischer Seite aus dem Vertrage so viel gewinnen, als uns aus demselben Nachteile nach anderen Richtungen erwachsen.

Wir werden eine ruhige, klare und loyale Politik zu führen haben, um die Errungenschaften der letzten 26 Jahre festzuhalten; auf diesem

Siehe den Text der Dreibundverträge von 1882 und 1887 Bd. III, Nr. 571, und Bd. IV, Nr. 858, den Text des Deutsch-Italienischen Separatvertrags von 1887 Bd. IV, Nr. 85y.

8

Wege wird die Erhaltung und Förderung des Deutschen Reiches wohl gelingen, nicht aber durch gefährliche diplomatische Wagnisse. Fürst Bismarck hat ein derartiges Spiel nicht einmal gegenüber Napoleon III. für angezeigt erachtet, welcher kein Papier in Händen hatte, als er von seinen belgischen Träumen erwachte. Die beabsichtigte Verein- barung erinnert an den Westminster-Vertrag Friedrichs des Großen, mit welchem er irrtümlicherweise den Versailler Vertrag für kom- patibel erachtete, dennoch aber hiermit den Siebenjährigen Krieg und seine Isolierung heraufbeschwor.

Die Gefahren eines russischen Einmarsches in Bulgarien hat Fürst Bismarck jedoch selbst nicht unterschätzt; aus diesem Grunde war es sein Wunsch, daß, wenn es zu Unruhen im Orient käme, dieselben nicht in Bulgarien, sondern in den griechischen Gewässern ausbrächen, wodurch die Gegenwirkung Englands und der Pforte gegen Rußland mehr hervorgerufen würde.

Wenn demnach gewichtige Bedenken der Erneuerung der Abrede entgegenstehen, so haben wir nichtsdestoweniger an dem bisherigen Standpunkt diplomatisch, jedoch ohne uns zu binden, festzuhalten, daß Rußland ein wohlbegründetes Recht hat, seinen Einfluß in Bul- garien geltend zu machen; wir werden den Kaiser Alexander ebenso schonend wie früher, wenn möglich noch besser zu behandeln haben, um Vertrauen in unsere Friedenspolitik zu erwecken, und wir werden in Wien unsere Ansichten über Bulgarien in der bisherigen Weise zum Ausdruck zu bringen haben. Denn es ist ein dringendes Interesse un- serer Politik, Rußlands Hoffnungen auf Bulgarien nicht zu entmutigen, da diese Entmutigung sich gegen uns wenden würde, und zugleich den Widerstand anderer Mächte gegen Rußland im Südosten Europas wach- zuerhalten. Wir können auch daran festhalten, daß es in unserm Inter- esse liegt, das Augenmerk Rußlands auf die Meerengenfrage zu lenken, wo der Gegensatz zwischen England und vielleicht auch Frankreich mit Rußland sich entwickeln wird, aber wir werden besser tun, hierfür keinen Schein auszustellen.

Die Gefahr eines Zusammengehens Frankreichs mit Rußland ist heute geringer als noch vor einigen Jahren, wir haben kein Interesse, dieses Zusammengehen zu beschleunigen, indem wir zu einem bulgari- schen Abenteuer raten in einem Augenblick, da wir einen Konflikt mit Frankreich nicht wünschen können.

Fürst Bismarck hat wiederholt im Reichstag darauf hingewiesen, daß ein großer Krieg heutzutage nicht ohne lebhafte Begeisterung der Völker geführt werden könne. Diese Begeisterung würde fehlen, unsere Haltung würde dem deutschen Volke unverständlich bleiben, wenn wir im Falle von politischen Störungen anfangs ein schwer verständliches Spiel trieben, den Anschei^n erweckten, als wollten wir unsere Bundes- genossen im Stich lassen, und erst spät in die Aktion träten.

Wir haben demnach allen Grund, die durch russische Initiative gegebene Gelegenheit, von der Abrede zurückzutreten, nicht unbenutzt zu lassen; es muß dies in der freundschaftlichsten Weise geschehen.

Be rchem

Nr. 1369 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

Berlin, den 28. März 1890 Am gestrigen Tage haben der Unterzeichnete und der Botschafter General von Schweinitz* Seiner Majestät Vortrag über die eventuelle Er- neuerung des geheimen Vertrages mit Rußland gehalten. Sie haben dabei übereinstimmend die Ansicht vertreten, daß solche Erneuerung

* Botschafter von Schweinitz war auf Veranlassung des Kaisers am 21. März aus Petersburg in Berlin eingetroffen, um an dem für den 22. anberaumten Kapitel des Schwarzen Adlerordens, wo u. a. Prinz Georg von Großbritannien im Bei- sein seines Vaters, des Prinzen von Wales, nachmaligen Königs Eduard VII., investiert werden sollte, teilzunehmen. Schweinitz wurde in Berlin sogleich zu den Verhandlungen über den Rückversicherungsvertrag herangezogen. Anfäng- lich sprach er sich zugunsten einer Verlängerung aus; es gelang jedoch Berchem und Holstein, ihn umzustimmen, speziell mittels Vorlegung des Rumänischen; Bündnisvertrags von 18S3, der dem Botschafter nicht mit dem Rückversicherungs- vertrag verträglich erschien. Vgl. die retrospektiven Angaben Berchems und Holsteins in Nr. 1391 und Nr. 1392. Holstein glaubte noch am 28. März in Schwei- nitz einen Anhänger des russischen Vertrags und, was für ihn identisch war, einen Parteigänger von Bismarck Vater und Sohn sehen zu sollen, der diese beiden mittels des Rückversicherungsvertrages wieder in den Sattel setzen wollte. Siehe das charakteristische Schreiben Holsteins vom 28. März bei Vindex Scrutator, Warum der russische Draht zerriß. „Der Tag". Ausgabe B (rot) vom 4. November 1920. Daß Holstein die treibende Kraft bei der Nichterneuerung des Rück- versicherungsvertrags gewesen ist, indem er zu einer Zeit, als Graf Herbert Bismarck noch im Amte war, und ohne dessen Vorwissen den Text des Rück- versicherungsvertrages und der übrigen nacii seiner Behauptung damit nicht zu vereinbarenden Verträge erst Caprivi, dann Marschall, schließUch Schweinitz vor- legte, geht auch aus einer späteren Aufzeichnung Marschalls vom 4. Dezember 1911 über die Meerengenfrage hervor, in der es u. a. heißt: „Als nach dem Sturze des Fürsten Bismarck von mir als Staatssekretär an Stelle Herbert Bis- marcks die Rede war, erfuhr ich von dem geheimen Rückversicherungsvertrag mit Rußland, der kurz darauf ablief, und dessen Verlängerung Rußland begehrt hatte. Diesen Vertrag zeigte mir damals Herr von Holstein. Als ich da las, daß wir den Russen in ziemlich unverblümten Worten die Meerengen und Konstantinopel als Gegenleistung für die russische Neutralität in gewissen Kriegs- fällen zusagten, habe ich Holstein erklärt, daß ich das Amt des Staatssekretärs nicht annehmen werde, wenn dieser Vertrag verlängert werde, und dies damit begründet, daß ich darin eine Untreue gegen Österreich-Ungarn erblickte. Ich habe beigefügt, daß ein großer Mann wie Bismarck auch mit solchen kompli- zierten Instrumenten arbeiten könne, ich als einfacher Mensch dagegen außer- stande sei, einen solchen Vertrag, wenn er je bekannt werde, unseren Ver- bündeten gegenüber zu rechtfertigen. Caprivi war derselben Ansicht."

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zwar das Resultat haben würde, Rußland koalitionsunfähig zu machen, daß aber die Festsetzungen des Vertrages weniger ihrem Wortlaut als ihrem Sinne nach mit dem Dreibund, mit dem Vertrage, den wir mit Rumänien haben, und mit der Einwirkung, die deutscherseits auf England geübt ist, nicht wohl in Einklang zu bringen seien. Das Be- kanntwerden des Vertrages, sei es durch eine absichtliche oder eine zufällige Indiskretion, gefährde den Dreibund und sei geeignet, England von uns abzuwenden. Herr von Schweinitz hielt eine absichtliche In- diskretion seitens Rußlands um deshalb für höchst unwahrscheinlich, weil sie der Natur des Zaren widerspreche, und weil sie in Rußland die öffentliche Meinung gegen die Regierung erregen werde, erkannte aber auch, daß die MögHchkeit anderweiter Indiskretionen nicht aus- geschlossen sei.

Seine Majestät befahlen hierauf, daß der Herr Botschafter bei seiner Rückkehr nach Rußland dort an geeigneter Stelle aussprechen solle, wie diesseits der bestimmte Wille vorliege, nach wie vor die besten Beziehungen zu Rußland zu unterhalten, wie aber in dem Personenwechsel, der sich in Deutschland gegenwärtig vollzogen, und der uns das Bestreben nahe lege, fürs erste uns ruhig zu verhalten und in keinerlei weitgehende Verhandlungen einzutreten, der Grund liege, "Weshalb wir für geratener hielten, von einer Erneuerung des Vertrages abzustehen.

v. Caprivi

Nr. 1370

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 103 St. Petersburg, den 3. April 1890

Geheim

Bald nach meiner Rückkehr, am Abend des 31. März, begab ich mich zu Herrn von Giers, der mich mit Ungeduld erwartete. Ich bemerkte sogleich, daß Graf Schuwalow den Minister nur unvoll- ständig über die Vorgänge der letzten Tage unterrichtet hatte, was ich in Anbetracht der Zartheit einiger Einzelheiten nur billigen kann. Ich fand also Herrn von Giers noch unter dem günstigen Eindrucke, welchen der Bericht des russischen Botschafters über seine Audienzen bei unserem allergnädigsten Kaiser und Herrn* hervorbrachte; Graf Schuwalow hatte zwar infolge meiner Mitteilungen vom 28. März hierher telegraphiert, daß ich ohne Vollmacht nach St. Petersburg zu- rückkehren würde, aber der Minister hielt noch an der Hoffnung fest,

* Siehe Nr. 1373, Anlage.

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daß hierdurch vielleicht nur eine Veränderung des Wortlautes, eine Verzögerung des Abschlusses, doch kein Fallenlassen des Vertrages herbeigeführt werde.

Nachdem ich nun die großen Tatsachen, welche sich durch den Personenwechsel im Auswärtigen Amte vollzogen, in ihrer Bedeutung geschildert und meine Überzeugung, daß hierdurch an unseren guten Beziehungen zu Rußland nichts geändert werde, begründet hatte, gab ich allmählich Herrn von Oiers zu verstehen, daß meine Regierung gegenwärtig nicht beabsichtige, den am 18. Juni d. Js. ablaufenden Ver- trag zu erneuern.

Obwohl ich diese Mitteilung mit allen jenen schonenden Bemer- kungen umkleidete, welche mir die Gemeinsamkeit unserer monar- chischen Interessen, unser fester Wille, den Frieden zu erhalten und den im Vordergrunde stehenden russischen Verlegenheiten in Bul- garien nach wie vor Rechnung zu tragen, an die Hand gab, so war Herr von Giers doch etwas konsterniert.

Ohne sich ausführlich zu äußern, ließ mich der russische Minister doch erkennen, welches Bild der politischen Gesamtlage sich vor seinem Auge aufrollte: Die drei Zentralmächte des Kontinents durch laut ver- kündete Verträge verbunden, England durch wiederholten Austausch von Höflichkeiten und neuerdings durch den Besuch des Prinzen von Wales* Deutschland genähert, Frankreich durch unverkennbare Friedens- sehnsucht der Bevölkerung im Racheeifer etwas gemäßigt, Österreich- Ungarn von der weisen und wohlmeinenden, aber strengen Kontrolle des Fürsten Bismarck befreit, und dem gegenüber Rußland, allein, ohne jedes Abkommen mit uns oder mit irgendeiner anderen Macht so etwa mochte Herrn von Giers die Situation seines Landes erscheinen; dieses hat nun freilich seit Jahren durch alle Organe seiner öffent- Hchen Meinung stürmisch gefordert, daß es völlig frei von jeder binden- den Abmachung mit europäischen Mächten und besonders mit Deutsch- land, stolz auf seine unnahbare Kraft und Größe frei dastehe, nur die eigenen Interessen pflegend, dabei aber Frankreichs Freundschaft auch ohne Vertrag in jedem AugenbHcke sicher.

Während diese den Slawophilen so teuere Aktionsfreiheit die Popu- larität Alexanders III. im Inneren und sein Ansehen im Auslande ver- mehrte, begriff Herr von Giers doch sehr wohl, daß eine solche Isolierung Nachteile und Gefahren mit sich bringe, und deshalb be- mühte er sich seit neun Jahren rastlos unter unausgesetzten Kämpfen erst gegen Ignatiew und dann gegen Katkow, den jungen Zaren zu vermögen, daß er das von seinem Herrn Vater mit Deutschland und Österreich-Ungarn geknüpfte Band nicht löse und, als dies 1887 nicht mehr zu halten war, ein neues mit uns allein ganz im geheimen anknüpfte.

Er weilte seit dem 21. März am Kaiserlichen Hoflagcr zu längerem Besuch. 12

Hierdurch wurde ein für Rußland sehr günstiges Verhältnis ge- schaffen, durch welches es instand gesetzt wurde, seine Rüstungen und seinen Aufmarsch im Westen und Südwesten zu fördern, ohne sich der Gefahr auszusetzen, durch eine aktive Politik Österreichs gestört zu werden, und es ist daher erklärlich, daß Herr von Giers mit Bedauern und Besorgnis einen Zustand zu Ende gehen sieht, welcher Rußland Sicherheit gewährt, ohne ihm Opfer aufzuerlegen.

Aber auch für uns war der geheime Vertrag von hohem Werte, indem er den Zaren verhinderte, der zeitweise sehr lauten Stimme der Slawophilen und der chauvinistischen Generale, der Katkows und der Skobelews Gehör zu geben und einer Koalition gegen uns beizu- treten, während uns gleichzeitig die Neutralität Rußlands im Falle eines französischen Angriffskrieges gesichert wurde. Diese Vorteile sind so erhebhch, daß wir sie uns auch um hohen Preis erhalten müßten, wenn wir nicht durch die aggressiven Kriegsvorbereitungen Rußlands gezwungen worden wären, mit mehreren anderen Staaten Bündnisse abzuschließen, welche so kompliziert wurden, daß nur Fürst Bismarck imstande war, den Widerspruch zu unterdrücken, in welchem sie zu dem Deutsch-Russischen Abkommen stehen.

Diesen nur teilweis geheim gebliebenen Bündnissen, welche uns mit unseren Alliierten und einige der letzteren durch unser Zutun mit England verbinden, steht nun Herr von Giers plötzlich ganz ver- einsamt gegenüber, und es könnte niemanden überraschen, wenn er anderswo Anlehnung suchte.

Meine Versicherung, daß sich auch ohne schriftliche Form in der Sache nichts ändere, daß unsere Politik dieselbe bleibe, und daß namentlich unsere Anerkennung der legitimen Präponderanz Rußlands in Bulgarien ungeschwächt in Geltung fortbestehe, beruhigte den rus- sischen Herrn Minister einigermaßen; er wollte aber doch die Hoff- nung nicht aufgeben, daß der letztere, auf Bulgarien bezügliche Satz noch vor Ablauf unseres Vertrages in irgendwelcher Gestalt schrift- lich, vielleicht durch Austausch von Noten, bekräftigt werde. Ohne hierauf näher einzugehen, aber auch ohne ihm jede Aussicht auf eine die bulgarische Verlegenheit mildernde Zusicherung zu nehmen, habe ich Herrn von Giers wiederholt versichert, daß unsere vom Fürsten Bismarck vorgezeichnete Haltung in der bulgarischen Frage nicht nur auch fernerhin von uns streng beobachtet, sondern auch, insoweit es unser freundschaftliches Verhältnis zum Wiener Kabinett mit sich bringt, bei diesem vertreten werden wird.

Am Tage, der auf diese Unterredung folgte, am 1. April, hatte Herr von Giers Immediatvortrag bei Seiner Majestät dem Kaiser, welcher fieberkrank war und sich deshalb nicht lange mit seinem Minister beschäftigen konnte, aber doch sogleich die Bereitwilligkeit aussprach, mich am 3. April zu empfangen. Der Kaiser ist von den Mitteilungen, welche ihm Herr von Giers auf Grund unseres Ge-

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spräches machte, befriedigt gewesen und hat die Nachricht, daß meine hohe Regierung den Vertrag nicht verlängern wolle, ohne Befremden hingenommen*. Des eigenen ehrlichen Willens fest bewußt und end- lich ohne Mißtrauen gegen uns, fühlt dieser Monarch kein Bedürfnis nach schriftlichen Abmachungen.

„Seine Majestät", so sagte mir gestern Herr von Oiers, „hat dem Vertrage überhaupt niemals viel Interesse zugewendet, aber ich tue es, und ich habe meine guten Gründe hierzu." Aus den Bemerkungen, welche der Herr Minister hieran knüpfte, glaube ich schließen zu dürfen, daß unter diesen „guten Gründen" die Möglichkeit von durch Tod oder sonstwie hier eintretenden Personalveränderungen obenansteht. Bejahrt und müde möchte Herr von Giers seinen Nachfolger binden; aber auch solange er noch im Amte ist, glaubt er des Vertrages zu bedürfen als Bollwerk seiner Politik gegen die russischen Feinde der- selben, die chauvinistischen Generale und die slawophilen Komitees.

Weiterhin erzählte mir Herr von Giers folgendes: „Vor etwa vier Wochen brachte ich bei Seiner Majestät die Frage von der Ver- längerung unseres am 18. Juni d. Js. ablaufenden Vertrages zur Sprache; der Kaiser ermächtigte mich, mit Ihnen etwa zwei Monate vor diesem Termin über die Sache zu sprechen. Als aber bald darauf Graf Schu- walow hierher kam und mir sagte, daß Fürst Bismarck seine Geneigt- heit, das Abkommen zu erneuern, zu erkennen gegeben habe, erbat ich die allerhöchste Genehmigung, den Botschafter bei seiner Rück- kehr nach Berlin mit Vollmacht zu versehen; dies geschah, wie Sie wissen, mündlich, Graf Schuwalow traf am 17./5. März in Berlin ein und hatte noch an demselben Tage eine Besprechung mit dem Fürsten, über welche er telegraphisch berichtete, den Rücktritt des Reichskanzlers als unmittelbar bevorstehend bezeichnend mit dem Hinzu- fügen, daß letzterer nicht ausschließlich durch Meinungsverschieden- heit in inneren Fragen, sondern auch durch eine Divergenz in der auswärtigen Politik, namentlich das Verhältnis zu Rußland berührend, unvermeidlich geworden sei. Das Nähere haben Sie von meinem aller- gnädigsten Gebieter, welcher Sie rufen ließ, selbst gehört."

„Die Frage des Botschafters, ob er die Verhandlungen fortsetzen dürfe, wurde bejaht, und als dann am 21. /9. März der höchst erfreuliche und ausführiiche telegraphische Bericht des Grafen Schuwalow über die Unterredung einlief, mit welcher ihn Seine Majestät der Kaiser Wilhelm beehrt hatte**, ließ ich sofort auf allerhöchsten Befehl die schriftliche Vollmacht ausfertigen, durch welche der Botschafter in- stand gesetzt wurde, den Vertrag mit oder ohne das Zusatzprotokoll für fünf Jahre zu veriängern. Wenn nun auch, wie Sie mir sagen,

* Das wird bestätigt durch die von Goriainow a, a. O., p, 344 mitgeteilten Rand- bcmtrkiinjren Kaiser Alexanders III. ♦* Siehe Nr. 1373, Anlage,

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hiervon jetzt nicht mehr die Rede ist, so möchte ich Ihnen doch gern die Instruktion zeigen, welche durch einen Kurier in derselben Stunde nach Berlin geschickt werden sollte, in welcher am 28./16. März Schuwalows telegraphische Meldung hier eintraf, derzufolge die Verhandlungen über die Vertragserneuerung sistiert wurden."

Der Minister zeigte mir nun die vom ersten Rate des Auswärtigen Amts Grafen Lamsdorff mit eigener Hand sauber geschriebenen, zur Unterzeichnung fertiggestellten Dokumente. Das Begleitschreiben an den Botschafter begann mit dem Ausdruck der hohen Befriedigung, mit welcher Seine Majestät der Kaiser durch die vom Grafen Schuwalow wiedergegebenen Worte unseres allergnädigsten Kaisers und Herrn erfüllt worden war, namentlich durch die Versicherung, daß die Er- haltung des äußeren Friedens und der inneren Ordnung das Bestreben Seiner Majestät des Kaisers Wilhelm bleibe. An die warme Erwiderung dieser Zusicherung schließt sich dann der Ausdruck gleicher Gesinnung und der Auftrag, den am 18. Juni d. Js. ablaufenden Vertrag ganz nach den Wünschen der deutschen Regierung mit oder ohne Zusatz- protokoll, aber lieber ohne dasselbe, auf fünf Jahre zu verlängern. Ich dankte dem Herrn Minister für seine Mitteilungen und sagte, daß alles beim alten bleibe, wenn nun auch nichts unterschrieben würde. Herr von Giers antwortete mir hierauf mit der Versicherung, daß sein erhabener Monarch auch ohne Vertrag nie daran denken würde, aus der Neutralität, welche dieser uns für gewisse Fälle zu- sichere, herauszutreten; der Minister fügte hinzu, daß nun also vor- läufig über diese Angelegenheit weder unter uns beiden, noch zwi- schen ihm und seinem erhabenen Souverän weiter gesprochen zu werden brauche, und in dieser Weise, in freundschaftlichem Tone, schloß unsere Unterredung, ohne Verstimmung zu hinterlassen.

V. S c h w e i n i t z

Nr. 1371 Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an Kaiser Wilhelm II.

Ausfertigung

Nr. 104 St. Petersburg, den 3. April 1890

Seine Majestät der Kaiser Alexander erteilte mir heute mittag 12 Uhr die nachgesuchte Audienz und empfing mich mit gewohnter Güte.

Nach den einleitenden Worten huldvoller Begrüßung sagte mir der Kaiser, er habe schon durch Herrn von Giers erfahren, daß ich im ganzen befriedigt aus Berlin zurückgekehrt sei. Ich bestätigte dies und ging dann zur Ausführung des mir erteilten allerhöchsten Be- fehles über, indem ich sagte: „Euere Majestät hatten mich beauf- tragt, meinem allergnädigsten Kaiser und Herrn den Ausdruck des

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Vertrauens zu übermitteln, daß durch den Rücktritt des Fürsten Bis- marck weder in den persönlichen Beziehungen der Monarchen noch in den politischen der Staaten sich irgendetwas ändern werde. Auf Seine Majestät den Kaiser Wilhelm haben diese Worte, welche aller- höchstdemselben in dem ernsten und schmerzlichen Augenblicke der Trennung von dem erprobten Ratgeber seines Großvaters zugingen, einen wohltuenden Eindruck hervorgebracht und bei allerhöchstdem- selben volle Gegenseitigkeit gefunden. Ich bin beauftragt, Euerer Maje- stät zu sagen, daß mein Souverän die Gesinnungen Euerer Majestät teilt und erwidert, und daß er mit Vergnügen dem 'Augenblick ent- gegensieht, in welchem er dies Euerer Majestät persönhch und münd- Hch auszusprechen Gelegenheit finden wird."

Kaiser Alexander antwortete hierauf mit einigen entsprechenden Äußerungen über den erwarteten Besuch und sprach dann mit sicht- Hcher Befriedigung die Hoffnung aus, daß die warmen und gnädigen Worte, welche Euere Majestät unlängst zu dem Grafen Schuwalow gesprochen haben, die Fortdauer der zwischen Deutschland und Ruß- land bestehenden Freundschaft verbürgen, und daß hierin durch den Abgang des Fürsten Bismarck nichts geändert werde. „Kaiser Wil- helm", so erzählte der Zar, „hat zum Grafen Schuwalow gesagt, es sei ein Irrtum, das russenfreundliche Verhalten Deutschlands als Bis- marcksche Politik zu bezeichnen; es sei die Politik seines Großvaters und seine eigene."

Im weiteren Verlauf der Audienz tat der Zar mit dem Freimut, welcher ihm eigen ist, mancherlei Äußerungen, welche Euerer Kaiser- lichen und Königlichen Majestät wortgetreu wiederzugeben ich wage: Er sagte unter anderem: mit der Tripleallianz sehe es wohl schlecht aus; die Lasten, welche durch dieselbe unseren Verbündeten auferlegt würden, seien gar zu schwer, besonders für Italien; aber das schade ja weiter nichts; wenn nur Rußland und Deutschland zusammenhalten, dann müssen alle anderen ruhig zusehen. Österreich fahre fort „de faire ses petites cochonneries", aber auch das sei nicht beunruhigend für den Frieden; „wenn nur Rußland und Deutschland feste Freund- schaft halten, so ist Ruhe. Was Sie im Innern vornehmen, darüber haben wir nicht mitzusprechen, das geht uns nichts an, aber es ist mir sehr lieb zu hören, daß in der auswärtigen Politik keine Änderung eintritt, und daß darin keine Veranlassung zum Rücktritt des Fürsten Bismarck gelegen hat."

Kaiser Alexander erkundigte sich dann noch mit Interesse nach dem Verlauf, welchen der Besuch Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen von Wales genommen, und nach dem Eindruck, den derselbe hinter- lassen hat. Ich schilderte dies als vollkommen befriedigend.

Der Zar fragte auch mit wohlwollender Teilnahme nach dem neuen Reichskanzler und sprach die Hoffnung aus, daß derselbe nicht „wie Graf Waldersee" den Krieg wünsche und herbeizuführen suche.

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Ich sagte, Seine Majestät könne versichert sein, daß General Caprivi, obwohl ohne Zweifel berufen, im Kriegsfall eine hervorragende Rolle zu spielen, doch nur der politischen Notwendigkeit, nicht eigener Neigung oder Voreingenommenheit folgend zum Kriege raten würde. „Nun", sagte Seine Majestät, „s'il y regarde quatre fois, tout sera bien."

Nochmals, ehe er mich entließ, sagte Kaiser Alexander, alles komme lediglich darauf an, daß Deutschland und Rußland gut zu- sammenhalten; hierauf vertraue er fest,

V. S c h w e i n i t z

Nr. 1372

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 148 St. Petersburg, den 15. Mai 1S90

Geheim

Herr von Giers ist seit einigen Tagen unwohl, sodaß er sich vorgestern nicht zum regelmäßigen Dienstagsvortrage nach Gatschina begeben konnte; gestern jedoch war er imstande, die fremden Vertreter, wie am Mittwoch übHch, zu empfangen, obwohl er sich noch matt fühlte.

An einigen seiner allgemeinen Bemerkungen und Redewendungen konnte ich bald erkennen, daß er etwas ganz Besonderes mit mir vorhabe, und in der Tat brachte er nach längerem Gespräche über gleichgültige Dinge ein Schriftstück zum Vorschein, welches, drei Foiio- seiten ausfüllend, von des Grafen Lamsdorff feiner Hand auf Velinpapier geschrieben und mit einigen Randbemerkungen des Zaren versehen war. ,,Dies ist'*, so hub Herr von Giers an, „der Text des Telegramms, in welchem Graf Schuwalow am 20./8. März d. Js. über die Unter- redung Bericht erstattete, m.it welcher ihn Seine Majestät der Kaiser und König beehrte, als allerhöchstderselbe den Botschafter zu sich in das Schloß beschieden hatte; diese Depesche ist außer meinem Souverän und dem Grafen Lamsdorff, der sie entziffert und mundiert hat, niemandem bekannt; obwohl vvir uns über diesen Gegenstand schon ausgesprochen haben, glaube ich doch, Ihnen dieses Telegramm vor- lesen zu sollen."

Als die Lektüre beendet war, sagte ich, daß ich durch dieselbe nichts Neues erführe, weil mir Graf Schuwalow, als ich ihn in jenen Märztagen in Berlin häufig sah, die entsprechenden Mitteilungen ge- macht und von mir die notwendigen Aufklärungen erhalten habe.

2 Die Große Politik. 7. Bd 17

Der russische Minister entwickelte mir hierauf ähnlich, aber mit noch mehr Wärme als in unserer Unterredung: vom 31. März d. Js. (Confer: Geheimen Bericht Nr. 103 vom 3. April d. Js.*) die Gründe, weiche es ihm bedauerlich erscheinen lassen, daß vom 18. Juni d. Js. ab kein schriftliches Abkommen mehr zwischen uns bestehen solle; er lege gar keinen Wert auf die weitgehenden Abmachungen des Zusatz- protokolls oder auf jene Adjektive wie „preponderante et decisive", welche nicht durch ihn, sondern teils durch Herrn Saburow, teils durch Graf Schuwalow hineingebracht worden seien; ihm sei es einzig und allein darum zu tun, daß etwas Schriftliches vorhanden sei, welches die wesentliche Grundlage der jetzt bestehenden guten Beziehungen vom Wechsel der Personen unabhängig mache.

„Ich will mich nicht rühmen," sagte Herr von Giers, „aber Sie wissen es ja doch ,que je suis le ressort', auf welchem die jetzige Politik beruht; morgen kann ein anderer hier auf diesem Stuhle sitzen, und für diesen Fall möchte ich etwas Bindendes zurücklassen.''

Als ich auch diesen Argumenten gegenüber in meiner Zurück- haltung verharrte und zu verstehen gab, daß ich die Frage der Er- neuerung unseres Vertrages als eine bereits erledigte ansehen müsse, fuhr der Herr Minister fort, den Nutzen einer schriftlichen, wenn auch nur die Hauptlinien festlegenden Abmachung zu besprechen und mit aufrichtiger Überzeugung das Mißliche hervorzuheben, welches darin liegt, daß nach dem 18. Juni gar nichts an die Stelle des Bestehenden treten, und dieses somit völlig ins Leere fallen solle. „Es bedürfe ja gar keines Vertrages," sagte Herr von Giers, „ein Austausch von Noten würde genügen vielleicht ein Briefwechsel zwischen den Monarchen."

Euere Exzellenz wollen aus diesen Andeutungen des russischen Ministers hochgeneigtest entnehmen, daß er triftige Gründe haben muß, um in so dringender Weise und in der immerhin ungewöhn- lichen Form des Hinweises auf Eröffnungen, welche unser alier- gnädigster Kaiser und Herr dem russischen Botschafter gemacht hat, auf das Verlangen nach einer schriftlichen Abmachung zurückzukommen, durch welche vor allem anderen der russischen Regierung die Möglich- keit genommen wird, sich mit Frankreich zu gemeinschaftlichem Vor- gehen zu koalisieren. Aus der Bereitwilligkeit des Herrn von Giers nicht nur das „Protocole additionnel et tres secret", welches uns zum „concours en Bulgarie" und zum „appui moral et diplomatique" an den Meerengen verpflichtet, fallen zu lassen, sondern auch auf die Anerkennung der „influence preponderante et decisive en Bulgarie et en Roumelie" zu verzichten, wollen Euere Exzellenz ferner ersehen, daß die Motive des Ministers nicht in der Absicht, aktiv auf der Balkan- halbinsel vorzugehen, zu suchen sind. Ich habe demnach, indem ich die Worte des Herrn von Giers pflichtgemäß zu Euerer Exzellenz Kenntnis

* Siehe Nr. 1370. 18

bringe, nur hinzuzufügen, daß nach meinem ehrerbietigen Dafürhalten der Augenblick günstig ist, um uns die Neutralität Rußlands im Falle eines französischen Angriffs zu sichern, ohne Verbindlichkeiten zu er- neuern, welche mit unseren vertragsmäßigen Verpflichtungen gegen andere Mächte unvereinbar sind. Ich darf hierbei nicht unterlassen, die unvorgreifliche persönliche Ansicht auszusprechen, daß, wenn wir die weit entgegenkommenden Anträge des russischen Ministers völlig abweisen, er oder sein Nachfolger gezwungen sein würde, die Anlehnung, die er bei uns nicht findet, anderwärts zu suchen.

Herrn von Giers gegenüber habe ich mich einstweilen reserviert und fast nur zuhörend verhalten ; als ich im Laufe des Gespräches unseres ihm bekannten Vertrages mit Österreich Erwähnung tun mußte, sagte der Herr Minister, Rußland hätte diesem Vertrage beitreten können, wenn er nicht auch Italien einschlösse.

Beiläufig erwähnte Herr von Giers, daß er dem Grafen Schuwalow keinen Auftrag erteilen werde. Schritte in dem Sinne, in welchem er zu mir gesprochen habe, zu tun; ich antwortete ihm, daß ich dies sehr richtig fände; obwohl ich ihm nicht zugesagt habe, seine Mitteilungen ad referendum zu nehmen, so werde ich doch, ehe er in seine finn- ländische Sommerwohnung zieht, was gleich nach dem Besuche des Kronprinzen von Italien, also in etwa 14 Tagen, geschehen wird, seine Anregung durch eine Rückäußerung erwidern müssen.

V. S c h w e i n i t z

Nr. 1373

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler von Caprivi

Eigenhändiger Privatbrief

Geheim St. Petersburg, den 16. Mai 18Q0

Eure Exzellenz werden aus meinem Ihnen heute zugehenden ge- heimen Berichte Nr. 148 vom 15. d. Mts.* ersehen haben, daß Herr von Giers auf den Gedanken, welchen er mir am 31. März d. Js. aus- sprach, und den ich in Nr. 103 vom 3. April** meldete, zurückgekommen ist, nämlich auf den Wunsch, daß an die Stelle des am 18. Juni d. Js. ablaufenden Vertrages etwas anderes treten möge.

Um seiner damaligen Anregung, welche bisher ohne Echo ge- blieben ist, Nachdruck zu geben, las mir jetzt Herr von Giers den Text des Telegramms vor, in welchem Graf Schuwalow über die Er- öffnungen Bericht erstattet, mit denen ihn unser allergnädigster Kaiser

* Siehe Nr. 1372. ** Siehe Nr. 1370.

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und Herr am 20. März d. Js. im Königlichen Schlosse, wohin der Bot- schafter berufen worden war, beehrt hat.

Insoweit als mein Gedächtnis mich nicht im Stiche läßt, glaube ich alle wesentlichen Sätze des Schuwalowschen Telegrammes in der bei- Hegenden Aufzeichnung* wiederzugeben, welche ich gemacht habe, sobald ich in meine Wohnung zurückgekehrt war; die Stelle, auf welche es ankommt, habe ich unterstrichen.

Aus Gründen, welche Eure Exzellenz hoffentlich billigen werden, hielt ich es nicht für angemessen, die kaiserlichen Worte in meinen amtlichen Bericht aufzunehmen; ich ziehe es vor, den Wechsel auf Sicht, den mir Herr von Giers präsentiert hat. Eurer Exzellenz gehor- samst zu überreichen mit dem Anheimstellen, davon nach eigenem hohem Erachten Gebrauch zu machen.

Ich hahe es nicht für ratsam, die Hand, welche der Zar nochmals ausstreckt, zurückzustoßen; dagegen scheint es mir wohl möglich in Anbetracht der herabgeminderten Ansprüche Rußlands, etwas Schrift- liches zu vereinbaren, welches, selbst wenn es einmal bekannt werden sollte, nicht gegen uns verwertet werden könnte und uns doch die Neutralität Rußlands mindestens für die ersten Wochen eines französi- schen Angriffskrieges sichern würde.

Indem ich diese Erwägungen Eurer Exzellenz ehrerbietig unter- breite, bitte ich, eine allerhöchste Entscheidung über die für unser ferneres Verhältnis zu Rußland maßgebende Frage hochgeneigtest her- beizuführen: ob ich auf die erneute Anregung des Herrn von Giers eingehen soll?

V. S c h w e i n i t z

Anlage

Eigenhändig

St. Petersburg, den 14. Mai 1890 Geheim

Der russische Minister der Auswärtigen Angelegenheiten las mir heute ein Telegramm des Graf en Schuwalow vom 20. oder 21. März d. Js. vor; die nachstehenden Aufzeichnungen, welche ich mir machte, so- bald als ich in meine Wohnung zurückgekehrt war, geben die wesent- lichen Sätze des Telegrammes wieder, wenn auch ohne Verbindung und vielleicht nicht in der richtigen Reihenfolge**.

Personnel et secret. Berlin 21/9 mars 1890. Hier matin l'Empereur

* Siehe Anlage.

♦* Zur Kontrolle vgl. den auszugsweise bei Goriainow a. a. O., p. 343 f. in eng- lischer Übersetzung mitgeteilten Wortlaut des Schuwalowschen Telegramms vom 21. März.

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m'a invite de venir chez lui; Sa Majeste m'a dit qu'elle se trouvait dans la triste necessite de se separer du chancelier. L'Empereur n'avait pas cru que ce moment fut si proche, mais il est convaincu de ne pas pouvoir remettre la penible decision parceque depuis quelques semaines le Prince de Bismarck souffre d'une teile surexcitation des nerfs, qu'on doit s'attendre ä tout moment ä une grave maladie.

Excepte quelques divergences dans la politique Interieure il n'y a pas de motifs politiques pour cette Separation; c'est uniquement pour des raisons de sante, c'est pour le sauver, que l'Empereur lui donne sa liberte. Sa Majeste a continue: „Je veux que Votre Souverain, qui est mon ami et qui a toujours ete tres-bon pour moi, sache, que rien ne sera change dans nos relations; la politique, que le chancelier a faite, n'etait pas la sienne, c'etait celle de mon grand-pere et c'est la mienne."

„— Le Comte Herbert Bismarck m'a dit, que Vous hesitez ä con- tinuer les negociations sur le renouvellement de notre traite secret en vue du changement qui s'opere; faites savoir ä Votre Souverain, que je suis tout pret ä entrer dans ses vues."

L'ambassadeur a repondu, qu'en effet il avait cru devoir prendre

l'avis de son gouvernement, auquel il s'empresserait maintenant de communiquer les gracieuses assurances de Sa Majeste.

L'Empereur a dit: „Je desire que le Comte Herbert Bismarck reste; Vous etes son ami, tächez de le convaincre, qu'il ne doit pas insister sur sa demission; les conseils de son pere pourront toujours etre utiles ä sa gestion des affaires,"

„Je sais qu'on s'occupe des Conferences militaires, auxquelles j'ai convoque mes generaux en chef des corps d'armee; excepte quelques changements d'organisation, il ne s'y agit que des mesures ä prendre en cas de desordres, qui pourraient se produire par l'excitation de la classe ouvriere dans quelques districts.

„A mon avenement au trone on a repandu le bruit que j'etais

belliqueux et que j'aspirais ä la gloire militaire; il n'en est rien. Je ne veux que la paix au dehors et l'ordre dans I'interieur."

Hierzu hat Kaiser Alexander die Randbemerkung gemacht: „Das ist genau dasselbe, was ich will."

Graf Schuwalow schließt sein Telegramm mit der Bitte, instand gesetzt zu werden, auf die allerhöchsten Eröffnungen in geeigneter Weise zu antworten; auf Befehl des Zaren wurde ihm sofort telegra- phisch aufgetragen, dessen Dank, Befriedigung und Bereitwilligkeit, die Verhandlung zum Abschluß zu bringen, auszusprechen.

V. S c h w e i n i t z

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Nr. 1374 Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt von Holstein

Eigenhändig

Berlin, den 20. Mai 1890 In dem geheimen russisch-deutschen Vertrage nebst Zusatzprotokoll* übernehmen wir Verpflichtungen zur Unterstützung von Rußland ^

1. Hinsichtlich der russischen Rechte auf Bulgarien;

2. Hinsichtlich des Verschlusses der Meerengen.

Jede dieser Verpflichtungen ist einmal im Vertrage, einmal im Zusatzprotokoll erwähnt.

General von Schweinitz schreibt jetzt, der Passus wegen Bul- garien solle aus Vertrag und Zusatzprotokoll, der Passus wegen Ver- schlusses der Meerengen aus dem Zusatzprotokoll ausgemerzt werden.

Der auf Verschluß der Meerengen bezügliche Passus des Ver- trages würde also in Kraft bleiben.. Danach sind wir verpflichtet, in Konstantinopel auf fortdauernden Schluß der Meerengen hinzuwirken.

Schon während der russisch-afghanischen Verwickelung 1885 haben wir in diesem Sinne in Konstantinopel gewirkt** und wesentlich dadurch den englisch-russischen Krieg verhindert, der sehr nahe war. Durch die SchHeßung der Meerengen wurde Rußland für England unver- wundbar.

Wenn wir die Meerengenklausel jetzt verlängern, so muten wir den Russen zu, eine Tatsache geheimzuhalten, die, wenn vertrau- lich den Engländern mitgeteilt, den Keil des Mißtrauens zwischen England und Deutschland schieben, dagegen aber Moriers*** Gedanken einer englisch-russischen Verständigung der Verwirklichung näher bringen würde. Nach Moriers Plan soll England sich von der Balkan- halbinsel desinteressieren, wenn Rußland verspricht, sich Indien nicht mehr zu nähern.

Abgesehen von der Meerengenklausel würde die bloße Tatsache, daß zwischen uns und Rußland ein geheimer Vertrag besteht, zerstörend auf unsre Vertragsbeziehungen zu Österreich, Rumänien und Italien wirken f. Insbesondere hat Italien nach dem Wortlaute des deutsch- italienischen Vertrages ausdrücklich das Recht, von uns unterrichtet zu werden sur nos propres dispositions ainsi que sur Celles d'autres puissances in allen Fragen, die sich auf das Ägäische Meer, auf otto- manische Küsten und Inseln beziehen.

Alles aber, was Mißtrauen gegen Deutschlands Politik erwecken kann, würde im gegenwärtigen Augenblick besonders wirksam sein, da manche neuerdings bekannt gewordenen Äußerungen des Fürsten

* Siehe den Text in Bd. V, Kap. XXXIV, Nr. 1092. *♦ Vgl. Bd. IV, Kap. XXII, Nr. 764, 765. *** Englischer Botschafter in Petersburg, t Vgl. S. 6 f., Fußnote.

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Bismarck schon an sich geeignet sind, unsre Verbündeten unsicher zu machen. Es wird genügen, hier an den Ausspruch des Fürsten gegen- über dem Korrespondenten der „Nowoje Wremja" zu erinnern, daß die Zuicunft dem russisch-deutschen Bunde gehören dürfte*.

Diese ungünstige Zeitlage bietet uns einen plausiblen Qrund zur Ablehnung bezw. dilatorischen Behandlung des russischen Ansinnens. Wir können den Russen erwidern, daß die neue Regierung sich öffent- lich für die Kontinuität der deutschen auswärtigen Politik ausgesprochen habe, daß sie daher vor der Welt nicht ganz außer Verbindung zu stehen scheine mit den Grundsätzen, welche Fürst Bismarck als die- jenigen der bisherigen deutschen Politik bezeichne. Es sei deshalb für uns nötig, eine Klärung der öffentlichen Meinung abzuwarten. Außerdem seien die Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel, soviel hier bekannt, nicht solche, die zu schneller Entscheidung drängen.

Dabei dürfte schon jetzt mit Nutzen die Andeutung zu machen sein, daß Abmachungen unverfänglicher Art das Tageslicht nicht würden zu scheuen haben; daß andrerseits eine Abmachung mit Rußland seiner- zeit nur als öffentlicher Akt für uns denkbar sein würde, damit unsre Verbündeten sich überzeugen könnten, daß weder wir noch Ruß- land vertragsmäßige Rechte zu verkürzen beabsichtigten.

Herrn von Schweinitz wird man zu persönlicher Information und zur Regelung seiner Sprache auch noch mitteilen können, daß die Geheimhaltung uns durch den Wortlaut des deutsch-italienischen Ver- trages direkt verboten ist. Holstein

Randbemerkung von Caprivis:

^ Auch Neutralität in einem russisch-englischen Kriege, v. C.

Nr. 1375

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Eigenhändig

Berlin, den 20. Mai 1890

Zu dem Promemoria des Herrn von Holstein**. Ich bin mit dem anliegenden Promemoria vollkommen einver- standen. Die Gründe, welche gegen die Verlängerung des am 18. Juni

* Nach dem in den „Hamburger Nachrichten" vcm 23. und 21. Mai veröffent- lichten authentischen Wortlaut des Interviews hätte Fürst Bismarck zu dem Korrespondenten der „Nowoje Wremja" Lvvovv nur gesagt: „Sie finden, daß nur Rußland und Deutschland eine Zukunft haben, darin liegt viel Wahres: wenigstens war das auch mein steter Gedanke bis zum Schlüsse des Berliner Kongresses; aber dann begriff ich, daß es für Sie und uns schwer ist, in dieser Hinsicht zusammenzugehen, denn Sie fingen an, uns zu behandeln wie wirkliche Prussaken, wie ein Ungeziefer, und das diente zur Schädigung unserer Beziehungen." Penzler, Fürst Bismarck nach seiner Entlassung Bd. 1, S. 38. ** Siehe Nr. 1374.

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ablaufenden deutsch-russischen Vertrages sprechen, treffen in der Haupt- sache auch bezüglich des neuerlichen russischen Vertragsangebotes zu. Daß sich Rußland bereit erklärt, einige Punkte aus dem bisherigen Vertrage zu beseitigen, die geeignet sind, ihres materiellen Inhalts wegen uns gegenüber unsern Verbündeten zu kompromittieren, er- scheint mir irrelevant der entscheidende Punkt bleibt der, daß wir durch jede geheime Abmachung mit Rußland dem letzteren eine Waffe in die Hand geben, um in wirksamer Weise bei unseren Ver- bündeten Mißtrauen gegen uns zu erwecken, während Rußland aus der bloßen Existenz einer Abmachung, die wir gegenüber unseren Verbündeten geheimzuhalten uns verpflichten, die Zuversicht schöpfen wird, daß der Dreibund nicht das Maß innerer Festigkeit besitzt, um eventuell einheitlich in Aktion zu treten.

Als plausibelster Ablehnungsgrund des russischen Vorschlags bietet sich der, daß bei den an den verschiedensten Stellen hervortretenden Versuchen, gegen die auswärtige Politik Seiner Majestät Mißtrauen zu erwecken, die letztere, zumal angesichts des eingetretenen Personen- wechsels und der dadurch bedingten Erregung, mehr als je darauf angewiesen ist, durch eine offene, klare Politik das Vertrauen in die Kontinuität der bisherigen friedliebenden Tendenzen zu befestigen, und Deutschland daher außerstande ist, zurzeit auf geheime Ab- machungen einzugehen, die, auch wenn sie sich inhalthch mit den bestehenden Verträgen decken, doch geeignet sind, eben wegen ihrer Geheimhaltung die deutsche PoUtik in ein verfängliches Licht zu stellen.

Marschall

Nr. 1376

Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt

von Kiderlen

Eigenhändig

Berlin, den 20. Mai 18Q0 Die Wichtigkeit, welche sowohl russischer- als englischerseits der Wasserstraße zwischen Schwarzem und Ägäischem Meer beigelegt wird, und die Verschiedenheit der Interessen, die Rußland einer- und Eng- land andrerseits an der Schließung resp. Öffnung der sogenannten „Meerengen" haben, tritt deutlich hervor in den Erklärungen, welche die Vertreter der beiden Staaten während des Berliner Kongresses ab- gegeben haben*.

Lord Salisbury gab in der 18. Sitzung folgende Erklärung zu Pro- tokoll:

Vgl. Bd. M, S. 334, Fußnote. 24

„Considerant que le Traite de Berlin changera une partie im- portante des arrangements sanctionnes par le Traite de Paris de 1856, et que l'interpretation de l'article 2 du Traite de Londres qui depend du Traite de Paris peut ainsi etre sujet ä des contestations,

Je declare de la part de TAngleterre que les obligations de Sa Majeste Britannique concernant la clöture des Detroits se bornent ä un engagement envers le Sultan de respecter ä cet egard les determi- nations independantes de Sa Majeste, conformes ä Tesprit des Traites existants."

In der darauffolgenden 19. Sitzung erklärte Graf Schuwalow:

„Les Plenipotentiaires de Russie, sans pouvoir se rendre exacte- ment compte de la proposition de M. le Second Plenipotentiaire de la Grande Bretagne concernant la clöture des detroits, se bornent ä demander de leur cöte l'insertion au Protocole de Pobservation : qu'ä leur avis, le principe de la clöture des detroits est un principe europeen, et que les stipulations conclues ä cet egard en 1841, 1856 et 1871, con- firmees actuellement par le Traite de Berlin, sont obligatoires de la part de toutes les Puissances, conformement ä l'esprit et ä la 'ettre des Traites existants, non seulement vis-ä-vis du Sultan, mais encore vis-ä-vis de toutes les Puissances signataires de ces transactions."

Die Verschiedenheit dieser Anschauungen erhielt praktischen Aus- druck, als im April und Mai 1885 ein englisch-russischer Krieg wegen Afghanistans auszubrechen drohte. Englands ganzes Bestreben war darauf gerichtet, freie Durchfahrt durch die Dardanellen zu erhalten. Zunächst suchten die englischen Staatsmänner zu diesem Zweck ein Bündnis mit der Türkei zu schließen allerdings erfolglos. Welchen Wert man englischerseits auf die Durchfahrt legte, beweist, daß man als Preis dafür bereit war, der Türkei Besetzung Ägyptens und des Suez- kanals, freie Hand in Bulgarien und 25 Millionen Pfund Sterling zu bewilligen. Andrerseits drohte man dem Sultan mit völliger Los- trennung Ägyptens. Als dann Neutralität der Türkei wahrscheinlich wurde, bestritt man englischerseits die Theorie der andern Mächte, daß Neutralität der Türkei die Pflicht der Schließung der Meerengen auferlege. Dies biete den Russen einen solchen Vorteil, daß man die Neutralität nur dahin auslegen könne, daß die Meerengen beiden Krieg- führenden gleichmäßig geöffnet sein müßten. Diese Ansicht vertrat anfänglich auch Italien, welches dieselbe nur auf energischen Druck aus Berlin, dem sich dann Österreich anschloß, fallen ließ.

Die Mächte schlössen sich damals der russischen Auffassung an, türkische Neutralität bedinge Schließung der Meerengen, Dies ist aber ausdrücklich als Begünstigung Rußlands anerkannt.

Auf Grund des geheimen Vertrags zu Dreien von 1881, erneuert 1884, Artikel 3 Alinea 3* wirkten Deutschland und Österreich, denen

* Siehe Bd. III, Nr. 532 und Nr. 630.

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sich später Frankreich und Itahen anschlössen, in Konstantinopel auf Neutralitätserklärung und Schließung der Dardanellen. Dies wurde er- reicht und damit den Russen die Basis aller transkaspischen Opera- tionen, gegen Herat etc., der Kaukasus in Rücken und Flanke gedeckt. Der Friede blieb erhalten, England trat den diplomatischen Rückzug an. Sowohl Herr von Giers gegenüber Herrn von Schweinitz als Fürst Lobanow gegenüber Graf Kälnoky erkannten ausdrücklich an, daß durch die von Deutschland und Österreich durchgesetzte Schließung der Meerengen das russische Interesse vollständig gedeckt ge- wesen, und der Friede zugunsten des diplomatisch obsiegenden Ruß- lands erhalten worden sei. Rußland erreichte damals also durch den Vertrag zu Dreien alles das, was es jetzt von uns allein, hinter dem Rücken unserer Verbündeten verlangt.

Deutschland und Österreich waren dabei so weit gegangen, Ruß- land sogar eine „tätliche Pression" auf den Sultan wegen Neu- tralität, Schließung und eventueller Verteidigung der Meerengen in Aussicht zu stellen.

Wie Rußland, das nur Schließung der „Meerengen" wünschte und eine Befestigung der Dardanellen ganz natürlich fand, die Sache eigentlich auffaßte, geht daraus hervor, daß es sich am 18. Mai 1885 in Wien darüber beschwert, daß die Türken bei der Gelegenheit auch den Bosporus befestigt hätten! Und dabei hatte Kaiser Alexander II. nach Behauptung des Grafen Andrässy seiner- zeit diesem ausdrücklich erklärt, Rußland denke nicht daran, die Meer- engen zu nehmen.

Die Schließung der Meerengen hat noch eine weitere Bedeutung. Rußland erklärte wiederholt, eine Öffnung der Meerengen für fremde Flotten käme einer türkischen Kriegserklärung an Rußland gleich. Er- kennen wir die Pflicht zur Schließung an, müssen wir also auch die zweite Konsequenz ziehen und Öffnung der Meerengen als türkische Kriegserklärung an Rußland ansehen und damit diesem das Recht zu- erkennen, an jedem der Oberhoheit des Sultans unterworfenen Punkte, also auch in Bulgarien, als der angegriffene Teil einzurücken.

Als wir uns dazu herbeiließen, in Konstantinopel auf Schließung der Meerengen im Fall eines englisch-russischen Kriegs hinzuwirken, geschah dies eingestandenermaßen für Rußland, gegen Eng- land. Dies geht klar daraus hervor, daß der Gedanke, den Sultan auch zur Befestigung der Dardanellen aufzufordern, als zu „weit- gehende Maßregel" wenigstens amtlich abgelehnt wurde. Esgeschah unter der Hand, „wir dürfen damit aber wegen Englands nicht hervortreten". Der Vorschlag, in London und Petersburg die Aner- kennung der Unverletzlichkeit der Meerengen als ein Vertragsrecht zu fordern, wurde als ein „Schachzug gegen England" bis nach fak- tischem Ausbruch des Kriegs zurückgestellt. Ebenso wurde der tür- 26

kische Wunsch einer Bewachung der Eingänge zu den Meerengen durch neutrale Schiffe behandelt.

Noch kürzlich hat Lord Salisbury unserer damaligen Haltung Graf Hatzfeldt gegenüber erwähnt*. Lord Salisbury sagte dabei: ,,Zu den gegen uns gerichteten Befestigungen an den Dardanellen hat sich der Sultan seinerzeit durch Ratschläge aus Berlin bestimmen lassen. Das ist aber der wichtigste Punkt für die Entwicklung der Dinge. VC^oilen Sie unserem gemeinschaftUchen Interesse einem russischen Vorgehen gegenüber ernstHch nützen, so würde dies dadurch geschehen, daß Sie jene Ratschläge rückgängig machen und nach Möglichkeit dafür sorgen, daß wir eventuell die Tür nicht verschlossen finden."

Das beweist klar, wie in London eine russische Indiskretion über eine vertragsmäßige deutsche Garantie der Unverletzlichkeit der Meer- engen wirken würde.

Was Italien betrifft, so ist einmal daran zu erinnern, daß dieses schon 85 den englischen Standpunkt vertrat und sich unserem nur widerwillig anschloß, sodann hervorzuheben, daß wir dasselbe stets auf England in allen Mittelmeerfragen verwiesen haben, und daß infolge- dessen eine italienische Lieblingsidee für den Fall eines russischen Vor- gehens im Orient eine gemeinschaftliche englisch-italienisch-österrei- chische Flottendemonstration gegen die Dardanellen ist, der wir dann vertragsmäßig feindUch gegenüberstehen müßten.

Kiderlen

Nr. 1377

Auf Zeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt

Raschdau**

Eigenhändig

Berlin, den 20. Mai 1890

Fürst Bismarck hat gelegenthch den Ausspruch getan, man müsse bei jedem internationalen Vertrage zunächst fragen „qui trompe-t-on ici?" Der Satz gilt von dem vorliegenden Vertrage in erhöhtem Maße, und in erhöhtem Maße Hegt auch die Schwierigkeit auf beiden Seiten vor, ihn in eventu zu erfüllen. Rußland hat nur das eine versprochen, sich im Falle eines französischen Angriffs auf uns neutral zu ver- halten und den Konflikt zu lokalisieren. Niemand (nach gelegent- lichen Anmerkungen auch Fürst Bismarck nicht), wird bezweifeln, daß, selbst wenn wir die dergestalt Angegriffenen wären und Frankreich im Kampfe in eine schwierige Lage käme, der russische Kaiser außer- stande wäre, eine neutralite bienveillante zu beobachten. Außerdem aber ist nichts leichter, als den Begriff attaque in behebiger Weise zu kon-

* Siehe Bd. IX, Kap. LV, Nr. 20Q6.

** Vgl. dazu L. Raschdau, Das Ende der deutsch-russischen Rückversicherung in

„Der Tag", Ausgabe B (rot), vom 17. Oktober 1920.

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struieren. Wenn ein französischer General ä la Boulanger die deutsche Grenze so bedroht, daß wir losschlagen müssen, so fällt der einzige Vorteil, den uns der Vertrag gewährt, nach aller Voraussicht überhaupt fort. Alle übrigen Bestimmungen des Vertrages und Annexes aber sind Konzessionen von unserer Seite, für die uns keinerlei Entgelt gewährt wird. Das sehen heute die Russen selbst ein und verzichten darum aus freien Stücken auf verschiedene Zugeständnisse. Bei der Natur des Kaisers Alexander und der Zaghaftigkeit des Herrn von Giers ist nicht ausgeschlossen, daß der Zweck der neusten Demarche (Erneuerung jenes Vertrages) ein friedlicher ist. Vielleicht besorgt man an der Newa, daß mit dem Erlöschen des 1887er Vertrages die Er- eignisse ins Rollen kommen können, und man wünscht dies an höchster Stelle nicht oder wenigstens jetzt nicht. Neben dieser Möglichkeit aber steht die andere, daß ein solcher geheimer Vertrag ausgebeutet wird, um Mißtrauen bei den uns alliierten Mächten zu säen und damit den Hebel an die verhaßte Tripelallianz zu setzen. Bis jetzt liegt uns meines Wissens kein Anzeichen vor, daß die Existenz des Vertrages von Rußland nach außen hin ausgebeutet worden sei. Wir wissen nur, daß seinerzeit Fürst Lobanow von der Tatsache (nicht von dem Inhalt) des Vertrages Kenntnis erhalten habe. Heute könnten uns die Russen schwer- lich damit kompromittieren, da der jetzige verantwortliche Leiter der auswärtigen Politik des Reichs dann mit der Erklärung an die Öffent- lichkeit treten könnte, dieser Teil der Erbschaft sei nur für eine kurz bemessene Zeit übernommen. Vielleicht könnte es aber deshalb den Russen darum zu tun sein, von uns jetzt ein neues ähnliches Schrift- stück zu erhalten. Man mag nun die eine oder andere der beiden ge- schilderten Möglichkeiten annehmen, so werden wir einiges gewinnen und nichts verlieren, wenn wir die russische Anregung nicht ohne weiteres abweisen, sondern mit einem gewissen platonischen Entgegen- kommen ihre Anerbietungen anhören. Wir werden ihnen zunächst der Tatsache entsprechend sagen können, daß der Vertrag ein „leoninischer" sei, bei dem fast der gesamte Vorteil auf russischer Seite liege selbst dann noch, wenn die additioneilen Bestimmungen In Fortfall kämen. Wir werden weiter zu dem Artikel II des Hauptver- trages (in dem übrigens Herr von Giers die Worte influence prepon- dcrante et dccisive opfern will), bemerken können, daß wir vielleicht zustimmen könnten ä n'admettre aucune modification du statu quo territorial de la Peninsule, daß wir aber bei unserer Interesselosigkeit uns nicht verpflichten könnten ä nous opposer ä toute tentative pp., wenn damit eine kriegerische Mitwirkung gemeint sein solle. Diese und verschiedene andere einwendende Bemerkungen könnten münd- lich zu dem Texte gemacht und schließlich die Erklärung abgegeben werden, Rußland wisse, daß wir mit europäischen Mächten in ge- wissen vertragsmäßigen Beziehungen ständen, insonderheit sei unser Vertrag mit Österreich amtlich der russischen Regierung mitgeteilt. Wir

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würden, um bei den übrigen befreundeten Staaten über die friedliche Tragweite des Vertrages keine Mißdeutungen aufkommen zu lassen, denselben Mitteilung von dem Vertrage machen. Ja, wir hielten es für in hohem Maße erwünscht, wenn der modifizierte Vertrag zur öffentlichen Kenntnis käme, da es sehr wesentlich zur Beruhigung und Friedenssicherheit beitragen würde, wen-n ersichtlich würde, daß Angriffskriege von beiden Staaten nicht geduldet würden.

Auf diese Vorschläge wird sich aber Rußland nicht einlassen, und damit die Erneuerung des in seinem Gesamtinhalt mit unseren übrigen Verträgen nicht in Einklang zu bringenden Abkommens aussichtslos. Mit jenem Wege würden sich auch die Erklärungen Seiner Maje- stät zu Graf Schuwalow insofern vereinbaren lassen, als eine prin- zipielle Abneigung zum VertragsscWuß bei uns zunächst nicht her- vortritt.

Raschdau

Nr. 1378 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

Berlin, den 23. Mai 1890 Seine Majestät haben im heutigen Immediatvortrag zu genehmigen geruht, daß die in anliegender Skizze* enthaltenen Gesichtspunkte un- serem diplomatischen Verkehr mit Rußland zugrunde gelegt werden. Auch wollen allerhöchstdieselben, daß die russischen Anerbietungen nicht dilatorisch, sondern so behandelt werden, daß sie als definitiv erledigt anzusehen sind. Es soll in der Antwort an General von Schweinitz auf die Unmöglichkeit, unserer öffentlichen Meinung gegen- über ein kompliziertes Bündnissystem auch nach dem Ausscheiden des Fürsten Bisniarck aufrechtzuerhalten, hingewiesen werden. Se- krete Bündnisse aber abzuschließen, verbiete sich jetzt um so mehr, als das Verhalten des früheren Reichskanzlers ohnehin Indiskretionen erleichtere, Unsicherheit und Mißverständnisse fördere. Unsere Poli- tik aber könne und solle nur eine einfache sein.

Seine Majestät wünschten, daß Herrn von Schweinitz gegenüber auf die Worte hingewiesen würde, die Herr von Giers bei Erlöschen der Entente ä trois 1887 gebraucht habe**; die Lage sei für uns eine ähnliche.

Auf die Frage, was ich Seiner Majestät zu sagen riete, wenn man in Rußland auf die Zusagen zurückkomme, die er bei seiner Anwesenheit in Rußland als Prinz Wilhelm im Auftrage seines Herrn Großvaters und auf Anraten des Fürsten Bisniarck bezüghch der Rußland der

Siehe Nr. 1379. * Siehe Bd. V, Nr. 1073.

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Türkei gegenüber zu lassenden freien Hand gemacht habe*, habe ich erwidert, ich wäre der Ansicht, daß zu sagen sei, wir selbst wären am Marmarameer gar nicht interessiert, wir seien erbötig, auch dort auf Erhaltung des Friedens auch Österreich gegenüber hinzuwirken, könnten aber Rußland nur raten, sich an Österreich direkt zu wenden und mit dem zu verständigen.

Die obenerwähnte anliegende Skizze, sowie den Bericht des Herrn von Schweinitz vom 15. Mai** und den Privatbrief an mich vom 16. Mai nebst der Aufzeichnung vom 14. Mai*** habe ich Seiner Majestät in extenso vorgelesen, was ich Herrn von Schweinitz ausdrücklich zu sagen bitte, ehe die allerhöchste Entscheidung bezüglich der in der Skizze niedergelegten Gesichtspunkte erfolgt.

Ich bitte nun, die Skizze, soweit es rätlich scheint, ihrem Inhalt nach nicht bloß an Herrn von Schweinitz, sondern auch an üraf Hatzfeldt, Prinz Reuß, Graf Solms und Herrn von Radowitz mitzu- teilen f. Nach Bukarest wird wenigstens zu sagen sein, daß wir Wert auf dessen Haltung legten und nach wie vor auf dem Boden des Bündnisses stünden.

Seine Majestät haben im heutigen Vortrage auf das bestimmteste ausgesprochen, daß allerhöchstdieselben sich zu keiner mündlichen oder schriftlichen von den Grundzügen der Skizze abweichenden Äuße- rung gegen den Zaren würde bestimmen lassen.

V. C a p r i v i

Nr. 1379 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

Berlin, den 22. Mai 1890

Dreimal, seit Herr von Schweinitz mit der ablehnenden Antwort von hier nach Petersburg zurückgekehrt ist, hat er über Versuche des Herrn von Giers, auf die Erneuerung eines Vertrages mit Rußland hin- zuwirken, berichtet: unter dem 3. April, I.Mai und 15. Maiff. Die Art wechselte, gemeinsam bleibt aber den drei Versuchen: Italien wird nicht berücksichtigt. Dies und das Verhalten Rußlands auf der Brüs-

* Siehe Bd. III, Kap. XIX, Nr. 631-634.

** Siehe Nr. 1372.

♦** Siehe Nr. 1373 nebst Anlage.

t Die Mitteilung erfolgte durch Erlaß nach Petersburg Nr. 227 vom 29. Mai,

der wieder den Botschaftern in Wien, London, Rom und Konstantinopel nebst

Schweinitz' Bericht vom 15. Mai (siehe Nr. 1372) und einem anderweiten Erlaß an

diesen vom 29. Mai (siehe Nr. 1380) mitgeteilt wurde.

tt Siehe Nr. 1370, 137Z

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seier Konferenz* rechtfertigt den Schluß: man will den Dreibund sprengen und mit Italien auch England uns entfremden.

Wäre diese Folgerung falsch, wollte Rußland in der Tat nur den Frieden, so bedürfte es eines Bündnisses nicht, denn eine Störung des Friedens hätte die Welt zurzeit nur von Rußland zu erwarten; eine „bulgarische Gefahr" liegt nicht vor, wenn Rußland nicht will.

Die für uns unverfänglichste der russischen Andeutungen wäre die erneute Herstellung eines Bündnisses zu Dreien zwischen Rußland, Österreich und Deutschland. Hat indes Rußland 1887 Motive gehabt, darauf nicht einzugehen, so würden diese zurzeit latenten Motive um so eher wieder hervortreten, als die Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel in- zwischen den Gegensatz zwischen Rußland und Österreich mehr akzen- tuiert haben. Deutschland geriete in die Gefahr, eines Tages zwischen Rußland und Österreich wählen zu müssen. Entschieden wir uns dann für Österreich, so hätten wir dieselben Verhältnisse wie heut, nur minus Italien und guter Beziehungen zu England. Entschieden wir uns für Rußland, so wären wir ihm auf Gnade und Ungnade ergeben, Frankreich und Österreich stünden Rußland über lang oder kurz gegen uns zu Diensten.

Die übrigen Andeutungen des Herrn von Giers laufen alle auf geheime Abmachungen, sei es in Form eines Vertrages, Notenaus- tausches oder Briefwechsels der Monarchen, hinaus. Solches Geheim- nis aber legt eine Mine unter den jetzigen Dreibund, die Rußland alle Tage zünden kann.

Aber auch abgesehen hiervon, können wir in bezug auf eine Änderung der Verhältnisse in Bulgarien oder an den Meerengen keine, selbst keine mündliche Zusage machen. Wir erkennen nach wie vor die jetzigen Zustände in Bulgarien als illegal an, sehen aber anderer- seits ein, daß sie tatsächlich besser geworden sind, als sich erwarten ließ. Wir werden des persönlichen Interesses, welches der Kaiser von Rußland an den bulgarischen Dingen nimmt, nicht uneingedenk sein, ein eigenes Interesse, sie zu ändern, haben wir nicht, aber auf Öster- reichs Interesse am Bestehenden müssen wir Rücksicht nehmen.

Ebensowenig haben wir an den Meerengen ein direktes Interesse und noch weniger einen Grund, den Artikel III des geheimen Vertrages, der uns nötigen könnte, England und Italien dort direkt gegenüber- zutreten, wiederherzustellen. Diese beiden Mächte aber haben sehr triftige Gründe, nicht zu wünschen, daß sich Rußland und Frank- reich auf dem Mittelmeer die Hand reichen. Für uns würden dadurch die französisch-russischen Beziehungen dauernd festere und ungünstigere werden.

* Gemeint ist der seit Anfang Februar in Brüssel tagende Anti-Sklaverei-Kongreß, auf dem Rußland eine Annäherung an England suchte.

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Haben wir somit Iceinen Grund, welcher uns wünschen ließe, den gegenwärtigen Zustand im Osten zu ändern, so folgt aus den wie- derholten Versuchen Rußlands, daß dort das entgegengesetzte In- teresse dringend geworden ist. Rußland fühlt sich isoliert, möchte aber doch vielleicht weil die Verhältnisse in Bulgarien sich für russische Wünsche zu sehr konsolidieren einen Schritt weiter auf Konstantinopel hin tun. Die Verlegenheit für Rußland entsteht daraus, daß es diesen Schritt nur über das Schwarze Meer fort tun kann. Der Weg durch Armenien ist von der Natur überaus erschwert, der durch Rumänien stößt auf dessen Bundesgenossen. Der Weg über die See dagegen findet seine Gefahr in den Engländern. Deshalb vor allem die Meerengen schHeßen darauf geht der letzte Vorschlag des Herrn von Giers.

Eine Annäherung Deutschlands an Rußland also würde unsere Verbündeten uns entfremden, England schädigen und unserer eigenen Bevölkerung, die sich in den Gedanken des Dreibundes immer mehr eingelebt hat, unverständlich und unsympathisch sein.

Was gewönnen wir für diese Nachteile? Welchen Wert hätte es, wenn Rußland, wie Herr von Schweinitz sagt, sich mindestens die ersten Wochen nach einem Angriff der Franzosen auf uns ruhig ver- hielte? Diese Ruhe würde nicht so vollständig sein, daß wir nicht einen Teil unserer Armee an der russischen Grenze stehen lassen müßten. Wir würden gegen Frankreich doch nicht mit unserer gan- zen Kraft auftreten können, während auf der anderen Seite für Öster- reich der casus foederis nicht vorläge.

Man kann aber weiter an der Frage nicht vorübergehen: was sind denn Bündnisse heutzutage überhaupt wert, wenn sie nicht auf Interessengemeinschaft gegründet sind? Seit die Nationen, ihre In- teressen und Stimmungen, in einer so viel wesentlicheren Art als etwa im siebenjährigen Kriege an Krieg und Frieden beteiligt sind, reduziert sich der Wert einer Allianz von Regierung zu Regierung erheblich, wenn das Bündnis nicht die Stütze in der öffentlichen Meinung findet. Ob diese in Deutschland dahin zu bringen wäre, ihr Heil im unver- brüchlichen Festhalten an Rußland zu suchen, ist sehr die Frage; daß aber die öffentliche Meinung in Rußland uns nicht als gleichberech- tigten Bundesgenossen akzeptieren würde, ist fraglos. Ob Herr von Giers oder wer sonst die Geschäfte in Rußland leitet, keiner kann uns die Sicherheit geben, daß unser Bündnis mit Rußland nicht im gegebenen Augenblick durch den Druck der Massen gesprengt wird. Die un- sicherste Art von Bündnissen sind aber diejenigen, nach welchen casus foederis erst eintritt, wenn ein Teil angegriffen ist. Man kann einen Gegner geflissentlich solange mit Nadelstichen reizen, bis er losschlägt; liegt dann casus foederis vor? Rußland selbst hat früher durch die öffentliche Meinung sowohl als durch den Mund des Fürsten Gor- tschakow jeden Zweifel darüber beseitigt, daß es von Bündnissen wenig

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hält. Aber, wie Herr von Schweinitz sich treffend ausdrückt: Rußland sieht jetzt einen Zustand zu Ende gehn, welcher ihm Sicherheit ge- währte, ohne ihm Opfer aufzuerlegen.

Was aber die Möglichkeit angeht, daß Rußland die Anlehnung, die es bei uns nicht findet, anderswo suchen könnte, so kommen hier- für nur Frankreich und England in Betracht. Für den Schritt, den Rußland jetzt vorzuhaben scheint, und den es sichtlich tun möchte, ohne einen allgemeinen Krieg herbeizuführen, ist die französische Allianz ihm wertlos, solange die englische Mittelmeerflotte dazwischentreten kann. Durch eine engUsche Allianz würde Rußland das, was es von uns kostenfrei zu erhalten wünscht, nur durch Opfer an andern Stellen (Asien?) gewinnen können und seine Beziehungen zu Frankreich voraussichtlich lockern. Eine Allianz aber, die England und Frankreich umschlösse, ist der englischen Interessen im Mittelmeer wegen durch- aus unwahrscheinlich.

Wir haben unverändert den Wunsch, mit Rußland in guten Ver- hältnissen zu leben, und wüßten nichts, was uns einen Anlaß geben könnte, sie zu trüben. Aber wir müssen so weit Rücksicht auf unsere Verbündeten nehmen, daß, wenn wir sie auch sei es in Bulgarien oder in Biserta nicht unterstützen können und wollen, wir ihnen doch mindestens dort keine Schwierigkeiten bereiten. Drängt uns aber Rußland durch wiederholte Versuche einer intimeren Annäherung aus dieser Stellung heraus, so würde das nur die Folge haben können, daß wir diejenigen Bündnisse und Beziehungen, die uns schon jetzt mit anderen Staaten verbinden, noch enger zu knüpfen suchen müßten.

V. Caprivi

Nr. 13S0

Der Reichskanzler von Caprivi an den Botschafter in Petersburg

von Schweinitz

Reinkonzept

Nr. 22S Berlin, den 29. Mai 1890

Geheim [abgegangen am 31. Mai)

Euere pp. sind bei Ihrem letzten Aufenthalt in Berlin im März d. Js. ausführlich über die Gründe informiert worden, die uns trotz unseres aufrichtigen Wunsches, unsere guten Beziehungen zu Ruß- land zu erhalten und zu pflegen, veranlaßt haben, von der Erneuerung des am 18. Juni ablaufenden geheimen schriftlichen Abkommens Abstand zu nehmen. Ebenso ist Euerer pp. bekannt, daß wir entschlossen sind, auch ohne Erneuerung des schriftlichen Abkommens an der bis- herigen Richtung unserer auswärtigen Politik sowohl im allgemeinen als speziell Rußland gegenüber festzuhalten.

3 Die Große Politik. 7. Bd. 33

Die Gründe, die uns zwangen, das russische Anerbieten im März abzulehnen, sind für uns maßgebend auch den neuen Eröffnungen des Herrn von Oiers gegenüber, von denen mir Euere pp. in dem Be- richt Nr. 148 vom 15. d. Mts.* Kenntnis gegeben haben.

Nachdem Euere pp. der Notwendigkeit nicht entgangen sind, noch- mals die Frage der Vertragsverlängerung auf Grund erneuter dies- seitiger Instruktionen mit Herrn von Giers zu besprechen, beehre ich mich, Euere pp. zu ersuchen, die Giersschen Vorschläge unter Hinweis auf Ihre früheren Unterredungen (cfr. Bericht Nr. 103 vom 3. v. Mts.**) und unter Benutzung der Ihnen in Nachstehendem an die Hand ge- gebenen Motivierung in freundschaftlicher Weise zu beantworten.

Als es sich 1887 um Erneuerung der Verständigung zu Dreien handelte, ist die russische Ablehnung damit begründet worden, daß Rußland seiner eigenen öffentlichen Meinung gegenüber einen Vertrag nicht würde rechtfertigen können. Nach dem Bericht des Geschäfts- trägers von Bülow Nr. 137 vom 14. April 1887*** sagte damals Herr von Giers: „Ce n'est pas autant pour des raisons de politique etrangere qu'il (der russische Kaiser) n'en a pas envie, que pour des raisons de convenance. II craint decidement que signer ä present un traite avec l'Autriche lui ferait trop de tort devant le peuple russe et devant Thistoire si jamais la chose s'ebruitait."

Die Rücksichten, welche die autokratische russische Regierung da- mals auf das „russische Volk" nehmen zu müssen geglaubt hat, kommen jetzt für die KaiserUche Regierung zum mindesten in gleichem Maße zur Geltung.

Wir würden nicht in der Lage sein, den verschiedenen Faktoren unserer öffentlichen Meinung Verständnis für ein so kompliziertes Vertragssystem beizubringen, wie es durch den bisherigen Vertrag mit Rußland neben unseren sonstigen bekannten Bündnisver- trägen geschaffen worden ist. Das Prestige, das Fürst Bismarck in bezug auf auswärtige Politik sowohl im eigenen Lande als auch bei allen fremden Mächten hatte, würde es i h m vielleicht ermöglicht haben, die Vereinbarkeit der verschiedenen von uns eingegangenen Ver- bindlichkeiten der öffentlichen Meinung in Europa plausibel zu i'nachen. Nach dem Ausscheiden des Fürsten Bismarck kann mit dieser Mög- lichkeit nicht weiter gerechnet werden. Daß Herr von Giers einzelne Teile des Vertrags und das Zusatzprotokoll fallen lassen will, er- scheint irrelevant; die bloße Tatsache, daß zwischen uns und Rußland ein Vertrag besteht, den wir gegenüber unseren Verbündeten geheim- zuhalten uns verjiflichten, würde unser Bündnisverhältnis zu Österreich- Ungarn und Italien lockern, das Vertrauen in die Festigkeit und Ein- heit des Dreibundes erschüttern und damit die friedliche Tendenz kom-

Siehe Nr. 1372.

** Siehe Nr. 1370.

**♦ Irrtümlich für Nr. 147 vom 25. April 1887, siehe Bd. V, Kap. XXXIV, Nr. 1073.

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promittieren, welche wir in Übereinstimmung mit der russischen Re- gierung verfolgen.

Der Abschluß eines geheimen Vertrages verbietet sich aber für uns gerade in diesem Augenblick um so mehr, als unsere Gegner eifriger denn je am Werke sind, Mißtrauen gegen die deutsche Politik zu erwecken, und gleichzeitig der frühere Reichskanzler eine Haltung einnimmt, die geeignet erscheint, Indiskretionen zu erleichtern, die öf- fentliche Meinung zu verwirren und bei unseren Verbündeten Mißver- ständnisse über die Ziele der gegenwärtigen Regierung her\'orzurufen. Die Mitteilungen, welche in Friedrichsruh an Zeitungskorrespondenten von notorisch deutschfeindlicher Gesinnung gemacht wurden, haben begreiflicherweise die allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Es wird ge- nügen, an die Unterredung mit dem Reporter der „Nowoje Wremja" und den Ausspruch des Fürsten Bismarck zu erinnern, die Zukunft ge- höre dem russisch-deutschen Bündnis*. Solchen Bestrebungen und Vorgängen gegenüber muß die deutsche Politik eine einfache, durchsichtige sein, wenn anders verhindert werden soll, daß Un- ruhe und Unsicherheit entstehen, und damit eine Gefährdung des Frie- dens eintrete.

Ich hätte annehmen zu dürfen geglaubt, daß Herr von Giers auf die Frage der Vertragserneuerung nicht zurückkommen würde nach dem, was Ew. in dem Bericht Nr. 103** über die Ansichten des Kaisers Alexander in dieser Beziehung gemeldet haben. Wenn Ew. in jenem Bericht sagen: „Des eigenen ehrlichen Willens fest be- wußt und endlich ohne Mißtrauen gegen uns, fühlt dieser Monarch kein Bedürfnis nach schriftlichen Abmachungen", so gilt dies in gleicher Weise Punkt für Punkt auch von uns. Wir halten an der Überzeugung fest, daß Rußland wenigstens unter seinem jetzigen Kaiser, und so- lange Herr von Giers die Geschäfte leitet mit uns in Frieden und Freundschaft leben will, nehmen aber für uns selbst das gleiche Zutrauen in Anspruch. Auf dem Boden dieser beiderseitigen Überzeugung werden die gemeinsamen friedlichen Zwecke auch ohne Austausch von Schrift- stücken sicherer gefördert werden als mit geheimen schriftlichen Ab- machungen, deren eventuelles Bekanntwerden („si la chose s'ebruitait") zum mindesten Verwirrung anrichten würde.

Herr von Giers hat Ihnen nach Inhalt des soeben angezogenen Berichts gesagt, er seinerseits habe „gute Gründe", den Vertrag zu wün- schen, und hat damit nach Euerer pp. Ansicht andeuten wollen, daß er gern seinen eventuellen Nachfolger binden würde. Demgegenüber können Euere pp. Herrn von Giers an die Worte erinnern, die Ihnen Fürst Gortschakow im Jahre 1876 erwiderte, als Sie ihn wegen einer russischen Garantie gewisser deutscher Gebietsteile als Gegenleistung für unsere

* Vgl. S. 23, Fußnote ** Siehe Nr. 1370.

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Unterstützung in orientalischen Fragen sondierten: „Dies würde Ihnen wenig nützen; in unserer Zeit haben Traktate einen sehr geringen Wert" (cf. Bericht Nr. 1 d.d. Jalta, den I.November 1876)*.

Dies halte auch ich, wenn auch vielleicht nicht ganz in dem von Fürst Gortschakow gemeinten Sinne, für richtig. Seit die Nationen mit ihren Interessen und Stimmungen auf die Entscheidung über Krieg und Frieden einen so viel wesentlicheren Einfluß ausüben als etwa im siebenjährigen Kriege, reduziert sich der Wert einer Allianz von Regierung zu Regierung bedeutend, sobald sie nicht von der öffentlichen .Meinung getragen wird. Es wäre fraglich, ob Rußland eintretendenfalls, wenn wir in Krieg mit Frankreich kämen, dem Strom seiner öffentlichen Meinung gegenüber imstande oder unter einem neuen Leiter seiner äußern Politik willens wäre, den Bestimmungen des Artikels I des Vertrages die wohlwollende Auslegung zu geben, deren wir bedürfen, um aus diesem einzigen Paragraphen, in dem auch von Deutschlands Interessen die Rede ist, Vorteil zu ziehen.

Daß übrigens auch russischerseits für den Wert des Vertrags nicht als gleichgültig angesehen wird, wer an der Spitze der Geschäfte des einen der Kontrahenten steht, beweist die anfängliche russische Wei- gerung, mit einem andern Reichskanzler als Fürst Bismarck zu ver- handeln.

Hinsichtlich der übrigen Bestimmungen des Vertrages, die nur Rußland und seiner Stellung im Orient zugute kommen, können Euere pp. Herrn von Giers darauf hinweisen, daß die Zustände auf der Balkan- halbinsel zurzeit, soviel hier bekannt, nicht solche sind, welche zu schneller Entscheidung drängen.

Ich nehme an, daß Euere pp, in der Lage sein werden, an der Hand der vorstehenden Ausführungen die jüngsten Offerten des russi- schen Ministers höflich und freundschaftlich, aber definitiv abzulehnen, ohne daß auf russischer Seite eine Verstimmung zurückbleibt.

V. Caprivi

Nr. 1381

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Staats- sekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Eigenhändiger Privatbrief

Geheim Wien, den 4. Juni 18Q0

Euerer Exzellenz darf ich meinen ganz gehorsamsten Dank für die hochinteressante Mitteilung der Korrespondenz mit General von Schwei-

* Siehe Bd. II, Nr. 252. 36

nitz über die russischen Versuche, wietier ein geheimes Vertrags- verhältnis mit uns anzuknüpfen, aussprechen.

Euere Exzellenz haben mich nicht um meine Ansicht befragt, ich bitte daher, mir zu verzeihen, wenn ich mich trotzdem nicht enthalten kann, meine rückhaltlose Zustimmung zu den politischen Grundsätzen auszusprechen, welche in den an den Botschafter gerichteten Erlassen vom 29. V. Mts.* in so klarer und bestimmter Weise ausgesprochen sind.

Für einen unsicheren halben Verbündeten, den wir in höflicher Weise abgewiesen haben, gewinnen wir die Sicherheit, daß unsere alten Verbündeten nur um so fester an uns halten werden.

Ich habe in den letzten Jahren, als eine vage Vermutung des ge- heimen Abkommens von 1887 in mir auftauchte, mehreremals an geeig- neter Stelle darauf aufmerksam gemacht, daß meiner Überzeugung nach wir uns Österreich dauernd entfremden würden, wenn hier das kleinste Mißtrauen in unsere Zuverlässigkeit sich eindrängen sollte.

Fürst Bismarck hielt wenig von der Bundestüchtigkeit Österreichs und sah in diesem Bündnis nicht das Äquivalent für die Gefahren, denen wir, zwischen Rußland und Frankreich eingeklemmt, ausgesetzt sein könnten.

Es wäre verblendet, wollte man behaupten, daß die Macht und Tatkraft Österreichs an und für sich das Ideal dessen erreichte, was wir von einem Bundesgenossen erwarten können. Durch unsere Ratschläge und durch unser Drängen ist aber Österreich in den letzten drei Jahren militärisch unzweifelhaft vorwärts gegangen. Was mir indessen wich- tiger als die vollendete miHtärische Tüchtigkeit erscheinen will, das ist die Zuverlässigkeit und der redliche Wille unseres Alliierten, Bundes- treue zu halten, mag dieselbe nun in der harten Notwendigkeit ihren Grund haben oder nicht. Die besten Bündnisse sind die, welche auf dem Fundament des wohlverstandenen Interesses aufgebaut sind.

Ohne daß wir hier erzählen, was zwischen uns und Rußland vor- gegangen ist, wird man schon durchfühlen, daß Österreich, wenn es angegriffen wird, noch weit rückhaltloser auf uns zählen kann als früher; und die Folge davon wird naturgemäß sein, daß nicht nur die Freundschaft fester geknüpft sein wird, sondern auch daß man hier sich mehr als zuvor hüten wird, den zuverlässigen Freund in Verlegenheiten zu setzen. Denn daß man hier sehr wohl zu würdigen weiß, daß wir österreichischer Balkaninteressen wegen nicht in einen Krieg verwickelt werden wollen, ist zweifellos.

Soweit dies mit dem diskreten Charakter der ganzen Sache ver- einbar ist, werde ich die in den Erlassen nach Petersburg entwickelten allgemeinen politischen Gesichtspunkte hier vertraulich venverten.

H. VII. P. Reuß

SlehR Nr. 1380.

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. Nr. 1382

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 169 St. Petersburg, den 4. Juni 1890

Geheim

Die hohen geheimen Erlasse Nr. 227 und 228 vom 29. v. Mts.* habe ich am 2. d. Mts. durch königHchen Feldjäger zu erhalten die Ehre gehabt; heute, am letzten Empfangstage des Herrn von Giers vor seiner morgen erfolgenden Abreise nach Finnland habe ich die in jenen Er- lassen enthaltenen Aufträge ausgeführt.

In der freundschaftlichen Weise und mit der Offenheit, zu welcher ein vierzehnjähriger Verkehr mich berechtigt, der politisch fast immer geschraubt und gereizt, persönlich aber stets vertrauensvoll und un- getrübt u^ar, sagte ich dem russischen Herrn Minister des Äußeren ungefähr folgendes:

„Ich habe bereits die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß ich alles, was Sie neulich die Güte hatten, mir mit Bezug auf die durch den Abgang des Fürsten Bismarck unterbrochenen Unterhandlungen zu eröffnen, zur Kenntnis des Generals von Caprivi gebracht habe.

Der Herr Reichskanzler hat mir hierauf geantwortet, daß er fest entschlossen ist, an der bisherigen Politik Rußland gegenüber festzuhalten, und daß er dies auch ohne schriftliche Abmachung tun wird; die Politik, welche er gemäß den allerhöchsten Intentionen Seiner Majestät des Kaisers und Königs zu führen gedenkt, soll eine einfache und durchsichtige sein, welche nirgends Unruhe, Unsicherheit oder Mißtrauen aufkommen läßt; eine solche Politik schließt aber seiner Ansicht nach geheime Verträge aus.

Der Herr Reichskanzler geht von der Überzeugung aus, daß der Wert von Verträgen, welche zwischen Kabinetten abgeschlossen werden, ein geringer ist, wenn sie nicht von der öffentlichen Meinung ge- tragen werden; dies würde nun jetzt weder bei uns noch bei Ihnen der Fall sein; es wird Euerer Exzellenz nicht entgangen sein, daß seit der vor etwa drei Wochen vom Wiener ,Times'-Korrespondenten lanzierten Nachricht von einem deutsch-russischen Bündnisse die ganze russische Presse vom ,Grashdanin', der dem Hofe, bis zum ,Swet', der dem Volke am nächsten steht, stürmisch gegen ein solches Abkommen getobt hat. Hiernach ist es wohl erklärlich, wenn General von Caprivi sich fragt, ob ein anderer Minister als Sie imstande sein würde, im Falle eines französischen Angriffs auf uns dem Vertrage diejenige

* Siehe Nr. 1380 und S. 30, Fußnote f. 38

Auslegung zu geben, deren wir bedürfen. Solange als Sie die russi- sche Politik leiten, brauchen wir keinen Vertrag, und wenn Sie einmal nicht mehr Minister sind, so würde sein Wert für uns lediglich von der Interpretation abhängen, welche Ihr Nachfolger ihm geben würde; es ist ja oft schwer zu entscheiden, ob derjenige, welcher taktisch den Angriff eröffnet, nicht strategisch, politisch, moralisch der An- gegriffene ist; wohl aber würden wir von dem Bekanntwerden des Abkommens dieselben Nachteile erwarten müssen, wie Sie es taten, als Sie im Jahre 1887 den Vertrag mit Österreich-Ungarn nicht er- neuerten ; es waren damals nicht sowohl politische Gründe, welche Sie abhielten, als vielmehr die Besorgnis, daß das immerhin mögliche Verlautbaren Seiner Majestät dem Kaiser Alexander gar zu großen Schaden beim russischen Volke und in dem Urteil der Geschichte tun würde. Wenn nun jetzt oder späterhin ein solcher Fall eintrete, so würde unsere Nation und Europa alles Vertrauen in die ehrliche, ein- fache, durchsichtige Politik verlieren, welche die Geschäftsleitung des neuen Reichskanzlers charakterisieren wird.

General von Caprivi hat nicht verfehlt, Seiner Majestät dem Kaiser und Könige meinen Brief vollinhaltlich zu unterbreiten, und es ist dem Kanzler gelungen, Seine Majestät von der Richtigkeit und der vollkommenen Lauterkeit seiner Auffassung zu überzeugen; Seine Maje- stät haben infolgedessen allerhöchstihren Willen dahin kundzugeben geruht, daß wir unsere vortrefflichen Beziehungen zu Rußland so wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft erhalten wollen, aber ohne Vertrag."

Herr von Giers hörte mir ruhig zu und machte sich Notizen; dann wiederholte der Herr Minister nochmals die Besorgnisse, welche ihm der Wegfall jedes schriftlichen Abkommens mit uns einflößt; gegen- über dem Dreibunde mit dessen offen ausgesprochener Tendenz gegen Rußland habe letzteres durch den Vertrag mit uns Sicherheit gegen „Avanien" gefunden, welche Österreich und besonders Ungarn ihm zuzufügen nur zu geneigt sei. Je mehr sich Herr von Giers in diese Betrachtungen vertiefte, um so weniger wollte er sich damit zufrieden geben, daß nun wirklich gar kein, wenn auch noch so loses Band uns mit Rußland verknüpfen solle. Als ich ihm, wenn auch in schonender Weise, doch sehr bestimmt meine heutige Eröffnung als eine definitive bezeichnete, sagte Seine Exzellenz, unsere diplomatischen Verhand- lungen seien nun freilich als abgeschlossen zu betrachten, nicht so sei es aber mit dem Gedankenaustausch zwischen den Monarchen; ein solcher sei eingeleitet worden durch die Gespräche, welche Seine Maje- stät der Kaiser Alexander mit mir und Seine Majestät der Kaiser Wil- helm mit dem Grafen Schuwalow geführt habe.

Ich erwiderte dem Herrn Minister, sein erhabener Souverän habe mich beauftragt, meinem kaiserlichen Herrn zu sagen, er vertraue

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darauf, daß der Abgang des Fürsten Bismarck weder an den persön- lichen noch an den politischen Beziehungen etwas ändern werde; diese Mitteilungen hätten bei meinem allergnädigsten Kaiser und Herrn Widerhall und eine vertrauensvolle Erwiderung gefunden, welche ich nach meiner Rückkehr aus Berlin persönlich zu übermitteln die Ehre hatte; hiermit habe der durch mich geführte Verkehr von Souverän zu Souverän seinen Abschluß gefunden. Von einem Vertrage ist, bei- läufig gesagt, hierbei nie die Rede gewesen.

Ich erinnerte übrigens auch Herrn von Giers daran, daß er selbst mir gesagt habe, Seine Majestät der Kaiser Alexander lege keinen besonderen Wert auf schriftliche Abmachungen; er möge diso, wenn er seinem kaiserlichen Herrn meine heutigen Mitteilungen unterbreite, weniger von dem nicht erneuerten Vertrage sprechen als von der Einfachheit und Durchsichtigkeit unserer auf Erhaltung des Friedens gerichteten Politik, welche, so wie ich den Charakter des Kaisers Alexander kenne, dem erhabenen Sinne höchstdesselben völlig ent- sprechen würde.

Der Herr Minister wollte sich aber hierbei nicht beruhigen und kam immer wieder auf seinen Wunsch zurück, daß irgendetwas Schrift- liches, sei es auch noch so allgemein gehalten, an die Stelle des ab- laufenden Vertrages treten möge; er deutete an, daß er jetzt den Grafen Schuwalow ermächtigen werde, mit Euerer Exzellenz über die Sache zu sprechen. Ich riet Herrn von Giers, dies zu unterlassen, es werde nicht zu dem von ihm gewünschten Ergebnisse führen und könne den Herrn Botschafter in Anbetracht aller mit dieser Angelegen- heit zusammenhängenden Umstände vor eine schwierige Aufgabe stellen. Ich konnte nicht umhin, den russischen Herrn Minister auch auf den wesentlichen Unterschied aufmerksam zu machen, welcher zwischen dem Geschäftsgange in Gatschina und der verfassungsmäßigen Ord- nung der deutschen Reichsregierung besteht.

Herr von Giers war noch zu keinem bestimmten Entschlüsse gekommen, als ich ihn nach einstündigem Gespräche verlassen mußte; er will die Notizen, welche er sich von meinen Äußerungen machte, mit nach Finnland nehmen, wohin er sich morgen zu vierwöchentlichem Aufenthalte begibt, und wird Seiner Majestät dem Kaiser schriftlichen Bericht darüber erstatten. Ich wiederholte ihm noch beim Abschiede dasjenige, was ich ihm schon im Laufe der Unterredung angeraten hatte, nämlich: das Nächstliegende sei „de resserrer les liens d'amitie qui unissent nos Souverains", und hierzu werde sich ja in zwei Monaten die schönste Gelegenheit finden, selbst wenn dabei gar nicht von Politik gesprochen werden sollte.

V. S c h vv e i n i t z

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Nr. 1383

Der Botschafter in Konstantinopel von Radowitz an den Reichs- kanzler von Caprivi

Eigenhändige Ausfertigung

Nr. 106 Therapia, den 9. Juni 1890

Geheim

Euerer Exzellenz geheimen Erlaß Nr. 101 vom 29. v. Mts. und die beigefügten Schriftstücke*, betreffend unsere Beziehungen zu Rußland, habe ich mit gehorsamstem Danke zu erhalten die Ehre gehabt und der mir erteilten Weisung gemäß auf das strengste sekretiert.

Euere Exzellenz haben mir schon bei meiner Anwesenheit in Berlin den Anlaß gegeben, es auszusprechen, daß ich nur diejenige Politik Rußland gegenüber, welche in den beiden Erlassen nach Peters- burg vom 29. V. Mts.** dargelegt ist, auch auf Grund meiner hiesigen Eindrücke und Erfahrungen ehrerbietigst anzuraten imstande sei. Die seitdem hier gemachten Beobachtungen bestärken mich darin. Ich finde hier, wo sich die russischen Tendenzen für die europäische Politik vielfach klarer und ungenierter als anderswo ausprägen, seit der Krisis in Berlin eine erhebliche Verschärfung russischer Feind- seligkeit gegen das deutsch-österreichisch-italienische Bündnis und habe um so mehr die Überzeugung, daß ein neues geheimes Ab- kommen mit uns von russischer Seite als Sprengmittel der Tripel- allianz verwertet worden wäre, um uns möglichst zu isolieren und dann für Orientinteressen Rußlands ausnutzen zu können.

Unsere jetzige Haltung ist jedenfalls keine Förderung mehr für russische Unternehmungslust auf der Balkanhalbinsel oder an den Meer- engen und dient dadurch dem Frieden. Drängt das Moskauer Slawen- tum trotzdem auf Abenteuer, und treibt es zum Kriege, so trifft es auf um so fester gefügte Bündnisse zur Abwehr.

Radowitz

Nr. 1384***

Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an Kaiser Wilhelm II., z. Z. in Hügel bei Essen

Telegramm. Konzept

Berlin, den 27. Oktober 1896

Der Artikel der „Hamburger Nachrichten" vom 24. d. Mts. „Fürst Bismarck und Rußland", der von geheimen 1890 nicht erneuerten Ab-

* Vgl. S. 30, Fußnote f.

»* Siehe Nr. 1380 und S. 30, Fußnote f.

*** Des Zusammenhangs wegen werden im folgenden noch emige Schriftstücke

wiedergegeben, die die Bismarckschen Enthüllungen aus dem Oktober 1896 über

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machungen spricht*, hat im In- und Auslande großes Aufsehen hervor- gerufen: Namentlich zeigt sich die Presse in Österreich-Ungarn in hohem Grade erregt über die Enthüllung, von der man eine Lockerung des Dreibunds befürchtet. Da vielfach eine amtliche Aufklärung ver- langt w'ird, habe ich im nichtamtlichen Teile des heutigen Reichs- anzeigers folgendes veröffentlichen lassen:

„Bei der öffentlichen Besprechung der jüngsten , Enthüllungen* der .Hamburger Nachrichten' über deutsch-russische Beziehungen bis zum Jahre 1890 ist vielfach der Wunsch hervorgetreten, die Regierung möge auch ihrerseits das Wort zur Sache ergreifen. Wir sind zu der Erklärung ermächtigt, daß dies nicht geschehen wird. Diplomatische Vorgänge der von den , Hamburger Nachrichten* erwähnten Art gehören ihrer Natur nach zu den strengsten Staatsgeheimnissen; sie gewissenhaft zu wahren, beruhtauf einer internationalen Pflicht, deren Verletzung eine Schädigung wichtiger Staatsinteressen bedingen würde. Die Kaiserliche Regierung muß daher auf jede Klarstellung verzichten, sie wird jenen Auslassungen gegenüber weder Falsches berichtigen noch Unvoll- ständiges ergänzen, in der Überzeugung, daß die Zuversicht in die Aufrichtigkeit und die Vertragstreue der deutschen Politik bei anderen Mächten zu fest begründet ist, als daß sie durch derartige , Enthüllungen* erschüttert werden könnte**."

C. Hohenlohe

den Rückversicherungsvertrag betreffen, und weiterhin einige retrospektive Äuße- rungen Berchems und Holsteins aus dem Jahre 1904 über die entscheidenden Vorgänge während des März 1890.

* In dem direkt auf Bismarck zurückgehenden Artikel der „Hamburger Nach- richten" (siehe den Wortlaut bei H. Hofmann, Fürst Bismarck 1890—1898 Bd. II [1913], S. 370 ff.) hieß es: „Bis zu diesem Termine (seil. 1890) waren Rußland und Deutschland im vollen Einverständnis darüber, daß, wenn eins von ihnen angegriffen würde, das andere wohlwollend neutral bleiben solle, also wenn bei- spielsweise Deutschland von Frankreich angefallen wäre, so war die wohlwollende Neutralität Rußlands zu gewärtigen, und die Deutschlands, wenn Rußland un- provoziert angegriffen würde. Dieses Einverständnis ist nach dem Ausscheiden des Fürsten Bismarck nicht erneuert worden, und wenn wir über die Vorgänge in Berlin richtig unterrichtet sind, so war es nicht etwa Rußland in Ver- stimmung über den Kanzlerwechsel, sondern Graf Caprivi war es, der die Fort- setzung dieser gegenseitigen Assekuranz ablehnte, während Rußland dazu bereit war."

** Vgl. dazu die ebenfalls auf den Fürsten Bismarck zurückgehende Erwiderung der „Hamburger Nachrichten" vom 31. Oktober 1896: „Die Erklärung im .Reichs- anzeiger' " (H. Hofmann, Fürst Bismarck 1890—1898 Bd. II [1913], S. 373 ff.) und die Replik des „Reichsanzeigers" vom 3. November. Fürst Bismarck machte in seiner Erwiderung geltend, daß diplomatische Vorgänge von der Art des Rück- versicherungsvertrages keineswegs als zu den „strengsten Staatsgeheimnissen" gehörend betrachtet werden könnten. „Die besprochenen russisch-deutschen Ver- handlungen gehören der Geschichte an und den Archiven; ihre Geheimhaltung war für uns wie für den Dreibund von Hause aus kein Bedürfnis, sie erfolgte lediglich auf russischen Wunsch, und die Situation, auf welcher dieser Wunsch damals beruhte, besteht heute nicht mehr. Im deutschen Interesse hätte unserer

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Nr. 1385

Der Chef des Geheimen Zivilkabinetts von Lucanus, z. Z. in Essen, an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe

Telegramm. Entzifferung

Essen, den 28. Oktober 18Q6 Seine Majestät der Kaiser beabsichtigen, das nachstehende Tele- gramm an Seine Majestät den Kaiser von Österreich zu senden, und wünschen Euerer Durchlaucht Meinung darüber zu vernehmen:

„Seiner Majestät dem Kaiser Franz Joseph

Gödöllö.

Durch meine letzten Reisen am Zeitungslesen bisher verhindert, erfahre ich erst jetzt durch Telegramme und Auszüge von den Ver- öffentlichungen des Fürsten Bismarck*. Dieselben enthalten das, was ich Dir bei unserm ersten Zusammentreffen nach seiner Entlassung mitteilte, und wirst Du sowohl wie die Welt nunmehr in dem Ver- ständnis bekräftigt, weshalb ich den Fürsten entließ.

Wilhelm."

Seine Majestät lassen ersuchen, die Erwiderung so schleunig als möglich direkt an mich hierher zu senden.

Lucanus

Nr. 1386

Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an den Chef des Gel.eimen Zivilkabinetts von Lucanus, z. Z. in Essen

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Berlin, den 28. Oktober 1896 Ich bin einverstanden, daß Seine Majestät an den Kaiser Franz Joseph eine vertrauliche Mitteilung über die fragliche Angelegen-

Ansicht nach die volle Veröffentlichung gelegen, da der ganzen Sache für uns nicht etwa ein Pudendum zugrunde liegt, sondern ein berechtigter Anlaß für alle friedliebenden Angehörigen des Reiches wie des Dreibundes, mit Genugtuung zurückzublicken." Demgegenüber wies der „Reichsanzeiger" darauf hin, daß Deutschland seinerzeit bedingungslos die Zusage erteilt habe, sowohl die Tat- sache wie den Inhalt der vor 1890 mit Rußland geführten Verhandlungen geheim- zuhalten, und daß somit diese Verpflichtung für alle, die darum wüßten, un- verändert fortdauere. Daß in der Tat die russische Regierung noch I8QÖ auf der unbedingten Geheimhaltung bestand, beweist Nr. 13S9. Früher, nach Abschluß des Rückversicherungsvertrages im Jahre 1887, hatte übrigens Fürst Bismarck selbst die Notwendigkeit unbedingter Geheimhaltung des Vertrages betont; vgl. Bd. V, Kap. XXXIV, Nr. 1100. * Vgl. S. 42, Fußnote * und **

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heit richtet. Dies kann aber nur durch chiffriertes Telegramm an den Geschäftsträger in Wien geschehen, da unsre vertragsmäßige Verpflich- tung Rußland gegenüber, nichts von dem damaligen Vertrage in die Öffentlichkeit kommen zu lassen, heute noch fortbesteht.

C. Hohenlohe

Nr. 1387

Der Geschäftsträger in Wien Prinz von Lichnowsky an das Aus- wärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 232 Wien, den 28. Oktober 1896

In Vertretung des abwesenden Ministers erklärte mir soeben Graf Szccsen*, daß die hiesige Regierung durch die Hamburger Veröffent- lichungen in keiner Weise verstimmt worden sei, sondern nur den schlechten Eindruck in der öffentlichen Meinung bedauere. Der gleichen Auffassung habe auch Graf Goluchowski** vor seiner Abreise Ausdruck gegeben. Morgen werde das „Fremdenblatt" einen beruhigenden, den Erklärungen des „Reichsanzeigers" entsprechenden Leitartikel bringen, welcher das volle Vertrauen der hiesigen Regierung zur gegenwärtigen deutschen betonen wird,

Lichnowsky

Nr. 1388

Der Geschäftsträger in Wien Prinz von Lichnowsky an das Aus- wärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 234 Wien, den 30. Oktober 1896

Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 169 vom 28. Oktober.

Graf Szecsen hat mir das nachstehende Telegramm Seiner Maje- stät des Kaisers Franz Joseph an Seine Majestät unsern allergnädigsten Herrn übergeben:

„Herzlichsten Dank für die freundschaftlichen Worte anläßlich eines bisher unerhörten Vorgangs, den ich zwar lebhaft bedauere, der aber nur dazu beitragen kann, die Innigkeit und Unerschütterlichkeit gegen- seitigen vollen Vertrauens zu kräftigen.

Ich war Dir zu Dank verpflichtet, als Du mir seinerzeit die Tat-

Sektionschef im k. u. k. Reichsministerium des Äußern. •• K. u. k, Minister des Äußern.

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Sache selbst mitteiltest; seitdem hat sich die treueste Freundschaft mehr und mehr bewährt, die uns aneinander schließt.

Franz Joseph." Lichnowsky

Nr. 1389

Der Verweser des russischen Ministeriums des Äußern Schischkin an den russischen Botschafter in Berlin Grafen von der Osten-Sacken

Telegramm. Abschrift am 14. November vom Grafen von der Osten-Sacken überreicht*

St. Petersbourg, le 2/14 Novembre 1896 Notre traite avec TAUemagne stipulant en toutes lettres que les deux parties contractantes s'engagent ä observer le secret non seule- ment quant au contenu, mais aussi „sur l'existence du traite", il nous parait que le seul fait ä constater serait de relever le caractere partir culier de transactions, indispensables dans certaines circonstances, qui, par raison d'etat, ne se contractent qu'ä condition expresse d'un secret absolu sur leur existence meme.

Les declarations que le Prince de Hohenlohe et le Baron de Marschall se disposent ä faire au Reichstag, revelant qu'ä une data peu eloignee un pareil traite a existe, sont en contradictiqn avec l'en- gagement pris, sans relever que rattacher ä la clause du secret le refus de renouveler le traite, serait insinuer que nous avions Heu de tenir particulierement du secret, tandisqu'il etait „mutuel" pour les deux parties.

Vous pouvez dire au Prince de Hohenlohe et au Baron de Mar- schall que leurs declarations au Reichstag feraient le plus deplorable effet chez nous et ne manqueraient pas de provoquer en Russie et dans presse Russe accusation d'etre manoeuvre tendant ä semer de- fiance. (sig.) Chichkine

Nr. 1390

Aide-Memoire, bestimmt für den russischen Botschafter in Berlin Grafen von der Osten-Sacken

Unsigniertes Konzept von der Hand des Staatssekretärs Freiherrn von Marschall

Berlin, 14 Novembre 1896 Le Baron de Marschall ne nie pas les obligations du secret meme sur l'existence du traite, mais considere la Situation completement

* Das Telegramm war veranlaßt worden durch die Nachricht, daß die deutsche Reichsregierung die Absicht habe, auf eine von dem Grafen von Hompesch namens des Zentrums im Reichstage eingebrachte Interpellation wegen der Nicht- emeuerung des Rückversicherungsvertrages Rede und Antwort zu stehen.

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changee par les revelations de rhomme le plus competent dans cette matiere, celui meme qui a signe le traite. Le grand emoi qui en a ete la consequence en Allemagne comme ailleurs et les reproches que le Princc de Bismarck fait au gouvernement d'avoir ete ä la remorque de TAngleterre*, lui impose le devoir de parier et de repondre ä Tinter- pellation. Dans le cas contraire il laisserait aux partisans du Prince de Bismarck le champ libre pour fortifier ses accusations et continuer ses revelations. Du moment il y a Obligation de parier, toute declaration qui ne contient pas un dementi formel sur l'existence du traite equivaudrait ä un aveu. Un dementi formel est impossible ä cause de la notoriete publique de son existence et compromettrait le gouvernement sans profit.

Ni le Prince de Hohenlohe, ni le Baron de Marschall n'ont l'inten- tion de preter au gouvernement russe d'avoir tenu particulierement au secret. Les raisons du secret ne seront pas touchees.

Le Baron de Marschall est d'avis que Ton peut donner des declara- tions dans ce sens sans eveiller le soupgon de vouloir semer defiance; il croit au contraire qu'essayer par le gouvernement de voiler meme l'existence du traite pourrait precisement lui valoir l'accusation de semer defiance en laissant supposer qu'il y a encore des engagements. Le Baron de Marschall croit que le soin de ne pas eveiller la defiance de qui que ce soit est un interet commun des deux cabinets, car l'eveiller ä notre detriment serait le provoquer ailleurs contra le gou- vernement Allemand**.

* Ein solcher Vorwurf findet sich ansredeutet in dem auf Bismarck zurückgehenden Artikel der „Hamburger Nachrichten" vom 12. November „Die Interpellation". Es heißt da: „Die Frage, ob ein mächtiges Nachbarreich wie Rußland mit uns oder mit unseren Gegnern in Europa engere Fühlung hat, ist für die gesamte Bevölkerung des Deutschen Reiches eine Frage von hervorragender Wichtigkeit, und nicht minder ist dies die andere, ob die englische Politik bemüht und im- stande ist, auf die unsrigc einen Einfluß zu üben, dessen Ergebnisse nicht un- bedingt im Interesse des Deutschen Reiches liegen." H. Hofmann, Fürst Bis- marck 1890—1898 Bd. II (1913), S. 387.

** Tatsächlich wurde die vom Grafen Hompesch eingebrachte Interpellation am 16. November von dem Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe und dem Staats- sekretär Freiherrn von Marschall beantwortet. Beide hielten in ihren Reden daran fest, daß sie bei der seinerzeit mit Rußland verabredeten unbedingten Geheim- haltung über das Ergebnis der deutsch-russischen Verhandlungen von 1887—1890 amtliche Auskunft nicht zu geben vermöchten. Indessen nahmen sie einerseits die deutsche Politik vor 1890 gegen den Vorwurf in Schutz, daß damals mit Ruß- land Dinge verabredet worden seien, die im Widerspruch mit den bestehenden Verträgen ständen (vgl. auch S. 6 f., Fußnote), andererseits die deutsche Politik nach 1890 gegen den Vorwurf, daß sie eine wichtige Sicherung und Friedens- garantie preisgegeben habe. Ausdrücklich erklärte Fürst Hohenlohe, die Gründe, welche im Frühjahr 1890 die deutsche Politik leiteten, „nach sorgfältigster Prüfung des vorhandenen Materials" als vollwichtig anerkennen zu müssen. Siehe den Wortlaut der Reden: Stenogranhische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags 1895/97, Bd. V, S. 3262 ff.

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Nr. 1391

Der Unterstaafssekretär im Auswärtigen Amt a. D. Graf von Berchem an den Reichskanzler Grafen von Biilow

Eigenhändig

Vertraulich München, den 3. Juni 1904

Das anliegende Memoire* habe ich im Monat März 1890 dem Reichsicanzler Herrn von Caprivi vorgelegt.

Der Botschafter von Schweinitz war persönlich in Berlin erschienen, um die von ihm vorbereitete Erneuerung des geheimen Vertrages mit Rußland d. d. 1887 zu betreiben. Es gelang mir, in einer Konferenz (28. 3. 1890) des Reichskanzlers von Caprivi mit Herrn von Schweinitz, zu welcher ich beigezogen wurde**, an der Hand dieses Schrifts4ückes letzteren zu überzeugen, daß der beabsichtigte Schritt besser unter- bleibe. Mündlich wurde dabei betont, daß es bei der damaligen hoch- gradigen Erregung der Gemüter nicht angehe, sich der Gefahr einer publizistischen Verwertung dieses Abkommens auszusetzen.

Nachdem Herr von Caprivi sich schon vorher meinem mit dem des Geheimen Legationsrates Herrn von Holstein identischen Votum*** angeschlossen hatte, so entfiel die auch an allerhöchster Stelle nicht gewünschte Unterzeichnung des Vertragsentwurfes. General von Ca- privi hatte mich eingeladen, in seiner Gegenwart das Memoire auch Seiner Majestät gegenüber zu vertreten; ich bat aber, davon abzu- sehen, da dies unzweckmäßiges Aufsehen erregt haben würde.

Fürst Bismarck hat, als ich im Jahre 1896 in Friedrichsruh war, in meiner Gegenwart bei Besprechung des französisch-russischen Bünd- nisses dessen Entstehung nicht mit der unterlassenen Erneuerung des geheimen Vertrages, sondern mit der angeblichen, in Petersburg nicht gern gesehenen Provozierung einer Einladung unseres allergnädig- sten Herrn nach Krasnoe Selof und mit den in Cowes gewechselten

* Es handelt sich um den Entwurf der Berchemschen Aufzeichnung vom 25. März; siehe Nr. 1368 nebst Fußnote. Der Entwurf ist auszugsweise gedruckt bei J. von Eckardt, Aus den Tagen von Bismarcks Kampf gegen Caprivi S. 53 f f. ** Nach Caprivis Aufzeichnung vom 28. März (siehe Nr. 1369) muß die Um- stimmung Schweinitz' mindestens schon am 27., wo Reichskanzler und Botschafter gemeinschaftlich dem Kaiser Vortrag im Sinne der Nichterneuerung hielten, ein- getreten sein. Vgl. auch das folgende Schriftstück.

*** Ein schriftliches Votum Holsteins aus dem März liegt nicht vor; vielleicht denkt Berchem an den gemeinschaftlichen Vortrag, den er, Holstein und Raschdau am 23. März dem Reichskanzler von Caprivi über die Frage des Rückversicherungs- vertrags erstattet haben. Vgl. Holsteins Brief vom Abend des 22. März: „Morgen um 10 werden Berchem, Raschdau und ich gemeinsamen Vortrag, von mir an- geregt, an Caprivi halten. Dann muß man sehen, was Caprivi ausrichtet." (Vindex Scrutator. Warum der russische Draht zerriß, „Der Tag", Ausgabe ß [rot] vom 4. November 1920.) t Vgl. dazu Bismarcks Gedanken und Erinnerungen Bd. III (1919), S. 144f.

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Toasten* erklärt. Ich erinnere mich ferner daran, daß, als 1887 die Russen der geheimen Vereinbarung nur eine zeitlich sehr begrenzte Dauer zugestanden, Fürst Bismarck diese Verweigerung einer längeren Frist mit der damals bereits in Petersburg in Aussicht genommenen Eventualität einer Annäherung an Frankreich in Verbindung brachte**.

Es ist also auch nach der Meinung des Fürsten Bismarck nicht richtig, was in vielen Kreisen als erwiesen gilt, daß das Bündnis zwi- schen Paris und Petersburg der unterlassenen Verlängerung des Ver- trages von 1887 seinen Ursprung verdanke***.

Das anliegende Memoire, nur in einem von mir geschriebenen Konzepte ausgefertigt, habe ich mit Zustimmung des Generals von Caprivi damals nicht zu den Akten übergeben f. Da dasselbe aber immerhin einen gewissen Kommentar zu dem nunmehr verjährten in- teressanten Vorgang von 1890 bildet, so halte ich mich für verpflichtet, dieses Schriftstück zur Vervollständigung der Registratur des Aus- wärtigen Amtes Hochdenselben ganz gehorsamst zur Verfügung zu stellen. Gf. v. Berchem

Nr. 1392 Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt von Holstein

Reinschrift

Berlin, den 10. Juni 1904 Im März 1890 gaben die Mitglieder der politischen Abteilung schriftliche Gutachten ab, welche sich ebenso wie dasjenige des da- maligen Unterstaatssekretärs Grafen Berchem gegen die Erneuerung des Rückversicherungsvertrages aussprachen ff. Das Votum des Unter-

Gemeint sind wohl die Guildhall-Toaste vom 10. Juli 1891. Vgl. Bd. VIII, Nr. 1726, Fußnote **. Vgl. Bd. VIII, Nr. 1727.

** Berchem irrt hier. Nicht die Russen, sondern Bismarck hat auf der „zeit- lich sehr begrenzten Dauer" des Vertrages bestanden. Vgl. Bd. V, Kap. XXXIV, Nr. 1093.

*** Auch hier irrt Berchem. Bismarck hat wiederholt die Entente zwischen Ruß- land und Frankreich auf das Zerreißen des russischen Drahts zurückgeführt. So heißt es in dem berühmten Artikel der „Hamburger Nachrichten" vom 24. Ok- tober 1896: „So entstand Kronstadt mit der Marseillaise und die erste Annäherung zwischen dem absoluten Zarentume und der französischen Republik, unserer An- sicht nach ausschließlich durch die Mißgriffe der Caprivischen Politik herbei- geführt. Dieselbe hat Rußland genötigt, die Assekuranz, die ein vorsichtiger Po- litiker in den großmächtlichen Beziehungen Europas gern nimmt, in Frankreich zu suchen." H. Hofmann, Fürst Bismarck 1890—1898 Bd. II (1913), S. 373. t Ein weiterer Irrtum Berchems; Reichskanzler von Caprivi hat die Reinschrift des Memoires schon am 28. März 1890 zn den Akten gegeben, tt Augenscheinlich hat Holstein die schriftlichen Gutachten im Auge, die er und seine beiden Kollegen von der politischen Abteilung, von Kiderlen und Raschdau, in einer späteren Phase der Verhandlungen am 20. Mai (siehe Nr. 1374, 1376 und 1377) erstattet hatten. Aus dem März liegen schriftliche Gutaditen der Mitglieder der politischen Abteilung nicht vor; sie dürften, was Raschdau nachgehends in seinem Artikel Das Ende der deutsch-russischen Rückversicherung, „Der Tag", Ausgabe B (rot) vom 17. Oktober 1920 bestätigt, mündlich und zwar am 23. März erstattet sein. Vgl. S. 10, Fußnote.

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fertigten bezeichnete die Erneuerung als „zurzeit'* nicht ratsam. Ohne die Wirkung dieser Schriftstücke herabsetzen zu wollen, habe ich doch historisch zu konstatieren, daß auf die Sinnesänderung des Botschaf- ters von Schvveinitz, auf dessen Stellungnahme gegen die Erneuerung der Text unseres rumänischen Vertrages von entscheidender Wirkung gewesen ist. In der Konferenz mit dem Reichskanzler von Caprivi und dem Unterstaatssekretär Grafen Berchem wurden zunächst dem General von Schweinitz alle unsere Geheimverträge vorgelegt. Der- selbe erklärte, darüber, ob der österreichische Vertrag sich mit dem Rückversicherungsvertrag vereinigen lasse, könne man allenfalls noch streiten, mit dem rumänischen Vertrage aber sei der Rückversiclierungs- vertrag gänzlich unvereinbar. Von dem rumänischen Vertrage habe er, der General, bis dahin keine Kenntnis gehabt.

Als der Reichskanzler Seiner Majestät dem Kaiser, welcher die Be- sprechung der drei Herren angeordnet hatte, meldete, daß der General von Schweinitz nach Kenntnis des rumänischen Vertrages sich wegen der Widersprüche zwischen diesem und dem beabsichtigten Rück- versicherungsvertrag nunmehr gegen letzteren ausgesprochen habe, sagte Seine Majestät: „Nun, dann geht es nicht, so leid es mir tut,"

Von den vier Hauptbeteiligten leben heute noch Seine Majestät und der Graf Berchem. Der Unterzeichnete ebenso wie Herr von KUe-len erfuhr den Hergang vom Reichskanzler gleich nach dessen Rückkehr vom Immediatvortrag.

Holstein

4 Die Große Politik. 7. Bd. 49

Kapitel XLV

Erneuerung des Dreibund -Vertrags.

Erste Versuche Frankreichs, Italien vom Dreibund

abzusprengen 18Q1

Anhang: A.Aufmarsch-undRüstungsfragenimDreibundl891 18Q2

B. Der erneuerte Dreibund und das italienisch-französische Verhältnis 1891—1895

Nr. 1393

Der Geschäftsträger in Rom Freiherr von Doernberg an den Reichs- kanzler von Caprivi

Entzifferung

Nr. 283 Rom, den 13. Oktober 1890

Herr Crispi sagte mir heute mit Bezug auf einen etwaigen Besuch Euerer Exzellenz: ein Zusammentreffen mit Euerer Exzellenz in nicht zu ferner Zeit sei ihm aus dem Grunde besonders erwünscht, weil für ItaUen die Frage einer Verlängerung des Bündnisses im Vordergrund der politischen Interessen stehe, und er die Absicht habe, diese Frage mit Euerer Exzellenz zu besprechen.

Doernberg

Nr. 1394 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi, z. Z. in Mailand*

Eigenhändig

Mailand, den 7. November 1890 M. Crispi suchte mich heut auf und berührte in einer längeren

ziemlich einseitig von seiner Seite geführten Unterhaltung folgende

Punkte:

1. Der Vertrag Italiens mit Spanien** sei für ersteres von hoher

* Am 7. November traf Reichskanzler von Caprivi in Mailand ein, wo er eine längere Konferenz mit Crispi hatte. Am folgenden Tage begab er sicli mit dem italienischen Ministerpräsidenten nach Monza, um sich dem italienischen Königs- paare vorzustellen. Über die zwischen dem deutschen Reichskanzler und dem italienischen Ministerpräsidenten gepflogenen Unterredungen hat auch der letztere Aufzeichnungen hinterlassen (vgl. Francesco Crispi, Questioni Internazionali ed. T. Palamenghi-Crispi, p. 8 s.), die indessen nicht überall mit der Erzählung Ca- privis übereinstimmen. Vgl. Nr. 1395.

** Gemeint ist das Geheimabl<ommen vom 4. Mai 1887, durch das Spanien sich verpflichtete, in bezug auf die nordafrikanischen Gebiete keinerlei Abkommen mit Frankreich einzugehen, qui serait directement ou indirectement dirige contra ritalie, l'Allemagne et l'Autriche, und überhaupt im Einvernehmen mit Italien den Status quo im Mittelmeer aufrechtzuerhalten. Siehe den Text des Abkommens bei Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879—1914 Bd. I, S. 48 f.

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Wichtigkeit; er habe den dringenden Wunsch, das Band mit Spanien fester zu gestalten, weil Spanien im Fall eines Krieges mit Frankreich einen immerhin nicht unerheblichen Teil der französischen Streitkräfte an den Pyrenäen binden könne. Auch du cote de I'Afrique könne ihm eine spanische Bundesgenossenschaft von Wert sein. Auf meine Ent- gegnung, daß dazu die Sicherheit, auf England zählen zu können, die erste Voraussetzung sei, entgegnete er, daß diese Voraussetzung vor- liege, er sei Englands ganz sicher. Ich bemerkte ferner, daß mir, wenn er wie er angab einen Einfluß auf das Kabinett des Herzogs von Tetuan* habe, vor allem eine Hinwirkung auf die Verbesserung der spanischen Marine im Interesse Italiens zu liegen scheine. Herr Crispi erwiderte, das sei auch seine Meinung, die er Spanien bereits ausgesprochen habe.

Er wünschte unsere Mitwirkung, um Spanien der Tripleallianz näher zu bringen. Ich habe ihm gesagt, que je faisais de mon mieux pour appuyer ses intentions**.

2. Herr Crispi fand, daß die Pläne Frankreichs in bezug auf den Maximaltarif in erster Linie gegen Italien gerichtet seien***, eine An- sicht, in der ich ihn im Hinblick auf den Schutz, den uns die Meist- begünstigungsklausel gibt, bestärkte. Er sieht es als eine Lebensfrage der Tripleallianz an, daß es uns gelinge, eine ligue commerciale zwischen Italien, Österreich und uns zu gründen, eine Art inneren Markt, der diese drei Reiche unabhängiger von der Außenwelt mache. Er äußerte sich in einem erstaunlich monarchischen Sinne, schrieb sich das Verdienst zu, wenn in Portugal die Monarchie durch schonendes Auftreten Englands gerettet wurde, und stellte ein gemeinsames Vor- gehen in Handelssachen als die Entwickelung einer ligue monarchique aus der ligue commerciale dar. Ich habe ihm gesagt, es freue mich im höchsten Grade, diese Ansichten bei ihm zu finden, ich harmoni- sierte vollkommen damit. Auch Graf Kälnoky halte einen Anschluß auf dem Boden des Handels für sehr wünschenswert, und wir würden zu- nächst mit Österreich und dann mit Italien die Verständigung in Handels- und Tariffragen suchen.

3. Herr Crispi sagte, er sei überzeugt, daß der Kaiser von Ruß- land den Frieden wollte, es seien aber trotzdem Überraschungen von dieser Seite nicht ausgeschlossen. Er halte Bulgarien für das zurzeit best regierte der Balkanländer, besser wie Rumänien. Am übelsten stehe es um Serbien. Man müsse auf seiner Hut sein; er wisse, daß Frankreich seine Festungen approvisionniere.

* Spanischer Minister des Äußern im Kabinett Canovas del Castillo.

** Bei der Erneuerung des spanisch-italienischen Abkommens vom 4. Mai 1887, die

am 4. Mai 1891 stattfand (siehe Pribram a.a.O., S. 61 ff.), trat auch Deutschland

demselben mittels Note vom 4. Mai bei.

*** Vgl. dazu: Die Memoiren Francesco Crispis, herausgegeben von T. Palamenghi-

Crispi. Deutsch von W. Wichmann, S. 442 f.

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In bezug auf unseren Vertrag, der nur beiläufig berührt wurde, sagte Herr Crispi, er müsse erneuert werden, ob im einzelnen Ver- besserungen daran auszuführen seien, könne noch offen bleiben.

V. Caprivi

Nr. 1395 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

[Berlin], den 10. November 1890 Ein zweites längeres, sowie die kürzeren gelegentlichen Gespräche mit Herrn Crispi ergaben wenig. Herr Crispi kam auf die ligue com- merciale et douaniere zurück, die sich in eine lutte commerciale ver- wandeln könne. Er schien von dem Gedanken, Frankreich auf dem Boden der Zölle durch die Tripleallianz zu befehden, sehr eingenommen. Er schalt auf den Mangel an Wahrhaftigkeit in der französischen Diplo- matie. Er versicherte, nichts sehnlicher zu wünschen wie die Erhaltung des Friedens; er brauche noch 7—8 Jahre, um die ihm vorschwebenden Aufgaben im Inneren Italiens zu erfüllen; er bedürfe dazu des Friedens. Seiner bevorstehenden Wahlen glaubte er ganz sicher zu sein, obschon ihm Frankreich die Sache so sehr als möglich erschwere. Frankreich unterhielte drei Botschafter in Italien: einen beim Quirinal, einen beim Vatikan und den dritten bei der italienischen Presse; letzterer werde Frankreich am kostspieligsten. Die Tripleallianz lebe sich trotzdem immer mehr in das Bewußtsein der Italiener ein; auch Österreich gegen- über werde die Stimmung immer besser.

Ich brachte die Rede nochmal auf England, um zu sagen, mir schiene für alles, was Italien am Mittelmeer interessiere, die englische Freundschaft unumgänglich Vorbedingung. Er meinte, er sei Englands völlig sicher, auch 'über das Dasein Lord Salisburys hinaus. Ich sagte weiter: auch wenn dem so wäre, würde ich an Herrn Crispis Stelle das Äußerste versuchen, um die italienische Marine zu heben, selbst auf Kosten der Armee, wenn es nicht anders ginge. Er entgegnete, für die Armee müsse insofern noch etwas geschehen, als sie nur für 1400 000 Mann Handwaffen habe, er brauche aber für 2 000 000 Mann. In bezug auf die Flotte gab er zu, daß von der österreichischen für Italien nicht viel abfallen würde, deshalb müsse die spanische gehoben werden. Meines Erachtens überschätzte er seine eigene Flotte erheb- lich; doch erkannte er an, daß eine Flotte sich nicht improvisieren läßt und die Heranbildung des Personals zeitraubend sei.

Ich fing dann von Biserta* an und sagte, mir schiene, wenn sich

* Vgl. darüber: Die Memoiren Francesco Crispis a.a.O., S. 4S3f,

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jemand über diesen Hafen zu beunruhigen Grund hätte, so seien es zuerst die Engländer. Er i<am wieder damit, daß von dort eine Lan- dung in Sizilien sehr leicht sei. Auf meine Bemerkung, daß dazu doch erst französische Truppen und Schiffe von wo anders her nach Biserta geschafft werden müßteft, meinte er, man könne ja das französische Armeekorps aus Algier nach Biserta bringen und da einschiffen. Ich entgegnete, diese Konzentration in Biserta würde langwierig sein, außerdem aber gehörten dazu auch zahlreiche Transportschiffe, Bei- schiffe von Kriegsschiffen, die dann doch auch erst von Toulon kommen müßten, vielleicht post festum, und sagte: er und Garibaldi würden doch, um bei Marsala zu landen, niemals zuvor einen Abstecher nach Biserta gemacht haben. Darauf antwortete er nicht, fragte mich aber später, ob unser Generalstab Arbeiten über Biserta hätte. Ich sagte, unser Generalstab bearbeite alle auftauchenden Fragen; mehr Material über Biserta würden aber die Engländer haben.

Im ganzen hatte ich den Eindruck, daß es ihm darauf ankam, sich durch meine Anwesenheit Relief zu geben. Die gescheiterte Demon- stration Cavalotti* hatte seine Lage ohnehin sehr verbessert.

Seine Majestät Umberto hatte ein langes Gespräch mit mir, das aber wenig Bemerkenswertes bot; er kannte die 3 Punkte, über die Herr Crispi am ersten Tage mit mir gesprochen hatte, und lobte die guten Dienste seines Premierministers sehr warm, schalt dagegen ganereil auf die Advokaten, deren Überzahl im italienischen Parlament schädlich sei. Der König wiederholte mehrfach, wie sehr er unser Bündnis schätze, und daß wir dabei mehr die Gebenden, Italien die Empfangenden seien.

V. C a p r 1 V i

Nr. 1396

Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 304 Rom, den 20. November 1890

Geheim

Unmittelbar nach seiner Rückkehr von Mailand hat Herr Crispi dem österreichischen Botschafter Mitteilung von seinen Unterredungen mit Euerer Exzellenz gemacht und seiner großen Befriedigung über die Begegnung mit Hochdenselben Ausdruck gegeben.

Beim letzten diplomatischen Empfange bat Herr Crispi den Baron Brück, dem Grafen Kälnoky zu melden, daß er mit vollster Entschieden-

* Der Führer der dreibundfeindlichen italienischen Radikalen hatte geplant, wäh- rend der Anwesenheit des Reichskanzlers von Caprivi in Mailand ein Bankett als Demonstration gegen den Dreibund abzuhalten.

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heit an der Tripleallianz und an der ferneren Fortdauer derselben fest- halte, daß er aber dabei den dringenden Wunsch hege, das Band zwischen Italien und Österreich noch fester zu knüpfen als bisher una den italienisch-österreichischen Vertrag dahin zu vervollständigen, daß er dem zwischen Italien und Deutschland bestehenden gleichkomme. Wenn drei Mächte, hat Herr Crispi ergänzend hinzugefügt, unter- einander im Vertragsverhältnisse stehen, sei es nicht gut, daß die Allianzbedingungen unter den betreffenden Mächten verschiedene seien.

Baron Brück ist der Überzeugung, daß Herr Crispi bei dem Be- streben, sich näher an Österreich anzuschließen, von dem übrigens lang gehegten Wunsche geleitet ist, sich das sofortige aktive Eingreifen der österreichischen Flotte zu sichern, im Falle es im Mittelmeere, z. B. wegen Tunis zu einem Kriege zwischen Italien und Frankreich kommen sollte, nachdem Österreich bis jetzt hierzu vertragsmäßig nicht ver- pflichtet ist.

Herr Crispi hat dann weiter hervorgehoben, die Aufgabe der Triple- allianz werde es sein müssen, dem monarchischen Prinzip in Europa eine Stütze zu sein und dasselbe tunlichst zu befestigen. Gegenüber der maßlosen Agitation des republikanischen Frankreichs treten Portugal in erster und Spanien in zweiter Linie als besonders bedroht hervor; es sei daher richtig, diese beiden Länder an die Tripleallianz heran- zuziehen. Endlich hat Herr Crispi den Wunsch zu erkennen gegeben, durch gegenseitige Konzessionen auf dem Gebiete der Handelspolitik zwischen Italien und Österreich ein neues Band zu knüpfen.

Baron Brück hat über seine Unterredung sofort nach Wien be- richtet, pp.

Graf Solms

Nr. 13Q7

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 338 Wien, den 30. November 1890

Gelegentlich meines heutigen Besuches beim Grafen Kälnoky kam derselbe auf die Zusammenkunft zu sprechen, die Euere Exzellenz un- längst mit Herrn Crispi in Mailand gehabt haben.

Er habe Berichte des k. u. k. Botschafters in Rom über die Mit- teilungen erhalten, die der italienische Ministerpräsident letzterem über die in Mailand stattgehabten Besprechungen gemacht hat. Diese Be- richte habe er, Graf Kälnoky, an den Grafen Szechenyi geschickt, die- selben Euerer Exzellenz vorzulegen, um die Bitte auszusprechen, Hochdieselben möchten entscheiden, ob die Crispischen Erzählungen

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nicht vielleicht doch ein wenig ausgeschmückt worden seien. Ihm, dem Grafen, wolle es so vorkommen, als wenn Herr Crispi aus den rein akademischen Gesprächen mit Euerer Exzellenz gewisse Konsequenzen gezogen hätte, die wohl nicht geschäftlich daraus zu ziehen waren. Die Berichte des Herrn von Brück deckten sich nicht ganz mit dem, was Euere Exzellenz dem Grafen Szechenyi über die Besprechungen mit Herrn Crispi zu sagen die Gefälligkeit gehabt hätten*.

Ich habe infolge der mir durch Euere Exzellenz erteilten münd- lichen Erlaubnis dem Minister dasjenige über den Mailänder Besuch erzählt, was Hochdieselben die Güte gehabt haben, mir darüber zu erzählen. Hieraus ging nun allerdings nicht hervor, daß, wenn auch Herr Crispi seiner Hoffnung Ausdruck gegeben hat, den Dreibund er- neuert zu sehen, doch schon von bestimmten Punkten, die etwa in den Verträgen abgeändert werden könnten, die Rede gewesen ist.

Der Minister hatte die fraglichen römischen Berichte nicht zur Hand, hat mir aber versprochen, mir dieselben ein anderes Mal zu zeigen. Euere Exzellenz werden aber wohl nunmehr Einsicht in die- selben genommen haben und Entscheidung darüber treffen, ob ich zur Aufklärung ermächtigt werden soll.

Graf Nigra ist wieder krank, ich habe ihn daher nicht sprechen und konstatieren können, welche Mitteilungen er etwa direkt durch seinen Chef über die Mailänder Unterredungen erhalten haben dürfte.

H.VII. P. Reuß

Nr. 1398

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 347 Wien, den 11. Dezember 1890

Geheim

Euerer Exzellenz sage ich meinen verbindlichsten Dank für die mir mittelst hohen Erlasses Nr. 538 vom 4. d. Mts. mitgeteilten Aufzeich- nungen über die Unterredungen mit Herrn Crispi**.

Da ich während einiger Tage unwohl war, so habe ich den Grafen Kälnoky nicht sehen können. Derselbe besuchte mich nun gestern nach-

* Vgl. dazu Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns Bd. I, S. 217, nebst Anm. 183. Danach hätte Caprivi mit voller Bestimmtheit erklärt: „Daß die bestehenden Allianzverträge noch vor dem Ablaufe erneuert werden sollten, das habe Herr Crispi mit keiner Silbe erwähnt." Nach dem Grafen Szechenyi hätte sich Caprivi auch entschieden gegen eine vorzeitige Erneuerung des Vertrages geäußert. *♦ Siehe Nr. 1394 und 1395.

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mittag, und fand ich im Laufe unseres Gespräches eine sehr nützliche Gelegenheit, den Inhalt jener Aufzeichnungen zu verwerten.

Der Minister kam nämlich gerade vom italienischen Botschafter, welcher ihm einen eigenhändigen Brief des Herrn Crispi* vorgelesen hatte. In diesem Schreiben macht der italienische Ministerpräsident ganz in derselben Weise, wie er dies dem österreichischen Botschafter gegen- über getan hat, Mitteilung von der Unterredung mit Euerer Exzellenz, Diese Mitteilung deckt sich im allgemeinen mit Euerer Exzellenz Auf- zeichnungen, weicht aber in einem, und zwar im wichtigsten Punkt ganz bedeutend von denselben ab, und zwar mit Bezug auf die Mai- länder Besprechungen über unseren Vertrag.

Ich war nun in der glücklichen Lage, aus Euerer Exzellenz Auf- zeichnungen den Minister aufzuklären. Er war sehr dankbar hierfür und äußerte, er fände in meinen heutigen Mitteilungen vollkommene Übereinstimmung mit dem, was ich ihm schon früher darüber gesagt, und mit den Eröffnungen, die Euere Exzellenz dem Grafen Szechenyi seinerzeit gemacht haben.

Was nun den Brief Herrn Crispis betrifft, so habe dieser Staats- mann seiner Phantasie freien Lauf gelassen. Seine Ideen über eine ligue commerciale zwischen Deutschland, Italien und Österreich ent- behrten aller sachlichen Grundlage, wenn es auch gewiß sehr wünschens- wert wäre, daß auch Italien in den jetzt hoffentlich zwischen uns zu erneuernden Rahmen eines Vertragsverhältnisses mit hineingezogen würde.

In sehr monarchischem Sinne und durchaus vertragstreu äußere sich Herr Crispi in seinem Briefe; infolgedessen beabsichtige Graf Kälnoky nach dem Beispiel Euerer Exzellenz ihm hierüber seine hohe Befriedigung auszusprechen.

Was aber die Äußerungen des italienischen Staatsmannes über die Erneuerung unseres geheimen Vertrags betreffe, so müßten dieselben, um ihn nicht zu verletzen, mit größter Vorsicht behandelt werden. Der Brief des Herrn Crispi mache nämlich den Eindruck, als wenn er über die Abänderung des Vertrages mit Euerer Exzellenz schon ganz einig geworden und es nur noch der Zustimmung des Grafen Käl- noky bedürfte, um die Sache perfekt zu machen. Aus unseren Mit- teilungen ging nun hervor, daß die Phantasie des Herrn Crispi ihm hier einen Streich gespielt habe. Er, Graf Kälnoky, zögerte keinen Augenblick, mir zu erklären, daß er die Verlängerung unseres Vertrages zu Dreien wolle. Ob aber durch Veränderung desselben Verbesserungen gemacht werden würden, darüber sei er sich noch nicht klar. Der Ver- trag, so wie er ist, habe sich bewährt, und er, Graf Kälnoky, verlange gar keine Abänderungen daran.

* Siehe den vom 4. Dezember datierten Brief Crispis an den Grafen Nigra bei: Francesco Crispi, Questioni Internazionali p. 12 s.

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Er habe nun in seiner Besprechung mit Graf Nigra, der übrigens sehr verständig sei und die Fortdauer des Vertragsverhältnisses in loyaler Weise anstrebe, die Sache so zu drehen versucht, daß er den Italienern Argumente gegen ihre eigenen Vorschläge an die Hand ge- geben habe, welche der Botschafter als seine Ansichten Herrn Crispi gegenüber verwerten wolle. Es handele sich hier erstens um den ita- lienischen Wunsch einer Unifizierung des Vertrages. Hier hat Graf Kälnoky geltend gemacht, daß wir bei Anfang unserer Verhandlungen* alle drei denselben Wunsch gehabt hätten. Im Laufe derselben habe sich aber ergeben, daß die verschiedenen Interessen nicht in einem unifizierten Vertrag unterzubringen waren. Ebenso wie Deutschland keine Lust bezeigte, sich auf Bestimmungen einzulassen, welche sich auf den Orient bezogen, ebensowenig fand Österreich ein Interesse daran, sich für das westliche Becken des Mittelländischen Meeres zu engagieren. Bei neuen Verhandlungen würde man daher wieder zu dem Resultat kommen, daß eine Unifizierung nicht praktisch wäre.

Zweitens handelt es sich um die Abänderung des Vertrags; wolle Italien beispielsweise von Österreich noch größere Leistungen ver- langen, als wie dieses ihm im alten Vertrag zugesagt habe, so müsse sich Italien noch vorher überlegen, ob es ein Äquivalent dafür Öster- reich bieten könne. Im alten Vertrage seien die Gegenleistungen Italiens für die ihm gemachten Zugeständnisse sehr gering gewesen, und im Lauf der Jahre habe man sich davon überzeugt, daß die italienische Regierung im Ernstfall in die größte Verlegenheit geraten wäre, wenn sie ihre hochtönenden mündlichen Versprechungen hätte einlösen sollen.

Von dem Zuzug der in loyalster Weise versprochenen Armeekorps** würde weder Österreich noch Deutschland viel gesehen haben. Trete der Fall ein, daß Österreich und Deutschland in einen Krieg mit Ruß- land verwickelt würden, so würden diese beiden Reiche auch gegen Frankreich sich schlagen müssen, und in einem solchen Falle würde Österreich nicht einmal auf die italienische Flotte rechnen können, die, wenn sie sich selbst überlassen bliebe und nicht durch eine andere Seemacht verstärkt würde, alle Mühe haben würde, sich vor Frank- reichs Flotten zu retten. Die österreichische Marine wäre nicht stark genug, um mit Italien vereint Frankreich zur See anzugreifen.

Wenn nun auch Herr Crispi seine Verbesserungsvorschläge noch nicht bestimmt formuliert hat, so wird er dies wohl tun müssen, weil er der einzige zu sein scheint, der solche Verbesserungen haben will. Es sei daher nützlich, daß ihm die vorstehenden Einwendungen recht- zeitig unterbreitet würden, und hat sich, wie gesagt, Graf Nigra gern bereit erklärt, dies zu übernehmen. Graf Kälnoky will daher, wie er mir sagte, seine vorsichtige Aktion in Rom durch den Grafen Nigra

Vgl. Bd. IV, Kap. XXIV. ** Vgl. Bd. VI, Kap. XU.

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sekundieren lassen und hofft, daß der italienische Ministerpräsident, ohne eine Abweisung seiner Eröffnungen hierin zu erblicken, hierdurch allmählich wieder mehr auf den Boden der realen Verhältnisse zurück- geführt werden werde.

H.VII. P. Reuß

Nr. 1399

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 353 Wien, den 16. Dezember 18Q0

Geheim

Mit ganz gehorsamer Bezugnahme auf meinen geheimen Bericht Nr. 347 vom 11. d. Mts.*, die eventuelle Erneuerung des Vertrages zu Dreien mit Italien betreffend, beehre ich mich Euerer Exzellenz nach- folgendes ganz gehorsamst zu melden.

Graf Kälnoky kam heut auf die Sache zurück und erzählte mir, er habe, immer mit der Sekundierung durch Graf Nigra, Herrn Crispi eine Mitteilung zugehen lassen. Unter besonderer Hervorhebung der korrekten monarchischen und Vertragstreuen Gesinnungen, die Herr Crispi sowohl Euerer Exzellenz als wie auch ihm durch sein Schreiben an Graf Nigra an den Tag gelegt hat, ist der Minister in seinem an Baron Brück gerichteten Brief demselben Ideengange gefolgt, den er mir schon neulich skizziert hatte, um dem italienischen Minister an- schauUch zu machen, daß seine Verbesserungsideen bei näherer Über- legung auch für Itaüen selbst ihre Bedenken hätten. Er, Graf Käl- noky, sei jeden Augenblick zur Erneuerung unseres Vertrages bereit, sähe aber keine Notwendigkeit hierzu, da wir noch viel Zeit vor uns hätten.

Sollte es Herrn Crispi indes angenehm sein, sich schon jetzt aus- zusprechen, so würde man seitens des Wiener Kabinetts sehr gern seinen konkreten Vorschlägen entgegensehen.

Der itahenische Botschafter hat dem Grafen Kälnoky heut ein Telegramm des Herrn Crispi gezeigt, durch welches letzterer für die entgegenkommende Mitteilung in warmen Worten dankt und sich vor- behält, auf die Sache zurückzukommen.

Er sagte mir, Graf Nigra habe den Eindruck gehabt, als wenn sich der phantasiereiche italienische Staatsmann nunmehr beruhigt hätte, und die Dinge geschäftsmäßiger behandelt werden würden.

H.VII. P. Reuß

Siehe Nr. 1398.

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Nr. 1400

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 17 Wien, den 21. Januar 1891

Geheim

Als Graf Kälnoky heut auf die italienische Politik und auf die Ideen zu sprechen kam, welche Herr Crispi vor einiger Zeit über die Erneuerung unseres Vertrags geäußert hatte, benutzte ich diesen An- laß, um dasjenige festzustellen, was Graf Szechenyi Euerer Exzellenz über die Ansichten seines Ministers gesagt hat, und wovon Hoch- dieselben die Güte hatten, mir vor einigen Tagen zu sprechen.

Der österreichische Botschafter scheint, wie ich mir dies wohl dachte, die ihm erteilten Aufträge etwas zu absolut aufgefaßt zu haben, Graf Kälnoky hat ihm nur aufgetragen zu sagen, daß, wenn Herr Crispi mit konkreten Vorschlägen für Erneuerung des Vertrages oder für Abänderungen desselben herauskäme, er ebensogern bereit wäre, die Verträge, deren Fortdauer er für die ganze europäische Lage für not- wendig halte, sofort zu erneuern, als damit zu warten.

Der Minister setzte hinzu, als er mir dies mitteilte, er würdige indessen vollkommen die Gründe, welche Euerer Exzellenz es wünschenswert erscheinen ließen, mit dieser Erneuerung zu warten. Wir hätten ja noch über ein Jahr Zeit, und man könne nicht wissen, wie sich die afrikanischen Verhältnisse bis dahin gestalten würden.

Wie ich seinerzeit bereits zu melden mich beehrte, hat Graf Käl- noky dem italienischen Ministerpräsidenten unter den Fuß gegeben, konkrete Vorschläge zu machen. Seit der Zeit ist Herr Crispi nicht wieder auf die Sache zurückgekommen, und Graf Kälnoky wartet deren weitere Entwicklung ruhig ab.

H.VII. P. Reuß

Nr. 1401

Der Österreich -ungarische Botschafter in Rom Freiherr von Brück an den Österreich-ungarischen Minister des Äußern Grafen Kälnoky

Unsignierte Abschrift. Vom Österreich-ungarischen Botschafter in Berlin Grafen Szechenyi am 3. März mitgeteilt

Nr. 15B Rom, den 16. Februar 18Q1

Graf Nigra wird Euerer Exzellenz bereits den Dank des Marchese di Rudini* über die seinem ersten Telegramme** durch Euere Ex-

Seit dem 9. Februar Nachfolger des am 31. Januar gestürzten Crispi als Minister- präsident und Minister des Äußern. *♦ Vgl. Pribram a. a. O., S. 221, Anm. 191.

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zellenz gewordene freundschaftliche Aufnahme übermittelt haben. Der neue italienische Minister des Äußern gab mir wiederholt darüber seine Befriedigung zu erkennen und betonte, er werde die auswärtige PoHtik Italiens ganz in gleicher Weise fortsetzen, wie es seine Vorgänger getan hätten. Er wäre vor Crispi Anhänger der Tripelallianz gewesen, und fiele es ihm umsoweniger ein, daran rütteln zu wollen, als Italien seinen Ver- pflichtungen ganz und voll nachkommen wolle und es keinem italieni- schen Minister gestattet werden könne, anders zu denken und anders zu handeln.

Momentan wäre für Italien die empfindlichste Schwierigkeit die finanzielle Lage des Landes, und müsse er trachten, da helfend ein- zugreifen. Er werde Ersparungen zu machen suchen, um das Budget ganz zu equilibrieren, müsse aber in dieser Hinsicht vor allem auf die Haltung Frankreichs Rücksicht nehmen.

Er wisse noch nicht, welche Aufnahme seinen friedfertigen Ten- denzen in Paris blühen werde, wolle aber versuchen, zwischen beiden Nachbarreichen eine bessere Stimmung eintreten zu lassen. Die Ge- hässigkeiten hätten sich in letzter Zeit zwischen Rom und Paris immer mehr und mehr zugespitzt, und das Land hätte nur das Nachsehen da- von. Könne man eine Änderung dieser gespannten Situation zu Wege bringen, so käme dies dem Handel und der Industrie des Landes ent- schieden zugute. Ich erwiderte dem italienischen Premier, daß wir immer zugunsten eines guten Verhältnisses zwischen Frankreich und Italien das Wort geredet, da dies ja allein in den Rahmen jener Friedens- politik passe, die sich die Tripelallianz als ihr schönstes und bestes Ziel gesetzt hätte.

Marchese di Rudini bemerkte mir hierauf, es wäre ihm dies be- kannt gewesen, und wisse er auch, daß man sowohl in Berlin als auch in London die gleiche Ansicht hege. Die französische Presse, ja selbst die französische Regierung hätten aber einen solchen Haß gegen Crispi genährt, daß es nicht möglich wurde, einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu finden.

Er werde, wie gesagt, einen Versuch machen, und hinge es nun von Paris ab, wie und ob dieser gelingen könne. Will man in Paris die gebotene Hand freundlich entgegennehmen, so könne eine De- tention eintreten, nur müsse man aber in Frankreich begreifen lernen, daß sich Italien in keiner Weise aus der eingeschlagenen politischen Richtung hinausdrängen und, wenn auch vollkommen bereit, sich mit dem nahen Frankreich in ein freundschaftliches, dem allgemeinen Frie- den vorteilhaftes Verhältnis einzulassen, die Tripelallianz in keiner Weise tangieren lassen werde.

Dies die erste kurze Unterredung, die ich gestern am diplomati- schen Empfangstage mit Marchese di Rudini hatte, der mir übrigens bereits seit langer Zeit bekanni war, und der in die diplomatischen Ge- schäfte einen entschieden ruhigen, überlegten Ton hineinbringen dürfte.

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Nr. 1402

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Reinschrift, mit eigenhändiger Nachschrift

Berlin, den 7. März 1891

Der italienische Botschafter hat mich heute nachmittag aufgesucht und mir folgende vertrauliche Mitteilung gemacht:

Marquis Rudini habe ihm vorgestern folgendes telegraphiert: Der italienische Geschäftsträger in Paris Herr Reßmann sei vor kurzem in Rom gewesen, um über die gegenwärtige Stimmung in Paris münd- lichen Bericht zu erstatten; nach Paris zurückgekehrt, habe er eine Unterredung mit Herrn Ribot über das Verhältnis Frankreichs zu Italien gehabt. Der Inhalt der Eröffnungen Herrn Ribots sei gewesen: ,que pour mettre le Gouvernement fran^ais en mesure de prendre envers ritalie une attitude ouvertement amicale le Gouvernement Italien de- vrait par des declarations explicites eliminer les soupgons qui planent sur le but et la portee de la triple alliance**. „Ce que M. Ribot voudrait, c'est une assurance positive sur le caractere strictement defensif de notre traite en vigueur et plus encore du traite futur, car on presuppose ici qu'on va le renouveler. Si tout au moins on avait la certitude que dans la triple alliance il n'y a pas une Situation plus menagante pour la France que la Situation qui resulte du traite entre l'Allemagne et TAutriche, tous les obstacles tomberont et le Gouvernement fran^ais serait ä son tour pret ä prendre l'engagement formel de ne pas atta- quer l'Italie ni de porter atteinte au statu quo dans la Mediterranee."

Marquis Rudini knüpft an diese Mitteilung über die Unterredung zwischen Herrn Reßmann und Herrn Ribot die Bitte an Grafen Launay, ihm seinen Rat über die an Frankreich zu richtende Antwort sowie darüber zu erteilen, ob es angesichts der neuerdings wieder eingetretenen Spannung zwischen Deutschland und Frankreich** rätlich erscheine, jetzt schon der deutschen Regierung Kenntnis von den französischen Anerbietungen zu geben.

Graf Launay verlas mir darauf das Antworttelegramm, welches er

* Die französischen Versuche, hinter das Geheimnis des Dreibundes zu kommen und Italien womöglich gelegentlich der Verhandlungen über Erneuerung des Ver- trags abzusprengen, gehen bis auf den Sommer 1890 zurück. Vgl. den Bericht des italienischen Geschäftsträgers in Paris Reßmann vom 21. August 1890, mit- geteilt in Crispis Memoiren, a.a.O., S. 478 ff. Ausdrücklich konstatiert Reßmann: „Den Dreibund zerstören, das ist das eifrige, unaufhörliche Bestreben der franzö- sischen Staatsmänner."

** Anspielung auf die Vorgänge anläßlich des Aufenthalts der Kaiserin Friedrich in Paris (18.— 27. Februar), die indessen von der deutschen Regierung ganz igno- riert wurden. Vgl. Kap. XLVIII.

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an Marquis Rudini gerichtet hat. Der Botschafter spricht in demselben seine Ansicht dahin aus, daß es sich darum handle, den Aspirationen Frankreichs gegenüber die Würde Italiens zu wahren. Der Minister- präsident könne auf die Vorschläge Ribots nichts anderes tun, als sich auf die Erklärungen beziehen, welche er hinsichtlich des Charakters der Tripelallianz in der Deputiertenkammer abgegeben habe*. Eine Zusicherung Frankreichs, Italien nicht anzugreifen, dürfe Italien nur dann annehmen, wenn damit die Zusage verbunden werde, auch Deutsch- land und Österreich-Ungarn nicht anzugreifen. Die Eröffnungen Ribots enthielten den Versuch, die Tripelallianz zu sprengen und Italien zum Vasallen der Französischen Republik zu machen. Ein solcher Versuch sei ohne weiteres zurückzuweisen. Die jüngsten Pariser Ereignisse hätten keine Spannung zwischen der deutschen und französischen Re- gierung herbeigeführt, es stehe also nichts im Wege, die erstere von der Sachlage zu informieren.

Marquis Rudini beabsichtigte, folgendes Telegramm an den italieni- schen Botschafter in Paris Grafen Menabrea zu erlassen:

„Votre Excellence a regu le texte officiel de mes declarations du 4 c. ä la Chambre; elles me paraissent conformes aux voeux que M. Ribot avait exprimes ä M. Reßmann. Dites au Ministre des Affaires Etrangeres que j'ai precisement voulu par ces declarations repondre ä ses avances. Nous ne demandons ä notre tour rien ä la France. C'est ä eile de prendre envers nous d'apres les ouvertures de M. Ribot une attitude amicale et donnant ä nos interets de conservation et de paix une securite complete."

Marquis Rudini beauftragte den Grafen Launay, der Kaiserlichen Regierung Kenntnis von diesem Entwurf zu geben und ihre Ansicht darüber einzuholen. Der Botschafter soll dabei hervorheben, daß der Wunsch Rudinis, die Beziehungen mit Frankreich zu verbessern, in keiner Weise seinen festen Entschluß abschwäche, das Band der Tripel- allianz nicht lockern, noch viel weniger lösen zu lassen, und daß seine Anschauungen in diesen Beziehungen trotz der Gewißheit, dadurch die Unterstützung einer Partei (der radikalen) zu verlieren, feste und unerschütterliche seien.

* Am 14. Februar hatte Rudini gelegentlich der Vorstellung des neuen Mini- steriums in der Kammer erklärt: „Unsere Politik wird schlicht, freimütig, ohne Hintergedanken sein, wie es einem Lande geziemt, welches wirklich den Frieden will. Dieser Gedanke, dieser Wunsch, dieses Bedürfnis des Friedens hat jene Mächte zur Vereinigung gebracht, welche sich absolute Sicherheit, Europa eine dauernde Ruhe verschaffen wollten. Unsern Bündnissen werden wir feste und zu- verlässige Treue bewahren. Durch unsere Haltung werden wir allen zeigen, daß wir keine Angriffsabsichten haben. Und da bezüglich unseres Verhältnisses zu Frankreich Zweifel, Argwohn, Mißtrauen erregt worden ist, so werden wir unser Bemühen darauf richten, jede falsche Meinung zu widerlegen." Ähnliche Er- klärungen gab Rudini auch Anfang März in der Kammer ab.

5 Die Große Politik. 7. Bd. 65

Ich habe den Herrn Botschafter nach Emholungf der Befehle des Herrn Reichskanzlers gebeten, dem Marquis Rudini zu sagen, daß die Kaiserliche Regierung mit dem Entwürfe seiner Antwort an die Re- gierung der französischen Republik vollständig einverstanden und dank- bar sei für die bekundete loyale und aufrichtige Gesinnung. Wir er- achteten das Vorgehen Frankreichs für einen Versuch, nicht nur die Tripelallianz zu sprengen, sondern auch die franzosenfreundliche repu- blikanische Partei in Italien zu stärken und einen Keil zwischen Italien und England zu treiben. Die italienisch-englische Freundschaft sei Frankreich ein besonderer Dorn im Auge, da sie für die französischen Aspirationen im Mittelmeer das stärkste Hindernis bilde. Frankreichs Absicht sei erkennbar, Italien erst von der Tripelalhanz abzusprengen, dann von England zu isolieren und auf diese Weise von sich abhängig zu machen. Besonders bemerkenswert sei, daß Frankreich diese Ver- suche gerade in dem Augenblick unternehme, wo es durch das eng- lische Vorgehen in der Frage der Inspektion der Gerichte sich in seinen Interessen verletzt fühle und im Begriffe sei, die ägyptische Frage gegenüber England wieder in Fluß zu bringen. Da am die Unter- stützung Deutschlands nicht zu rechnen sei, habe, wie es scheine, Herr Ribot die Bundesgenossenschaft Italiens zu diesem Zwecke in Aussicht genommen. Da zwischen ItaHen und England bezüglich der Mittel- meerfrage gewisse geheime Stipulationen beständen*, so müßte ich anheimstellen, ob nicht von den Eröffnungen Ribots außer in Wien und Berlin auch in London vertraulich Mitteilung gemacht werden soll. Lord Salisbury werde einen solchen Beweis von Vertrauen zu schätzen wissen, während es ihn umgekehrt peinlich berühren könne, wenn er auf indirektem Wege von der Sachlage Kenntnis erhalte. Man dürfe nicht außer acht lassen, daß Frankreich ein Interesse daran habe, Italien gegenüber England zu kompromittieren, und daß zu diesem Zwecke die Verbreitung von Nachrichten über französisch-itahenische Intimitäten [als] ein sehr dienliches Mittel erscheine.

Graf Launay wollte sofort in diesem Sinne nach Rom telegraphieren.

Marschall

Berlin, den 9. März 18Q1

Graf Launay hat mir heute mitgeteilt, daß Marquis Rudini das be- treffende Telegramm an den Grafen Menabrea abgesandt habe und die Kabinette von Wien und London ebenfalls von den Ribotschen Vor- schlägen und der itahenischen Erwiderung darauf Kenntnis erhalten würden.

Marschall

* Vgl. Bd. IV, Kap. XXVIII. 66

Nr. 1403

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 187 Berlin, den 9. März 1891

Aus der beifolgenden Aufzeichnung* wollen Ew. pp. ersehen, daß die französische Regierung jetzt den Augenblick für gekommen hält, um Italien vom Dreibunde und namentlich von England zu trennen. Das Anerbieten, sich Italien gegenüber d. h. also mit Italien zu- sammen — auf Erhaltung des Status quo im Mittelmeer zu verpflichten, geht noch unmittelbarer gegen die ägyptische Politik Englands als gegen Deutschland oder Österreich, welche beide den Status quo nicht bedrohen.

Aus dem Berichte Nr. 38** des Grafen Münster, welcher Ew. pp. mittelst Erlasses vom 3. d. Mts. Nr. 162 mitgeteilt wurde, haben Sie bereits entnommen, mit welcher Erregung Herr Ribot die Möglichkeit, daß England sich in Ägypten festsetzen könnte, ins Auge faßt, sowie auch, daß derselbe den Kaiserlichen Botschafter fragte, „ob er In- struktionen habe oder erwarte"? Herr Ribot hoffte also wahrschein- lich, daß auch Deutschland geneigt sein könnte, wie seinerzeit bei den französisch-chinesischen Friedenspräliminarien*** in der Erwartung einer dadurch zu erreichenden Verbesserung deutsch-französischer Be- ziehungen Frankreich wiederum seine Unterstützung zu leihen.

Daß endlich auch Rußland, wenigstens die russische Presse, den jetzigen ägyptischen Konflikt als eine Gelegenheit für eine wenigstens diplomatische Aktion betrachtet, wollen Ew. pp. aus dem gleiclifalls beigefügten Berichte des Herrn von Schweinitz ersehen.

Es v/ird sich empfehlen, wenn Ew. pp., sobald entweder der eng- lische Minister oder der italienische Botschafter Ihnen mitteilet, daß die italienische Eröffnung in London gemacht worden ist, Ihrerseits das neue Material bei Lord Salisbury verwerten, als weiteren Beweis dafür, daß England seine Seestreitkräfte im Mittelmeer verstärken und seine Beziehungen zu Italien pflegen muß.

Marschall

* Siehe Nr. 1402.

** In seinem Berichte Nr. 38 vom 26. Februar hatte Graf Münster dargelegt, daß

die von den Engländern beabsichtigte Reform der ägyptischen Justizverwaltung,

zu deren Vorbereitung sie keinen Franzosen, wohl aber einen Italiener

als Kommissar zugezogen hatten, in Frankreich als ein neues Anzeichen für das

Festsetzen Englands in Ägypten sehr verstimmt habe.

♦** Vgl. Bd. III, Kap. XX.

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Nr. 1404

Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an das

Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 49 Rorn, den 9. März 1S91

Geheim

Marquis Rudini hat mir eri<lärt, er sei nicht nur geneigt, sondern fest entschlossen, den geheimen AUianzvertrag mit uns zu vereinbaren i. Bericht folgt. Solms

Randbemerkung Kaiser Wilhelms IL: 1 Gut! Dann je eher desto besser als Antwort nach Paris.

Nr. 1405

Der Botschafter in Wien Prirz Heinrich V!I. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 68 Wien, den 11. März 1891

Geheim

Graf Nigra hat dem Grafen Kälnoky im Auftrag des Marquis Rudini folgendes mitgeteilt:

Herr Crispi habe nunmehr seinen Nachfolger von dem Ideen- austausch in Kenntnis gesetzt, welcher zwischen den Kabinetten von Berlin, Wien und Rom über die Erneuerung des Dreibundes statt- gefunden habe.

Marquis Rudini sei ebenso wie sein Vorgänger ganz bereit, den Vertrag zu erneuern, weil er darin die Vorbedingung der Erhaltung des Friedens und also auch das größte Interesse Italiens erblicke.

Graf Kälnoky hat hierauf den italienischen Botschafter gebeten, seinen Chef mit den Ansichten des hiesigen Kabinetts bekannt zu machen und hervorzuheben, wie die Besprechungen mit Herrn Crispi nicht weiter gediehen wären als bis zu der Aufforderung von hier aus, Italien sollte mit konkreten Vorsch'ägen herauskommen.

Graf Kälnoky hat dem Botschafter auch von dem Bestreben einiger italienischer Abgeordneten gesprochen, die Regierung dazu zu be- wegen, unseren geheimen Vertrag zu veröffentlichen, und ihn ersucht, den italienischen Ministerpräsidenten darauf aufmerksam zu machen, mit welcher Wärme französischerseits dieses Verlangen aufgefaßt worden sei.

Er bemerkte, der allgemeine Eindruck, den ihm das Verhalten Rudinis bisher mache, sei dahin zusammenzufassen, daß, wenn der

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neue Minister auch recht korrekt in seinen bundestreuen Gesinnungen sei und sich so ausspreche, er doch die Eigenschaften, welche man an Herrn Crispi auszusetzen hatte, in zu geringem Grade zu besitzen scheine. Während der frühere Ministerpräsident mit einer oft bedenk- lichen Empfindlichkeit jeden Schritt Frankreichs beobachtete und einen großen Lärm darüber machte, Marquis Rudini eher geneigt sei, gar vieles zu beschönigen, was von Paris ausginge.

Da ihm von Berlin aus die Meldung zugegangen sei, daß die Kaiserliche Regierung das Verhalten des Herrn von Freycinet mit argwöhnischen Augen betrachtete, so habe er es für nützlich gehalten, den Grafen Nigra hierauf aufmerksam zu machen. Wenn, wie es schiene, dieser ehrgeizige französische Minister danach strebe, die ver- ständigen Elemente wie Herrn Carnot, Ferry u. a. zu verdrängen und selbst die Zügel der Regierung zu ergreifen, dann könne man mit einiger Bestimmtheit dem Ausbruch des Revanchekrieges gegen Deutschland entgegensehen. Die italienische Regierung möge dies bedenken und nicht durch eine zu franzosenfreundliche Haltung in Frankreich den Glauben erwecken, als könne man Italien vom Drei- bund loslösen. Hierdurch könnten die dortigen Kriegsgelüste nur Er- mutigung erfahren.

Graf Nigra hat dies vollständig eingesehen und die Sache sehr ernst genommen.

H. VII. P. Reuß

Nr. 1406

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 78 Wien, den 19. März 1891

Geheim

pp. Der Minister* sprach die Ansicht aus, daß es bei der augen- scheinlich beginnenden Rührigkeit der französischen Diplomatie doch für alle Fälle recht nützlich sein würde, wenn unsere geheimen Ver- träge mit Italien bald erneuert würden. Marquis Rudini zeige sich ja gewiß als loyaler Bundesgenosse, aber seine parlamentarische Stel- lung sei keine feste, und deshalb würde es gut sein, dies Geschäft nicht hinauszuschieben.

Wie er mir schon neulich gesagt, habe er, von diesem Gedanken geleitet, den Grafen Nigra gebeten, den italienischen Ministerpräsidenten über die Lage und die hiesigen Ansichten aufzuklären. Dies habe der Botschafter auch getan, und er, Graf Kälnoky, erwarte nunmehr, daß der Marquis das unter Crispis Amtsführung ins Stocken geratene

Graf Kalnoky.

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Gespräch über diesen Gegenstand wieder aufnehmen und seinerseits Vorschläge machen werde.

Der Minister zweifelt nicht an Euerer Exzellenz Geneigtheit i, ebenso wie er in die Verhandlungen einzutreten und den dreiseitigen Vertrag mit oder ohne Abänderungen zu erneuern, pp.

H. VII. P. Reuß

Randbemerkung von Caprivis:

1 Angesichts der Möglichkeit eines Kabinetts, das noch französischer wäre, bin ich auch für baldige Aufnahme der Verhandlungen, v. C.

Nr. 1407

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Eigenhändig

Berlin, den 19. März 1891

Der italienische Botschafter gab mir bei dem heutigen Empfangstage Kenntnis von einem Telegramm des Marquis Rudini folgenden Inhalts: Graf Menabrea habe Herrn Ribot die Antwort Italiens auf die jüngsten französischen Eröffnungen* überbracht und dabei bemerkt, daß Frank- reich seine günstigen Dispositionen gegen Italien am besten durch eine Annäherung auf handelspolitischem Gebiete bekunden könne. M. Ribot habe darauf erwidert, daß er zu einer solchen Annäherung gerne bereit sei, „mais qu'il etait arrete par notre traite d'alliance, dont il ne connaissait le texte et sur le caractere duquel de simples declarations ministerielles ne pouvaient pas suffisamment rassurer". Marquis Rudini bemerkt dazu, daß er nunmehr die Sache fallen lassen werde.

Graf Launay hat sein Einverständnis hiermit telegraphisch aus- gesprochen und dabei bemerkt, daß die neueste Erklärung Ribots noch indiskreter als die frühere und „une recidive avec des circon- stances aggravantes" sei. Daß Herr Ribot auf „de simples declara- tions ministerielles" kein Gewicht lege, sei aus seinen früheren Er- klärungen bezüglich Bisertas bekannt, in denen er formelle Erklärungen eines seiner Vorgänger (Barthelemy de St. Hilaire) als nicht bindend bezeichnet habe; Herr Ribot sei also konsequent in dieser Beziehung. Für Italien erübrige nichts, als die Sache fallen zu lassen und abzu- warten, ob Frankreich demnächst freundlichere Dispositionen gegen Italien zeigen werde.

Marschall

* Vgl. Nr. 1402. 70

Nr. 1408

Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs- kanzler von Caprivi

Nr. 84 Ausfertigung

Sehr vertraulich Rom, den 23. März 1891

Als mir Marquis Rudini vor einigen Tagen erzählte, Herr Ribof lege seinen in der Kammer abgegebenen Erklärungen keinen Wert bei, Frankreich v^erde, solange es den italienisch-deutschen Vertrag nicht kenne, Italien bezüglich des Handels und der Finanzen keine Erleichterung gewähren, bemerkte ich, daß zur Veröffentlichung eines geheimen Vertrages doch schließlich beide beteiligten Mächte gehörten.

Der Minister entgegnete, er denke auch nicht daran, die Forde- rungen Frankreichs zu erfüllen; er habe dies auch dem Herrn Bonghi* wiederholt, w^elcher ebenfalls auf die Veröffentlichung des Vertrages dringe. Er habe es auch für nützlich gehalteri, dem Deputierten Imbriani von der Drohung des Herrn Ribot Mitteilung zu machen. Selbst Imbriani, der es erst nicht habe glauben wollen, sei über diese französische Unverschämtheit empört gewesen.

Beim gestrigen Sonntagsempfange hat Marquis Rudini den fran- zösischen Botschafter** wegen der Äußerung Ribots zur Rede ge- stellt und ihm gesagt, er sei durch dessen Äußerungen gegen Graf Menabrea im höchsten Grade verletzt.

Wenn er, Marquis Rudini, in der Kammer politische Gedanken und Pläne erörtert hätte, so könnte man solchen Aussprüchen einen größern oder geringern Wert beilegen, wenn er aber, wie dies ge- schehen, über ein Faktum eine ganz bestimmte Erklärung abgebe, so müsse er verlangen, daß Herr Ribot diese als vollwertig und wahr an- nehme. Wenn Herr Ribot unter der Hand die Gewährung von Zoll- erleichterungen an Italien verhindere oder durch einen Druck auf die französischen Finanzkreise das Zustandekommen italienischer Finanz- operationen hintertreibe, so sei dies zwar auch nicht freundlich, müßte aber italienischerseits ertragen werden; ein ganz anderes Gesicht aber bekomme die Sache, wenn der Minister dem italienischen Vertreter diesen seinen Entschluß cruement ausspreche; das sei eine Drohung i; außerdem könne Italien den Vertrag nicht einseitig veröffentlichen; es gehörte dazu die Zustimmung des andern Teiles; er begriffe nicht, warum Herr Ribot den Inhalt des Vertrages immer nur von Italien zu erfahren suche; er möchte sich doch einmal nach Berlin oder Wien wenden und hören, was man ihm dort antworten würde 2.

Herr Billot hat versucht, Herrn Ribot zu entschuldigen. Er habe sicherlich nicht die Absicht gehabt, Italien zu verletzen, auch sei er wahrscheinlich vom Grafen Menabrea falsch verstanden worden.

Ruggero Bonghi, Abgeordneter und Publizist Billot.

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Dann ist Herr Ribot* wieder auf die Frage zurückgekommen, ob Italien, wenn Frankreich im Falle eines Krieges Elsaß und Lothringen zurückerobern sollte, Deutschland Beistand zu leisten verpflichtet sei. Ferner hat er die neue Frage aufgeworfen, ob eventuell für Italien Kompensationen in Aussicht genommen seien, zum Beispiel in Tunis.

Marquis Rudini hat darauf erwidert: „Wenn ich Ihnen diese Fragen beantworten wollte, so würde ich Ihnen den Schlüssel zu den Verträgen in die Hand geben; dazu habe ich aber gar keine Lust und keine Veranlassung i/* Graf Solms

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.: 1 Gut 2 bravo!

Nr. 1409

Der Botschafter in Rom Graf zu Solms -Sonnenwalde an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 63 Rom, den 5. April 1891

Geheim

Marquis Rudini wird nächster Tage Graf de Launay mit Ein- leitung von Verhandlungen zur Verlängerung des Allianzvertrages be- auftragen. Nach Ideenaustausch mit Graf de Launay und Graf Nigra hält er einfache Erneuerung ohne Zusatz für das beste und baldigen Abschluß für wünschenswert, um etwaigen Intrigen durch fait accompli zuvorzukommen. Solms

Nr. 1410

Der italienische Minister des Äußern Marchese di Rudini an den italienischen Botschafter in Berlin Grafen de Launay

Abschrift in Übersetzung, übergeben vom Grafen de Launay am 24. April

Confidentielle Roma, le 15 Avril 1891

1. L'echange d'idees confidentiel que j'ai eu en ces derniers jours, par l'intermediaire de Votre Excellence et du Comte Nigra, avec les Cabinets de Berlin et de Vienne a etabli que les trois Gouvernements sont d'accord sur les points suivants:

qu'il convient de proceder des ä present au renouvellement du Traite du 20 fevrier 1887;

que le renouvellement ait lieu, substantiellement, sur la base du maintien de ce qui existe presentement;

que Berlin est le siege plus approprie pour les nouvelles nego- ciations:

So im Original; verschrieben für „Billot". 72

La phase preliminaire des negociations etant ainsi terminee, il Importe que celies-ci prennent desormais un caractere officiel, afin de pouvoir les amener rapidement ä une conclusion favorable. Ce ä quoi voulant, pour ce qui me concerne, contribuer sans retard, je m'empresse de resumer dans cette depeche les idees que Votre Ex- cellence voudra bien prendre pour guide dans les negociations immi- nentes.

2. II faut avant tout que Votre Excellence declare au Chancelier de l'Empire etre pret ä lui communiquer les propositions qui semblent au Gouvernement du Roi propres ä faciliter un renouvellement con- venable de ralliance, Cette declaration s'entend faite non seulement au Cabinet de Berlin, mais egalement ä celui de Vienne, que Son Excellence M. ie Chancelier devrait avoir la courtoisie de pressentir aussi pour notre compte, Si les deux Cabinets consentent, comme nous en avons confiance, ä nous laisser l'initiative des premicres propositions, Votre Excellence est des ä present autorisce ä !es enoncer dans les termes que je vais lui indiquer dans cette depeche.

3. Une premiere Observation de notre part porterait sur la struc- turc des nouvelles stipulations. En 1887 le renouvellement de Talliance a ete stipule moyennant un traite additionnel* dans lequel l'article l^"" (suivi d'un article 2"^ de pure forme) declare confirme et maintenu en vigueur, jusqu'au 30 Mai 1892, le precedent traite du 20 Mai 1882. A Toccasion du second renouvellement, dont il s'agit maintenant, il paraitrait convenable de reproduire sans autre et textuelle- ment dans le nouveau traite les differends articles du traite de 1882. Et l'affirmation de la continuite de Talliance desormais decennale, pourrait resulter du preambule du nouveau traite, dans lequel il serait dit que les trois Gouvernements ont ete müs ä le stipuler par le ferme propos de conserver ä leurs Etats les bienfaits qu'ils ont retires tant au point de vue politique qu'au point de vue monarchique et social de l'alliance contractee en 1882, et renouvelee une pre- miere fois dejä en 1887.

4. Une seconde et plus importante Observation de notre part se refere egalement ä la structure du nouvel accord. Lorsque, a l'occasion des negociations de 1887, on ajouta aux stipulations origi- naires de 1882 d'autres stipulations ä Tegard desquelles les Cabinets de Vienne et de Berlin ne crürent pas pouvoir assumer une attitude identique, on eut recours ä l'expedient de conclure avec l'Autriche- Hongrie et l'Allemagne deux traites separes**, comme complement du traite principal de renouvellement. Le lien entre les trois traites etait, toutefois, solennellement declare dans le proces-verbal de signa- ture, les termes duquel, en verite, ne pourraient etre plus explicites

* Siehe den Text Bd. IV, Nr. 858.

** Siehe den Text des deutsch-italiciiischen Separatvertrages Bd. IV, Nr. 859; der

Text des österreichisch-italienischen Vertrages bei Pribram a. a. O., S. 44 f.

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et peremptoires ä cet egard. II me semble que, au lieu de re- courir ä un expedient semblable, il serait hon de reunir en un seul et meme traite les stipulations des trois traites separes. Cette trans- formation des pactes actuellement en vigueur me paraitrait corre- spondre ä I'intention, qui s'enracine toujours plus profondement chez les trois Gouvernements, de se constituer en groupe indissoluble pour la tuteile et la sauvegarde des interets communs d'ordre, d'equilibre et de paix. Si, pour des motifs legitimes, les trois Puissances n'ont pas toutes dans le groupe allie une position parfaitement identique, si certains liens et certaines obligations sont valables pour l'une d'elles, tandis que l'autre n'a pas pu ou voulu les accepter, nous ne croyons pas pour cela qu'il faille renoncer ä l'unite de l'acte, car on peut parfaitement concevoir et admettre qu'ä cote des stipulations communes figurent des stipulations speciales ä la Charge de l'une ou de I'autre des trois parties contractantes. Le traite de 1882 lui-meme, auquel se refere le traite additionnel de 1887, nous fournit dejä un exemple de cette variete d'obligations dans Tunite de Tacte, ce dont il est tres aise de se convaincre en lisant les articles II et III du premier traite, lesquels assignent ä chacune des trois Puissances des devoirs et des droits notablement differents.

Si notre proposition trouve un accueil favorable ä Berlin et ä Vienne, on devrait intercaler dans le nouveau traite, outre les articles V et VI, les articles reproduisant sauf les modifications que je vais mentionner les deux traites separes de 1887.

5. Le premier alinea de l'article I du traite separe en vigueur entre l'Italie et l'Autriche-Hongrie, et l'alinea unique de l'article I du traite separe entre l'Italie et l'Allemagne sont reciproquement identi- ques, sauf cette seule difference que, dans le traite avec l'Allemagne, Pobligation de s'employer ä empecher quelconque changement terri- torial nuisible en Orient se refere expressement aux cötes et iles ottomanes de l'Adriatique et de la mer Egee. En se tenant ä la lettre du pacte, une semblable restriction ne pourrait avoir que ce seul effet: d'obliger en verite l'Allemagne ä veiller au maintien du statu quo dans les iles et sur les cötes ottomanes de la mer Egee et de l'Adria- tique, mais de dispenser l'Allemagne, pour ce qui concerne les cötes de la Mer Noire et les regions interieures de la peninsule des Balkans. II est cependant permis de douter que la repugnance du Gouvernement Allemand aille aussi loin pour tout ce qui peut Her son action dans la peninsule balkanique. S'employer ä maintenir le statu quo, sans distinction entre zone et zone de la peninsule, ne devrait pas lui paraitre un engagement trop onereux ou incompatible avec la liberte qu'il veut se reserver ä cet egard, principalement en vue de ses relations avec la Russie. Je croirais que l'on pourrait demander, non sans espoir d'un accueil favorable, que l'Allemagne aussi accepte, pour la clause dont il s'agit, la formule du traite avec rAutriche. Et si notre

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demande est accueillie, dans le traite unique viendrait, immediatement apres l'article V, un article VI reproduisant le premier alinea de l'article I du traite separe avec l'Autriche-Hongrie.

6. L'article II actuel du traite separe avec TAllemagne suivrait ensuite, comme article VII. L'Autriche-Hongrie ne peut evidemment avoir de difficulte ä opposer sa signature ä une stipulation semblable, qui correspond ä sa politique, non moins qu'ä celle de ses deux allies.

7. Le deuxieme alinea actuel de l'article I du traite separe avec l'Autriche-Hongrie formerait l'article VIII, en supprimant seulement le mot „toutefois*'. La teneur, exprimant une obhgation exclusive- ment bilaterale entre l'Italie et l'Autriche-Hongrie, en serait purement et simplement maintenu.

8. Les cotes nord-africaines du bassin central et occidental de la Mediterranee, sont exclusivement contemplees dans le traite separe entre l'Italie et l'AUemagne, et nous ne voudrions pas demander que l'Autriche-Hongrie assume une position identique ä l'egard de ces regions, dans lesquelles eile a declare plusieurs fois n'avoir pas d'interets directs. Cependant, meme en les considerant seulement dans les rapports mutuels entre l'Italie et l'AUemagne, les pactes de 1887 relatifs ä ces regions ne nous paraissent pas correspondre pleinement aux interets communs, qui sont des interets d'equiHbre et de paix, L'article III du traite italo-allemand separe envisage, en effet, l'even- tualite extreme d'une guerre provoquee par des invasions frangaises, mais n'envisage point la possibilite d'une action pacifique et diplo- matique concordee entre les deux Cabinets, II me semble qu'en se modelant sur ce qui a ete sttpule, pour l'Empire Ottoman, entre l'Italie et l'Autriche-Hongrie par le traite separe du 20 fevrier 1887, et entre l'Italie, l'Autriche-Hongrie et l'Angleterre par I'accord ä trois du 12/16 decembre 1887, on pourrait convenablement stipuler des pactes analogues entre l'Italie et l'AUemagne relativement ä la Tripolitaine, la Tunisie et le Maroc. Le but pourrait etre atteint moyennant un article IX ainsi congu:

„L'Italie et l'Allemagne s'engagent ä s'employer au maintien du statu quo de fait et de droit dans les regions nord-africaines de la Mediterranee: la Cyrenaique, Tripolitaine, Tunisie et le Maroc. Les representants des deux Puissances dans ces regions auront l'instruc- tion de se maintenir dans la plus grande intimite de Communications et d'assistance reciproque. Si le maintien du statu quo se montrait malheureusement impossible, l'Allemagne s'engage ä appuyer l'Italie dans I'action que celle-ci, sous forme d'occupation ou autre garantie, devrait entreprendre dans un interet d'equilibre et de compensation legitime."

Q. Comme complement naturel du nouveau pacte, viendraien^ ensuite un article X et un article XI reproduisant les articles III et IV actuel du traite separe entre l'Italie et l'Allemagne, avec les seuls

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variantes necessaires pour mieux mettre en lumiere qu'il s'agit ici d'engagement pris exclusivement tintre l'Italie et l'Allemagne.

10. La Serie des pactes separes se trouvant ainsi epuisee, on reviendrait ä la reproductions des articles VI, VII et VIII restants du traite de 1882, qui dans le nouveau traite porteraient les numeros XII, XIII et XIV.

11. L'articie XII (VI) pourrait, ä Texemple de ce qui a dejä ete stipule dans les deux traites separes de 1887, se borner ä etablir I'obligation du secret pour le seul contenu du traite, et non plus aussi pour son existence. Desormais I'existence de l'Alliance a ete plusieurs fois admise et publiquement declaree par les Ministres dirigeants des trois Etats. A Tavenir aussi il sera utile de pouvoir I'affirmer, et il ne serait pas bienseant de faire une chose expressement defendue par le traite.

12. Enfin, ä Tarticle XIII (VII), on pourrait stipuler pour le nouveau traite une duree de cinq ans apres l'echeance de la periode quinquennale actuelle; ou, mieux encore, stipuler une duree de six ans ä partir du jour de la signature du nouveau traite.

13. Pendant les negociations preliminaires on a parle de com- pleter les pactes politiques de l'alliance moyennant quelque stipulation d'ordre economique, et Ton a reconnu l'impossibilite de contracter en cette matiere des engagements precis. II ne nous parait pas cependant que Ton devrait pour cela renoncer ä toute idee de ce genre. Pour ce qui nous concerne et sous reserve de Tapprobation parle- mentaire pour les stipulations ulterieures qui seraient le corollaire d'un consentement de principe nous ne serions pas cloignes de participer ä un accord moyennant lequel les trois allies se pro- mettraient reciproquement de s'accorder en matiere economique (finance, douanes et chemins de fer), outre le traitement de la nation plus favorisee, toutes les facilitations particulieres compatibles avec les exigences propres ä chaque Etat et avec les Conventions respectives avec les tierces Puissances.

14. En vertu des accords de fevrier 1887 et du mois de decembre suivant*, l'Angleterre participe virtuellement aux stipulations en vigueur entrc Tltalie et TAutriche-Hongrie, de par le traite separe du 20 fevrier 1887, relativement ä l'Orient proprement dit, c'est ä dire les terri- toires sous la domination du Sultan. II serait bon que l'Allemagne et l'Italie, sinon les trois Puissances, se promissent de s'employer en commun, sous la forme que les circonstances consentiraient le mieux, ä obtenir l'accession de l'Angleterre aussi aux pactes entre l'Italie et l'Allemagne relativement ä la Tripolitaine, la Tunisie et le Maroc, de fa^on ä ce que la Cooperation de l'Angleterre nous fut assuree, diplomatiquement pour le maintien du statu quo en ces re-

* Vgl. Bd. IV, Kap. XXVI und XXVIII. 76

gions, et aussi militairement pour les cas oü, d'une perturbation du statu quo par le fait de la France, pourrait deriver un conflit arme entre celle-ci et les deux Puissances alliees.

15. Les deux pactes adjonctifs ci-dessus mentionnes, devraient, je pense, trouver plus convenablement place dans un protocole separe. Pour notre compte, cependant, nous n'aurions pas de difficulte ä les inscrer dans le corps meme du traite.

16. Pour mieux expliquer ma pensee je joins ici un projet de traite* et de protocole** conformes aux propositions qui precedent.

17. Les presentes Instructions passent par Vienne, II en reste copie au Comte Nigra, avec faculte d'en donner connaissance au Comte Kalnoky. Je ferai de meme pour toute autre proposition ulterieure. II est toutefois bien entendu que Ton veut concentrer la negociation ä Berlin, et qu'il appartient au Chancelier Imperial, auquel nos pro- positions sont presentees par vous, de nous repondre, non seulement pour son propre compte, mais aussi pour le compte du Cabinet de Vienne, par lui prealablement consulte. Cette methode, dejä pratiquee pour les negociations de 1882 ä Vienne, et de 1887 ä Berlin, a donne d'excellents resultats: il est bon de l'adopter aussi pour les negociations actuelles ä Berlin. Une double discussion, en deux endroits differents, sur le meme objet, serait evidemment impossible.

18. J'ai divise la presente depeche en autant de paragraphes numerotes. De cette maniere les references eventuelles dans notre correspondance ulterieure, surtout telegraphique, seront plus faciles.

19. Je conclus en vous exprimant, aussi au nom de Sa Majeste, la plus entiere confiance, avec le ferme espoir que le concours eclaire et devoue de Votre Excellence aura de bons resultats, pour le bien du pays et ä Tavantage de la cause de la paix, en laquelle reside I'essence de notre politique.

(signe) Rudini

Anlage

Projet de Traite*** Art. VI. Les Hautes Parties contractantes n^ayant en vue que le maintien, autant que possible, du status quo territorial en Orient, s'engagent ä user de Leur influence pour prevenir toute modification territoriale qui porterait dommage ä l'une ou ä l'autre des Puissances signataires du present traite. Elles se communiqueront, ä cet effet,

* Vgl. die Anlage.

** Das von Rudini vorgeschlagene Schlußprotokoll ist wörtlich gleichlautend mit

dem nachher wirklich abgeschlossenen Protokoll (siehe Nr. 1427), braucht hier also

nicht aufgenommen zu werden.

*** Artikel 1— V hier übergangen, weil völlig gleichlautend mit den Artikeln I V

des Vertrages vom 20. Mai 1882. Siehe Bd. III, Nr. 571.

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tous les renseignements de nature ä les eclairer mutuellement sur leurs propres dispositions ainsi que sur Celles d'autres Puissances.

Art. VII. Les stipulations de l'article qui precede ne s'applique- ront d'aucune maniere ä la question egyptienne, au sujet de laquelle les Hautes Parties contractantes conservent respectivement leur liberte d'action, en egard toujours aux principes sur lesquels repose le present traite.

Art. VIII. Dans le cas oü, par suite des evenements, le maintien du statu quo dans les regions des Balkans, ou des cotes et iles ottomanes dans l'Adriatique et dans la mer Egee deviendrait im- possible, et que, soit en consequence de l'action d'une Puissance tierce, soit autrement, l'Italie ou rAutriche-Hongrie se verraient dans la necessite de le modifier par une occupation temporaire ou per- manente de Leur part, cette occupation n'aura Heu qu'apres un accord prealable entre les deux Puissances, base sur le principe d'une compen- sation reciproque pour tout avantage, territorial ou autre, que chacune d'Elles obtiendrait en sus du statu quo actuel, et donnant satis- faction aux interets et aux pretentions bien fondees des deux Parties.

Art. IX. L'Italie et l'Allemagne s'engagent ä s'employer pour le maintien du statu quo de fait et de droit dans les regions nord- africaines sur la Mediterranee, ä savoir la Cyrenai'que, la Tripolitaine, la Tunisie et le Maroc. Les representants des deux Puissances dans ces regions auront pour Instruction de se tenir dans la plus etroite intimite de Communications et assistance mutuelles. Si malheureuse- ment le maintien du statu quo devenait impossible, l'Allemagne s'engage ä appuyer l'Italie en toute action, sous la forme d'occupation ou autre prise de garantie, que cette derniere devrait entreprendre en vue d'un interet d'equilibre et de legitime compensation.

Art. X. S'il arrivait que la France fit acte d'etendre son oc- cupation, ou bien son protectorat, ou sa souverainete, sous une forme quelconque, sur les territoires nordafricains, et qu'en con- sequence de ce fait l'Italie crüt devoir, pour sauvegarder sa position dans la Mediterranee, entreprendre elle-meme une action sur les dits territoires nordafricains, ou bien recourir sur le territoire frangais en Europe aux mesures extremes, l'etat de guerre qui s'en suivrait entre l'Italie et la France constituerait ipso facto sur la demande de l'Italie, et ä la charge commune de l'Italie et de l'Allemagne le casus foederis prevu par les articles II et V du present traite, comme si pareille eventualite y etait expressement visee.

Art. XI. Si les chances de toute guerre entreprise en commun contre la France par les deux Puissances amenaient l'Italie ä rechercher des garanties territoriales ä l'egard de la France, pour la securite des frontieres du Royaume et de sa position maritime, ainsi qu'en vue de la stabiHte de la paix, l'Allemagne n'y mettra aucun obstacle,

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et au besoin, et dans une mesure compatible avec les circonstances, s'appliquera ä faciliter les moyens d'atteindre uti semblable but.

Art. XII. Les Hautes Parties contractantes se promettent mutuellement le secret sur le contenu du present traite.

Art. XIII. Le present traite restera en vigueur durant Tespace de six ans ä partir de l'echange des ratifications.

Art. XIV. Les ratifications du present traite seront echangees ä Berlin, dans un delai de quinze jours, ou plus tot si faire se peut.

Nr. 1411

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 114 Wien, den 21. April 1891

Geheim

Der italienische Botschafter hat gestern dem Grafen Kälnoky Mitteilung von den Vorschlägen gemacht, welche Marquis Rudini behufs der Erneuerung unserer geheimen Verträge mit Italien in diesen Tagen an den Grafen Launay nach Berlin hat abgehen lassen.

Graf Kälnoky, der mir dies heute mitteilte, sagte mir, er habe sich nicht auf eine Diskussion der italienischen Vorschläge eingelassen, sondern dem Grafen Nigra gesagt, da Berlin als Ort der Verhand- lungen gewählt worden sei, so wolle er der Kaiserlich deutschen Re- gierung nicht vorgreifen, sondern die Meinungsäußerung Euerer Ex- zellenz abwarten, bevor er der Sache näher treten werde. Er habe, so äußerte der Minister, sich deshalb auch nicht in Gegenwart des Botschafters auf eine Vergleichung des neuen Projekts mit den alten Verträgen eingelassen.

Soviel er indessen aus der flüchtigen Lesung des italienischen Projekts habe ersehen können, scheine man sich doch die Auffassung des Herrn Crispi einigermaßen angeeignet zu haben und eine Unifi- zierung der zwei Verträge anzustreben. Vom österreichischen Stand- punkt aus betrachtet, ließe sich dies auf den ersten Blick nicht als absolut unannehmbar betrachten. Was Deutschland beträfe, so dürften bei uns die Ansichten vielleicht sich anders stellen. Der Minister fragte mich, ob ich ihn wohl darüber aufklären könnte.

Ich habe hierauf mich in dem Sinne dessen geäußert, was Euere Exzellenz mir vor kurzem in Berlin gesagt haben, nämlich:

l.daß die Kaiserliche Regierung damit einverstanden sei, daß die

Verhandlungen in Berlin geführt würden, daß Euere Exzellenz entschieden wünschten, daß die Sache so

rasch wie möglich unter Dach gebracht würde, und

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3. daß es der Kaiserlichen Regierung geraten erscheine, die alten Verträge so, wie sie sind, zu erneuern, ohne ein Wort daran zu ändern; denn, so hätten Euere Exzellenz argumentiert, wenn es auch vielleicht Punkte gäbe, die besser zu ändern sein würden, so wisse man nicht, wenn einmal an dem alten Werk gerührt würde, zu welchen Weiterungen dies führen könnte.

Aus diesen Gründen, so setzte ich hinzu, glaubte ich kaum, daß die italienischen Abänderungsvorschläge bei uns auf guten Boden fallen würden.

Graf Kälnoky erwiderte mir, daß er ganz mit Euerer Exzellenz Ansichten übereinstimmte, denn ihm käme es auch in erster Linie darauf an, daß das Geschäft rasch abgeschlossen würde.

Nur einen Gedanken erlaube er sich der Erwägung Euerer Ex- zellenz anheimzugeben, den er auch dem Grafen Nigra gegenüber ausgesprochen hätte. Man hätte gesehen, daß die Vertragsfrist von fünf Jahren zur Kenntnis des großen Publikums gekommen wäre. Allerdings habe Herr Crispi dieses Geheimnis selbst in einer seiner Reden verraten. Durch dieses Bekanntwerden sei eine Erregung in die Welt gekommen; die Kabinette und die Feinde des Dreibundes hätten in Anbetracht des baldigen Ablaufes der Verträge einerseits darauf spekuliert, andererseits versucht, den Bund zu sprengen und die Erneuerung zu hindern. Dies alles würde, wie er glaube, ver- hindert werden, wenn man die Formel, welche sich auf die Dauer der Verträge bezieht, abändere und sage: daß, wenn nach Ablauf der Vertragszeit die Verträge nicht gekündigt würden, dieselben für drei oder für vier Jahre weiterliefen.

Dieser Ausweg hätte auch folgenden Vorteil: Wenn, was ja nicht unmöglich sei, ein Feind des Dreibundes die italienische Politik gerade zu dem Augenblick leite, wo nach fünf Jahren die Erneuerungsverhand- lungen stattfinden müßten, so könne dieser hindernd in den Weg treten. Nach dem von ihm angeregten Modus sei dies aber nicht leicht möglich, denn die Verträge zu kündigen sei viel schwerer, als dieselben in neuen Verhandlungen zum Scheitern zu bringen. Hätte man mit Rumänien diesen Modus angewendet, so würde man dort den jetzigen Schwierigkeiten nicht gegenüberstehen.

Der Minister wartet nun eine Mitteilung von uns ab, wie die italienischen Vorschläge aufgenommen worden sind. Je schneller die- selbe erfolge, und je bestimmter sie lauten wird, desto besser würde es sein,

Marquis Rudini sei gewiß vortrefflich, aber wielange er sich werde halten können, sei nicht vorauszusehen.

H. VII. P. Reuß 80

Nr. 1412 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

Berlin, den 23. April 1891

Wenn die von Italien in den Artikeln VI und IX vorgenommenen Veränderungen am Bestehenden den Zweck haben, Deutschland noch mehr als bisher zu engagieren, so ist das um so ungerechtfertigter, als gleichzeitig die italienischen Streitkräfte reduziert werden. Man verlangt mehr und verringert die eigene Gegenleistung. Robilant ver- langte am 26./11. 86 mehr, als der Vertrag von 1882 Italien bot; unser Vertrag vom 20./2. 87 ging noch über jenes Verlangen hinaus, und jetzt genügt auch das noch nicht. Ist denn der reale Nutzen der italienischen Allianz für uns groß genug, um es in das Belieben Italiens zu stellen, ob wir wegen einer afrikanischen Oase in einen Kampf ums Dasein verwickelt werden?

Ich kann immer nur wiederholen: der militärische Wert von Italiens Bundesgenossenschaft hängt zumeist davon ab, ob England der vierte im Bunde ist und Italien die Sorge um seine Küsten ab- nimmt. Eine Konzession an Italien, welche zugleich England nutzt und verbindet, ist mir lieber wie eine, von der England nichts hat. Man kann Italien Zugeständnisse machen für den Fall, daß die Türkei zerfällt, nicht aber Versprechungen in Tripolis pp. bei lebendigem Leibe des Türken, und solange England ein Interesse an seinem Leben hat.

Ich vermeine also, daß ernstlich danach getrachtet werden muß, Italien im Bündnis zu erhalten, ohne ihm mehr zu geben. Sagt ihm die Form eines gemeinsamen Vertrages zu Dreien mehr zu, so habe ich dagegen kein Bedenken.

Auffallend ist mir, daß im Eingange die Worte aus dem bis- herigen Vertrag zu Dreien fehlen: animes du desir d'augmenter les garanties de la paix generale. Bei der dereinstigen Interpretation einzelner Vertragsstellen kann diese Zweckbestimmung doch nütz- lich sein.

Zu Artikel VI. Gegen die Auslegung der Worte „sur les cotes et lies ottomanes, dans la mer Adriatique et dans la mer Egee'* sehe ich kein Bedenken. Meines Erachtens handelt dieser ganze Passus nur von diplomatischer, nicht aber von militärischer Unterstützung, wie aus dem „influence'' zu folgern ist. Auch findet Passus VI auf alle drei, also auch auf Österreich Anwendung; hätte er eine mili- tärische Tragweite, so wäre auch Österreich für den weiteren Begriff „Orient" falls dieser dem Sprachgebrauch nach Afrika überhaupt ein- schließen sollte militärisch gebunden, während Artikel VIII die „Aktion" Österreichs auf eine Afrika nicht umfassende Sphäre beschränkt.

Ich würde glauben, daß eine Erweiterung unserer diplomatischen

6 Die Grnße roli'ik. 7. Bd. 81

Unterstützung in Nordafrika, soweit es zum Orient zu rechnen ist, um so eher zugesagt werden kann, als es Italien nach Artikel X ohne- hin in der Hand hat, uns wegen Nordafrika vor den casus foederis zu stellen.

Zu Artikel IX. Während Artikel X zweifellos eine militärische Unterstützung Italiens durch Deutschland für den Fall im Auge hat, daß Italien Frankreich angreift, verstehe ich Artikel IX so, daß es sich hier nur um ein diplomatisches „appuyer" handelt, aber ohne Begrenzung auf Frankreich als Gegner und unter Ausdehnung auf ganz Nordafrika. Damit könnten wir in Marokko zu einer Gegner- schaft Englands kommen, die zu vermeiden wir auch um Italiens willen ein dringendes Interesse haben. Italien darf keinen Vertrag abschließen, der eine Spitze gegen England haben könnte.

Was wir Italien an Unterstützung auf diplomatischem Wege zu leisten haben, drückt Artikel VI umfänglich genug aus; in dieser Hin- sicht ist IX entbehrlich, kann nur verwirrend wirken.

Wie aber Italien glauben kann, sich für eine Verletzung des Status quo ohne Krieg an anderer Stelle durch prise de garantie schadlos zu halten, ist mir unerfindlich. Solche Verletzung könnte doch nur als von einer Italien nicht verbündeten Macht, die am Mittelmeer liegt, also Türkei oder Frankreich, ausgehend gedacht sein. Diesen gegen- über kann Italien doch eine Garantie nur wieder in türkischem oder französischem Lande suchen. Ohne Krieg ist das nicht denkbar. Mit einem Kriege kann Italien aber auf Grund des Artikels X schon jetzt, ohne den neuen Artikel zum Ziele kommen und uns den casus foederis aufdrängen.

Ich verstehe nicht, was man sich italienischerseits unter solcher Garantie denkt, und wo sie hergenommen werden soll. Wollte sie Italien der Türkei entreißen, ehe diese aufgeteilt wird, und solange England an der Erhaltung der Türkei ein Interesse hat, so verliert es die Freundschaft Englands, ohne die es im Mittelmeer keinen Schritt tun kann. Wollte Italien die Garantie aber auf französischem oder von Frankreich beanspruchtem Boden suchen, ist der Krieg da und muß erst, und zwar am Rhein und den Alpen, ausgefochten sein, ehe vom Einheimsen eines Gewinnes die Rede sein kann.

Ich möchte hoffen, daß es möglich sein muß, Italien von der Nutzlosigkeit des Artikels IX zu überzeugen. Vielleicht käme man am leichtesten dahin, wenn man den italienischen Unterhändler veranlassen könnte, aus dem Gebiet der Phrase herauszutreten und an Beispielen zu erläutern, wie man sich diese occupation und prise de garantie etwa denkt. Daraus werden wir kein Hehl zu machen brauchen, daß wir militärisch Italien immer nur auf eine einzige Weise unter- stützen können: Krieg am Rhein.

V. Caprivi

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Nr. 1413

Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt

von Kiderlen

Eigenhändig

Berlin, den 24. April 1891

Die italienischen Vorschläge gipfeln, von nebensächlichen Ände- rungsvorschlägen abgesehen, in zwei neuen Forderungen: wir sollen am Balkan und im westlichen Mittelmeerbecken neue, resp. erweiterte Verpflichtungen übernehmen; neue Vorteile werden uns dagegen nicht geboten.

1. Die erste den Balkan i betreffende Forderung findet sich in Ar- tikel VI des vom italienischen Botschafter übergebenen Vertrags- entwurfs*. Nach diesem Artikel würde auch Deutschland ganz aii- gemein sich verpflichten, den status quo territorial en Orient aufrecht- zuerhalten.

Die Annahme des Artikels wäre somit ein offener, schriftlich fixierter Bruch 2 mit der zur Zeit des Fürsten Bismarck befolgten Politik, und zwar durch eine neue Belastung Deutschlands am Balkan, speziell in Bulgarien. Diese vertragsmäßige Belastung würde einer Interpella- tion im Reichstag gegenüber schwer abzuleugnen sein 3; sie würde aber, bekannt geworden, die öffentliche Meinung schwer beunruhigen, unsere Beziehungen zu Rußland trüben und uns keinen Vorteil bringen.

Unsere Politik am Balkan und an den Meerengen* derart festzu- legen, hätte aber noch weitere positive Nachteile bei kriegerischen Verwicklungen. Es läßt sich zum Beispiel folgender Fall denken: Wir geraten in Krieg mit den Franzosen; Rußland droht, Österreich anzu- greifen s, zeigt sich aber doch bereit, sich mit diesem über Kom- pensationen auf der Balkanhalbinsel und an den Meerengen abzufinden. Wir werden dann viel eher in der Lage sein, als „ehriiche Makler" eine friedliche Auseinandersetzung zwischen Rußland und Österreich zu vermitteln, wenn uns bei der Verfügung über die uns nicht direkt interessierenden Objekte, welche zwischen jenen beiden Ländern streitig sind, die Hände nicht zum voraus gebunden sind.

Dies den Italienern in dieser Weise zu sagen, dürfte aber nicht gut sein. Der italienische Vorschlag könnte vielleicht in der Weise abgelehnt werden:

wir müßten uns, wenn die Vertragsveriängerung bekannt werde 6, im Reichstage auf die Frage gefaßt machen, ob wir im Orient neue Verpflichtungen übernommen. Könnten wir dies nicht verneinen, so würde Beunruhigung geschaffen'^, und unsere Beziehungen zu Ruß- land, sowie zugleich auch diejenigen unserer Verbündeten zu letzterem würden erschwert und getrübt. Oute deutsch-russische Beziehungen

* VgL Nr. 1410, Anlage.

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liegen aber im Interesse Italiens, denn dieses muß wünschen, daß wir bei einem etwaigen gemeinschaftliciien Kriege mit Frankreicli unsere ganze Kraft gegen dieses einsetzen könnten.

Das, was die Italiener zu erlangen wünschen, bestehe aber schon de facto; eine Störung im Orient sei nur von Rußland zu befürchten; für diesen Fall aber genüge unser Bündnis mit Österreich und unser Beitritt zum österreichisch-rumänischen Vertrag, der ja voraussichtlich erneuert werde. Schließlich würde ein, wenn auch nur vages Bekannt- werden weitergehender Abmachungen über den „Orient" im all- gemeinen geeignet sein, England zu verleiten, dort die Hände noch mehr als bisher in den Schoß zu legen, was gerade Italien nicht wünschen kann.

2. Die zweite italienische Forderung betrifft die nordafrikanische Küste. Wenn hier, insbesondere um der italienischen Regierung dem eigenen Lande gegenüber die Vertragserneuerung zu erleichtern, ein weiteres Entgegenkommen von unsrer Seite über die bisherigen Ver- träge hinaus für möglich erachtet würde, so müßten gegen die von Italien in Artikel IX des Vertragsentwurfs vorgeschlagene Fassung eine doppelte Einwendung gemacht werden:

Nach der italienischen Fassung müßten wir für jedes, also auch ein aggressives Vorgehen Italiens in Nordafrika eintreten s, ohne daß wir auf ein solches Vorgehen vorher irgendwelchen Einfluß hätten.

In dem von Graf Launay übergebenen Memoire sagt Marquis Rudini selbst, der Artikel sei „modele sur ce qui a ete stipule pour l'Empire ottoman entre l'Angleterre, l'ltalie et l'Autriche"; dort wird aber aus- drücklich accord prealable verlangt. Ein solcher müßte auch in dem neuen Paragraph IX zur Voraussetzung unserer Unterstützung eines italienischen Vorgehens gemacht werden 9.

Dies dürfte italienischerseits anerkannt werden, da Rudini im Me- moire von einer „action pacifique et diplomatique concordee" spricht.

Ferner muß es als selbstverständlich betrachtet werden, daß wir keine italienische Aktion im Mittelmeer gegen England unterstützen können. Dies muß aber in dem Paragraphen ausdrücklich gesagt werden.

Der ganze Paragraph dürfte aber am besten in einen besonderen Vertrag zu bringen sein, den man dann den Engländern eventuell zeigen kann, um sie nach Rudinis ausdrücklichem Wunsch zu ähnlichen Abmachungen mit Italien zu veranlassen.

Die Aufnahme des vorgeschlagenen Paragraphen in einen be- sondern Vertrag 10, der für uns mit den erwähnten zwei Modifikationen nicht unannehmbar sein dürfte, würde der allerseits gewünschten Be- schleunigung der Erneuerung des Bündnisses förderlich sein.

Wenn Italien damit einverstanden ist, daß der Artikel VI den Wortlaut erhält, den er in dem 87^'' Vertrag zwischen uns und Italien hat, und daß bezüglich des Inhalts des Artikels IX, wenn sich über

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dessen Fassung Schwierigkeiten ergeben sollten, zunächst nur in euicm besondern Protokoll ein pactum de contrahendo geschlossen würde, so würde einem raschen Abschlüsse des Vertrags kaum etwas im Wege stehen.

Ob der auf die ökonomischen Beziehungen der drei Staaten unter- einander sich beziehende passus materiell zu beanstanden ist, vermag ich nicht zu beurteilen; formell würde er wohl ebenfalls besser zum Gegenstand eines besondern Vertrags zu machen sein.

Im übrigen dürfte der italienische Wunsch, alle bisherigen Ver- träge in einen einzigen zusammenzugießen, weder hier noch in Wien zu beanstanden sein.

Österreich, dem keine neuen Verpflichtungen von dem ökonomi- schen Paragraphen abgesehen zugemutet werden, dürfte auch sonst keine Einwendungen erheben.

Der vom Prinzen Reuß erstattete Bericht (AS 594)* bezeugt dies. Nur wünscht Graf Kälnoky, daß der Vertrag nach Ablauf von fünf Jahren von selbst fortdauert, wenn er nicht ausdrücklich gekündigt wird. Dagegen dürfte unsrerseits kein Bedenken bestehen.

Es kann aber wohl Graf Kälnoky überlassen werden, diesen An- trag seinerseits zu stellen, sobald wir dem italienischen Wunsch ent- sprechend das zwischen uns und Italien Vereinbarte in Wien vorlegen werden.

Bezüglich des Geheimnisses wünscht Italien, daß dasselbe nur auf den Inhalt des Vertrags, nicht auf seine Existenz erstreckt werde. Vielleicht könnte man, statt das Wort „existence" (im italienischen Ent- wurf Artikel XII) einfach zu streichen, dasselbe durch „duree" ersetzen. Man würde sich also gegenseitig das Geheimnis über Inhalt und Dauer des Vertrags, nicht aber über die Existenz desselben ver- sprechen. Kiderlen

Randbemerkungen von Caprivis:

1 Woraus folgt, daß der Balkan unter den Begriff „Orient" fällt? M. E. ist das nicht der Fall. Fiele er aber unter diesen Begriff, so haben wir uns schon durch den jetzigen Artikel I zum maintien du statu quo territorial auf dem Balkan bekannt.

2 Deduktion, deren Richtigkeit ich bezweifle.

3 Wie kommt der Reichstag dazu, hier eine Rolle zu spielen? Hat sich die Re- gierung früher auf Interpellation über geheime Verträge eingelassen?

* An den Meerengen haben wir sie schon jetzt festgelegt; was heißt denn les Gutes et lies Ottomanes dans la mer Egee anders?

* Wenn dieser Fall einträte, werden wir als Makler wenig Wert haben, weil uns dann die Macht fehlt, unsere Vorschläge zu unterstützen.

^ Können wir das sagen, wenn wir uns zur Geheimhaltung verpflichten? ^ Sind Verpflichtungen für Tripolis nicht ebenso beunruhigend?

8 Müssen wir jetzt auch schon

9 gut

10 Ehe ich darüber urteilen kann, muß ich mir irgendeine Vorstellung darüber bilden können, was mit prise de garantie gemeint ist.

* Siehe Nr. 1411.

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Nr. 1414

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Eigenhändig

Berlin, den 24. April 18Q1 Zu dem anliegenden Gutachten gestatte ich mir zu bemerken: Der Artikel I des österreichisch-ungarisch-italienischen Vertrages vom Jahre 1887* begreift unter „Orient" weder Ägypten noch Nord- afrika (Tripolis, Tunis pp,), sondern wie der Absatz 2 des Artikels zeigt ausschließlich „les rcgions des Balkans, les cotes et iles ottomanes dans l'Adriatique et dans la mer Egee''; der Artikel I des deutsch-italienischen Vertrags von 1887** spricht in seinem Ein- gange, wo davon die Rede ist, „Les parties contractantes ayant en vue" usw., ebenfalls vom Statu quo territorial „en Orient", beschränkt jedoch diesen Begriff in den folgenden Worten, in denen die Verpflichtungen der kontrahierenden Staaten bezeichnet werden, auf „les cotes et iles ottomanes dans la mer Adriatique et dans la mer Egee". Wenn also dem neusten italienischen Vorschlage ent- sprechend diese letzteren Worte gestrichen und Deutschland in dieser Beziehung dieselben Verpflichtungen übernehmen solU, welche bisher zwischen Italien und Österreich-Ungarn bestanden, so ist die praktische Folge, daß wir uns engagieren 2, unsern Einfluß auch für Erhaltung des Status quo „dans les Balkans" einzusetzen. Ich halte diese Änderung für bedenklich. Wir haben allen Anlaß, uns bezüglich der einschlägigen Fragen freie Hand zu erhalten; einmal aus Rücksicht auf Rußland, welches in einer deutschen Garantie für den von ihm perhorreszierten Status quo, speziell in Bulgarien bzw. Ostrumelien einen feindseligen Akt Deutschlands erblicken und dar- aus ein weiteres Motiv entnehmen würde, sich enger an Frankreich anzuschließen, sodann aber und dies ist für mich der gewich- tigste Punkt weil wir durch ein engagement für den „Statu quo territorial dans les Balkans" uns eines gewichtigen Pressionsmittels gegenüber österreichischen bezw. ungarischen Velleitäten begeben würden. Seit Jahren hat die Deutsche Regierung wiederholt Anlaß gehabt, in Wien vor Torheiten zu warnen, speziell davor, daß Öster- reich sich, um ungarischen Chauvinisten zu gefallen, in Bulgarien allzu- sehr für die gegenwärtigen Verhältnisse engagiere und Rußland gegen- über mit dem Feuer spiele; unser durchschlagendes Argument dabei war, daß wir im Balkan und speziell in Bulgarien keinerlei Interesse haben, und Österreich-Ungarn, wenn es durch sein Vorgehen einen Krieg mit Rußland provoziere, dies auf eigene Gefahr tue. Nehmen

* Vgl. Pribram a.a.O., 5.14. ** Vgl. Bd. IV, Nr. 859.

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wir jetzt den italienischen Vorschlag an, so würde man uns in einem ähnlichen Falle in Wien einfach erwidern: „Was wollt Ihr denn, wir arbeiten an der Erhaltung des Status quo territorial, und für den habt Ihr Euch selbst verbürgt 3/< Wir würden daher nach den ver- schiedensten Richtungen in eine schiefe Lage kommen; war es ein Fehler, sich mit Rußland gegen den Statu quo dans les Balkans zu engagieren (vgl. den geheimen Vertrag mit Rußland) und damit Ruß- land die Möglichkeit zu geben, uns bei unseren Bundesgenossen zu kompromittieren, so scheint es mir andererseits nicht geraten, uns mit Österreich-Ungarn und Italien in Verbindungen für den Status quo einzulassen, deren Geheimhaltung wir im Interesse der Erhaltung unseres guten Verhältnisses zu Rußland wünschen müßten.

Auch der Gesichtspunkt, daß wir uns stets die Möglichkeit vor- behalten müssen, zwischen Türkei und Österreich bezüglich der Balkan- frage zu vermitteln, spricht gegen die Annahme des italienischen Vor- schlags.

Der italienische Vorschlag bezüglich Nordafrikas ist nur akzeptabel, wenn eine Form gefunden wird, welche auf England Rücksicht nimmt und bei der Frage der Kompensationen die Notwendigkeit eines vor- herigen Akkords statuiert.

Marschall

Randbemerkungen von Caprivis:

1 Dem widerspricht m. E. die verschiedene Fassung von Art. VIII und IX.

verstehe ich nicht so

3 nicht mehr wie schon bisher.

Nr. 1415 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

[Berlin, den 24. April 1891]

Die Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Herren und mir* kommt im wesentlichen darauf hinaus, was unter „Orient'' zu verstehen ist. Diese Meinungsverschiedenheit zeigt aber auf alle Fälle, daß die jetzige Redaktion von Artikel VI eine uns ungünstige Aus- legung zuläßt und deshalb besser zu ändern ist.

Artikel IX scheint mir nach wie vor der bedenklichere schon seiner noch größern Unklarheit wegen, und weil ich vermute, daß er die Crispischen Traditionen in bezug auf Tunis, Biserta pp. im Auge hat.

Vgl. die beiden voraufgehenden Schriftstücke.

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Der Status quo de droit geht wohl auf die Umwandlung der französi- schen Okkupation in Annexion.

In bezug auf den zitierten Reichstag bitte ich recherchieren zu lassen, wie die Regierung sich bisher in bezug auf die Besprechung geheimer Verträge verhalten hat.

Im übrigen habe ich mir erlaubt, einige Bleibemerkungen an den Rand zu setzen.

y. Caprivi

Nr. 1416

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich Vll. Reuß

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen

Nr. 26S Berlin, den 25. April 1891

Geheim

Die dem Grafen Kalnoky bereits bekannten italienischen Vor- schläge wegen Vertragserneuerung sind auch hier durch den Grafen Launay mitgeteilt worden*. Für die Verhandlungen mit Österreich dürfte sich kaum eine nennenswerte Schwierigkeit erheben, da diesem die Übernahme neuer Verpflichtungen nicht zugemutet wird und Graf Kalnoky nach Ihrem Bericht Nr. 114 vom 21.4.** gegen den italieni- schen Vorschlag, nur einen Vertrag zu schließen, keine Bedenken zu haben scheint.

Auch wir haben gegen den letzteren Vorschlag um so weniger etwas einzuwenden, als bereits im Schlußprotokoll die Einheitlichkeit und der Zusammenhang der bisherigen verschiedenen Verträge an- erkannt ist.

Von uns dagegen verlangt Italien Zusagen, die weitergehen als diejenigen, welche wir in den bisherigen Verträgen gemacht haben. Es handelt sich um unsere Zusicherungen betreffs des Orients und Nordafrikas; die neuen italienischen Forderungen finden sich in den Artikeln VI und IX des vom Grafen Launay übergebenen Vertrags- entwurfs; ich füge zu Euerer pp. Orientierung Abschrift der beiden Artikel bei***.

Der Artikel VI ist eine wörtliche Wiedergabe des ersten Absatzes des Artikels I des österreichisch-italienischen Vertrags vom 20. Februar ISST; er unterscheidet sich dagegen von dem entsprechenden Artikel

* Siehe Nr. 1410.

** Siehe Nr. 1411.

*** Hier nicht wiederholt, da schon in Nr. 1410, Anlage abgedruckt

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unseres Vertrags mit Italien dadurch, daß in letzterem sich hinter „prevenir" die einschränkenden Worte befinden „sur les cotes et lies ottomanes, dans la mer Adriatique et dans la mer Egee", und daß diese Worte im jetzigen italienischen Entwurf auch uns gegen- über weggelassen sind.

Artikel IX ist vollständig neu und enthält eine Erweiterung der Verpflichtungen, welche wir in dem als Artikel X in den italienischen Entwurf aufgenommenen Artikel III unseres Separatvertrags mit Italien übernommen haben.

Es wird ohne längere Ausführungen dem österreichischen Herrn Minister begreiflich erscheinen, daß wir wenig Neigung haben, weiter- gehende Zusagen als die bisherigen zu machen, um so weniger, als uns keine größeren Vorteile als Äquivalent geboten werden.

Wir glauben Grund zu der Annahme zu haben, daß die Wieder- herstellung unseres alten Vertragstextes im Artikel VI bei Italien keine großen Schwierigkeiten finden würde. Was den neu eingeschobenen Paragraphen IX betrifft, so sind wir, um Italien unsern guten Willen zu zeigen, und im Interesse einer Beschleunigung des Abschlusses des neuen Vertrags bereit, mit den Italienern eine Fassung des Artikels IX zu suchen, die uns denselben annehmbar macht.

Gegen das vorgeschlagene Protokoll, das gleichfalls neue Vor- schläge enthält, und von dem ich deshalb Abschrift für Euere pp. beifüge, haben wir keine Bedenken geltend zu machen.

Der erste, die handelspolitischen Beziehungen betreffende Abschnitt ist schon in Anbetracht der am Eingang und am Schlüsse gemachten Restriktionen mehr dekorativer Natur. Der Beitritt Englands zu unsern Abmachungen mit Italien bezüglich Nordafrikas und des westlichen Beckens des Mittelmeers, auf den sich der zweite Abschnitt des Protokolls bezieht, kann uns nur erwünscht sein, und wir werden uns daher um diesen Beitritt gern im „moment opportun" bemühen.

Den von Graf Kälnoky angeregten Gedanken, daß der Vertrag, wenn er nicht ausdrücklich gekündigt wird, eo ipso als auf eine Reihe von Jahren erneuert angesehen werden soll, werde ich gleichfalls bei den Verhandlungen mit Italien schon jetzt verwerten.

Euere pp. wollen das Vorstehende dem Grafen Kälnoky vertrau- lich mitteilen und dabei bemerken, daß wir, sobald wir uns mit Italien über die einzelnen Punkte verständigt haben, das Resultat dieser Ver- handlungen in Wien mitteilen werden. Sollte aber Österreich hinsicht- lich irgendeines Punktes noch besondere Wünsche haben, so würden wir deren vertrauliche Mitteilung an uns schon während des jetzigen Stadiums der Verhandlungen als nützlich für eine wünschenswerte Beschleunigung der Verhandlungen ansehen.

Marschall

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Nr. 1417

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 126 Wien, den 27. April 1891

Geheim

Ich habe heut den Inhalt des hohen Erlasses Nr. 268 vom 25. d. Mts.*, die Erneuerung der geheimen Verträge mit Italien be- treffend, mit dem Grafen Kälnoky besprochen.

Er hat mich gebeten, Euerer Exzellenz für diese sehr schätzens- werte Mitteilung, sowie auch für die an den Tag gelegte Rücksichts- nahme auf eventuelle österreichische Wünsche zu danken. Es freue ihn sehr, daß Euere Exzellenz seine Anregung wegen des später ins Leben zu tretenden Modus bei Erneuerung des Vertrags angenommen hätten und verwerten wollten.

Der Minister erklärte mir zunächst, daß er keine Wünsche habe, da für Österreich-Ungarn der italienische Entwurf auch in der heutigen Form angenommen werden könnte. Außerdem würde er von dem Wunsch geleitet, nichts zu tun, was den Abschluß hinausschieben und denselben komplizieren könnte.

Er werde indessen sehr gern seine Zustimmung zu den Ab- änderungen geben, die wir noch vornehmen würden. Daß uns die beiden Artikel VI und IX nicht passen würden, habe er sich wohl gedacht. Wenn Aussicht vorhanden sei, daß die Wiederherstellung unseres alten Vertragstextes im Artikel VI bei Italien keine großen Schwierigkeiten finden würde, so sei dies erfreulich.

Daß uns die neuen, durch die Einschiebung des Artikels IX zu übernehmenden Verpflichtungen nicht paßten, fände er von unserem Standpunkt aus betrachtet sehr natürlich. Die Italiener hätten eben versucht, uns für den status quo am Mittelmeer in höherem Grade zu interessieren, als dies bisher der Fall gewesen. Es sei italienischer Brauch, bei allen Geschäften, auch bei politischen, aufzuschlagen und zu versuchen, soviel als möglich zu erlangen; man ließe sich aber auch wieder herunterhandeln, ohne daß dies weiter böses Blut machte.

Nach meinem ehrerbietigsten Erachten kann ich dem Grafen Käl- noky nur recht geben. Wenn es den Italienern nützlich erscheint, ohne größere Gegenleistungen zu gewähren, uns aus unserer be- währten alten Stellung im Orient und Nordafrika hinauszudrängen, so sehe ich durchaus keine Verpflichtung für uns, ihnen den Willen zu tun; und dies um so weniger, als die itahenischen Wünsche hier in Wien keine Unterstützung finden.

Siehe Nr, 1418. 90

Mit der Fassung des Protokolls ist Graf Kälnoky einverstanden. Er wird mit Interesse den weiteren geneigten Mitteilungen über den Gang der Verhandlungen entgegensehen.

H. VII. P. Reuß

Nr. 1418

Der Militärattache in Rom Oberstleutnant von Engelbrecht an Kaiser Wilhelm II.

Abschrift

Rom, den 28. April 1891

Der französische Botschafter Herr Billot, welcher seinerzeit der BegräbnisfeierHchkeit des verstorbenen Prinzen Napoleon* fern- geblieben war, hatte wenige Tage nach derselben eine Audienz er- beten, um Seiner Majestät dem Könige das Beileid der französischen Regierung auszudrücken.

Bei dieser Gelegenheit hat Herr Billot es für passend gefunden, das Ansinnen auf Veröffentlichung des Vertrages zwischen Deutsch- land und Italien, in noch dazu sehr entschiedener Weise, zu stellen.

Der Verlauf der Unterhaltung über diesen Gegenstand ist folgen- der gewesen.

Auf die gegenseitigen Beziehungen beider Länder das Gespräch überführend, äußerte Herr Billot sein Bedauern, daß es bisher noch immer nicht gelungen sei, dieselben den Interessen beider Länder ent- sprechend zu gestalten. Es liege allein beim Könige, einen wohl- tätigeren Zustand hier eintreten zu lassen, und nun sprach Herr Billot die Bitte aus, den Vertrag mit Deutschland zu veröffentlichen, da es sonst für Frankreich nicht möglich sei, auf dem Wege des Ent- gegenkommens weiter fortzuschreiten.

Der König erwiderte, daß die Veröffentlichung eines Vertrages nur mit Zustimmung beider Kontrahenten geschehen könne, man möge daher diesem Wunsche auch in Berlin Ausdruck geben.

Herr Billot deutete darauf hin, in welche schwierige Lage Frank- reich versetzt wäre; man könne doch nicht verlangen, daß es seine Mittel einem Lande zur Verfügung stelle, von welchem man wisse, daß es im Falle eines Krieges sein Gegner sein werde.

Die Erklärung des Königs, daß Frankreich weder von Italien noch von Deutschland eine Aggression zu befürchten habe, daß der Vertrag lediglich auf Erhaltung des Friedens hinziele, vermochte den Argwohn des Botschafters nicht zu beseitigen. Derselbe wurde ein- dringlicher, konnte auch die bisher beobachtete Ruhe nicht bewahren und ließ sich zur Äußerung verleiten, daß es schwer zu verstehen

Prinz Jerome Napoleon f 17. März in Rom.

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sei, daß sich Männer zur Bildung einer Regierung fänden, ohne die übernommenen Verträge zu kennen, er (Herr Billot) würde in ein solches Ministerium nicht eintreten.

Die Verträge, so bemeri<te der König, seien von ihm eingegangen worden; dieselbe zu kennen brauche nur der Minister des Äußern, außer Mancini, Robilant, Crispi und Rudini habe in Italien niemand von den Verträgen Kenntnis erhalten.

Da Herr Billot auch nun noch weiter insistierte, so erklärte der König, dem Botschafter in der Auffassung, die Veröffentlichung des Vertrages zu einem Gegenstand von Leistung und Gegenleistung zu machen, nicht folgen zu können; für ihn sei es eine Frage der Würde; er könne es nur bedauern, wenn die von einem Souverän gegebene Versicherung hinsichtlich des Charakters des Vertrages nicht zur Be- seitigung unrichtiger Vorstellung beizutragen vermöchte, und stellte, das Gespräch beendigend, Herrn Billot anheim, sich an den Marquis di Rudini zu wenden, der mit seinen Instruktionen versehen sei.

Einige Tage später sah Marquis di Rudini Herrn Billot und unterließ nicht, demselben sein Befremden über die Art auszudrücken, in welcher der Botschafter erwähnte Angelegenheit mit dem Könige verhandelt habe.

Man war gescheitert, den Vertrag auf diesem Wege zu erfahren, und schlug nunmehr einen anderen ein.

Es mögen ungefähr zehn Tage her sein, als sich bei dem Mi- nister des Äußern Herr Padova, der Agent Rothschilds in Italien, an- melden ließ.

Derselbe war Träger eines Briefes des Hauses Rothschild, in welchem dasselbe mit ausdrücklicher Zustimmung des auswärtigen Ministers Herrn Ribot der italienischen Regierung die notwendigen Geldmittel zur Disposition stellte, unbeschadet des weiteren Verbleibens Italiens in der Alliance mit Deutschland. Dahingegen möge Italien nur in einer, eventuell geheim zu haltenden schriftlichen Erklärung die Verhältnisse und Bedingungen angeben, unter denen es sich an einem Kriege Deutschlands gegen Frankreich beteiligen werde.

Marquis di Rudini entgegnete Herrn Padova, daß er bedauere, einen Italiener vor sich zu sehen, welcher der Regierung seines Vaterlandes eine solch unwürdige Handlung zumute. Herr Padova fingierte über diesen „unverdienten" Vorwurf Entrüstung und erwiderte, daß er ge- glaubt, als Patriot zu handeln, um sein Land aus der schwierigen Lage zu befreien. Der Marquis schnitt indes das Gespräch mit der Be- merkung ab, daß jede Diskussion über die Angelegenheit mit dem unnütz sei, welcher kein richtiges Fühlen für dieselbe habe, und bat Herrn Padova, ihn nie wieder in dieser Sache aufzusuchen.

Dem Könige über den Vorfall mündlich Bericht erstattend, fügte der Minister hinzu, daß im ersten Moment die Versuchung groß für ihn gewesen sei, den schmutzigen Hebräer an den Hals zu fassen und

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ihn mit einem Fußtritt zur Tür hinauszubefördern, doch habe er sich trotz seiner Indignation gesagt, daß dies einem Marquis di Rudini nicht wohl angestanden haben würde.

Die stolze Gesinnung des Marquis hat sich vor solchem Schmutz gebäumt, und hat er deshalb auch nicht gewollt, daß durch eine Mit- teilung an seine auswärtigen Organe diesen bekannt werde, mit welcher vilen Zumutung man an ihn herangetreten sei.

Auf die ausdrückliche Frage, ob mir der Vorfall mitgeteilt werden dürfe, hat der Minister nichts dagegen einzuwenden gehabt, und da dieser Vorgang sowie der eingangs erwähnte für die Beurteilung der Persönlichkeit der leitenden auswärtigen Minister am Tiber und an der Seine von Wert sein kann, so habe ich gewagt, in tiefster Ehrfurcht alleruntertänigsten Bericht hierüber zu erstatten i.

(gez.) von Enge 'brecht

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: 1 Gut.

Nr. 1419 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

Berlin, den 28. April 1891 Meine Bedenken gegen Artikel IX bestehen auch in der jetzt vor- geschlagenen Fassung* fort.

Ich verstehe nicht, was der Artikel, wenn er nicht irgendeinen mir unbekannten Hintergedanken hat, den Italienern nutzen soll. Schädigen die Franzosen italienisches Interesse in Nordafrika, so gibt den Ita- lienern Artikel VI unsere diplomatische Unterstützung. Kommt dabei italienischerseits ein Wunsch nach Kompensationen zum Ausdruck, der uns gefällt, so werden wir unsere influence einsetzen, um den Ita- lienern diese Kompensation zu verschaffen. Gefällt die Sache uns nicht, so werden wir nicht darauf eingehen, und den Italienern steht dann frei, den casus foederis nach Artikel X zu schaffen. Mehr gibt Artikel IX auch nicht, es sei denn die Ausdehnung auf Marokko. Daß Italien an Marokko ein reales Interesse hätte, sehe ich nicht. Der mür examen

* Am 27. April hatte Graf Launay dem Staatssekretär Freiherrn von Marschall eine neue Fassung des Artikels IX vorgeschlagen. Danach sollte das letzte Alinea dieses Artikels nunmehr lauten: „Si malheureusement en suite d'un mür examen de la Situation et un echange de vues, l'Italie et l'AUemagne reconnaissaient l'une et I'autre que le maintien du statu quo devenait impossible, l'AUemagne s'engage apres un accord formet et prealable, ä appuyer l'Italie en toute action sous la forme d'occupation ou autre prise de garantie, que cette derniere devrail entreprendre dans un interet d'equilibre et de legitime compensation. 11 est entendu, que pour pareille eventualite une entente prealable devrait aussi s'etablir avec l'Angleterre."

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und der accord prealable schaffen keine andere Lage als die, die Ar- tikel VI gibt, sind nur Umschreibungen des im Artikel VI Gesagten. Soll der accord prealable heißen: wir behalten freie Hand, so ist der ganze Artikel IX überflüssig. Kommen wir aber nicht zu gleichen An- sichten, so tritt, wenn wir Artikel IX annehmen, wahrscheinlich eine stärkere Spannung ein wie nach Artikel VI. ' Reale, militärische Hülfe verschafft Artikel IX den Italienern auch nicht, denn dazu sind wir weder in Albanien noch in Afrika imstande. Solche Hülfe können wir nur am Rhein geben, und dazu reicht Artikel X hin. Der italienische Gedanke, ohne Krieg zu einer Kompensation zu kommen, ist gegen Frankreichs Wille der Krieg und mit Frankreichs Einverständnis, auch ohne im Vertrag eine Rolle zu spielen, ausführbar.

Dem Artikel IX liegt ein unklarer Gedanke zugrunde, der nach- her in der Ausführung wieder Unklarheiten schaffen wird. Er nutzt den Italienern nichts und uns auch nicht.

Die Änderung „de fait et de droit' in „territorial" wäre eine Ver- besserung, schließt aber nicht aus, daß irgendeine unfindbare Oase den Vorwand gibt, eine Verletzung des status quo zu konstruieren.

Die entente prealable mit England kann, wenn die Kompensation z. B. in Albanien gesucht würde, Österreich verletzen.

V. Caprivi

Nr. 1420

Der italienische Botschafter in Berlin Qraf de Launay an den Staats- sekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Eigenhändig

Berlin, le 30. Avril 1891 Par telegramme que j'ai regu au moment Vous me faisiez votre aimable visite, le Marquis di Rudini me mande qu'il accepte la nouvelle formule que j'avais propose pour l'article IX*. II me donne seulement ^Instruction de proposer l'amendement suivant pour la der- niere phrase relative ä l'Angleterre:

„II est entendu que pour pareiile eventualite, les deux Puissances chercheraient ä se mettre egalement d'accord avec l'Angleterre."

Les mots „devrait aussi s'etablir" seraient donc omis de maniere que les mots ,, entente prealable". Cela semblerait faire de cette en- tente une condition preliminaire de l'appui de l'Allemagne. Ce serait livrer en quelque sorte au bon plaisir d'une tierce Puissance la valeur d'une clause engageant les deux Puissances contractantes. Une sem- blable combinaison ne serait reguliere qu'au cas l'accession de TAngleterre ä Talliance serait dejä un fait accorapli.

* Siehe Nr. 1419, Fußnote. 94

Acceptez-Vous la modification proposee? Je voudrais pouvoir telegraphier aujourd^hui encore votre reponse au Marquis di Rudini. Ce qu'il demande me parait acceptable.

Mon bureau chiffre ä Tinstant ce qui a ete convenu dans notre entretien aujourd'hui.

Launay

Nr. 1421

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen

Nr. 278 Berlin, den 30. April 1891

Geheim [abgegangen am 1. Mai]

Euerer pp. beehre ich mich zu Ihrer Information und für die dortigen Akten anbei Abschrift des italienischerseits vorgelegten Ent- wurfs eines an Stelle der bisherigen Allianceverträge von 1882 und 1887 zu setzenden einheitlichen Vertrags zu übersenden.

Dieser mit „I" bezeichnete Entwurf ist derjenige, der meinem Erlasse Nr. 268 vom 25. d. Mts.* zugrunde gelegt war, und der auch dem Grafen Kälnoky bereits vorliegt.

Die weiter beiliegende, mit „II" bezeichnete Abschrift eines Ent- wurfs** enthält das Resultat meiner bisherigen Besprechungen mit dem Grafen Launay. Nach den dem letzteren inzwischen aus Rom zu- gegangenen Weisungen ist man dort mit diesem neuen Projekt im wesentlichen einverstanden.

Über zwei Punkte, die ich weiter unten näher bezeichnen werde, fehlt noch die Äußerung des Marquis Rudini. pp.

Wie Euere pp. aus Entwurf II ersehen, haben wir an Stelle des italienischen Artikels VI zwei Artikel VI und VII gesetzt, welche zugleich den im italienischen Entwurf als VIII bezeichneten Artikel enthalten. Damit ist der Wortlaut der betreffenden Artikel des deutsch- italienischen und des österreichisch-italienischen Vertrags wieder- hergestellt. Der Marquis Rudini hat sich mit dieser Redaktion einver- standen erklärt.

Der Artikel VIII des Entwurfs II entspricht dem Artikel VII des Entwurfs I, und somit, da Artikel VIII des letzteren in Artikel VII des Entwurfs II enthalten ist, entspricht Artikel IX des Entwurfs II wieder dem Artikel IX des Entwurfs I, mutatis mutandis.

Die von uns beantragten Änderungen im Artikel IX, die Euere pp.

* Siehe Nr. 1416.

** Der Abdruck erübrigt sich, da d-eser zweite Entwurf in allem irgend Wesent- lichen bereits identisch ist mit dem endgültigen Wortlaut des Vertrages.

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mit roter Tinte eingezeichnet finden, sind von Marquis Rudini bereits gebilligt. Nur haben wir noch ferner die Worte „et le Maroc" ge- strichen; darüber fehlt noch die Antwort aus Rom, da Graf Launay erst heute darüber nach Rom berichtet hat. Doch zweifeln wir auch in diesem Punkt nicht an der italienischen Zustimmung. Wir haben die Streichung jener Worte beantragt, zunächst, weil wir sie angesichts des spanisch-italienischen Abkommens, dem wir ebenso wie Österreich beigetreten sind*, für ein superfluum halten.

Maßgebend für uns war aber der Gesichtspunkt, daß sich im letzt- genannten Abkommen Italien und Spanien feierlich zusagen, sich über alles Marokko Betreffende laufende Mitteilungen zu machen, und daß es deshalb nicht angängig ist, daß wir mit Italien ein vor Spanien zu verheimlichendes Separatabkommen treffen, das namentlich bei den etwaigen Änderungen des „statu quo** mit dem spanisch-italienischen Abkommen kollidieren könnte.

Artikel XIV, betreffend die Vertragsdauer, entspricht der Anregung des Grafen Kälnoky. Um demselben in Rom leichter Eingang zu ver- schaffen, habe ich mit Graf Launay den ziemlich nichtssagenden Ar- tikel XIII verabredet.

Letzteres bemerke ich jedoch nur zu Ihrer persönlichen In- formation. Auch über diesen Punkt die jeweilige Wiedererneuerung des Vertrags steht die Antwort des Marquis Rudini noch aus.

Sobald die Antwort aus Rom auf die zwei Punkte Streichung von Marokko und Artikel wegen der Dauer eingegangen ist, und falls dieselbe, wie zu erwarten, zustimmend lautet, steht von unserer und italienischer Seite der Unterzeichnung des Vertrags nichts mehr im Wege.

Euere pp. wollen vorstehendes dem Grafen Kälnoky mitteilen und ihm den Entwurf II zu lesen geben, ihm auch auf V^erlangen Ab- schrift desselben lassen. Euere pp. bitte ich, zugleich den Herrn Minister zu fragen, ob er seinerseits unter Voraussetzung der italieni- schen Zustimmung zu den noch offenen zwei Punkten noch Wünsche oder Bedenken hinsichtlich des zwischen uns und Italien vereinbarten Vertragstextes habe. Sollte dies nicht der Fall sein, so wollen Euere pp., falls der Herr Minister mit der Unterzeichnung in Berlin einverstanden ist, demselben vorschlagen, schon jetzt die erforderliche Spezialvollmacht für den hiesigen österreichischen Botschafter anfertigen und abgehen zu lassen, damit die Unterzeichnung dann nach kurzer telegraphischer Verständigung ohne Verzug vor sich gehen kann. Denselben Vorschlag habe ich durch Graf Launay an das italienische Kabinett übermitteln lassen.

Marschall

* Vgl. Nr. 1394, S. 54, Fußnote **. Den Text des Abkommens siehe bei Pribram a. a. O., S. 61 ff.

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Nr. 1422

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen

Nr. 80 Berlin, den 1. Mai 1891

Geheim

Heute abend dort eintreffender Erlaß, betreffend Vertragserneue- rung*, ist dahin zu ergänzen, daß soeben italienisches Kabinett den in jenem Erlaß noch als offen bezeichneten zwei Punkten zugestimmt hat.

Demnach sind wir und Italien über Entwurf II einig. Einige ganz indifferente stilistische Änderungen folgen per Postchiffre! Teilen Sie dies Graf Kälnoky mit dem Hinzufügen mit, daß Graf Launay seine Spezialvollmacht am 6. erwartet. Melden Sie telegraphisch Ant- wort des Ministers

Marschall

Nr. 1423

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 81 Wien, den 2. Mai 1891

Geheim

Antwort auf Erlaß Nr. 278** und Telegramm Nr. 80***.

Graf Kälnoky wird Vertragsentwurf seinem Kaiser vorlegen. Vor- behaltlich der allerhöchsten Genehmigung, an der er nicht zweifelt, erklärt er mir schon heute sein Einverständnis. Er beabsichtigt nicht, Abänderungen vorzuschlagen, und wird die Vollmacht für Graf Szechenyi womöglich am 5. in Berlin eintreffen.

Reuß

Nr. 1424

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall

an Kaiser Wilhelm II.

Telegramm. Entzifferung Geheim Berlin, den 6. Mai 1891

Euerer Majestät melde ich, daß der Vertrag soeben von dem Herrn Reichskanzler und den Botschaftern von Österreich-Ungarn und Italien

* Siehe Nr. 1421. ** Siehe Nr. 1421. ♦** Siehe Nr. 1422.

7 Die Große Politik. 7 Bd. 97

unterzeichnet wurde i. Die italienische Regierung hat aus parlamen- tarischen Gründen den Wunsch aussprechen lassen, daß die Tatsache der Erneuerung der Verträge erst in einigen Wochen bekanntgegeben werde 2.

Marschall

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Hurrah „Durch."

2 Einverstanden

Nr. 1425

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Rom Grafen zu Solms-Sonnenwalde

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderien

Nr. 208 Berlin, den 7. Mai 1891

Geheim

Euerer pp. beehre ich mich zu Ihrer ganz persönlichen Informa- tion ergebenst mitzuteilen, daß gestern nachmittag die Euerer pp. be- kannten geheimen Verträge aus den Jahren 1882 und 1887 in einem neuen einheitlichen Vertrage verlängert worden sind. Dieser neue Vertrag ist seit gestern an Stelle der bisherigen drei Verträge getreten, nämlich des Vertrags zu Dreien vom 20. Mai 1882 resp. 20. Februar 1887, sowie des deutsch-italienischen und des österreichisch-italieni- schen Vertrags von demselben Datum. In den neuen Vertrag sind die Bestimmungen der erwähnten Verträge wörtlich wieder aufgenommen; außerdem sind noch einige neue, nachstehend aufgeführte Ver- einbarungen dazu getreten. Die wichtigste derselben enthält der Ar- tikel IX des neuen Vertrags, in welchem wir den Italienern unsere Unterstützung für Aufrechterhaltung des Status quo an der nordafrikani- schen Küste, mit Ausnahme Marokkos ganz allgemein zusagen und gleichzeitig uns für eine Verständigung über eine Aktion engagieren, die einzutreten haben würde, wenn nach der gemeinsamen Auf- fassung beider Regierungen die Aufrechterhaltung des status quo un- möglich würde. Marokko ist in diesem Artikel mit Rücksicht auf das in dieser Beziehung bestehende spanisch-italienische Abkommen, dem wir beigetreten sind, nicht erwähnt. Euere pp. erhalten anbei Ab- schrift des Wortlauts des Artikels IX, welche Sie ebenso wie diesen Erlaß unter Ihren persönlichen, sicheren Verschluß nehmen wollen.

Die Dauer des Vertrags ist zunächst auf 6 Jahre festgesetzt; er- folgt jedoch ein Jahr vor Ablauf desselben keine Kündigung seitens eines der Beteiligten, so bleibt der Vertrag für weitere 6 Jahre in Kraft.

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Dem Vertrag ist noch ein Protokoll angeheftet. In dem ersten Absatz desselben versprechen sich die drei Kontrahenten gegenseitiges Entgegenkommen in ökonomischen Fragen; in dem zweiten Absatz sagen sich die vertragschUeßenden Parteien zu, in geeigneter Weise auf Anschluß Englands an die deutsch-italienischen Abmachungen be- züglich der nordafrikanischen Küste und des westlichen Mittelmeer- beckens hinzuwirken, pp.

Marschall

Nr. 1426 Text des Dreibund- Vertrages vom 6. Mai 1891

Ausfertigung

Leurs Majestes l'Empereur d'AlIemagne, Roi de Prusse, TEmpereur d'Autriche, Roi de Boheme etc. et Roi Apostolique

de Hongrie, et le Roi d'Italie fermement resolus d'assurer ä Leurs Etats la continuation des bienfaits que leur garantit, au point de vue politique aussi bien qu'au point de vue monarchique et social, le maintien de la Triple Alliance, et voulant dans ce but prolonger la duree de cette alliance conclue le 20 mai 1882 et renouvelee, une premiere fois dejä, par les traites du 20 fevrier 1887 dont l'echeance etait fixee au 30 mai 18Q2 ont, ä cet effet, nomme comme Leurs plenipotentiaires, savoir: Sa Majeste l'Empereur d'AlIemagne, Roi de Prusse:

le Sieur Leon de Caprivi, general d'infanterie, Chancelier de l'Empire, Son President du Conseil des Ministres de Prusse; Sa Majeste l'Empereur d'Autriche, Roi de Boheme etc. et Roi Apo- stolique de Hongrie:

le Sieur Emeric, Comte Szechenyi, de Särväri Felsö-Videk, Cham- bellan et Conseiller Intime Actuel, Son Ambassadeur Extraordi- naire et Plenipotentiaire pres Sa Majeste l'Empereur d'AlIemagne, J^oi de Prusse; Sa Majeste le Roi d'Italie:

le Sieur Edouard, Comte de Launay, Son Ambassadeur Extra- ordinaire et Plenipotentiaire pres Sa Majeste l'Empereur d'AlIe- magne, Roi de Prusse, lesquels, apres echange de leurs pleins-pouvoirs, trouves en bonne et due forme, sont convenus des articles suivants:

Article I. Les Hautes Parties contractantes se promettent mutuellement paix et amitie, et n'entreront dans aucune alliance ou engagement dirige contra l'un de Leurs Etats.

r 99

Elles s'engagent ä proceder ä un echange d'idees sur les questions politiques et economiques d'une nature generale qui pourraient se presenter, et se promettent en outre Leur appui mutuel dans la limite de Leurs propres interets.

Article II.

Dans le cas I'Italie, sans provocation directe de sa part, serait attaquee par la France pour quelque motif que ce soit, les deux autres Parties contractantes seront tenues ä preter ä la Partie attaquee secours et assistance avec toutes Leurs forces.

Cettc meme Obligation incombera ä I'Italie dans le cas d'une agression non directement provoquee de la France contre TAllemagne.

Article III. Si une ou deux des Hautes Parties contractantes, sans provocation directe de Leur part, venaient ä etre attaquees et ä se trouver engagees dans une guerre avec deux ou plusieurs Grandes Puissances non signataires du present Traite, le „casus foederis" se presentera simultanement pour toutes les Hautes Parties contractantes.

Article IV. Dans le cas une Grande Puissance non signataire du present Traite menacerait la securite des Etats de l'une des Hautes Parties contractantes, et la Partie menacee se verrait par forcee de lui faire la guerre, les deux autres s'obligent ä observer, ä l'egard de Leur allie, une neutralite bienveillante. Chacune se reserve, dans ce cas, la faculte de prendre part ä la guerre, si Elle le jugeait ä propos, pour faire cause commune avec Son allie.

[-- ^ Article V.

Si la paix de l'une des Hautes Parties contractantes venait a etre menacee dans les circonstances prevues par les articles precedents, les Hautes Parties contractantes se concerteront en temps utile sur les mesures militaires ä prendre en vue d'une Cooperation eventuelle. Elles s'engagent, des-ä-present, dans tous les cas de participation commune ä une guerre, ä ne conclure ni armistice, ni paix, ni traite, que d'un commun accord entre Elles.

Article VI. L'Allemagne et I'Italie, n'ayant en vue que le maintien, autant que possible, du statu quo territorial en Orient, s'engagent ä user de Leur influence pour prevenir, sur les cotes et iles ottomanes dans la Mer Adriatique et dans la Mer Egee, toute modification territoriale qui porterait dommage ä l'une ou ä l'autre des Puissances signataires du present Traite. Elles se communiqueront, ä cet effet, tous les renseignements de nature ä s'eclairer mutuellement sur Leurs propres dispositions, ainsi que sur Celles d'autres Puissances.

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Article VII. L'Autriche-Mongrie et Tltalie, n'ayant en vue que le maintien, autant que possible, du statu quo territorial en Orient, s'engagent ä user de Leur influence pour prevenir toute modification territoriale qui porterait dommage ä l'une ou ä Tautre des Puissances signataires du present Traite. EUes se communiqueront, ä cet effet, tous les renseignements de nature ä s'eclairer mutuellement sur Leurs propres dispositions, ainsi que sur celles d'autres Puissances. Toutefois dans le cas, oü, par suite des evenements, le maintien du statu quo dans les regions des Balkans ou des cötes et lies ottomanes dans l'Adria- tique et dans la Mer Egee deviendrait impossible, et que, soit en consequence de Taction d'une Puissance tierce soit autrement, l'Autriche- Hongrie ou l'Italie se verraient dans la necessite de le modifier par une occupation temporaire ou permanente de Leur part, cette oc- cupation n'aura Heu qu'apres un accord prealable entre les deux Puissances, base sur le principe d'une compensation rcciproque pour tout avantage, territorial ou autre, que chacune d'Elles obtiendrait en sus du statu quo actuel et donnant satisfaction aux interets et aux pretentions bien fondees des deux Parties.

Article VIII.

Les stipulations des articles VI et VII ne s'appliqueront d'aucune

maniere ä la question egyptienne au sujet de laquelle les Hautes

Parties contractantes conservent respectivement Leur liberte d'action,

en egard toujours aux principes sur lesquels repose le present Traite.

Article IX.

L'AlIemagne et l'Italie s'engagent ä s'employer pour le maintien du statu quo territorial dans les regions nord-africaines sur la Me- diterranee ä savoir la Cyrenaique, la Tripolitaine et la Tunisie. Les representants des deux Puissances dans ces regions auront pour In- struction de se tenir dans la plus etroite intimite de Communications et assistance mutuelles.

Si malheureusement, en suite d'un mür examen de la Situation, l'Allemagne et l'Italie reconnaissaient l'une et l'autre que le maintien du statu quo devenait impossible, l'Allemagne s'engage, apres un accord formel et prealable, ä appuyer l'Italie en toute action sous la forme d'occupation ou autre prise de garantie, que cette derniere devrait entreprendre dans ces memes regions en vue d'un interet d'equilibre et de legitime compensation.

II est entendu que pour pareille eventualite les deux Puissances chercheraient ä se mettre egalement d'accord avec l'Angleterre.

Article X. S'il arrivait que la France fit acte d'etendre son occupation ou bien son protectorat, ou sa souverainete, sous une forme quelconque,

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sur les territoires nord-africains, et qu'en consequence de ce fait PItalie crüt devoir, pour sauvegarder sa position dans la Mediterranee, entre- prendre elle-meme une action sur les dits territoires nord-africainSj ou bien recourir sur le territoire fran^ais en Europe aux mesures ex- tremes, l'etat de guerre qui s'en suivrait entre i'Italie et la France constituerait ipso facto, sur la demande de Tltalie, et ä la charge commune de l'Allemagne et de I'Italie, le casus foederis prevu par les articles II et V du present Traite, comme si pareille even- tualite y etait expressement visee.

Article XI. Si les chances de toute guerre entreprise en commun contre la France par les deux Puissances amenaient I'Italie ä rechercher des garanties territoriales ä l'egard de la France, pour la securite des frontieres du Royaume et de sa position maritime, ainsi qu'en vue de la stabilite et de la paix, l'Allemagne n'y mettra aucun obstacle, et au besoin, et dans une mesure compatible avec les circonstances, s'appliquera ä faciliter les moyens d'atteindre un semblable but.

Article XII. Les Hautes Parties contractantes se promettent mutuellement le secret sur le contenu du present Traite.

Article XIII. Les Puissances signataires se reservent d'y introduire ulterieure- ment, sous forme de protocole et d'un commun accord, les modifica- tions dont l'utilite serait demontree par les circonstances.

Article XIV. Le present Traite restera en vigueur pour l'espace de six ans ä partir de l'echange des ratifications; mais s'il n'avait pas ete denonce un an ä l'avance par l'une ou l'autre des Hautes Parties contractantes, il restera en vigueur pour la meme duree de six autres annees.

Article XV. Les ratifications du present Traite seront echangees ä Berlin, dans un delai de quinze jours, ou plus tot si faire se peut.

En foi de quoi, les Plenipotentiaires respectifs ont signe le present Traite, et y ont appose le cachet de leurs armes.

Fait ä Berlin, en triple exemplaire, le sixieme jour du mois de mal mil huit cent quatre-vingt-onze.

(L. S.) V. Caprivi (L. S.) Szechenyi (L. S.) Launay

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Nr. 1427

Prolocole

Au moment de proceder ä la signature du Traite de ce jour entre l'Allemagne, l'Autriche-Hongrie et l'Italie, les Plenipotentiaires sous- signes de ces trois Puissances, ä ce düment autorises, se declarent mutuellement ce qui suit:

1. Sauf reserve d'approbation parlamentaire pour les stipulations effectives qui decouleraient de la presente declaration de principe, les Hautes Parties contractantes se promettent, des ce moment, en matiere economique (finances, douanes, chemins de fer) en sus du traitement de la nation la plus favorisee, toutes les facilites et tous les avantages particuliers qui seraient compatibles avec les exigences de chacun des trois Etats et avec Leurs engagements respectifs avec les tierces Puis- sances.

2. L'accession de l'Angleterre etant dejä acquise, en principe, aux stipulations du Traite de ce jour qui concernent FOrient, propre- ment dit, ä savoir les territoires de ['Empire Ottoman, les Hautes Parties contractantes s'emploieront au moment opportun, et pour autant que les circonstances le comporteraient, ä provoquer une accession analogue ä l'egard des territoires nord-africains de la partie centrale et occidentale de la Mediterranee, le Maroc compris. Cette accession pourrait se realiser moyennant acceptation, de la part de TAngleterre, du Programme etabli aux articles IX et X du Traite de ce jour.

En foi de quoi, les trois Plenipotentiaires ont signe, en triple exemplaire, le present protocole.

Fait ä Berlin, le sixieme jour du mois de mai mil huit cent quatre- vingt-onze.

V. Caprivi

Szechenyi

Launay

Nr. 1428

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschali an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VIl. Reuß

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen

Nr. 83 Berlin, den 8. Mai 1891

„Daily Telegraph" von heute meldet „Unterzeichnung neuen Drei- bundsvertrags", angeblich aus Berlin. Ähnliche Nachricht kam vor einiger Zeit aus Wien. Wir haben heutige Meldung in „Nord- deutscher Allgemeiner Zeitung" dementiert*, da im gegenwärtigen

* Das Dementi der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" lautete:

„Der , Daily Telegraph' enthält folgende aus Berlin datierte und angeblich aus ,guter Quelle' stammende Mitteilung: Rudini sei im Interesse des euro-

103

Moment jedes Durchsickern der vollen Wahrheit in hohem Grad un- erwünscht. Vorstehendes zur Mitteilung. Hiesiger Korrespondent des erwähnten englischen Blattes verkehrt nicht im Auswärtigen Amt. Ist Herr Lavino noch Wiener Korrespondent des „Daily Telegraph"?

Marschall

Nr. 1429

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß

Telegramm. Eigenhändiges Konzept

Nr. 111 Berlin, den 19. Juni 1891

Graf Launay hat mir heute ein Telegramm des Marquis di Rudini vorgelesen, wonach letzterer bei der demnächstigen Beantwortung der Interpellation Cavalotti voraussichtlich in die Lage kommen wird, die Tatsache der stattgehabten Erneuerung der Tripelallianz bekannt- zugeben; zuvor wünschte sich Marquis di Rudini unseres Einverständ- nisses zu versichern.

Ich habe dem Botschafter erwidert, daß unsererseits keinerlei Bedenken gegen die Veröffentlichung der Tatsache der Erneuerung bestehen. Ew. pp. bitte ich, dies dem Grafen Kälnoky mitzuteilen.

Marschall

päischen Friedens und Italiens von der Rätlichkeit des weiteren Verharrens Italiens beim Dreibunde auf fünf Jahre überzeugt. Die , schon unterzeich- neten' Vertragsbestimmungen seien den früheren ähnlich. Eine ähnliche Nach- richt ist bereits vor einiger Zeit aus Wien in die Welt gesetzt worden. Wenn dieselbe nunmehr in bestimmterer Form wieder aufgewärmt wird, so düi"fte nach unserer Kenntnis auch hierbei der Zweck obwalten, durch die Behaup- tung unrichtiger Tatsachen Entgegnungen zu provozieren, um darauf weitere politische Kombinationen aufzubauen."

Auf dieses Dementi hin meldete sich der Berliner Korrespondent des „Daily Telegraph'' J. L. Bashford bei Holstein als Verfasser des inkriminierten Artikels, dessen Unterlagen er von einer durchaus vertrauenswürdigen Autorität erhalten zu haben behauptete.

Unangenehmer noch als die Indiskretion des „Daily Telegraph" wurden im Auswärtigen Amt Enthüllungen über die Verlängerung des Dreibundtraktats empfunden, die die „Saale-Zeitung" am 2. Juni aus „absolut zuverlässiger" und tatsächlich ziemlich genau orientierter Quelle brachte. Reichskanzler von Ca- privi ordnete aus diesem Anlaß eine verantwortliche Vernehmung des gesamten Botschaftspersonals in Rom wegen etwaiger Indiskretionen an, die indessen negativ ausfiel.

Wenn also später sich die Meinung festsetzte, als sei die Erneuerung des Dreibundvertrags mit zuviel Geräusch in Szene gesetzt, so kann die deutsche Regierung keinerlei Vorwurf treffen. Auch der deutsche Kaiser hat erst am 29. Juni, demselben Tage, wo der italienische Ministerpräsident Rudini in der Kammer die Verlängerung des Dreibundvertrages proklamierte (vgl. Nr. 1430), persönlich Herrn Nissen auf der Fahrt von Hamburg nach Helgoland eine dahingehende Mitteilung gemacht

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Nr. 1430

Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 188 Rom, den 29. Juni 1891

In der heutigen Senatssitzung interpellierte Graf Taverna den Ministerpräsidenten wegen der umlaufenden Gerüchte bezüglich eines Übereinkommens zwischen Italien, England und den Zentralmächten.

Marquis Rudini erwiderte darauf:

Der Senat kennt die Intentionen betreffs der äußeren Politik, Intentionen, welche ich die Ehre gehabt habe, bei der letzten Dis- kussion über das Budget des Ministeriums des Äußern zu bezeichnen. Es kann nicht schaden, sie zu wiederholen. Das, was Italien mit Aus- dauer und Zähigkeit will, ist der Friede, weil es dies für die Ent- wicklung seiner Institutionen und zur Verbesserung seiner ökonomi- schen Lage für nötig hält.

Italien will außerdem, daß das Gleichgewicht in Europa, der Status quo, besonders im Mittelmeer aufrechterhalten werde.

Um dieses Ziel zu erreichen, datiert es nicht bloß von heute, daß die Regierung Einverständnisse zu haben und Übereinkommen mit denjenigen Mächten zu schließen sucht, welche sich in derselben Ideenrichtung befinden und Interessen haben, welche mit den unseren Hand in Hand gehen.

Es sind schon Jahre her, daß mit England ein Ideenaustausch stattfand, und daß Fergusson im englischen Parlamente von diesem Austausche Mitteilung machte und Gedanken entwickelte, welche durch- aus der Wahrheit gemäß waren.

Die beiden Länder schlugen vor, den Frieden und den status quo zu bewahren, und ich sehe nicht ein, daß hier eine Frage vorliegt, in welcher die Anschauungsweise von Italien und England nicht über- einstimmend wäre.

Betreffs der Beziehungen mit den Zentralmächten weiß man längst, daß sie intim sind, und daß die Freundschaft Italiens für Deutsch- land und Österreich lebendig und innig ist. Die unterschriebenen Traktate sind feste und sichere Garantien des Friedens. (Sehr gut.)

Der Moment des Ablaufs der Traktate rückte heran. Es war natürlich, daß dies eine Zeit der Aufregung, der Zweifel und der Ungewißheit war, welche die öffentliche Meinung in Italien und im Auslande erregten.

Ich schloß deshalb Übereinkommen und bestätige, daß, bevor noch die alten Verträge verfallen sein werden, die neuen schon seit lange in Kraft sind, weil in der äußeren Politik keine Unterbrechun- gen der Fortdauer eintreten dürfen.

105

Unsere fest und aufrichtig aufrechterhaltenen Verträge sichern für lange Zeit den Frieden Europas. (Zustimmung.)

Ich glaube, daß ganz Europa anerkennen muß, daß das Werk der italienischen Regierung v/eise und friedlich war. Zehn Jahre der Er- fahrung hätten genügen sollen, das erhobene Mißtrauen zu beseitigen. Ich hoffe, daß diese meine neuen und freimütigen Erklärungen einiges der Erfahrung hinzufügen und alle überzeugen werden, daß die unserigen Absichten des Friedens und nicht der Aggression sind. Der Friede wird bestehen, das Mißtrauen sich auflösen.

Ich glaube, daß die Regierung dem Lande einen Dienst erwiesen hat, und ich hoffe, daß auch der Senat eine Politik billigen wird, ein- gegeben von der Wohlfahrt Italiens und von dem lebhaften Wunsche, Italien eine starke Position in Europa zu sichern. (Lebhafter und allgemeiner Beifall.)

Graf Solms

IJIJUAIMMW,WIWIHII m

106

Anhang:

A. Aufmarsch- und Rüstungsfragen im Dreibund

1891—1892

Nr. 1431*

Der Militäratfachd in Wien Oberstleutnant von Deines an das Preußische Kriegsministerium

Abschrift

Nr. 45 Wien, den 4. Juni 1891

Geheim

Seine Majestät der Kaiser sprach mir heute davon, daß seitens des italienischen Generalstabes der vertrauliche Wunsch geäußert wor- den sei, mit dem eventuellen Truppentransport über die Alpen nach dem Elsaß eintretendenfalls früher beginnen zu können, wie bis jetzt vorgesehen. Als Grund werde angegeben, daß es geratener sei, die öffentliche Meinung in Italien sofort ^ bei etwaigem Kriegsausbruch vor ein fait accompli zu stellen und durch Engagieren der Armee fort- zureißen, als diesem leicht schwankenden Faktor Zeit zu lassen zu längerer Überlegung und zur Möglichkeit entgegengesetzter Eindrücke.

Im italienischen Kriegsministerium halte man einen früheren und rascheren Abtransport der betreffenden Armee nur dann für ausführbar, wenn von selten Österreich-Ungarns oder Deutschlands eine weiter- gehende Aushilfe an rollendem Material, ganz besonders an Lokomo- tiven bereitgestellt werden könne 2,

Seine Majestät äußerten, daß es ihm sehr wichtig und nützlich scheine, wenn diesem Wunsch der Italiener entsprochen werden könne 3. Sein Generalstab sei aber zurzeit außerstand, eine nennenswerte Mehrleistung an Lokomotiven wie die früher vereinbarte zusagen zu können; er hoffe, daß wir eher in der Lage sein würden, den Italienern entgegenzukommen.

* Im Hinblick auf die anhaltenden französischen Bestrebungen, den accord diplo- matique mit Rußland zu festen militärischen Verabredungen und Aufmarschplänen, die sich ihrer Natur nach nur gegen die Dreibundstaaten richteten, zu erweitern (vgl. Kap. XLVH), erscheint es zweckmäßig, die deutsche Haltung in der gleichen Richtung nach Abschluß des Dreibundvertrages von 1891 nachzuprüfen. Die Akten ergeben, daß von deutscher Seite keinerlei Anregung zu irgendwelchen militärischen Abmachungen ausgegangen ist, daß Deutschland auch allen gegen- teiligen Behauptungen zum Trotz keinerlei Druck auf Italien zur Verstärkung seiner militärischen Rüstung ausgeübt hat.

109

Ich habe geglaubt, dem Kaiser sagen zu dürfen, daß man in Berlin bei der Wichtigkeit der Sache gewiß geneigt sein werde, die Frage der Maschinenaushilfe an Italien in erneute Erwägung zu ziehen*.

(gez.) V. Deines

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. in Abschrift:

i Richtig

- ja, soll geschehn.

8 sehr gern

* ja

Schlußbemerkung des Kaisers in Abschrift: Die Nachricht ist sehr erfreulich.

Nr. 1432

Der Chef des Generalstabes Graf Schlieffen an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 432 Berlin, den 3. Dezember 1891 *

Euerer Exzellenz beehre ich mich im Anschluß an mein Schreiben vom 5. 6. d. Js. Nr. 3Q8 geheim hierdurch zur geneigten Kenntnis- nahme ganz gehorsamst mitzuteilen, daß den nunmehr eingegangenen, bestimmt formulierten Wünschen des Königlich italienischen General- stabes betreffs des früheren Abtransports Königlich italienischer Trup- pen nach dem Rhein vom I.April 1892 ab von hier aus entsprochen werden wird.

Graf Schlieffen

Nr. 1433

Der Reichskanzler von Caprivi an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß

Privatbrief. Abschrift

Berlin, den 25. August 1891 Euer Durchlaucht beehre ich mich nachstehendes ganz vertraulich und unter Anheimgabe des nach Ihrer Kenntnis der Verhältnisse und Personen am zweckmäßigsten erscheinenden Gebrauches mitzuteilen: Der Chef des Generalstabes der Armee General Graf Schlieffen hat mir heut vertraulich mitgeteilt, er habe einen Brief des Oberst von Deines erhalten, worin dieser sagt, es bestehe österreichischerseits die Absicht, den Ruhetag, Sonntag, den 6. September**, zu einem Kriegs-

* Des Zusammenhangs wegen hier eingereiht.

** Kaiser Wilhelm II. beabsichtigte, sich am 2. September mit dem Reichskanzler von Caprivi nach Wien zu begeben, um den österreichischen iUanövern, zu denen auch der König von Sachsen eingeladen war, beizuwohnen.

110

rat über einen etwaigen künftigen Feldzug gegen Rußland zu benutzen und dazu den Erzherzog Albrecht, Feldzeugmeister Beck, den König von Sachsen, den General Graf Schlieffen und vielleicht beide Kaiser zu vereinigen.

Diese Idee erscheint dem Grafen Schlieffen wie mir überaus un- erwünscht. Ich habe, da sie amtlich noch nicht an mich herangetreten ist, und in der Hoffnung, daß es vielleicht so weit gar nicht kommt. Seiner Majestät noch nicht davon gesprochen.

Zunächst hätte ich dagegen einzuwenden, daß kein Mensch wissen kann, unter welchen Verhältnissen der nächste Feldzug beginnen wird, und daß deshalb jedes Binden an ausgesprochene Pläne sehr bedenk- lich ist. Die Freiheit des Handelns, die wir unter Umständen vertrags- mäßig besitzen, z. B. wenn Österreich-Ungarn den Krieg vom Zaune bräche, könnte durch solche Besprechungen beeinträchtigt werden. Wäh- rend man in Österreich von alters her an solche Kriegsräte gewöhnt ist, liegt es nicht in den preußischen Gewohnheiten, dies die Verantwortung so leicht verschiebende und das Handeln lähmende Mittel anzuwenden. Soll nur der beiderseitige Aufmarsch besprochen werden, so geschieht das am besten durch die beiden Chefs der Generalstäbe allein; alle anderen Teilnehmer sind über die dabei in Betracht kommenden De- tails zu wenig orientiert, um ein begründetes Urteil abgeben zu können. Wollte man aber auch von vornherein alle bindenden Beschlüsse aus- schließen, so bleibt die Gefahr, daß ein Meinungsaustausch trennt, statt zu verbinden, daß Verstimmungen zurückbleiben. Bei aller hohen Verehrung, die ich für Seine Majestät den König von Sachsen habe, scheint es mir doch nicht unbedenklich, ihn zuzuziehen.

Endlich bleibt zu erwägen, welche Wirkungen solcher Kriegsrat nach außen haben kann. Wenn Graf Kälnoky treffend gesagt hat, er bedauere, daß die Erneuerung des Dreibundes der Welt mit Pauken und Trompeten verkündet sei*, so scheint mir die Gefahr nahe zu liegen, daß die Geburt eines Kriegsplanes ebenso bekannt werde. Der bloße Umstand, daß eine Besprechung der bezeichneten Personen stattgefun- den habe, mehr noch jede Indiskretion kann ausgebeutet und zu einer Kriegsdrohung umgestaltet werden.

Das ganze Projekt scheint mir, auch wenn ich die schwierige Lage berücksichtige, in welche Seine Majestät unser Kaiser dem so viel älteren Kaiser von Österreich, dem Erzherzog Albrecht, ja auch dem König von Sachsen gegenüber kommen kann, so auffallend, daß ich nicht verstehe, wie man es österreichischerseits hat proponieren können. Es sieht aus, wie wenn Preußen majorisiert und die militä- rische Hegemonie von Österreich ausgeübt werden solle.

Auch daß Oberst von Deines es übernommen hat, einen solchen Auftrag an den Chef des Generalstabs zu übermitteln, setzt mich

Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1505.

111

dermaßen in Erstaunen, daß ich schon auf den Gedanken gekommen bin, ob dem etwa eine auf anderem Wege erfolgte Kommunikation mit unserem allergnädigsten Herrn vorhergegangen ist.

Euer Durchlaucht würden mich durch eine baldige Mitteilung dar- über, ob und wie Sie dem Projekt entgegentreten können, zu verbind- lichem Dank verpflichten. Vielleicht ließe sich für den Sonntag irgend- eine Unternehmung planen, welche den Tag für Seine Majestät den Kaiser auf andere Weise ausfüllt und den beiden Chefs der General- stäbe die Möglichkeit gäbe, sich allein zu unterhalten.

(gez.) v. Caprivi

Nr. 1434

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Privatbrief. Eigenhändig

Wien, den 27. August 1891 Euerer Exzellenz

eigenhändigen Privatbrief vom 25.* habe ich heute mit gehorsam- stem Dank zu erhalten die Ehre gehabt.

Oberstleutnant von Deines hatte mir vor nicht gar langer Zeit mitgeteilt, der General von Beck habe ihm den Wunsch ausgesprochen, gelegentlich der Zusammenkunft mit General Graf von Schlieffen bei den österreichischen Manövern die vertraulichen Besprechungen wie- der aufzunehmen, welche im Jahre 1888 zwischen dem verewigten Feldmarschall Grafen Moltke und dem Obersten von Steininger über den Aufmarsch beider verbündeter Armeen für den Fall eines Krieges mit Rußland stattgefunden haben**. Seit dieser Zeit habe sich so man- ches geändert; die österreichische Armee in Galizien sei verstärkt worden, von der Anhäufung der russischen Truppen gar nicht zu reden. Es sei dem hiesigen Chef des Generalstabes wichtig, mit Graf Schlieffen, den er nur wenig kenne, nähere Fühlung zu nehmen und die Gedanken über diese Gegenstände auszutauschen.

Wie mir Herr von Deines soeben sagt, hat er den Brief an Graf Schlieffen, von dem mir Euere Exzellenz sprachen, einzig und allein in der Absicht geschrieben, daß dieser General durch solche Bespre- chungen nicht unvorbereitet überrascht würde. Der Oberstleutnant mißt sich selbst die Schuld bei, wenn der Tenor seines Briefes in Berlin den Eindruck machen konnte, als beabsichtige man österreichi- scherseits, uns gewissermaßen in einen Kriegsrat hineinzulocken, der uns ungelegen sein muß. Herr von Deines versichert hoch und heilig,

Siehe Nr. 1433.

*♦ Vg). Bd. VI, Kap. XXXVIII.

112

daß hier ein solcher Plan nicht vorliege, daß man uns zu keinen mili- tärischen Zusagen nötigen wolle, ja, daß man ihm ausdrücklich gesagt habe, daß, wenn unsererseits eine solche Besprechung nicht angeregt würde, von hier aus dies nicht geschehen werde.

Die Absicht des Herrn Militärattaches war in erster Linie die, die beiderseitigen Chefs der Generalstäbe näher zusammenzubringen. Denn, dies darf ich Euerer Exzellenz im engsten Vertrauen mitteilen, die Schweigsamkeit und das wenig entgegenkommende Wesen des Grafen Schlieffen hatten bei dessen Begegnung mit General Beck in Berlin keinen sehr günstigen Eindruck auf letzteren gemacht.

Euere Exzellenz sind nun selbst damit einverstanden, daß sich diese beiden Herren ungestört und allein auch über einen eventuellen Aufmarsch gegen Rußland besprechen. Es ist hierbei nicht nötig, daß sich der eine oder der andere bindet, was früher auch nicht geschehen ist. Die Österreicher haben sich gewöhnt, an uns hinaufzusehen. Diese gute Gewohnheit fallenzulassen, halte ich nicht für erwünscht; na- mentlich scheint es mir aber praktisch, daß diese beiden Generale sich öfters sehen und sich genauer kennenlernen. Sie werden sich dann auch aus der Ferne besser verstehen.

Da, wie ich aus den Mitteilungen des hiesigen Militärkabinetts und des Grafen Kälnoky weiß, Seine Majestät am 6. September die Einladung zum Erzherzog Albrecht zum Frühstück in Göpfritz bereits angenommen haben, und daß dabei auch der König von Sachsen, Graf Schlieffen, Baron Beck und andere, aber nicht der Kaiser Franz Joseph erscheinen werden, so ist in diesem Arrangement nichts mehr zu ändern. Wohl aber wird dafür gesorgt werden, daß nach diesem Frühstück, wo nach der Idee des Herrn von Deines die ominöse Be- sprechung stattgefunden haben würde, die beiden Chefs der General- stäbe sich isolieren können, um, was in den sehr besetzten vorher- gehenden Manövertagen wegen Mangels an Zeit und Raum kaum möglich sein wird, sich ungestört besprechen zu können. Herr von Deines wird dies auf meinen Wunsch vor dem Beginn der großen Manöver, wo er mit Baron Beck zusammenkommen wird, einleiten.

Ich habe außerdem den Grafen Kälnoky ganz vertraulich gebeten, er möge sein Augenmerk darauf richten, daß nichts geschähe, was nach außen hin Aufsehen erwecken könnte. Es würden so viele Militär- attaches und andere fremde Agenten in der Manövergegend anwesend sein, die gewiß ihre Spürnase überall da hineinstecken würden, wo sie nichts zu suchen hätten. Beispielsweise, so ließ ich einfließen, könnte die Zusammenkunft so vieler Generale in Göpfritz, von denen mehrere zu der Tafel des Erzherzogs gezogen werden würden, wo auch Seine Majestät erscheinen werde, leicht Aufmerksamkeit erregen und zu Kombinationen Anlaß geben. Er möge tun, was er könne, um da jeden Anlaß zu Verdacht zu verhindern.

Der Minister erwiderte lebhaft: „Das fehlte gerade noch! Wir

8 Die Große Politik. 7. Bd. 113

haben schon an dem Lärm über die Erneuerung des Dreibundes ge- nug gehabt,"

Daß der Kaiser von Österreich an diesem Tage nicht nach Göpfritz kommt, ist günstig und bricht der Fii^tion, daß ein Kriegsrat gehalten würde, die Spitze ab.

Was den Verdacht betrifft, welchen Euere Exzellenz am Schluß Ihres Schreibens aussprechen, ob etwa auf anderem Wege über den Gedanken der Abhaltung eines Kriegsrates mit unserem allergnädigsten Herrn korrespondiert worden sei, so ist dies von seiten des Oberst- leutnant von Deines nicht geschehen.

Die Frage, ob es opportun wäre, nach dieser Seite hin Kenntnis von diesem ganzen Zwischenfall zu geben, darf ich Euerer Exzellenz Ermessen überlassen zu entscheiden. Das beste wäre gewiß, wenn unser Kaiser nicht von Kriegsplänen zu reden anfinge. Geschieht dies nicht, so wird der Erzherzog Albrecht, der gewiß gern mit ihm auch über diese Eventualitäten spräche, nicht davon anfangen.

So gern die Österreicher schon seit Abschluß unseres Bündnisses von 1879 von uns bestimmtere Zusagen über eine Kooperation für jeden Fall extrahiert hätten, so hat ihnen Fürst Bismarck eine solche Velleität niemals aufkommen lassen. Sie wissen, daß wir uns streng an den Vertrag halten und uns nicht binden lassen werden. Einen Krieg vom Zaune brechen, wird Österreich niemals, weil es ihn weniger brauchen kann als irgendein anderes Reich. Unleugbar ist aber, daß hier die Gewißheit besteht, daß wir Österreich-Ungarn nicht zertrüm- mern lassen können. Und hieraus erwächst naturgemäß die Hoffnung, daß Deutschlands Heere nicht abwarten werden, bis Österreich die erste Niederlage erlitten haben wird. Auf ein Mehr rechnet die österreichisch-ungarische Regierung nicht.

H.VII.RReuß

Nr. 1435 Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 82 Rom, den 23. April 1892

Unterm 21. März hatte ich die Ehre zu melden, daß Marquis Rudini gegen mich äußerte, man dränge auf weitere Ersparnisse im Militär- budget, dazu aber wolle er die Hand nicht bieten*.

* Bei der seit langem bestehenden Mißlichkeit der italienischen Finanzlage bildete die Notwendigkeit der Ersparnisse im Militärwesen eine stehende Rubrik in einem Teil der italienischen Presse.

114

Im Laufe der Verhandlungen, welche der Ministerkrisis* voran- gingen, scheint Marquis Rudini in bezug auf die Mihtärfrage an- gesichts der sich ihm entgegenstellenden Schwierigkeiten schwankend geworden zu sein, denn er hat dem Baron Brück vertraulich die Frage vorgelegt, was wohl eine italienische Armeereduktion in Österreich und Deutschland für einen Eindruck machen würde. Baron Brück hat ihm genau in demselben Sinne geantwortet, in welchem ich mich früher einmal über diesen Gegenstand ausgesprochen hatte, daß es besser gewesen sein würde, zehn mit allem Erforderlichen ausgerüstete Armeekorps zu haben, anstatt dieselben auf zwölf, die finanziellen Kräfte des Landes übersteigende, nicht genügend organisierte Armee- korps zu erhöhen und dadurch die Schlagfertigkeit der Armee in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen**. Heute würde eine Unterdrückung von zwei Armeekorps aus Ersparnisrücksichten die zehn übrigen nicht verbessern, sondern man würde nur statt der früheren zwölf mangel- haft ausgerüsteten Korps deren zehn in gleicher Verfassung besitzen,

Baron Brück hat dem Grafen Kälnoky hierüber Bericht erstattet und um Weisung gebeten, wie er sich dieser Frage gegenüber ver- halten solle.

Graf Kälnoky hat erwidert, er sei mit der von Baron Brück ge- äußerten Ansicht ganz einverstanden, möge aber dem Marquis Rudini raten, sich bezüglich der Armeeorganisation vor allem mit Deutsch- land ins Einvernehmen setzen. Die deutsche Heeresleitung habe bei Feststellung ihrer Operationspläne die italienische Armee jedenfalls zu zwölf Armeekorps berechnet. Wenn Italien dieselben plötzlich auf zehn reduziere, so würde das voraussichtlich die deutschen Berech- nungen wesentUch stören.

Baron Brück hat jedoch diesen Auftrag bis jetzt nicht aus- geführt und will warten, bis Marquis Rudini noch einmal auf die Sache zurückkommt, weil er glaubt, daß es meine Sache sei, die An- sichten Deutschlands der italienischen Regierung gegenüber zu ver- treten, und weil er befürchtet, Marquis Rudini könne den Verdacht schöpfen, daß wir, Baron Brück und ich, auf Grund gemeinsamer Verabredung einen lästigen Druck auf ihn ausüben wollten.

Graf Solms

* Am H.April hatte Ministerpräsident di Rudini infolge von Meinungsverschieden- heiten im Ministerrat über die dem Parlament zu unterbreitenden Finanzvorschläge dem Könige die Demission des Kabinetts unterbreitet; es kam jedoch zu einer Rekonstruktion des Kabinetts unter Neubesetzung des Finanzministeriums. ** Die Vermehrung der italienischen Armee von zehn auf zwölf Armeekorps war im Verfolg des Gesetzes vom 29. Juni 1882 vor sich gegangen.

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Nr. 1436

Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 83 Rom, den 24. April 1892

Bei dem heutigen Empfange des diplomatischen Korps kam Marquis Rudini auf seine Unterhandlungen mit dem General Ricotti* zu spre- chen. Er sagte, man werde entweder die Cadres oder die Dienstzeit verringern müssen; anders i<omme man aus der schwierigen Lage nicht heraus. Die zwölf Armeekorps entsprächen in ihrer Organisation nicht den Anforderungen, welche man heute an die Schlagfertigkeit einer Armee stelle. Es werde praktischer sein, die Armee um zwei Korps zu verringern und dafür die zehn übrigen kriegsmäßiger zu organisieren.

Nach Ansicht des Generals Ricotti werde der Krieg eines Tages so schnell ausbrechen, daß man zu einer selbst schnellen Mobilmachung keine Zeit haben werde, sondern schon im Frieden so gerüstet sein müsse, daß man sofort die nötigen Truppen zur Hand habe, um un- mittelbar nach der Kriegserklärung in die Aktion eintreten zu können.

Der General sei überzeugt, daß die Truppen an der Grenze bei Ausbruch eines Krieges nicht Zeit haben werden, ihre Reserven ab- zuwarten, sondern daß man das, was man gerade zur Hand habe, zum Vorstoß oder zur Verteidigung werde verwenden müssen.

Deshalb komme es weniger auf die Zahl der Cadres an, sondern auf eine möglichst hohe Friedens-Präsenz-Stärke. Als Minimum für die Kompagnie im Frieden rechne er 175 Mann, für den Krieg wie in Preußen 250 Mann, weil heute die Kompagnie die taktische Einheit geworden sei und diese mindestens ebenso stark sein müsse als die des mutmaßlichen Feindes. Auch wolle er, daß die Kompagniechefs wieder beritten gemacht werden.

General Ricotti sage, es sei notwendig, die Offiziere schon im Frieden zu gewöhnen, stärkere Truppenkörper zu kommandieren; dies sei nützlich für ihre eigene Ausbildung und hebe das moralische Be- wußtsein: „Geben Sie einem Major 30 Mann zu kommandieren, so wird er ein Sergeant, und geben Sie einem Sergeanten ein Bataillon, so wird er ein Major."

General Ricotti will also zwei Armeekorps auflösen, von der Infanterie fünfzehn Regimenter abschaffen, dafür aber die übrigen Re-

* Der frühere langjährige Kriegstninister General Ricotti war bei der Ministerkrise Mitte April als Nachfolger des Kriegsministers Pelloux in Frage gel<ommen; doch trat dieser auch in das rei<onstruiertc Ministerium über. Der Militärattache von Engclbrecht nennt Ricotti in seinem Bericht vom 5. Mai „den Organisator und gründlichsten Kenner der Armee, der Chauvinismus, persönliche Interessen und Popularität nicht kennt, der gesunde und solide konstituierte Einheiten im Frieden haben will".

116

gimenter der Armee so verstärken, daß sie per Kompagnie im Frieden 175 und im Kriege 250 Mann stark sind und nötigenfalls sofort aus- rücken können, pp.

Ich habe dem Marquis Rudini, als er geendet hatte, erwidert, seine Auseinandersetzung hätte mich in hohem Grade interessiert, indessen bliebe ja jetzt der General Pelloux als Kriegsminister im Amte, und der sowohl, wie der General Cosenz*, hätten sich meines Wissens auf das energischste für beibehalten der zwölf Armeekorps ausge- sprochen; oder solle ich aus seiner Mitteilung entnehmen, daß er trotz der anscheinenden Beilegung der Ministerkrisis mit der Absicht umgehe, den General Pelloux durch den General Ricotti zu ersetzen?

Der Marquis erwiderte, wie die Sache sich mit dem Ministerium gestalten werde, wisse er selbst noch nicht. Etwas müsse im Heere geschehen, denn, wiederholte er, eine Verminderung der Cadres oder eine Abkürzung der Dienstzeit werde unvermeidlich sein. Schließlich fragte er, was ich zu der Sache meinte.

Ich entgegnete, wir seien seinerzeit mit der Vermehrung der Armee um zwei Armeekorps nicht einverstanden gewesen, weil man bei uns vorausgesehen habe, daß die Maßregel sich nur auf Kosten der Kriegsbereitschaft der italienischen Armee überhaupt würde ins Werk setzen lassen. Diese Voraussicht hätte sich leider in gewisser Beziehung bestätigt. Obgleich ich den Absichten des Generals Ricotti den praktischen Wert nicht absprechen wollte, so wäre bei den oft eintretenden Finanzverlegenheiten schwer zu sagen, ob der General bei der Ausführung seiner Pläne nicht wiederholentlich auf Hinder- nisse stoßen würde, sodaß man schließlich statt der zwölf nicht ganz gut organisierten Korps deren zehn ebenfalls minderwertige haben würde. Außerdem würde doch auch der moralische Eindruck zu be- rücksichtigen sein, wenn es plötzlich hi^ße, Italien reduziert seine Armee, weil es die Rüstung finanziell nicht mehr tragen könne.

Der Marquis beteuerte, daß es sich um eine Verstärkung und nicht um eine Schwächung der Wehrkraft des Landes handle.

Dieser Konversation habe ich entnommen, daß Marquis Rudini für seine Person ganz der Ansicht beigetreten ist, die Armee müsse um zwei Korps vermindert werden; daß er überzeugt ist, die Armee sei in ihrer heutigen Organisation nicht schlagfertig genug, um einem Kriege ruhig entgegensehen zu können; daß er in dem Plane Ricottis, zehn feste Armeekorps zu schaffen, eine größere Garantie für die Sicherung Italiens erblickt als in dem Plane Pelloux', so viel Cadres zu schaffen, daß die größtmöglichste Zahl Militärtauglicher darin Platz hat, und endlich, daß ihm sehr viel daran liegt zu erfahren, wie unsere allerhöchste Regierung den oben entwickelten Plan Ricottis beurteilt, um sich aus unserm Ausspruch, wenn er im Sinne Ricottis ausfiele,

* Chef des italienischen Generalstabes.

117

eventuell eine Waffe gegen den General Pelloux zu machen, wozu es meines gehorsamsten Dafürhaltens nicht gut sein würde, die Hand zu bieten.

Ich halte mich weder für kompetent noch befugt, diesen Plan ohne eine bestimmte Instruktion Euerer Exzellenz mit dem Marquis Rudini zu diskutieren. Ich habe ihn weder gebilligt, noch habe ich ihn bekämpft, denn daß die zwölf vorhandenen Armeekorps bei einer so minimalen Friedens-Präsenz-Stärke, wie sie jetzt vorhanden ist, im Falle einer plötzlichen Mobilmachung ungleich weniger leistungsfähig sein werden als zehn bereits im Frieden solid zusammengefügte, wohl ausgerüstete Korps scheint mir ebenso unbestreitbar, wie daß eine Armeereduktion Italiens politisch auf das Ausland den Eindruck der Schwäche machen wird.

Ich werde dem Kaiserlichen Militärattache Oberst von Engelbrecht von diesem Berichte Kenntnis geben, sobald er von Urlaub zurück- gekehrt sein wird.

Graf Solms

Nr. 1437

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall für den Reichskanzler Grafen von Caprivi,

z. Z. in Karlsbad

Eigenhändig

Berlin, den 29. April 18Q2

Euer Exzellenz beehre ich mich die heute eingegangenen Berichte des Grafen Solms über die Reorganisation der italienischen Armee* mit dem gehorsamsten Anfügen vorzulegen, daß ich die Vorlage der- selben an Seine Majestät nicht für zweckmäßig erachte, vielmehr, falls Euer Exzellenz damit einverstanden sind, Immediatvortrag über die- selben in dem Sinne zu halten gedenke, daß wir es der italienischen Regierung in der Hauptsache überlassen müssen, auf welchem Wege sie die Erhaltung der Wehrkraft Italiens und damit seiner europäischen Stellung mit den Bedürfnissen der gegenwärtigen finanziellen Lage in Einklang bringen will. Die Haltung der französischen Blätter, welche triumphierend verkünden, daß Italien unter der Last der Dreibunds- politik zusammenbreche, daß Deutschland und Österreich-Ungarn einen starken Druck in Rom gegen jede Verminderung der Heeresausgaben ausübten, und daß die Berliner Reise der italienischen Herrschaften** wesentlich den Zweck verfolge, die Zustimmung der deutschen Re- gierung zu einer Schwächung der italienischen Wehrkraft zu erhalten,

* Siehe Nr. 1435 und Nr. 1436.

** Der Besuch des italienischen Königspaares am deutschen Kaiserhofe erfolgte

vom 20. bis 24. Juni 1892.

118

zeigt, nach welcher Seite die französischen Wünsche liegen. Das Bild, daß Italien die Last nicht mehr tragen kann, aber dem Drucke Deutsch- lands weichend auf die Gefahr finanziellen Ruins weitertragen muß, hat in Paris natürlich etwas sehr Verlockendes. Ich bin der Ansicht, daß Italien selbst wissen muß, was es zu tun hat. So bedauerlich auch der moralische Eindruck wäre, den eine Reduktion der italienischen Armee oder auch nur eine erhebliche Verminderung der Heeresaus- gaben nach sich ziehen müßte, so wäre es meines Erachtens doch politisch viel bedenklicher, wenn wir jetzt die Italiener bereden woll- ten, wider bessere Einsicht ihre Heeresausgaben auf derselben Höhe zu erhalten, sofern damit die bisherige, auf die Dauer absolut ruinöse Defizitwirtschaft fortbestehen würde. Die logische Folge wäre, daß man wie seither die Defizits durch Anleihen decken würde und dazu müßte der deutsche Markt herhalten und sich dann Italien eines Tages in derselben Lage befände wie heutzutage Portugal. Die poUtischen Folgen einer solchen Gestaltung der Dinge, ganz ab- gesehen von den wirtschaftlichen, die doch auch recht bedauerlich für uns wären, bedürfen keiner Darlegung.

Ich würde also vom politischen Gesichtspunkte empfehlen, daß Graf Solms sich auch fernerhin der größten Reserve befleißigt.

Marschall

Nr. 1438

Der Reichskanzler Oraf von Caprivi, z. Z. in Karlsbad, an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Eigenhändig

Karlsbad, den 30. April 1892 Euer Exzellenz sende ich die Aufzeichnung betreffend eine Re- duktion der italienischen Armee* nebst Anlagen unter verbindlichem Danke zurück.

Ich bin mit der Behandlung der Sache im Immediatvortrag ein- verstanden und teile die Ansicht, daß man Italien überlassen sollte, selbst zu beurteilen, wie weit es in der Schwächung seiner Armee gehen kann. Auch die Überzeugung teile ich, daß ein finanzieller Ruin ItaHens uns in mehr wie einer Beziehung mitschädigen müßte.

Ich würde eine Reduktion der italienischen Armee um ein Sechstel mehr als eine politische, ideelle wie als eine militärische, reale Schwächung des Dreibundes ansehen. Stellt man die Heeresstärken des Dreibundes denen der Franzosen und Russen gegenüber, so verschiebt sich das ohnehin ungünstige Verhältnis allerdings noch mehr zu unseren Ungunsten, sobald Italien zwei Armeekorps eingehen läßt. Die Vor-

* Siehe Nr. 1437.

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Stellung der Welt von der Stärke des Bundes wird eine Einbuße erleiden.

Faktisch aber kann Italien im Falle eines Krieges gegen Rußland und Frankreich außerhalb seiner eigenen Grenzen und über das Maß dessen hinaus, was es an französischen Streitkräften von uns ab- und auf sich zieht, nur dadurch wirken, daß es den Österreichern den Rücken deckt und mit einem Teil seiner Truppen zu uns über die Alpen kommt. In bezug auf die österreichische Rückendeckung ändert sich nichts, auch bei nur zehn Armeekorps. In bezug auf das Erscheinen nördlich der Alpen braucht sich nichts zu ändern, sobald man sich in Italien ent- schließt, dem Schutz der eigenen Grenzen und Küsten nicht mehr Truppen zuzuwenden als unumgänglich. Die Frage aber, ob man überhaupt mit einem Teil der Kräfte den direkten Anschluß an uns suchen wird, hängt davon ab, ob man in hinreichender Stärke die Über- zeugung gewinnt und sie nicht nur den Staatsmännern, sondern auch der öffentlichen Meinung Italiens beibringt, daß das Schicksal dieses Landes im nächsten Kriege nicht auf seinem Grund und Boden, sondern am Rhein entschieden werden wird. Daß solche Überzeugung Allgemein- gut des beängstigten Landes werden sollte, ist unwahrscheinlich; ge- schähe es aber, so wird die in Rede stehende Reduktion kein Hindernis sein, uns direkt die Hand zu bieten. Überwiegt dagegen die Sorge für die eigenen Penaten, so werden wir am Rhein allein schlagen, auch bei der jetzigen Stärke des italienischen Friedensstandes. Sehr wesentlich wird auf die Entscheidung dieser Frage der Gang der Dinge zur See einwirken. Nimmt ein englisch-italienischer Seesieg den Italienern die Sorge um ihre Küsten und Inseln, so können sie auch von zehn Armeekorps fünf über die Alpen schicken. Geschieht das nicht, so kommt auch von zwölfen keins.

Im übrigen hat die Überspannung der italienischen Wehrkraft im Frieden für uns die Gefahr, die zu Herrn Crispis Zeiten nahe genug lag, daß man, um aus der drückenden Lage herauszukommen, aben- teuerliche Unternehmungen in Nordafrika, trotz der üblen Erfahrungen mit Massaua, entrieren könnte. Tragen Rüstungen den Charakter des ad hoc, so muß schließlich ein hoc gefunden werden, sobald die Last unerträglich wird, oder man muß zurückschrauben. Reduziert Italien seine Wehrkraft, so vermindert sich die Gefahr, daß ein Krieg frivol provoziert werden könnte. Bei Ablauf der fixierten Periode des Dreibundes werden wir zu erwägen haben, ob sich die Zusicherung unserer Mitwirkung bezüglich Nordafrikas nicht der reduzierten mili- tärischen Leistungsfähigkeit Italiens gegenüber einschränken läßt.

Es scheint auch mir rätlich, den Grafen Solms anzuweisen, daß er sich großer Reserve befleißige. Es wird sich empfehlen, daß er sich jedes Eingehens auf die überdies aus den Anlagen gar nicht zu beurteilenden, anscheinend sehr unreifen italienischen Organisations- pläne enthalte, dagegen aber selbst oder durch den Militärattache ge-

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legentlich dahin wirke, daß die Idee, italienische Truppen eventuell über die Alpen zum Anschluß an die unsrigen kommen zu lassen, nicht aufgegeben wird. Das wird auch nach einer Reduktion des ita- lienischen Friedensstandes, wahrscheinlich sogar in der früher ver- abredeten Stärke, ebenso möglich bleiben wie bisher.

Euere Exzellenz bitte ich ergebenst, bei dem Immediatvortrag dies als meine Ansicht gefälligst zum Ausdruck bringen zu wollen.

v. Caprivi

Nr. 1439

Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr.QQ Rom, den S.Mai 1892

Geheim

Eurer Exzellenz beehre ich mich anliegend einen Bericht des Militärattaches Oberst von Engelbrecht* gehorsamst einzureichen.

Der Schlußsatz desselben deutet die Schwierigkeiten an, welche Seiner Majestät dem Könige daraus entstehen, daß er, um in seiner ritterlichen Gesinnung das Verhältnis zum Bundesgenossen nicht zu lockern, es vorzieht, wegen des Bestandes der Armee und der Flotte den Kampf mit den inneren Schwierigkeiten aufzunehmen und ihnen die Stirn zu bieten.

Ich habe in der letzten Zeit so vielfach Gelegenheit gehabt, mit den maßgebenden Persönlichkeiten über diese Militärfragen und die großen finanziellen Verlegenheiten zu sprechen, welche die öffentliche Meinung immer wieder als von der Militärlast unzertrennlich auffaßt, daß sich mir unwillkürlich die Frage aufgedrängt hat, ob es nicht vielleicht unserem eigenen Interesse entsprechen würde, wenn wir Seiner Majestät dem Könige aus eigenem Antriebe zu verstehen geben, daß wir einen größeren Wert auf eine gesunde Gestaltung der inneren Verhältnisse Italiens legen als auf die Aufrechterhaltung einer größe- ren Zahl unvollkommen gerüsteter Armeekorps. Damit würde unseren Widersachern zugleich die Waffe genommen werden, welche uns für

* Der Bericht des Militärattaches vom 5, Mai behandelte die Vorschläge des Generals Ricotti über eine Armeereduktion. Am Schlüsse des Berichtes, wo von der Nichtgenehmigung dieser Vorschläge durch König Humbert die Rede war, hieß es: „Für diese Entscheidung sind Motive moralischer Natur und Rücksichten auf die äußere Politik leitend gewesen. Im Hinblick auf letztere steht Deutsch- land als Alliierter hier einer wahrhaft königlichen Gesinnung gegenüber. Vor jnnern Schwierigkeiten wird nicht zurückgescheut, um das Verhältnis zum Bundes- genossen nicht zu lockern, und kann dieser daher nur wünschen, daß die Krone in diesem edlen Streben nicht bis an die äußerste Grenze eines möglicheaveise für die Armee gefährlichen Widerstandes gedrängt werde."

121

den Ruin Italiens verantwortlich machen, angeblich weil wir unserem Bundesgenossen eine unerträgliche Rüstung auferlegen.

Die in meinem Berichte Nr, 83 vom 24. April er.* gemachte kon- fidentielle Anfrage Rudinis könnte als Anknüpfung dienen.

Seine Majestät der König würde von selbst, ohne von uns ermutigt zu sein, auf keinen Fall eine Armeereduktion genehmigen und sich eher inneren Schwierigkeiten aussetzen, die momentan gar nicht zu berechnen sind,

Graf Solms

Nr. 1440

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Rom Grafen zu Solms-Sonnenwalde

Telegramm. Reinkonzept

Nr. 72 Berlin, den 15. Mai 1892

Prinz Reuß telegraphiert: „Italienische Regierung hat hier an- fragen lassen, wie Wiener Kabinett eventuelle Reduzierung der Armee um 'zwei Korps auffassen würde.

Graf Kälnoky hat geantwortet, er könne gegen diese Maßregel an und für sich nichts einwenden, möchte aber nicht dazu raten, weil der Eindruck auf die öffentliche Meinung kein guter sein würde.**

Ebenso hat Seine Majestät, unser allergnädigster Herr, nach Kenntnis Ew.pp. Bericht Nr. 99** sowie des beigefügten MiUtärberichts verfügt, daß von allen Ratschlägen bezüglich der italienischen Heer- verfassung unsererseits abzusehen ist.

Marschall

Nr, 1441

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Rom Grafen zu Solms-Sonnenwalde

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 74 Beriin, den 21. Mai 1892

Vervollständigung des Telegramms Nr. 72.

Wir können erwarten, daß die Interpellation Imbriani*** und Ge- nossen dahin beantwortet werden wird, daß wir auf die Entschließungen

* Siehe Nr. 1436. ** Siehe Nr. 1439.

*** Am 19. Mai 1891 hatte die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" einen ausführ- lichen Artikel über „Italiens militärische Machtstellung" gebracht, der das fort- schreitende militärische Erstarken des italienischen Verbündeten mit freudigster Zustimmung begrüßte. Gleichzeitig brachten die „Hamburger Nachrichten" vom 19. Mai einen Artikel des Fürsten Bismarck „Der Druck auf Italien", der dringend

122

Italiens in der Rüstungsfrage keinerlei Druck, überhaupt keinerlei Ein- wirkung geübt und nicht mal einen Wunsch ausgesprochen haben, da wir in der Tat von der Überzeugung ausgehen, daß die italienische Regierung am besten in der Lage ist, italienische Interessen zu be- urteilen.

Der Artikel der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" ist eine Arbeit der Redaktion, welche weder mir noch dem poHtischen Dezer- nenten vorher bekannt war.

Ew. pp, wollen sich im Sinne des Vorstehenden womöglich noch vor der Sitzung gegen den Minister äußern.

Marschall

davor warnte, „auf Italien, wenn es sich in finanzieller Schwierigkeit befindet, irgendwelchen Druck zwecks Erhöhung seiner Militärmacht auszuüben und dies mit Dreibundsrücksichten zu motivieren". Vgl. H. Hofmann, Fürst Bismarck 1890 bis 1898, Bd. II (1913), S. 70. Infolge dieser beiden Artikel beabsichtigte der irre- dentistischc und dreibundfeindliche Abgeordnete Imbriani eine Interpellation in der italienischen Kammer einzubringen, jedoch gelangte dieser Gedanke nicht zur Ausführung. Der neuernannte Minister des Äußern Brin bestätigte dem Grafen Solms am 21. Mai, er habe nie gehört, daß von selten der deutschen Regierung jemals ein Rat erteilt oder auch nur eine Meinung geäußert sei über die Stärke- verhältnissc der italienischen Streitkräfte. Daß Italien keinerlei internationale Ver- pflichtungen zu Rüstungen übernommen habe, hatte übrigens Rudini schon am 21, März 1S92 in der italienischen Kammer auf eine Insinuation Imbrianis erwidert.

123

I

B. Der erneuerte Dreibund

und das Italienisch -Französische Verhältnis

1893—1895

Nr. 1442

Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt

Freiherrn von Rotenhan

Eigenhändig

Berlin, den 20. August 1893 Der italienische Geschäftsträger teilt mir mit, da der Maire von Aigues-Mortes öffentlich das Vorgehen der französischen Arbeiter gegen die italienischen* für berechtigt erklärt habe, sei der italienische Bot- schafter zu Paris angewiesen worden, die Bestrafung bzw. Absetzung dieses Beamten in Paris zu verlangen. Wenn Frankreich dem nicht bald stattgebe, halte die italienische Regierung die Lage für ernst und fühle sich daher verpflichtet, ihren Verbündeten über den Vorfall eine Mitteilung zu machen.

Rotenhan

Nr. 1443

Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung Nr. 118 Rom, den 20. August 1893

Minister Brin hat bei der französischen Regierung zweimal, bis- her vergeblich, Satisfaktion für Aigues-Mortes beantragt. Minister De- velle** ist von Paris abwesend, der Minister des Innern*** anscheinend mit Wahlen zu beschäftigt, um den Botschafter zu empfangen, der nur mit Räten verhandelt hat Italien verlangt mindestens Maßregelung des

* In Aigues-Mortes bei Marseille hatten am 17. August schwere Zusammenstöße zwischen französischen und italienischen Arbeitern stattgefunden, bei denen sieben Italiener getötet und 34 verwundet wurden. Der Maire und die Behörden taten nichts, um die Italiener zu schützen; ja im Hospital zu Marseille wurde den ver- wundeten Italienern die Aufnahme verweigert. Die Kunde von diesen Vorgängen löste in Italien den heftigsten allgemeinen Unwillen aus, der sich in antifranzösi- schen Demonstrationen in Rom, Neapel und vielen anderen Städten Luft machte. Formell wurden die Zwischenfälle durch gegenseitige Erklärungen der beiden Re- gierungen vom 2t. August für geschlossen erklärt; in Italien zitterte aber die Erregung: die durch handeis- und wirtschaftspolitische Schikanen Frankreichs, namentlich in der Währungsfrage geschürt war, noch lange nach; sie drohte von neuem loszubrechen, als das Schwurgericht von Angouleme Ende Dezember 1893 sämtliche Angeklagten von Aigues-Mortes freisprach (vgl. Nr. 1454). ** Minister des Äußern im Kabinett Dupuy. *** Ministerpräsident Dupuy war zugleich Minister des Innern.

127

Maire von Aigues-Mortes. Man hat hier Maßregeln ergriffen, wieder- holte Straßendemonstrationen in Rom zu verhindern.

Unterstaatssekretär Ferrari fürchtet größere Unruhen, wenn nicht bald zufriedenstellende Antwort Frankreichs eintrifft.

Solms Nr. 1444

Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung Nr. 120 Rom, den 20. August 1893

Graf Nigra* telegraphiert, Graf Kälnoky erkenne den Ernst der Ereignisse von Aigues-Mortes und sagte, daß die französische Re- gierung sofortige Satisfaktion geben müßte; Graf Kälnoky werde aus eigener Initiative die französische Regierung im europäischen Inter- esse von dieser seiner Ansicht in Kenntnis setzen.

Solms Nr. 1445

Der Unterstaatssekretär im Auswärt gen Amt Freiherr von Rotenhan an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen Nr. 93 Berlin, den 21. August 1893

Nach Telegrammen aus Rom scheint man dort wegen Zwischen- falls in Aigues-Mortes einigermaßen besorgt. Wir haben bisher nicht Eindruck, daß ernstere Komplikationen daraus entstehen, solange An- gelegenheit auf Verhandlungen zwischen Italien und Frankreich be- schränkt bleibt. Wir werden uns aber, um jeden Eindruck einer Pres- sion zu vermeiden, in Paris jeder Äußerung enthalten. Teilen Sie dies Graf Kälnoky mit.

Rotenhan Nr. 1446

Der stellvertretende Geschäf:sträger in Paris Graf Arco an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Entzifferung Nr. 189 Paris, den 19. August 1893

Ganz vertraulich

Der italienische Botschafter**, welchen ich heute in persönlichen Angelegenheiten besuchte, zeigte sich sehr mißmutig über den Ver- lauf der Verhandlungen in der Münzfrage. Er sagte, die französi- schen Minister würden sich im nächsten Kabinettsrat mit den italieni- schen Vorschlägen beschäftigen, er habe aber wenig Hoffnung auf

* Italienischer Botschafter in Wien. ** Ressmann.

128

eine günstige Lösung, Das Verhältnis Frankreichs zu Italien gestalte sich immer schlechter. Es sei seit Jahren das offensichthche Bestreben der Franzosen, Italien durch Schädigung seiner Interessen auf kom- merziellem und finanziellem Gebiete vom Dreibund abzulenken. Er persönlich glaube allerdings, daß diese Intrigen gerade die gegenteilige Wirkung auf die italienische Politik hervorbringen werden. Seiner Meinung nach solle aber auch Italien alles vermeiden, wodurch Frank- reich gereizt werden könnte.

Mit letzterer Bemerkung wollte Herr Ressmann offenbar auf den bevorstehenden Besuch des Prinzen von Neapel im Reichsland* hin- weisen, welcher gegenwärtig der hiesigen Presse Stoff zu Hetzartikeln gibt, und an welchen viele Blätter die Forderung knüpfen, jede von Italien gewünschte Gefälligkeit abzulehnen. Ich habe es vermieden, auf das Thema einzugehen oder mir den Anschein zu geben, als ob ich die Anspielung verstanden hätte. Ich weiß aber von Kollegen, daß Herr Ressmann schon seit längerer Zeit mit einiger Besorgnis dem Manöverbesuch des Prinzen entgegensieht.

Über die Massakrierung der italienischen Arbeiter in Aigues-Mortes, die mattherzige Kundgebung des dortigen Maire und die Haltung der französischen Presse in dieser Sache zeigte sich Herr Ressmann sehr gereizt. Über die Details war er noch ohne Nachricht. Er zog eine Parallele zwischen dem Vorgehen Frankreichs gegen Siam wegen eines isoliert gebliebenen Verbrechens** und der Haltung der französischen Presse zur Niedermetzelung der armen Italiener.

Graf Arco

Nr. 1447

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 222 Wien, den 21. August 1893

Euerer Exzellenz Telegramm Nr. 93 von heute***, den Zwischenfall in Aigues-Mortes betreffend, habe ich zu erhalten die Ehre gehabt und dem Grafen Kälnoky sofort Mitteilung von der beabsichtigten Haltung der Kaiserlichen Regierung gemacht.

Graf Kälnoky sagte mir, daß ihn der italienische Botschafter gestern gebeten habe, ob das hiesige Kabinett nicht in Paris auf die Notwendigkeit einer raschen Genusftuungf hinweisen könnte.

* Kronprinz Viktor Emanuel traf am 1. September in Koblenz ein, um an den

Kaisermanövern in der Rheinprovinz und in den Reichslanden teilzunehmen. ** Der schon seit 1892 bestehende Konflikt zwischen Frankreich und Siam war im Juni 1893 durch die Ermordung eines französischen Inspektors Grosgurin ver- schärft worden. Aus dem französisch-siamesischen wurde bald ein englisch- französischer Konflikt. Vgl. Bd. VII!; Kap. LH B. *** Siehe Nr. 1445.

9 Die Große Politik. 7. Bd. J29

Hierauf sei er, der Minister, nicht eingegangen. Er habe aber dem Botschafter versprochen, daß er den österreichisch-ungarischen Geschäftsträger* anweisen würde, Herrn Develle vertraulich in seinem, des Ministers, Auftrage zu sagen, daß hier Meldungen über die wachsende Aufregung in der italienischen Bevölkerung eingelaufen seien, und daß er im Interesse des uns allen notwendigen Friedens nicht umhin könne, die lebhafte Hoffnung auszusprechen, daß die französische Regierung mit energischer Raschheit dasjenige tun werde, was diesen Zwischenfall aus der Welt zu schaffen geeignet wäre.

Graf Zichy habe weder darüber zu sprechen, was die französische Regierung tun solle, noch sonst einen Rat zu geben.

Der Minister bemerkte, er habe die Italiener nicht ganz abweisen wollen, begreift aber, daß wir es nicht für angezeigt hielten, in Paris zu sprechen, da man dort hierin leicht eine Pression erblicken könnte.

Nebenbei bemerkt, werde man ja jetzt sehen können, ob Rußland in Paris zugunsten Italiens intervenieren werde, damit es nicht zu einem Konflikt komme. Dies sei eine Probe auf die durch die „Ham- burger Nachrichten" verbreitete Ente eines russisch-italienischen ge- heimen Einverständnisses.

H. VII. P. Reuß

Nr. 1448

Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 123 Rom, den 22. August 1893

Minister Brin teilte mir den Inhalt eines nach Berlin gerichteten Telegramms mit, wonach die französische Regierung den Maire von Aigues-Mortes suspendiert und strenge Untersuchung der Vorgänge angeordnet hat und der Botschafter Ressmann angewiesen ist zu er- klären, daß die italienische Regierung den Inzidenzfall als zufrieden- stellend geschlossen betrachtet.

Solms

Nr. 144Q Der Geschäf isträger in Paris von Schoen an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 217 Paris, den 23. August 1893

Der italienische Botschafter hält, wie er mir ganz vertraulich sagt, trotz beruhigenden Veröffentlichungen über die gegenseitigen Er- klärungen und Maßregeln die Lage noch nicht frei von Besorgnis, weil

* Graf Zichy 130

er fürchtet, daß die säumige und wenig befriedigende Art der franzö- sischen Genugtuung weitere unheilsvolle Explosionen des italienischen Nationalgefühls und lange andauernde Verbitterung her\'orrufen dürfte. Die Havasnote vom 21. d. Mts. erscheint ihm dadurch, daß sie im Widerspruch mit den Tatsachen den italienischen Ausdruck des Be- dauerns voranstellt, geeignet, die hier geläufige Vorstellung zu ver- stärken, als ob Frankreich mehr Genugtuung zu fordern wie zu geben habe, in Italien aber böses Blut zu machen. Auch ist zu betonen, daß die französische Regierung den Maire von Aigues-Mortes wegen seiner den Mord geradezu billigenden Proklamation nicht, wie vom italieni- schen und allgemeinen Standpunkt erwartet werden mußte, und wie Herrn Ressmann zugesagt war, seines Amtes entsetzt, sondern nur suspendiert hat.

Das Verhalten der italienischen Regierung findet bei der hiesigen Presse im allgemeinen anerkennendes Verständnis, doch kommt die letztere aus diesem Anlaß wieder mit ihren Empfindlichkeiten wegen der Reise des Prinzen von Neapel nach den Reichslanden hervor.

Schoen

Nr. 1450

Der Geschäf(sfräger in Paris von Schoen an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 192 Paris, den 25. August 1893

Vertraulich

Seitdem ich die Ehre habe, Herrn Ressmann, den jetzigen ita- lienischen Botschafter und früheren ersten Sekretär unter seinem Vor- gänger, zu kennen und mit ihm über politische Dinge mich zu unter- halten, ist mir stets eine gewisse Neigung zu pessimistischen Anschau- ungen bei ihm aufgefallen. So schwarzsehend wie jetzt aber habe ich Herrn Ressmann noch nie gefunden. Er ist sehr mißmutig über den Mangel an Willfährigkeit, den er bei der hiesigen Regierung in der Angelegenheit von Aigues-Mortes sowohl wie in der Frage der Außer- kurssetzung der italienischen Scheidemünze gefunden und sieht darin einen weiteren Beweis dafür, daß Frankreich ganz systematisch Italien in jeder Beziehung zu schaden suche, in der Meinung, es mürbe zu machen und zum Abfall vom Dreibund zu bringen, zum mindesten aber seinen Wert als Mitglied desselben möglichst herunterzudrücken. Ja, Herr Ressmann geht noch weiter; er glaubt, daß in vielen fran- zösischen Köpfen der Gedanke lebt, Italien so lange zu reizen, bis dort dem feurigen und empfindlichen Volk die Geduld reißt und Dinge vorfallen, die einen kriegerischen Konfhkt mit dem Anscheine

131

herbeiführen, als sei der Angriff von Italien ausgegangen. In diesen Tagen sei ein solcher Konflikt bedenklich nahe gewesen, die Gefahr desselben übrigens noch nicht ganz beseitigt. Die Wage des Krieges und Friedens habe in seiner, des Botschafters, Hand geruht, und es habe nicht geringer Selbstbeherrschung und Mäßigung bedurft, um ihn zu hindern, der Schale des Krieges das Übergewicht zu geben. Herr Ressmann knüpfte daran die allgemeine Bemerkung, die Lage Europas und speziell Italiens sei nachgerade so unerträglich geworden, daß es sich frage, ob wir, der Dreibund, nicht besser daran getan hätten, den Krieg, der nun doch einmal unvermeidlich sei, zu eiaer Zeit zu entfesseln, wo die Chancen uns noch günstiger standen wie heutzutage.

Ich erlaubte mir zu entgegnen, daß ich von der Unvermeidlich- keit des Krieges durchaus nicht überzeugt sei und eher an eine fried- liche als an eine kriegerische Lösung der Spannung glaube. Jeden- falls würde ein Krieg, selbst wenn er für uns Dreibundmächte günstig ausfiele, uns mehr herunterbringen als der bewaffnete Friede, ein un- glücklicher Krieg uns aber nahezu vernichten, deshalb müßten alle Anstrengungen, wie dies bei den verbündeten Regierungen auch der Fall, auf Erhaltung des Friedens gerichtet sein. Je mehr wir alle, Freunde und Gegner, auf den Krieg rüsteten, desto unwahrschein- licher werde der Ausbruch desselben. Der Friede, der nun eine 22jährige Probe bestanden, werde auch ferner erhalten werden können.

Der Botschafter meinte, in dem französischen Volke glimme un- auslöschliche Glut unter der Asche, eines Tages werde die Flamme doch hervorschlagen. Er komme viel mit Franzosen zusammen und wisse, wie tief der Grimm gegen Deutschland in ihnen sitze, wie sehr sie alle von der Idee der Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens beherrscht seien. Vielleicht gelinge es, den Krieg noch einige Jahre, etwa bis zur Weltausstellung 1900, zu vermeiden, länger aber kaum.

Auf die Beziehungen zwischen Italien und Frankreich zurück- kommend, klagte Herr Ressmann lebhaft über die Schwierigkeiten derselben und seiner Stellung. Zu offener und ehrlicher Feindschaft, wie zwischen Deutschland und Frankreich, ein Verhältnis, das den Vorteil der Klarheit und Bestimmtheit habe, dürfe er es nicht kommen lassen, denn seine Regierung habe mit einer franzosenfreundlichen Partei im Lande zu rechnen, franzosenfreundlich nur in dem Sinne, daß sie eine Besserung der Beziehungen im eigenen Interesse wünscht, denn Italien ist in wirtschaftlichen Dingen vielfach auf Frankreich an- gewiesen. Die Regierung dürfe diese Partei nicht vor den Kopf stoßen, dies würde sie und ihre Forderungen nur stärken. Andererseits mache das offenkundige Übelwollen auf französischer Seite die Herstellung leidlicher Beziehungen nahezu unmöglich und erschwere ihm und seiner Regierung die Stellung. Der König, so betonte der Botschafter v/ieder- holt, wohl in Hinsicht auf die Reise des Kronprinzen nach den Reichs-

132

landen, stehe freilich über den Parteien und brauche sich von Rück- sichten auf dieselben nicht leiten zu lassen.

Euerer Exzellenz habe ich geglaubt, die Anschauungen des ita- lienischen Botschafters wiedergeben zu sollen. Mir scheinen sie, wie schon erwähnt, etwas zu düster, ein Ausfluß persönlicher Verstimmung über die Erfolglosigkeit der bisherigen Bemühungen, wirtschaftliche und handelspolitische Zugeständnisse von Frankreich an Italien zu er- reichen, sowie über die Säumigkeit in der Erledigung der Sache von Aigues-Mortes, auch wohl eine Folge gestörter Gesundheit und phy- sischer Ermüdung.

V. Schoen

Nr. 1451

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 218 Paris, den 27. September 1893

Mein italienischer Kollege, gestern von Italien zurückgekehrt, be- suchte mich sogleich.

Den Botschafter fand ich sehr pessimistisch gestimmt, und kann ich nur dasjenige bestätigen, was der Geschäftsträger Herr von Schoen (Bericht Nr. 192 vom 25. v. Mts.*) vor der Abreise des Herrn Ress- mann berichtete. Durch seinen Aufenthalt und seine Reise durch ganz Italien scheint diese pessimistische Auffassung nicht gemildert worden zu sein.

Die öffentliche Meinung in Italien und die Stimmung der Bevöl- kerung muß nach den Schilderungen des Botschafters eine sehr er- regte und gegen Frankreich sehr feindliche sein^.

Die Franzosen, meinte Herr Ressmann, intrigieren nach zwei Rich- tungen hin; sie wollen Italien finanziell ruinieren und wollen zur Re- volution und Republik treiben. Beides werden sie nicht erreichen; sie treiben aber zu einer ganz andern und gefährlichen Lösung dieser ge- spannten Situation, zum Kriege. Überall habe er die Äußerung gehört, man müsse der unerträglichen Lage ein Ende machen.

Auch bis in die höchsten Kreise habe er diese Stimmung gefunden.

Vielfach habe er die Ansicht gehört, als ob Seine Majestät, unser allergnädigster Herr, dem Kriege nicht abgeneigt sei 2. Als ich be- stimmt versicherte, das sei nicht der Fall, Seine Majestät wünschten aufrichtig die Erhaltung des Friedens, und könnten wir auf keinen Fall wünschen, daß der Krieg auf leichtsinnige Weise von Italien aus provoziert werde, meinte er, das beruhige ihn sehr, und er hoffe, daß wir in Italien dieses bestimmt betonen würden.

Siehe Nr. 1450.

133

Nach den ganz vertraulichen Äußerungen des Botschafters zu urteilen, scheint sein König selbst ernstlich die Möglichkeit eines bal- digen Krieges ins Auge zu fassen.

Wenn ich auch annehme, daß mein Kollege zu schwarz sieht, so wird es aber doch sehr wünschenswert sein, daß von unserer Seite beruhigend in Italien gewirkt werde ^.

Herr Develle, der heute auf einen Tag in der Stadt ist er ist meistens noch auf dem Lande , sagte mir, die Vorfälle in Aigues- Mortes beklage er sehr, über die italienische Regierung könne er durchaus nicht klagen, sie habe bei den unangenehmen Vorfällen in Rom alles getan, was man von hier aus hätte erwarten können. Leider sei aber die Aufregung der italienischen Bevölkerung und die Ani- mosität gegen Frankreich sehr groß, und er sei nicht ganz sicher, daß die italienische Regierung stark genug der aufgeregten Nation gegenüber sei.

In finanziellen Kreisen herrscht auch eine gewisse Besorgnis, man fürchtet un coup de tete Italien.

Die Gebrüder Rothschild, die ich alle drei zusammen traf, gaben auch dieser Besorgnis Ausdruck und meinten, es sei eine große Un- geschicklichkeit der hiesigen finanziellen Kreise gewesen, daß die- selben auf jede Weise versucht hätten, die italienische Rente zu werfen. Ihr Haus hätte das nicht mitgemacht, und hätten sie im Gegenteil ver- sucht, sie mit zu halten. Die finanziellen Verlegenheiten Italiens seien so schon groß genug, die Stimmung in Italien könne geradezu für den Frieden Europas gefährlich werden.

\ Die Italiener schreien und gestikulieren im gewöhnlichen Leben viel, ehe sie wirklich ernstlich zuschlagen, und das wird hoffentlich jetzt auch der Fall sein*. Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

i Gut * 1 3 vor allem England! * sehr richtig.

Nr. 1452 Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 247 Paris, den 6. Oktober 18Q3

Herr Ressmann vertraut mir an, er habe vor einigen Tagen dem hier anwesenden Botschafter Billot* ganz offen gesagt, eine Fort- setzung der bisherigen französischen Politik gegen Italien werde nicht, wie die Absicht scheine, zu Bankrott und Revolution in Italien, sondern zum Krieg führen, worauf Herr Billot die Friedfertigkeit Frankreichs beteuerte.

Herr Ressmann ist überzeugt, daß Frankreich in der Tat keinen

* Französischer Botschafter in Rom. 134

Krieg will, weil es im Frieden Italien langsam, aber sicher ruiniere, dieser Zustand sei kaum länger zu ertragen. Auf meine Betonung des Charakters des Dreibundes gab der Botschafter in gewundener Weise zu verstehen, es sei in Rom erwünscht zu wissen, wieweit man in gegenwärtiger Lage auf deutsche Unterstützung rechnen könne.

Die von französischen Blättern gemeldeten italienischen Mobil- machungsvorbereitungen an der Alpengrenze stellt Herr Ressmann in Abrede.

Schoen Nr. 1453

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Geschäftsträger in Paris von Schoen

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 277 Beriin, den 10. Oktober 1893

Falls Herr Ressmann die akademische Erörterung über den Drei- bundvertrag und dessen eventuelle Interpretation* wieder aufnehmen sollte, sagen Sie ihm, Sie seien nicht orientiert. Jedenfalls werde aber seine Regierung, wenn sie sich nach Berlin wende, dort authentische Auskunft erhalten.

Marschall Nr. 1454

Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 296 Paris, den 31. Dezember 1893

Das Geschworenengericht zu Angouleme hat sämtliche Angeklagte von Aigues-Mortes freigesprochen, obgleich 30 der Beschuldigten nach- gewiesenermaßen Italiener totgeschlagen haben. Der italienische Bot- schafter fürchtet, daß diese Freisprechung in Italien große Aufregung hervorrufen wird.

Münster

Nr. 1455

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 1 Paris, den 6. Januar 1894

Der Neujahrsempfang des diplomatischen Korps fand in der ge- wöhnlichen Weise statt. Der Nuntius und der Präsident** hielten ziem- lich nichtssagende Reden.

Daß der Präsident besonders die Liebe und Achtung der fran-

* Vgl. Nr, 1452. ** Carnot.

135

zösischen Nation für Recht und Gesetz in einem Augenblicke betonte *, wo die Geschworenen in Angouleme Italien gegenüber einen schreien- den Rechtsbruch verübten, klang fast wie Hohn 2.

Für mich ist es eins der gefährlichsten Zeichen des allmählichen Niederganges der französischen Nation, daß das Rechtsbewußtsein immer mehr schwindet, und daß auch der französische Richterstand immer weniger selbständig und immer mehr abhängig von der je- weiligen Regierung zu werden scheint 2.

Die hiesige Regierung und die besseren Kreise bedauern zwar lebhaft den Spruch der Geschworenen in Angouleme. Herr Casimir Perier* tat das auch mir gegenüber in sehr bestimmter Weise und las mir den Bericht des Oberstaatsanwalts zu Angouleme vor, der sich und den Präsidenten des Gerichtshofes zu entschuldigen versucht.

Dieser behauptet, daß er und der Gerichtspräsident alles, was in ihren Kräften stand, getan hätten, um eine Verurteilung herbeizuführen, und schiebt das Mißlingen dieser Bemühungen vor allem der Gegen- wart des italienischen Generalkonsuls Durando zu. Die Geschworenen hätten seine Gegenwart angesehen, als solle eine Pression auf sie aus- geübt werden, und dadurch seien die politischen Motive wieder in den Vordergrund getreten.

Herr Casimir Perier erkannte es an, daß Herr Crispi und die ita- lienische Regierung bestrebt sind, die öffentliche Meinung in Italien zu beruhigen und öffentliche Ausschreitungen zu verhindern.

Eine Gefahr in unserer Zeit ist das Nationalgefühl, welches eine bedenkliche Richtung einschlägt* und zum Nationalhaß immer mehr ausartet. Darin sehe ich die wirkliche Kriegsgefahr, pp.

Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 .War sehr mal apropos * ja ^ richtig * gut.

Nr. 1456

Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 44 Rom, den 20. Februar 1894

Ganz vertraulich

Der italienische Botschafter in Paris, Herr Ressmann, welcher vor acht Tagen hier eintraf und heute über Florenz auf seinen Posten zurückkehren will, suchte mich auf, um mir seine Ansichten über das Verhältnis Italiens zu Frankreich auseinanderzusetzen. Herr Ressmann betonte hierbei, daß er im Vertrauen auf meine Diskretion mit der Offenheit spreche, zu welcher ihn unsere langjährigen persönlichen Beziehungen autorisierten.

* Präsident des Ministeriums und Minister des Äußern seit 1. Dezember 1893. 136

Italien, entwickelte Herr Ressmann, müsse wissen, was es wolle. Wolle es den Krieg, dann lieber heute als morgen. In diesem Falle wäre jeder Aufschub von Schaden. Wenn jedoch die italienische Re- gierung und das italienische Volk den Zusammenstoß mit Frankreich zu vermeiden wünschten, müßten beide jenen Nachbarn vorsichtiger als bisher behandeln. Vor allem müsse Italien gegenüber Frankreich weniger empfindlich werden, mit der französischen Eitelkeit und selbst mit der französischen Überhebungssucht rechnen. „II faut traiter la France comme une femme qui a quelquefois besoin de caresses et ä laquelle il faut pardonner bien des choses.'' Man solle sich in Italien speziell um die allerdings in hohem Grade beleidigenden, oft em- pörenden — Auslassungen d^r Pariser Presse möglichst wenig küm- mern. Alles dies schließe natürlich nicht aus, daß Italien angesichts des unberechenbaren französischen Nationalcharakters sein Pulver trocken halte. „Fortiter in re, sed suavissime in modo."

Herr Ressmann behauptet, daß auch ernsthafte Franzosen bona fide an kriegerische Absichten Italiens gegenüber Frankreich geglaubt hätten und noch glaubten. Die Anwesenheit des Prinzen von Neapel bei den deutschen Manövern*, einige italienische Truppenbewegungen an der französischen Grenze, das Wiedererscheinen des Herrn Crispi an der Spitze der Regierung**, die Truppensendungen nach Sizilien wären in Paris als ebensoviele kriegerische Symptome gedeutet v.'orden. Als ich auf die Absurdität dieser Auffassung hinwies, meinte Herr Ressmann: „C'est absurde, mais c'est comme cela. Le cer\'eau francais est un cerveau ä part." Herr Ressmann möchte, daß von hier aus in Paris gelegentlich beruhigende Erklärungen abgegeben würden, wie er solche vor einiger Zeit vergeblich von Baron Blanc zu extrahieren versucht habe. Er bat mich vertraulich, hier gegenüber Frankreich kaltes Blut und möglichste Courtoisie anzuempfehlen.

Über die allgemeine Stimmung in Frankreich meinte Herr Ress- mann, daß der Gedanke der Wiederaufrichtung der französischen Vor- herrschaft in Europa freilich noch in allen französischen Herzen lebendig sei. Aber von sofortigem Losschlagen, nach welcher Richtung es auch sei, wolle trotzdem niemand in Frankreich etwas wissen. Die Fran- zosen wollten zunächst das Ablaufen der Tripelallianz abwarten, in der Hoffnung, daß dieselbe nicht wieder erneuert werden würde. Demnächst sei die Erinnerung an 1870/71 noch nicht erloschen; Frank- reich möchte das nächste Mal militärisch ganz sicher gehen. Endlich sei die Republik als solche zweifellos friedlich. „Comment pouvez vous croire notre democratie belliqueuse", sagte Herr Carnot dem italienischen Botschafter, während Herr Challemel-Lacour*** geäußert

* Vgl. Nr. 1446, S. 129, Fußnote *.

** Das neiic Ministerium Crispi mit Baron Blanc als Außenminister war am

10. Dezember 1893 zustandegekommen.

*** Präsident des französischen Senats.

137

haben soll: „La France se fait tellement materialiste et tellement pacifique qu'il faut la secouer de temps en temps afin qu'elle n'oublie pas ce qu'elle ne doit pas oublier."

Auch Herr Ressmann hofft für den Fall eines Konflikts mit Frank- reich auf englische Unterstützung für Italien. Aber Italien dürfe bei einem solchen Konflikt nicht der formal schuldige Teil sein. Die eng- lischen Staatsmänner, habe ihm Lord Dufferin neulich gesagt, sähen jetzt fast alle ein, daß Großbritannien nicht Italien gegenüber Frank- reich preisgeben dürfe. Aber gegen die öffentliche Meinung könne kein englischer Staatsmann ankommen. Diese öffentliche Meinung werde nur dann dann jedoch sicher für Italien Partei nehmen, wenn dieses als der angegriffene und nicht als der angreifende Teil erscheine.

Herr Ressmann lenkte schließlich das Gespräch auf sein Verhält- nis zu Baron Blanc. Er fürchte, daß dieser an seine Stelle nach Paris kommen möchte, obwohl seines Erachtens der derzeitige Minister des Äußern aus vielen Gründen gerade dorthin gar nicht passen würde. Herr Ressmann schien sichtlich erleichtert, als ich ihm sagen konnte, daß Baron Blanc mir gegenüber kürzlich proprio motu jede Aspiration auf Paris in Abrede gestellt habe.

Allerdings hat sich, was ich Herrn Ressmann nicht wohl sagen durfte, Baron Blanc mir gegenüber mehrfach einigermaßen abfällig über den italienischen Botschafter in Paris ausgelassen, welchen er gegenüber Frankreich zu nervös und bis zu einem gewissen Grade zu nachgiebig findet. Auch Herr Crispi hatte sich über einige Berichte des Herrn Ressmann geärgert, welche in lebhaften Farben die fran- zösischen Besorgnisse vor italienischen Angriffsplänen schilderten, und ad marginem eines dieser Berichte geschrieben: „Der Wolf klagt über das Lamm.*' Der Konseilpräsident hat Herrn Ressmann nichtsdesto- weniger freundlich aufgenommen und ihn ermächtigt, in Paris zu er- klären, „que I'Italie, fidele ä sa politique de paix et ne desirant que la paix, ne provoquerait certainement personne". Herr von Rudini unter- hält seit lange freundschaftliche Beziehungen zu Herrn Ressmann; letzterer hat den Führer der Rechten hier öfters gesehen. Von König Hunibert vi^urde Herr Ressmann in gnädiger Weise empfangen, mit einer Einladung zur Tafel beehrt und durch längere Unterhaltung aus- gezeichnet.

Ich habe Herrn Ressmann, wie allen meinen hiesigen Bekannten, welche die Rede auf das Verhältnis Italiens zu Frankreich brachten, in unbefangenem Tone erwidert, v^ie wir ganz damit einverstanden wären, daß Italien unter Wahrung seiner Würde und Sicherheit gegen- über Frankreich eine friedliche und höfliche Haltung einnehme, die weder unseren Wünschen noch unsern Interessen widerspräche, von welcher sich aber meines Erachtens bisher auch keine italienische Re- gierung ekartiert habe. B. von Bülow

138

Nr. 1457 Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung Nr. 12 Rom, den 6. Januar 1895

pp. Über die Abberufung des Botschafters Herrn Ressmann be- merkte Herr Crispi, daß er persönlich nichts gegen den genannten habe, den er lange gegen Baron Blanc in Schutz genommen hätte; seine Entfernung aus Paris sei jedoch sachlich notwendig geworden. Herr Crispi hatte soeben ein Telegramm des Herrn Ressmann erhalten, in welchem derselbe anzeigt, daß er morgen, Montag, dem Botschafts- rat Herrn Gallina die Geschäfte übergeben und denselben dem fran- zösischen Minister des Äußern als Geschäftsträger vorstellen werde.

Der Ministerpräsident sprach schließlich die Bitte aus, daß Graf Gallina, dessen Stellung keine leichte sein werde, bei unserer Bot- schaft Anlehnung und Unterstützung finden möge. Herr Crispi fügte hinzu: „Vous aurez remarque, avec quelle violence la presse frangaise et surtout les journaux officieux m'attaquent. La haine des Francais et du gouvernement frangais contre moi provient de ce que l'Italie ne sortira pas de la triple alliance tant que je suis au pouvoir, je vous le garantis. Si je tombais, la politique etrangere de l'Italie changerait de direction." Der Ministerpräsident kam mehrfach darauf zurück, daß die Maßlosigkeit der Pariser gouvernementalen Organe nicht nur seine Stellung erschwere, sondern auch nicht ohne Rückwirkung auf die Beziehungen zwischen Italien und Frankreich bleiben werde. Er Heß hierbei durchblicken, daß er es mit Dank be- grüßen würde, wenn die Verbündeten Italiens in Paris warnend und mäßigend einwirken könnten, pp.

Bülow

Nr. 1458

Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an den Botschafter in Paris

Grafen Münster

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 6 Berlin, den T.Januar 1895

Bei oder nach Besprechung der durch die Haltung der französischen Presse für beide, die französische wie die deutsche Regierung er- schwerten Dreyfus-Angelegenheit* wird sich Ew. vielleicht Gelegenheit

* Am 1. Dezember war der Artilleriehauptmann Dreyfus unter dem Verdacht verhaftet worden, fremden Militärbevollmächtigten geheime Aktenstücke mitgeteilt zu haben. Die Verhaftung hatte eine heftige Preßfehde gegen die fremden, ins- besondere die deutschen und italienischen Militärattaches zur Folge, sodaß Graf Münster sich beschwerdeführend an die französische Regierung wenden mußte. Näheres über den Dreyfus-Fall siehe in Bd. IX, Kap. LIX.

13Q

bieten, auch die Maßlosigkeiten der französischen Presse gegenüber der itahenischen Regierung akademisch, zur Beleuchtung der Gesamt- lage, mit in die Erörterung zu ziehen. Wenn wir das jetzige Stadium als ein akutes betrachteten, so könnte uns kaum etwas erwünschter sein als diese Polemik, welche bei Krone und Volk in Itahen die patriotische Fiber anregt und sogar einen Bonghi zum zeitweiHgen Verbündeten Crispis gemacht hat. Da -wir aber bis jetzt glauben, mit der französischen Regierung in dem Wunsche der Erhaltung des inter- nationalen Friedens einig zu sein, so fehlt uns der Schlüssel für die Ton- art, welche neuerdings der „Temps" in seinen Angriffen gegen ita- lienische Staatsmänner angeschlagen hat. Wir fragen uns, was die Welt sagen würde, wenn die „Norddeutsche Zeitung" in diesem Stile die leitenden Persönlichkeiten nichtverbündeter Staaten kritisieren wollte was ihr sogar zur Zeit Boulangers nicht passiert ist, da selbst damals Deutschland die Hoffnung auf Erhaltung des Friedens niemals aufgegeben hat. Und doch ist die Einwirkung der Kaiserlichen Re- gierung auf die „Norddeutsche Zeitung'' eine relativ ebenso geringe wie wahrscheinlich die der französischen Regierung auf den „Temps'*. Aber es darf nicht vergessen werden, daß der Ruf der Inspiration, in welchem beide Blätter stehen, ihnen eine Hebelkraft für Aufreizung der Leidenschaft gibt, die kaum verträglich scheint mit ganz unkontrol- lierter Willkür der Redaktion in schwierigen Momenten.

C. Hohenlohe

Nr. 1459

Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe

Ausfertigung

Nr. 44 Rom, den 16. Februar 1895

Graf TornieHi* sagte mir vor seiner Abreise nach Paris, daß er ohne Enthusiasmus an seine neue Aufgabe herangehe. Auf die Glück- wünsche, welche ihm anläßlich seiner Ernennung nach Paris zu- gegangen wären, habe er erwidert, daß Beileidskundgebungen an- gezeigter sein würden. Nicht nur, weil aus bekannten Gründen gerade seine persönliche Stellung in Paris eine überaus schwierige sein würde, sondern auch weil die politischen Beziehungen zwischen Italien und Frankreich selten weniger herzliche gewesen wären wie gegenwärtig. Graf Tornielli, welcher ein alter Bekannter von mir ist, unterzog bei dieser Gelegenheit die auswärtige Politik der derzeitigen italieni-

Der bisherige Botschafter in London Graf Tornielli, ein von je zu Frankreich neigender Staatsmann (vgl. Bd. VIII, Kap. LIV, A.), wer als Nachfolger Ressmanns auf den Pariser Posten versetzt worden.

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sehen Regierung einer nicht gerade wohlwollenden Kritik. Der Fehler des Baron Blanc sei, äußerte Graf Tornielli unter anderem, daß der- selbe eine englisch-russische oder gar eine englisch-russisch-französische Entente für unmöglich halte. Eine solche Entente sei aber nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich und werde vielleicht Jahrzehnte dauern. Als ich Graf Tornielli auseinandersetzte, daß und warum ich seine Auffassung für eine irrige hielte, entgegnete derselbe: „Was Sie sagen, wäre richtig, wenn England noch das England von vor 50 oder selbst vor 20 Jahren wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Das heutige England! wird den Franzosen und Russen jede Konzession machen, um sich eine Galgenfrist der Ruhe zu erkaufen." Graf Tornielli ist der Meinung, daß Italien angesichts der nach seiner Ansicht in London jetzt prävalierenden Tendenzen sich nach allen Seiten größter Reserve befleißigen und „une politique de passivite" treiben müsse, pp.

B. von Bülow

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: 1 Liberale Ministerien

Nr. 1460

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Wien Grafen zu Eulenburg

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 193 Berlin, den 19. März 1895

Ew. beehre ich mich in der Anlage einen Bericht des Kaiserhchen Geschäftsträgers in Paris über eine Unterredung desselben mit dem Grafen Wolkenstein* abschriftlich zu übersenden.

Bei Besprechung der italienisch-französischen Beziehungen sagte der österreichisch-ungarische Botschafter, daß er von Wien aus an- gewiesen sei, die Annäherung Italiens an Frankreich nach Kräften zu fördern.

Aus Mitteilungen des Baron Blanc, welche Ew. mit heutiger Ex- pedition zugehen, ergibt sich, daß auch in Rom die österreichische Diplomatie bereits seit länger als zehn Jahren fortgesetzt den Rat er- teilt hat, Italien möge irgendwie, eventuell zusammen mit England eine Verständigung mit Frankreich zu erreichen suchen.

* Nach dem Berichte des Geschäftsträgers von Schoen vom 9. März 1895 (Nr. 65) hätte Graf Wolkenstein Besorgnisse darüber geäußert, daß Graf Tornielli, der mit der Instruktion, in versöhnlichem Sinne tätig zu sein, nach Paris geschickt sei, dieser Aufgabe im Hinblick auf seinen mißtrauischen und spröden Charakter und auf neuerdings entstandene französisch-italienische Kolonialschwierigkeiten (Harrarfrage) nicht gewachsen sein möchte. Bei dieser Gelegenheit betonte der österreichische Botschafter, daß Graf Käinoky großen Wert auf ein gutes Ver- hältnis zwischen Italien und Frankreich lege und ihn angewiesen habe, möglichst in diesem Sinne zu wirken.

141

Da das Wiener Kabinett gleichzeitig seine ganze Beredsamkeit auf- bietet, um eine dauernde politisciie Verbindung zwischen Italien und Spanien herzustellen, so liegt die Vermutung nicht allzu fern, daß man in Wien bemüht ist, einen lateinischen Dreibund herzustellen, wo das antiösterreichische italienische Element durch Frankreich und Spanien in Ordnung gehalten würde. Daß diese Gruppierung wirklich für Österreich die gleiche Garantie gegen die Irredenta bieten würde wie der Dreibund, möchte ich bezweifeln. Frankreich, einmal mit Italien versöhnt, hat ein Interesse daran, daß die Italiener ihr jetziges Pro- gramm der Mittelmeerexpansion aufgeben und sich wieder dem alten Irredentaprogramm zuwenden, das in seinem weiteren Sinne auch auf Albanien, welches, wie Graf Launay zu sagen pflegte, „mit einem guten Fernglase von der italienischen Küste aus sichtbar ist", Anwendung findet. Ob Graf Kälnoky das volle Bewußtsein des Nutzens hat, wel- chen gerade in dieser Beziehung die österreichisch-ungarische Mon- archie aus dem Dreibunde zieht, darf man bezweifeln angesichts der wenig entgegenkommenden Haltung, welche Graf Kälnoky gegenüber Italien stets beobachtet hat. Österreich hat, wie gesagt, nachweisbaren Vorteil dadurch, daß der Dreibund die Irredenta gezähmt hat. Da- gegen würde es schwer sein zu sagen, welche Vorteile Italien davon gehabt hat, daß es sich, um mit Deutschland verbündet zu sein, gleich- zeitig an Österreich anschließt.

Daß Österreich, welches unausgesetzt die Italiener zur Mäßigung ermahnt, ähnliche Ratschläge in Paris erteilt hätte, ist hier nicht be- kannt geworden, und doch hätte die Haltung Frankreichs gegenüber Italien mancherlei Anlaß dazu geboten.

Die Tatsache, daß der Minister Develle unumwunden erklärte, für ihn beständen die französisch-italienischen Vereinbarungen wegen Harrar* nicht, da Italien inzwischen den Dreibund erneuert habe, ge- hört in der Geschichte der Verträge und des diplomatischen Verkehrs doch immerhin zu den Ausnahmen. Wenn Baron Blanc diese Tatsache zum Ausgangspunkt einer Beschwerde in Paris macht, so mag vielleicht daran wie an anderen Äußerungen seines ungeduldigen Temperaments formal allerlei zu kritisieren sein, aber im Grunde hat der italienische Minister nicht unrecht mit seiner Behauptung, daß der Anschluß Italiens an das deutsch-österreichische Bündnis bisher vorteilhaft für Österreich, weniger aber für Italien war.

Ew. stelle ich anheim, die vorstehenden Gesichtspunkte gelegent- lich mit dem Grafen Kälnoky zu erörtern; vielleicht wird es sich da- durch erreichen lassen, daß der österreichisch-ungarische Minister seine Ermahnungen zur Verträglichkeit nicht bloß nach Rom, sondern auch nach Paris richtet.

Marschall

* Vgl. Bd. VIII, Kap. LIV, A. 142

Nr. 1461

Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an den Reichskanzler

Fürsten von Hohenlohe

Ausfertigung Nr. 72 Wien, den 30. März 1895

Ganz vertraulich

Es war mir möglich, mit dem Grafen Kalnoky über die Beziehungen Österreichs zu Italien, respektive zwischen Italien und Frankreich eine längere Unterhaltung zu führen, die lediglich die Form privater Dis- kussion trug.

Ich machte hierbei die Bemerkung, daß bei der Aufnahme Italiens in den Dreibund Österreich mehr gewonnen habe als Italien bezüglich seines Verhältnisses zu Österreich. Das Schweigen der Irredcnta trage wesentlich zur Annehmlichkeit Österreichs bei, ganz abgesehen von den Vorteilen, die es bei einer kriegerischen Komplikation gewähre.

Graf Kälnoky schien auf die Frage der Irredenta keinen besonderen Wert zu legen. Selbst als ich erwähnte, daß die Vorgänge in Pirano* früher ernste Folgen für die Lage der Regierung hätten haben müssen, während sie jetzt kaum ein Aufflackern von Verstimmung in Italien zur Folge gehabt hätten, meinte Graf Kälnoky, Österreich habe genug Mittel in der Hand, um die italienischen Untertanen völlig verstummen zu machen und damit auch die Irredenta in Italien im Zaum zu halten. Man brauche nur ein paar Bataillone mehr in die Grenzprovinzen zu legen und die slawische Bewegung zu unterstützen. Die numerische Überzahl der Slawen werde bald ersticken, was sich italienisch rege.

Sehr auffällig war es mir, daß der Graf im Laufe des Gespräches viel mehr den Gedanken der Notwendigkeit des Festhaltens an dem Bündnisse mit Italien betonte als früher. Es war, v\'ie gesagt, nicht die Rücksicht auf die Irredenta, sondern eine andere Besorgnis über die zu berichten ich schon Gelegenheit hatte , welche von neuem zu- tage trat. Die Besorgnis vor dem Zusammenbruch der italienischen Monarchie und der Bildung einer nördlichen und südlichen Republik. Der Graf muß Nachrichten aus der Lombardei erhalten haben, die ihn ernstlich beunruhigten. Ich vermute aber auch, daß die Erfahrungen, welche die hiesige Regierung am Vatikan bezüglich der Mission des Kardinals Schönborn** macht, nicht unwesentlich dazu beitragen, die

* Die Anbringung slowenischer Gerichtstafeln in der Provinz Istrien hatte im Herbst 1SQ4 zu Tumulten in der italienischen Bevölkerung geführt; in Pirano wurden die neu angebrachten doppelsprachigen Tafeln mit Gewalt entfernt. ** Im Februar 18Q5 hatten im Namen des Österreich-ungarischen Episkopats Kar- dinal Schönborn, Bischof Bauer und Bischof Steiner die Hilfe des Papstes gegen den unbotmäßigen niederen Klerus erbeten, der mehr und mehr in das Lager der radikalen Parteien, insbesondere der christlich-sozialen Antisemiten über- gegangen war. Der Papst indessen hieß in seiner Antwort das Programm der Christlich-Sozialen unbeschadet der Mißbilligung ihrer Ausschreitungen ausdrück- lich gut.

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aufgetretene Tendenz der Kurie, der demokratischen Richtung des niederen Klerus eher freien Lauf zu lassen, als sie einzudämmen, hat Besorgnis des Grafen zu erhöhen. Die in ganz bestimmten Formen unzweifelhaft auch dem Grafen die Gefahr vor Augen geführt, die diese Politik für Italien enthält. Ich habe während der Dauer meiner Anwesenheit in Wien eine Art Erwachen der hiesigen Regierung gegenüber diesen von der Kurie drohenden Gefahren für die Mon- archien ^ zu meiner Genugtuung konstatieren können.

Das Schreckbild einer lombardischen Republik scheint demnach momentan einen ziemlich zähen Leim für das Bündnis Italien-Österreich zu bilden was nichts daran ändert, daß man den Gegenstand an und für sich häßlich und den Leim übelriechend findet.

Diese Anschauung hat auch zur Folge, daß mir Graf Kälnoky auf meine in phantastischer Form gemalten Betrachtungen über das Zu- kunftsbild eines Bündnisses der romanischen Länder ganz bestimmt aussprach: nur auf republikanischer Basis könnte sich dieses voll- ziehen — und aus diesem Grunde sei es notwendig, mit allen Mitteln sowohl König Humbert als die Königin-Regentin von Spanien zu halten 2. Ich erwiderte, daß sich bei einer solchen Lage der Dinge die Notwendig- keit ergäbe, die Beziehungen zwischen Italien und Frankreich weder zu warm werden zu lassen, noch gar zu viel zu unterstützen 3. Der Graf ripostierte mit einiger Heftigkeit, daß Baron Blancs Unruhe, Feind- seligkeit gegen Frankreich, Unberechenbarkeit und Größenwahn eine Gefahr für Komplikationen am Roten Meer und in Afrika* darstellten: Österreich wolle nichts mit diesen Dingen zu tun haben, sei ander- seits durch seine geographische Lage bei Komplikationen am Mittel- meer sofort in eine Art Mitleidenschaft gezogen. Daher habe er die unbequemen Anzapfungen des Baron Blanc bezüglich einer größeren Betätigung des Bündnisses mit Italien nur streng ablehnend beant- worten können und sich genötigt gesehen, den Zündstoff nach Mög- lichkeit zwischen Italien und Frankreich zu beseitigen. Dieses habe zu Ermahnungen zur Herstellung eines freundlichen Verhältnisses an Italien sowohl wie an Frankreich geführt. Graf Wolkenstein habe eine solche Instruktion nach Paris mit auf den Weg erhalten.

Ich nehme an, daß die Aufmerksamkeit, die das Bestreben des Grafen erregte, eine Annäherung zwischen Italien und Frankreich her- zustellen, und die Mißdeutungen, welche ein solches Vorgehen erregen kann, ihn genügend aufgeklärt hat und dazu beitrug, jenes Bild klar- zustellen, welches er sich angesichts der republikanischen Gefahren in den romanischen Königreichen machte. P. Eulen bürg

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL: ^ Gut 2 gut s richtig Schlußbemerkung des Kaisers: Philli] hat gut gearbeitet.

* Vgl. Bd. VIII, Kap. LIV, A. 144

Nr. 1462

Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichskanzler

Fürsten von Hohenlohe

Ausfertigung

^'■•'^3 Rom, den 26. März 18Q5

Vertraulich

Der mir hochgeneigtest mitgeteilte Bericht des Kaiserlichen Ge- schäftsträgers in Paris vom 9. d. Mts. über eine Unterhaltung desselben mit dem Grafen Wolkenstein* bestätigt, was mir Baron Blanc wieder- holt über den Wunsch des Wiener Kabinetts gesagt hat, eine An- näherung von Italien an Frankreich herbeizuführen. Es ist richtig, daß das Verhältnis Italiens zu Frankreich seit einem Jahr kein besonders freundliches ist. Wenn auch während dieser Zeit von einer wirklichen Kriegsgefahr nie die Rede war, so trugen die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Regierungen doch einen ziemlich frostigen Charakter.

Ich würde die Grenzen der mir gezogenen Berichterstattung über- schreiten, wenn ich eine einigermaßen erschöpfende Darstellung der Stellung und Stimmung Italiens gegenüber Frankreich geben wollte. Ich glaube aber, die Situation vom Standpunkt unserer Interessen kurz dahin resümieren zu dürfen, daß wir ebensowohl einen Angriff Italiens gegen Frankreich als ein Bündnis Italiens mit Frankreich zu ver- hindern haben 1.

In ersterer Beziehung unterliegt es kaum einem Zweifel, daß manche italienische Politiker während der letzten zwei Jahrzehnte mehr- mals nicht übel Lust hatten, mit Frankreich anzubinden 2. Obwohl gegen- wärtig die Stimmung in Italien an höchster Stelle, in Regierungs- kreisen und in der Bevölkerung eine ausgesprochen friedliche ist und politische, militärische wie finanzielle Gründe eine italienische Aggressivpolitik unwahrscheinlich erscheinen lassen, bleibt es meines ehrerbietigen Erachtens nach wie vor geboten, sorgfältig darüber zu wachen, daß Italien keinen Konflikt mit Frankreich provoziert, der uns in Mitleidenschaft ziehen würde.

Andrerseits darf jedoch auch nicht übersehen werden, daß die Sehnsucht nach einer Verständigung mit Frankreich in Italien eine leb- hafte und verbreitete ist. Den meisten Italienern würde ein Stein vom Herzen fallen, wenn sie sich ohne Preisgebung vitalster Interessen noch Verletzung ihrer nationalen Eitelkeit mit Frankreich arrangieren könnten. Wie sehr dies noch neuerdings bei verschiedenen Anlässen Entrevue Calmette**, Ermordung des Präsidenten Carnot*** usw. hervortrat, habe ich schon früher hervorzuheben mir gestattet.

* Vgl. Nr. 1460, Fußnote.

** Gaston Calmette, „Figaro"-Korrespondent, dem König Humbert in Venedig eine

Unterredung gewährt hatte.

*** Carnot war am 24. Juni 1894 durch einen italienischen Anarchisten Cesario

Santo in Lyon ermordet worden.

10 Die Große Politik. 7. Bd. 145

Zwischen Italien und Franlcreich stehen, eine Verbindung hindernd, nanienthch drei Streitfragen: 1. Die römische Frage. Frankreich, auch als Republik die älteste Tochter der Kirche, kann sich schwer zu dem Prinzip der „Roma intangibile" bekennen, 2. Die afrikanischen Diffe- renzen — Tunis, Tripolis, Marokko, Harrar* , wo sich Aspira- tionen und Interessen beider Mittelmeermächte durchkreuzen. 3. Die französische Überhebung gegenüber Italien. Hier liegt vielleicht das Haupthindernis für eine wirkliche Aussöhnung zwischen beiden Völkern. Wenn die Franzosen sich entschließen könnten, Italien als gleich- berechtigte Großmacht anzuerkennen und zu behandeln, so würden wahrscheinlich viele Italiener ungeachtet der französischen Koketterie mit dem Papst und trotz Nordafrika der französischen Anziehungskraft nicht widerstehen können.

Die französische Unterströmung in Italien ist eine sehr starke. Gerade auf diesem Gebiete begegnen sich in den Massen die roten und die schwarzen Elemente, im Parlament die äußerste Linke (Cavalotti, Imbriani, Costa) und die äußerste Rechte (Bonghi, Visconti-Venosta, Prinetti). Unter den Intimen des Herrn Crispi befinden sich deklarierte Franzosenfreunde, wie der Mailänder Bankier Weill-Schott. pp.

Von irgendwelchem Haß gegen Frankreich ist auf italienischer Seite jetzt keine Rede, wohl aber vielfach von kaum zu entwurzelnder Vorliebe. Italiener und Franzosen haben wenn ich mich dieses französischen Ausdrucks bedienen darf viele Atomes crochus. Sie haben mannigfache gemeinsame geschichtliche Erinnerungen. Zwischen Frankreich und Italien laufen viele Fäden hin und her. Wenn Graf Kälnoky es für unmöglich erklärt, daß Italien sich Frankreich anschließe, so ist dies, soweit Italien in Betracht kommt, nicht richtig. Ich könnte mir sehr wohl ein Frankreich wieder zugewandtes Italien vorstellen, pp.

Ob es unter diesen Umständen so sehr bedauerlich ist, daß, wie Graf Wolkenstein behauptet, der allerdings etwas eckige Graf Tornielli nicht die Gabe besitzt, die Franzosen zu bezaubern, möchte ich dahin- gestellt sein lassen. Ich hoffe. Euerer Durchlaucht hohen Intentionen zu entsprechen, wenn ich einerseits nach wie vor jedem offenen Kon- flikt Italiens mit Frankreich vorzubeugen suche, es aber andererseits unbeschadet bester persönlicher Beziehungen zu meinem französischen Kollegen nicht als meine Aufgabe betrachte, ein völlig ungetrübtes Verhältnis zwischen Italienern und Franzosen herbeizuführen i.

B. von Bülow

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Richtig

2 Crispi speziell ist sleinerj Z[eitl vom Fürsten Blismarck] dazu förmlich verleitet worden.

Schlußbemerkung des Kaisers: Einverstanden. Das ist Bülows vornehmste Aufgabe in Rom, und darum muß er sicher lange dableiben.

* Vgl. über diese Fragen Bd. VIII. 146

Nr. 1463

Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe

Ausfertigung

Nr. 112 Rom, den 17. Juni 18Q5

Der italienische Minister des Äußern Baron Blanc teilte mir ver- traulich einen Erlaß mit, welchen er unter dem 7. d. Mts. an den ita- lienischen Botschafter in Paris gerichtet hat. Der französische Minister des Äußern, Herr Hanotaux, hatte dem italienischen Botschafter im April erklärt, daß Frankreich ein Waffeneinfuhrverbot für Djibuti und Obock nur erlassen könne, wenn England für Zeila* dieselbe Maßregel ergreife. Obwohl letzteres von englis-cher Seite inzwischen geschehen ist, scheint die französische Regierung nicht gewillt, den in Rede stehenden italienischen Wunsch zu erfüllen.

Der im italienischen Original wie in deutscher Übersetzung ehr- erbietigst beigefügte Erlaß des Baron Blanc an Graf Tornielli läßt darauf schließen, daß in den hiesigen amtlichen Kreisen die Ver- stimmung gegenüber Frankreich wieder im Steigen ist. Es hängt dies auch damit zusammen, daß die Pariser Presse während des jüngsten italienischen Wahlkampfes in überaus leidenschaftlicher Weise gegen Herrn Crispi Partei ergriff.

Baron Blanc kam während der letzten Zeit mir gegenüber mehr- fach darauf zurück, daß die französische Politik gegenüber Italien nur ein Ziel verfolge und nur von einem Gesichtspunkt inspiriert sei: Italien vom Dreibund oder vielmehr von Deutschland abzusprengen. Daß die Franzosen diesen Zweck durch schlechte Behandlung der Ita- liener, Einschüchterungsversuche, Feindschaft, überhaupt nicht durch Zuckerbrot, sondern mit der Peitsche zu erreichen suchten, sei ein tak- tischer Fehler, da der Italiener dem Lafontaineschen Wanderer gliche, welchem die schmeichelnde Sonne den Mantel ablockte, den der kalte Wind nicht zu entführen vermochte. Die Haltung der Franzosen sei einerseits auf ihre tiefe innerliche Erbitterung und Ranküne gegenüber Italien zurückzuführen die Franzosen könnten sich im Gegensatz zu den Italienern schlecht verstellen , andererseits darauf, daß die französischen Radikalen und Ultramontanen der französischen Regie- rung übereinstimmend versicherten, der monarchische italienische Ein- heitsstaat werde bald zusammenbrechen, verdiene also weder Entgegen- kommen noch Schonung, pp.

B. von Bülow

* Vgl. Bd. VIII, Kap. LIV, A.

«O» 147

KAPITEL XLVI

Erneuerung des Rumänischen Vertrages

1892

Nr. 1464

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 22 Bukarest, den 27. Februar 18Q1

Geheim

Wie Euer Exzellenz wissen, sind die geheimen Abmachungen, welche Rumänien mit den Staaten der Tripelallianz verbinden*, hier nur Seiner Majestät dem Könige Karl, Herrn Joan Bratianu, Herrn Demeter

* Vgl. Bd. III, Kap. XVII. Der zunächst auf fünf Jahre abgeschlossene Bündnis- vertrag zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien vom 30. Oktober 1883, dem Deutschland durch Akzessionserklärung vom gleichen Tage beigetreten war, lief auf Grund von Artikel V, da er nicht ein Jahr vor seinem Ablauf gekündigt wurde, auf drei weitere Jahre, also bis Ende Oktober 1891 weiter. Inzwischen war auch Italien durch Vertrag vom 15. Mai 1888 (siehe denselben bei Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879—1914 I [1920], S. 33 f.) dem Bündnis beigetreten. Die erste Anregung zu diesem Beitritt scheint der rumänische Minister Sturdza bei seinem Aufenthalt in Friedrichsruh (21. bi's 22. Januar 1888) vom Fürsten Bismarck empfangen zu haben, der kurz zuvor zu einem Berichte Reuß' vom 7. Januar 1888 bemerkt hatte: „Italien müßte unserm österreichisch-rumänischen Vertrage beitreten, es ist immer noch besser, den Rumänen den vertragsmäßigen Beistand in italienischen Truppen zu leisten als in deutschen" (vgl. Bd. VI, S. 246). Sturdza hat den Gedanken des italienischen Beitritts dann in Wien mit dem Grafen Kälnoky erörtert, der aber dem Beitritt Italiens keine große Bedeutung beizulegen schien, da er die Beteiligung Italiens an einem russischerseits durch Angriff auf Rumänien provozierten Krieg schon durch die bestehenden Verträge gesichert glaubte. Deutscherseits darauf hin- gewiesen (Erlaß an Prinz Reuß vom 31. Januar), daß diese Annahme nicht zu- treffe, daß nach der Fassung der Verträge Italien zwar im Fall eines russischen Angriffs auf Österreich zur Hilfeleistung verpflichtet sei, nicht aber auch im Falle eines Angriffes auf Rumänien, erkannte auch Graf Kälnoky an, daß der Bei- tritt Italiens zu den Abmachungen mit Rumänien wichtig sei, und übernahm es, die Verhandlungen mit Italien einzuleiten. Der Wiener Anregung, daß un- beschadet der österreichischen Einleitung die Verhandlungen ä quatre geführt werden möchten, widersprach Fürst Bismarck in einem Erlasse an Prinz Reuß vom 30. März 1888. Statt dessen schlug er vor, daß Italien dem Bündnis einfach durch Akzessionserklärung, wie vordem Deutschland, beitreten möge. Im ganzen wollte Bismarck überhaupt kein durchschlagendes Gewicht auf den rumänischen Vertrag legen. „Ich sehe in demselben eine Steigerung eher unsrer Passiva als unsrer Aktiva und habe unsere Akzession dazu durchaus nicht aus dynastischem Interesse, sondern nur aus Konnivenz für die österreichische Politik bei Seiner Majestät befürwortet. Die Beziehungen unsres Königshauses zu der in Rumänien herrschenden Linie der HohenzoUern würden einen deutschen Reichskrieg an sich

151

Sturdza, Herrn Carp und Herrn Alexander Beldiman* bekannt. Da sich von den genannten Politikern zurzeit keiner im Amte befindet, machte mich der österreichisch-ungarische Gesandte Graf Goluchowski kürzlich darauf aufmerksam, daß es sich empfehlen dürfte, allmählich die Frage ins Auge zu fassen, wie die nach seiner Annahme im Herbste dieses Jahres ablaufenden sekreten Stipulationen am besten zu er- neuern wären. Graf Goluchowski gab hierbei der Ansicht Ausdruck, daß zu diesem Zweck entweder Herr Carp ins Ministerium eintreten oder König Karl die Herren Manu** und Alexander Lahoväry*** ins Vertrauen ziehen müsse, damit letztere die Vertragserneuerung vor- nähmen. Mein Österreich-ungarischer Kollege ging hierbei von der Überzeugung aus, daß König Karl jedenfalls die fragliche Erneuerung wünsche und beabsichtige; deshalb werde höchstderselbe auch wohl dafür sorgen, daß in jedem Kabinette wenigstens ein Mitglied sitze, mit dem von selten der Zentralgruppe unterhandelt werden könnte.

Diese Annahme scheint vorläufig nicht ganz zutreffend zu sein. Wenigstens Heß Seine Majestät König Karl in einer ganz vertrau- lichen Unterredung über die derzeitige innere Lage Rumäniens heute mir gegenüber die Äußerung fallen, daß es wohl kaum möglich sein werde, die geheimen Abmachungen zu erneuern, bevor hier wieder die Nationalliberalen ans Ruder kämen, die aber noch nicht regierungs- reif wären. General Manu und General Florescu würden kaum den A'lut haben, den Vertrag abzuschließen; Herr Alexander Lahoväry würde nicht die nötige Autorität besitzen, Herr Laskar Catargi von der Krone zu große Gegenkonzessionen verlangen, und Herrn Carp wolle er das Heft nicht anvertrauen. „Übrigens schadet es nichts/' fügte der hohe Herr hinzu, „wenn der Vertrag so lange außer Kraft tritt, bis hier wieder stabilere Zustände Platz greifen. Ich glaube nicht, daß wir dem ewigen Frieden entgegengehen, aber für ein bis zwei Jahre scheint ja nach dem Besuche des Erzherzogs Franz Ferdi- nand in St. Petersburg, bei der in den deutsch-französischen Beziehungen

nicht rechtfertigen können. Wir werden deshalb den bestehenden Vertrag mit derselben Entschiedenheit durchführen, wie es von Österreich geschehen wird, und daß ein Vertragsabschluß zwischen Italien und Rumänien stattfinde, halte ich für nützlich, im deutschen wie im österreichischen Interesse; ich sehe aber nicht ein, weshalb Italien dem österreichischen Vertrage nicht in derselben Weise bei- treten sollte, wie wir es getan, d. h. also, ohne daß der Verhandlungsapparat jetzt durch unser Hineinziehen kompliziert wird."

Die wohlberechnete kühle Reserve Bismarcks hatte vollen Erfolg. Italien, das erst in den mit Rumänien abzuschließenden Vertrag allerlei Kautelen auf- genommen sehen wollte, erklärte sich nunmehr mit der einfachen Akzession, die am 15. Mai 1888 erfolgte, einverstanden.

* 1883, bei Abschluß des rumänischen Vertrages, erster Legationssekretär der rumänischen Gesandtschaft in Berlin. ** G. Manu, rumänischer Konseilpräsident. *** Alinister des Äußern.

152

eingetretenen detente und angesichts der freundlicheren Beziehungen zwischen Italien und Frankreich der Frieden gesichert."

Ich habe, indem ich betonte, daß ich ohne Auftrag, lediglich auf Grund meiner persönlichen Eindrücke spräche, Seine Majestät nach- drücklich darauf aufmerksam gemacht, daß Rumänien an den Ver- trägen ein weit größeres Interesse habe als die Mächte des Drei- bundes. Ich könne deshalb nur dringend raten, selbst für kurze Zeit nicht das Seil zu lockern, welches die kleine rumänische Jolle an das Orlogschiff der Tripelallianz knüpfe. Schon deshalb sollte der König für zuverlässige Minister sorgen, damit die für ihn, die rumänische Dynastie und Rumänien so wertvollen geheimen Stipulationen erneut werden könnten. Der König entgegnete, daß er sich die Sache noch überlegen wolle.

Ich gestatte mir schließlich noch zu bemerken, daß ich von den Auslassungen des Königs meinen Österreich-ungarischen Kollegen streng vertraulich in Kenntnis gesetzt habe, der einigermaßen konsterniert war. Ich riet dem Grafen Goluchowski, dieselben zwar zu beachten, aber vorläufig nicht zu sehr au tragique zu nehmen: Es müsse sich noch herausstellen, ob der König nur in einem Anfall von momen- taner Schwäche wie solche bei dem hohen Herrn nicht ganz s-elten sind gesprochen habe oder mit tiefer Hegenden Absichten.

B. von Bülow

Nr. 1465

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 27 Bukarest, den 6. März 1891

Vertraulich

Die Nachgiebigkeit des Königs Karl gegenüber den Forderungen der Bojarenpartei, welche Seine Majestät binnen einer Woche von der Berufung des Generals Florescu* bis zur Annahme der von dem- selben vorgelegten rein konservativem Ministerliste und von dieser Annahme zur Gewährung der Kammerauflösung führte, geht aus ver- schiedenen und einigermaßen komplizierten Ursachen hervor.

Zunächst handelt der König gegenüber den sich widerspechenden Prätensionen der verschiedenen Parteien überhaupt mit Vorliebe nach

* Anfang März 1891 hatte das Ministerium Manu einem Ministerium Florescu Platz gemacht, in dem L. Catargi das Innere, G. Vernescu die Finanzen übernahm. Da das neue Ministerium gleich bei seiner Vorstellung in der Kammer ein Tadels- votum erhielt, wurde die Kammer am 5. März aufgelöst.

153

dem Sprüchwort: Dem bösesten Hund den fettesten Bissen. Indem der König immer in erster Linie diejenigen zu beruhigen sucht, die ihm am gefährhchsten erscheinen, setzt er allerdings eine Prämie auf Illoya- lität aus, was zur Folge hat, daß ihm keine Partei mehr traut und kaum ein Politiker ihm persönlich devouiert ist^.

Im vorliegenden Falle wurde der König in seiner gewöhnlichen Taktik noch durch die Erwägung bestärkt, daß die Bojaren am ehesten imstande wären, sein Jubiläum* ernstlich zu stören, und darum vor allem befriedigt werden müßten.

Es kam dazu, daß die Nationalliberalen aus kurzsichtigem Hasse gegen die Junimisten und Jungkonservativen seit Monaten erklärten, die Krone müsse zwischen den „historischen Parteien" der Roten und Weißen wählen, dürfe aber nicht länger mit der junimistischen „Gruppe" regieren. Da nun die Aktionskraft der Roten durch den körperlichen Kräfteverfall ihres Führers Jean Bratianu** zurzeit ge- lähmt ist, entschied sich Seine Majestät für die Weißen.

Endlich muß ich im allerengsten Vertrauen noch erwähnen, daß manche neuerliche Ereignisse auf dem Gebiete der großen Politik den impressionablen und durch seine Diplomatie nicht immer richtig informierten Monarchen deroutierten, obwohl ich es mir besonders und fortgesetzt angelegen sein ließ, höchstdenselben von der Uner- schütterlichkeit des Dreibundes wie des gegenwärtigen status quo in Europa zu überzeugen. Die Stimmung des Königs ist nach meinen ganz vertraulichen Eindrücken zur Zeit eine solche, daß er lieber etwas weiter von der Tripelallianz abrücken, als zu sehr zu Rußland und Frankreich in Gegensatz geraten möchte. Der allmählich akuter ge- wordene Nationalitätenhader in Siebenbürgen bestärkt den hohen Herrn in dieser Neigung, während ihn auch die speziell von den Weißen genährte separatistische Bewegung in der Moldau zu Konzessionen an die Bojarenpartei trieb.

Wenn ich auch das letztgenannte Moment hervorhebe, so will ich damit nicht sagen, daß König Karl eine lange Dauer des Bojaren- kabinetts wünscht. Ich habe vielmehr Grund zu der Annahme, daß der König dans son for Interieur hofft, das Ministerium werde der Opposition der übrigen Fraktionen nicht gewachsen sein 2. Die Über- lassung der Regierung an die Herren Florescu, Catargi und Vernescu bleibt trotzdem bedauerlich, pp.

B. von Bülow

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:

' Ja

2 unmoralisch für einen Monarchen im höchsten Grade und sehr bedauerlich

* Für den 22. Mai stand das 25jährige Regierungsjubiläum des Königs bevor. ♦* t 15. Mai 1891.

154

Nr. 1466

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichs- kanzler von Caprivi

Entzifferung

Nr. 33 Bukarest, den 17. März 1891

Geheim

Mein österreichisch-ungarischer Kollege erzählt mir, er habe im Laufe der ihm vor seiner Abreise nach Wien gestern vom König Karl bev^illigten Audienz die Frage fallen lassen, wie Seine Majestät sich die Erneuerung der im September ablaufenden sekreten Abmachungen denke.

Der König habe erwidert, daß mit dem gegenwärtigen Kabinett in seiner derzeitigen Zusammensetzung die Erneuerung der Verträge schwerlich angängig sein dürfte. Doch trage er sich mit der Hoffnung, daß es ihm im nächsten Herbst möglich sein werde, entweder zu den Liberalen zurückzukehren oder das jetzige Ministerium zu reorgani- sieren Bülow

Nr. 1467

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 80 Wien, den 19. März 1891

Erhaltener Ermächtigung gemäß habe ich den Inhalt des dem hohen Erlaß Nr. 175 vom 14. d. Mts. beigefügten Berichtes des Kaiser- lichen Gesandten in Bukarest vom 6. d. Mts.* zur Kenntnis des Grafen Kälnoky gebracht.

Der Minister stimmt den Äußerungen des Herrn von Bülow zu, daß das jetzige Ministerium gar keine Garantie für die auswärtige Politik dieses kleinen Königreiches bietet; auch fürchtet er nach seinen Wahrnehmungen, daß sich bei dem Könige Karl eine Wandelung voll- zogen hat und er von der Anlehnung an die Zentralmächte einiger- maßen abgekommen ist. Daß hierzu die falschen Nachrichten über die Lockerung des Dreibundes beigetragen haben, scheint dem Grafen Kälnoky wahrscheinlich. Auf die Hindeutung auf die siebenbürger Rumänen ist er nicht eingegangen. Ich habe schon vor einigen Tagen die Ehre gehabt, hierüber zu schreiben, und bin überzeugt, der Minister kennt diese Achillesferse genau, kann aber den ungarischen Chauvi- nisten gegenüber noch nicht durchdringen

* Siehe Nr. 1465.

155

Er sagte mir, daß er nur sehr geringe Anforderungen an Rumänien stelle, und wie ich wisse, er schon längst an das Spiegelbild großer militärischer Kooperation seitens der rumänischen Armee nicht mehr glaube. Aber das müsse erreicht werden, daß sich Rumänien wenigstens nicht an Rußland anschließe.

Er wolle den Grafen Goluchowski hören, welcher demnächst hier eintreffen werde, und dann weiter über die Sache sprechen.

Es scheint dem Minister nicht unwahrscheinlich, daß russischerseits dem Könige das verführerische Projekt eines von Österreich nicht ab- hängigen Balkanbundes vorgespiegelt werden dürfte, unter rumä- nischer Führung, aber selbstredend unter russischem Protektorat.

Der Wechsel in der russischen Vertretung in Bukarest* ist dem hiesigen Kabinett nicht unangenehm. Herr von Ponton, welcher lange Jahre in Wien als Botschaftsrat angestellt war, ist hier behebt und als ruhiger, friedliebender und anständig denkender Mann bekannt.

H.VII.P.Reuß

Nr. 1468

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 85 . ■" Wien, den 25. März 1891

Geheim

Wie ich Euerer Exzellenz zu melden mich beehrte, hatte Graf Kälnoky den k. u. k. Gesandten von Bukarest hierher berufen, um die Frage der Erneuerung der Verträge mit ihm zu besprechen und seinen Vortrag zu hören.

Der Minister sagte mir hierüber heute folgendes. In Übereinstim- mung mit Herrn von Bülow hätte Graf Goluchowski die Ansicht aus- gesprochen, daß König Karl wenig Geneigtheit zeige, die Verträge in der alten Form zu erneuern. Die Gründe für diese Stimmung sind Euerer Exzellenz aus den Berichten des Kaiserlichen Gesandten bekannt. Den Vor wand zu dieser Abneigung bietet aber der Um- stand, daß keiner von den jetzigen Ministern etwas von der Existenz der geheimen Verträge weiß und der König Bedenken trägt, einen Florescu, Catargi oder Vernescu in das Geheimnis einzuweihen, deren Mitwirkung nicht zu erwarten ist, und von denen einige kaum das Geheimnis Rußland gegenüber bewahren dürften.

Graf Kälnoky ist nun der Ansicht, daß hierin der König allerdings nicht ganz unrecht hat; Seine Majestät hätten aber noch bei Lebzeiten des Ministeriums Manu-Lahovary die Sache machen können, um so

* Der russische Gesandte Hitrowo war durch von Fonton abgelöst worden. 156

eher, als der damalige Minister der auswärtigen Angelegenheiten selbst sich mit der Idee, einen ähnlichen Vertrag mit Österreich-Ungarn zu schließen, getragen hätte. Gemahnt wäre der König von hier aus öfters worden, dieses Geschäft nicht aufzuschieben.

Er, der Minister, hat sich nun gefragt, ob man den Vertrag, der, wenn er nicht gekündigt wird, wieder auf drei Jahre weiter läuft, im Herbst d. Js. nicht, ähnlich wie dies vor drei Jahren geschehen, als verlängert erklären könne. Dieser Gedanke, so einfach er klänge, sei nun aber nicht ausführbar, weil dazu immer ein Minister zugezogen werden müsse, um das Faktum amtlich zu registrieren.

Eine andere Idee, die ihm gekommen, sei folgende:

Der König habe während des Ministeriums Manu-Lahoväry die auswärtige Politik persönlich geleitet, ohne diese Herren von der Existenz der Verträge in Kenntnis zu setzen. Die rumänische Politik sei auch, wenn auch die Minister in Unkenntnis blieben, nach den Ideen der Verträge weitergeführt worden. Es würde daher auch Seine Majestät von dieser Bahn nicht abweichen, wenn er etwa, durch einen direkten Brief des Kaisers Franz Joseph dazu aufgefordert, eben- falls durch einen eigenhändigen Brief sich verpflichtete, auch ferner drei Jahre an den Verträgen festzuhalten. Während dieser Zeit wäre vielleicht ein anderes Ministerium ans Ruder gekommen, etwa mit Herrn Carp, der doch früher oder später wieder in das Kabinett ein- treten werde, und dann hätte man die Verträge ordnungsmäßig mit diesem Minister erneuern können.

Er, Graf Kälnoky, habe aber diesen Gedanken fallenlassen müssen, weil ihm Graf Goluchowski erklärt habe, nach seiner Kenntnis des Charakters des Königs Karl würde letzterer sich zu einem solchen Schritt niemals bewegen lassen.

Man müsse daher sehen, wie sich die Verhältnisse entwickeln würden. Die bevorstehenden Wahlen würden vielleicht die jetzigen Minister wieder fortspülen, und man müsse sehen, welche Staats- männer dann ans Ruder kommen würden.

Es bleibt nach Ansicht des Herrn Ministers daher nichts übrig, als vorläufig abzuwarten, den König jetzt nicht allzusehr zu drängen, aber dann die Bemühungen nicht aufzugeben, ihn von der Notwendig- keit zu überzeugen, daß Rumänien, wenn es seine Selbständigkeit retten wolle, bei der Anlehnung an den Dreibund beharren müsse.

Mit diesem Bescheid ist Graf Goluchowski heute wieder auf seinen Posten zurückgekehrt.

Graf Kälnoky lobt sehr die vortrefflichen Beziehungen, die zwischen dem deutschen und dem österreichisch-ungarischen Gesandten be- stehen, und hofft, daß es diesen beiden ebenso intelligenten wie ge- schickten Diplomaten gelingen möge, diese Aufgabe zu lösen.

H.VII.P.Reuß

157

Nr. 1469

Der Reichskanzler von Caprivi an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß

Konzept

Nr. 210 Berlin, den 26. März 1891

Die rumänische Frage, welche der Bericht Nr. 80* behandelt, ist für unsern allergnädigsten Herrn und seine Regierung ein Gegenstand der Besorgnis. Seit dem Jahre 1880, wo Fürst Bismarck in Wien zu größerer Rüclcsichtnahme auf Rumänien riet, hat sich die Lage zu Ungunsten Österreich-Ungarns und damit auch zum Nachteil seiner Freunde verschoben. Damals wies Fürst Bismarck den Baron Haymerle darauf hin, daß die russische mehr als die österreichische Politik der rumänischen Eigenart und Empfindlichkeit Rechnung trage, und daß dadurch bei dem Wettbewerb um Rumäniens Freundschaft, wo Öster- reich die Sicherung des vorhandenen Besitzstandes, Rußland aber neuen Erwerb in Siebenbürgen versprechen könne, die Aussichten Österreichs als gefährdet erschienen.

Bereits einige Monate zuvor hatte Fürst Bismarck getan, was an ihm lag, um eine Annäherung Rumäniens an Österreich herbeizuführen, indem er dem Minister Bratianu die auf eventuelle Unterstützung Ru- mäniens bezüglichen Zusicherungen erteilte, welche durch den Erlaß vom 29. März 1880 zu Ew. Kenntnis gebracht worden sind. Daß der Fürst diese Zusicherungen allein nicht für genügend zur Anbahnung gesicherter Beziehungen zwischen Wien und Bukarest erachtete, erhellt aus seiner späteren zweimaligen Warnung.

Heute liegen die Verhältnisse infolge der aggressiven Politik, welche in Pest gegen die siebenbürgischen Rumänen verfolgt worden ist, und welche ihren letzten Ausdruck in dem Zwangskinderbewahr- gesetz gefunden hat, wesentlich ungünstiger als im Jahre 1880.

Wenn Graf Kälnoky Ew. gegenüber die angebliche Erschütterung des Dreibundes als Ursache der Abneigung des Königs gegen die Er- neuerung des Vertrages mit Österreich bezeichnet hat, so war diese Äußerung vielleicht die konventionelle Form, mittelst welcher eine Er- örterung der wirklichen Ursache rumänischer Entfremdung vermie- den werden sollte. Vor sich selber dürfte der Graf als unbefangener Beobachter keinen Zweifel darüber haben, daß nur die .Agitation, welche infolge der siebenbürgischen Vorgänge nach Rumänien hinein- getragen worden ist**, in neuester Zeit eine Erschütterung der Stel- lung des Königs herbeigeführt und diesen in die Zwangslage versetzt hat, sich durch Ernennung eines antiösterreichischen Kabinetts von

* Siehe Nr. 1467.

** Vgl. darüber die beiden am Schlüsse des Kapitels abgedruckten Denkschriften

Demeter Sturdzas.

158

dem Vorwurfe zu befreien, mitschuldig bei der Unterdrückung der Siebenbürger Rumänen zu sein.

Die Erneuerung des Vertrages wird, wie die Dinge heute liegen, nicht von dem Willen des Königs, sondern von seiner Macht oder Ohnmacht bedingt. Letzterer kann nur von Wien und Pest aus ab- geholfen werden, durch eine maßvollere Verwaltungspolitik in Sieben- bürgen. Diese Frage erlangt dadurch, daß von der Art ihrer Lösung die Flankendeckung unserer österreichisch-ungarischen Verbündeten im Kriegsfalle abhängt, für uns eine große Bedeutung. Die Neutralität, welche Graf Kälnoky von Rumänien erwartet, ist etwas keineswegs Selbstverständliches, denn, wenn die jetzige Stimmung der Gemüter fortdauert, ist anzunehmen, daß ein Aufstand in Siebenbürgen, möge derselbe auch nur von geringer Ausdehnung sein, das Königreich mit fortreißt. Bei der Nichterneuerung des Vertrages kommt neben der Tatsache, d. h. dem Aufhören des bisherigen Bündnisses, auch die Ursache, d.h. die feindselige Erregung der Rumänen gegen Ungarn, in Betracht. Angenommen, daß König Karl durch eine ihm sonst nicht innewohnende energische Regung seinem Lande die Verlänge- rung des Vertrages als Tatsache oktroyierte, so wäre damit wenig gewonnen, solange die Ursache der Mißstimmung fortdauert, die Ge- fahr, daß die Rumänen den König auf revolutionärem Wege des- avouieren, würde bestehen bleiben.

Die fernere Entwickelung der österreichisch-ungarisch-rumänischen Beziehungen liegt demnach lediglich in der Hand von Österreich- Ungarn oder vielmehr in der Hand von Ungarn als Bestand- teil der Gesamtmonarchie. Ein Hinweis auf die fast unwider- stehliche Anziehungskraft, welche ein österreichisch-deutscher Handels- vertrag auf Rumänien aus wirtschaftlichen Gründen ausüben muß*, dürfte im jetzigen Stadium der Handelsvertragsverhandlungen verfrüht und vielleicht geeignet sein, Mißtrauen gegen die Objektivität unsrer Anschauung zu erwecken. Es erübrigt daher nur, daß Ew. bei der Besprechung der rumänischen Frage sich auf die rein politischen und militärischen Momente beschränken und dem Grafen Kälnoky sagen, wir würdigten vollkommen die Verlegenheit, in welcher die österrei- chisch-ungarische Regierung angesichts der Entscheidung zwischen inneren Schwierigkeiten und auswärtigen Gefahren sich befinde. Uns scheine indessen die Besorgnis, daß das Magyarentum infolge der Nicht- berücksichtigung eines Lieblingswunsches sich von der Gesamtmon- archie lostrennen und als einsame Insel im slawischen Ozean herum- schwimmen sollte, weniger naheliegend als die, daß Rumänien in die Rolle einer russischen Vorhut und Etappenstraße hineingeärgert werde.

* Dem deutsch-österreichischen Handelsvertrage vom 6. Dezember 1891 folgten in der Tat bald Verhandlungen mit Rumänien, die aber erst am 21. Oktober 1893 zu dem Abschluß eines Handeisvertrages führten.

159

Nach meiner Ansicht würde die Feindseligkeit Rumäniens ein nicht unerhebliches Hemmnis für die militärische Machtentfaltung der öster- reichisch-ungarischen Monarchie bilden und folglich auch für uns eine Erhöhung der Gefahren des Krieges bedeuten.

Eine Abwendung Rumäniens vom Dreibunde öffnet Rußland den Landweg nach Bulgarien und kann uns, mit sehr geringem Kraftaufwand von selten Rußlands auf der Balkanhalbinsel zahlreiche Gegner schaffen, denen gegenüber Österreich-Ungarn bei Ausbruch eines Krieges zur Abzweigung einer Armee an seiner Südostgrenze genötigt sein würde. Die ganze militär-politische Lage im Südosten verschiebt sich, sobald Rumänien sich für Rußland entscheidet, auf das nachteiligste für un- seren Verbündeten.

Mag Rumänien selbst bei einem schriftlichen Vertrage ein un- sicherer Zuwachs an aktiver Kraft für uns sein, so überhebt es uns doch, auch wenn es schließlich über eine uns wohlwollende Neutralität nicht hinauskommt, wenigstens bis nach den ersten, an anderen Stellen fallenden großen Entscheidungen, der Notwendigkeit, unsere eigenen Kräfte durch Verlängerung unserer Front zu schwächen, während es Rußland zur Aufstellung eines Beobachtungskorps am Pruth nötigt.

Die Leistungen der rumänischen Truppen lagen im letzten russisch- türkischen Kriege nicht unter dem Niveau ihrer Verbündeten. Seitdem ist jene Armee weder schwächer noch schlechter geworden. Mag man ihren Wert aber noch so gering anschlagen, sie repräsentiert für den ersten Teil eines Feldzuges einen so erheblichen Faktor, daß es wohl eines Opfers wert scheint, wenn auch nicht auf ihren Beistand, so doch wenigstens mit Sicherheit auf ihre Neutralität rechnen zu können. Eine Neutralität Rumäniens kann aber nur dann in den strategischen Kalkülen Österreich-Ungarns verwertet werden, wenn ihre Durchführung nicht durch die steigende Verstimmung der Nation von Haus aus in Frage gestellt ist.

V. Caprivi

Nr. 1470

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 89 Wien, den 30. März 1891

Geheim

Im Verfolg Euerer Exzellenz hohen Erlasses Nr.210 vom 26. d. Mts.*, die rumänischen Angelegenheiten betreffend, habe ich heut Anlaß

Siehe Nr. 1469. 160

genommen, mit dem Grafen Kälnoky die Frage zu besprechen, unter Hervorhebung, daß dieselbe für unseren allergnädigsten Herrn sowie für die kaiserliche Regierung ein Gegenstand der Besorgnis sei.

Ich habe mir erlaubt, auch ohne dazu besonders autorisiert zu sein, dem Minister diesen geheimen Erlaß als Beweis meines ganz besonderen Vertrauens vorzulesen.

Wie ich dies wohl vorhergesehen hatte, waren dem Grafen Kälnoky Euerer Exzellenz mahnende Worte nicht gerade angenehm. Er weiß genau, wo ihn der Schuh drückt, und deshalb ist er auch bisher, wenn wir diese Angelegenheiten besprachen, immer um die eigent- lichen Gründe der rumänischen Verstimmungen herumgegangen.

Heute nun blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf einzugehen, und sprach er sich ungefähr wie folgt aus.

Die militärischen Betrachtungen, welche Euere Exzellenz an die zweifelhafte Stellung des Königs Karl knüpfen, teile er vollkommen, und dächten die hiesigen Militärs nicht anders als Euere Exzellenz. Es herrsche deshalb zwischen Hochdenselben und ihm volle Über- einstimmung darüber, wie wichtig es sei, die Rumänen nicht in die Arme Rußlands geraten zu lassen.

Daß er diese Frage schon längst mit Aufmerksamkeit und Be- sorgnis verfolge, daran würden Euere Exzellenz wohl kaum zweifeln ; denn wenn unser Interesse dabei mit Recht geweckt sei, so läge der hiesigen Regierung diese Frage doch noch viel näher.

Der Minister verurteilte ohne Zögern manche Maßregel, welche die ungarische Regierung ergriffen hätte, namentlich aber bezeichnete er das Kindergärtengesetz als eine große Ungeschicklichkeit. Deshalb habe er auch wiederholt, und noch bei seinem jüngsten Aufenthalt in Budapest die ungarischen Minister ermahnt, vorsichtiger zu sein und nicht durch solche unbedeutende Quälereien Anlaß zu Weiterungen zu geben. Im übrigen müsse er aber davor warnen, alle von Rumänien und auch von Siebenbürgen kommenden Nachrichten über Bedrückung der Rumänen für bare Münze zu nehmen. Er wolle den magyarischen Chauvinismus nicht in Schutz nehmen. Aber man könne der ungarischen Regierung es doch nicht verdenken, wenn sie der ungarischen Sprache Eingang zu verschaffen suche und namentlich verlange, daß die an- gestellten Beamten die Staatssprache verstünden.

Die Siebenbürger Rumänen, welche kein Ungarisch lernen wollten, verließen das Land, gingen nach Rumänien und erfüllten dort die Luft mit ihren Klagen. Es wäre nicht verwunderlich, daß dieser Zug nach dem Königreiche bestände, weil die außerhalb desselben wohnenden Stammesgenossen dort als Märtyrer gefeiert, außerdem aber dadurch angelockt würden, daß, wie so viele Beispiele zeigten, gar manche dunkle Existenz es in Bukarest bis zu den höchsten

11 Die Große Politik. 7. Bd. 161

Würden bringen könnte. Es ginge mit der rumänischen Irredenta* ganz ähnlich wie mit der italienischen; auch dort verließen einzelne Unzufriedene, die in Österreich kein Fortkommen fänden, das Land, um dann über Unterdrückung zu schreien.

Ich habe allen diesen Erläuterungen gegenüber darauf aufmerksam gemacht, daß, wenn die ungarische Regierung nur die alten ungari- schen Nationalitätsgesetze befolgen wolle, die Rumänen sich nicht zu beklagen haben würden. Denn wenn auch die Klagen, die von dort kämen, oft übertrieben sein dürften, so möchte ich nur hervorheben, wie das Wirken des „Kulturvereins", die Handhabung der Schul- verordnungen und anderer Maßregeln nicht gerade geeignet seien, die alte zwischen Rumänen und Magyaren bestehende Feindschaft zu beseitigen,

Graf Kälnoky fühlt sehr wohl, daß die ungarische Regierung nicht ohne Schuld an der rumänischen Aufregung ist; aber da er nur eine sehr bedingte Einwirkung auf die inneren Verhältnisse in der jen- seitigen Reichshälfte hat, so ist es ihm nicht angenehm, wenn ihm Vorstellungen gemacht werden über Dinge, die er wohl abändern möchte, wozu ihm aber die Macht fehlt. Immerhin ist es sehr nütz- lich, wenn er von selten des deutschen Verbündeten auf diese Übel- stände aufmerksam gemacht wird. Er findet dann nicht bloß bei den ungarischen Ministern, sondern auch bei seinem Kaiser einen ihm ganz gut passenden Vorwand, auf Abhülfe zu dringen.

Daß letztere nicht so leicht und einfach ist, liegt auf der Hand, weil eben der magyarische Chauvinismus dabei ins Spiel kommt.

Auch heute wollte der Minister übrigens die Abneigung des Königs Karl, den Vertrag zu erneuern, nicht allein der rumänischen Irredenta zuschieben, sondern mehr der Energielosigkeit Seiner Majestät, die sich seit einiger Zeit wieder sehr bemerklich mache. Dazu kämen Einflüsse auf dieses schwächliche Gemüt, die ihn unschlüssig machten. Hierzu rechnet der Minister die Gesinnung der Königin, die leider immer eigentümlicher und in Politik immer konfuser würde. Der Hyp- notismus, dem sie sich seit einiger Zeit zuneigte, trüge auch noch dazu bei, ihr klares Urteil zu verwirren. Dabei sei bekannt, daß die sonst so hochbegabte Frau durchaus keine freundlichen Gesin- nungen für ihr deutsches Vaterland hätte.

Als Ergänzung dessen, was mir der Minister vor einigen Tagen gesagt, teilte er mir mit, daß Seine Majestät der Kaiser Franz Joseph geneigt sei, einen Brief an den König Karl zu schreiben, in welchem er die feste Überzeugung aussprechen wolle, wie er bestimmt von den alten freundschaftlichen Gesinnungen des Königs erwartete, daß der König auch das alte Vertragsverhältnis erneuern werde.

Graf Goluchowski ist indessen vorläufig beauftragt, über die Stim-

* Vgl. dazu die Ausführungen Demeter Sturdzas in Nr. 1488, Anlage II. 162

mung des Königs zu berichten und anzugeben, wann er den Moment zu diesem Schritt für geeignet halten würde.

Der König habe dem Kaiser Franz Joseph immer so viel auf- richtige Verehrung und wahre Anhänghchkeit gezeigt, daß von einer solchen Ansprache wohl ein Erfolg zu erwarten sein würde.

H.VII. P.Reuß

Nr. 1471

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia, an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 90 Sinaia, den 4. August 1891

Ganz vertraulich

Euerer Exzellenz hoher Ermächtigung entsprechend, verschob ich auf Wunsch des Grafen Kälnoky meine Abreise von Wien hierher bis zur Rückkehr des Ministers aus Ischl. Die beachtenswerteren Äuße- rungen, welche Graf Kälnoky im Laufe der beiden Unterredungen fallen ließ, die ich am 1. d. Mts. mit ihm hatte, gestatte ich mir nach- stehend zu resümieren, obwohl dieselben im wesentlichen nur die Be- richterstattung der Kaiserlichen Botschaft in Wien bestätigen dürften, pp.

Graf Kälnoky schien verstimmt darüber, daß der jüngste Versuch des Grafen Goluchowski, den König Karl zu einer präzisen Erklärung hinsichtlich der Fortdauer des geheimen Vertragsverhältnisses zu be- wegen, völhg mißglückt sei. Der Minister verhehlte hierbei anfänglich nicht, wie er hoffe, daß ich demnächst diesen Versuch mit besserem Erfolge wiederholen möge^. Ich sagte dem Grafen Kälnoky, daß wir hinsichtlich der Ziele seiner Politik in Rumänien durchaus mit ihm übereinstimmten, wie ich überhaupt die generelle Instruktion habe, die in politischer wie in wirtschaftlicher Beziehung mit den unserigen identischen österreichisch-ungarischen Interessen an der unteren Donau in jeder Weise zu fördern. Was jedoch die Mittel zum Zwecke betreffe, so glaube ich auf Grund meiner Beobachtung des Charakters Seiner Majestät des Königs Karl, daß ein Brüskieren höchstdesselben grade in diesem Augenblicke mehr schaden als nützen würde. Nach einigem Hin- und Herreden stimmte der Minister mir darin zu, daß wir vor- derhand versuchen müßten, den durch innere Schwierigkeiten und häusliche Sorgen deprimierten König in Güte und allmählich aufzurich- ten und umzustimmen 2.

Der Minister gab hierbei dem Wunsche Ausdruck, daß der ge- heime Vertrag seinerzeit nicht erneuert, sondern verlängert werden möge: Dies dürfte freilich besonders schwer halten, denn König Karl werde den Konservativen nicht eingestehen wollen, daß er sie jahre-

163

lang durch die Beteuerung getäuscht habe, es existierten überhaupt keine sekreten Stipulationen zwischen Rumänien und den Mächten des Dreibunds. In betreff der von mir als erstrebenswert bezeichneten Reorganisierung des gegenwärtigen rumänischen Ministeriums äußerte Graf Kälnoky, daß ihm jetzt ein rein konservatives Kabinett Catargi alles in allem die liebste Kombination sein würde; Herr Carp sei beim Könige zu schlecht angeschrieben, auch unverträglich und heiß- spornig; Herr Demeter Sturdza flöße in Wien wegen seiner Haltung in kommerziellen Fragen wie gegenüber der irredentistischen Bewegung nur bedingtes Vertrauen ein. Mit Anerkennung sprach der Minister von den verschiedenen Mitgliedern der FamiHe Lahoväry dem früheren Minister des Äußern Alexander Lahoväry, dem früheren Generalsekretär im Ministerium des Äußern Alexander Emanuel Laho- väry und dem jetzigen Kriegsminister Jacques Lahoväry , die zwar französisch, aber weder panslawistisch noch eigentlich antiösterreichisch wären.

Graf Kälnoky würde großes Gewicht darauf legen, daß König Karl in diesem Sommer mit Seiner Majestät dem Kaiser Franz Joseph zusammenträfe, hält eine solche Begegnung jedoch nicht für wahr- scheinlich. Der König habe erklärt, daß er nicht gut zweimal hinter- einander nach Ischl kommen könne; die Andeutung, daß Kaiser Franz Joseph dem Könige eventuell irgendwohin entgegenfahren könne, sei nicht releviert worden; der König wolle sich offenbar an dem Kaiser „vorbeidrücken".

Ich benützte diesen Anlaß, um nochmals auf die nachteiligen Folgen hinzuweisen, welche ein unfreundliches Verhalten der Magyaren gegen die siebenbürgischen Rumänen für die Haltung des Königs Karl wie für die Orientierung der auswärtigen Politik des rumänischen König- reichs nach sich ziehe. Graf Kälnoky nahm meine diesbezüglichen Darlegungen, welche ich mit Auslassungen des Königs Karl, der nam- haftesten rumänischen Politiker und der rumänischen Presse belegen konnte, diesmal williger entgegen als bei früheren Gelegenheiten. Es sei richtig, meinte der Minister ganz vertraulich, daß sich die Ungarn gegenüber ihren rumänischen Mitbürgern oft mehr von kurzsichtiger Leidenschaft als von den Erwägungen kühler Vernunft leiten ließen. Glücklicherweise verfielen die Magyaren, die darin etwas Asiaten wären, ebenso schnell in lethargisches Nichtstun, als sie rasch aufbrausten. Es sei ihm gelungen, die Ausführung des unglücklichen Kindergarten- gesetzes aufzuhalten ; auch auf das bekannte Memorandum der rumäni- schen Studenten habe die Pester Universitätsjugend auf höheren Wink eine maßvolle Antwort erteilt; es stehe zu hoffen, daß sich das Ver- hältnis zwischen den verschiedenen Rassen in Siebenbürgen nach und nach bessern werde. Der Minister erwähnte hierbei, daß Herr Baroß* neuer-

* Ungarischer Handelsminister. 164

dings mit Eifer für das Zustandekommen eines Handelsvertrags zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien eintrete, pp.*

B. von Bülow^

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Lieber nicht

2 ja

Nr. 1472

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bü!ow, z. Z. in Sinaia, an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 92 Sinaia, den 7. August 1891

Geheim

König Karl erzählte mir motu proprio im engsten Vertrauen und mit der Bitte, seine diesbezüglichen Konfidenzen nicht telles-quelles nach Wien gelangen zu lassen, daß Graf Goluchowski vor seinem kürzlichen Urlaubsantritt eine „nicht sehr glückliche" Demarche bei ihm gemacht habe. Der österreichisch-ungarische Gesandte habe ihm in ziemlich apodiktischem Tone eröffnet, daß im Herbste die Frage an ihn herantreten werde, ob er sich durch die Prolongierung der ge- heimen Abmachungen für oder durch die Nichtprolongierung gegen Österreich-Ungarn und den Dreibund erklären wolle. „Es ist von Seiten der Österreicher nicht klug," fügte Seine Majestät hinzu, „mich schon jetzt und mit dieser Schärfe vor ein solches aut-aut zu stellen. Die Fortdauer des geheimen Vertragsverhältnisses liegt auch mir am Herzen, aber das Wann und Wie der Erneuerung hängt zum Teil von hiesigen inneren Personenverhältnissen und Vorgängen ab, die ich wohl allmählich gestalten und umformen, aber nicht von heute auf morgen und ausschließlich nach meinem Willen bestimmen kann. Die Österreicher sollten mir eine gewisse Latitüde gewähren; wenn sie mich brüskieren und vor der Zeit mir keine andere Wahl lassen, als sofort den Vertrag zu erneuern oder von ihnen als Feind betrachtet zu werden, spielen sie ein gefährliches Spiel und treiben mich in das Lager ihrer Gegner i. So schroff darf die Alternative nicht gestellt werden, wenigstens jetzt noch nicht."

Ich erwiderte, daß man von unserer Seite und nach meinen Wiener Eindrücken auch von selten des Grafen Kälnoky nicht die Absicht habe, Seine Majestät zu drängen. Gewiß wäre meine aJler- höchste Regierung der Ansicht, daß die Aufrechterhaltung des Ver- tragsverhältnisses eine Lebensfrage sei wie für die Selbständigkeit Rumäniens, so für die souveräne Unabhängigkeit des Königs und die Fortdauer seiner Dynastie. Aber grade weil wir annähmen, daß der

Die Fortsetzung des Berichts siehe Kap. XLVII, Nr. 1505.

165

König dies wisse und einsehe, wie die Fortdauer der Verträge weit mehr in seinem Interesse liege als in demjenigen der großen Mächte der Tripelallianz, überließen wir den Zeitpunkt und die Modalitäten der Erneuerung seiner Loyalität und seinem Takte,

König Karl schien durch dieses vertrauensvolle Entgegenkommen angenehm berührt. Der hohe Herr kam im Laufe desselben Tages noch mehrfach aus eigener Initiative auf die Vertragsfrage zurück, indem er betonte, wie er hohen Wert auf die Erneuerung der geheimen Stipulationen lege. Seine Majestät geht hierbei von der Voraussetzung aus, daß die Erneuerung der Verträge durch die Konservativen ihm und uns die besten Garantien für die eventuelle Erfüllung derselben bieten würde. Denn in diesem Falle würden sich die drei großen Par- teien des Landes für das Zusammengehen Rumäniens mit der Zentral- gruppe erklärt haben: Die Liberalen, indem sie vor acht Jahren den Vertrag abschlössen; die Junimisten, als sie denselben 1888 indossier- ten; die Konservativen, wenn sie denselben jetzt verlängerten oder er- neuerten. Der König glaubt, daß sowohl Herr Lascar Catargi als Herr Esarcu* sich für die Vertragsidee gewinnen lassen würden; er fürchtet jedoch, daß der erstere wegen seines Gesundheitszustandes nicht mehr allzu lange im Amte bleiben werde, während der letzt- genannte wenig Prestige besitze. Seine Majestät denkt deshalb für die Renovation der Verträge in erster Linie an den Kriegsminister General Jacques Lahoväry und den früheren und voraussichtlich künf- tigen Minister des Äußern, Herrn Alexander Lahoväry.

Ich werde es mir auch ferner angelegen sein lassen, gesprächsweise und bis auf weiteres ohne Bezugnahme auf höheren Auftrag Seiner Majestät dem Könige Karl die sich für ihn aus seiner ganzen Situation ergebende Notwendigkeit klarzumachen, daß er die Vertragserneue- rung fortgesetzt im Auge behalte und seine innere Politik auf dieselbe zuschneide. Den österreichisch -ungarischen Geschäftsträger Graf Szecsen habe ich in allgemeinen Zügen und ohne Wiedergabe solcher Äußerungen des Königs, die in Wien verstimmen könnten, von dem gegenwärtigen Standpunkt Seiner Majestät gegenüber der Vertrags- angelegenheit in Kenntnis gesetzt und ihm gesagt, daß übertriebenes Insistieren nach meinen Beobachtungen in diesem Augenblicke mehr schaden als nützen dürfte. Den Gedanken, daß an die Stelle der so- fortigen Vertragserneuerung für einige Zeit und als Surrogat eine schriftHche Erklärung des Königs treten könnte, in welcher er den drei verbündeten Monarchen die tatsächliche Fortführung der bisherigen auswärtigen rumänischen Politik auf der Basis der ablaufenden ge- heimen Stipulationen und die baldmöglichste formale Erneuerung dieser Stipulationen verspräche, habe ich noch nicht vorgebracht. Meines ge-

Minister des Äußern im Kabinett Florescu. 166

I

horsamsten Erachtens empfiehlt es sich, diese Karte erst später als Pis-aller auszuspielen, sofern sich die Vertragsrenovierung nicht sogleich erreichen läßt. B. von Bülow

Randbemerkung Kaiser Wilhelms IL: ^ Dann wäre er erledigt Schlußbemerkung des Kaisers: Richtig

Nr. 1473

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia, an den Reichskanzler von Caprivi

Abschrift

Nr. 96 Sinaia, den 11. August 1891

pp. Ich habe es mir angelegen sein lassen, unter Widerlegung der übertriebenen und schiefen Seiten der Auffassung der rumänischen Politiker über angebliche russisch-französische Abmachungen in Kron- stadt und deren Folgen meine rumänischen Bekannten davon zu über- zeugen, daß, grade wenn ihre Annahmen zuträfen, hierin für Rumänien nur ein Grund mehr liegen würde, Anlehnung bei der Zentralgruppe zu suchen. Denn wenn es wirklich zu einem franko-russischen Bündnis gekommen sei, könne Frankreich die Mitwirkung Rußlands für die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens doch allein durch Konzessionen im Orient erkauft haben i; solche Zugeständnisse würden nach Lage der Dinge in erster Linie die Selbständigkeit Rumäniens bedrohen, das lediglich bei der Tripelallianz Schutz gegen diese Gefahr zu finden vermöge. Der Minister des Äußern, Herr Esarcu, ebenso wie der frühere und, wie zu erwarten steht, zukünftige Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Herr Alexander Lahoväry, zeigten sich nicht unempfänglich für diese Andeutungen. Beide meinten, sie müßten allerdings trotz aller Sympathien für die Franzosen zugeben, daß diese, hypnotises par le trou des Vosges, wohl bereit sein würden, für das linke Rheinufer nicht nur die ganze Balkanhalbinsel, sondern insbeson- dere auch Rumänien preiszugeben. In dieser bedrohlichen Konstellation liege für die rumänische Regierung die Aufforderung, an der von den Liberalen inaugurierten und von den Junimisten fortgeführten nationalen und dynastischen auswärtigen Politik auch fernerhin festzuhalten. Seit- dem brachte die Wiener „Politische Korrespondenz" eine inspirierte Bukarester Korrespondenz, welche mit den Worten schloß: „Le gou- vernement liberal-conservateur evite jusqu'au soupcon d'immixtion dans les affaires interieures de I'Autriche-Hongrie, un pays voisin et ami, €t, d'un autre cote, la Roumanie a une politique nationale dont I'unite €t la continuite sont garanties par la dynastie et dont aucun parti ou groupe politique ne se departira." Andrerseits hat der Führer der

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Nationalliberalen, Herr Demeter Sturdza, dem französischen Flotten- besuche in Rußland in der „Liberte Roumaine" eine Reihe von Leit- artikeln gewidmet, in denen die Unerläßlichkeit eines festen und ziel- bewußten Zusammenhaltens Rumäniens mit der Zentralgruppe dar- gelegt wird, da hierdurch allein die Unabhängigkeit des Landes gegen die ihr von Norden drohende Gefahr sichergestellt werden könne, pp.

(gez.) B. V. Bülow

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.; ^ Richtig und Schleswig Holstein

Nr. 1474

Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt

von Kiderlen

Eigenhändig

Berlin, den 25. Oktober 1891

Am 11. November dieses Jahres läuft der geheime österreichisch- rumänische Vertrag, dem Deutschland und Italien beigetreten sind, ab.

Die Frage seiner Erneuerung wird daher bei der demnächstigen Anwesenheit des Königs in Berlin notwendig zur Sprache kommen, denn es ist hohe Zeit, daß der König Farbe bekennt.

Der Grund, warum der König bislang an die Erneuerung nicht hat herantreten wollen, liegt darin, daß er fürchtet, sein jetziges Mi- nisterium und überhaupt die am Ruder befindlichen Konservativen würden nicht darauf eingehen wollen.

Der König selbst erklärt, unter allen Umständen auf dem Stand- punkt des Vertrags stehen bleiben zu wollen, auch ohne die Existenz eines solchen.

In dieser Beziehung müßte dem König klargemacht werden, daß gerade, wenn er zu einer solchen PoUtik auch im Kriegsfall entschlossen sei, der Abschluß eines Vertrags für Rumänien vom allergrößten Interesse sei.

Denn, wenn kein Vertrag existiere, müßten die Dreibundsmächte bei allem Vertrauen in den guten Willen des Königs ihre Politik auf die Möglichkeit eines feindlichen Rumäniens einrichten und sich auf der Balkanhalbinsel nach andern Freunden für gewisse Eventualitäten umsehen.

Denn es sei doch sehr fraglich, ob der König, der im Frieden nicht wagen könne, seinen Ministern vom Anschluß an den Dreibund zu sprechen, imstande sein würde, einen solchen im kritischen Mo- mente durchzusetzen.

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Eine lediglich persönliche Verpflichtung des Königs, die bis- herige Politik fortzusetzen, würde nur geringen Wert haben, weil man eben nicht am Willen des Königs, sondern nur an seiner Macht im gegebenen Augenblick zweifelt.

Es würde dann dem König klarzumachen sein, daß europäische Verwicklungen durch direktes Aufeinanderstoßen der Großmächte für absehbare Zeit nicht wahrscheinlich, insbesondere auch durch den Kronstadter Besuch* nicht näher gerückt seien. Es sei vielmehr mit Bestimmtheit anzunehmen, daß die Sache auf der Balkanhalbinsel los- gehe, die in beständiger Gärung sei, und auf der täglich ein Zwischen- fall eintreten könne, der den Stein ins Rollen bringe. Dabei könnte dem König vertraulich gesagt werden, daß auch Herr von Giers in seiner Unterredung mit Marquis di Rudini** auf die Eventualität von Verwicklungen am Balkan hingewiesen hat.

Was dann Rumänien ohne sichere Anlehnung an den Dreibund zu erwarten hat, ist klar. Selbst ein „befreundetes'* Rußland dürfte mit Rumänien nicht sehr glimpflich verfahren; darüber ist der König 1878 belehrt worden.

Die andern Mächte würden aber Rumänien, das sich erst im letzten Moment an sie wendete, kaum Hülfe zu bringen geneigt sein. Österreich, das sich für Rumänien noch am meisten interessiert, würde seine Haltung doch wesentlich von derjenigen Italiens und Englands am Bosporus und auf dem Balkan abhängig machen; beide Mächte haben aber stets für Bulgarien mehr Sympathien gezeigt als für Ru- mänien und würden daher voraussichtlich unter Preisgabe Rumäniens ihre schützende Hand nur über Bulgarien breiten wollen. Dies Argu- ment dürfte bei dem König besonders ziehen, da Bulgarien ohnedies seine bete noire ist.

Wenn der König auf die Innern Schwierigkeiten seines Landes zu sprechen kommt, so könnte ihm folgendes entgegengehalten werden:

Es ist seinem politischen Geschick gelungen, unter den bisherigen Vertrag die Unterschriften der Liberalen und der Junimisten (1883 und 1888) zu erhalten; gewinnt er auch die dritte große Partei des Landes für sich, so würde damit seine auswärtige Politik und über- haupt die Stellung seiner Dynastie unangreifbar.

Geht es nicht mit den jetzigen Ministern Florescu und Esarcu, so scheinen die Brüder Jacques und Alexander Lahoväry, mit denen der König vor seiner Abreise nach Venedig, wie Herr von Bülow be- richtet, die Frage akademisch bereits erörtert hat, einem festen An- schluß an den Dreibund zugängiger.

* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1502.

** Am 13. Oktober waren der russische Minister des Äußern von Giers und der russische Botschafter in Rom Vlangali zusammen mit Rudini vom Könige von Italien in Monza empfangen worden.

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Zum Schluß wird noch gehorsamst bemerkt, daß von den den König begleitenden Herrn Herr Kalinderu, der vertrauteste Ratgeber des Königs, um den geheimen Vertrag weiß. Da er sehr gut gesinnt ist, dürfte sich eine besondere Berücksichtigung desselben auch bei der Ordensfrage empfehlen. Kiderlen

Nr. 1475 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

Berlin, den 29. Oktober 1891 Seine Majestät der König von Rumänien hat mich gestern mit einer längeren Unterhaltung beehrt, in welcher er über die Stellung Rumäniens zum Dreibunde bestimmt aussprach, daß dieselbe mit oder ohne Vertrag dieselbe bleibe, und daß er persönlich dafür bürge, eintretendenfalls Rumänien an unsere Seite zu stellen. Alle miUtäri- schen Maßregeln in Rumänien hätten nur eine Front. Wenn zurzeit die Erneuerung des Vertrages nicht rätlich sei, so habe das seinen Grund ledigHch in den Parteiverhältnissen. Es müßte dem Könige daran liegen, auch die Konservativen innerlich seiner Politik zu ge- winnen, aller anderen Parteien glaube er ohnehin sicher zu sein. Der König hat schon jetzt keinen Zweifel, daß auch die Konservativen bei Ausbruch eines Krieges für den Dreibund sein würden. Es sei aber nicht klug, ihnen schon jetzt eine Entscheidung abnötigen zu wollen. Das jetzige Ministerium setze sich zumeist aus bejahrten Män- nern zusammen und habe die Bedingungen längeren Daseins nicht mehr in sich. Man solle Seiner Majestät nur vertrauen, er trachte von selbst nach Erneuerung des geheimen Vertrages und werde den Moment nicht versäumen, sobald er sich biete.

Inzwischen gingen die militärischen Vorbereitungen ihren Weg in derselben Richtung wie bisher. Die Dislokation der Kavallerie an der russischen Grenze werde demgemäß verändert werden. Seine Majestät erkannte die Wichtigkeit von Galatz und dessen steter Verteidigungs- fähigkeit an, verkannte aber nicht, daß gerade da noch manches fehle, und daß man namentlich eine wesentliche Verstärkung in der Richtung auf Reni noch nicht in Angriff nehmen wolle, um Rußland, dessen Grenze zu nahe liege, nicht zu provozieren. Die Nachrichten von Häufung russischer Truppen in Bessarabien, von denen die Zeitungen so viel gesprochen, seien völlig unbegründet. Von den Fortschritten, die Bulgarien mache, sprach Seine Majestät mit Anerkennung, wogegen ihm Serbien immer mehr zurückzubleiben schiene.

Der König schien zuzugeben, daß das Trachten Rußlands nach den Dardanellen unter allen Umständen eine große Gefahr für die Existenz Rumäniens involviere. Ich erlaubte mir anzudeuten, daß,

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wenn es sich auch nur um eine russische Besatzung in den Dar- danellenforts handle, diese infolge ihrer isolierten Lage immer eine Stärke haben müsse, hinreichend, sie auf einige Zeit selbständig zu machen, und daß sie einer stets offenen Verbindung mit der russischen Heimat nicht entbehren könne. Der Weg dahin durch Kleinasien sei nicht offen, der Seeweg immer unsicher, es liege also in der Natur der Dinge, daß Rußland nicht darauf verzichten könne, den Darda- nellen durch Rumänien und auf Kosten Rumäniens näher zu kommen. Die eigenen Kräfte dieses Landes würden nicht hinreichen, dem mit Erfolg zu widerstehen. Ein Anschluß Rumäniens an den Dreibund könne jene Gefahr abwenden und sei zugleich für Österreich-Ungarn das willkommenste Mittel, seine eigenen Interessen auf der Balkan- halbinsel zu befriedigen. Leiste Rumänien als Hindernis gegen rus- sische Tendenzen nach den Meerengen keine Gewähr, so würde Öster- reich-Ungarn sein Augenmerk mehr als bisher auf Bulgarien richten.

Seine Majestät äußerte, daß ihm die Freundschaft Österreich- Ungarns von hohem Wert sei, und daß er nur wünschen könne, die rumänische Nationalitätsfrage möge hüben und drüben so behandelt werden, daß sie dem Nachbar keine Schwierigkeiten mache. Er sei Seiner Majestät dem Kaiser von Österreich sehr dankbar für die Art und Weise, wie dieser sich persönlich gegen eine rumänische Depu- tation geäußert habe, nur bliebe etwas mehr Rücksichtnahme auf die in Ungarn lebenden Rumänen seitens der ungarischen Regierung zu wünschen.

In bezug auf die russischen Umtriebe bemerkte Seine Majestät, daß seit der Entfernung des Herrn Hitrowo ihr Zentralpunkt nach Galatz verlegt sei, wo die Fäden in den Händen eines Herrn Ro- manescu zusammenliefen. v. Caprivi

Nr. 1476

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschali

Reinschrift von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen

Berlin, den 29. Oktober 1891 Seine Majestät der König von Rumänien hat sich mir gegenüber im allgemeinen ebenso ausgesprochen wie dem Herrn Reichskanzler gegenüber. Insbesondere hat auch mir der König als das zunächst zu erstrebende Ziel die Gewinnung der Konservativen für einen festen Anschluß an den Dreibund bezeichnet. Herr Kalinderu hat dies eben- falls hervorgehoben und zugleich bestätigt, was Herr von Bülow be- reits gemeldet, daß die Brüder Lahoväry im Prinzip bereits für den Anschluß an den Dreibund gewonnen seien, und es sich daher nur noch um die Frage der erneuten schriftlichen Fixierung handle.

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Hinsichtlich Österreichs klagten der König und Herr Kalinderu dar- über, daß dieses wegen des Vertrags so sehr dränge.

Demgegenüber habe ich hervorgehoben, daß ein gewisses Drängen Österreich nicht zu verübeln sei; Österreich sei bei dieser Frage der Nächstinteressierte und müsse sich auf die aller Wahrscheinlichkeit nach bevorstehende Krisis auf der Balkanhalbinsel vorbereiten; für diese Eventualität könne Österreich nur mit sicheren Faktoren rech- nen, Rumänien werde gut tun, dafür zu sorgen, daß es unter die „sicheren" Faktoren gerechnet werden könne. Der König sah dies ein und versprach, sein Möglichstes bezüglich Einwirkung auf die konservative Partei zu tun. Er werde jetzt sogleich nach seiner Rück- kehr nach Bukarest ein neues Ministerium berufen müssen, an dessen Spitze Lascar Catargi treten und dem Alexander Lahoväry als aus- wärtiger Minister angehören werde.

Marschall

Nr. 1477

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia, an den Reichskanzler von Caprivi

Entzifferung

Nr. 124 Sinaia, den 31. Oktober 1891

Ganz vertraulich

König Karl lenkte nach seiner Ankunft die Aufmerksamkeit der zu seiner Begrüßung hierher gekommenen Minister auf die der Do- brudscha von russischer Seite drohenden Gefahren i. Seine Majestät betonte hierbei, daß sich aus dieser Sachlage für Rumänien die Not- wendigkeit einerseits erhöhter militärischer Vorsichtsmaßregeln, an- dererseits der engeren Fühlung mit dem Dreibunde ergebe.

Bülow

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: ^ Gott sei Dank der Wink hat gesessen.

Nr. 1478

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 108 Bukarest, den 30. Dezember 1891

Geheim

Herr Carp sagt mir, der Ministerpräsident Lascar Catargi und

der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten Alexander Lahoväry*

* Am 9. Dezember war an die Stelle des Kabinetts Florescu ein Kabinett Catargi gebildet, in das Ende des Monats auch Peter Carp (1883 als Gesandter in Wien an dem Abschluß des Vertrages beteiligt) eintrat.

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hätten ihm im Laufe der behufs Umformung des Kabinetts stattgehabten Verhandlungen erklärt, daß sie die Notwendigkeit des vertragsmäßigen Anschlusses Rumäniens an die Tripelallianz anerkannten und der For- mulierung dieses Anschlusses demnächst gemeinsam mit den Juni- misten näher treten wollten. ,

B ü 1 o w

Nr. 1479

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VH. Reuß an den Reichs- kanzler Grafen von Capiivi

Ausfertigung

Nr. 6 Wien, den 11. Januar 1892

Geheim

Seine Majestät der Kaiser von Österreich hatte gestern die Gnade, mir über den Besuch zu sprechen, welchen ihm König Karl von Rumänien unlängst in Budapest gemacht hat*.

Der Kaiser sagte, König Karl sei ganz besonders guter Laune und zufrieden mit seinen politischen Erfolgen gewesen. Er habe sich in loyalster Weise über seine Stellung zu Österreich-Ungarn und zum Dreibund ausgesprochen.

Ich erlaubte mir. Seine Majestät zu fragen, ob höchstderselbe den König nicht ermahnt hätte, nun, da er sichere Männer im Ministerium hätte, sein Vertragsverhältnis mit uns zu regeln? Der Kaiser erwiderte, der König habe ihm in dieser Hinsicht keine bestimmten Zusagen gemacht, aber gesagt, er hoffe seine neuen Minister günstig für die Vertragserneuerung zu stimmen. Dem Ministerpräsidenten Catargi habe er bereits Andeutungen gemacht, die dieser gut aufgenommen hätte: man möge ihm nur Zeit lassen, da er sehr vorsichtig vorgehen müsse.

Seine Majestät bemerkten, er habe nicht drängen wollen, um dem Könige kein Mißtrauen zu zeigen.

Graf Kälnoky, dem ich heute über meine Unterhaltung mit seinem kaiserlichen Herrn sprach, meinte, das Verhalten Seiner Majestät wäre gewiß richtig gewesen. Indessen behalte er sich vor, wenn der König auf dem Rückweg nach Bukarest wieder durch Wien käme, das Eisen zu schmieden, solange es noch warm wäre. Man müsse anerkennen, daß der König mit großer Geschicklichkeit manövriert hätte, um sein jetziges Ministerium zu konstruieren, und sei es gewiß gut gewesen, ihn jetzt nicht zu drängen und ihm zu vertrauen, da er doch schließ- lich die Sachen allein mache. Aber die Fühlung, die nun wieder auf- genommen wäre, dürfe nicht verlorengehen.

* König Karl von Rumänien war mii dem Thronfolger Prinz Ferdinand zum Be- such bei dem Kaiser am 4. Januar in Pest eingetroffen.

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Graf Kälnoky hat den Grafen Goluchowski ersucht, beruhigend auf Herrn Carp einzuwirken, damit dieser nicht vorzeitig über die Sache sich äußerte. Im übrigen sprach sich der Minister sehr befrie- digt über das ersprießhche Zusammenwirken unserer beiderseitigen Vertreter in Bukarest aus, ohne welche die Versöhnung zwischen den Junimisten und den konservativen Ministern wohl nicht zustande gekommen wäre.

Was die Idee betrifft, welche ich in einem der letzten Berichte des Herrn von Bülow, die durch meine Hände gegangen sind, ge- funden, und die auch Graf Goluchowski dem Grafen Kälnoky gegen- über gemeidet hat, nämlich den alten Vertrag nicht zu erneuern, son- dern einen neuen abzuschließen, so sprach mir der Minister in folgendem Sinne darüber.

Dem König würde die Verhandlung mit seinen Ministern hier- durch allerdings erleichtert werden: er brauchte ihnen dann nicht das ihm peinliche Geständnis zu machen, daß er seine Regierung außer Herrn Carp seit zehn Jahren an der Nase herumgeführt hätte. Er, Graf Kälnoky, hätte auch, wenn der König hierauf bestünde, prinzipiell nichts dagegen. Besser wäre aber eine Erneuerung der Verträge. Hierdurch würde die Kontinuität, die wichtig sei, bewiesen. Auch würde es dem Könige leichter gemacht werden, seinen Räten beweisen zu können, wie nützlich der Vertrag für Rumänien sei. Seit zehn Jahren wäre das rumänische Volk in keiner Weise durch seine Ver- tragsgenossen inkommodiert worden, und das gute Verhältnis, welches zwischen diesen und Rumänien dadurch hergestellt worden sei, hätte dem Lande eine Sicherheit für seine innere Entwickelung gegeben, welche ohne dies Vertragsverhältnis vielleicht nicht bestanden haben würde.

H.VII.P.Reuß

Nr. 1480

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 62 Wien, den 3. März 1892

Geheim

Euere Exzellenz werden durch den Kaiserlichen Gesandten in Bu- karest von dem augenblicklichen Stand der Angelegenheit der Ver- tragserneuerung unterrichtet sein; ich will aber nicht unterlassen, über dasjenige ganr gehorsamst zu berichten, was mir Graf Kälnoky heut darüber gesagt hat.

Graf Goluchowski schreibt dem Minister folgendes: .

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Durch Herrn Carp angespornt, scheine sich der König Karl nun- mehr entschlossen zu haben, der Sache näher zu treten und seinen Ministern darüber zu sprechen. Infolgedessen glaubten unsere beider- seitigen Vertreter, daß der Augenblick gekommen sein dürfte, auch ihrerseits die Angelegenheit mit dem Könige zu besprechen.

Herr Carp habe vertraulich mitgeteilt, er habe die Frage eines Vertragsabschlusses bereits rein akademisch mit dem Minister- präsidenten Catargi behandelt. Dieser habe sich nicht abgeneigt ge- zeigt. Da Herr Catargi den Wunsch zu hegen scheine zu stipulieren, daß, wenn ein förmUcher Vertrag abgeschlossen werden sollte, auch darin eine Stipulation darüber enthalten sein müsse, daß für den Fall eines Krieges mit Rußland kein Friede ohne Rumäniens Teilnahme am Friedensschluß abgeschlossen werden dürfte, so hat Herr Carp ungefähr folgenden Zusatz vorgeschlagen: Die vertragschließenden Teile verpflichteten sich (oder erklärten), daß bei eventuellen Friedens- verhandlungen Rumänien zugezogen werden solle.

Graf Kälnoky findet diesen Wunsch Catargis unverfänglich und hat nichts dagegen, daß ein Zusatz in dieser Form gemacht werde.

Ferner würde es der österreichisch-ungarische Minister für nütz- lich erachten, der Stipulation über die Dauer des Vertrages eine Form zu geben, durch welche das Ablaufen desselben möglichst aus- geschlossen und erschwert würde. Es würde sich empfehlen zu sagen: wenn der qu. Vertrag nicht ein Jahr vor dem Ablaufstermin von einem oder dem anderen kontrahierenden Teil gekündigt wird, so läuft derselbe noch weitere drei Jahre.

Es sei von Wichtigkeit, der Eventualität aus dem Wege zu gehen, die jetzt, wenn auch in ungefährlicher Weise, weil Frieden herrsche, eingetreten sei. Man dürfe aber die ängstlichen Rumänen auch nicht erschrecken; die vorgeschlagene Form bezwecke dies, sichere aber gleichzeitig die längere Dauer, weil man sich schwer dazu entschlösse, einen Vertrag zu kündigen.

Endlich liege die bereits besprochene Frage vor, ob der alte Vertrag zu erneuern, oder ob ein neuer Vertrag abzuschließen sein werde.

König Karl sei bisher für die letztere Form eingenommen gewesen, weil er sich nicht entschließen konnte, seinen uneingeweihten Ministern die Existenz des alten Vertrages einzugestehen. Graf Kälnoky würde es für besser und natürlicher halten, wenn man den alten Vertrag mit den angegebenen Zusätzen erneute. Sollte der König aber durch- aus auf seinem Wunsch bestehen, so würde er aus seiner Ansicht keine conditio sine qua non machen.

Der Minister wartet nun die weitere Berichterstattung des Grafen Goluchowski ab, dem er morgen in dem vorstehenden Sinne schreibt. Er hat ihm außerdem den Wortlaut des alten Vertrages überschickt, von welchem nur ein Exemplar sich im Archiv des Ministeriums des

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Äußern befindet, und zwar aus folgendem Grunde. Der Gesandte meldet, der König oder der mit der Verhandlung betraute Minister würde begreiflicherweise nur mit dem Vertragstext in der Hand dar- über diskutieren wollen. Nun befinde sich aber das rumänische Ver- tragsinstrument im geheimen Verschluß im Schlosse zu Sinaia, und könnte der König allein zu demselben gelangen. Eine Reise nach diesem Sommeraufenthalt würde der König aber des Aufsehens wegen wohl vermeiden wollen, und dürfte die Angelegenheit hierdurch wieder auf- gehalten werden.

Dieser Eventualität hat Graf Kälnoky aber vorbeugen wollen.

Nun hat mich der Minister gebeten. Euerer Exzellenz die vor- stehenden Mitteilungen zu machen und seine Vorschläge zu unter- stützen. Er beabsichtigt nicht, den k. und k. Botschafter in Berlin in diese Verhandlungen hineinzuziehen. Je weniger Menschen von solchen geheimen Verhandlungen wüßten, und je weniger Papier dar- über beschrieben würde, desto besser wäre es.

H.VII.P.Reuß

Nr. 1481

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 14 Bukarest, den 20. März 1892

Geheim

König Karl hat vorgestern mit dem Minister des Äußern rückhalt- los und eingehend über die Erneuerung der geheimen Abmachungen gesprochen, wobei Seine Majestät Herrn Alexander Lahoväry das Vorhandensein wie den Inhalt der früheren Stipulationen mitteilte. Herr Lahoväry erklärte sich gegenüber dem König wie später auch motu proprio mir gegenüber zur Erneuerung der Verträge bereit.

König Karl will nunmehr den Ministerpräsidenten Catargi für die Vertragserneuerung gewinnen, wünscht jedoch hierzu noch eine kurze Frist. Seine Majestät sprach mir den Wunsch aus, inzwischen nicht von österreichischer Seite gedrängt zu werden. Ich habe meinen österreichisch-ungarischen Kollegen von diesem Wunsch in Kenntnis gesetzt.

Nach erlangter Zustimmung auch des Herrn Catargi wird König Karl uns hiervon Mitteilung machen, damit sodann seitens der drei Zentralmächte die offizielle Demarche wegen Vertragserneuerung erfolge.

Bülow

176

Nr. 1482

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Entzifferung

Nr. 48 Bukarest, den 16. Mai 1892

Geheim

König Karl sagt mir, daß er gestern die Vertragsangelegenheit mit dem Ministerpräsidenten Catargi besprochen, demselben den In- halt der abgelaufenen geheimen Stipulationen mitgeteilt und die Not- wendigkeit ihrer Erneuerung dargelegt habe. Herr Catargi habe sich mit dieser Erneuerung im Prinzip einverstaiiden erklärt.

Bülow

Nr. 1483

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 158 Wien, den 11. Juni 1892

Geheim

Euerer Exzellenz beehre ich mich anliegend eine mir gestern durch den Grafen Goluchowski überbrachte Expedition des Kaiser- lichen Gesandten in Bukarest nach genommener Kenntnis ganz gehor- samst zu überreichen*.

Graf Kälnoky hatte mir schon gestern Mitteilung von dem endlich bis zur Unterzeichnung reif gewordenen Vertragsgeschäft gesprochen. Er drückte mir seine hohe Befriedigung über dieses wichtige Resultat aus und erwähnte mit großer Anerkennung der ersprießlichen Tätig- keit der Herrn Gesandten von Bülow, ohne dessen geschickte Behand- lung der Personen und der Dinge die Sache wohl noch nicht so weit gediehen wäre.

Der Minister hätte gewünscht, daß die rumänischen Minister seine Redaktion des Artikels V wegen der Dauer des Vertrages angenommen hätten, begnügt sich aber mit dem Erreichten.

Die Vertragsinstruniente werden nunmehr hier ins reine ge- schrieben, und wird Graf Goluchowski sodann mit denselben zu deren Unterzeichnung nach Bukarest zurückkehren.

H.VII.P.Reuß

* Siehe Nr. 1484.

12 Die Große Politik. 7. Bd. 177

Nr. 1484

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 58 Bukarest, den S.Juni 1892

Geheim

Der rumänische Minister des Äußern, Herr Alexander Lahoväry, hat nunmehr mit Ermächtigung Seiner Majestät des Königs Karl und unter Zustimmung des Konseilpräsidenten Lascar Catargi dem öster- reichisch-ungarischen Gesandten Grafen Goluchovvski amtlich seine Bereitwilligkeit ausgesprochen, den im vergangenen Herbste abgelaufe- nen geheimen Vertrag mit Österreich-Ungarn tel quel zu erneuern.

Im Laufe der ganz vertraulichen Vorbesprechungen, welche dieser Erklärung vorausgingen, machte Herr Alexander Lahoväry einige Male den Versuch, die geheime Vertragsfrage mit der Kornzollangelegenheit zu verquicken, indem er die Behauptung aufstellte, daß die erstere nicht vor Erledigung der letzteren reguliert werden dürfe. Der Minister des Äußern wurde jedoch darauf hingewiesen, daß zwischen beiden Angelegenheiten kein innerer Zusammenhang bestehe, insofern es sich bei der Kornzollfrage lediglich um ein wirtschaftliches Petitum der Rumänen gegenüber Deutschland, in der geheimen Vertragsfrage um einen rein politischen Staatsakt zwischen Rumänien und Österreich- Ungarn handle.

König Karl war nicht abgeneigt, anläßlich der Vertragserneuerung die Beschwerden der ungarländischen Rumänen zur Sprache zu bringen. Der hohe Herr bestreitet nicht, daß das neuerliche Vorgehen der siebenbürgischen Rumänen in der Memorandumsangelegenheit und speziell das Liebäugeln derselben mit Jungtschechen, Slowenen und Antisemiten von bedauerlichem Mangel an politischem Takt zeugen. Er hegt aber trotzdem den nicht unberechtigten Wunsch, daß von ungarischer Seite tunlichst vermieden werden möge, was den magyarisch-rumänischen Antagonismus wieder verschärfen und den- selben dem hiesigen Publikum noch deutlicher zum Bewußtsein bringen könnte.

Im allerengsten Vertrauen gestatte ich mir zu erwähnen, daß König Karl mir gegenüber die Äußerung fallen ließ, er habe Lust, sich für den Fall eines siegreichen Krieges gegen Rußland von Österreich die Bukowina versprechen zu lassen. Seine Majestät sah jedoch selbst ein, daß eine solche Prätention sich nicht formulieren, geschweige denn verteidigen lassen würde.

Der neue geheime Vertrag wird sich nach Form und Inhalt dem abgelaufenen anschließen, welchen Graf Goluchowski vor einer Woche Herrn Alexander Lahoväry und heute dem Ministerpräsidenten Catargi vorgelegt hat. Ich habe mich bemüht zu erreichen, daß der Stipula-

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1

m

tion über die Dauer des Vertrags (Artikel V des abgelaufenen Ver- trags) die nach dem Wiener Bericht Nr. 62 vom S.März d. Js.* von Graf Käinoky gewünschte Formulierung gegeben würde. König Karl und Herr Alexander Lahoväry erklärten sich auch damit einverstanden, daß der neue Vertrag auf vier Jahre abgeschlossen werde, demnächst jedoch „indefiniment" weiter laufe, bis die eine oder die andere Seite denselben kündige. Herr Lascar Catargi war jedoch nicht dazu zu bewegen, weitergehende Verpflichtungen zu übernehmen, als sie seiner- zeit Herr Bratianu auf sich genommen hat. Unter diesen Umständen erschien es in Berücksichtigung des „Le mieux est Tennemi du bien'' nicht angezeigt, aus der Zeitfrage eine conditio sine qua non zu machen. Der neue Vertrag wird somit auch in seinem Artikel V mit dem alten übereinstimmen.

Mein österreichisch-ungarischer Kollege, welcher sich heute für etwa acht Tage nach Wien begibt, wird auf Wunsch der hiesigen Regierung die Vertragsinstrumente im dortigen Ministerium des Äußern herstellen lassen. Demnächst soll der Vertrag von ihm und Herrn Alexander Lahoväry unterzeichnet werden.

Ich erlaube mir noch zu bemerken, daß um den neuen Vertrag von Rumänien nur der Ministerpräsident Lascar Catargi, der Minister des Äußern Alexander Lahoväry, der Handelsminister Carp und Herr Kalinderu wissen. Der rumänische Gesandte in Berlin, Herr Gregor Ghika, ist ebensowenig au courant der Angelegenheit wie sein Bruder, der Gesandte in Wien, Herr Emil Ghika.

Nach Unterzeichnung des rumänisch-österreichischen Vertrags wird, wie mir Graf Goluchowski sagt, das Wiener Kabinett den erfolgten Vertragsabschluß zur Kenntnis des Berliner Kabinetts wie der italieni- schen Regierung bringen und beide ersuchen, dem Vertrage in der- selben Weise beizutreten, wie dies früher geschehen ist. Es war wie ich gleichfalls im engsten Vertrauen erwähne nicht ganz leicht, während der Vertragsbesprechungen Differenzen zwischen dem öster- reichisch-ungarischen und dem italienischen Vertreter vorzubeugen. Graf Goluchowski hätte Herrn Curtopassi** am liebsten ganz aus dem Spiele gelassen; Herr Curtopassi, hierdurch in seiner Eigenliebe frois- siert, suchte den Gang der Verhandlungen zu verlangsamen, indem er unter anderem den allerdings seltsamen Vorschlag machte, dieselben zu suspendieren, bis sich die inneren Verhältnisse Italiens mehr ge- klärt hätten. Zur Charakterisierung der politischen Gesamtauffassung des Königs Karl möchte ich vertraulich noch anführen, daß der hohe Herr, als ich ihm im Laufe der Vertragsbesprechungen andeutete, wie es sich im Grunde doch nur um ein rumänisch-österreichisches Abkommen handle, bei welchem wir mehr als wohlwollende Zuschauer beteihgt wären, mit Lebhaftigkeit entgegnete: „Wenn es sich um einen

* Siehe Nr. 1480.

** Italienischer Gesandter in Bukarest.

12* 179

lediglich rumänisch-österreichischen Vertrag handelte, würde kein Ru- mäne denselben unterschreiben; der künftige Beitritt Deutschlands er- möglicht erst den Vertrag und gibt demselben in meinen Augen, wie in den Augen meiner Minister erst seinen wahren Wert."

B. von Bülow

Nr. 1485

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia, an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 60 Sinaia, den 15. Juni 1892

Geheim

König Karl sagte mir unmittelbar vor seiner Abreise, daß die vergangene Woche ihm zwei „große succes" gebracht habe, die Ver- lobung seines Neffen* und die Erneuerung der geheimen Verträge. „Ich betrachte," bemerkte Seine Majestät hierbei motu proprio, „die Vertragssache nunmehr als erledigt, die Erneuerung als ein fait ac- compli, den Vertrag als abgeschlossen i." Der König hat, wie höchst- derselbe mir weiter erzählte, den Ministerpräsidenten, Herrn Lascar Catargi, als dieser sich am 8. d. Mts. zur Erneuerung der geheimen Stipulationen endgültig und ohne Abänderungen bereit erklärte, um- armt und ihm gesagt: „Vous etes un bon patriote, et dorenavant je Vous place dans mon esprit sur la meme ligne que feu Jean Bratiano."

Der österreichisch-rumänische Vertrag, fügte der König hinzu, solle nach seiner Rückkehr, also voraussichtlich im Laufe des Juli^ von Herrn Alexander Lahoväry und Graf Goluchowski unterzeichnet werden. Die Vollmacht für den Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Herrn Alexander Lahoväry, werde der Ministerpräsident, Herr Lascar Catargi, gegenzeichnen, sodaß auch dieser sich mit Namensunter- schrift für den Vertrag engagiere. Der Beitritt Deutschlands könne nach meiner Rückkehr von Urlaub, in der zweiten Hälfte des August erfolgen.

Mein österreichisch-ungarischer Kollege hätte gewünscht, daß die Unterzeichnung des Vertrags schon während der Abwesenheit Seiner Majestät vor sich ginge ^; er bat mich, den König dahin zu bringen, daß höchstderselbe zu diesem Zwecke die Vollmacht für Herrn Laho- väry noch vor seiner Abreise von Bukarest ausstelle. Da jedoch der hohe Herr im Drange mancher anderen Geschäfte, und da sich alle auf die geheimen Abmachungen bezüglichen Schriftstücke im Schlosse Pelesch bei Sinaia befinden, hierzu keine Lust zeigte, schien es mir vorsichtiger, den König nicht durch zu ungeduldiges Urgieren des formalen Abschlusses zu irritieren, wo es unter Benutzung der hier

* Die Verlobung des rumänischen Thronfolgers Prinz Ferdinand mit der Prin- zessin Marie von Edinburg hatte Anfang Juni am Berliner Hof stattgefunden.

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durch die Verlobung des Prinzen Ferdinand hervorgerufenen gehobenen Stimmung gelungen ist, die materielle Erledigung der Angelegenheit zu erreichen*.

Herr Lascar Catargi und Herr Alexander Lahoväry sprachen mir ihre Genugtuung über die Regulierung der Vertragsfrage aus. „II ne s'agit plus," äußerte hierbei Herr Alexander Lahoväry, „de la poli- tique de tel ou tel chef de parti, mais de la seule politique etrangere que la Roumanie peut suivre, la politique nationale, qui est consignee dans les stipulations secretes que nous adoptons^."

B. von Bülow

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Sehr schön

2 geht das nicht früher?

3 ja

1 richtig i gut

Nr. 1486

Der Geschäftsträger in Bukarest Mumm von Schwarzenstein, z. Z. in Sinaia, an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 61 Sinaia, den 25. Juli 18Q2

Geheim

Der geheime Bündnisvertrag zwischen Österreich-Ungarn und Ru- mänien* ist heute, Montag, vorbehaltlich der Ratifikation durch die beiderseitigen Regierungen von dem österreichisch-ungarischen Ge- sandten Grafen Goluchowski und dem rumänischen Minister der aus- wärtigen Angelegenheiten, Herrn Lahoväry, hier unterzeichnet worden.

Die für letzteren von Seiner Majestät dem König Karl ausgestellte Vollmacht ist von dem Ministerpräsidenten, Herrn Catargi, gegen- gezeichnet, wodurch auch dieser sich für den Vertrag engagiert hat.

Mumm

Nr. 1487 Deutsche Akzessionserklärung zum österreichisch-rumänischen

Bündnisvertrag**

Ausfertigung

Sa Majeste TEmpereur d'Autriche, Roi de Boheme, etc. et Roi Apostolique de Hongrie, et

* Veröffentlicht in: Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879—1914, Bd. I (1920), S. 69.

** Veröffentlicht in: Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879—1914 a. a. O. S. 72. Der Beitritt Italiens zum Österreich-ungarisch-rumäni- schen Bündnisvertrag erfolgte am 28. November 1892. Daselbst.

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Sa Majeste le Roi de Roumanie ayant conclu ä Sinaia le 25/13 Juillet de l'annee courante le traite d'amitie et d'alüance suivant.

Article 1". Les hautes Parties contractantes se promettent paix et amitie et n'entreront dans aucune alliance ou engagement dirige contre l'un de leurs Etats. Elles s'engagent ä suivre une politique amicale et ä se preter un appui dans la limite de leurs interets.

Article 2. Si la Roumanie, sans provocation aucune de se part, venait ä etre attaquee, l'Autriche-Hongrie est tenue ä lui porter en temps utile secours et assistance contre l'agresseur. Si l'Autriche-Hongrie etait attaquee dans les memes circonstances dans une partie de ses Etats limitrophe ä la Roumanie, le casus foederis se presentera aussitöt pour cette derniere.

Article 3. Si une des hautes Parties contractantes se trouvait menacee d'une aggression dans les conditions susmentionnees, les Gouvernements re- spectifs se mettront d'accord sur les mesures ä prendre en vue d'une Cooperation de leurs armees. Ces questions militaires, notamment celle de l'unite des Operations et du passage des territoires respectifs, seront reglees par une Convention militaire.

Article 4. Si contrairement ä leur desir et espoir les hautes Parties con- tractantes etaient forcees ä une guerre commune dans les circonstances prevues par les articles precedents, elles s'engagent ä ne negocier ni conclure separement la paix.

Article 5, Le present traite restera en vigueur pour la duree de quatre ans ä partir du jour de l'echange des ratifications. Si une annee avant son expiration le present traite n'est pas denonce ou si la revision n'en est pas demandee par aucune des hautes Parties contractantes, il sera considere comme prolonge pour la duree de trois autres annees.

Article 6. Les hautes Parties contractantes se promettent mutuellement le secret sur le contenu du present traite.

Article 7.

Le present traite sera ratifie et les ratifications seront echangees dans un delai de trois semaines ou plus tot si faire se peut.

Ont invite Sa Majeste TEmpereur d'Allemagne, Roi de Prusse, ä acceder aux dispositions du susdit traite.

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En consequence Sa Majeste TEmpereur d'AUemagne, Roi de Prusse, a muni de Ses pleins-pouvoirs ä cet effet Son representant ä Bucarest, le conseiller de legation Bernard de Bülow pour adherer formellement aux stipulations contenues dans le traite susmentionne. En vertu de cet acte d'accession Sa Majeste FEmpereur d'AUemagne, Roi de Prusse, prend au nom de l'Empire d'AUemagne envers Leurs Majestes TEmpereur d'Autriche, Roi de Boheme, etc. et Roi Aposto- lique de Hongrie, et

le Roi de Roumanie, et en meme temps Leurs Majestes l'Empereur d'Autriche, Roi de Boheme, etc. et Roi Apostolique de Hongrie, et le Roi de Roumanie, prennent envers Sa Majeste TEmpereur d'AUe- magne, Roi de Prusse, les memes engagements auxquels les hautes Parties contractantes se sont mutuellement obligees par les stipulations du dit traite insere ci-dessus.

Le present acte d'accession sera ratifie et les ratifications seront echangees dans un delai de trois semaines ou plus tot si faire se peut.

En foi de quoi les Plenipotentiaires respectifs ont signe le present acte d'accession et y ont appose le sceau de leurs armes.

Fait ä Bucarest le 23/1 le jour du mois de Novembre de l'an de gräce mil huit cent quatre vingt-douze.

(L. S.) B. v. Bülow

(L. S.) A. G o 1 u c h o w s k i

(L. S.) AI. Lahovari

Nr. 1488

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia, an den Reichskanzler Grafen von Caprivi*

Ausfertigung

Nr. 79 Sinaia, den 16. Oktober 1893

Vertraulich

Einer der eifrigsten und konsequentesten Anhänger der Dreibunds- politik in Rumänien, der frühere Minister der auswärtigen Angelegen- heiten und gegenwärtige Führer der liberalen Opposition, Herr Demeter Sturdza, hat über die rumänisch-magyarischen Differenzen für König Karl zwei vertrauliche Notizen aufgesetzt, welche er Seiner Majestät vor einigen Tagen übergab. Abschrift dieser Aufzeichnungen, mit deren Gedankengang und Schlußfolgerungen sich König Karl durchaus ein- verstanden erklärte, gestatte ich mir in der Anlage beizufügen.

Die Auslassungen der ungarischen Minister während der jüngsten Nationalitätendebatte in Pest würden hier einen noch bessern Ein-

* Der vorliegende Bericht, der mit den beiden als Anlagen abgedruckten Denk- schriften Demeter Sturdzas die das österreichisch-rumänische Bündnis vielfach er- schwerenden rumänisch-magyarischen Differenzen näher behandelt, mag gleichsam als Anhang zu diesem Kapitel gegeben werden.

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druck gemacht haben, wenn nicht die magyarische Publizistilc durch ihre nach wie vor nicht grade taktvolle Sprache die Wirkung jener Enunziationen beeinträchtigte. So kam anläßlich der Rede des Ministers Hieronymi der „Pester Lloyd'' darauf zurück, daß die rumänische Regierung durch Österreich-Ungarn gezwungen werden müsse, zur Unterdrückung der siebenbürgischen Bewegung beizutragen. Wie mir hier nicht nur von Rumänen, sondern auch von solchen mit den sieben- bürgischen Verhältnissen vertrauten Deutschen und Engländern gesagt wird, welche dem dortigen Nationalitätenhader neutral gegenüberstehen, besitzt die hiesige Regierung so gut wie keinen Einfluß auf die ungar- ländischen Rumänen, deren große Mehrheit vorläufig noch nach Wien blicke. Diejenigen transsylvanischen Elemente, welche unter dem Ein- flüsse magyarischen Drucks oder russischer Wühlereien schon nach Bukarest sähen, sollen hier weder von der Regierung noch von der Opposition, sondern lediglich von der Kulturliga einem Gegen- und Seitenstück zu den ungarischen Kulturvereinen das Heil er- warten.

Ich gestatte mir noch zu erwähnen, daß das verbreitetste rumä- nische Blatt, die „Independance Roumaine", die siebenbürgische Frage fortgesetzt zum Gegenstand ihrer Österreich-Ungarn wenig freundlichen Betrachtungen macht. Die fraglichen Artikel werden von einem wegen Schulden aus dem Dienst entlassenen früheren rumänischen Diplomaten, Herrn Steriadi verfaßt, welcher, wie ich ganz vertraulich hinzufüge, auf der russischen Gesandtschaft aus und ein geht.

B. von Bülow

Anlage I

Abschrift

Deutschland ist der Führer, wie es der Begründer des Dreibundes ist. Der historische Grund dieser Tatsache liegt in den gesunden Ver- hältnissen dieses so mächtigen Reichs. Es hat nicht wie Italien Partei- strömungen, welche fremde Interessen für höher halten als die eigenen; es laboriert nicht wie Österreich-Ungarn an inneren Kämpfen einander feindlich gegenüberstehender Nationalitäten.

Es ist sicher, daß Franzosen und Russen auf die Verwirrung und Zerrissenheit rechnen, welche französische Sympathien in Italien und innere Kämpfe der Völkerstämme in Österreich-Ungarn nach sich ziehen können. Diese Unzulänglichkeiten die schwachen Seiten des Drei- bundes — auszugleichen und womöglich ganz zu beseitigen, ist eine der Hauptaufgaben der Staatsmänner des Dreibundes. Soll man am Tage der Entscheidung sicher vorgehen, so muß schon vorher Ord- nung geschaffen werden, da sonst in diesen Schwierigkeiten eine Läh- mung des Handelns und Eingreifens liegen wird.

Am schwierigsten gestalten sich in dieser Beziehung die Verhält-

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I

nisse in Österreich-Ungarn, da die österreichischen Länder von einer slawischen Bewegung beunruhigt werden und im ungarischen König- reiche der magyarische Chauvinismus eine wunde Stelle bildet.

Die slawische Bewegung hat ihre Beziehungen nach außen und steht in Verbindung mit dem Panslawismus, oder richtiger gesagt mit dem Panrussismus, dessen Hauptgegenstand die Erstürmung der Balkanhalbinsel ist. Der magyarische Chauvinismus verdankt seine Entstehung und Erhaltung dem übertriebenen Hochmute der Magyaren, die nicht einsehen, daß Ungarn eine bedeutende Stellung in der euro- päischen Staatengemeinschaft nur einnimmt, weil es ein Teil der Habs- burgischen Monarchie ist. Wenn die slawische Bewegung ihre Rich- tung nach außen, die magyarische nach innen hat, so haben beide das Gemeinsame, daß sie zur Zerbröckelung der österreichisch-ungarischen Monarchie führen.

Die Zustände in Ungarn sind hauptsächlich eine nicht zu unter- schätzende Gefahr für das Königreich Rumänien. Dieses ist berufen, im Falle eines Krieges eine russische Armee lahm zu legen, während die jetzige Haltung der Ungarn alsdann dazu beitragen wird, eine österreichisch-ungarische Armee in Ungarn selbst zu immobilisieren. Vor dem Kriege können innere Wirrnisse Unzulänglichkeiten zum Nutzen der Feinde schaffen; nach dem Siege kann der Übermut zur Ausführung der bloßen Personalunion führen. Beides bedeutet aber eine Schwächung der Großmachtstellung Österreich-Ungarns.

In Rumänien blickt man mit Sorge auf die Abwickelung dieser Zustände, weil man zu sehr bewußt ist, daß die Resultate sich un- mittelbar am südlichen Abhänge der Karpathen zeigen werden. Es erscheint somit angezeigt, dem magyarischen Chauvinismus ein Gegen- gewicht zu verschaffen, um die unleugbare Energie der Magyaren in ein ruhiges Fahrwasser zu leiten. Die zähen Rumänen fügen sich nicht dem erneuerten Magyarisierungsversuche. Stammesverschieden von den Slawen, bedroht durch das Russentum, haben sie mit den Magyaren gemeinsame Zukunftsinteressen. Beide Völker sind durch Selbsterhaltungsvorsorge aneinander gewiesen, und der zwischen ihnen entbrannte Kampf kann für beide als Selbstmord charakterisiert wer- den zugunsten des einen mächtigen und beide bedrohenden Feindes.

Es muß also auf die Ungarn dahin gewirkt werden, daß sie auf ihren Anlauf zur gewaltsamen Magyarisierung der andern Völker- stämme Ungarns verzichten und in gerechter freier Verwaltung aller nicht eine Schwächung, sondern eine Stärkung ihres Königreichs er- blicken.

Würden die Führer der Rumänen in Ungarn ins Gefängnis wan- dern, und die Rumänen unter das magyarische Joch sich fügen müssen, so kann dies zeitweilig Ruhe schaffen, aber um so sicherer wird es das Terrain für russische Wühlereien und Umtriebe vorbereiten, die dann auch im Königreich Rumänien sich abspielen werden.

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Man stelle sich nur vor, wie die Lage eine ganz andere sein würde, wenn in Ungarn Friede und gegenseitiges Vertrauen der Na- tionalitäten waltete. Es würde dies auf die Umtriebe Rußlands unter den Slawen drücken und eine Sicherheit des Vorgehens der Habs- burgischen Monarchie zur Folge haben, die jetzt fehlt zu Ungunsten des Dreibundes und zur Gefahr für Rumänien. Die Wirrnisse in Un- garn sind ein Atout in den Händen Rußlands und Frankreichs.

(gez.) Demeter Sturdza

Anlage 11

Abschrift

Die Rumänen in Siebenbürgen und Ungarn und die Rumänen in den beiden Donaufürstentümern Moldau und Walachei sind seit Jahr- hunderten in ihren politischen Schicksalen getrennt gewesen und haben sich unabhängig voneinander entwickelt. Rein kulturelle, Schule und Kirche betreffende Beziehungen zwischen den Rumänen diesseits und jenseits der Karpathen haben wohl bestanden, aber nie auf die Ge- staltung der politischen Verhältnisse eingewirkt. Die beiden vonein- ander getrennten Glieder desselben Volkes haben in einer voneinander unabhängigen und selbständigen Weise ihre nationalen Interessen wahrgenommen.

In den verschiedenen Phasen des Kampfes, welcher den Rumänen in Ungarn durch die Gewaltpolitik der Magyaren aufgezwungen wurde, sind jene durchaus selbständig vorgegangen, und eine Einwirkung dar- auf hat vom Königreich aus in keiner Weise stattgefunden. Verfolgt man aufmerksam ihre ganze Aktion, so wird man nichts darin ent- decken, was als „Irredentismus" bezeichnet werden könnte. Im Gegen- teil, es ist kennzeichnend für ihre Bestrebungen, und es kann nicht nachdrücklich genug hervorgehoben werden, daß sie nichts unter- nehmen und nichts fordern, was auf eine Lostrennung vom öster- reichisch-ungarischen Kaiserstaate abzielte. Ihre Loyalität, Treue und Anhänglichkeit an das Habsburgische Herrscherhaus sowie ihre Zu- sammengehörigkeit zu dieser Monarchie haben sie nicht nur bei jeder Gelegenheit in feierlicher Weise betont, sondern auch stets konsequent danach gehandelt.

Wenn sie sich entschieden dagegen wehren, als Heloten in ihrem eigenen Lande behandelt zu werden, wenn sie ihre, politische Gleich- berechtigung mit den magyarischen Staatsangehörigen und die An- wendung des bestehenden Nationalitätengesetzes auf ihre Verhältnisse verlangen; wenn sie an der Selbstverwaltung ihrer Kirchen und Schulen festhalten und mit angestammter Zähigkeit ihre Sprache und nationale Eigenart gegen die mit Hochdruck betriebene Magyarisie- rungspolitik verteidigen, so liegt in allen diesen gesetzlichen und be- rechtigten Forderungen nichts, was tatsächlich einen irredentistischen

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Charakter hätte. Die beständige Bezeichnung „Rumänische Irredenta'', wie sie in Pest für alles beliebt wird, was mit der siebenbürgischen Frage zusammenhängt, ist weit eher geeignet, derartige Bestrebungen, die heute nicht vorhanden sind, hervorzurufen, als die Bewegung, wie sie sich tatsächlich darstellt, wirksam einzudämmen.

Der Konflikt, der zwischen den Magyaren und Rumänen immer akuter wird, ist so sehr aus der Natur der dortigen Zustände hervor- gegangen, die das Ergebnis der chauvinistischen Gewaltpolitik sind, daß es verfehlt ist, seinen Ursprung oder die heutige Führung des Kampfes auf Einwirkungen aus dem Königreiche zurückführen zu wollen. Und ebensowenig ist die Annahme zutreffend, als ob es mög- lich wäre, vom Königreiche aus die Rumänen in Ungarn in dem Sinne zu beeinflussen, daß sie in der ihnen aufgezwungenen Notwehr nachgiebiger werden und vor dem magyarischen Chauvinismus kapi- tuheren

Dagegen ist es unvermeidlich, daß der immer schärfer sich ge- staltende Kampf einen verhängnisvollen Rückschlag auf die Lage im Königreich ausübt. Die Teilnahme für die Leiden der Stammesgenossen in Ungarn ist eine natürliche und läßt sich nicht unterdrücken. Die öffentliche Meinung wird nicht nur durch die Ereignisse jenseits der Karpathen beständig gegen Ungarn aufgeregt; aber auch die zahl- reichen Elemente, welche notgedrungen infolge der dortigen un- erträglichen Zustände nach dem Königreich kommen, und die den verschiedensten Berufsklassen angehören, wie Landwirte, Handel- und Gewerbetreibende, Lehrer, Priester usw., alle diese Elemente treten mit allen Schichten der Bevölkerung in direkte Beziehungen und fachen überall den Haß gegen Ungarn an. So werden die weitesten Kreise der Nation immer mehr in eine Stimmung hineingetrieben, in welcher sie in den Magyaren weit ärgere Feinde der Rumänen erblicken als in den Russen. Auf diesem gefahrvollen Wege wird aber die notwendige Stellungnahme des Königreichs Rumänien zum Dreibunde untergraben eine Stellungnahme, die um ihre Wirkungen zu er- zielen, des Rückhalts in der ganzen Nation bedarf , und den Be- strebungen der russischen Orientpolitik werden Tür und Tor geöffnet.

(gez.) Demeter Sturdza

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Kapitel XLVIl

Französisch-Russischer Zweibund 1890-1894

Nr. 1489

Der Geschäftsträger in Petersburg Graf vonPourtales an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 179 St. Petersburg, den 19. Juni 1890

In den Beziehungen zwischen Rußland und Frankreich, welche im Laufe des vergangenen Jahres nach der Beschießung von Sagallo* und nach dem Fiasko des Generals Boulanger** wesentlich kühler gewor- den waren, ist in den letzten Wochen eine entschiedene Wendung im Sinne einer Annäherung zwischen beiden Ländern erfolgt.

Bis zu den höchsten Kreisen hinauf war im vorigen Jahre hier vielfach noch die Hoffnung verbreitet, daß die von den boulangisti- schen Parteien getragene Bewegung gegen die jetzigen Machthaber in Frankreich schließlich zur Wiederherstellung der Monarchie führen könnte; diese Hoffnung war mit der Niederlage jener Parteien und dem glänzenden Gehngen der Ausstellung als Säkularfeier der Revo- lution*** geschwunden; beim Kaiser Alexander aber hatte sich die Abneigung gegen das republikanische Frankreich immer mehr aus- geprägt. Alle Aufmerksamkeiten, welche den die Ausstellung besuchen-

* In der zweiten Hälfte Januar 18S9 war der „freie Kosake" Aschinow in Ver- folg seiner Bemühungen, nähere, besonders auch kirchHche Beziehungen /wischen Rußland und Abessinien zustande zu bringen und womöglich am Golf von Aden eine russische Kolonie zu gründen, bei Sagallo, in der Einflußsphäre der fran- zösischen Kolonie Obock gelandet. Da er den Befehlen der französischen Autori- täten, den Ort zu verlassen, nicht nachkam, vielmehr die russische Flagge hißte, kam es zu der Beschießung Sagallos durch den französischen Kreuzer Seignelay. Dieser Zwischenfall führte, obwohl das französische Vorgehen gegen Aschinow erst erfolgte, nachdem die russische Regierung ihn völlig desavouiert hatte, zu einer lebhaften Verstimmung der slawophilen Kreise in Rußland und Frankreich und veranlaßte scharfe Angriffe der Patriotenliga (die dafür am 28. Februar auf- gelöst wurde), gegen die französische Regierung.

** Am 13. August 1SS9 war Boulanger von dem Ausnahmegerichtshof des Kom- plotts des Attentats und der Unterschlagung für schuldig erklärt und zur De- portation verurteilt worden. Das bedeutete, wie die Folge lehrte, das Ende des Boulangismus. .Am 30. September 1S91 verübte Boulanger in Brüssel Selbstmord. *** Am 5. AUi 1S89 war in Versailles die Erinnerungsfeier des Zusammentretens der französischen Generalstaaten (1789) mit großem Pomp begangen worden. Tags darauf fand die Eröffnung der Pariser Weltausstellung statt. Wegen des pronon- ciert republikanischen Charakters, der der Weltausstellung durch die Jahrhundert- feier der Revolution aufgeprägt wurde, beobachteten die diplomatischen Vertreter der europäischen Großmächte, einschließlich des russischen Botschafters während der Eröffnungsfeierlichkeiten völlige Zurückhaltung.

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den Russen in Frankreich erwiesen wurden, vermochten die in hie- sigen maßgebenden Kreisen Frankreich gegenüber herrschende Stim- mung nicht zu bessern, und als schließlich der von der französischen Presse immer von neuem angekündigte Besuch der Ausstellung durch den Großfürsten-Thronfolger unterblieb, machte die hiesige franzö- sische Vertretung kein Hehl aus ihrer Verstimmung über das geringe Entgegenkommen, welches die russenfreundliche Haltung der Pariser Regierung hier finde.

Deuteten nun in der letzten Zeit schon verschiedene Symptome darauf hin, daß man hier mit der Haltung der französischen Regierung jetzt sehr zufrieden sei, so kommen die vor einigen Wochen in Paris erfolgten Verhaftungen russischer Nihilisten zu einem sehr geeigneten Zeitpunkte, um diese günstige Stimmung zu fördern. Zwar sind die französischen Nachrichten über die Aufnahme, welche das Vorgehen der französischen Regierung bei der Entdeckung des Nihilistenkomplottes hier gefunden haben soll, weit übertrieben, doch ist nicht zu leugnen, daß dieses Vorgehen hier in hohem Maße und jedenfalls viel mehr als die analogen Dienste, welche wir zu wiederholten Malen den Russen zu leisten in der Lage gewesen sind, anerkannt worden ist*. Der Kaiser selbst hat, wie ich aus guter Quelle weiß, befohlen, der fran- zösischen Regierung mit besonderer Wärme seinen Dank auszuspre- chen, und die in der Presse auftauchende Nachricht, daß demnächst hohe russische Ordensauszeichnungen an die französischen Staats- männer zur Verteilung gelangen werden**, erscheint nach vertraulichen Andeutungen, die mir gemacht worden sind, nicht unwahrscheinlich.

Bezeichnend für die Art, mit welcher französischerseits jede Ge- legenheit zur Pflege der russischen Freundschaft benutzt wird, ist das Auftreten der Franzosen bei dem gegenwärtig hier tagenden Gefängnis- kongreß. Nicht weniger als 35 Franzosen, darunter allerdings zahlreiche nichtoffizielle Delegierte, sind zur Teilnahme an diesem Kongreß hier eingetroffen; der erste von ihnen ist der Generaldirektor der Ge- fängnisse in Frankreich Herr Herbette, ein Bruder des Botschafters in Berlin. Als besondere Aufmerksamkeit ist derselbe zum „Gehilfen des Präsidenten" bei dem Kongreß gemacht worden, während die eigentliche Vizepräsidentenstelle dem Unterstaatssekretär Braunbehrens aus dem preußischen Ministerium des Innern zugefallen ist.

Herr Herbette und seine Kollegen bieten nun alles auf, um aus

* Seit Ende April 1890 war der neue französische Minister des Innern mit aller Schärfe gegen die anarchistisclien Agitatoren in ganz Frankreich, unter denen sich viele russische Nihilisten befanden, vorgegangen; u. a. wurden am 29. Mai elf Russen und vier Russinnen bei der Fabrikation von Sprengstoffen er- tappt und verhaftet.

** Die Verleihung von russischen Ordensauszeichnungen an französische Staats- männer erfolgte erst im Frühjahr 1891, indem Präsident Carnot im März den Andreasorden, Ministerpräsident Freycinet und Außenminister Ribot im Mai das Großkreuz des Alexander-Newsky-Ordens empfingen. Vgl. Nr. 1494.

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dem Kongreß für die russisch-französische Verbrüderung möglichst viel Kapital zu schlagen; sie lassen keine Gelegenheit unbenutzt, um in Reden den Russen zu schmeicheln, die Sympathien Rußlands für Frankreich zu betonen und für die russisch-französische Freund- schaft Reklame zu machen. Während alle übrigen Länder sich damit begnügt haben, die ihnen zugewiesenen Tische im Ausstellungsraum mit ihren Landesfarben zu schmücken, sind in der französischen Ab- teilung zahlreiche Fahnenembleme angebracht, bei welchen die russische Flagge mit der französischen verschlungen erscheint.

Das Auftreten der Franzosen fällt bei den anderen auswärtigen Vertretern allgemein auf, und selbst in russischen Kreisen findet man, wie mir vertraulich mitgeteilt wird, daß französischerseits „die Note etwas forciert wird".

Überhaupt möchte ich die unmaßgebliche Ansicht aussprechen, daß, wenn auch das Buhlen der Franzosen um russische Gunst gegen- wärtig hier wieder mehr Entgegenkommen findet und den Russen das heutige Frankreich jetzt bündnisfähiger erscheinen mag als noch vor einigen Monaten, dennoch zurzeit von einer Annäherung zwischen beiden Ländern von größerer politischer Bedeutung, das heißt mit Übernahme gegenseitiger Verpflichtungen nicht die Rede sein dürfte. Die Russen wissen zu gut, daß sie, ohne sich zu engagieren, der fran- zösischen Unterstützung jederzeit, wenn sie sie brauchen, sicher sind.

F. Pourtales

Nr. 1490

Der Botschafter in Paris öraf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung Nr. 166 Paris, den 24. Juni 18Q0

Verschiedene Zeitungen haben die zuerst durch das „Morning Chronicle" gebrachte Nachricht von dem vollzogenen Abschlüsse eines neuerdings abgeschlossenen Bündnisses zwischen Frankreich und Ruß- land verbreitet.

Nach meinen Beobachtungen zweifle ich entschieden daran.

Die Russen wissen recht gut, daß sie im Falle des Krieges auf Frankreich rechnen können, und daß es dazu eines Bündnisses, welches leicht unbequem werden könnte, nicht bedarf. Ein mir bekannter General sagte: „Les Russes regardent la Republique Frangaise comme une cocotte que Ton peut avoir quand on la desire, sans mariagei." Das schildert die Lage richtig. Liebesverhältnis für eine gewisse Zeit, den Krieg, ja; Ehe, d. h. Bündnis im Frieden, nein 2.

Sollten die Russen auf positiven Abmachungen bestehen, was ich nicht glaube, so würden selbst die Franzosen nicht leicht darauf ein- gehen, weil das Mißtrauen gegen die Russen doch immer groß ist. pp.

13 Die Große Politik. 7. Bd. 193

Den durch die Presse verbreiteten Nachrichten über die Allianz können Börsenspekulationen zugrunde liegen, auch haben unsere Ver- handlungen mit England* die öffentliche Meinung hier sehr erregt, und ist vielfach der Glaube verbreitet, als ob geheime Abmachungen über Äg}'pten und den Beitritt Englands zur Tripelallianz existierten. Als Antwort darauf wurde der französisch-russische Allianzabschluß er* funden.

Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Sehr gut

2 stimmt

Nr. 1491

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 186 Paris, den 26. Juli 1890

Die Gerüchte von dem Abschluß einer russisch -französischen Allianz werden von Zeit zu Zeit absichtlich verbreitet, namentlich ge- schieht das dann, wenn die Isolierung Frankreichs besonders fühlbar wird. Ich glaube entschieden nicht daran, und meine hiesigen Kollegen sind derselben Ansicht.

Die älteste Tochter des russischen Botschafters Baron von Mohren- heim hat sich mit einem französischen Offizier, le Vicomte de Seze, verlobt. Er ist der Großsohn des Verteidigers von Louis XVI. Ich be- nutzte diesen Umstand, um Herrn Ribot** etwas auf den Zahn zu fühlen, und sagte ihm ganz ruhig: „Ich gratuliere zur russisch-französischen Allianz.'' Über diese Anrede erschrak er so, daß ich erst glaubte, es sei etwas daran. Er erholte sich erst, als ich ihm sagte, ich habe die Mohrenheimsche Verlobung gemeint.

Im weiteren Verlauf des Gespräches sagte Herr Ribot, er wisse, daß Gerüchte wegen Abschlusses einer Allianz verbreitet würden, es bedürfe aber seinerseits nicht der Versicherung, daß dies unwahr sei. Er wolle für Frankreich la pleine liberte d'action bewahren und sich nach keiner Seite binden.

Ich glaube, daß seine Äußerungen aufrichtig waren, und daß, wenn er in der auswärtigen Politik sich etwas rühriger zeigt, er es lediglich tut, um sich selbst zu halten und um Waffen gegen parlamentarische Angriffe in der Hand zu haben.

Anlaß zu den Gerüchten können auch die Demonstrationen gegeben

* Gemeint sind die Helgoland— Sansibar-Verhandlungen, die am 1. Juli zum Ab- schluß gelangten. Vgl. Bd. VIII, Kap. LI. ** Minister des Äußern im Kabinett de Freycinet, seit Mitte März 1890.

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haben, welche immer wieder in Szene gesetzt werden, sowie sich ein Russe in hoher Stellung hier zeigt. So wurden dem russischen Kriegs- minister Wannowski in Vichy Ovationen gebracht und die russische Nationalhymne gespielt, wo er sich blicken läßt. Ebenso wird im hiesigen Hippodrom, welches die Stimmung zu benutzen und zu be- einflussen sucht, Jeanne d'Arc, die nicht zieht, durch ein russisches Schaustück bald ersetzt werden.

Das nutzt nicht viel, und, was die Russen betrifft, so glaube ich noch an den Vergleich zwischen einer Kokotte und der angetrauten Frau und glaube, daß der Kaiser von Rußland Frankreich so ansieht und weiß, daß er Frankreich haben kann, wenn er in Form eines Krieges zahlen wollte.

Münster

Nr. 1492

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 1 - Paris, den 4. Januar 1891

pp.* Wie das Verhältnis zu Rußland steht, ist sehr schwer zu erkennen. An den Abschluß einer festen russisch-französischen Allianz glaube ich noch immer nicht i, wohl an militärische Verabredungen für den Fall des Krieges 2**.

Herr Ribot ist ein früherer Jurist und guter parlamentarischer Redner, aber ohne jede diplomatische Schulung und politischen Über- blick. Er wird sich leichter von den Russen hinter das Licht führen lassen als seine Vorgänger, pp.

Der russische Botschafter von Mohrenheim wird doch immer mehr als lächerliche Figur betrachtet. Er läßt sich überall Ovationen bereiten.

So z. B. hat er mit seiner Familie und dem ganzen Botschafts- personale vorige Woche das Theater des Folies bergere besucht, wo sich einige russische Sängerinnen hören ließen. Es waren drei Logen besonders für die russische Botschaft dekoriert worden; die Zuschauer erhoben sich, als Mohrenheim erschien, die russische Hymne wurde ge- spielt und auf Verlangen wiederholt, und nahm derbezahlte Applaus kein Ende. Das ist auch den Franzosen zu stark gewesen, zumal da das

* Den Anfang des Berichts siehe in Kap. XLVIII, Nr. 1544.

** In der Tat hatten die ersten Besprechungen über ein Einvernehmen des russi- schen und französischen Generalstabes im Hinblick auf einen Krieg gegen die Dreibundmächte schon im Sommer 1890, gelegentlich einer Reise des Generals de Boisdeffre zu den russischen Manövern stattgefunden. Siehe die Depesche des französischen Botschafters in Petersburg de Laboulaye vom 24. August 1890. Troisieme Livre Jaune Fran^ais. L'Alliance Franco-Russe (1918), p. 63; zu festen Verabredungen kam es bekanntlich erst im August 1892.

195

Theater des Folies bergere ein Vergnügungslokal der allerleichtfertig- sten Sorte ist, ein Ort, an dem sich selbst Herren der guten Gesell- schaft nicht gern zeigen. pp. Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Ich auch nicht

2 ja

Schlußbemerkung des Kaisers: Gut

Nr. 1493

Der Militärbevollmächtigte in Petersburg General von Villaume an

Kaiser Wilhelm II.

Abschrift

Nr. 165 St. Petersburg, den ^^' ^f^ 1891

21. Februar

Als die Zeitungen den Brief veröffentlicht hatten, in welchem Ew. Majestät der französischen Akademie Allerhöchstdero Teilnahme an dem Verlust des Malers Meissonier allergnädigst Ausdruck zu geben geruhten, als ferner der Entschluß zahlreicher berühmter Künstler, die Berliner Ausstellung zu beschicken, fast gleichzeitig mit der Reise Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich nach Paris bekannt wurde*, machte man mir bei verschiedenen Gelegenheiten Anspielungen, aus denen die Besorgnis deutlich hervorsah, daß sich auf dem neutralen Boden der Kunst eine Annäherung zwischen Frankreich und Deutsch- land vollziehen könne. Der Passus in der Rede Ew. Majestät Statt- halters von Elsaß-Lothringen**, „daß beiderseits Hoffnung auf eine Rückkehr zu normalen Beziehungen bestehe", verstärkte noch diese Befürchtungen, da auch sonst ganz verständige Leute an der Ansicht festhielten^ daß die Herstellung eines vernünftigen modus vivendi zwischen Deutschland und Frankreich nur auf Kosten der freund- schaftlichen Beziehungen des letzteren mit Rußland zustande kommen könne.

Die Presse teilte und nährte selbstverständlich diese falsche Auf- fassung, indem sie daran erinnerte, daß die freundliche Aufnahme, welche seinerzeit Lesseps und Simon in Berlin gefunden, in Frankreich ebenso sympathisch berührt habe wie die jüngsten Aufmerksamkeiten, welche der französischen Künstlerwelt erwiesen seien. Ununterrichtet

* Siehe darüber Kap. XLVIII, Nr. 1546«.

** Am 25. Februar hatte Fürst von Hohenlohe auf einem Diner des Landes- ausschusses von Elsaß-Lothringen eine Ansprache gehalten, die in die Hoffnung ausklang, daß in den Beziehungen zwischen dem Reichslande und dem Reiche, die früher getrübt gewesen seien, wieder gegenseitiges volles Vertrauen Platz greifen werde. Auf die deutsch-französischen Beziehungen spielte Hohenlohe in seiner Rede nur leise an.

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wie immer, behauptete sie, daß Ihre Majestät die Kaiserin Friedrich das erste Mitglied des erlauchten preußischen Königshauses sei, welches nach dem Kriege 1870/71 französischen Boden betreten habe, daß allerhöchstdieselbe mit einer politischen Mission betraut sei und dem Nationalgefühl sowie der Künstlerwelt schmeicheln solle, um den Haß der Franzosen zu besänftigen und einen versöhnlichen Verkehr zwischen beiden Nationen anzubahnen.

Ebenso allgemein wie diese Besorgnis war daher auch die Freude, als der Telegraph den neuen Sieg des Chauvinismus in Paris meldete. Der einmütige Jubel der hiesigen Presse über „diesen Mißerfolg Deutschlands** beweist, wie groß und schwer der Stein gewesen sein muß, der bisher auf ihrem Herzen gelegen hatte. Auch nicht eine Zeitung hatte eine Wort der Mißbilligung für die taktlosen Mani- festationen der Chauvinisten oder ein Gefühl für die beschämende Rolle, welche in erster Linie französische Künstler, ferner die grande nation im allgemeinen und endlich die französische Regierung im speziellen in dieser Angelegenheit spielten, indem sie sich von Ele- menten beherrschen ließen, welche sie selbst mit anerkennenswerter Energie und unter allgemeiner Zustimmung vor kurzem erst nieder- geworfen hatten. Im Gegenteil! Alle schieben Deutschland die Schuld in die Schuhe; denn, wie der „Grashdanin" sagt, der Sieger, der es wagt, nach Niederwerfung, Ruinierung und Beleidigung des Schwäche- ren so ganz ohne Umschweife sich in „der von ihm zerstörten Stadt" einzufinden, muß auf solche Ablehnung gefaßt sein. Auch die ,,Nowoje Wremja" glaubt, daß das Terrain für derartige Annäherungsversuche noch nicht genügend vorbereitet gewesen sei, da der Haß gegen Deutschland in Frankreich eher zu- als abgenommen habe und kein Opfer, keine Zuvorkommenheit Deutschlands imstande seien, ihn zu besänftigen, solange die Wunden, die der französischen Eigenliebe geschlagen, nicht geheilt und ihrem verletzten Stolz nicht Genugtuung gegeben sei. Wenn es demnach auch erwiesen sei, daß die ungeheuere Majorität der französischen Nation von einer Annäherung an Deutsch- land nichts wissen wolle und mit den Ideen eines Jules Ferry und Genossen nicht sympathisiere i, so könne man trotzdem von einer Ohn- macht der französischen Nation der chauvinistischen Agitation gegen- über nicht sprechen. Denn die französische Gesellschaft habe oft genug bewiesen, daß sie sich durch den Chauvinismus eines Deroulede und der Patriotenliga nicht fortreißen ließe, wenn deren Ausfälle der Stim- mung der Majorität nicht entsprächen; diesmal aber sei der Boden für den Protest gegen die Beteiligung der französischen Künstler an der Berliner Ausstellung schon genügend vorbereitet gewesen. Wo- durch verschweigt die Zeitung.

Die „Nowosti" werfen Deutschland vor, daß es um gar zu billigen Preis „die blutigen Beleidigungen und rohen Vergewaltigungen" habe vergessen machen wollen, mit deren Hülfe das heutige Deutsche Reich

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geschaffen sei; Frankreich sei doppelt im Recht, da sich Deutschland ihm gegenüber ein doppeltes Unrecht habe zuschulden kommen lassen: „denn es hat vom lebendigen Staatskörper Frankreichs ein zuckendes Stück Fleisch nicht nur losgerissen, sondern behält es auch jenem Gerechtigkeitsprinzip zuwider, welches das französische Volk mehr als einmal aufgestellt hat."

Freund Deroulede und Genossen werden eifersüchtig auf den Redakteur der „Nowosti" werden, welcher ihrem chauvinistischen Wortschatz solche Schlagwörter entlehnt. Dafür kann sich dieser un- versöhnliche Revancheapostel aber an dem Weihrauch erfreuen, den der „Swjet", die „Moskowski Wjedomosti" und andere panslawistische Hetzblätter „dem ruhmvollen Manne" streuen, „dem in dieser An- gelegenheit die hervorragendste, glänzendste und sympathischste Rolle gebührt, der einen glänzenden Sieg errungen und die Gemüter in Frankreich aufgeklärt und ernüchtert hat". Dem „Swjet" scheint sehr viel daran zu liegen, daß die alte Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich fortbestehen möge; denn er ist hocherfreut darüber, daß das Meeting, welches Deroulede veranstaltete, und der Eidschwur, den die tausendköpfige Menge leistete, gerade ä propos gekommen seien, um den Mut des heutigen Frankreichs wieder zu heben und zu stählen.

Die „Moskowski Wjedomosti" erblicken in dem abschlägigen Bescheid der französischen Künstler nur „die Bestätigung edelsten, patriotischen Gefühls", welches erweckt zu haben den energischen Vertretern desselben, in erster Linie Herrn Deroulede zum Ruhme gereiche.

So hat sich nicht nur die russische Presse in dieser Angelegen- heit wieder einmal in seltener Einmütigkeit auf die Seite unserer Gegner gestellt, sondern auch die Mehrzahl der Russen, mit denen ich darüber zu sprechen Gelegenheit hatte, konnte ihre Schadenfreude über „diesen Mißerfolg Deutschlands" und dessen vereiteltes Bemühen, Frankreich von Rußland zu trennen, nur schwer verhehlen. Zu der Klärung im Westen, die für uns dieser Zwischenfall herbeigeführt,, tritt auf diese Weise auch noch die im Osten hinzu 2,

Aber derselbe hat auch noch nach einer anderen Richtung hin aufklärend gewirkt, indem er ein scharfes Schlaglicht auf die dunkeln, unberechenbaren Zustände in Frankreich geworfen, die man hier teils nicht sehen, teils nicht zugeben wollte. Die völlig haltlose Schwäche, mit der die große Majorität und vor allen die Regierung in Frank- reich dem Treiben eines Deroulede, Laur u. a. ruhig zugesehen haben, anstatt mit einem energischen quos ego dazwischen zu fahren, und die Folgerung daraus, daß heut wie vor 20 Jahren die Entschlüsse der grande nation nicht durch patriotische Einsicht und Besonnen- heit geleitet werden, sondern von jenem als Chauvinismus bezeichneten Zerrbild wahrhafter Vaterlandsliebe, welches 1870 die Massen in den

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Ruf „ä Berlin" ausbrechen ließ und heut den Versuch einer An- näherung auf neutralem, geistigem Gebiete durch wüsten Terrorismus vereitelt hat , diese Erkenntnis hat die vernünftig denkenden Leute und die Anhänger des Friedens auch hier stutzig gemacht. Die un- bestreitbare Beruhigung der Gemüter, welche in der letzten Zeit hier Platz gegriffen hatte, ebenso wie das Vertrauen in die Zukunft sind erschüttert, weil Frankreich unter der Herrschaft des aufs neue er- wachten verhängnisvollen Chauvinismus jetzt auch den Russen als ein unberechenbarer Faktor erscheint, der über Nacht Europa in einen Krieg stürzen kann.

Die energische, deutliche Antwort Deutschlands in der Form einer schärferen Handhabung der Paßvorschriften an der französischen Grenze und die Einmütigkeit, mit der sich bei dieser Gelegenheit die Deutschen um Kaiser und Reich scharten, haben hier ebenfalls Eindruck gemacht, gleichzeitig aber die Besorgnis hervorgerufen, daß die schnöde Zurückweisung des deutschen Entgegenkommens vielleicht noch weitere, den Frieden gefährdende Folgen haben könne. Während daher gestern noch die französischen Patrioten belobt und ermutigt wurden, wiegelt man heut schon wieder ab; einerseits wirft man der französischen Regierung Mangel an Entschlossenheit und Selbstver- trauen vor und rät dem französischen Publikum sowie der Presse, den aufreizenden Gegenmaßregeln der Deutschen gegenüber die Ruhe zu bewahren, andererseits hält man uns vor, daß die „naiven Mani- festationen" eines Deroulede und Genossen ja nicht die Mehrheit des französischen Volkes hinter sich hätten und daher nicht wert wären, die Beruhigung der Gemüter zu beeinträchtigen 3.

So tut auch das offiziöse „Journal de St. Petersbourg" „des ärger- lichen Zwischenfalls, der soeben einen leichten Schatten auf die Be- ziehungen zwischen Deutschland und Frankreich geworfen", in sehr zarter, sanft abgetönter Weise Erwähnung und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß man auf beiden Seiten der Vogesen sich Mühe geben werde, diese leichte Wolke zu zerstreuen.

Zu dieser allerdings nur scheinbaren Umstimmung zu unseren Gunsten hat außer dem beunruhigenden Gefühl, welches die Wider- standsunfähigkeit der französischen Regierung den chauvinistischen Agitationen gegenüber einflößt, auch die Erkenntnis mitgewirkt, daß die französische Unversöhnlichkeit doch die größte Kriegsgefahr in Europa bildet. Im allgemeinen sieht man daher jetzt mit mehr Be- sorgnis als bisher in die Zukunft, in der entweder ein plötzlicher Ausbruch des Chauvinismus in Frankreich oder das Ende der Lang- mut und Geduld in Deutschland zwischen den beiden Ländern ernstere Verwicklungen eher herbeiführen könne, als man es hier wünscht.

Denn es gibt zurzeit keine kriegerisch gesinnte Partei in Ruß- land, und teils offen, teils versteckt grollt man dem stillen Verbündeten,

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daß er es war, der Europa plötzlich aus dem Friedensschlummer auf- gerüttelt hat, in den man dasselbe von hier aus seit mehr als Jahres- frist einzulullen bemüht gewesen ist. Außerdem will man sich aber auch nicht von dort die Stunde der Demaskierung vorschreiben lassen, sondern dieselbe hier an der Newa bestimmen, wenn man alle seine Vorbereitungen beendet hat*.

Daß diese Interessengemeinschaft zwischen Rußland und Frank- reich sich auch bei dieser Gelegenheit wieder betätigt hat, darin liegt ein weiterer Vorteil der Klärung der Situation, die wir diesem Zwischen- fall verdanken. (gez.) von Villaum e

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.: ^ Freycinets Ansicht auch! 2 ja

' ! demnach war es aber mit der vorher betonten Niederlage nichtsi * richtig

Schlußbemerkung des Kaisers: Sehr klar und richtig.

Nr. 1494

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 72 Paris, den 6. April 1891

Die Verleihung des russischen St. Andreas-Ordens an den Präsiden- ten Carnot, die feierliche Audienz, bei der der Botschafter Mohren- heim diese hohe Dekoration überreichte*, sowie die Verleihung des Großkreuzes der Ehrenlegion an den Baron von Mohrenheim haben hier ein gewisses Aufsehen erregt.

Die hiesige Presse aller Parteien ist bemüht gewesen, dieser russi- schen Demonstration die größte Wichtigkeit beizulegen, und viele klug redende kleinere Diplomaten wollen darin ein untrügliches Zeichen einer wirklich abgeschlossenen russisch-französischen Allianz^ erblicken.

Wenn einesteils die Bedeutung des Andreas-Ordens selbst über- trieben wurde, da der Kaiser von Rußland, wenn er überhaupt den Staatschef der Republik dekorieren wollte, ihm doch seinen höchsten Orden geben mußte, so ist allerdings die Verleihung des Ordens selbst insofern von großer Bedeutung, als sie zeigt, daß die Abneigung des Kaisers gegen die Republikaner nicht so groß ist, als angenommen wurde, und diese Abneigung des Zaren nicht mehr als ein unüber- windliches Hindernis einer Verständigung angesehen werden darf.

Sie fand am 25. März statt

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Dagegen habe ich noch keine bestimmten Anzeichen dafür, daß durch den Abschluß eines wirkHchen Allianzvertrags das Verhältnis Rußlands zu Frankreich eine Änderung erfahren habe. Daß im Falle eines Krieges beide Mächte aufeinander rechnen, ist nicht zu be- zweifeln; ebenso bin ich davon überzeugt, daß für den Fall eines Krieges auf militärischem Gebiete Verabredungen getroffen worden sind. Sollte, was ich bis jetzt nicht annehme, zwischen beiden Re- gierungen ein wirklicher Allianzvertrag abgeschlossen worden sein, so würde ich das nicht für gefährlicher und wichtiger halten als den bisherigen Zustand.

Ich gebe überhaupt sehr wenig auf Verträge der Art: oft liegt in ihnen selbst ein Keim des Zwistes, und dann halten sie nur so lange, als die eine oder andere Macht darin noch einen Vorteil sieht und der anderen Macht auch in gefährlichen Zeiten Vertrauen schenken kann. Trotz aller Russenfreundlichkeit, die bei den meisten lebenden Franzosen doch nur ein Produkt des Hasses gegen uns ist, herrscht doch gegen den Herrscher Rußlands und das ganze russische Re- gierungssystem das größte Mißtrauen, und dies ist größer, als die Franzosen, die sich in Europa ganz isoliert fühlen, zugestehen wollen.

Daß in letzter Zeit von beiden Seiten alles geschieht, um die guten Beziehungen zu pflegen, und daß von russischer Seite alles geschehen ist, um die Annäherung Frankreichs an uns zu erschweren, haben wir ja noch kürzlich erfahren.

Die französische Ausstellung in Moskau wird zur Verbrüderung und Liebeserklärungen zwischen Russen und Franzosen sehr aus- gebeutet werden.

Vorläufig scheint das noch alles platonisch bleiben zu sollen, pp.

Münster

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: ^ noch nicht

Nr. 1495 Bericht des Militärattaches in Paris Rittmeisters von Funcke*

Abschrift Nr. 16 Paris, den 13. April 18Q1

Geheim

pp. Über die politische Lage zwischen Frankreich und Deutsch- land hat General Gallifet sich gleichfalls dem General von Loe sehr

* Der Bericht betrifft „Mitteilungen des Generals Gallifet an den General der Ka- vallerie und Kommandierenden General des 8. Armeekorps Freiherrn von Loe gelegentlich seiner kürzlichen Anwesenheit in Paris und Besuches beim General Gallifet". Hier interessieren nur die Mitteilungen über die politische Lage. Über die Beziehungen Freiherrn von Loes zu Gallifet vgl. L. v. Schlözer, General- feldmarschall Freiherr von Loe (1914), S. 26ff., 209 f.

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offen und klar ausgesprochen. „In beiden Nationen wünsche niemand den Krieg, aber alle vernünftigen Leute seien der Ansicht, daß er wegen Elsaß-Lothringen unvermeidhch sei^. Gewiß werde Frankreich, wenn nicht ungewöhnliche und unerwartete Zwischenfälle einträten, den Krieg nicht beginnen. Wenn aber Rußland den Krieg gegen Deutschland begänne, so sei keine Regierung imstande, Frankreich zurückzuhalten 2. Eines Vertrages zwischen Frankreich und Rußland bedürfe es dazu nicht. Der Vertrag läge in der Interessengemein- schaft 3, und es würde nur eines Zwischenfalles auf dem Balkan be- dürfen, um den friedlichen Kaiser von Rußland zu zwingen, den Krieg gegen Österreich zu beginnen*.'*

(gez.) von Funcke

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

* richtig 3 stimmt

* sehr wahr! Schlußbemerkung des Kaisers:

London, Wien, Rom mitth[eilen] sehr interessant

Nr. 1496

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Petersburg von Schweinitz

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen von Pourtales

Nr. 136 Berlin, den 14. April 1891

Geheim [abgegangen am 15. April]

Ganz vertraulich

Vor kurzem hat ein auf der Durchreise begriffener russischer Zivilbeamter den Prinzen Albert von Sachsen-Altenburg* hier auf- gesucht und demselben über die Lage in Rußland Enthüllungen ge- macht, über welche der Prinz dem Herrn Reichskanzler nachstehendes mitgeteilt hat:

„Bisher sei der Ausbruch eines Krieges Rußlands und Frank- reichs gegen uns nur durch den Zaren verhindert worden. Die Pan- slawistenführer seien indessen überzeugt, daß es ihnen gelingen werde, den Zaren mit sich fortzureißen, sobald sie den Moment für ge- kommen hielten. Dieser Moment sei der nächste Herbst. So gut der Zar sich jetzt habe dazu bringen lassen, dem Präsidenten der

* Kommandeur der 3. Garde-Kavallerie-Brigade, ehemals Kaiserlich Russischer General.Tiajor.

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französischen Republik den Andreas-Orden zu verleihen, werde er sich auch zum Kriege bringen lassen. Man wähle den nächsten Herbst, weil dies ein militärisch günstiger Zeitpunkt sei. An sich sei der Winter immer den Russen günstiger als uns; bis zum nächsten würde aber die russische Infanterie das neue Gewehr haben, und die den Krieg vorbereitende Dislokation vollendet sein. Zu diesem Behuf würde jetzt die 22. Division nach Polen verlegt. Alle einflußreichen Stellen in der Armee seien mit Männern besetzt, die in panslawistischen Ideen lebten."

Prinz Albert von Sachsen-Altenburg versichert, daß sein Gewährs- mann, den er aus der Petersburger Gesellschaft oberflächlich kannte, dessen Namen er sich aber durch Ehrenwort verpflichtet hat nicht zu nennen, einen durchaus zuverlässigen Eindruck gemacht habe, auch habe derselbe Personen und Verhältnisse, welche Seiner Durchlaucht bekannt genug seien, um eine Kontrolle zu gestatten, mit photographi- scher Treue geschildert.

Wiewohl ich Bedenken trage, obigen Mitteilungen großen Wert beizumessen, zumal dieselben in militärischer Hinsicht mit dem bisher hier bekannt Gewordenen keineswegs übereinstimmen, so habe ich doch nicht unterlassen wollen, Ew. pp. davon zu Ihrer ganz vertrau- lichen persönlichen Information in Kenntnis zu setzen, zumal Prinz Albert von Sachsen-Altenburg auch Seine Majestät den Kaiser von den ihm gemachten Eröffnungen informiert hat.

Ich stelle ergebenst anheim, diesen Erlaß nach Kenntnisnahme zu vernichten.

Marschall

Nr. 1497

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 111 St. Petersburg, den 17. April 1891

Geheim

Den hohen geheimen Erlaß vom 14. d. Mts. Nr. 136* habe ich die Ehre gehabt zu erhalten, nach Kenntnisnahme ist er vernichtet worden.

Euer Exzellenz werden aus den Berichten, welche ich unter dem Eindrucke der Dekorierung Monsieur Carnots schrieb, geneigtest er- sehen haben, daß ich dieser Äußerlichkeit große Bedeutung beilege; sie beweist nämlich, daß der Zar auf dem Wege zur Intimität mit

* Siehe Nr. 1496.

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der Republik jetzt zu Schritten bewogen werden kann, welche er vor einem Jahre nicht getan haben würde.

Dies ist nun, obwohl die Abneigung Alexanders III. gegen die Greuel und die Unbequemlichkeiten eines Krieges die alte bleibt, von schwerwiegenden Folgen, denn die weitverbreiteten und berechtigten Zweifel, ob der Kaiser sich entschließen könne, mit dem republikani- schen Frankreich zusammenzugehen, sind geschwunden, sowohl dort, als auch im übrigen Europa und namentlich hier.

Die Wirkungen dieser Tatsache zeigen sich schon jetzt oft und deutlich; man sucht zwar noch nicht nach einem Kriegsfalle, aber on a le verbe plus haut, und andere Staaten regeln ihre Haltung nach den offenkundig enger gewordenen Beziehungen zwischen dem Zaren und der Republik.

Nach den Euerer Exzellenz bekannten Vorgängen vom ^0. bis 22. März v. Js.* konnte es uns nicht überraschen, daß Rußland mehr Anlehnung an Frankreich suchte als zuvor; hierzu war es nicht nur berechtigt, sondern sogar gezwungen; aber die persönliche Beteiligung des Zaren am Austausche demonstrativer Artigkeiten war nicht not- wendig; durch diese wird eine Veränderung der Lage konstatiert, wenn man auch gern zugibt, daß es nur durch den Appell an die väterlichen Gefühle gelang, den Kaiser zur Verleihung des Andreas- Ordens an den Präsidenten zu bestimmen, der seinen Söhnen große Aufmerksamkeiten erwies.

Einen wachsenden Einfluß des Panslawismus kann ich nicht wahr- nehmen; im Gegenteil: Ich wage zu behaupten, daß er der groß- russischen Partei das Feld geräumt hat; dies ist ungünstig für uns, denn ersterer richtet seine Aspirationen nach Süd und Südwest, letztere aber gegen Westen. Die Panslawisten blicken nach den slawischen Provinzen Österreich-Ungarns und nach den Balkanstaaten, die Pan- russen wollen Deutschland demütigen; hiernach fällt ihnen, wie sie glauben, alles übrige von selbst zu.

In dem systematischen Aufmarsche der russischen Armee im Westen des Reiches ist, so wie mir bekannt, weder eine unvorher- gesehene Änderung noch eine Beschleunigung eingetreten; ein Grund, unser Volk mit Befürchtungen eines nahen Krieges gegen Rußland zu erfüllen, liegt also nicht vor; für unsere militärische und diplo- matische Tätigkeit ist es aber nach meinem ehrerbietigen Dafürhalten notwendig, in Rechnung zu ziehen, daß die Garantie, welche wir in der Persönlichkeit des Zaren fanden, weniger zuverlässig ist, als sie war.

V. Schweinitz

* Gemeint ist wohl die mit der Entlassung Bismarcks (20. März 1890) ent- schiedene Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages.

204

1

Nr. 1498 Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichskanzler

von Caprivi

jsjr 57 Ausfertigung

Vertraulich Bukarest, den 2. Mai 1891

Seine Majestät der König Karl teilte mir vertraulich den Inhalt eines Berichtes mit, welchen er von seinem Gesandten in St. Peters- burg, Herrn Emil Ghika, über eine Unterredung desselben mit Herrn von Giers erhalten hat. pp.

Über die europäische Gesamtsituation habe Herr von Giers be- merkt, daß von französischer Seite neuerdings große Anstrengungen gemacht worden wären, um einen Allianzvertrag mit Rußland zu- stande zu bringen; ,,La France a tout fait pour avoir un traite; mais malgre les instances les plus vives eile ne l'a point obtenu.'' Seine Majestät der Kaiser Alexander wolle sich mit Frankreich auf kein festes Vertragsverhältnis einlassen, weil die republikanische Regierungs- form ihm unsympathisch sei, und auch mit Rücksicht auf die Häufig- keit der Ministerwechsel in Frankreich. Dies schließe nicht aus, daß Rußland sich die Zuneigung der Franzosen gern gefallen lasse. „La France est ä nos pieds, nous aurions mauvaise gräce ä nous en plaindre." Auch wäre es natürlich, wenn die zwischen den beiden Staaten bestehenden freundschaftlichen Beziehungen gelegentlich in gegenseitigen kleinen Aufmerksamkeiten ihren Ausdruck fänden. „Les petits cadeaux entretiennent l'amitie.*' Die Verleihung des Andreas- Ordens an Herrn Carnot falle unter diesen Gesichtspunkt. Dieselbe sei nur eine höfliche Anerkennung einerseits für die zwei russischen Großfürsten auf französischem Boden erwiesene Gastfreundschaft, andrerseits für gewisse Gefälligkeiten, welche die französische Re- gierung auf militärischem Gebiete für Rußland gehabt habe. Mehr bedeute dieser Orden nicht, denn Rußland wünsche sich nicht zu binden. Rußland sei gegenwärtig überhaupt mehr mit inneren, als mit auswärtigen Angelegenheiten beschäftigt, pp.

B. von Bülow

Nr. 1499

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall

an den Botschafter in Petersburg von Schweinitz

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen von Pourtales

Nr. 169

Ganz vertraulich Berlin, den 14. Mai 1891

Ein nichtdeutscher Diplomat hat auf Grund von Informationen aus sehr guter Pariser Quelle folgendes ganz vertraulich hier mit- geteilt.

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Als der Zwischenfall der Kaiserin Friedrich ein bedrohliches Aus- sehen annahm, hätte die französische Regierung ihren Botschafter in St. Petersburg beauftragt zu fragen, ob Frankreich im Kriegsfälle auf russische Kooperation rechnen könne. Die Antwort habe ablehnend gelautet und der französischen Regierung die Überzeugung gegeben, daß der Zar keine Lust zum Kriege habe.

Diese Nachricht, welche zwar mit den neuesten Symptomen einer russisch-französischen Annäherung schwer in Einklang zu bringen ist*, würde an sich als friedliches Anzeichen gedeutet werden können.

Ew. pp. sind vielleicht in der Lage, etwas Positives über die Sache in Erfahrung zu bringen.

Marschall

Nr. 1500

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 153 St. Petersburg, den 24. Mai 1891

Ganz vertraulich

Den hohen Erlaß Nr. 169 vom 14. d. Mts.**, betreffend die von der französischen Regierung an die russische gerichtete Anfrage, ob sie im Kriegsfalle auf deren Kooperation rechnen könne, habe ich unter Nr. 137 vom 16. d. Mts. nur vorläufig beantwortet. Ich kann diese Antwort nunmehr einigermaßen vervollständigen, indem ich von zuverlässiger Seite gehört habe, daß Herr de Laboulaye, als er vor seiner Abreise im April Gelegenheit hatte, den Kaiser Alexander zu sehen, wahrscheinlich also bei der Audienz, in welcher der Botschafter den Dank des Herrn Carnot für den Andreas-Orden abstattete. Seiner Majestät nahegelegt hat, daß seine Regierung das Bedürfnis emp- finde zu wissen, ob sie im Kriegsfalle auf Rußlands Mitwirkung zählen könne.

Der Zar hat, wie meine auf französischer Mitteilung beruhende Information sagt, dem Botschafter Veranlassung gegeben, das Ge- spräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken, pp.

V. Schweinitz

* Nach einem Erlaß Minister Ribots an den französischen Botschafter in Petersburg de Laboulaye vom 9. März 1S91 hatte der Zwischenfall immerhin dazu geführt, das französisch-russische Einvernehmen, das Mohrenheim eben damals „solide comme du granit" nannte, zu bekräftigen. Troisieme Livre Jaune Fran^ais. L'AIhance Franco-Russe (1918), p. 8. ** Siehe Nr. 1499.

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^ Nr. 1501

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler

von Caprivi

Entzifferungf

Nr. 162 St. Petersburg, den 27. Mai 1891

Ganz vertraulich

Baron von Marochetti* ist aus Paris und Rom zurückgekehrt. Der Botschafter bestätigt, daß die französische Regierung mißlungene Versuche gemacht hat, um vom Zaren die Zusicherung der Kooperation im Kriegsfalle zu erlangen i. pp.

von Schweinitz

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: i Out! gut!

Nr. 1502

Der Geschäftsträger in Petersburg Alfred von Bülow an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 237 St. Petersburg, den 30. JuH 1891

Vertraulich

Unter dem Eindruck der herrschenden landwirtschaftlichen Not- stände und der politischen Isolierung Rußlands infolge der Erneue- rung des Dreibundes** sowie der Annäherung Englands an die Friedens- mächte war die hiesige Stimmung eine entschieden niedergeschlagene, besorgte, teilweise auch gereizte geworden.

Doch in der letzten Woche ist das politische Wetterglas sicht- lich wieder gestiegen.

Dieser Umschwung von Besorgnis zu gehobener Zuversicht ist in erster Linie durch das Eintreffen des französischen Geschwaders*** herbeigeführt worden. Der Admiral Gervais und seine Offiziere haben es bisher in byzantinischer, aber recht geschickter Weise verstanden, das russische Selbstbewußtsein bei jeder sich darbietenden Gelegen- heit zu wecken. Sie gerieren sich als weihrauchspendende Ab-

* Italienischer Botschafter in Petersburg. ** Sie hatte am 6. Mai stattgefunden; vgl. Kap. XLV.

*** Am 23. Juli war ein französisches Geschwader unter Führung des Admirals Gervais in Kronstadt angelangt. Siehe auch Kap. XLVIII, Nr. 1573. Über den äußeren Verlauf der Festlichkeiten, die sich an den Besuch der französischen Flotte schlössen, den Wortlaut der zwischen Kaiser Alexander und Präsident Carnot ge- wechselten Telegramme usw. vgl, Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Jahrg. 1891, S. 274 ff.

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gesandte eines Rußland schwärmerisch verehrenden Volkes und staunen die Wunder der Zarenresidenz als etwas ganz Unerwartetes an. Alles, was die französischen Herren sehen und hören, wird als un- übertrefflich und meisterhaft bezeichnet, und können sie nicht genug reden von der Machtfülle und Großartigkeit des Kaiserreichs.

Aber nicht nur die Huldigungen des französischen Geschwaders steigern das Selbstgefühl hiesiger politischer Kreise. Man wiegt sich auch in der angenehmen und festen Zuversicht, daß der russische Einfluß an der unteren Donau w^ieder einen guten Schritt vorwärts getan hat, und diese beiden Tatsachen zusammen betrachtet man als einen wichtigen Faktor, der dem erneuerten Dreibund gegenüber schwer in die Wagschale falle.

„Gleicht nicht die Herreise des jungen Königs Alexander von Serbien* der Wallfahrt eines Pilgers in ein gelobtes Land," meinte gestern ein russischer Offizier, mit dem ich nach Zarskoe Selo fuhr. „Überall, wo slawische Erinnerungsstätten sind, hält der jugendliche Monarch sich auf und betet in Kiew und Moskau an den uns heiligen Stätten, bis es ihm dann vergönnt sein wird, den Zarbefreier zu sehen." Und wie man die glänzende Aufnahme des französischen Geschwaders als einen ernsten Fingerzeig nach Deutschland hin ansieht, so freut man sich über den Eindruck, den der serbische Besuch in Wien machen müsse, wo man nun nicht mehr daran zweifeln werde, daß Serbien nach Herz, Verstand, Blut und Glauben nur russisch gesinnt sein könne. In Österreich, so betont man, werde König Alexander nur den kleinen Umweg nach Ischl machen, während er in Rußland langsam von Stadt zu Stadt reise. Dazu kommt, daß man sich hier der immer bestimmteren Hoffnung hingibt, die Tage der Hohenzollern- dynastie in Rumänien seien nunmehr gezählt. Man spricht mit einem gewissen Behagen von der Liebesaffäre Vacarescu und allerhand damit zusammenhängenden Skandalgeschichten. Man meint, daß die ergötz- liche Herzensgeschichte unter allen Umständen das Ansehen der rumäni- schen Majestäten ernstlich beeinträchtigen werde, und bedauert nur, daß der Thronfolger allem Anschein nach auf seine Liebe verzichtet habe.

Auch möchte ich bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt lassen, daß der gastliche Empfang, der dem französischen Geschwader in Stockholm zuteil wurde, an hiesiger maßgebender Stelle sympathisch berührt hat. Insbesondere erblickt Seine Majestät der Kaiser Alexander darin eine indirekt der Kaiserlich russischen Regierung erwiesene Auf- merksamkeit.

Den Beweis für die zuversichtlichere, ich möchte sagen „üppigere**

* Er traf am 2. August in Begleitung des Regenten Ristitsch in Petersburg ein. 208

Stimmung hiesiger politischer Kreise liefert eine Unterhaltung, welche mein österreichisch-ungarischer Kollege kürzlich mit einem höheren Beamten des hiesigen Ministeriums des Äußern hatte. Es kam die Rede auf die Erneuerung der Tripelallianz, und meinte der betreffende Herr, man sei ja im auswärtigen Ministerium auf die Fortdauer des Dreibundes gefaßt gewesen. Aber man müsse doch zugestehen, daß der letztere mit den maritimen und finanziellen Kräften Großbritanniens im Hintergrund ein für Rußland viel bedrohlicheres Aussehen ge- winne. In Berhn und Wien vertraue man auf die Friedensliebe Seiner Majestät des Kaisers Alexander. Man möge sich aber dort nicht ein- bilden i, daß dieselbe unerschütterlich wäre. Es könne der Augenblick kommen, wo die Neigung zum Frieden sich mit der Würde Rußlands nicht mehr vereinbaren lasse und auch der beste Wille des Monarchen den Ausbruch des großen Krieges nicht mehr zu verhindern imstande sein werde 2. Österreich-Ungarn möge sich noch zu rechter Zeit be- denken, was auf dem Spiele stehe. Die Habsburgische Monarchie würde bei entscheidender Niederlage zerstückelt werden, während Ruß- land, auch wenn es geschlagen worden sei und vielleicht Polen und die Ostseeprovinzen eingebüßt habe, immerhin noch ein fanatischer, für den österreichisch-ungarischen Nachbar gefährlicher Gegner bleiben werde 3.

Baron Aehrenthal* hat dieser warnenden Stimme gegenüber ein- fach betont, die Mächte des Dreibundes bezweckten auch nach der Erneuerung desselben einzig und allein die Aufrechterhaltung des Friedens auf der Basis des Frankfurter und des Berliner Vertrages, und daran würden diese Mächte treu festhalten. Von einem bedroh- lichen, die anerkannte Friedensliebe Seiner Majestät des Kaisers Alexan- der erschütternden Charakter der Tripelallianz könne daher nicht die Rede sein.

Die vorstehende Unterhaltung, deren Inhalt mir Baron Aehren- thal im strengsten Vertrauen mitteilte, gibt vielleicht nicht* die an hiesiger maßgebender Stelle herrschende Auffassung der politischen Lage wieder, immerhin aber eine Beurteilung derselben, wie sie sich an die entscheidende Stelle mehr und mehr herandrängt.

Für Seine Majestät den Kaiser Alexander ist und bleibt, wie mir wiederholt versichert wird, „Bulgarien"** der wunde Punkt. Der Monarch ist überzeugt, daß man von Wien aus unter der Hand die vertragswidrigen Zustände in Sofia, wenn auch nicht der Form, so doch der Sache nach protegiert, und daß Graf Kälnoky in unver- antwortlicher Weise mit dem Feuer spielt. Auch die rumänischen Verhältnisse erfreuen Seine Majestät noch lange nicht. Die Unter- haltung, welche höchstderselbe bei Gelegenheit der Abschiedsaudienz

* Österreich-ungarischer Botschaftsrat in Petersburg.

^* Ober die Bulgarische Frage seit 1890 siehe Bd. IX, Kap. LV.

14 Die Große Politik. 7. Bd. 209

des neuernannten Gesandten in Bukarest Herrn von Fonton mit letzterem hatte, schloß in bezug auf Rumänien mit den Worten: „Armes Land, trauriges Land."

A. V. Bülow

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms iL:

1 Hat sich auch keiner eingebildet

2 ganz richtig; ich freue mich, durch einen Russen bestätigt zu sehn, was ich seit 6 Jahren gepredigt habe.

' aber als Republik! 4 doch!

Nr. 1503

Der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Freiherr von Rotenhan an den Botschafter in Petersburg von Schweinitz

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Raschdau

Nr. 268 Berlin, den 7. August 1891

Geheim [abgegangen am 11. August]

pp. Der Gedanke, den Zaren auf die Gefahren, welche die Ver- bindung seines Landes mit der französischen Republik für die dynasti- schen Interessen bietet, aufmerksam zu machen*, hat, wie Ew. pp. bekannt, wiederholt den Gegenstand der Korrespondenz zwischen dem Auswärtigen Amt und der Kaiserlichen Botschaft gebildet. Wo das Gespräch auf diese Verhältnisse kam, hat der Zar, so insbesondere noch bei seiner Unterhaltung mit Seiner Majestät, unserem allergnädig- sten Herrn, in Peterhof, die Bedeutung jener Verhältnisse nicht ver- kannt und sich über den Wert, welchen die französische Regierungs- form in seinen Augen genießt, in nicht mißzuverstehender Weise aus- gelassen. Das hat nicht gehindert, daß der Siegesgesang der fran- zösischen Revolution jetzt in Petersburg und Moskau hoffähig ge- worden ist, und die von Kaiser Alexander und den Großfürsten aus- gebrachten Toaste und die mit Paris gewechselten Depeschen be- weisen, daß auch an erster Stelle die Republik keine prinzipielle Gegnerschaft mehr in Rußland findet. Entweder war der Einfluß der Umgebung und ihrer Vorstellungen, daß dem mitteleuropäischen Bündnis die französisch-russische Entente entgegengesetzt werden und diese Tatsache in unverkennbarer Weise zum Ausdruck kommen müsse, so stark, daß auch der Zar sich ihm nicht verschließen konnte, oder es herrscht bei ihm vielleicht auch die Überzeugung vor, daß er und sein Reich von dem Einflüsse der radikalen Republik und ihrer Propa- ganda nichts zu befürchten haben. Bei dieser Sachlage möchte ich es fast bezweifeln, daß derartige Vorstellungen, wie sie sich der in der

* Er war von einem ehemaligen russischen, in Paris lebenden Offizier Baron von der Osten-Sacken angeregt worden.

210

Anlage genannte russische Offizier denkt, von erheblicher Wirkung auf die Entschließungen des Kaisers Alexander sein würden. Jeden- falls müßten sie, um diesen Zweck zu erreichen, von einer Seite kommen, bei der der Zar nicht interessierte Nebenabsichten vermutet, und sie müßten mit einer gewissen beharrlichen Konsequenz angebracht werden. Dem Gewicht der Überzeugungsgründe, die ihm von deut- scher Seite vorgetragen werden, wird sich der russische Kaiser viel- leicht nicht ganz verschließen, aber daß sie sein Handeln wesentlich beeinflussen könnten, ist unter den obwaltenden Verhältnissen kaum anzunehmen.

Rotenhan

Nr. 1504

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 248 St. Petersburg, den 5. August 1891

Bei meiner am 1. August erfolgten Rückkehr nach St. Petersburg fand ich alle meine russischen und diplomatischen Bekannten unter dem überwältigenden Eindruck, den die Begeisterung der Volksmassen bei der Einfahrt der französischen Schiffe in die Newa und beim Emp- fang ihrer Offiziere im Stadthause hervorgebracht hatte. Ruhige und erfahrene Beobachter versichern, in keinem Lande eine so leidenschaft- liche und dabei so naiv-herzliche Massendemonstration gesehen zu haben, und die Russen geben zu, daß selbst in den feierlichsten Mo- menten patriotischer Begeisterung, zum Beispiel, als der Zar nach der Krönung auf die rote Treppe im Kreml trat, sich kein größerer Enthusiasmus gezeigt hat, als wenn die französischen Seeleute sich auf dem Balkon der Duma zeigten. Bisher war es russischen Volks- haufen noch niemals gestattet worden, für andere Zwecke als für kirchliche Feiern oder loyale Huldigungen die Straßen stundenlang zu füllen oder gar von ihrem Geschrei widerhallen zu lassen; hiermit ist jetzt der Anfang gemacht, und die Muschiks haben sich überzeugen können, daß es in ihrer Macht steht, die zahlreiche und gefürchtete Polizei in eine Lage völliger Ohnmacht zu versetzen.

Es war wohl nicht weise von der russischen Regierung, aus übler Laune gegen den Dreibund Demonstrationen zu gestatten und sogar zu provozieren, durch welche die Massen lernen, ihr Schwergewicht zur Geltung zu bringen i; wenngleich hiervon für den Augenblick keine üblen Folgen zu erwarten sind, so darf man sich doch darüber keiner Täuschung hingeben, daß der Zar heute weniger frei in seiner Ent- schließung über Krieg und Frieden ist, als wie er es vor vierzehn Tagen war 2.

«4' 211

Die Verleihung des Andreas-Ordens an den Präsidenten Carnot bezeichnet die erste Stufe, die Marseillaise an der Hoftafel in Peter- hof die zweite, die Entfesselung der Volkshaufen die dritte 3.

Je größer die Raserei der Massen war, um so sicherer konnte man erkennen, wie fern ihnen alle Kriegslust Hegt; der frenetische Jubel entsprang nicht aus dem Wunsche, gemeinsam mit den fran- zösischen Freunden zum Kampfe auszuziehen, sondern aus der Be- freiung von der Furcht, von den Deutschen und von den Bundes- genossen des deutschen Kaisers überfallen zu werden. Die Zeitungen und namentlich der von den niederen Klassen vielgelesene ,,Swet" haben es wirklich dahin gebracht, daß das russische Volk sich von uns bedroht glaubt und sich jetzt durch die Freundschaft mit den Franzosen sicher fühlt.

Die Gäste haben im ganzen eine gute Haltung bewahrt; sie haben sich weder durch die ihnen aufgezwungenen Libationen noch durch die fast erdrückenden Ovationen zu politischen, hochmütigen oder für die Deutschen verletzenden Äußerungen hinreißen lassen; in den Tisch- reden und in den zahlreichen Antworten, zu welchen Admiral Gervais oder Offiziere des Geschwaders durch russische Ansprachen genötigt wurden, ist keine chauvinistische oder gehässige Anspielung zu ent- decken. Die Zudringlichkeiten des Petersburger Pressekomitees unter Führung des Herrn Komarow vom „Swet" wurden taktvoll zurück- gewiesen. Aber auch von russischer Seite sind trotz lächerHcher Über- schwenglichkeit und weinseliger Zärtlichkeit keine groben Verstöße begangen worden; die einzige Rede, in welcher Hindeutungen auf gemeinsame Gegner vorkommen, war diejenige, mit welcher der ehe- malige Bürgermeister von Kronstadt Staatsrat Wolkow die Ankommen- den in russischer Sprache begrüßte; der französische Admiral, dem sie verdolmetscht wurde, antwortete höflich, aber kurz und taktvoll abweisend; Herr Wolkow aber ist nach Petersburg zitiert worden.

Buchstäblich ist also der Befehl des Zaren, daß die Freundschaft mit Frankreich offen, feierlich und demonstrativ zu glänzendem Aus- drucke komme ohne Beleidigung oder Herausforderung anderer Mächte, befolgt worden. Tatsächlich aber haben diese Demonstrationen dem Volke gelehrt, daß es politische Regungen mit imposanter Massen- wirkung zum Ausdruck bringen kann.

Auf die inneren Zustände Rußlands dürfte der französische Besuch eine stärkere Wirkung ausüben als auf die internationalen Beziehun- gen, abgesehen von dem unberechenbaren Effekt auf die Revanche- partei*; er hat der Welt nichts Neues gezeigt, indem er vielen lärmen- den Beweisen gegenseitiger Zuneigung einen neuen, freilich den lautesten hinzufügte, aber er hat der Volksmasse und ihren Führern, welche zum Kriege drängen, um das autokratische System zu stürzen, ihre Macht erkennen lassen. Diesen Eindruck werden die französi- schen Gäste mit in ihre Heimat nehmen und dort berichten, daß auf

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die Entschlüsse des Zaren ein gewaltiger Druck ausgeübt werden könnte*.

Am 3. August/22. Juli abends, am Schluß des glänzenden Festes in Peterhof, verabschiedeten sich die französischen Marineoffiziere von den russischen Majestäten mit dem stürmischen Rufe: „Vive l'Empereur, vive rimperatrice!" Diese Szene wird mir vom dänischen Gesandten als sehr gelungen und eindrucksvoll geschildert; er fügt hinzu, es habe so ausgesehen, als wenn die französischen Herren noch auf ein Abschiedswort des Zaren gewartet hätten; es blieb aber bei huldreicher Verneigung der Majestäten.

Am folgenden Morgen verließ die Eskader die Reede von Kron- stadt, um in Björkoe an der finnländischen Küste Kohlen einzunehmen. Der „Regierungsbote" begleitet ihre Abfahrt mit nachstehenden Be- trachtungen:

„Tout le monde sait qu'au banquet donne au palais de Peterhof le 16 juillet Sa Majeste l'Empereur, levant son verre, a prononce ces paroles hautement significatives:

,A la sante de Monsieur Carnot, president de la republique, ä la prosperite de la flotte frangaise et particulierement ä l'escadre de l'amiral Gervais.*

A titre de commentaire de ces augustes paroles les douze journees du sejour fait chez nous par les representants de la flotte frangaise ont ete une serie de manifestations sympathiques sans exemple et d'une profonde portee.

Si Jamals il fut donne ä quelqu'un de cons tater de visu quelles proportions prend en Russie chaque parole de Tauguste Souverain c'est bien aux marins de la glorieuse flotte frangaise qui viennent de nous quitter. Elle est longue la liste des grandioses demonstra- tions des ardentes et sinceres sympathies que le peuple russe nourrit pour le peuple frangais et cependant aucun ecart accidentel, aucune allusion desagreable pour qui que ce soit n'ont assombri ces douze journees de festivites memorables, ces manifestations, dans le sens des paroles du Monarque, de la puissance silencieuse, mais reelle, de son peuple fidele."

Erst als alles vorbei war, sah ich Herrn von Giers; er hatte sich während des größten Teiles der zwölftägigen Saturnalien ferngehalten 3 und nur dem Galadiner beim Empfang der Franzosen in Peterhof und den Festen des Namenstages Ihrer Majestät beigewohnt; in der Zwischenzeit ist er in Finnland gewesen.

Der Minister war sehr unwohl; nach den Anstrengungen, welche ihm der Empfang des Königs von Serbien und das Namensfest der Kaiserin auferlegten, war er von einem akuten Blasenleiden befallen worden, welches eine schleunige Operation nötig machte; er hatte kaum das Bett verlassen, als er mich empfing und nicht ohne Er-

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mattung, aber mit großer Offenheit über das Nächstliegende, nämlich den französischen Besuch, sprach:

„Sie können sich kaum vorstellen,'' sagte Herr von Qiers, „in welcher Weise man auf mich einstürmte, als die Nachricht von der Verlängerung des Dreibundes unter Umständen ^ verkündet wurde, welche Beunruhigung, ja sogar Befürchtungen zu erregen geeignet waren; im Publikum, und nicht nur in demjenigen, welches sich sein Urteil durch die Zeitung diktieren läßt, sondern auch in staatsmänni- schen Kreisen* glaubte man, daß die Tripelallianz aus einer defensiven zu einer offensiven sich umgestaltet habe; ernste Männer wendeten sich an mich mit der Frage: ,Sind wir wirklich bedroht?', in Briefen aus dem Innern des Reiches, auch in anonymen Zuschriften wurde mir dieselbe Besorgnis ausgesprochen. Mein hoher Gebieter blieb dabei ziemlich ruhig; es war ihm wohl unangenehm, daß die Sache soviel Aufsehen machte und so scharf gegen uns zugespitzt wurde *5, aber diese Stimmung dauerte nicht lange, und die Berichte unserer Botschafter trugen viel dazu bei, die Beunruhigung zu mildern; Graf Schuwalow und Fürst Lobanow stellten bald die Tatsachen in das richtige Licht."

In den Äußerungen des Herrn Ministers finde ich die Bestätigung derjenigen Eindrücke, welche ich vor meiner Unterredung mit Seiner Exzellenz im Verkehr mit Leuten aus allen Schichten der Petersburger Bevölkerung empfangen hatte: man fühlte sich hier nicht nur isoUert, sondern bedroht, und man erkannte als notwendig, den sensationellen Erscheinungen"^, unter welchen die Erneuerung des Dreibundes zutage trat, eine sensationelle Manifestation gegenüberzustellen.

Im ferneren Verlaufe unseres Gespräches erzählte mir Herr von Giers einiges aus den beiden Unterhaltungen, welche er mit dem Konteradmiral Gervais an der kaiserlichen Tafel gehabt hat. Der französische Seemann hat von vornherein versichert, daß seine Aufgabe keine politische sei, sondern darin bestehe, die Sympathien Frankreichs für Rußland und dessen Herrscher zum Ausdruck zu bringen; späterhin hat er seine Freude über den glücklichen Erfolg und seinen Dank für die ihm zuteil gewordene Aufnahme ausge- sprochen, und Herr von Giers hat dem Admiral zugestimmt, als dieser sagte ,,qu'il est bon de montrer qu'on a des amis".

Zum Schlüsse beehre ich mich, zur Vervollständigung der früheren Berichte einige Zeitungsausschnitte beizufügen, in welchen die letzten

* Es scheint, daß zu diesen „staatsmännischen Kreisen" Minister von Giers selbst gehörte; jedenfalls ist er seinerseits im Hinblick auf die Erneuerung des Drei- bundes in der zweiten Hälfte Juli, nahezu gleichzeitig mit der Ankunft des fran- zösischen Geschwaders in Kronstadt, an den französischen Botschafter de Laboulaye mit Eröffnungen herangetreten, die die Verstärkung des französisch-russischen Ein- vernehmens bezweckten. Eben damals (23. Juli) wurde von Ribot der erste Ent- wurf zu einem französisch-russischen Abkommen nach Petersburg gesandt. Siehe das französische Gelbbuch L'Alliance Franco-Russe (191S), Nr. 4 ff.

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Festlichkeiten geschildert werden, die man für die vergötterten Gäste veranstaltet hat, sowie das etwas theatralische Benehmen der letzteren, besonders bei ihrem Besuche im Alexander-Newski-Kloster.

V. Seh wein itz

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Stimmt 2 richtig ^ gut * ja s Umstände So?! welche? e ??! ^ welche?

Nr. 1505

Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia,

an den Reichskanzler von Caprivi*

Ausfertigung

Nr. QO Sinaia, den 4. August 1891

Ganz vertraulich

pp. Auf die allgemeine Lage der Dinge in Europa übergehend, bemerkte Graf Kälnoky, daß die Erneuerung der Dreibundsverträge für seinen Geschmack etwas zu sehr „mit Pauken und Trompeten" Europa angekündigt worden sei. Es wäre dies aber nicht anders möglich gewesen, da Herr von Rudini es im Interesse der Befestigung seiner vielfach angegriffenen Stellung gewünscht habe**. Die Nach- richt von der Fortdauer des Dreibunds habe die Franzosen in hohem Grade irritiert. „Irritiert, nicht decouragiert," wiederholte der Mini- ster, „die Franzosen fühlen sich militärisch jetzt zu stark, als daß sie sich decouragieren ließen i." Sogar der sonst maßvolle französische Botschafter in Wien, Herr Decrais habe nach dem Bekanntwerden der Aufrechterhaltung der Tripelallianz über die „Isolierung" Frank- reichs geklagt und gereizt ausgerufen: „Ainsi, nous restons seuls et tout le monde nous tourne le dos, excepte la Russie^." Der Ärger der Franzosen und Russen über das Fehlschlagen ihrer Hoffnungen hinsichtlich Italiens ^ mache sich jetzt in Kronstadt Luft. Vielleicht sei dies kein Unglück, sondern werde eher als Derivatif wirken. Jeden- falls würden die Kronstädter Vorgänge die europäische Situation nicht wesentlich verändern. In Kronstadt sei ein Feuerwerk abgebrannt worden, nach dessen Verpuffen die Gegend die gleiche bleibe wie zuvor. Man könne aber darauf neugierig sein, welche Rückwirkung auf die inneren Verhältnisse Rußlands das Abspielen der „Marseillaise" ausüben werde. Vielleicht sei das ein für die innere Geschichte Ruß- lands ebenso bedeutsames Ereignis wie seinerzeit die Freisprechung der Vera Sassulitsch. Auf ein förmliches Bündnis mit Frankreich werde

* Den hier übergangenen Teil des Bülowschen Berichts über Unterredungen, die er auf der Durchreise in Wien am 1. August mit Graf Kalnoky gehabt hatte, siehe in Kap. XLVI, Nr. 1471, und in Bd. IX, Kap. LV, Nr. 2112.

** Vgl. Kap. XLV, Nr. 1429. Deutscherseits hat man mit Grund in Abrede ge- stellt, einen besonderen Eklat bei der Erneuerung des Dreibundes angewandt zu haben. Kap. XLIX, Nr. 1621 und 1622.

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sich Kaiser Alexander auch jetzt nicht einlassen, wenigstens nicht auf ein Offensivbündnis. Eine sehr intime Entente habe ja auch schon vor Kronstadt zwischen Russen und Franzosen bestanden. Beide Mächte seien so fest gewillt, Hand in Hand zu gehen, daß gegenüber diesem Entschlüsse sogar der an und für sich eigentlich unüberbrück- bare Gegensatz zwischen Frankreich, der fille aimee de l'Eglise, und dem schismatischen Rußland in den Hintergrund trete. Rußland sei sogar großmütig oder klug genug, Frankreich gewisse Rück- sichten gegenüber seiner clientele cathoHque im Orient zu erlauben, schon damit diese Klientel nicht das österreichische Protektorat auf- sucht. Übrigens stehe jetzt Rußland eine Hungersnot bevor, die nach der Ansicht des Grafen Wolkenstein kalmierend auf die dortigen Ultras einwirken werde. Ich verschwieg dem Grafen Kälnoky nicht, daß nach meiner Kenntnis russischer Zustände weder Hungers- noch Finanz- not eine russische Regierung vom Vorgehen abhalten würden, sofern dieselbe ein solches aus anderen Gründen für indiziert erachten sollte; es möchte sich auch angesichts wirtschaftlicher Kalamitäten in Ruß- land für Österreich-Ungarn empfehlen, militärisch möglichst stark zu bleiben und immer mehr zu werden. Graf Kälnoky stimmte dieser Auffassung bei, indem er hierbei bemerkte, daß es freilich geboten sei, sein Pulver trocken zu halten. Wenn der Krieg zurzeit nicht wahr- scheinlich sei, so wäre andrerseits die Fortdauer der gegenwärtigen Spaltung Europas in zwei feindliche Lager auch ziemlich gewiß und lasse unliebsamen Eventualitäten die Türe offen. Auch Fürst Lobanow glaube, daß der gegenwärtige Zustand der Dinge in Europa und spe- ziell der Antagonismus zwischen Rußland-Frankreich auf der einen und dem Dreibund auf der anderen Seite noch lange anhalten werde*, pp. B. von Bülow

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.: i Richtig '^ oui ^ gut

* Der Europäische Friede ist wie ein Herzleidender. Er kann lange, sehr lange leben. Aber er kann plötzlich auf das Unerwartetste todt sein.

Nr. 1506

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marscliall an den Botschafter in Petersburg von Schweinitz

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Raschdau

Nr. 287 Berlin, den 19. August 18Q1

Ew. pp. tun in dem Bericht Nr. 248* der „sensationellen Er- scheinungen" Erwähnung, unter denen die Erneuerung des Dreibundes

Siehe Nr. 1504. 216

zutage getreten sei. In ähnlicher Weise äußerte sich Herr von Giers zu Ew. pp. Es wird mir von Interesse sein zu erfahren, welche spe- ziellen Erscheinungen Ew. pp. und Herr von Giers dabei im Auge hatten. Marschall

Nr. 1507

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler

von Caprivi

Entzifferung

Nr. 272 St. Petersburg, den 22. August 1891

Antwort auf Erlaß Nr. 287 vom 19. d. Mts.

Wenn Herr von Giers und Leute aus verschiedenen gesellschaft- lichen Kreisen von sensationellen Erscheinungen sprachen, unter denen der erneuerte Dreibund zutage trat, so meinten sie damit die Be- suche, welche der Kaiser von Österreich-Ungarn und der König von Italien dem englisrhen Geschwader in Fiume*, beziehungsweise in Venedig** machten, und vor allem die großartige Huldigung, welche die britische Nation Seiner Majestät dem Kaiser und König dar- brachte *'''*.

An den Dreibund hatten sich die Russen allmählich, wenn auch mürrisch gewöhnt; nach Crispis Sturz glaubten sie, ihn zerfallen zu sehen; als er dennoch erneuert wurde, waren sie verstimmt; als aber die englische Regierung sich anzuschließen schien, und das englische Volk seine Befriedigung demonstrativ zu erkennen gabf, da waren sie bestürzt und fühlten sich bedroht. Schweinitz

Nr. 1508

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 252 St. Petersburg, den 8. August 1891

Obwohl die Nachricht der „Times", betreffend den Abschluß eines Vertrages zwischen dem Konteradmiral Gervais und den russischen

* 23. Juni. ** 6.-8. Juli.

*** Vgl. Bd. VIII, Kap. LH, Nr. 1726, Fußnote **.

•f Auch in dem französisch-russischen Schriftwechsel über die Anfänge des Zwei- bundes ist immer wieder die Rede von den „circonstances qui ont caracterise le renouvellement de la Triple AUiance" als der causa movens für den französisch- russischen Akkord. Unter diesen „circonstances" steht an erster Stelle „l'adhesion plus ou moins probable de la Grande-Bretagne aux visees politiques que cette alliance poursuit." Troisieme Livre jaune Fran^ais. L'AlIiance Franco-Russe (1918), Nr. 4, 5, 10, 17, 18.

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Ministern des Äußern, des Krieges und der Marine, nicht ernst ge- nommen zu werden verdient, so will ich doch nicht unterlassen, sie ausdrücklich als unbegründet zu bezeichnen.

Es ist allerdings als gewiß anzunehmen, daß eine Verständigung über strategisches und nautisches Zusammenwirken zwischen den beiderseitigen Autoritäten in der Kriegs- und Marineverwaltung längst getroffen ist, und daß General Obrutschew, der sich auch in diesem Sommer in Frankreich aufhält, und zwar noch länger als gewöhnlich, mit den Generalen Miribel* und Boisdeffre** in stetiger und enger Verbindung steht.

Daß aber Admiral Gervais mit Herrn von Giers, General Wan- nowski und Admiral Tschichatschew Konferenzen gehabt habe, ist nicht richtig, wie sich aus räumUchen und zeitHchen Angaben nach- weisen ließe.

Sowohl Herr von Giers als auch Herr de Laboulaye sprachen mit mir über die „Times^-Nachricht; beide konnten sich dabei sarkasti- scher Anspielungen auf die Art, wie die Zeit des französischen Admirals hier durch Ovationen ausgefüllt wurde, kaum enthalten.

V. Schweinitz

Nr. 1509

Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 1Q6 Paris, den 20. August 1891

Die Freude der Franzosen über die Besiegelung der russischen Freundschaft hat die Hitzköpfe zu einem derartigen Übermaß von Kundgebungen der Russenverehrung verführt, daß sie damit auf dem besten Wege waren, die Errungenschaften, die sie feierten, aufs Spiel zu setzen. Sie waren nahe daran, eine ernste Sache zum Mißfallen der neuen Freunde mit dem Fluch des Lächerlichen zu beladen i, und noch näher daran, der Verbindung der Republik mit der Autokratie eine Bedeutung unterzuschieben, welche mit den beiderseitigen Ver- sicherungen friedfertiger Absichten unvereinbar scheint.

Die französische Regierung hat diese Gefahren schon voraus- gesehen, als in Kronstadt, St. Petersburg und Moskau die Wogen der Begeisterung höher gingen, als man erwartet hatte und es an höchster russischer Stelle genehm sein mochte, und sie hat sich be- eilt, in der ihr nahestehenden Presse dringend zu mahnen, bei er- widernden russophilen Kundgebungen Maß und Ziel zu halten. Zu- gleich hat sie Anordnungen getroffen, daß Demonstrationen, welche

* Chef des Generalstabes der französischen Armee. ** Souschef des Generalstabes.

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t

einen feindseligen Anstrich gegenüber anderen Nationen haben sollten, nach Kräften vorgebeugt und entgegengetreten werde, eine Vorsorge, welche nicht nutzlos war, wie unter anderm das Gebaren einer Pa- triotenschar beweist, welche, nachdem sie vor der Wohnung des Groß- fürsten Alexis demonstriert und in dem benachbarten Tuileriengarten die russische Hymne verlangt und stürmisch bejubelt hatte, diesen Huldigungen einen Kommentar durch Kundgebungen vor dem Straß- burgstandbild geben wollte, wie ferner der Verlauf einer von ehe- maligen Boulangisten arrangierten Volksversammlung zeigt, wo un- aufhörlich die russische Hymne, die Marseillaise und die Rufe „Vive la France, vive la Russie, vive I'Alsace-Lorraine" ertönten.

Den offiziösen Warnungen hat sich allmählich der größere Teil der unabhängigen Presse anzuschließen für angezeigt gehalten. Nament- lich dann, als die dem Großfürsten Alexis in Paris und Vichy dar- gebrachten Huldigungen zu einer unerträglichen Belästigung des hohen Herrn ausarteten, und als ein von der russischen Botschaft ausgehen- der Wink sagte, daß übertriebene Verherrlichungen, wie nicht minder chauvinistische Auslegungen der russisch-französischen Verbindung durchaus nicht dem Sinne derselben entsprächen 2 und in St. Peters- burg gewiß mißfällig bemerkt werden dürften, haben dieselben Zei- tungen, welche noch kurz vorher selbst vom Taumel ergriffen waren, nicht ernst genug zur Bewahrung der Ruhe, des Taktes, der Würde auffordern können.

Die Presse hat denn auch eine gewisse Mäßigung der Freuden- ausbrüche erreicht, weniger vielleicht mit schulmeisterlichen Ermahnun- gen als mit gelegentlicher satirischer Geißelung der zur Karikatur verzerrten Russophilie. Immerhin ist die Erregung der Gemüter noch nicht geschwunden, und wenn auch in Paris der Begeisterungsrausch einer ruhigeren und tieferen Betrachtung gewichen ist, so scheint die Bevölkerung der Provinz noch immer das unbefriedigte Bedürfnis zu haben, in lärmenden und stillen Kundgebungen der mannigfachsten Art ihren Gefühlen der Freude und des Dankes Ausdruck zu geben.

Wenn es bei allen diesen Demonstrationen nicht in häufigeren Fällen und größerem Umfange wie oben erwähnt zur Offenbarung feindseliger Gedanken in bezug auf Deutschland, nicht zu bedenk- licherem Auflodern des Revanchefeuers gekommen ist, so mag dies weniger der mahnenden Vorsicht von Regierung und Presse als der in die Massen eingedrungenen Ahnung zu danken sein, daß es immer- hin fraglich erscheint, ob das, was in Kronstadt und St. Petersburg sich vollzogen, dahin zu deuten sei, daß Frankreich in allem und jedem Falle auf genügende russische Hülfe zu rechnen habe. Es scheint das dunkle Gefühl zu bestehen 3, daß trotz aller freundschaft- lichen Gesinnung das kaiserliche Wort nicht zu bestimmten Zielen oder wenigstens nicht zur Unterstützung französischer aggressiver Ab- sichten verpfändet sei. Zv/ar hat man sich bereits daran gewöhnt,

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schlechtweg von einem russisch-französischen „Bündnis" zu sprechen, und nahezu die gesamte Presse und in derselben namhafte Politiker bedienen sich geläufig dieses Ausdruckes in dem Tone, als ob sie von einer offenbaren Tatsache redeten. Aber keine einzige Zeitung hat bisher die so naheliegende Frage zu lösen vermocht oder auch nur zu lösen versucht, ob und wieweit die gegenseitigen Verbindlich- keiten festgelegt sind. Die Presse hat allerdings guten Grund, der Erörterung dieser Frage aus dem Wege zu gehen, müßte sie doch andernfalls zur Erkenntnis gelangen, daß es der Politik Rußlands nach wie vor nicht entspricht, sich die Hände zu binden, und daß es dem Kaiser nach wie vor widerstrebt, eine Verbindung einzugehen, welche ihn in die Lage bringen kann, einem Staate von so rev'olutionärer Vergangenheit und Tendenz wie Frankreich Dank zu schulden*. Die französische Presse geht daher entweder vorsichtig schweigend oder mit der anmaßenden und bedenklichen Versicherung über diese Schwie- rigkeiten hinweg, daß eine auf so tiefen Sympathien der beiden Völker gegründete Verbindung keiner diplomatischen Ratifizierung bedürfe*. Ist auch zu befürchten, daß die Presse mit derartigen gewagten Aus- legungen sich selbst und die Nation in die Hoffnung wiegt, daß im kritischen Moment die elementare Gewalt des Volkswillens der einzig ausschlaggebende Faktor sein werde, so scheinen doch vorerst noch die Geister vor dem Gedanken, die russische Hülfsbereitschaft durch eine Herausforderung Deutschlands auf die Probe zu stellen, zurück- zuscheuen. Denn es ist nicht zu verkennen, daß die französische Nation im großen und ganzen friedensbedürftiger und friedliebender ist und weniger die Gedanken unablässig auf die Wiedergewinnung Elsaß- Lothringens gerichtet hat, als der Lärm berufsmäßiger Patrioten und die üblen Gewohnheiten der Presse es glauben machen. Vor allem aber will sie, soll es einmal zur Entzündung eines furchtbaren Krieges kommen, nicht als diejenige erscheinen, welche die Fackel in den Brenn- stoff geschleudert hat, und selbst von denen, welche stets sich in Deklamationen über zu sühnendes Unrecht ergehen, sind nicht wenige, welche eine Lösung der elsaß-lothringischen Frage auf friedlichem Wege in den Bereich der Möglichkeit ziehen.

* Der Optimismus der deutschen Botschaft in Paris, der auch in den Berichten des Grafen Münster wiederholt anklingt, war keineswegs gerechtfertigt. Nahezu gleichzeitig mit Schoens Bericht vom 20. August ging jener Austausch von Schreiben zwischen Giers und Ribot (vom 21. bzw. 27. August) vor sich, der nach dem Bericht des Grafen de Montebello vom 16. Juli 1892 einem Bündnis gleichkam. Französisches Gelbbuch. L'Alliance Franco-Russe, Nr. 17, .\nnexe, Nr. 18, Nr. 42. Die charakteristischen Worte Graf Montebellos lauten: „En resume, les lettres echangees au mois d'aoüt dernier constituent un engagement tellement formel qu'il equivaut ä un traite. C'est ainsi que les Russes l'envisagent. L'em- pereur, en prenant cet engagement, en a compris toute la portee. Si la guerre eclatait demain, il se considererait comme engage ä unir ses forces aux notres en vue d'une action commune."

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Aus der Besorgnis, die russisch-französische Verbindung auf eine zu scharfe oder eine vorzeitige Probe zu stellen, dürfte es sich auch erklären, daß die Presse mit verschwindenden Ausnahmen bei den Erörterungen der russisch-französischen Freundschaft es geradezu ängstlich vermieden hat, die sonst so geläufige elsaß-lothringische Frage hereinzuziehen^. Mag auch in vielen, wenn nicht in den meisten Seelen durch die Kronstädter Ereignisse der Wunsch nach Auswetzung der Scharte von 1870—71 in einer oder der anderen Art neu belebt worden und die Hoffnung auf Erfüllung dieses Wunsches das Grund- gefühl der jetzigen freudigen Erregung sein, so ist doch das, was in den publizistischen Lobpreisungen der russischen Freundschaft und in den mannigfachen russophilen Kundgebungen des Volkes offen zum Ausdruck kommt, zunächst weniger ungestümes Drängen nach kriegeri- schen Lorbeern, Revanche und Eroberungen als vielmehr die freudige Genugtuung, nach jahrzehntelanger Erniedrigung und politischer Isolie- rung dank der Gunst eines mächtigen Freundes und der eigenen Kraft die Stellung einer allseitig geachteten, vielseitig gefürchteten Macht wiedererlangt, die Fähigkeit gewonnen zu haben, den Frieden, den man bisher grollend geduldet, nunmehr stolz zu gewähren <5. Je mehr und je tiefer die Presse sich mit der Bedeutung der russisch- französischen Verbindung beschäftigt, desto mehr tritt dieses Gefühl stolzer Genugtuung, der Befreiung von einem Alp, der Sicherheit gegen jede Gefahr als leitender Gedanke zutage, und es tut demselben im ganzen keinen Eintrag, wenn einzelne ihrer Phantasie etwas freien Flug lassen und Frankreich bereits als den Magnet sehen, welcher wie ehedem die zivilisierte Welt anzieht und den Mittelpunkt einer neuen Staatengruppierung bildet, gegenüber welcher der Dreibund zur Ohnmacht verurteilt ist.

Der gleiche Ton stolzen, aber nicht herausfordernden Selbst- bewußtseins'^ klingt auch aus den Äußerungen hervor, mit welchen in den jüngsten Tagen namhafte Staatsmänner wie Meline, Ferry, die Minister Barbey* und Rouvier und viele andere Politiker und höhere Beamte aus verschiedenen Anlässen, meist gelegentlich der Eröffnung der Sitzungen der Generalräte, an die Öffentlichkeit getreten sind.

Freilich dürfte es zu weit gegangen sein, aus allen diesen An- zeichen und Beteuerungen friedfertigen Selbstgefühls den Schluß zu ziehen, daß Frankreich nun der neuen Errungenschaften in beschau- licher Ruhe sich freuen und genügen werde, daß eine Störung des Friedens von ihm nicht zu fürchten sei. Es bleibt immer möglich, wenn nicht wahrscheinlich, daß der Ehrgeiz der Nation oder auch nur einzelner der Versuchung nicht widerstehen wird, an einer weiteren Verschiebung des Bestehenden zugunsten Frankreichs zu arbeiten, eine Versuchung, welcher gerade das Dunkel, das über dem Maß der

Der Marineminister.

221

russisch-französischen Verbindlichkeiten schwebt, mehr Vorschub leisten dürfte als ein offenkundiges Bündnis, in welchem der beiderseitige Tatendrang durch scharf gezogene Grenzen eingedämmt wird. So- dann aber und hier liegt die größere Gefahr bleibt nach der nunmehrigen Stärkung des französischen Machtgefühls mehr wie je^ mit unberechenbaren Ausbrüchen des Chauvinismus zu rechnen, der jetzt sich einigermaßen beherrscht, durch an sich geringfügige Vor- gänge aber, welche den französischen Stolz verletzen, plötzlich unheil- voll entfacht werden kann. Klingt doch schon in diesen Tagen, wenn auch gedämpft, ein Ton aus der Presse, welcher zu sagen scheint, daß man Kränkungen nicht mehr geduldig hinnehmen werde.

Daß die französische Regierung ihrerseits zurzeit den guten und festen Willen hat, verhängnisvolle Aufwallungen des chauvinisti- schen Geistes zu hindern und zu meistern, ist wohl nicht zweifelhaft. Fraglich aber ist es, ob und wie lange das Maß ihres Könnens dem- jenigen des WoUens entspricht 9, und fraglich ferner, ob der gute Wille in gewissen Momenten und unter gewissen Bedingungen, eigener oder fremder Eingebung folgend, nicht gleichfalls erlahmt.

Nicht minder bedeutsam ist die Steigerung des französischen Machtgefühls, welches durch die Rückwirkung der äußeren Erfolge der Republik auf die Gestaltung der Dinge im Innern erzeugt wird.

Mehr wie irgendein anderes Ereignis ist die ausdrückliche und feierliche Anerkennung der französischen Republik als bündnisfähige Macht seitens des Beherrschers des autokratischsten europäischen Staates geeignet, die Erstarkung der Republik im Innern zu vollenden, den Widerstand der Feinde des gegenwärtigen Regimes endgültig zu brechen. War doch von jeher eines der Hauptargumente, mit welchem die Monarchisten die republikanische Staatsform bekämpften, der Vor- wurf, daß sie die Verbündung mit einem autokratischen Staate un- möglich mache. Stets wurde der Abschluß eines russisch-französischen Bündnisses als eine Rettung Frankreichs aus unerträglicher Lage hin- gestellt, welche nur von einem monarchischen Regime zu erwarten sei. Angesichts der Kronstädter Vorgänge, in Verbindung mit der An- näherung des Vatikans an die Republik müssen nun die Monarchisten gestehen, daß diese durch weise Politik es verstanden hat, sich auch bei den grundsätzlichsten Feinden ihrer Form und ihres Wesens Ver- trauen, Achtung und Freundschaft zu erwerben, und sie sind patriotisch oder klug genug, die Republik zu diesen Errungenschaften warm zu beglückwünschen. Bereits hat der „Soleil", das Organ der Orleanisten, den Beginn mit der Anerkennung und Lobpreisung der Republik und ihrer jetzigen Leiter gemacht, ohne bei anderen monarchistischen Blättern beachtenswerten Widerspruch zu finden. Auch aus dem bonapartistischen Lager hat der sonst so streitbare Cuneo d'Ornano friedliche Gesinnungen erkennen lassen.

Mögen diese anerkennenden Kundgebungen von monarchistischer

222

Seite aufrichtig sein oder etwa auf dem Gedanken basieren, daß die Verwickelungen, welche die russisch-französische Verbindung herauf- beschwören kann, schließlich der republikanischen Staatsform verhängnis- voll werden dürften, so sind doch die Repubhkaner berechtigt, in denselben eine Waffenstreckung der Monarchisten zu erkennen, welche, nachdem die Kirche sie bereits verlassen, zurzeit jeder äußeren Stütze entbehren, an welcher sie sich aus ihrer Ohnmacht emporrichten könnten. Wie weit und unter welchen Bedingungen die Monarchisten nun in das republi- kanische Lager übergehen, muß die parlamentarische Zukunft lehren. Schon jetzt aber machen sich einzelne Desertionen und bei manchen der in diesen Tagen zusammengetretenen Generalräte eine Verschiebung von rechts nach links bemerkbar. An den Republikanern wird es mehr wie je sein, den geschlagenen Feinden annehmbare Friedensbedingun- gen zu stellen und sie wenn auch nicht zu aufrichtigen, so doch zu nützlichen Freunden zu machen. Herr Constans hat bereits vor den jüngsten monarchistischen Friedenserklärungen den Ton angegeben, indem er in einer gelegentlichen Rede erklärte, daß die Republik jedem guten Willen versöhnlich die Arme öffne.

Noch eine weitere Folge dürfte die russisch-französische Ver- bindung haben, das ist die Stärkung der jetzigen Regierung und der ministeriellen Stabilität überhaupt. Die Nation und das Parlament werden es der Regierung, welche es verstanden hat, das Vertrauen des Zaren und des Papstes zu gewinnen, dem Lande den Innern Frieden zu geben, Frankreich zu der so lange ersehnten Höhe der Macht und des Ansehens zu heben, dauernd Dank wissen, sie williger wie je unterstützen und sich vor Spaltungen und Schwankungen be- wahren, welche bedenkliche Wechsel herbeiführen, der Welt wieder das Schauspiel maßloser Zerrissenheit und Unbeständigkeit geben und das wertvolle Vertrauen der neuen Freunde erschüttern müßten.

Alles in allem genommen, darf wohl gesagt werden, daß die Summe der neuerlichen äußeren und inneren Erfolge der Republik bei der Nation ein Gefühl der Kraft erzeugt hat, von dem es angesichts des nationalen Temperaments fraglich ist, ob es sich lange damit begnügen wird, sich friedlich zu betätigen lo.

V. S c h o e n

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:

1 Sie haben es auch gethan

2 weil sie noch zu früh seien!

ä beim Volk gewiß nicht, aber im kleinen Kreise ruhig und objektiv denkender

Politiker. * es liegt aber doch ein Körnchen Wahrheit drin.

5 ist nicht richtig siehe den Leitar[tikel] des Figaro „Apres Cronstadt", da steht wörtUch, Russland und Frankreich werden zusammen für eine richtige Ver- theilung der Gränzen in Europa sorgen und Elsaß-Lothringen käme dabei wieder an Frankreich

6 eventuell ihn auch flott zu brechen

223

' Herr v. Schoen haben die Rosabrille aufgehabt wie mir scheint

8 ja

9 ja

richtig

Schlußbemerkung des Kaisers:

Da letztres sehr unwahrscheinlich ist so müssen wir uns nach Kräften be- mühen möglich gestärkt und fertig zu sein wenn der Sturm ausbricht

Nr. 1510 Bericht des Militärattaches in Paris Rittmeisters von Funcke

Auszug. Abschrift

Nr. 176 Paris, den 30. August 1891

Bei dem seit dem Besuche des französischen Geschwaders in Kronstadt in ganz Frankreich entflammten Enthusiasmus für Ruß- land ist es mit Bestimmtheit anzunehmen, daß im bevorstehenden Manöver die Rufe „Vive la Russie'' überall erschallen werden, wo sich der russische Militärattache zeigen wird, und dazu wird um so mehr Gelegenheit sein, als er als ältester der Militärattaches immer an deren Spitze erscheinen wird. Die Ovationen für Rußland werden dadurch immer neue Nahrung erhalten.

General Baron Fredericks hat schon seit Jahren die russisch- französische Allianz und Freundschaft geschürt. Es sieht ihm ganz ähnlich und ist bisher auch nicht widerrufen, daß er dem „Temps" zufolge nach der Revue im Jahre 1888 in Ronen dem dortigen Präfek- ten und Senator M. Cordier gesagt haben soll: „Avec une pareille armee, qu'attendez-vous donc? Faites un pas en avant et nous vous ouvrirons les bras."

Im März d. Js. gelegentlich der Einweihung des Denkmals des Generals Chanzy soll er gleichfalls der Möglichkeit und Hoffnung einer „entente" zwischen Frankreich und Rußland Ausdruck gegeben haben.

Wo immer sich nur der geringste Anlaß bietet, wird jetzt in ganz Frankreich der Enthusiasmus für Rußland und die russische Freund- schaft öffentlich gezeigt.

In der Tat scheint dieselbe immer populärer zu werden, und die russischen Sympathien auch immer mehr in die französische Armee einzudringen. Kein Militärkonzert ist denkbar ohne die russische Nationalhymne und Marseillaise hinterher. Es wird dann applaudiert, „Vive la Russie" gerufen und immer wieder die russische National- hymne verlangt. Erscheint ein russischer General in Frankreich, wird er von dem französischen Offizierkorps des Ortes, den er besucht, gefeiert.

224

Bei Regimentsfestessen in Frankreicli wird stets der russischen Armee gedaclit und ihr Ovationen gebracht. Aus dem Manöverterrain liest man, daß die Häuser mit russischen und französischen Fahnen geschmückt sind. Kurz, alles deutet darauf hin, daß von den maß- gebenden Stellen alles getan oder wenigstens nichts verhindert wird, um die Sympathien für Rußland immer mehr zu verbreiten und die Interessen der beiden Armeen solidarisch zu gestalten.

In dem Maße, wie die Sympathien und der Enthusiasmus für Ruß- land zunehmen, wird in Frankreich auch der Mut zunehmen, die Anti- pathien und den Haß gegen Deutschland öffentlich zu erkennen zu geben. Von den Hunderttausenden von Franzosen, die in den letzten Wochen „Vive la Russie'^ gerufen, hat die allergrößte Anzahl „ä bas l'Allemagne" damit gemeint, nur daß das Volk noch nicht den Mut hat, es öffentlich auszusprechen,

(gez.) von Funcke

Nr. 1511 Bericht des Militärattaches in Wien Oberstleutnants von Deines

Eigenhändige Ausfertigung

Nr. 69 Wien, den 4. November 1891

Ganz vertraulich

Der Herr Chef des k. u. k. Generalstabes hat dieser Tage den russischen Militärattache interpelliert wegen der weitern Truppenvor- schiebungen und mir darüber folgendes gesagt.

Oberst von Zujew hat sofort zugegeben, daß eine weitere Kosaken- division und zwei Armeekorps in den nächsten Monaten an die West- grenze vorgeschoben werden sollen i, daß aber gegen Österreich nur ein Armeekorps und die Kosakendivision bestimmt sei, das andere Korps gegen die deutsche Grenze.

Als Exzellenz Beck dem Obersten entgegnete, dies bedeute unter den obwaltenden Umständen eigentlich keinen Unterschied, zuckte Herr von Zujew die Achseln und sagte ziemlich wörtlich: „Wenn Deutsch- land mit Frankreich Händel bekommt, schlagen wir sofort los, und zwar gegen die Deutschen mit Passion ; da Sie gezwungen sind, den Deutschen zu helfen, natürlich auch gegen Sie 2," Rußland könne es nicht darauf ankommen lassen, daß Frankreich nochmals ge- schlagen und Deutschland dann noch mächtiger werde.

Der Feldzeugmeister hat sich demgegenüber auf die Bemerkung beschränkt, wenn die Sache wirklich so liege, dann hänge die Er- haltung des Friedens allerdings unter Umständen vom Pariser Mob ab, nicht aber vom Zaren 3.

Mein russischer Kollege hat darauf nichts entgegnet.

15 Die Große Politik. 7. Bd. 225

Derselbe ist ein zweifellos sehr befähigter Kopf, plaudert aber zuweilen mit slawischer Kindlichkeit seine innersten Gedanken aus. Er ist ein Schützling der Obrutschew und Dragomirow; seine An- sichten dürften denjenigen dieser Generale nahestehen. Es ist aber auch möglich, daß die Offenherzigkeit des Obersten von Zujew nicht ganz unabsichtlich war; die Russen trachten seit Kronstadt dahin, den Österreichern bange zu machen wegen ihres Bündnisses mit uns und sie durch die ungeheuere Macht des mit Frankreich verbündeten Rußlands einzuschüchtern.

Feldzeugmeister von Beck hatte denselben Eindruck und bat um vertrauliche Behandlung seiner Mitteilungen. v. Deines

Randbemericungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Vorläufig wegen der Hungersnoth unterblieben

2 das ist doch wenigstens offenl ' sehr gut und wahr

Nr. 1512 Der Botschaf (er in Paris Graf Münster an das Auswärlige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 158 Paris, den 23. November 1891

Herr von Giers* hat hier abkühlend und beruhigend gewirkt und die Chauvinisten enttäuscht. Von schriftlichen Abmachungen ist allen Anzeichen nach keine Rede gewesen. Herr von Giers hat nur von Erhaltung des status quo gesprochen und hat das mehr betont, als selbst den Ministern lieb war, wie ich namentlich aus Äußerungen des Herrn Freycinet entnehmen konnte.

Münster

Nr. 1513 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

Berlin, den 24. November 1891 Herr von Giers** sagt, er sei mit einem besorglichen Gefühl nach Paris gegangen, er sei aber auf das angenehmste enttäuscht. Die

* Er war, nachdem mit dem Austausch der Schreiben vom August (vgl. Nr, 1509, S. 220, Fußnote) die erste Etappe des russisch-französischen Bündnisses erreicht war, am 19. November zu Besprechungen mit den französischen Staatsmännern in Paris eingetroffen. In diesen Besprechungen, über deren Verlauf wir durch ausführliche Aufzeichnungen des französischen Außenministers unterrichtet sind (Oelbbuch L'Alliance Franco-Russe Nr. 20, 21), war allerdings auch von schrift- lichen Abmachungen eingehend die Rede.

** Er war am 23. November von Paris kommend für zwei Tage in Berlin ein- getroffen, wo er von Kaiser und Reichskanzler empfangen wurde.

226

Bevölkerung sei rücksichtsvoll gewesen, man habe ihn gegrüßt, aber kein Schrei, keine Marseillaise. Er habe in den Ministern, vorzüglich Ribot, und in Herrn Carnot sehr verständige Leute gefunden und hätte nirgends Ansichten gefunden, die von den seinigen abwichen. Die Regierung wolle durchaus nicht den Krieg, und sie glaube stark genug zu sein, um Zwischenfälle unschädlich zu machen. Das Wort „Alsace'* sei nicht einmal ausgesprochen worden.

V. Caprivi ••

Nr. 1514 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig'

Berlin, den 25. November 1891 Herr von Giers, von mir darauf angeredet, daß hier verlaute, dem Zaren sei in Kopenhagen gesagt. Seine Majestät unser Kaiser habe sich abfällig über Seine Majestät den Kaiser von Rußland ge- äußert, erwiderte, er wisse nichts davon, glaube nicht, daß seinem Herrn dergleichen zu Ohren gekommen, werde sich aber zu informieren suchen und dem Grafen Schuwalow darüber schreiben. Es sei dem Zaren nicht angenehm gewesen, daß man die Erneuerung des Drei- bundes so laut verkündet habe. Daß der Zar nicht über Berlin ge- kommen, sei bei seiner Natur verständlich*. Er sei zu Höflichkeits- akten schwer zu bewegen; beispielsweise selbst der Königin Olga gegenüber. Er begreife nicht, daß man Wert auf solche Formen lege und pflege dann zu sagen: „Qu'est ce que cela lui peut faire?" Die Kronstädter Entrevue habe sich aus den gegebenen Verhält- nissen natürlich entwickelt. Wegen der Marseillaise habe Herr von Giers den Kaiser vorher gefragt. Sie sei in Kopenhagen und Stockholm gespielt worden, und der Zar habe gesagt: ,,Peux-je inventer un autre hymne?" Überdies sei es nur die Melodie und nicht der Text gewesen, die Sache habe jetzt auch eine andere Bedeutung wie vor 100 Jahren. Herr von Giers erzählte dann die bekannte Geschichte, wie der Zar bei dem Diner nach den ersten Takten gerufen: „Assez.'* Der Zar sei nach wie vor Archi-Monarchist. Er sei durchaus fried- lich und werde nie zu einem Kriege schreiten, es sei denn, daß ein allgemeiner europäischer Krieg ihn zur Teilnahme zwinge. Die Hungers- not beschäftige den Zaren sehr und wäre an sich ein Gegengewicht gegen jede kriegerische Tendenz.

Herr von Giers habe seinen Kaiser gefragt, ob er nach Paris gehen solle und die Antwort erhalten, er möge das selbst entscheiden. Er habe für gut gehalten, die Bekanntschaft der jetzigen Machthaber

* Vgl. Kap. XLIX, Nr. 1622, nebst Fußnote, S. 373.

15' 227

in Frankreich zu machen. Es sei ihm lieb, das getan zu haben. Er halte dieselben für Leute, die den Krieg nicht suchen. Er habe ihnen gesagt, daß sie nicht vergessen mögen, Deutschland sei nicht nur der Nachbar Rußlands, sondern nahe verwandtschaftHche Bande ver- bänden die Herrscherfamilien. Man habe ihm geantwortet, man begriffe das vollkommen*. Herr von Giers v^^ünscht, daß die gegenwärtige Re- gierung sich behauptet. Zu einer anderen, z. B. Herrn Clemenceau, würden die Beziehungen Rußlands andere werden, mit ihr würde das gute Einvernehmen nicht fortbestehen.

Die Nihilisten seien jetzt still; auch in Paris seien sie nicht zu spüren; sie seien aber ihrer Energie und ihres Todesmutes wegen nach wie vor gefährlich. Wir hätten in der konstitutionellen Regierung ein Ventil für überspannte Kräfte, der Zar müsse bisweilen auch nach einer soupape suchen und die öffentliche Meinung zum Aus- druck kommen lassen. Der Kaiser liebe es, die nationale Note an- zuschlagen, pp.**

V. Caprivi

Nr. 1515

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Reinschrift

Berlin, den 25. November 1891 pp. Als Herr von Giers sodann*** von den friedlichen Eindrücken sprach, die er in Paris empfangen, und von der neuen Friedens- garantie, welche durch den mäßigenden Einfluß Rußlands auf Frank- reich gegeben werde, entgegnete ich, daß für die deutsche Regierung die französisch-russische Annäherung um so weniger einen Gegen- stand der Befürchtung bilde, als wir in der Entrevue von Kronstadt vornehmlich eine äußere Bekundung bereits bestehender Beziehungen erblickten. Dagegen könne ich nicht verhehlen, daß unsere öffent- liche Meinung diese Auffassung nicht teile, vielmehr die Ereignisse der letzten Monate einen tiefen Eindruck auf dieselbe gemacht hätten. Seit 20 Jahren sei man darauf gefaßt, daß Frankreich eines Tages

* Davon steht begreiflicherweise in dem Resume des französischen Ministers Ribot über seine Unterredungen mit Giers (Französisches Gelbbuch L'Alliance Franco- Russe Nr. 20, 21) nichts. Dagegen heißt es dort: „La pensee de M. de Giers est qu'on peut retarder la guerre, mais il parait ne pas croire qu'on puisse y echapper un jour ou l'autre. C'est en ce sens qu'il a parle ä l'Empcreur. Pour le moment il s'applique a maintenir avec TAllemagne des rapports tolerables." ** Den Schluß der Aufzeichnung siehe in Bd. IX, Kap. LV, A, Nr. 2118, Fußnote. ♦** Den Anfang des Schriftstückes, der von den handelspolitischen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland handelt, siehe in Kap. XLIX, Nr. 1633.

228

Deutschland angreife, um revanche zu üben; es sei daher begreiflich, daß unsere öffentliche Meinung in der Annäherung einer Großmacht an Frankreich eine Stärkung jener Gelüste erblicke, Herr von Giers unterbrach mich hier mit der Bemerkung, daß die Frage einer revanche für Rußland nicht existiere und auch bei seiner jüngsten Anwesen- heit in Paris weder dieses noch ein ähnliches Wort, insbesondere auch nicht die Worte Alsace oder Lorraine gefallen seien. Diese Anschauung weiterer Volkskreise fuhr ich fort sei in der schärfsten Weise bei Gelegenheit des letzten russischen Anlehens* zum Aus- druck gekommen; die Presse aller Parteien habe darin überein- gestimmt, daß es eine Art „haute trahison" sei, Rußland irgendwelche wirtschaftliche Vorteile zuzuwenden oder auch nur einen Sou für russische Anlehen zu zeichnen. Diese Stimmung sei zur Geltung ge- langt, obgleich die deutsche Regierung in der Anlehensfrage strikte Neutralität beobachtet habe. Es würde daher ein Irrtum sein, wenn man annehme, daß die gegenwärtige Baisse der russischen Werte etwa auf Machinationen deutscher Bankiers zurückzuführen sei, die selbst durch die Entschiedenheit der öffentlichen Meinung überrascht worden seien.

Herr von Giers suchte die Erklärung für diese Erscheinung in dem Umstände, daß in der letzten Zeit gar viele Ereignisse zu- sammengetroffen seien, um die öffentliche Meinung bezüglich Ruß- lands zu beeinflussen; die Judenfrage, welche für viele österreichische und deutsche Blätter bei Beurteilung russischer Verhältnisse maß- gebend sei, die Entrevue von Kronstadt, die Hungersnot samt den Ausfuhrverboten usw.; er hoffe, daß bald eine beruhigtere Stimmung eintreten werde. Herr von Giers erging sich dann in einer lebhaften Schilderung seiner Pariser Eindrücke. Er sei lediglich aus Familien- rücksichten dort gewesen, habe aber allerdings mit maßgebenden Per- sönlichkeiten politische Pourparlers geführt und daraus entnommen, daß die gegenwärtigen Leiter Frankreichs nicht nur außerordentlich friedlich gesinnt seien, sondern geradezu die Erhaltung des Friedens als eine Existenzbedingung einer konservativen Republik erachteten; diese Auffassung entspreche derjenigen der großen Mehrheit des fran- zösischen Volkes; nur eine kleine Minorität von „braillards" wünsche den Krieg, aber M. Constans mit seiner starken Faust werde die- selbe im Zaume halten. Die jetzige Regierung wünsche mit Deutsch- land in guten Verhältnissen zu leben und erkenne an, daß Deutschland in seinen Beziehungen zu Frankreich aufrichtig und loyal verfahre.

* Am 25. September war eine russische 3o/oige Anleihe im Betrage von 500 Mil- lionen Franken ausgeschrieben, die von einem Konsortium von Banken in allen Ländern, u. a. in Berlin von den Bankhäusern Warschauer und Mendelssohn, auf- gelegt werden sollte. Diese beiden traten aber unter dem Druck der erregten öffentlichen Meinung in Deutschland wieder zurück. In Frankreich wurde die russische Anleihe zwar TVamal gezeichnet; jedoch zeigte sich bald, daß nur ein Teil der Zeichner bereit war, die Stücke abzunehmen.

229

Mit Genugtuung habe er gesehen, daß auch die Stimmung gegen Italien sich gebessert habe. Während man, solange Crispi am Ruder war, sich fortwährend gegenseitig Absichten auf Tripolis vorgeworfen habe und aus jedem Anlaß erbitterter Streit entstanden sei, habe er in Paris kein hartes Wort über Italien gehört. Nur weise man dort die Insinuation entschieden zurück, die von italienischer Seite er- hoben werde, als ob Frankreich Absichten auf Wiederherstellung der weltlichen Macht des Papstes habe. Die Sache sei einfach die, daß Kardinal Lavigerie sich für die Erhaltung einer konservativen Republik in Frankreich interessiere und von der Einwirkung des Vatikans den Anschluß der französischen Konservativen an die Republik erhoffe, pp.

Herr von Giers kam dann auf das „rapprochement" zwischen Rußland und Frankreich zurück, das er als eine Folge der Wieder- erneuerung der Tripelallianz darstellte*. Auf meine Bemerkung, daß diese Allianz schon seit 1887 bestehe und dieselbe sich bis heute niemals von der Linie einer rein defensiven Politik entfernt habe, entgegnete Herr von Giers, dies sei richtig, allein die Wiederemeue- rung sei mit soviel „fracas" in Szene gesetzt worden, daß das Be- dürfnis der Annäherung beider Staaten sich ergeben habe, worauf ich darauf hinwies, daß in heutiger Zeit politische Ereignisse naturgemäß in der Presse aufgebauscht würden und die Kronstadter Entrevue diesem Schicksal ja auch nicht entgangen sei.

Der Minister kehrte sodann in seinen Betrachtungen wieder nach Paris zurück, um nochmals die friedlichen Eindrücke zu schildern, die er dort erhalten habe; die surexcitation, die früher geherrscht, habe sich kalmiert, er selbst sei in keiner Weise behelligt worden. Man habe dort das Bewußtsein, wieder eine würdige Stellung in Europa einzunehmen, und das befriedige. Besonders interessant sei ihm die Wahrnehmung gewesen, daß man in Paris eine territoriale Ausdehnung der republikanischen Staatsform nicht wünsche; im Gegen- teile glaube man, daß, wenn Portugal, Spanien und etwa gar Italien zu derselben Staatsform übergingen, aus den turbulenten Elementen jener Staaten, die dann voraussichtlich zur Herrschaft gelangen würden, der französischen Republik Schaden entstehen würde. Im übrigen habe €r wiederholt sich gefragt, ob nicht eine konservative Republik in Frankreich für den Frieden günstiger sei als eine Monarchie, deren Träger geneigt sein werde, sich durch kriegerische Taten zu be- festigen.

Ich bemerkte dem Minister, daß wir die friedliche Gesinnung der jetzigen Machthaber in Frankreich nicht bezweifeln wollten, aber auch die gegenwärtige Regierung, die man eine starke nenne, habe nicht den Mut, sich offen von dem Revanchegedanken loszusagen. Wir müßten also Frankreich gegenüber stets auf der Hut sein. Wir

Vgl. Nr. 1507, Fußnote f. 230

wollten von ihm gar nichts anderes, als daß man uns in Ruhe lasse: Wenn Rußland in diesem Sinne auf die Franzosen einwirke, so könne uns dies nur lieb sein. pp. Marschall

Nr. 1516

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 12 Paris, den 11. Januar 18Q2

Die Fieberhitze der russischen Krankheit, an der die französische Nation diesen Sommer gelitten hatte, ist etwas abgekühlt, und ist sie mehr chronisch und latent geworden.

Es sind verschiedene Gründe, welche diese kühlere Temperatur bedingen.

Je weiter die Aussichten auf Krieg hinausgerückt werden, je weniger tritt die Notwendigkeit der Allianz hervor.

Bei mehreren Gelegenheiten haben, wie noch kürzlich in Bul- garien, die Russen Herrn Ribot nicht folgen wollen. Die Hungersnot in Rußland und die inneren Zustände infolge derselben werden doch allgemein auch hier so aufgefaßt, als werde Rußland zum Kriege weniger geneigt sein, als hier allgemein angenommen wurde.

Dazu kommen die finanziellen Verhältnisse Rußlands. Die fran- zösischen Finanzkreise sehen doch auch ein, daß in Geldsachen der übertriebene Patriotismus seine Grenzen hat, daß der französische Geldmarkt mit russischen Werten sehr stark, wenn nicht schon zu stark versorgt ist. Die letzte Anleihe hat das bewiesen; und nach allem, was ich höre, ist eine neue russische Anleihe hier vor der Hand nicht unterzubringen, pp.

Die russische Regierung scheint darauf es aufgegeben zu haben, hier über eine Anleihe zu verhandeln, und sucht sie durch das Syndikat der letzten Anleihe die 200 Millionen, welche sie zurücknehmen mußte, nach und nach auf dem hiesigen Markt unterzubringen, eine Operation, bei der die Rothschilds jede Mitwirkung verweigert haben.

Münster

Nr. 1517

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 96 Paris, den 14. April 1892

Die französische Russenliebe ist, wie ich kürzlich bereits bericht- lich und mündlich zu erwähnen die Ehre gehabt, in neuerer Zeit erheblich erkaltet. Die Erkenntnis dieses Wechsels ist auch den offenen und stillen Förderern der russisch-französischen Freundschaft nicht

231

entgangen, und sie geben sich jetzt um so mehr Mühe, die gesunkene Temperatur zum Steigen zu bringen und in Rußland den Glauben an die unwandelbare Ergebenheit der Franzosen zu erhalten. So haben unter anderem die Mitglieder der seinerzeit behördlich nicht anerkann- ten „Societe des amis de la Russie" beschlossen, dem Zaren als Zeichen der hingebenden Verehrung der französischen Nation ein Ge- schenk darzubieten, das in einer künstlerisch gearbeiteten silbernen, mit Gold und Edelsteinen ausgelegten Tafel besteht, welche den Stamm- baum der kaiserlichen Familie darstellt. An der Spitze jener Russen- freunde steht der bekannte Fery d'Esclands, der auch das Geschenk in Petersburg überreichen soll. Derselbe hat nun auch den sonst so zurückhaltenden Präsidenten Carnot zu bewegen gewußt, dieser Hul- digung eine gewisse Sanktion und besondere Bedeutung zu geben, indem er ihn zu einer feierlichen Besichtigung des Kunstwerkes und vorher zu einem Besuche des Wachsfigurenmuseums Grevin veranlaßt hat, um dort die Darstellung der „entrevue de Cronstadt*' zu betrachten.

Einer offiziösen Notiz zufolge hat der Präsident, als ihm gesagt wurde, daß der Kaiser von Rußland die Gabe, den sonstigen Ge- bräuchen entgegen, anzunehmen geruht habe, geäußert: „Ce n'est pas seulement un grand honneur que nous fait Sa Majeste, c'est une marque d'amitie qu'elle nous donne."

Auch der ehemalige Minister Flourens, bekanntlich einer der eifrig- sten Vorkämpfer der russisch-französischen Allianz, ist wieder auf dem Wege nach St. Petersburg, um durch Überbringung einer Gedenk- münze der Moskauer Ausstellung wieder Gelegenheit zu haben, huldigend vor den Zaren zu treten.

Die hier mannigfach versuchten Wohltätigkeitsunternehmungen zu- gunsten der notleidenden Russen dagegen haben wenig Anklang ge- funden, und für eine demnächst unter der Ägide der russischen Bot- schaft stattfindende Vorstellung bedarf es schon jetzt eines großen Aufwands an Reklame, pp.

Münster

Nr. 1518 Der Geschäftsträger in Petersburg Alfred von Bülow an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 221 St. Petersburg, den 21. Juh 1892

Der kürzlich erschienene, die Abschließung eines schriftUchen Bündnisvertrages zwischen Rußland und Frankreich verlangende Ar- tikel des „Figaro"* wird hier nicht nur bei Hofe, sondern auch in anderen politischen und gesellschaftlichen Kreisen in sarkastischer und

•Der berühmte Artikel des „Figaro" vom 14. Juli „Alliance ou flirt?", dessen Sinn der russische „Qrashdanin" vom IQ. Juli kurz und bündig dahin umschrieb: „Genug der Worte, in die wir keinen festen Glauben setzen, her mit dem for-

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ablehnender Weise besprochen, obwohl von mancher Seite eingeräumt wird, daß die in dem Artikel enthaltene Schilderung russischer Zu- stände nicht ganz unrichtig sei.

Auffällig ist, daß nicht nur in den erwähnten Qesellschaftssphären die Idee eines mit Frankreich abzuschließenden schriftlichen Vertrages von der Hand gewiesen wird, sondern daß auch wie Euere Ex- zellenz aus den ganz gehorsamst beigefügten Zeitungsübersetzungen bzw. -ausschnitten hochgeneigtest entnehmen wollen die hiesigen namhafteren Preßorgane trotz aller Sympathien für die Annäherung beider Staaten von einem eigentlichen Allianzvertrag nichts wissen wollen.

Es ist dies ein bemerkenswerter Umschlag der öffentlichen Mei- nung, ein Beweis für die beginnende Abnahme der franzosenfreund- lichen Stimmung in Rußland. Denn nach den Tagen von Kronstadt, bis in den vergangenen Winter hinein verlangte die russische Presse in dringlicher Weise, daß das französisch-russische rapproche- ment durch einen schriftlichen Vertrag besiegelt werde.

Eine alleinige Ausnahme machte damals das Hofblatt „Grashdanin", welches auch jetzt wieder wie aus den Anlagen ersichtlich den Franzosen derb die Wahrheit sagt.

Schließlich möchte ich ehrerbietigst bemerken, daß der hiesige französische Botschafter Graf Montebello von dem Erscheinen des betreffenden „Figaro"-Artikels recht peinlich berührt ist.

A. V. Bülow

Nr. 1519

Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 175 Paris, den 2. August 1892

Euere Exzellenz haben mit hohem Erlaß Nr. 180 vom 26, v. Mts. Aufschluß darüber erfordert, ob der französische General de Boisdeffre

mellen Bündnisvertrage!" wurde von Graf Münster im Berichte vom 22. Juli als eins der vielen Symptome dafür bewertet, daß die Russenliebe in Frankreich wieder erkalte und mit ihr das Vertrauen auf russische Hilfe. In Wirklichkeit war der Artikel, der zeitlich mit der Rückkehr des Zaren von Kopenhagen nach Rußland zusammenfiel, ein wohlberechneter französischer Vorstoß in der Rich- tung des schon früher in Aussicht genommenen Abschlusses einer französisch- russischen Militärkonvention. Tatsächlich ließ der Zar unmittelbar nach seinem Wiedereintreffen in der russischen Hauptstadt alsbald den französischen General Boisdeffre im Hinblick auf die geplanten Verhandlungen zu den Augustmanövem einladen, und tatsächlich wurden bei dieser Gelegenheit die Verhandlungen über die Militärkonvention bis zu ihrer Unterzeichnung von den beiderseitigen militärischen Unterhändlern geführt. Der formelle und definitive Abschluß erfolgte bekanntlich erst Ende 1893. Siehe Gelbbuch L'AUiance Franco-Russe, Nr. 43 ss.

tatsächlich russischerseits eine Einladung zu militärischen Übungen erhalten hat.

Meine Beantwortung dieser Frage ist inzwischen durch die Preß- meldung überholt, daß General Boisdeffre bereits in St. Petersburg eingetroffen ist. Ob die Initiative zu seiner Mission von Seiner Majestät dem Kaiser Alexander, von anderer russischer oder aber von fran- zösischer Seite ausgegangen ist, habe ich noch nicht zu ermitteln vermocht*.

Bemerkenswert ist, daß General Boisdeffre kürzlich ungewöhn- lich rasch zum Divisionsgeneral befördert wurde. In militärischen Kreisen ist diese Rangerhöhung damit erklärt worden, daß es der französischen Regierung darum zu tun gewesen sei, ihrem militäri- schen Abgesandten die Einräumung eines Platzes zu sichern, welcher der Bedeutung der französischen Armee und den Beziehungen zwi- schen den beiden Staaten entspreche. In dieser Beziehung, so wird hinzugefügt, sei bisher manches versäumt worden.

Die Beförderung Boisdeffres läßt darauf schließen, daß seiner Mission eine persönliche Einladung zugrunde liegt i, da man anderer- seits wohl einen rangälteren General hätte wählen können.

v. Schoen

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: 1 Glaube ich auch.

Nr. 1520

Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 207 Paris, den 7. September 1892

Präsident Carnot hat mit großem Gefolge, d.h. mit einigen Mini- stern, seiner maison militaire und einem Schwärm von Journalisten eine zweitägige Reise nach Chambery unternommen, um der dortigen Jahrhundertfeier des ersten Anschlusses von Savoyen an Frankreich beizuwohnen, pp.

Einen kurzen Aufenthalt in dem bekannten savoyischen Badeort Aix-les-Bains benutzte der Präsident, um mit dem dort weilenden König von Griechenland Höflichkeitsbesuche auszutauschen, einen kurzen Besuch des Herzogs von Leuchtenberg zu empfangen und den Minister von Giers von Ribot und Freycinet begrüßen zu lassen.

* Aus Petersburg hatte der Geschäftsträger A. von Bülow bereits am 2\. Juli be- richtet, daß die Einladung Boisdeffres von Kaiser Alexander selbst ausgegangen sei.

234

Aix war überdies der Schauplatz einer seltsamen Episode, darin be- stehend, daß der Präsident einen kleinen Schuljungen, der in russi- schem Anzug vor ihn trat und einige naive Knittelverse über russisch- französische Freundschaft vortrug, mit den emphatischen Worten „J'embrasse la Russie" unter dem Jubel der Menge küßte. Über- haupt war der sonst so zurückhaltende Präsident bei seiner jetzigen Reise mit derartigen Expansionen gar freigebig, indem er sich nicht mit dem üblichen Kuß auf die errötenden Wangen der Ehrenjungfrauen begnügte, sondern auch bärtige Männer und Greise wiederholt gerührt an Brust und Lippen drückte.

Man hat hier dem Umstände gewisse Beachtung geschenkt, daß der Präsident u. a. vom Minister des Äußern begleitet war, während mehr der Minister des Innern am Platze gewesen wäre, und man hat mit dieser Tatsache die andere in Verbindung gebracht, daß Herr von Oiers in Aix weilte und auch Baron Mohrenheim sich da- selbst eingefunden hatte. Gewisse Politiker meinten, daß es sich da um große Dinge handle. Demgegenüber ist zu bemerken, daß Herr von Giers tatsächlich recht krank ist und die Minister Ribot und Frcycinet nur ganz kurz empfangen konnte*. Wenn auch F^ibot den Wunsch gehabt haben mag, sich mit dem russischen Minister zu begegnen, so erklärt sich seine Anwesenheit in der Umgebung des Präsidenten auch damit, daß ihm nach der Etikette der Republik die Rolle zufiel, den König von Griechenland namens der Regierung zu begrüßen. Daß Baron Mohrenheim sich die Gelegenheit nicht hat entgehen lassen, einen Besuch bei seinem kranken Chef mit einer Aufwartung beim Präsidenten zu verbinden, ist weiter nicht auffällig.

Übrigens beklagt es der „Soir", eine Zeitung, die schon seit den Tagen von Kronstadt den Piatonismus der russischen Liebe hervor- hebt, daß das Zusammentreffen russischer und französischer Staats- männer in Aix den Abschluß eines Bündnisvertrages nicht näher- gerückt habe. Solange das jetzige unbestimmte Verhältnis dauere, könne Rußland bei einem Kriege wohl auf das gleichzeitige Los- schlagen Frankreichs rechnen, nicht aber Frankreich unter allen Um- ständen auf die Hülfe Rußlands i.

V. Schoen

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: 1 Wollen es hoffen.

* Tatsächlich hat Ribot, wie aus seinem Schreiben an den Grafen de Montebello vom 7. September (Französisches Oelbbuch L'Alliance Franco-Russe Nr. 79) her- vorgeht, bei seinem Aufenthalt in Aix-les-Bains sehr eingehend mit Giers über das russisch-französische „Arrangement" und speziell über die formell noch nicht zum Abschluß gelangte, aber auf beiden Seiten „comme etant accomplie" be- Irachtete Militärkonvention und ihre endgültige Unterzeichnung verhandelt

235

Nr. 1521

Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 217 Paris, den 20. September 1892

Vertraulich

Aus Anlaß des kürzliclien Zusammentreffens französischer und russischer Staatsmänner in Aix-les-Bains sind in hiesigen Zeitungen wieder hie und da Gerüchte von dem Abschlüsse eines förmlichen russisch-französischen Bündnisses* aufgetaucht.

Der hiesige englische Botschafter hat den ifalienischen, wie dieser mir anvertraut, gefragt, ob diesen Gerüchten Wert beizumessen sein möchte, und eine verneinende Antwort erhalten. Herr Reßmann seiner- seits hat mir die Ehre erwiesen, mich um meine Informationen und Eindrücke zu befragen.

Ich habe dem Botschafter erwidert, mir schienen keinerlei An- zeichen dafür vorzuliegen, daß Rußland neuerdings Veranlassung ge- nommen habe, von seinem bekannten Programm der freien Hand abzuweichen und sich mit Frankreich auf bestimmte EventuaUtäten einzuschwören. Rußland sei auch ohne Vertrag der französischen Hülfe so ziemlich unter allen Umständen sicher, das Interesse an geschriebenen Verpfhchtungen bestehe daher nur auf französischer Seite. Es sei nicht anzunehmen, daß der Kaiser von Rußland neuerdings mehr Neigung erhalten habe, sich in ein Verhältnis mit der französischen Regierung zu setzen, das unter Umständen eine Art Abhängigkeits- verhältnis werden könnte. Ein Defensivbündnis habe überdies kein rechtes Objekt, da man in Rußland wie in Frankreich doch nach- gerade davon überzeugt sein müsse, daß niemand sie anzugreifen denkt. Aus dem gleichen Grunde könnte uns, den Dreibundmächten, ein russisch-französisches Defensivbündnis, falls es zustande kommen sollte, eher zur Beruhigung als zur Besorgnis gereichen. Was ein Aggressivbündnis betreffe, so sei das am Ende des 19. Jahrhunderts ein so monströses Dingi, daß der verblendete Gedanke an den Ab- schluß eines solchen weder einem russischen noch einem französischen leitenden Staatsmanne zugetraut werden könne 2. Anders Hege die Frage, ob nicht militärische Vereinbarungen bezüglich einer gewissen gemein- schaftlichen Politik auf der Balkanhalbinsel, im Orient, in Ostasien und anderen Gebieten beständen oder bevorständen 3. Aber solche Ab- machungen könne man bei der Wandelbarkeit der Fälle schwerlich vertragUch festlegen. Alle Anzeichen sprächen nach wie vor dafür, daß zwischen Rußland und Frankreich nichts anderes bestehe als ein unbestimmtes Freundschaftsverhältnis.

Vgl. Nr. 1520, S.235, Fußnote. 236

Herr Reßmann pflichtete meinen Anschauungen bei und bemerkte, ihm sei auch deshalb nicht glaublich, daß es neuerdings zu vertrag- lichen Festsetzungen zwischen Frankreich und Rußland gekommen sei, weil die französische Regierung nicht einen Augenblick gezögert haben würde, der Nation ein solches Ereignis zu verkünden 'i, das wie kein anderes geeignet wäre, die Stellung von Präsident Carnot und den jetzigen Ministern zu einer unerschütterlichen zu machen^.

V. Schoen

Randbemericungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Warum?

2 im Gegentheil; bei beiden Sorten ist so was wohl möglich

* bestimmt ja

* ! NaivI das würden die Russen hübsch verhüten

^ das außerdem immer noch mal sich ereignen [kann]

Nr. 1522

Der Botschalter io Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 238 Paris, den 13. Oktober 1892

Wenn auch die Stellung des russischen Botschafters durch seine Gespräche mit dem Marquis Mores und die Korrespondenz mit Clemenceau gelitten hat und er immer mehr zur lächerlichen Person wird, der Pariser sich auch über den Russenkultus lustig macht, so scheinen trotzdem die Beziehungen zwischen beiden Regierungen wieder intimer geworden zu sein.

Wenn ich bis jetzt auch immer angenommen habe, daß sich Seine Majestät der Kaiser von Rußland der demokratischen Republik gegenüber niemals binden und sich nicht auf einen Allianzvertrag einlassen würde, so bin ich doch jetzt nicht mehr ganz sicher, ob nicht gewisse Abmachungen vereinbart wurden.

Die Rothschilds, welche bisher stets behaupteten, daß nichts der Art existiere, stellen dieses nicht mehr so in Abrede, haben ganz plötzlich ihre abwehrende Haltung Rußland gegenüber geändert und verhandeln über eine 500-Millionen-Anleihe.

Rothschilds, die bisher Royalisten w^aren, haben sich der Republik genähert, gehen jetzt Hand in Hand mit der Regierung, da sie da- durch hier wieder Einfluß erlangen. Die Aussicht auf Gewinn und, wie Alphonse Rothschild behauptet, die Hoffnung, für die Juden in Rußland bessere Bedingungen zu erreichen, haben das hiesige Haus veranlaßt, auf die Anleiheverhandlungen einzugehen.

237

Daß das Londoner Haus nichts mit dieser Anleihe zu tun haben will, zeigt, wie schlau diese großen Juden sind, und wie sie sich immer eine Hintertür offen halten.

Es ist übrigens noch nicht ganz sicher, ob die Rothschilds die Garantien erhalten, welche sie von der russischen Regierung für die zukünftige Stellung der Israeliten in Rußland verlangen.

Wie ich gestern schon meldete, liegt noch eine Schwierigkeit für die Übernahme der Anleihe auch darin, daß das Haus Rothschild mit Recht entschieden verlangt zu wissen, wie und wieviel von den 200 Millionen Franks, welche von der vorigen 500-Millioncn-Anleihe nicht untergebracht werden konnten*, wirklich vergeben ist. Es sollen die Manipulationen, die dabei vorgenommen wurden, nicht recht das Licht vertragen können.

Die näheren Bedingungen und namentlich der Kurs der neuen Anleihe wird bis zur Emission geheim gehalten.

Wenn wirklich diese finanziellen Verhandlungen die Folge politi- scher Abmachungen sind, so mag das mit der Krankheit des Ministers Giers, der ja niemals fest sich Frankreich gegenüber binden wollte**, zusammenhängen. Sein jetziger Vertreter*** wird zu allen Konzessionen Frankreich gegenüber geneigt sein, wenn er dadurch glaubt, an die Stelle von Giers gelangen zu können.

Daß die Frau des neuen Finanzministers Witte f, die mir von hiesigen Russinnen als eine kluge, sehr intrigante Jüdin geschildert wird, viel zur Verständigung- mit den jüdischen Bankiers beiträgt, halte ich auch nicht für unmöglich.

Daß übrigens eine 4o/oige russische Anleihe, von Rothschilds aus- gebracht, hier genommen werden wird, hat die Haltung der Börse in den letzten Tagen gezeigt. Um sich Klarheit über die Stimmung der hiesigen Börse zu verschaffen, hatten Rothschilds unter der Hand mitgeteilt, daß sie eine Anleihe jetzt übernehmen würden.

In Frankreich ist die Spekulation wie tot, alle industriellen Unter- nehmungen sind gelähmt, die Kapitalisten wissen nicht ihr Geld unter- zubringen, die Furcht vor einem baldigen Kriege hat sehr abgenommen, und das wird auch zum Erfolg der Anleihe beitragen, die als Kriegs- anleihe nicht anzusehen ist.

Daß Rußland infolge der Hungersnot Geld braucht, war schon lange bekannt. In Berlin war für den Augenblick keine Anleihe an- zubringen. Die hiesige Regierung war besorgt, daß die Tarifverhand- lungen zwischen uns und St. Petersburg doch gelingen könnten f"]-, die

* Vgl. Nr, 1516.

** Sic!

*** Ministergehilfe Schischkin,

t Seit Anfang September Nachfo'ger des Ministers WyschnegradskL

tt Vgl. Kap, L, B, Nr, 1661, Fußnote.

238

Pariser Börse fürchtet, durch die Berliner überflügelt zu werden, die großen Juden glauben, daß, wenn sie Geld verdienen, sie den kleinen Juden am besten helfen können, und so geben die Franzosen, trotzdem daß der französische Markt mit russischen Werten übersättigt ist, gute Franken für schlechte Rubel.

Sollte wirklich ein Allianzvertrag existieren, kommt hier die russi- sche Anleihe zustande, so ändert das nichts an der poUtischen Situation, wie sie faktisch seit Jahren besteht.

Münster

Nr. 1523

Der Botschafter in Paris Gral Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 284 Paris, den 8. Dezember 1892

Das Ministerium Loubet-Ribot, welches in den Panamakanal* fiel, ist als Ministerium Ribot-Loubet wieder auferstanden.

Es hat sich, aus ganz verschiedenen Gründen, zweier seiner Mit- glieder entledigt: des Justizministers Ricard, der es zu Falle brachte, und des Ministers für Handel Jules Roche, der wahrscheinlich über den Schweizer Handelsvertrag gefallen wäre und dann den Minister Ribot, der den Vertrag unterzeichnete, hätte mitziehen können, pp.

Die Erklärung dafür, daß der Präsident nicht sich an Freycinet, sondern an Ribot wandte, liegt darin, daß Carnot Freycinet für einen Präsidentschaftskandidaten hält und ihm nicht traut.

Was aber vor allem für Ribot den Ausschlag gab, ist die Rück- sicht auf Rußland.

Ob Ribot wirklich eine geschriebene Abmachung mit Rußland hat, oder ob nur mündliche Versprechungen ihm und von ihm gegeben sind, habe ich noch nicht ermitteln können, er gibt sich aber den Anschein, als sei es geschehen.

Von zwei Seiten ist mir gesagt worden, daß er geäußert habe, er habe Verdienste um Frankreich, mit denen er sich noch nicht rühmen dürfe, und die ihm das Recht geben, Ministerpräsident zu werden. Was könnte das anderes sein?

Für mich spricht dagegen, daß, wenn er wirklich einen Allianz- vertrag in der Tasche hätte, er nicht würde widerstehen können, es bekanntzumachen. Steht die Sache nicht fest, so würde er ein

* über den Panamaskandal, der den schlechtesten Eindruck bei der russischen Re- gierung und namentlich auch bei Kaiser Alexander III. machte, siehe Kap. XLVIII, Nr. 1590 nebst Fußnote *.

239

dementi von Rußland erwarten können, denn das unbedingte Ver- trauen zum russischen Kaiser ist nicht mehr vorhanden.

Sind, wie ich glaube, nur mündliche Versprechungen gegeben, so würde von russischer Seite jede Indiskretion sehr übelgenommen werden.

Darin glaube ich nicht zu irren, daß Ribot das geschickt benutzt hat und russisch-französischer Ministerpräsident geworden ist. pp.

Münster

Nr. 1524

Der Gesandte in Kopenhagen Freiherr von den Brincken an den Voriragenden Rat im Auswärtigen Amt Grafen von Pourtales

Privatbrief. Ausfertigung

Vertraulich Kopenhagen, den 12. Dezember 1892

Aus zuverlässiger Quelle gehen mir die nachstehenden Notizen vom hiesigen Hofe zu:

Am 9. Dezember hat zu Ehren des von hier scheidenden englischen Gesandten Sir Hugh Mac Doneil im Schlosse zu Amalienborg ein Hofdiner stattgefunden, pp.

Auf dem Diner selbst ist dann unter anderen von der Verlobung des Herzogs von York mit der Prinzessin May von Teck als von einem wahrscheinlich demnächst eintretenden Ereignis die Rede ge- wesen. Als Sir Hugh Mac Donell bei diesem Anlaß bemerkte, daß von dieser Verlobung allerdings mehrfach in den englischen Zeitungen gesprochen werde, hat die Königin Luise an diese Bemerkung an- knüpfend etwa folgende Äußerung getan:

„Ach gehen Sie mir mit den Zeitungen, Ihre englischen Zeitungen mögen vielleicht noch die besten oder die am wenigsten schlimmen sein. Die Zeitungen richten aber sehr viel Unheil an. Sehen Sie nur z. B., wie diese nichtswürdigen und abscheulichen französischen Blätter unausgesetzt bestrebt sind und mit allen Mitteln dahin arbeiten, die Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland so feindlich wie nur irgend möglich zu gestalten. Gottlob ist aber in neuerer Zeit das Verhältnis zwischen den beiden Kaiserreichen wieder viel besser als früher geworden. Sie hätten nur meinen Schwiegersohn (Kaiser Alexan- der) sehen sollen, in welchen Unwillen und in welchen Zorn er immer geriet, sobald in den Zeitungen von dem förmlichen Abschluß einer franco-russischen Allianz die Rede war."

Noch vor Jahresfrist würde Königin Luise wohl kaum in dieser Weise gesprochen haben. Die zwischen Kaiser Wilhelm und König Christian bestehende Freundschaft scheint sonach selbst auf eine so

240

große Gegnerin Preußens und Deutschlands, wie Königin Luise es bisher noch immer gewesen ist, nicht ohne einen gewissen Einfluß zu bleiben.

Ein derartiger Stimmungswechsel, namentlich wenn er anhalten sollte, verdient immerhin Beachtung, weil derselbe ganz naturgemäß durch die eventuelle Vermittelung der Kaiserin von Rußland leicht auch auf den Zaren selbst seine Wirkung auszuüben geeignet sein kann.

Brincken

Nr. 1525

Der Geschäftsträger in Petersburg Alfred von Bülow an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 365 St. Petersburg, den 28. Dezember 1892

Der französische Botschafter Graf Montebello ist kürzlich von dreimonatlichem Urlaube nach St. Petersburg zurückgekehrt und be- findet sich, wie mir verschiedene seiner näheren Bekannten versichern, in gedrückter Stimmung. Daran sind einerseits die trüben Eindrücke, die der Graf aus Paris mitbringt, andererseits die Abschwächung fran- zösischen Einflusses schuld, die der Botschafter an hiesiger maß- gebender Stelle bei seiner Rückkehr vorgefunden hat^.

Dieser Umschwung zu Ungunsten Frankreichs ist in erster Linie direkt auf Seine Majestät den Kaiser Alexander zurückzuführen.

Ich darf bei dieser Gelegenheit nicht unterlassen, ehrerbietigst hervorzuheben, was ich im Sommer v. Js. wiederholt zu melden die Ehre hatte, daß nämlich der Zar die ostensible Annäherung Rußlands an Frankreich 2 nicht etwa aus Sympathie für genanntes Land, sondern hauptsächlich deshalb genehmigte, weil höchstderselbe sich durch den erneuerten Dreibund bedroht glaubte.

Diese Befürchtung des Monarchen wurde von verschiedenen deutschfeindlichen Persönlichkeiten durch allerhand falsche Nachrichten und erlogene Erzählungen genährt, und erst im Frühjahr d. Js. brach sich im Herzen des hohen Herrn mehr und mehr die Überzeugung Bahn, daß sein Mißtrauen nicht gerechtfertigt sei.

Mehrere Umstände trugen dazu bei, das Vertrauen des Monarchen zu Deutschland wesentlich zu stärken.

Zu denselben rechne ich den guten Einfluß, welchen Seine Majestät der König von Dänemark auf seinen kaiserlichen Schwiegersohn aus- übte*, den günstigen Verlauf der Kieler Entrevue** sowie die den Monarchen tief verstimmenden Vorgänge in Frankreich.

* Vgl. Nr. 1524

** Siehe Kap. L, Nr. 1636.

!6 Die Große Poliük. 7. Bd. 241

Von gut unterrichteter Seite wurde mir versichert, sowohl die atheistische Haltung der französischen Regierung als ihre Schwäche den sozialistischen Elementen gegenüber hätten auf den Zaren in repulsiver Weise gewirkt. Die renommierende Nachricht französischer Blätter, im Herbst d. Js. solle das französisch-russische Schutz- und Trutzbündnis definitiv abgeschlossen werden, ärgerte Seine Majestät. Allgemein fiel es auf, daß der durch seinen Kampf gegen die fran- zösischen republikanischen Zustände bekannte Fürst Meschtscherski, Re- dakteur des „Grashdanin", in längerer Audienz empfangen wurde. Während der eingehenden Unterhaltung über die französischen Zu- stände soll der Monarch lobend hervorgehoben haben, daß sich der „Grashdanin" französischen Lobhudeleien und anderen verdächtigen Einflüssen gegenüber unabhängig gezeigt habe. Auch wurde in Seiner Majestät mehr und mehr der Verdacht rege, daß republikanische Kor- ruption auf die Gewinnsucht russischer Beamten in bedenklicherer Weise einzuwirken anfange. Die Ungnade, welche den Abgang des vom Zaren ehemals geschätzten Finanzministers Wyschnegradski be- gleitete, war auf die nicht unbegründete Mutmaßung zurückzuführen, daß dieser Staatsmann sich bei Gelegenheit der französischen An- leihen in beträchtlicher Weise bereichert habe.

Es kann nach alledem kein Zweifel darüber bestehen, daß aus den vorerwähnten und ähnlichen ernsten Erwägungen der Wunsch des Monarchen nach einem deutschen Vertreter an höchstseinem Hoflager entsprang, welchen er besonders schätzt und deshalb für vorzüglich geeignet hält, vertrauensvolle Beziehungen zu unserem allergnädigsten Herrn aufrechtzuerhalten*.

Meiner unmaßgeblichen Meinung nach wird diese zurzeit an höchster Stelle bestehende Tendenz, mit uns in freundlichen Beziehun- gen zu stehen, um so intensiver werden, je bedenkhcher die gegen- wärtige in Frankreich akute Krisis sich gestaltet, und je mehr die dortigen extrem radikalen und atheistischen Elemente zur Herrschaft gelangen.

Inwieweit die beim russischen Monarchen verschärfte antifranzösi- sche Stimmung auf die hiesige öffentliche Meinung Einfluß gewinnen wird, läßt sich noch nicht mit Bestimmtheit beurteilen, pp.

A. V. Bülow

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

^ Schon!

2 das Experiment könnte ihm seine Krone kosten

Schlußbemerkung des Kaisers:

! Gut.

Vgl. Kap. L, Nr. 1639. 242

Nr. 1526

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Reinschrift

Berlin, den 25. Januar 1893

Seine Majestät teilte mir heute über ein Gespräch, das er gestern abend mit dem Großfürsten Thronfolger* hatte, nachstehendes mit:

Die Sprache sei zunächst auf Frankreich gekommen, wobei sich der Großfürst über die dortigen Zustände auf das abfälligste geäußert und erzählt hat, daß der Zar über die Nachricht, daß auch Herr von Mohrenheim in die Panamasache verwickelt**, außer sich gewesen sei und a terrible scene aus diesem Anlaß stattgefunden habe. Mohren- heim sei fertig und werde demnächst abberufen werden. Von Seiner Majestät über die in Petersburg bezüglich der Zukunft Frankreichs bestehenden Anschauungen befragt, habe der Großfürst geäußert, daß eine Militärdiktatur als das Wahrscheinhchste erachtet werde, die bald zum Kriege führen werde. Auf die Frage, welche Haltung in einem solchen Kriege Rußland einnehmen werde, habe der Großfürst erklärt, daß dann eine Koalition wie in den Jahren 1813 15 eintreten müßte, um Frankreich zu bekämpfen. Seine Majestät entgegnete, daß die- selbe Idee dem Dreibunde zugrunde liege, und entwickelte den Zweck dieser Gruppierung dahin: Gegenseitige Garantierung des territorialen Besitzstandes, Wahrung der monarchischen Interessen gegenüber dem Radikalismus, Sozialismus, Nihilismus u. dgl., Schaffung gemeinsamer materieller Interessen durch handelspolitische Annäherung, um das Interesse an der Friedenserhaltung mehr und mehr allgemein zu gestalten. Auf die Frage des Großfürsten, ob dem Dreibunde keine Rußland feindliche Tendenz zugrunde hege, bemerkte Seine Majestät, dies sei absolut nicht der Fall, denn wir hätten von einem Kriege mit Rußland keinerlei Vorteile zu erwarten, im Gegenteil, was der Dreibund anstrebe, decke sich mit dem Interesse Rußlands, indem derselbe die SoUdarität der europäischen Monarchien zum Aus- druck bringe, um die umstürzenden Tendenzen, für die von Frankreich aus Propaganda gemacht werde, zu bekämpfen ; dies sei der politische Zweck des Dreibundes seine wirtschaftliche Tendenz gehe dahin, die europäischen Staaten durch Handelsverträge sich zu nähern, um gemeinsam die panamerikanischen Bestrebungen der Vereinigten Staaten zu bekämpfen, welche wichtige europäische Absatzgebiete be- drohten. Der Dreibund könne ebenso Vierbund usw. genannt werden, da für alle Staaten, welche den gleichen Tendenzen huldigen, Raum sei.

* Er weilte anläßlich der Vermählung der Prinzessin Margarete von Preußen vom 24. bis 28. Januar am Kaiserhot in Berlin. ** Vgl. Kap. XLVIII, Nr. 1590.

16» 243

Der Großfürst habe die Richtigkeit dieser Gedanken zugegeben und bemerkt, daß bisher weder seinem Vater noch ihm die Frage von diesem Gesichtspunkte dargelegt worden sei; mit Genehmigung Seiner Majestät werde er dem Zaren darüber Mitteilung machen. Seine Majestät gab hierzu seine ausdrückliche Zustimmung,

Marschall

Nr. 1527

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Petersburg von Werder

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen von Pourtal&s

Nr. 50 Berlin, den 30. Januar 1893

[abgegangen am 31. Januar]

Euerer pp. beehre ich mich im Anschluß an meinen Erlaß Nr. 4Q vom 28. d. Mts.* zu Ihrer Information beifolgende Abschrift einer Auf- zeichnung zu übersenden, welche Seine Majestät der Kaiser dem Groß- fürsten Thronfolger mitgegeben hat. In dieser Aufzeichnung findet sich dasjenige zusammengefaßt, was unser allergnädigster Herr Seiner Kaiserlichen Hoheit über die Ziele des Dreibundes gesagt hat.

Marschall

Aufzeichnung

La triple alliance loin d'avoir des tendances agressives a au con- traire un but eminemment defensif et pacifique; eile a ete dictee par l'instinct de conservation des puissances signataires.

Avant de former cette union les trois puissances se sont rendu compte des graves dangers qui menacent aujourd'hui les monarchies de la part de la Republique Frangaise et des partisans de la doctrine revolutionnaire disseminee un peu partout sous des noms divers. Cette communaute des interets monarchiques formant une des bases princi- pales de l'alliance, toute puissance ayant des interets identiques pour- rait s'y joindre.

Le terrain politique toutefois n'est pas le seul se rencontrent les interets des puissances alliees. II s'agit aussi de creer par des Con- ventions d'ordre economique une communaute sur le terrain des interets materiels dans le double but de diminuer en Europe les chances de conflit arme et de faire face aux tendances de la grande Republique d'outre mer qui visent l'exclusion complete du commerce europeen dans l'Amerique entiere.

* Der Erlaß Nr. 49 betrifft die aus dem voraufgehenden Schriftstück bekannte Unterredung des Kaisers mit dem russischen Thronfolger.

244

Nr. 1528

Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi*

Ausfertigung

Nr. 110 St. Petersburg, den 30. April 1893

pp. Auf Frankreich zurückkommend sagte Herr von Qiers, es be- stände keine Allianz mit diesem Lande; nach Bildung des Dreibunds hätte Rußland sich aber doch für eventuelle Fälle nach einem Ver- bündeten umsehen müssen, Frankreich aber würde nie einen Angrifi auf Deutschland wagen, ohne der Unterstützung Rußlands sicher zu sein, und die würde ihm'*'* nie durch den so friedliebenden Kaiser Alexan- der zuteil werden, welcher durchaus den Frieden wolle***. Lebte der hochselige Kaiser noch, so könnte man dieses nicht mit solcher Be- stimmtheit behaupten. Diese Ansicht habe auch ich immer verfochten.

Naturgemäß kam nun der Minister auf die stete Vermehrung der stehenden Heere zu sprechen und stellte die Frage auf, ob die Staaten bei den eminenten Friedensaussichten nicht einen Vertrag schließen könnten, durch welchen die Heeresmacht eines jeden Staates festgestellt würde 1.

Natürlich eine sehr gut gemeinte, aber ganz unpraktische Idee.

Herr von Schischkin, welcher mich gestern besuchte, wiederholte mir, ohne dazu aufgefordert zu sein, die Bedingungen für einen langen Frieden lägen jetzt so außerordentlich günstig 2.

Der Minister und sein Gehülfe teilen also in erfreulicher Weise die Ansicht über die Friedensaussichten 3. v. Werder

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.: i Aber Giers!

2 daß man ordentlich ängstlich werden kann.

3 so lange es ihm paßt

Nr. 1529

Der Botschalter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 219 Paris, den 28. September 1893

Täuschen mich meine Beobachtungen nicht, so würde die fran- zösische Regierung viel darum geben, wenn die russische Flotten-

* Der Bericht wird vollständig abgedruckt in Kap. L, Nr. 1655; der Schluß ist hier des Zusammenhangs wegen aufgenommen.

•* Im Texte steht „ihnen", was wohl nur ein Schreibfehler ist. *** Ganz ähnlich hatte sich Herr von Giers kurz zuvor gegen den österreich- ungarischen Minister Grafen Kälnoky geäußert. Vgl. Kap. L, Nr. 1656.

245

demonstration* unterblieben wäre^. Durch sie werden die Beziehungen zu Rußland nicht verbessert, die hiesige Regierung kommt in eine sehr schwierige Lage, und wenn irgendetwas Herrn von Mohrenheim den Hals hier brechen könnte, so ist sein jetziges taktloses Benehmen ganz dazu angetan. Er hat erst eine großartige Feier in Szene gesetzt, hat von dieser als von einem welterschütternden Ereignis gesprochen und wird von Petersburg nun gezwungen, den Eifer, den er hervor- gerufen, zu mäßigen. Es zeigt sich immer mehr, daß der ganze Russen- kultus chauvinistische Straßenpolitik ist, welche die Russen so lange geschehen lassen und gern sehen, bis von ihnen Gegenleistungen in Form schriftlicher Abmachungen verlangt werden. Die Franzosen fangen an, das zu begreifen, und sagen sich: Die Tripelallianz beruht auf Verträgen, wo ist unser Vertrag mit Rußland?

Drumont in seiner „Libre parole'' gab dieser Idee Ausdruck, indem er sagte, die Verlobungsfeierlichkeiten hätten lange genug gedauert, es sei endlich Zeit, die Ehe zu vollziehen.

Das ist der wunde Punkt für die Regierung.

Ich habe schon äußern hören, daß sie kürzlich wieder den Versuch gemacht habe, schriftliche Erklärungen von Rußland zu erlangen**, und daß sehr ausweichend, aber doch ablehnend geantv^ortet worden sei. Ob dies so ist, habe ich noch nicht konstatieren können, halte es aber nicht für unmöglich und glaube, daß Graf Montebello, mit dem man nicht sehr zufrieden sein soll, deshalb herbeordert wurde, pp.

Münster

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: ^ Das glaube auch ich

* Gemeint ist der von dem französischen Botschafter in Petersburg Grafen Monte- bello seit längerem betriebene Besuch der russischen Flotte in Toulon, im Hin- blick auf den, obwohl er erst für den 13. Oktober angesetzt war, schon seit Mitte September ganz außerordentliche Festvorbereitungen getroffen wurden. Über den Verlauf der Festtage in Toulon und Paris, wohin der führende russische Admiral mit 50 Offizieren und 30 Seeleuten für acht Tage (17.— 25. Oktober) kam, siehe Kap. XLVIII. Vgl. Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Jg. 1893, S. 239 ff. ** In der Tat hatte eben damals die französische Regierung einen neuen Anlauf genommen, um zum endgültigen Abschluß der schon im August 1892 vereinbarten Militärkonvention zu gelangen. Doch dauerte es noch bis zum Ende des Jahres, ehe sie ihr Ziel erreichte. Immerhin konnte Botschafter Graf de Montebello am 7. September 1893 an den Nachfolger Ribots, Develle schreiben: „Nous avan^ons ainsi doucement peut-etre mais sürement au but." Von Interesse ist auch Monte- bellos Bemerkung: „L'Empereur a toujours agi, depuis un an, en vue de I'exe- cution de cette Convention. Le travail de concentration de ses forces militaires vers les froiitieres d'AUemagne et d'Autriche s'est poursuivi avec une regulajite qui ne s'est pas un instant dementee; les armements continuent; il est question, pour compenser l'augmentation des forces allemandes d'augmenter aussi l'effectif russe." Oelbbuch L'Alliance Franco-Russe p. 187. Ob freilich die Äußerungen des französischen Botschafters gerade in bezug auf den Zaren vollkommen zu- treffen, muß dahingestellt bleiben. Im ganzen gewinnt man doch, obwohl die erste Anregung zu dem „accord diplomatique" im Sommer 1891 von Rußland

246

Nr. 1530

Der Reichskanzler Graf von Caprivi, z. Z. in Karlsbad, an den Staats- sekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Privatbrief. Eigenhändig*

Karlsbad, den 24. September 18Q3

pp. Diesen Tagen** sehe ich mit Spannung entgegen. Es gehört nicht viel dazu, um die ernstesten Folgen heraufzubeschwören. Es scheint mir richtig, daß Graf Münster an den Tagen in Paris ist. Wir sind in einer andern Lage als Fürst Bismarck im Schnaebele- Fall***; wir können uns nicht soviel bieten lassen. Ich würde wünschen, daß, wenn der Dreibund in irgendeiner Form beleidigt wird, wir Italien den Vortritt ließen, um dessen sicher zu bleiben und dadurch auch eher ein Bindeglied zu England hin zu finden. Ich weiß nicht, ob Graf Münster den Dreibundsvertrag kennt, ob er weiß, daß auch Österreich gebunden ist, Italien zu helfen, wenn es angegriffen wird? Sollte man Graf Münster noch Anhaltspunkte geben? pp.

V. Caprivi

Nr. 1531

Der Gesandte in Kopenhagen Freiherr von den Brincken an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. Q7 Kopenhagen, den 13. Oktober 1S93

Vertraulich

Der Kaiser von Rußland hat heute, Freitag, den 13. Oktober, dem Festtage von Toulon, das hier vor Anker liegende französische Kriegsschiff „Isly" in Begleitung des Großfürst-Thronfolgers und des Großfürsten Michael mit seinem Besuche beehrt.

Meinem gehorsamsten Dafürhalten nach würde es über den Rahmen der von hier aus zu erstattenden ehrerbietigen Berichte hinausgelien, wenn ich versuchen wollte, die ganze großpolitische Bedeutung und Tragweite dieses Vorganges von den verschiedenen dabei in Betracht kommenden Gesichtspunkten aus einer allgemeinen und eingehenden Erörterung zu unterziehen.

ausgegangen zu sein scheint, aus dem französischen Gelbbuch L'Alliance Franco-

Russe wie aus den deutschen Akten den gleichen Eindruck, daß in bezug auf

den Zweibund Frankreich das treibende, Rußland, zumindest der Zar und Oiers,

hin und wieder das retardierende Element gewesen seien.

* Den ersten Teil des Briefes siehe in Kap. L, Nr. 1664.

** Gemeint sind die Tage des russischen Flottenbesuchs in Toulon.

*** Vgl. Bd. VI, Nr. 1237 ff.

247

Ich glaube sonach mich darauf beschränken zu dürfen, Euerer Ex- zellenz gegenüber nur kurz hervorzuheben, daß, abgesehen von den jetzt etwas verspätet und ängsthch von offizieller dänischer Seite zu- tage tretenden Äußerungen zur Sache, mir hier in dänischen und diplo- matischen Kreisen die Anschauung Boden gefaßt zu haben scheint, daß in der Hierherkunft der französischen Kriegsschiffe und in dem heutigen Besuch des Zaren an Bord des „Isly" ein hochv/ichtiges Ereignis erblickt werden müsse, welches den eigentlichen Schwer- punkt der französisch-russischen Verbrüderung sozusagen von Toulon nach Kopenhagen verlege.

Daneben begegne ich auch noch der Ansicht, daß es für die un- beteiligte Beurteilung immer nur schwer verständlich bleiben werde, aus welchem Beweggrunde der Kaiser Alexander, möge die Anwesen- heit der französischen Kriegsschiffe in Kopenhagen nun auf seine Initiative oder ledigUch auf seine Duldung zurückgeführt werden, gerade den gegenwärtigen Augenblick gewählt habe, um hier persönlich für die französisch-russische Entente in ostensibler Weise einzutreten, ohne dabei zu erwägen, daß dieses in Berlin ganz naturgemäß verstimmen i müsse, wo Rußland doch auch besonders jetzt die für seine Inter- essen anscheinend dringend gebotene Annäherung an Deutschland auf handelspolitischem Gebiet* zu suchen genötigt sei.

Bei Erörterung der Frage, wie weit Dänemark in dieser ganzen Sache mitbeteiligt ist, bzw. in Mitleidenschaft gezogen wird, scheint mir allerdings der Umstand nicht unwesentlich ins Gewicht zu fallen, daß der vorgedachte Verbrüderungsakt, welcher durch den Kaiser Alexander auf der Reede von Kopenhagen und damit unter den Augen des dänischen Hofes und der dänischen Regierung heute vollzogen ist, als durchaus geeignet erscheinen muß, um die Konnivenz dieser letzteren vor der Welt zu etablieren 2. pp. Brincken

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 O nein! das sind wir schon gewohnt.

2 ja besonders der Königin Schlußbemerkung des Kaisers:

Vollkommen einverstanden sehr guter Bericht, der leider nur meine Wahr- nehmungen bestätigt

Nr. 1532

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 231 Paris, den 17. Oktober 1893

Am 14. kehrte ich nach einem kurzen Aufenthalt in Biarritz, Arcachon und Bordeaux hierher zurück. * Siehe darüber Kap. L.

248

In Bordeaux fand ich schon, daß wegen der an dem Tage er- folgenden Ankunft der russischen Flotte in Toulon die ganze Stadt mit französischen und russischen Fahnen geschmückt war, dabei Fest- vorstellung mit Prolog und Festgedichten.

Die Bordeauxer Zeitungen nahmen aber die Sache ruhiger, und man merkte, daß es nur der Präfekt gewesen, welcher die ganze Demonstration veranlaßt hatte.

Auf allen Stationen zwischen Bordeaux und Paris wehten russi- sche und französische Fahnen. In Paris ist der Fahnenschmuck bis zur Lächerlichkeit übertrieben: Omnibusse und Droschken fahren mit großen Fahnen umher.

In Biarritz dagegen fand ich bei dem Großfürsten Alexis selbst, seiner Umgebung und einigen Russen, die ich kenne, eine gewisse Geringschätzung der Franzosen wegen ihrer jetzigen Kriecherei. Der Großfürst war in seinen Äußerungen vorsichtiger als seine Umgebung, er meinte aber doch, es würde ihm lieber gewesen sein, wenn die feierliche Begrüßung und Bewirtung der Offiziere in Toulon und nicht in Paris stattgefunden hätte. Die anderen Russen sagten geradezu, es sei der ganze Unfug in Paris auf Mohrenheim zurückzuführen, und es sei empörend, daß die russischen Offiziere wie Pfingstochsen durch den sozialistischen Stadtrat in Paris herumgeführt und im Jardin d'accli- mation, dem Orte, wo alle wilden Völkerschaften ausgestellt werden, bewirtet werden sollten.

Als ich fragte, warum der Admiral Komarow, der die Flotten- abteilung in Amerika führte, nicht nach Toulon gekommen sei, wurde mir erwidert: Admiral Gervais sei vor Kronstadt nur Konteradmiral gewesen, Komarow sei Vizeadmiral und sei außerdem zu sehr homme du monde und spreche zu gut und zu gern französisch. Man habe einen einfachen russischen Seemann haben wollen. Ein solcher sei Admiral Avellane. Er spreche eigentlich kein Französisch und könne daher nur das sagen, was ihm vorgeschrieben wäre, und sich durch den Fluß der Rede nicht hinreißen lassen.

Der Großfürst sagte mir, es sei ihm langweilig, in Biarritz bleiben zu müssen, er werde aber nicht eher nach Paris kommen, als bis die Flottenabteilung Toulon verlassen habe. pp.

Eine Äußerung eines Adjutanten des Großfürsten war mir inter- essant. Er sagte: „Die Franzosen wollen Versprechungen von unserm Kaiser erlangen, schriftlich gibt aber der Kaiser ihnen nichts, erlaubt auch nicht, daß seine Minister sich darauf einlassen. Das hat der Kaiser seinen Brüdern bestimmt erklärt, und was unser Kaiser auf solche Weise sagt, hält er ganz sicher."

„Alles, was die Franzosen jetzt tun, ist verlorene Mühe.**

Ich hoffe und glaube, daß dem so sein möge.

Alles Übertreiben straft sich selbst, und nach dem Rausche folgt Unwohlsein.

249

über die Feste und den Unfug selbst anders läßt sich das, was hier geschieht, nicht bezeichnen behalte ich mir spätere Bericht- erstattung vor. pp.

Münster

Nr. 1533

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 246 Paris, den 30. Oktober 1893

Kein besiegtes Volk hat sich jemals vor dem Sieger so ge- demütigt, als wie es die Franzosen den Russen gegenüber in der vorigen Woche getan i. Die russische Flottenabteilung verließ endlich gestern Toulon, reich beladen mit Geschenken, welche von allen Seiten Frankreichs, selbst von den französischen Kolonien zuströmten. Die Geschenke für den Admiral allein werden auf eine halbe Million Franks geschätzt.

Der Präsident dieser Republik, der zu groß und zu stolz war, um dem früheren Präsidenten und tapfern Soldaten Mac Mahon die letzte Ehre zu erweisen*, kehrte von Toulon zurück, wohin er ging, um sich vor dem Herrscher aller Russen in den Staub zu legend.

Das Telegramm des Zaren an den Präsidenten Carnot wurde in ganz Frankreich jubelnd begrüßt und wird angesehen als eine Sanktion der Allianz durch den Kaiser. In der Absicht und in den Worten selbst liegt das gewiß nicht.

Nach dem ersten Telegramm des Kaisers, welches aus Versehen veröffentlicht sein soll, herrschte hier eine solche Verstimmung, daß Präsident Carnot die Reise nach Toulon aufgeben wollte. Mohren- heim, außer sich darüber, erlangte das Versprechen, daß Seine Majestät an den Präsidenten der Republik nach Toulon ein freundlicheres Tele- gramm richten würde. Carnot ging darauf nach Toulon, das Tele- gramm, welches er durch Mohrenheim wahrscheinlich schon kannte, kam versprochenermaßen. Die Komödie war gespielt, und die Fran- zosen glauben an die Allianz, was ihnen fürs erste genügt.

Ich beehre mich, die beiden Telegramme des Zaren, das ver- stimmende und das beruhigende, beizulegen, ebenso wie das Antwort- telegramm des Präsidenten Carnot und ein Telegramm des Herrn von Giers an Herrn von Mohrenheim**.

* In seinem Berichte vom 25. Oktober (vgl. Kap. XLVIII, Nr. 1603) hatte Graf Münster erwähnt, es habe einen sehr schlechten Eindruck gemacht, daß Präsident Carnot an der Leichenfeier für den früheren Präsidenten Marschall Mac Mahon (22. Oktober), bei der Graf Münster im Auftrage Kaiser Wilhelms II. einen Kranz niederlegte, sich überhaupt nicht beteiligte.

** Siehe den Wortlaut der Telegramme (in deutscher Obersetzung) in Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Jg. 1893, S. 239 f., 241 f.

250

Ich muß oft an den Ausspruch des ersten Napoleon denken, wenn er sagte: „Au siecle prochain l'Europe sera repubUcaine ou cosaque!"

Die verblendeten Franzosen tun alles dazu, um diesen Ausspruch wahr zu machen.

Als Napoleon das sagte, sah er nicht voraus, daß aus dem zer- stückelten Deutschland ein mächtiges Reich entstehen würde, dessen große welthistorische Aufgabe es ist, ein Damm gegen die Invasion der östlichen Barbaren und ein Hort für die Monarchie zu sein. Von zwei Seiten wird es bedroht, von außen durch die Koalition der östlichen und westlichen Barbarei, von innen durch die staats- gefährliche Partei, welche unter dem Deckmantel des Sozialismus nichts anderes will als den Untergang der Monarchie 2.

Den äußeren Feinden gegenüber müssen wir unser Pulver trocken halten. Was die Feinde der Monarchie betrifft, so müssen wir unsere Augen weit öffnen und uns den Blick durch philanthropische Theorien nicht trüben lassen^.

Wir müssen vor allem klar darüber sein, was unsere Feinde wollen.

Das herabgekommene Frankreich träumt noch von der früheren Machtstellung, die Deutschland zerstörte und für sich erkämpfte. Es glaubt, diese nur mit Rußlands Hülfe wiedererlangen zu können.

Einen baldigen Krieg will Frankreich nicht, will ihn aber vor- bereiten, Deutschland erst schwächen und den Dreibund nach und nach beseitigen. Der Anfang wird mit Italien gemacht, die Fran- zosen hoffen, dieses nicht reiche Land finanziell zu ruinieren und auf diese Weise in ihre Arme zu treiben. Das werden sie nicht so leicht erreichen, als sie glauben, zum Verzvveiflungskriege könnten sie es aber treiben.

Was Österreich betrifft, so rechnen Frankreichs Staatsmänner vor allem auf die Slawen in Österreich und hoffen, daß das mächtigere Rußland sie an sich ziehen und der österreichischen Monarchie ab- trünnig machen wird. Glücklicherweise geht das alles nicht so leicht, als die französischen Politiker sich das denken: sie vergessen, daß sie schließlich doch Italien in die Arme Englands treiben.

England wird durch sie selbst gezwungen werden, Italien zu helfen, wenn Rußland im Mittelländischen Meere sich festsetzen will. Die Anwesenheit der englischen Flotte in diesem Augenblicke in den italienischen Häfen und die Art, wie sie aufgenommen wurde, sollte ihnen das klarmachen.

Sie fangen an, das zu sehen, und sind darüber sehr verstimmt.

Vor allem überschätzen sie Rußlands Macht und sehen nicht, daß sie durch ihre republikanische Propaganda doch schließlich den Zaren selbst bedrohen.

251

Außerdem rechne ich darauf, daß sie über kurz oder lang die wirkHchen Absichten Rußlands erkennen und einsehen werden, welche unwürdige Rolle sie spielen.

Wenn französische Blätter es schon zu sagen wagen, es sei gut, daß Frankreich wieder einen Herrscher habe, der wirklich Herr Frank- reichs sei, Alexander III., so muß doch der bessere Teil der Nation schamrot werden. Diejenigen, die das noch nicht richtig fühlen, werden sich doch mit der Zeit fragen müssen, was Rußland ihnen für alle ihre Liebe bietet. Sie werden doch eines Tages fühlen, daß die Russen lieber Geschenke annehmen als geben, und daß, wenn sie Geschenke geben, diese gewöhnlich nichts wert sind.

Der Trost, der jetzt überall durch die offizielle Presse und sonstige Äußerungen durchklingt, ein wirklicher Allianzvertrag, ein formelles Versprechen Rußlands sei nicht nötig, die beste Allianz läge in der Verbrüderung der Herzen der beiden Völker, wird auf die Länge nicht vorhalten.

Am 14. sollen die Kammern zusammentreten, und es wird inter- essant sein zu sehen, ob und wie vom Verhältnisse Rußlands zu Frankreich die Rede sein wird.

Der frühere Ministerpräsident und Minister der auswärtigen An- gelegenheiten Rene Goblet, der sich als Sozialradikaler hat v^^ählen lassen und der jetzigen Regierung heftige Opposition machen will, hat es schon angekündigt, daß er von der Regierung eine bestimmte Erklärung darüber verlange, ob sie wirklich Versicherungen von Ruß- land in bindender Form erlangt habe. Ich kann mir kaum denken, daß er unvorsichtig genug sein wird, um das sogleich zu tun. Der Russenrausch steckt noch zu sehr in den französischen Köpfen, und die Regierung würde deshalb jetzt leichteres Spiel haben, als wenn er mit dieser Frage später hervortritt.

Was Frankreich will, wissen wir, was aber Rußland will*, ist nicht so durchsichtig. Die russische Diplomatie ist klüger und ver- steht es von jeher musterhaft, ihr Spiel zu verdecken und zu warten.

Die Geldfrage spielt zwar eine Rolle, das ist aber nicht der wahre Zweck Rußlands. Der ist die Aufhebung der alten Verträge, die Unterjochung der Türkei, die Verbindung des Schwarzen Meeres mit dem Mittelmeer. Daß das so auf einmal nicht zu erreichen ist, wissen die schlauen Russen ganz gut. Sie hoffen und glauben, daß Frankreich, durch Haß gegen England, Italien und gegen uns und durch nationale Eitelkeit verblendet, nicht sehen wird, wohin das führen muß, wenn die Russen sich im Mittelländischen Meere fest- setzten und als die überwiegende Macht im Westen europäische Zivili- sation mit Füßen treten und ersticken würden i.

Vorsichtiger würde es von russischer Seite gewesen sein, wenn die Flottendemonstration in Cherbourg in Szene gesetzt worden wäre; von dort aus konnten die Schiffe auch in das Mittelmeer gehen. Die

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Demonstration in Toulon zeigt zu sehr, was ihr Zweck ist, und selbst viele Franzosen fangen an zu fühlen, wohin das alles führen kann.

Die Regierung und ihre Organe hatten früher zugegeben, daß Ruß- land einen französischen Hafen als Kohlen- und Überwinterungsstation zu erhalten wünsche und Besprechungen darüber eingeleitet habe. Es wird das mit gewisser Ostentation geleugnet. Die Russen werden diese Absicht nicht aufgeben, aber sie vorsichtiger betreiben.

Das Geschwader geht erst nach Hyeres auf einige Tage, dann nach Ajaccio, wo der Admiral weitere Befehle erhalten soll. Ich vermute, daß das Geschwader nicht ganz zusammenbleibt und einzelne Schiffe in die griechischen Gewässer, eins derselben nach Tunis gehen, und daß eins in Villefranche einen Teil des Winters zubringen wird.

Die russisch-französische Allianzfrage wird für den Augenblick wohl ruhen. Die Franzosen glauben daran, die Russen lassen ihnen den Glauben, bis der Moment kommt, wo die Franzosen nicht mehr blind alles tun werden, was die Russen wollen, und sie einsehen, daß sie von ihnen auf handelspolitischem Gebiet und sonst nichts erreichen und schließlich die Düpierten sind 5.

Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Richtig

2 im Bunde mit dem Vatikan

3 richtig

* Constantinopel

^ wer zuletzt lacht lacht am besten

Schlußbemerkung des Kaisers:

Es waren die Feste eine Illustration zu einer Bemerkung, die Großfürst Alexis im vorigen Jahre gemacht: Ces imbeciles de Frangais sont toujours prets ä croire tout ce que l'on veut leur faire croire.

Nr. 1534

Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 283 St. Petersburg, den 27. November 1 893

Graf Rex hat in seinem gehorsamsten Bericht vom 27. v. Mts. Nr. 262 Euerer Exzellenz bereits angezeigt, daß die Aufnahme der russischen Seeleute seitens der Franzosen in Rußland einen großen Eindruck gemacht hat*.

Das wird durch den Bericht des französischen Geschäftsträgers de Vauvineux vom 23. September (Französisches Gelbbuch L'Alliance Franco-Russe Nr. 8Q) be- stätigt.

253

Das, was ich seit meiner Rückkehr hier sehe und höre, bestätigt obige Auffassung und nötigt mich, den Erfolg, den die Franzosen durch diesen Empfang bei den Russen erzielt haben, nochmals hervor- zuheben.

Es unteriiegt keinem Zweifel, daß die deutsch -französische „Entente" in ein innigeres Stadium getreten ist. Man betont hier, die Franzosen hätten gezeigt, daß sie, wenn erforderlich, vernünftig sein können, somit ist die Angst vor diesen aufgeregten, undisziplinierten französischen Volksmassen geschwunden; ein gewisses Zutrauen in den französischen Volksgeist macht sich geltend. Die Russen glauben den Franzosen für den großartigen Empfang Dank schuldig zu sein, und in diesem Gefühl hat der Adel des Gouvernements St. Petersburg beschlossen, dem hiesigen französischen Botschafter zu Ehren ein Diner zu geben, welches unter Beteiligung von vielen Adelsmarschällen des Landes in der Mitte nächsten Monats stattfinden soll.

Ferner ist gestern abend seitens des unter dem Protektorate der kaiserlichen Majestäten stehenden Wohltätigkeitsinstituts der Kaiserin Marie ein „franko -russischer" Maskenball im hiesigen Adelssaal ab- gehalten worden.

Wie ich die Situation ansehe, kann ich der Behauptung der franko- russischen Presse, daß der Friede nunmehr endgültig gesichert sei, nicht zustimmen; ganz im Gegenteil, ich sehe in dieser innigen Ver- brüderung eher eine Gefahr für den Frieden i. Angesichts der Charaktere der Franzosen und der Russen steht zu befürchten, daß sie sich bei etwaigen politischen Komplikationen im Vollgefühle ihrer vereinten Kräfte zu Schritten hinreißen lassen werden, welche ernste Folgen haben könnten 2,

Wohl steht einer solchen Eventualität russischerseits die bekannte FriedensUebe des Kaisers Alexander entgegen; es fragt sich jedoch, ob er dann den Verhältnissen noch gewachsen sein wird 3. Dadurch, daß allerhöchstderselbe den franko-russischen Verbrüderungsfesten freien Lauf gestattete, hat er eine Bewegung in seinem Lande ent- stehen lassen, die aufzuhalten ihm später schwerfallen dürfte.

Ich bin der Überzeugung, daß, solange Herr von Giers der Berater Seiner Majestät des Kaisers Alexander in auswärtigen Angelegenheiten ist, nichts von hier aus geschehen wird, was den Keim zu politischen Verwickelungen legen könnte; wer weiß aber, ob sein Nachfolger dieselbe Vorsicht und Überlegung besitzen wird.

Nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß diese Neigung der Russen für Frankreich für mich nichts Überraschendes hat. Während des Krieges im Jahre 1870/71 war es meiner Ansicht nach einzig und allein dem Kaiser Alexander zu danken, daß jede Intervention zugunsten Frank- reichs unterblieb. v. Werder

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.: i Richtig 2 j^ 3 sehr richtig

254

Nr. 1535

Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 305 St. Petersburg, den 26. Dezember 1893

Als ich neulich bei Herrn von Giers war, kam im Laufe der Unterhaltung auch wieder die Rede auf die nicht endenwollcnden Ovationen, welche die Russen den Franzosen bereiten.

Bälle, Bazars, Konzerte usw., alles segelt unter franko-russischer Flagge, was allerdings sehr oft nur zu Reklamezwecken dient.

So nannte sich z. B. ein Wohltätigkeitsbazar, an dessen Spitze viele vornehme Damen der hiesigen Gesellschaft standen, franko-russi- scher Bazar, und warum? Weil die Franzosen sich im Falle solcher Benennung erboten hatten, sämtliche Ausstattungskosten für denselben zu tragen.

Herr von Giers tadelte diese Ovationen auf das entschiedenste und betonte wieder, wie er das sehr gern tut, daß weder er noch irgendein Mitglied des auswärtigen Ministeriums an dem Diner für den Grafen Montebello teilgenommen habe.

Ganz besonders aber tadelte er die Manifestationen der Offiziere und erzählte mir einige eklatante Beispiele. Unter anderem hat auch der bekannte General Kaulbars, Chef des Generalstabes des finn- ländischen Arrondissements, sich bemüßigt gefunden, hervorzutreten und den Franzosen in einem, wie Herr von Giers sagt, von Eitelkeit und Eingenommenheit strotzenden Briefe zu huldigen.

Vielleicht ist es auch er gewesen, welcher die Gräfin Olga Heyden, Tochter des Generalgouverneurs von Finnland, verführt hat, an Madame Adam ein Huldigungsschreiben zu richten. Ihr Brief und die für die Russen gar nicht besonders schmeichelhafte Antwort ist dann ohne ihr Wissen in den Zeitungen abgedruckt, und nun ist sie außer sich.

Wunderbar erscheint es aber, daß die Tochter des Oeneral- gouverneurs Grafen Heyden und sein Chef des Stabes sich gleichzeitig in dieser Weise bemerkbar gemacht haben; das kann doch unmöglich ohne sein Wissen und Willen geschehen sein.

Sonst hat sich keine vornehme Dame weder durch Briefe noch durch Teilnahme an Subskriptionen für ein Geschenk an die Madame Adam, deren schlechter Ruf nur zu bekannt ist, beteiligt.

Herr von Giers sagte mir, er würde Seine Majestät den Kaiser Alexander auf die Manifestationen der Offiziere aufmerksam machen i, was allerdings schon längst hätte geschehen sollen; ich bestärkte ihn darin nach besten Kräften.

Der Erfolg, man kann ja jetzt nur sagen, für derartige zukünftige Verhältnisse ist mir sehr zweifelhaft; soweit ich die Natur des aller-

255

höchsten Herrn kenne, wird sich in der Sache nichts ändern. Seine Majestät übersehen oft die Tragweite der Vorgänge nicht 2, wie sich dies z. B. bei den vor mehreren Jahren so in Mode gekommenen poHtischen Reden von Generalen zeigte.

Ich benutzte die Gelegenheit, Herrn von Giers zu fragen, ob er Kenntnis von einem Vorfall habe, welcher in dieses Gebiet schlüge, und welcher sich gelegentlich der Jubiläumsfeier des Generals Leer* bei der Beglückwünschung desselben durch die Militärattaches ereignet hätte. Da er es verneinte, erzählte ich ihm, was der Hauptmann Lauen- stein** in seinem Bericht vom 17. d. Mts. Nr. 88 Euerer Ex- zellenz darüber berichtet hat.

Ich fügte hinzu, daß er sich wohl denken könne, wie das Ver- halten der russischen Offiziere peinlich für die fremden Offiziere ge- wesen wäre, und daß er es wohl begreiflich finden würde, wenn ich den Hauptmann Lauenstein veranlaßte, sich nicht wieder an militäri- schen Demonstrationen zu beteiligen, ohne die Garantie zu haben, daß dergleichen nicht wieder vorkäme.

Herr von Giers stimmte mir vollkommen bei.

V. Werder

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

i Umsonst.

- richtig

Schlußbemerkung des Kaisers: Das thut er stets! Er wird auch fortfahren Alles unangenehme zu tadeln, seine Hände in Unschuld zu waschen und nichts zu thun. Und Alles wird beim Alten bleiben.

Nr. 1536

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 18 Paris, den 29. Januar 1894

Wenn mich meine Beobachtungen nicht täuschen, so ist die hiesige öffentliche Meinung Rußland gegenüber entschieden viel kühler ge- worden. Wie weit die Regierung selbst ernüchtert ist***, läßt sich noch nicht erkennen, aber auch sie muß mit der Zeit sich doch

* Direktor der Nikolaus-Generalstabs-Akademie.

*' Nach dem Bericht des Hauptmanns Lauenstein, des deutschen Militärattaches in

Petersburg, wäre die beglückwünschende Rede des französischen Militärattaches

von der Versammlung mit ostentativem Beifall aufgenommen worden.

*** Sie hatte durchaus keinen Grund ernüchtert zu sein, da um die Jahreswende

1893/94 endlich der formelle Abschluß der französisch-russischen Militärkonvention

erzielt war. Siehe den Text im Gelbbuch L'AUiance Franco-Russe (1918), p. 144 s.

256

sagen, daß die Russen gern alle Ovationen entgegennehmen, aber eine praktische Gegenleistung nicht aufzuweisen ist. Der Russe nimmt lieber, als er gibt.

Daß der übertriebene Enthusiasmus erkalten würde, habe ich er- wartet. Wenn Wasser den Siedepunkt erreicht, verdampft es, pp.

Was außerdem abkühlend wirkt, sind die Verhandlungen wegen des deutsch-russischen Handelsvertrags*. Wenn ich gefragt werde, ob derselbe zustandekomme und diese Frage tut fast jeder Fran- zose, der mich sieht , so antworte ich ganz ruhig, das betrachtete ich als selbstverständlich 1, und ich merke deutlich, daß diese Antwort keinen angenehmen Eindruck macht. Die französischen Kaufleute und Industriellen wünschen es zwar, weil durch die Frankfurter Stipulation sie für gewisse Artikel der Ausfuhr denselben Nutzen haben werden als unsere Industrie. Die französischen Politiker wissen aber, daß aus einem Zollkriege unter zwei so mächtigen Nachbarstaaten doch schließ- lich ein ernster Krieg entstehen könnte, und sie fürchten, daß der Ab- schluß des Handelsvertrages unsere Beziehungen verbessern müsse.

Auf der hiesigen Börse soll die Stimmung auch für Rußland un- günstiger geworden sein. Es ist von mancher Seite unter der Hand, auch vom Finanzministerium aus, gegen den Ankauf russischer Werte gewirkt worden, weil man befürchtete, es könne dadurch die hiesige Konversion der ,4V2^/oigen Rente erschwert werden.

Besonders unangenehm hat es aber berührt, daß die hiesige Eisen- industrie, welche gehofft hatte, in Rußland ganz festen Fuß zu fassen, erfahren hat, daß die russische Regierung mit deutschen Fabriken wegen sehr großer Lieferungen von Eisenbahnmaterial verhandelt.

Überschätzen dürfen wir alle diese Anzeichen nicht, denn auf lange Zeit noch wird das französische Kabinett, uneingedenk der wahren Interessen Frankreichs im Orient und im Mittelmeer, mit Rußland liebäugeln, pp. Münster

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: i Gut

Nr. 1537

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 57 Paris, den 17. März 1894

pp. Was die politische Lage Frankreichs nach außen betrifft, so

ist sie auch nicht glänzend.

Seit den letzten 10 Jahren ist die ganze Politik allein auf eine

Allianz mit Rußland und auf das Zusammengehen der beiden Nationen,

* Vgl. Kap. L, Nr. 1666.

17 Die Große Politik, 7. 3d. 257

die nichts Gemeinsames haben als den Haß gegen Deutschland, basiert worden. Man hat von beiden Seiten den Nationen vorgeschwindelt, daß ein Einverständnis, eine AUianz bestehe. Durch die Vorgänge in Kopenhagen*, durch den Abschluß unseres Handelsvertrages mit Ruß- land** ist der Schleier zerrissen, manche Illusion zerstört.

Frankreich beginnt wieder zu fühlen, daß es politisch allein steht, und die Schuld dafür wird ungerechterweise dem Präsidenten Carnot und den jetzigen Machthabern zugeschoben werden.

Der Abschluß unseres Handelsvertrages hat einen tiefen Eindruck gemacht.

Die Geschäftswelt, welche hofft, aus diesem Vertrage Nutzen zu ziehen, außerdem darin eine Garantie für den Frieden erblickt, ist sehr zufrieden, wagt aber nicht, es zu sagen. Die Politiker aber, die sogenannten Patrioten und Revanchehelden sind natürlicherweise ver- stimmt. Sie verstehen die Bedeutung besser als viele unserer Parla- mentarier i.

Münster

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: ^ Jawohl! besonders von Rechts!

Nr. 1538

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Füisten von Hohenlohe

Ausfertigung

Nr. 286 Paris, den 27. November 1894

Das ganze republikanische Frankreich hat, dem Beispiele von Paris folgend, den verewigten Kaiser Alexander III. als Friedens- fürsten und Erretter Frankreichs betrauert und so gefeiert, wie es einen eigenen beliebten Monarchen nicht hätte mehr feiern können. Dabei ist ganz vergessen, wie derselbe Kaiser noch vor wenigen Jahren von den Republikanern als Autokrat und despotischer Tyrann mit Abscheu genannt wurde.

Wenn auch bei diesem so leicht erregbaren Volke solche Auf- wallungen vorübergehen und oft ganz umschlagen, so ist doch die politische Tragweite dieser Kundgebungen durchaus nicht zu unter- schätzen.

Die Regierung, ihre Organe und fast die ganze Presse haben diese Demonstrationen hervorgerufen und mit allen Mitteln begünstigt. Sie wollen der Welt zeigen und in Frankreich selbst den Glauben ver-

Vgl. dazu Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Jg. 1S94, S. 262. ** Er war am 9. Februar 189-i erfolgt Vgl. Kap. L, Nr. 1667.

253

breiten und befestigen, daß Frankreich mit Rußland eng verbunden, nicht mehr isoliert und wieder die mächtige Grande Nation ist,

Unsicher fühlen sich die französischen Staatsmänner dem Kaiser Nikolaus II. gegenüber, und je weniger sie ihm trauen, je mehr buhlen sie um seine Gunst,

Bis jetzt scheinen die französischen Liebkosungen in St, Peters- burg ganz gern gesehen zu werden.

Zuerst trieb Furcht vor einem neuen Kriege mit uns die Fran- zosen in die Arme Rußlands: sie gaben sich ganz hin, ohne die wirk- liche Ehe, die Allianz, abzuwarten. Krieg will Frankreich entschieden nicht und denkt schon an die Ausstellung von 1900, Rußland will ihn auch nicht. Die beiden Nationen wollen sich aber gegenseitig politisch ausnützen; dabei wird der Löwenanteil Rußland zufallen.

PP.*

Münster

Den Schluß des Berichts siehe in Bd. IX, Nr. 2164.

250

i

Kapitel XLVIII

Deutsch -Französische Beziehungen 1890-1894

I

Nr. 1539 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 15 Paris, den 12. Februar 1890

Antwort auf Erlaß Nr. 42*.

Habe Auftrag gestern abend ausgeführt. Herr Spuller** war voller Bewunderung über die edlen Absichten Seiner Majestät und nannte es ein beachtenswertes Zeichen der Zeit, daß eine solche Initiative vom mächtigsten Monarchen ausgehe. Über die Frage selbst wolle er sich erst äußern, nachdem sie im Ministerrat beraten, und stellte er mir Antwort auf Ende der Woche in Aussicht. Münster

Nr. 1540

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Fürsten von Bismarck

Ausfertigung Nr. 66 Paris, den 6. März 1890

Soeben vor Abgang des Beamten, den ich nach Köln sende, kehre ich aus der Kammer*** zurück.

Der Deputierte Laur, Boulangist und früher Bergwerksbeamter des Grafen Guido Henckel, griff auf heftige Weise die Regierung an und stellte die Elsaß-Lothringer Frage in den Vordergrund.

Er fand keinerlei Anklang in der Kammer.

Herr Spuller dagegen hielt eine sehr ruhige, vorzügliche Rede, in der er sehr geschickt das Vorgehen der Regierung motivierte und nachwies, daß das demokratische Frankreich sich nicht da ausschließen könne, wo über das Wohl der Arbeiter verhandelt werden solle.

Es wurde seine Rede vortrefflich aufgenommen, und beim Ver- lassen der Tribüne zollten gut zwei Drittel der Deputierten ihm stürmi- schen Beifall.

* Durch Erlaß Nr. 42 vom 8. Februar 1890 hatte Graf Münster den Auftrag er- halten, die französische Regierung zur Teilnahme an der geplanten internationalen Arbeiterschutzkonferenz einzuladen. Siehe: Das Staatsarchiv Bd. 51, S. 212. ■** Minister des Äußern im Kabinett Tirard (Februar 1889 bis März 1890). ♦** Die Annahme der Einladung zur Arbeiterschutzkonferenz, die die französische Regierung am 27. Februar im Prinzip, endgültig aber erst am 7. März aussprach (vgl.: Das Staatsarchiv Bd. 51, S. 220), hatte eine Interpellation in der franzö- sischen Kammer zur Folge, der Minister Spuller nach einem Berichte Münsters vom 5. März mit großer Besorgnis entgegensah.

263

Darauf hielt der Boulangfist Milleroi eine heftige Rede und wollte auf die allgemeine auswärtige Politik übergehen, wurde aber wieder- holt vom Präsidenten zur Sache gerufen.

Darauf wurde der Schluß der Debatte verlangt, wobei Cassagnac das Wort erhielt und unter dem lauten Beifall des ganzen Hauses erklärte, daß nichts schädlicher und unpatriotischer sein könne, als allgemeine Debatten über die auswärtige PoUtik zu verlangen.

Sowie es sich um auswärtige Fragen handle, verlange es der Patriotismus, daß der Regierung allein die Verantwortung überlassen werde.

Darauf beantragte Herr Spuller die einfache Tagesordnung und bat das Haus um ein einstimmiges Votum.

Von 484 Stimmen stimmten 480 für und nur 4 gegen den Vor- schlag des Ministers.

Einen solchen Erfolg hat niemand, am wenigsten Herr Spuller erwartet, und schien er wahrhaft erfreut darüber. Münster

Nr. 1541 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Ausfertigung Nr. 88 Paris, den 1. April 18Q0

Ich bin hier seitens des Präsidenten und der Minister*, die ich sah, auf das allerfreundlichste und liebenswürdigste aufgenommen worden. Es war hier das Gerücht verbreitet gewesen, daß ich nicht zurückkehren würde.

Bald nach meiner Rückkehr am Sonntage besuchte mich Herr von Freycinet. Er sagte, daß der Rücktritt des Fürsten Bismarck hier größeres Aufsehen als anscheinend in Berlin und eine gewisse Beunruhigung hervorgerufen habe. Man habe ihn für den Erhalter des Friedens gehalten und habe einen Augenblick gefürchtet, daß es jetzt anders werden könne.

Er selbst habe diese Befürchtungen nicht geteilt und habe das größte Vertrauen zu unserm Kaiser, da alle Maßregeln, alle Kund- gebungen bewiesen, daß Seine Majestät nur das Wohlergehen seiner Untertanen aller Klassen wolle, und das mit kriegerischen Tendenzen unvereinbar sei.

Ich konnte das nur in jeder Hinsicht bestätigen und habe gesucht, seine Ansichten zu bestärken.

Gestern war ich beim Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, Herrn Ribot, der mich auch Sonntag besucht, aber verfehlt hatte.

Der Minister sprach seine große Befriedigung über das aus, was

* Inzwischen war an die Stelle des Kabinetts Tirard um die Mitte März das Kabinett de Freycinet mit Ribot als Außenminister getreten.

264

der Botschafter Herbette über die Äußerungen Seiner Majestät unseres Kaisers berichtet habe.

Auch sagte Herr Ribot, daß Herr Jules Simon* ihn soeben ver- lassen und sich sehr befriedigt über die Aufnahme, die ihm und der französischen Deputation zuteil geworden sei, sowie über das Resultat der Konferenz geäußert habe. Er meinte: „II est revenu tout ä fait AUemandV

Darauf sagte Herr Ribot, er hoffe aufrichtig, daß die Beziehungen zwischen unseren beiden Nationen sich stetig bessern werden 2.

Wesentlich dazu beitragen würde vor allem die Aufhebung des Paßzwanges für Elsaß-Lothringen** 3. Diese Maßregel habe von Anfang an viel böses Blut gemacht und sehr schmerzlich berührt, sie habe wesentlich dazu beigetragen, die Stimmung gegen Deutschland zu verbittern

Es ist dieses das erstemal, daß mir gegenüber ein französischer Minister über die Pässe gesprochen hat. Alle Minister hatten es bisher ängstlich vermieden.

Ich erwiderte darauf, daß diese Maßregel durch die Agitation veranlaßt wurde, die von hier aus ganz systematisch betrieben und genährt worden sei.

Solle überhaupt von Aufhebung des Paßzwanges die Rede sein*, so müssen wir erst die Überzeugung gewinnen, daß die französische Regierung solche Agitationen mißbillige und uns helfen werde, uns davor zu schützen.

Herr Ribot erwiderte darauf, daß die Bekämpfung des Boulangis- mus und die Maßregeln gegen Deroulede und die Ligue des Pa- triotes*** bewiesen, daß die jetzigen Machthaber Frankreichs^ eine solche Agitation nicht mehr wollten und mißbilligten.

* Senator Jules Simon war der Führer der französischen Delegation zur Arbeiter- schutzkonferenz gewesen, die vom 15. bis 2Q. März 1890 in Berlin tagte. Kaiser Wilhelm hatte zu der Ankündigung der Wahl Simons bemerkt, „freue mich sehr, ihn zu sehen", und ihn dann in Berlin mit besonderer Auszeichnung behandelt, ihm sogar die neuerschienene Ausgabe der musikalischen Werke Friedrichs des Großen nebst einem Handschreiben übersandt. Seinerseits hat sich Jules Simon in den Aufsätzen, die er nach seiner Rückkehr nach Paris in der von ihm herausgegebenen „Revue de Familie" über die Berliner Konferenz veröffentlichte, sehr anerkennend über den Kaiser geäußert, dem er ganz wesentlich das Verdienst für das Gelingen der Konferenz zuschreibt: „C'etait son oeuvre personnelle, et certainement l'un des evenements importants du debut de son regne. J'ai eu l'honneur de m'entre- tenir avec lui ä plusieurs reprises. Je ne citerai de ces conversations qu'une seule phrase: »J'ai reflechi que, dans ma position, il vaut mieux faire du bien aux hommes que de leur faire peur.« Oui, Majeste, cela vaut mieux devant Dieu et devant l'Histoire." Revue de Familie, Livraison du 1. Mai ISQO. ** Vgl. dazu Bd. VI, Kap. XL, Nr. 1284.

♦** Sie war am 28. Februar 1889 aufgelöst worden, aber nidit wegen ihrer Deutschen- hetze, sondern wegen ihres Auftretens zugunsten des sogenannten freien Kosaken Aschinow, den die französische Regierung mit Gewalt an der Gründung einer russischen Kolonie in der französischen Einflußsphäre am Roten Meer gehindert hatte.

265

Später besuchte ich den Präsidenten Carnot, der mich sehr freund- lich bewillkommnete.

Ich sagte dem Präsidenten, wie Seine Majestät der Kaiser mich beauftragt habe, dem Präsidenten Grüße zu überbringen und zu sagen, daß Seine Majestät hoffe, die guten Beziehungen zu Frankreich er- halten zu sehen.

Der Präsident, sichtlich befriedigt, erwiderte, daß er sehr dankbar sei und auch nichts aufrichtiger wünsche als ein nachbarliches Ein- vernehmen mit Deutschland. Er sprach auch über die so äußerst zuvorkommende Aufnahme, welche die französische Deputation zur Arbeiterkonferenz bei Seiner Majestät dem Kaiser und auch überhaupt in Berlin gefunden habe. Dabei brachte der Präsident die Rede auf die von den Sozialisten beabsichtigte Demonstration am 1. Mai. Er und seine Regierung seien fest dazu entschlossen, dieser Demon- stration energisch entgegenzutreten und sie nicht zu dulden^, und er hoffe, daß das auch in allen anderen Ländern geschehen werde ^.

Am 15. April begibt sich der Präsident nach dem Süden Frank- reichs und wird bei der Gelegenheit die Flotte bei Toulon sehen.

Die Kammern sind bis zum 6. Mai vertagt.

Der Telegraphenkongreß soll hier in Paris am 15. Mai zusammen- treten. Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

' Erfreulich

ä ja fangt ihr auch an!

3 ach So! Leider unmöglich

* So soll erst einmal das loi d'espionnage von Boulanger aufgehoben werden

* aber die Früheren und späteren?? « gut

^ na ob!

Nr. 1542

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Paris Grafen Münster

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. Q6 Berlin, den 12. April 1890

[abgegangen am 13. April] Da eine Abänderung der reichsländischen Paßkontrolle nicht be- absichtigt ist*, so wird es erwünscht sein, wenn Ew. bei geeignetem Anlaß den bezüglichen Gerüchten in ruhiger Weise entgegentreten.

Marschall

* über die Gründe, weshalb die deutsche Regierung vorerst von einer Abänderung der Paßkontrolle Abstand nahm, unterrichtet die Aufzeichnung Hohenlohes über sein Gespräch mit Caprivi vom 22. März 1890: „Im Verlauf des Gesprächs fragte er mich nach dem Paßzwang. Ich sagte offen meine Meinung: Nicht Aufhebung

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Nr. 1543

Der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt von Kiderlen an den preußischen Gesandten in Oldenburg Grafen zu Eulen bürg

Privatbrief. Reinkonzept

Berlin, den 16. April 1890 [abgegangen am 18. April]

Anbei sende ich Ihnen mit höherer Autorisation Abschrift von einem Bericht aus Kairo. Erschrecken Sie nicht, wenn derselbe mit der Ihnen wahrscheinlich höchst gleichgültigen Frage der Konversion der ägyptischen Schuld* beginnt. Der interessante Teil des Berichts, den ich rot angestrichen habe, steht auf Seite 2 ff., wo die Symptome einer englisch-französischen Annäherung in Ägypten aufgezählt werden. Um Ihnen die Bedeutung der Nachgiebigkeit Englands in der Kon- versionsfrage noch mehr vor Augen zu führen, erlaube ich mir, hier auch noch einen Auszug aus einer Aufzeichnung mitzuschicken, die ich seinerzeit über die Frage angefertigt habe. An die Symptome in Ägypten reiht sich noch ein Vorgang in Marokko. Dort wirken wir schon lange allerdings bis jetzt ohne Erfolg für unsern Freund, den Sultan in Konstantinopel auf Anknüpfung direkter Beziehungen zwi- schen Türkei und Marokko hin. England hat bisher dies auch als seinen Interessen entsprechend angesehen; nur die Franzosen intri-

des Paßzwangs, aber vernünftige Handhabung und Abschaffung der Jagdkarten- verordnung. Das leuchtete ihm ein, doch meinte er, es würde gut sein, noch einige Monate zu warten, damit man nicht meine, es solle jetzt alles neu ge- macht und umgestürzt werden." Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst II, 463.

An der Ansicht, mit Erleichterungen hinsichtlich der Handhabung der Paß- kontrolle zu warten, hielt Reichskanzler von Caprivi auch noch Mitte Mai 18Q0 laut eines Marginals vom 14. Mai fest. Gelegentlich einer Interpellation des Ab- geordneten Richter über die Paßpflicht und die Aufenthaltsbeschränkungen für Elsaß-Lothringen stellte Caprivi am 10. Juni 18Q0 im Reichstage eine mildere Handhabung der Paßverordnung in Aussicht, erklärte aber ausdrücklich, daß an eine Aufhebung nicht gedacht werde.

* Der von der ägyptischen Regierung im Einverständnis mit England seit längerer Zeit betriebene Plan einer Konversion der fünfprozentigen ägyptischen Schuld in eine vierprozentige war 18S9 an der Weigerung des französischen Kabinetts Tirard gescheitert. Indessen lenkte das im März 1S90 zur Regierung gelangte Kabinett Freycinet in der ägyptischen Frage ein, und es schien, da auch England in der Konversionsfrage Entgegenkommen bewies, einen Augenblick, als ob sich nach dem langjährigen Hader ein französisch-englisches Einvernehmen in der ägyptischen Frage anbahnen werde. Über Symptome einer solchen gegenseitigen Annäherung berichtete der deutsche Generalkonsul in Kairo von Brauer in seinem von Kiderlen angezogenen Berichte vom 4. April. Schon vor dem Eingang dieses Berichts hatte Kiderlen in einer Aufzeichnung vom 5. April die Frage erörtert, ob sich in Englands neuerlicher Haltung ein politisches Bedürfnis zu einer An- lehnung an Frankreich ausdrücke. Vgl. Bd. VIII, Kap. LIll, A, Nr. 1777.

267

gierten dagegen. Noch vor kurzem waren die Engländer mit unserem Vorgehen einverstanden und wollten uns unterstützen. Jetzt auf einmal fangen sie an zu sagen, es ginge doch nicht, die Franzosen würden das doch nie zulassen, man müßte diese nicht reizen usw.

Daß die Italiener den Franzosen gegenüber plötzlich mildere Saiten aufziehen und mit Paris Hebäugeln, dafür spricht allerlei, das eklatanteste Beispiel ist die Entsendung der Flotte zur Begrüßung des Präsidenten*.

Dieser Umschwung kann nur auf eins zurückgeführt werden: beide Länder sehen oder glauben zu sehen, daß wir mit Frankreich kokettieren, und glauben nun natürlich auf Frankreich allerlei Rück- sicht nehmen zu müssen. Die französische Presse war in letzter Zeit offenbar auf ein mot d'ordre voll unseres Lobes, weil wir so entgegenkommend seien. Woher das kommt, weiß ich nicht, ebenso- wenig, ob es von Herbette ausgeht, der bei dem Fürsten Bismarck zwei Audienzen kurz hintereinander nach der Krisis hatte. Wie dem auch sei, die Franzosen tun, als stünden sie besser als bisher mit uns, und die Wirkung läßt sich in Rom und London bereits verspüren. Unsere Presse hat ja das Thema einer Annäherung an Frankreich genügend variiert. Sie erinnern sich wohl des ersten charakteristischen Artikels in der Sache; ich lege ihn in rei memoriam bei**.

Was sind nun die Folgen einer solchen wirklichen oder vermeint- lichen Annäherung an Frankreich?

1. Sie wissen so gut oder besser wie ich, daß Italien nicht pour nos beaux yeux, noch weniger für die Österreichs den Bund mit uns eingegangen ist. Erst als Frankreich sich Tunis bemächtigt hatte (eines der letzten Meisterstücke von Seiner Durchlaucht)***, fiel es uns als reife Frucht in den Schoß. Italien sucht bei uns gegen Frank- reich, das es zwischen Toulon und Biserta (Tunis) eingeklammert hält, Schutz in politischer und wirtschaftlicher Beziehung. Lieb- äugeln wir mit Frankreich in einer dieser beiden Beziehungen, so tritt Italien sofort den Eilmarsch nach Paris-Kanossa an und verständigt sich mit Frankreich schon aus reiner Furcht. Auf Italien muß eine deutsche Annäherung an Frankreich noch viel intensiver wirken als auf Österreich eine deutsche Annäherung an Rußland.

2. Bezüglich Englands verhält es sich ähnlich wie mit Italien. Graf Hatzfeldt, dessen feines politisches Gefühl nie bestritten worden ist, sagt darüber in einem Bericht:

„Ich habe seit Jahren Lord Salisbury gegenüber betont, daß unser Verhältnis zu Frankreich den besten Schutz für England nach dieser Seite sei und dafür volles Verständnis gefunden. Sollte sich diese Hoff-

* Am 17. April begrüßte eine Eskadron der italienische Flotte den Präsidenten

Carnot in Toulon.

** Nicht bei den Akten.

♦** Vgl. Bd. in, Nr. 655 ff.

268

nung hier (in London) verringern, so würde allerdings wohl gleichzeitig das Bedürfnis auftauchen, sich gegen von Frankreich drohende Even- tualitäten auf andere Weise, möglicherweise durch Versuch direkter freundschaftlicher Verständigung mit dem Nachbarlande zu schützen.

Eine solche Verständigung könnte in zwei Fällen eintreten: ein- mal, wenn man hier glaubte, zu der Überzeugung gelangt zu sein, daß eine politische Verständigung zwischen uns und Frankreich zu erwarten sei, zweitens, wenn Gladstone mit den Radikalen ans Ruder käme."

Ein bedenklicher Anfang einer englisch-französischen Annähenmg scheint sich in Ägypten vorzubereiten. Auf Marokko würde ich weniger geben. Aber wenn sich England und Frankreich anfangen über Ägypten zu verständigen, dann hat der die Verständigung suchende Teil und das ist in diesem Moment England seine gewichtigen Gründe dazu. Denn sonst ist ja Ägypten der klassische Zankapfel zwischen Franzosen und Engländern.

Die Franzosen wissen recht gut, wie ihre Annäherung an uns in Italien und England wirken würde; deshalb gebärdet sich ihre Presse so freundhch gegen uns mit einem Schlage, spricht von Aufhebung der Paßkontrolle in Elsaß usw. Soviel wir wissen, hat Seine Majestät den französischen Botschafter, der ihn auf die Paßfrage anredete, gründlich ablaufen lassen. Das verschweigt aber M. Herbette be- zeichnenderweise sorgfältigst.

3. Jedes Entgegenkommen unsererseits, das die obenerwähnten Nachteile hat, kann uns keinerlei Vorteil bieten im kritischen Moment, wenn es losgeht. In politischer Beziehung können wir Frankreich nichts bieten als ein freundliches Lächeln. Unsere Gegner, wer sie seien, Rußland, eventuell ein feindliches Italien, England, können ihnen monts et merveilles versprechen: Elsaß-Lothringen, die Rheingrenze, die Herstellung der Zustände vor 66; das alles kostet ja die andern nichts. Dagegen kann kein von uns ausgehendes Kajolieren ohne materiellen Hintergrund etwas nützen.

Ergo wir müssen uns die Freunde erhalten, die eine gemeinsame Gegnerschaft gegen Frankreich uns zuführt. Die verlieren wir durch Kokettieren mit Frankreich, ohne eine Verständigung zwischen diesem und unsern Feinden verhindern zu können.

Fast noch utopistischer ist eine wirtschaftliche Verständigung mit Frankreich, die in der Presse neuerdings recht unnötigerweise ventiliert worden ist. Damit machen wir ebenfalls Italien kopfscheu und erreichen doch nichts. Man braucht ja nur die schutzzöUnerische Richtung anzusehen, die drei Viertel der französischen Kammer be- herrscht, und die systematische allmähliche Kündigung aller Handels- verträge.

Seine Majestät wird jetzt, wo Sie wieder schwimmenderweise ihn

269

begleiten werden*, jedenfalls politica mit Ihnen reden. Es ergeht nun an Sie die Bitte nicht von mir aus, ich schreibe alles dies autorisiert , Seiner Majestät die vorstehend entwickelten Gesichts- punkte vorzutragen falls Sie sich dieselben aneignen können, woran ich bei ihrer Kenntnis unserer politischen Verhältnisse nicht zweifle. Seine Majestät kennt zwar den Bericht aus Kairo, der hier beiliegt. Vielleicht bringen Sie denselben aber Seiner Majestät noch einmal mit einigen Bemerkungen in obigem Sinne unter die Augen, wenn er dann die Frage auf einsamer Meerfahrt innerlich in sich verarbeitet, wird sein scharfer Blick schon das Richtige finden, etc.

Kiderlen

Nr. 1544

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung Nr. 1 Paris, den 4. Januar 1891

Der Neujahrsempfang beim Präsidenten der Republik verlief wie alle Jahre. Das diplomatische Korps war ganz vollzählig vertreten. Es fehlte nur der amerikanische Gesandte, Mr. Whitelaw Reid, der sich von seinen Verhandlungen über die Mac Kinley Bill und dem Kummer darüber, daß den amerikanischen Schweinen der Zutritt zu Frankreich noch versperrt ist, auf einer zweimonatUchen Orientreise erholen will und erst im Februar zurückkehrt.

Die Antwort des Präsidenten auf die etwas sehr devote Anrede des Nuntius lege ich gehorsamst bei.

Sie ist von denen der Vorjahre sehr verschieden und zeigt eine gewisse Sicherheit. Dies tritt immer mehr hervor und kann leicht zur Überhebung führen i.

Wenn ich im allgemeinen solchen Reden, die ja immer auf den inneren Konsum berechnet sind, keinen zu großen Wert beilege, so sind dieselben deshalb immer ein gewisses Zeichen der Stimmung.

Die Wahlrede des Kriegsministers von Freycinet an die Wahl- männer des Senates ist auch von einem Teil der deutschen Presse als eine chauvinistische, deutschfeindliche aufgefaßt worden. Bei Wahl- reden muß auch selbst ein Minister, wenn er von einer ganz radikalen Körperschaft, wie es die Pariser Wähler sind, gewählt werden will, die Farben stärker auftragen wie im Parlamente selbst, und daß der jetzige Kriegsminister auf seine Tätigkeit während der Defense natio- nale einen Rückblick warf, war ganz natürlich.

* Graf Eulenburg war ausersehen, bei der bevorstehenden Reise des Kaisers nach Bremen zur Grundsteinlegung eines Denkmals für Kaiser Wilhelm I. (21. April), an di.; sich Seefahrten in die Nordsee schließen sollten, zum kaiserlichen Gefolge zu treten.

270

An meiner Ansicht, daß von französischer Seite ein Kriege noch^ nicht gewünscht, nicht beabsichtigt und von hier nicht ausgehen wird, halte ich noch unverändert fest.

Steigt aber der Hochmut der Grande Nation noch mehr, wie er im Jahre 1890 schon gewachsen ist, so kann bei Komplikationen von anderer Seite Frankreich jetzt mehr geneigt sein, mit einzugreifen, als es bisher der Fall war 3.

Ich sehe deshalb noch durchaus nicht schwarz, werde aber alles, was hier geschieht, aufmerksam beobachten, pp.*

Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Ja

2 da liegt der Hase 8 ja

Schlußbemerkung des Kaisers: Gut.

Nr. 1545

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Paris Grafen Münster**

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 26 Berlin, den 17. Februar 1891

Ew. bitte ich um fortlaufende Sammlung und Einreichung der be- merkenswertesten unter den Preßstimmen, welche eine versöhnlichere Haltung gegen Deutschland befürworten. Da, wo ein offiziöser Ur- sprung zu vermuten ist, wird der Umstand besonders zu erwähnen sein.

Marschall

Nr. 1546

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 33 Paris, den 19. Februar 18Q1

Bereits im Laufe des vorigen Jahres habe ich in meiner Bericht- erstattung wiederholt zu bemerken die Ehre gehabt, daß die lang- gewöhnte französische Gehässigkeit gegen alles, was deutsch ist, er-

* Die Fortsetzung des Berichts, die von den russisch-französischen Beziehungen handelt, siehe in Kap. XLVII, Nr. 1492.

** Das obige Schriftstück findet sich unter den Akten über die Anwesenheit der Kaiserin Friedrich in Paris vom 18.— 27. Februar 18Q1 und beweist, welche Be- deutung diesem Besuch auch von seiten des Auswärtigen Amts im Hinblick auf die deutsch-französischen Beziehungen beigelegt wurde. Der Besuch sollte offen- bar die Probe auf das Exempel sein, ob auf eine „versöhnlichere Haltung gegen Deutschland" gerechnet werden könne.

271

heblich im Abnehmen begriffen sei, daß namentlich in der Presse ein ruhigerer und anständigerer Ton sich einbürgere.

Dieser Übergang zu besserer Stimmung hat, wie ich mit Genug- tuung feststellen kann, gerade in jüngster Zeit wieder große Fort- schritte gemacht. Die verleumderische Verketzerung der deutschen Politik, die Angriffe auf Seine Majestät den Kaiser und König, die Verfolgung der in Frankreich wohnenden Deutschen, die Klagen über die „Knechtung" der Elsaß-Lothringer, das alles ist, wenn auch noch nicht ganz verschwunden, so doch bedeutend gemindert und gemäßigt. Die Hetzereien gegen Deutschland ziehen sich täglich mehr in den dunkeln Winkel einiger Schmutzblätter zurück und finden keinen An- klang und keine Verbreitung. Es ist nicht zu verkennen, daß ein Zug der Versöhnung, ein Bedürfnis nach achtungsvoller Annäherung an das so lange mit unschönen Waffen bekämpfte Deutschland durch die Presse geht, eine Stimmung, welche sich freilich bis jetzt mehr in der Einstellung von Feindseligkeiten kundgibt wie in freimütigen Worten der Aussöhnung. Der Bann des Chauvinismus, die Furcht, von den berufsmäßigen Lärmmachern der Ketzerei, des Verrats ge- ziehen zu werden, läßt die anständige Presse nicht den Mut ihrer Meinung finden, der Meinung, daß es im Grunde der Würde und den Interessen Frankreichs mehr entspreche, mit Deutschland gute Nachbar- schaft zu halten, in reger Wechselbeziehung mit demselben der Pflege der Zivilisation sich hinzugeben, als im Jagen nach dem Phantom der Revanche sich und andere aufzureiben. Das ist die Botschaft findet dafür täglich neue Bestätigungen im großen ganzen die Mei- nung des gebildeten französischen Publikums. Solange diese in der Presse nicht offen bekannt und erörtert wird, ist es immerhin be- friedigend, daß sie bei der Meldung und Besprechung einzelner Er- eignisse durchschimmert, welchen die Presse und die öffentliche Mei- nung besondere Aufmerksamkeit widmet.

Ereignisse solcher Art sind in jüngster Zeit das Essen in der französischen Botschaft in Berlin*, der Besuch Seiner Majestät des Kaisers und Königs bei Frau Herbette i, ganz besonders aber die Beileidskundgebung Seiner Majestät aus Anlaß des Todes Meisson- niers** gewesen. Hat sich die Presse auch nicht aus den erwähnten Gründen auf längere Erörterungen eingelassen, so zeigen doch die Fassung der Meldung, der Platz, der ihnen eingeräumt wird, die kurzen Bemerkungen, mit welchen dieselben begleitet werden, wie wohltuend hier diese Aufmerksamkeiten gewirkt haben, wie sehr der Nationalstolz der Franzosen sich durch dieselben geschmeichelt fühlt.

* Am 12. Februar hatte der Kaiser an einem auf der französischen Botschaft ver- anstalteten Essen teilgenommen.

** Kaiser Wilhelm II. ließ der französischen Akademie anläßlich des Todes des französischen Historienmalers (31. Januar 1891) am 4. Februar sein Beileid aus- sprechen.

272

Deutsche Zeitungen, welche mir zu Gesicht gekommen, gehen zu weit, wenn sie sagen, daß die Beileidsi<undgebung Seiner Majestät von der französischen Presse nicht gewürdigt worden sei. Zu Leit- artikeln haben sich zwar meiner Kenntnis nach bisher nur zwei nicht sehr verbreitete Blätter, „La Paix^* und „Le Petit Moniteur Uni- versell, veranlaßt gesehen die Artikel liegen hier bei , aber einige sympathische Worte finden sich nahezu in allen Zeitungen, selbst in durchaus chauvinistischen. Solche kurzen Bemerkungen aber geben hier weit richtiger die Stimmung wieder und wirken besser als lange Artikel, die nur wenige lesen, ganz abgesehen von der guten Wirkung, welche die Tatsachen an sich ausüben. Auch ist zu beachten, daß die verständnisvolle Anerkennung der kaiserlichen Courtoisieakte mehr in dem Sinne und dem Ton zu finden ist, in welchem die Organe der öffentlichen Meinung andere naheliegende Fragen besprechen. Eine solche Frage ist die Beteiligung der französischen Künstler an der diesjährigen Ausstellung zu Berlin*, eine Frage, welche gerade in diesen Tagen, nicht zum mindesten unter dem Eindruck der Beileids- äußerung Seiner Majestät zur öffentlichen Erörterung gekommen ist. Ich darf mir gehorsamst vorbehalten, demnächst darüber zu berichten, welche Schwierigkeiten politischer und materieller Art dem Zustande- kommen einer französischen Ausstellungsabteilung entgegengestanden, und wie die Hindemisse umgangen und beseitigt wurden. Heute darf ich aber schon melden, daß die Opposition, welche die Beteiligung der französischen Künstler an der Berliner Ausstellung in den Kreisen der Künstler selbst und in der hiesigen Presse gefunden hat, anfänglich zwar nicht gering schien, nun aber nahezu verschwunden ist. Neben der sehr verständigen Auffassung, zu welcher sich einige herv'orragende Künstler wie Detaille, Bouguereau und andere öffentlich bekannt haben, ist es sicherlich auch die hochherzige Beileidskundgebung Seiner Majestät des Kaisers, welche bei den französischen Künstlern manche Bedenken überwunden und günstig auf die Auffassung der Sache seitens der Presse gewirkt hat.

Ich beehre mich, einige charakteristische Zeitungsartikel, welche die Teilnahme der französischen Künstler an der Berliner Ausstellung besprechen und dabei auch die allgemeinen deutsch-französischen Be- ziehungen berühren, hier gehorsamst beizufügen. Sie sprechen sich alle für die Beschickung der Ausstellung aus, meist unter Zugrunde- legung des Gedankens, daß Frankreich sich auf dem Gebiete der Kunst eine Revanche holen könne. Selbst die „France", das Spezial-

Der „Verein Berliner Künstler" plante zur Feier seines fünfzigjährigen Bestehens, seiner sommerlichen Kunstausstelhing unter dem Protektorat der Kaiserin Fried- rich einen besonders glanzvollen internationalen Anstrich zu geben, und nahm zu diesem Zweck die Hilfe des Auswärtigen Amts in Anspruch. Das Auswärtige Amt hielt indessen nach einer Randbemerkung Holsteins zu einem Berichte Münsters vom 20. Dezember 1890 ein direktes Eingreifen des Botschafters für un- tunlich.

18 Die Große Politik. 7. Bd. 273

blatt für Deutschenhetze, macht keine Opposition. Nur Paul Cassagnac in seiner „Autorite" bleibt unverbesserlich.

Nicht unerwähnt darf ich lassen, daß der Besuch, mit welchem Ihre Majestät die Kaiserin und Königin Friedrich mein Haus zu beehren die Gnade hat*, hier allgemein als eine neue Bestätigung des an allerhöchster Stelle gehegten aufrichtigen Wunsches aufgefaßt wird, die Beziehungen jeder Art zwischen Deutschland und Frankreich immer friedlicher und wohlwollender zu gestalten. Längere publizistische Aus- führungen liegen in diesem Sinne noch nicht vor, doch enthalten die beigelegten Artikel, wenn auch hier und da der Besuch Ihrer Majestät in ungeschickter Weise mit der Berliner Ausstellung in Verbindung gebracht wird, manche charakteristische Äußerungen.

Als Zeichen der Stimmung darf auch schließlich die mehr wie wohlwollende Aufnahme gelten, welche deutsche Musik neuerdings hier findet. Wagners „Lohengrin", der vor vier Jahren hier wegen deutschfeindlicher Manifestationen nicht weiter gegeben werden konnte, hat in Ronen trotz mangelhafter Aufführung großen Erfolg gehabt und wird voraussichtlich in diesem Herbst, dem ziemlich allgemeinen Ver- langen von Publikum und Presse entsprechend, in der Großen Oper in Szene gesetzt werden. In den berühmten Konzerten von Lamoureux hat die bekannte Berliner Sängerin Ulli Lehmann mit Gesangsvorträgen in deutscher Sprache geradezu frenetischen Beifall geerntet, eine Kundgebung, welche sicherlich nicht allein eine Anerkennung der voll- endeten Kunstleitung sondern auch einen Protest gegen die bisherige Anfeindung deutscher, insbesondere Wagnerscher Musik bedeutet.

Ich werde es mir angelegen sein lassen, weitere Symptome der sich vollziehenden Annäherung an Deutschland sorgsam zu beachten und darüber gehorsamst zu berichten. Münster

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:

1 Beides im vorigen Jahre auch geschehen.

Nr. 1547

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Paris Grafen Münster

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 18 Berlin, den 26. Februar 1891

Ew. ersuche ich, die heftigeren und bemerkenswerteren unter den deutschfeindlichen Preßerzeugnissen ebenso wie vor kurzem die fried- lichen Äußerungen zu sammeln und einzureichen.

Marschall

* Kaiserin Friedrich war mit ihrer Tochter, der Prinzessin Margarete, am 18. Fe- bruar auf einer Reise nach England in Paris inkognito eingetroffen und hatte beim Botschafter Grafen Münster Wohnung genommen.

274

Nr. 1548 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung Nr. 17 Paris, den 26. Februar 1891

Ihre Majestät Kaiserin Friedrich verläßt morgen früh Paris, um sich in Calais einzuschiffen. Ich begleite Ihre Majestät bis dahin.

Der Aufenthalt, vom herrlichsten Wetter begünstigt, hat Ihrer Majestät viel Freude bereitet.

Der Verlauf wäre noch besser gewesen, wenn der Besuch nicht zu lange gedauert hätte. Ich konnte als Wirt das nicht sagen, auch wollte Königin Viktoria die Kaiserin nicht vor dem 27. empfangen. Die Regierung hat sich korrekt benommen und das Inkognito streng respektiert, weshalb der Präsident sich entfernt hielt.

Bis Sonntag ging alles sehr gut, und wäre die Kaiserin am Montag abgereist, so würde es ein großer Erfolg gewesen sein. Dann fingen die feindlichen Mächte an zu agitieren und mißbrauchten die Be- teiligung der Künstler an der Berliner Ausstellung als Agitationsmittel. Die russische hiesige Presse begann. Vier Faktoren haben die Stim- mung gegen Deutschland erregt: Russische Intrigen vor allem i, dann die Patriotenliga gegen uns, die Radikalen gegen das Kabinett und die Elsässer wegen des Paßzwanges. Die Künstler haben sich einschüchtern lassen und ziehen zurück 2. Die Regierung hat sich in der Aussteilungs- frage neutral verhalten, ist aber der Agitation gegenüber schwach.

Die Orleans haben versucht, Ihre Majestät zu sehen. Herzog und Herzogin von Chartres waren nicht in Cannes, wie beabsichtigt, sondern hier, die Kaiserin hat aber auf meinen Rat kein Mitglied der Familie Orleans gesehen 3, keinen Besuch bei ihnen gemacht und alles sorg- fältig vermieden, was Anstoß hätte erregen können.

Überall, wo sich Ihre Majestät zeigte, ist sie mit großem Respekt behandelt, und auf der Straße ist nicht der geringste Mißton bemerkt worden.

Bericht folgt Sonnabend. Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. auf einer Abschrift:

1 Die 7te Großmacht der Rubel

2 habe das erwartet, weil ich dem ganzen Enthusiasmus nicht geglaubt habe

3 gut

Nr. 1549 Der Botschafter inParis Graf Münster an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung Nr. 39 Paris, den 27. Februar 1891

Die Frage der Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich, worüber ich am 19. und am 21. d. Mts. (Nr. 33* und 37) zu be- richten die Ehre gehabt, ist inzwischen von der Presse immer in * Siehe Nr. 1546. Der Bericht Nr. 37 vom 21. Februar enthielt nur Pressenotizen.

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dem engeren Rahmen der Beschickung der Berliner Kunstausstellung in wachsendem Umfange und mit steigender Erregung erörtert worden.

Während ich vor acht Tagen noch zu berichten in der Lage war, daß die Teilnahme der französischen Künstler an der Ausstellung geringe Opposition fände, muß ich heute einen bedauerlichen Umschwung melden*, pp.

Der Aufenthalt Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin, so sehr derselbe anfänglich zugunsten einer freundschaftlichen Annäherung auf nichtpolitischem Gebiete zu wirken schien und sicherlich gewirkt hätte, wenn er nicht zu lange ausgedehnt worden, hat die Geduld der Chauvinisten auf eine zu harte Probe gesetzt. Sehr wohl fühlend, wie große Fortschritte die versöhnliche Stimmung im allgemeinen und diejenige der Künstler im besondern machte, haben sie den Kampf hiergegen in Presse und Versammlungen mit allen jenen bekannten vergifteten Waffen auf das heftigste wieder entfacht, die eben im Vernarben begriffenen Wunden mit frevelnder Hand wieder aufgerissen. Obwohl die Reise Ihrer Majestät von der hiesigen Presse bereits vor der Ankunft mit der Ausstellung in Verbindung gebracht, vorsichtige Neutralität daher angezeigt und von mir empfohlen war, hat Ihre Majestät in dem Vertrauen, daß der gesunde Sinn jene Mißdeutungen beseitigen werde, ihren künstlerischen Neigungen keine zu engen Grenzen ziehen zu müssen geglaubt und neben den Museen, Privat- galerien und Sammlungen auch einige Ateliers hervorragender fran- zösischer Künstler besucht. Bei der Zudringlichkeit, mit welcher die Reporters ungeachtet aller meiner Anstrengungen Ihre Majestät auf Schritt und Tritt verfolgten, sind diese Besuche sofort bekannt ge- worden, die Legende, daß die Reise der hohen Frau der Erwirkung der französischen Beteiligung an der Ausstellung gelte, wurde damit zur Überzeugung, und die erhabene Person Ihrer Majestät in den Preß- kampf hineingezogen. Daneben haben diese Atelierbesuche, bei welchen übrigens Ihre Majestät jede Erwähnung der Ausstellung peinlich ver- mieden hat, neidische Reibereien in der Welt der Künstler und Opposi- tion gegen die Ausstellung hervorgerufen.

Zu alledem kam noch folgender Vorfall: Einige Patrioten hatten unter Derouledes Führung ihrem Protest gegen Beschickung der Ber- liner Ausstellung unter anderem damit Ausdruck gegeben, daß sie einen mächtigen Kranz auf das in der Pariser Kunstschule befindliche Denkmal eines während der Belagerung von Paris als Soldat gefallenen Künstlers, Regnault, niederlegten. Tags darauf war der Kranz ver- schwunden, und zwar, wie die Patrioten sogleich verkündeten, auf Anordnung der Regierung**, welche den Besuch der Kaiserin in der

* Es folgen Auszüge aus der französischen Presse.

** Nach den Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (Bd. II, S. 479) wäre die Entfernung durch den Direktor der Ecole des beaux arts angeordnet worden, „parce que cela pourrait faire une mauvalse Impression".

276

Kunstschule erwartete. Darob nun großer Lärm in der Presse und selbst in den Couloirs der Kammer, wo eine Interpellation Derouledes nur mühsam durch das feierliche Versprechen der Regierung ver- mieden wurde, jenen Kranz sogleich wieder an Ort und Stelle bringen zu lassen. Ob der Kranz tatsächlich von der Regierung entfernt worden war, ist noch nicht aufgeklärt, aber wahrscheinlich. Jedenfalls aber hat sie den Kranz wieder hinlegen lassen und damit, wenn auch in der guten Absicht, einen Skandal zu vermeiden, vor der rechtlich nicht mehr anerkannten Patriotenliga kapituliert. Übrigens war der Besuch Ihrer Majestät in der Kunstschule nie beabsichtigt und hat nicht stattgefunden.

Dieser Vorfall hat die öffentliche Meinung von neuem in Wallung gebracht und den Preßkampf immer heftiger gegen diejenigen Künstler entbrennen lassen, welche die Absicht kundgegeben hatten, nach Berlin zu gehen. Deroulede und andere „Patrioten" hielten neue Versamm- lungen ab, in welchen gegen die Künstler, gegen die Anwesenheit Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich und das „bevorstehende" Hierher- kommen Seiner Majestät des Kaisers und Königs Protest erhoben wurde. Daß die Witwe Meissonniers, offenbar auf chauvinistisches Anstiften, mit einer flegelhaften schriftlichen Erklärung in den Kampf eingegriffen hat, ist dieser ungebildeten Frau, die bis vor kurzem nur des Malers Köchin und Maitresse gewesen, weiter nicht zu verübeln. Daß aber die Presse fast ohne Ausnahme sich ein Vergnügen daraus macht, diese niederträchtige Erwiderung auf die hochherzige Beileids- kundgebung Seiner Majestät des Kaisers dem Publikum zu unter- breiten, zeigt, auf welche Stufe hier das Gefühl des internationalen Anstandes gesunken ist.

Haben alle diese Dinge auch glücklicherweise nicht die öffent- liche Meinung so weit zur Verirrung gebracht, daß Ihrer Majestät bei ihren Fahrten und Gängen in der Stadt die geringste Belästigung abgesehen von der Zudringlichkeit der Reporters zuteil ge- worden wäre, so hat doch der Kampf der Chauvinisten gegen die Be- schickung der Berliner Ausstellung einen siegreichen Ausgang gehabt. Die Künstler, voran der sonst so verständige und mutige Detaille, der überdies durch Schmäh- und Drohbriefe eingeschüchtert worden sein soll, haben nun erklärt, daß sie angesichts des Umschwunges der öffentlichen Meinung ihre Absicht, nach Berlin zu gehen, auf- geben. Selbst die wenigen, welche standhaft zu bleiben wagten, dar- unter der bekannte Porträtmaler Bonnat, welcher neben Detaille, Bouguereau und anderen durch einen Besuch Ihrer Majestät beehrt worden war, scheinen ihre Überzeugung opfern zu wollen, um wenig- stens dem Auslande nicht das Schauspiel der Uneinigkeit zu geben.

Ich sehe damit die Beteiligung der französischen Künstler an der Berliner Ausstellung, ein[em] Werk, an welchem die Kaiserliche Bot- schaft, ohne aus der gebotenen Reserve, ohne gleichsam aus der

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Kulisse herauszutreten, mit hingebender Sorgfalt und, ich darf sagen bis vor kurzem mit dem erfreulichsten Erfolg, gearbeitet hatte, zu- sammenbrechen, aber ich sehe dabei leider auch unsere so aufrichtigen Bemühungen um die Herstellung und die Pflege freundnachbariicher Beziehungen zwischen den beiden Nationen auf nichtpolitischem Ge- biete vorläufig gescheitert 1. Ich will zur Ehre der Künstler annehmen, daß sie sich hauptsächlich deshalb zurückgezogen haben, um dem Preßkampf, der durch die Hereinziehung der erhabenen Person Ihrer Majestät einen besonders unschönen Charakter angenommen hatte, ein rasches Ende zu machen, ich kann es verstehen, daß sie den An- griffen einer anstandslosen Presse zu entrinnen trachteten, und ich kann es ihnen nicht verargen, daß sie der verantwortlichen politischen Rolle sich zu entziehen suchten, welche man ihnen aufdrängte. Ich will und kann die Künstler nicht anklagen, die ihnen von deutscher Seite dargebotene Hand zurückgewiesen zu haben, ich weiß zu wohl, daß sie mit verschiedenen Ausnahmen vom besten Willen beseelt und vom erfreulichsten Verständnis für die Sache erfüllt waren. Aber die Regierung kann ich von der Anklage nicht freimachen, den Mut und den Willen nicht gefunden zu haben, den Künstlern den Kompaß zu geben, dessen sie in dem Sturm bedurften. Nicht genug, daß sie sich von vornherein in der Frage der Ausstellung in schweigsame Neutralität hüllte, eine Haltung, welche, wie ich zu wissen glaube, weniger dem Bedürfnis politischer Vorsicht wie dem Gefühl der Bitterkeit entsprang, das aus der schroffen Zurückweisung zurückgeblieben, welche seinerzeit die wiederholte französische Ein- ladung zur künstlerischen Beteiligung an der Pariser Weltausstellung zu Berlin gefunden*, nicht genug dieser eisigen Indifferenz, aus welcher die Regierung auch dann nicht zu treten wagte, als die rege Beteiligung der französischen Künstler gesichert schien, ist sie zuerst es gewesen, welche in der Frage des Kranzes schwächlich und schmäh- lich vor Deroulede und seinen Genossen die Waffen gestreckt hat.

Der ganze Vorgang, die Wendung, welche die Frage der Aus- stellung in Verbindung mit der Anwesenheit der erlauchten Mutter unseres allergnädigsten Kaisers und Königs genommen, bestätigt leider wieder die alte Wahrheit, daß die Franzosen in Dingen, welche auch nur einigermaßen die Politik berühren, unberechenbar sind, daß das laute und das stille Wirken einiger berufsmäßiger Störenfriede genügt, um Regierung und öffentliche Meinung zur Verwirrung und Veriri-ung zu bringen, die Stimme der Vernunft und bessere Regungen zu er- sticken.

Es ist dabei ein schwacher Trost, daß solche Emballements, wie jetzt eines vorliegt, rasch vorübergehen, und daß einzelne Köpfe Klar- heit und Nüchternheit bewahren, wie die beiliegenden Artikel des „Figaro" von gestern und heute beweisen, wo „un Fran^ais" die Vgl. Bd. III, Kap. XX, Nr. 650 ff. und Bd. VI, Kap. XL, Nr. 1282. 278

Bedenken gegen Beteiligung an der Berliner Ausstellung sehr ver- ständig widerlegt, und wo ein anderer unter dem Pseudonym „Ca- liban" den Maler Puvis de Chavannes, das Haupt der Opposition, geschickt ad absurdum führt.

Ich darf Euerer Exzellenz gehorsamst anheimstellen, den Präsiden- ten des Berliner Ausstellungskomitees Direktor von Werner von der veränderten Sachlage in Kenntnis setzen zu wollen. Münster

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: 1 Jal

Nr. 1550

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Paris Grafen Münster

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 19 Berlin, den 28. Februar 1891

Antwort auf Telegramm Nr. 17*.

Ew. ersuche ich, Ihrerseits keine Iniative für Besprechung der durch die Reise Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich veranlaßten Kundgebungen zu nehmen.

Falls Sie darauf angeredet werden, wollen Sie die Anschauung der Regierung Seiner Majestät des Kaisers dahin zusammenfassen, daß wir der Regierung der Republik keinen Vorwurf machen, vielmehr glauben, daß sie zur Wahrung des Gastrechts ihr möglichstes getan hat, soweit ihre Mittel reichten. Marschall

Nr. 1551

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 40 Paris, den 28. Februar 1891

Ich bin diese Nacht von Calais zurückgekehrt, wohin ich Ihre Majestät die Kaiserin Friedrich begleitet hatte. Ich kann nicht leugnen, daß, so angenehm mir der Besuch Ihrer Majestät war, der zu meiner Freude die hohe Frau sehr zu befriedigen schien, mir ein Stein vom Herzen war, als wir das englische Schiff in Calais bestiegen. Der Artikel der „Kölnischen Zeitung****, der besonders deshalb

Siehe Nr. 1548.

** Am 26. Februar hatte die „Kölnische Zeitung" einen nicht offiziösen sehr scharfen Artil<el unter der Oberschrift „Ein ernster Zwischenfall" gebracht, der nach „ausreichender Genugtuung" wegen der „bubenhaften Verunglimpfungen" der Kaiserin Friedrich rief.

279

so sehr taktlos war, weil er während der Anwesenheit Ihrer Majestät erschien, hatte hier eine solche Aufregung auf der Börse und in der Presse hervorgebracht, daß die hiesige Polizei sehr besorgt war, daß bei der Abreise irgendeine Demonstration möglich sein könnte.

Die Direktion der Nordbahn schlug mir im Einverständnis mit der Polizeibehörde vor, ich möge die ursprünglich beabsichtigte Abfahrt- zeit von 111/2 Uhr für die Leute und Gepäck Ihrer Majestät beibehalten und die Kaiserin selbst um 10 Uhr mit dem Zuge nach Boulogne ab- fahren lassen; von Boulogne nach Calais wurde ein Sonderzug gestellt.

Die Polizei hatte auf dem ganzen Wege Polizeimannschaften auf- gestellt. Es war nicht viel Publikum auf den Straßen, mehr aber vor dem Bahnhofe. Dort grüßte das Publikum sehr ehrerbietig, und ist nicht das Geringste, nicht ein Ruf vorgekommen.

Ihre Majestät die Königin Victoria hatte ein Schiff der Chatham Dover Company, Calais Douvres, zu Ihrer Majestät Disposition ge- stellt, und General Duplat empfing in Calais die Kaiserin.

Gleich am ersten Morgen sagte ich der Kaiserin, ich bäte dringend um die größte Vorsicht nach zwei Richtungen hin.

„Die Klippen, an denen Ihre Reise und unsere guten Beziehungen zu Frankreich scheitern können, sind die Orleans und die Künstler, Von den Orleans dürfen Euere Majestät niemanden sehen, und von der Berliner Ausstellung dürfen Euere Majestät hier womöglich gar nicht sprechen."

Die Kaiserin versprach mir beides. Was die Orleans betrifft, so hat die Kaiserin ihr Versprechen, so schwer es ihr wurde, sehr gut und mit dem größten Takte gehalten, trotzdem daß jene wiederholt Versuche machten, die Kaiserin zu sehen.

Der Herzog und die Herzogin von Chartres hatten nach Cannes gehen wollen, waren aber noch hier geblieben, und schrieb gleich am ersten Morgen die Herzogin, sie stelle sich ganz zur Disposition der Kaiserin und bitte, ihr eine Stunde zu bestimmen. Ihre Majestät er- widerte, daß die Herzogin und ihre Familie einsehen würden, daß, so sehr die Kaiserin es auch bedauere, sie die Mitglieder der Familie Orleans auf der deutschen Botschaft nicht empfangen könne und sie in England zu sehen hoffe. Sie stellte einen Besuch vor ihrer Abreise in Aussicht, aber auch der ist unterblieben, sodaß über die Orleans die Presse geschwiegen hat.

Die Künstlerateliers besuchte die hohe Frau erst heimlich vor mir, war zwar vorsichtig, sprach kein Wort über die Berliner Ausstellung. Diese Besuche wurden aber sofort durch die eitlen Künstler selbst bekannt. Der „Figaro" hatte taktloserweise gesagt, Ihre Majestät komme nur nach Paris, um für die Berliner Ausstellung zu werben. Die Besuche bei allen namhaften Künstlern und bei allen Kunst- sammlern bestärkten diese Ansicht, und so wurde die Ausstellungs-

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frage von allen uns feindlichen Parteien als ein willkommener Vor- wand zur Agitation benutzt.

In der Presse begann die Agitation gegen die Kaiserin und die Ausstellung mit einem Artikel des ,,Matin", von dem ich ganz sicher annehme, daß er aus russischer Quelle stammt. Es ist mir schon früher mitgeteilt, daß auf der dritten Seite des „Matin" oben ein zweiter kurzer Leitartikel steht. Diese halbe Kolonne der Zeitung ist im voraus von den russischen Preßagenten bezahlt, und diese haben diesen Artikel gewiß geschrieben.

Gleichzeitig änderte die Regierung ihre Haltung.

Es hatten sich gleich am ersten Tage die Generale Gallifet, Miribel und viele offizielle und nicht offizielle Personen eingeschrieben, und der Präsident Camot hatte im vertraulichen Kreise geäußert, daß er sich freuen werde, Ihrer Majestät seinen Dank für die so äußerst zuvorkommende Haltung der deutschen Militär- und sonstigen Behörden bei der Transferierung der Leiche seines Großvaters von Magdeburg auszusprechen.

Am Sonnabend kam der hiesige Zeremonienmeister zu mir, und abends vorher war der taktvollste Adjutant des Präsidenten Carnot, Oberst Lichtenstein, bei mir gewesen, und beide sagten mir, sie wünschten sehr, daß der Präsident Ihrer Majestät einen Besuch ab- stattete, und Graf d'Ormesson bat mich im Namen des Ministers Ribot, ob ich am Sonntagmorgen zu ihm kommen wolle, um das Weitere zu besprechen.

Ich erwiderte, daß ich gern dazu bereit sei, daß ich aber bei dem Inkognito der Kaiserin keine Initiative ergreifen wolle und deshalb ihm kein Wort gesagt habe.

Als ich am andern Morgen zu Herrn Ribot kam, fand ich ihn sehr verlegen und nicht recht wissend, was er mir sagen solle.

Er sagte mir auf sehr ungeschickte Weise, ich hätte geäußert, die Kaiserin wolle inkognito sein, und so hätte der Präsident Carnot auf den Rat des Ministerpräsidenten Freycinet und des Ministers Constans beschlossen, das Inkognito streng zu respektieren. Dazu käme, daß die sämtlichen Parteien eine Agitation begönnen. Sollte ich aber den Wunsch aussprechen, so würde Herr Carnot sehr gern Ihrer Majestät seinen Respekt bezeugen.

Ich erwiderte dem Minister, daß nach der Einleitung seines Ge- sprächs davon keine Rede sein könne und ich im Gegenteil um strenge Einhaltung des Inkognito bitten müsse.

Herr Ribot erwiderte, daß die Regierung die Haltung der Presse außerordentlich bedauere. Herr Constans behaupte, daß in der Kammer große Aufregung zu bemerken sei und Interpellationen zu erwarten seien. Diese werde er nicht annehmen.

Herr Ribot schien über meine sehr bestimmte Haltung ich war so streng und wenig höflich als möglich etwas erschreckt zu sein

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und sagte, er habe ebenso wie Herr von Freycinet sich nicht ein- geschrieben bei Ihrer Majestät, um das Inkognito zu respektieren. Es wäre aber doch wohl richtiger.

Ich erwiderte, dazu könne ich nichts sagen.

Eine Stunde darauf haben beide Minister aber sich eingeschrieben.

Erwähnen muß ich noch, daß Herr Ribot mir beim Weggehen sagte, daß, falls, wie er vermute, Ihre Majestät Versailles und die Kunstschätze dort besuchen wolle, Montag der beste Tag sei, weil an dem Tage der Besuch dem Publikum nicht gestattet sei. Er werde in Versailles Befehle geben lassen, um alles zu öffnen, was etwa Ihre Majestät zu sehen wünschen würde.

Aus der Haltung Herrn Ribots und vielen anderen Anzeichen ist es mir ganz klar geworden, daß innere Gründe die Schwäche der Regierung der Agitation gegenüber zur Folge gehabt haben. Freycinet contra Carnot, Constans contra Ribot. Freycinet will den Präsidenten Carnot ersetzen, Constans will Ministerpräsident und Minister des Auswärtigen werden.

Alles ist hier Intrige, das kann auch nicht anders sein bei einer Regierung von Emporkömmlingen, die nicht zum Regieren geboren und erzogen sind.

Leute, die zu Pferde steigen, ohne reiten zu können, sind gefähr- lich für sich, das Pferd und andere: so geht es den hiesigen Macht- habern.

Münster

Nr. 1552

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VIL Reuß an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 56 Wien, den 26. Februar 1891

Der Besuch Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich in der fran- zösischen Hauptstadt ist hier seit dem Bekanntwerden der Absicht desselben Gegenstand des allgemeinen Interesses gewesen und hat namentlich auch die gesamte Presse fortgesetzt beschäftigt. Lange telegraphische Berichte gaben die Einzelheiten des Aufenthaltes der hohen Frau bekannt und verzeichneten die Stimmung der Pariser Be- völkerung, soweit sie in öffentlichen Kundgebungen oder in den Tages- blättern zum Ausdruck gelangte. Heute bringen auch Organe der verschiedensten Richtung bezügliche Leitartikel; ohne eine ernstliche Friedensstörung infolge des ungalanten Verhaltens der Franzosen zu besorgen, konstatieren sie doch übereinstimmend das Scheitern des deutsch-französischen Annäherungsversuches und sagen eine Ver-

282

schlechterung der Beziehungen zwischen den beiden Nachbarreichen als unvermeidlich voraus.

Graf Kälnoky, sobald er von der projektierten Reise Ihrer Majestät gehört hatte, sprach mir sofort seine Besorgnis aus, daß die Sache kein gutes Ende nehmen würde. Er sagte mir damals, er gäbe gar nichts auf alle die kleinen Höflichkeiten, die uns die Franzosen in jüngster Zeit gemacht hätten. Der Eindruck, den das Schreiben wegen Meissonnier gemacht, sei allerdings ein großer gewesen; aber das wolle bei diesen leicht erregbaren Leuten gar nichts sagen. Solange die Franzosen den Frankfurter Frieden nicht ohne Hinterhalt anerkennen würden, solange gäbe er nichts auf ihre Freundschaftsbezeugungen Deutschland gegenüber.

Heute sagte mir der Minister, seine Prophezeiung habe sich leider bewahrheitet. Es nütze nichts, den Franzosen Avancen zu machen, denn wenn dieselben mißglückten, so sei das Verhältnis nachher schlechter als vorher. Wenn auch alle anständigen Leute in Frank- reich die Unhöflichkeit einiger Pariser Schreier aufrichtig beklagten, so sei es eine alte Erfahrung, daß diese Bande ganz Frankreich tyrannisierte. Die große Masse des französischen Volkes wolle den Frieden, aber sobald das Wörtchen „Revanche" öffentlich ertöne, so hätte niemand den Mut, sich dagegen zu erheben. Bei seiner letzten Reise nach Frankreich habe er sich von der Wahrheit dieser Be- hauptungen überzeugen können, und der, welcher glauben würde, daß die Wunde von 1870 vernarbt sei, würde sich einer argen Täu- schung hingeben.

H. VIL P. Reuß

Nr. 1553

Der Botschalter in London Graf von Hatzfeldt an den Reichs- kanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 112 London, den 27. Februar 1891

Der heutige „Standard" bespricht in einem Leitartikel den Besuch Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich in Paris und verurteilt auf das schärfste das Verhalten eines Teiles der französischen Presse bei dieser Gelegenheit. Bei diesem Besuche habe nichts stattgefunden, was das französische Nationalgefühl vernünftigerweise hätte in Aufregung bringen dürfen. Wenn dies dennoch durch die Presse kurz vor Ab- reise Ihrer Majestät versucht worden, so sei dies lediglich ein Beweis dafür, daß es mit der französischen Höflichkeit nicht so weit her sei, als die Franzosen sich dies selbst vorzuspiegeln beliebten. Im übrigen habe die Kritik der französischen Presse nur dazu beigetragen, die

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Situation zu klären und der Welt von neuem zu zeigen, daß das fran- zösische Revanchegefühl nicht verschwunden sei, sondern immer noch denselben bedenklichen und den Frieden bedrohenden Charakter habe. In ähnlichem Sinne spricht sich der „Daily Telegraph" aus.

P. Hatzfeldt

Nr. 1554

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Paris Grafen Münster

Telegramm. Eigenhändiges Konzept

Nr. 20 Berlin, den 2. März 1891

Der französische Botschafter hat mich heute aufgesucht und mir im Auftrage seiner Regierung folgende Mitteilung gemacht: Die Re- gierung der französischen Republik glaube mit gutem Gewissen sagen zu können, daß sie alles getan habe, um gelegentlich des Besuches der Kaiserin Friedrich jeden Zwischenfall hintanzuhalten und der hohen Frau überall eine würdige und respektvolle Aufnahme seitens der Be- völkerung zu sichern. Wenn in einem Teil der Presse und in Ver- sammlungen in bedauerlicher Weise verletzende Äußerungen gegen Deutschland gefallen, so sei es unrecht, die Regierung dafür verant- wortlich zu machen, da die große Mehrheit der Pariser Bevölkerung keinen Augenblick aufgehört habe, der hohen Reisenden gegenüber eine ruhige und würdige Haltung zu bewahren. Die französische Re- gierung hoffe daher, daß die Beziehungen zwischen „beiden Ländern" durch die jüngsten Vorgänge nicht würden geändert werden und zwischen beiden Regierungen das gute Einvernehmen und die Auf- richtigkeit der Politik wie bisher bestehen bleibe.

Ich dankte dem Herrn Botschafter für seine Mitteilung und be- merkte ihm folgendes: Wir machten der französischen Regierung wegen der jüngsten Vorgänge keinen Vorwurf, erkennten vielmehr an, daß sie „innerhalb der Grenzen ihrer Macht" das Mögliche getan habe, um das Gastrecht gegenüber der Kaiserin Friedrich zu wahren. In diesem Sinne sei auch Graf Münster für den Fall instruiert, daß die Angelegenheit bei ihm amtlich angeregt werde. Hiernach teilte ich die Erwartung des Herrn Botschafters, daß die jüngsten Zwischenfälle in den Beziehungen von Regierung zu Regierung eine Änderung nicht herbeiführen würden. Hinsichtlich der Beziehungen zwischen „beiden Ländern" vermöchte ich zu meinem Bedauern nicht dasselbe zu sagen. Wir hätten von neuem die Erfahrung gemacht, daß in Frankreich das Revanchegefühl, das heißt der Wunsch, Deutschland mit Krieg zu überziehen, um ihm Elsaß-Lothringen zu entreißen, so intensiv vor- handen sei, daß sogar Männer wie Deroulede und Laur, die längst jede Achtung verloren hätten, imstande seien, durch einen Appell an

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den Haß gegen uns die große Mehrheit der verständigen Franzosen teils mit fortzureißen, teils dermaßen einzuschüchtern, daß jeder Versuch des Widerstands unterbleibe. Diese Tatsache könne nicht aus der Welt geschafft werden, sie bleibe bestehen und zwinge uns, auf der Hut zu sein und uns für die Zukunft vorzusehen.

M. Herbette frug mich dann vertraulich, ob die Zeitungsnachricht wahr sei, daß Graf Münster abberufen werden solle. Ich verneinte dies*, worauf der Herr Botschafter mir sagte, daß er mich deshalb hierüber befragt habe, weil er bejahendenfalls entschlossen gewesen sei, seine Entlassung einzureichen. Ich erklärte darauf Herrn Herbette, wir erwarteten, daß auch bezüglich seiner Person keine Änderung beabsichtigt sei, da wir einen derartigen Wechsel als in Widerspruch mit den heutigen Erklärungen der französischen Regierung stehend betrachten müßten.

Marschall

Nr. 1555 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 24 Paris, den 3. März 1891

Telegramm Nr, 20** mit vielem Interesse und Dank erhalten. Heil- same Reaktion bricht hier durch. Öffentliche Meinung macht die chauvinistischen Aufwiegler für Störung der Beziehungen und Paß- zwang*** verantwortlich. Habe über Handhabung der Pässe bisher nur Weisungen aus Straßburg, die viel strenger sind als je vorher,

* Vgl. Nr. 1565. ** Siehe Nr. 1554.

*** Am 28. Februar meldete der „ReichsanzeFger": „Der Reichskanzler hat den Kaiserlichen Statthalter in Elsaß-Lothringen ersucht, bis auf weiteres von jeder Milderung in der praktischen Handhabung des bestehenden Paßzwanges abzusehen und bezügHch der den französischen Grenzgemeinden auf Grund der Paßverord- nung eingeräumten Verkehrserleichterungen keinerlei Erweiterung eintreten zu lassen." Gleichzeitig wurde durch Verordnung des Kaiserlichen Ministeriums für Elsaß-Lothringen in Straßburg vom 28. Februar vom 3. März an die strengere Paßkontrolle für die Reichslande wieder eingeführt gemäß der Verordnung vom 22. Mai 1888. Vgl Bd. VI, Kap. XL: Französisch-deutsche Kriegsgefahr und ihre Nachwiricungen 1886—1890, Nr. 1284. Daran änderte auch die Deputation nichts, die der Elsaß-Lothringische Landesausschuß im März nach Berlin sandte; Kaiser Wilhelm II. selbst erklärte bei dem feierlichen Empfang der Deputation am 14. März, daß für jetzt die Wünsche auf Aufhebung des Paßzwanges nicht erfüllt werden könnten; doch hoffe er, daß in nicht allzu ferner Zeit die Verhältnisse es ge- statten möchten, im Verkehr an der Westgrenze wiederum Erleichterungen ein- treten zu lassen. Tatsächlich zeigte sich Reichskanzler von Caprivi schon am 22. Mai geneigt, wieder eine mildere Praxis eintreten zu lassen. Vgl. Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst Bd. II, S. 475 f., 478. Vgl. jedoch Nr. 1572.

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was mir nicht ganz unbedenklich und schwer durchführbar erscheint; dies gilt namentlich von den dringenden Fällen und Durchgangsvisa, für welche ausnahmslos Anfrage in Straßburg verlangt wird.

Münster

Nr. 1556

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Paris Grafen Münster

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 21 Berlin, den 4. März 1891

Antwort auf Telegramm Nr. 23*.

Die Beschickung der Berliner Ausstellung durch französische Künstler würde nach den letzten Vorgängen für uns einen Werl nicht mehr haben. Ich ersuche Sie daher, in dieser Frage fernerhin sich gänzlich reserviert und, soweit Ihre Vermittelung in Frage kommt, ablehnend zu verhalten.

Marschall

Nr. 1557

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Paris Grafen Münster

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 22 Berlin, den 4. März 1891

Antwort auf Telegramm Nr. 24**.

Wenn wirklich die zeitweilig strengere Paßkontrolle „nicht un- bedenklich" sein sollte, so träfe die Verantwortung nicht uns, sondern diejenigen, welche Deutschland in den Zustand politischer Notwehr versetzt haben. Die Paßmaßregel, welche nebenbei auch beweist, daß wir nicht gewillt sind, um jeden Preis den Folgen einer französischen Aufwallung auszuweichen, wird den vernünftigen und friedlichen Ele- menten in Frankreich eine Mahnung sein, der Regierung, welche diesesmal übergerannt wurde, künftig besser den Rücken zu stärken. Daß die Aufwiegler, wie Ew. melden, für die Störung der Beziehungen und für den Paßzwang verantwortlich gemacht werden, zeigt schon einen Anfang richtiger Erkenntnis.

* Im Telegramm Nr. 23 vom 3. März hatte Graf Monster gemeldet, daß nam- hafte französische Künstler an der Absicht der Beschickung der Berliner Ausstellung festhielten und versuchen wollten, die französische Beteiligung im stillen zu reorganisieren. ♦* Siehe Nr. 1555.

286 :

Zu Ew. Information bemerke ich, daß, falls die Regierung der Republik versuchen sollte, durch Ausweisung unbeteiligter deutscher Zeitungskorrespondenten den Schwerpunkt der Verantwortung zu ver- schieben, wir eventuell durch Gegenmaßnahmen antworten werden. Wir sind es dem empörten deutschen Nationalgefühl schuldig, den Franzosen in diesem Falle nicht das letzte Wort zu lassen.

Marschall

Nr. 155S

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 46 Paris, den 5. März 1891

Gestern sah ich am Mittwochsempfang Herrn Ribot.

Der Minister sagte mir, der Botschafter Herbette habe über sein Gespräch mit dem Herrn Staatssekretär von Marschall berichtet, und bemerkte dabei, daß er sehr dankbar sei, daß die Kaiserliche Re- gierung die Vorgänge beim Besuche Ihrer Majestät der Kaiserin Fried- rich auf eine so gerechte und für die französische Regierung rück- sichtsvolle Weise aufgefaßt habe. Er hoffe und rechne darauf, daß unsere internationalen Beziehungen dadurch nicht affiziert und gestört werden könnten i.

Er sprach wiederholt sein Bedauern über die Haltung der Presse und der Künstler, die sich haben terrorisieren lassen, aus. Namentlich tadelte er in den schärfsten Worten das Benehmen des Malers Detaille, der erst der wärmste Anhänger der Berliner Ausstellung gewesen und dann, durch Drohungen erschreckt, eine so elende Rolle gespielt habe.

Bei alledem müsse ich aber doch anerkennen, daß Ihre Majestät überall mit dem größten Respekt von selten der Bevölkerung und Regierung behandelt worden sei, was auch Ihre Majestät selbst sehr anerkannt habe^.

Ich erwiderte darauf, das sei bis auf die unerhörte Haltung der Presse und die Chauvinisten^ richtig. Hier sei man leider schon gegen die Injurien der Presse abgestumpft, bei uns sei das Gott sei Dank noch nicht der Fall.

Ich erinnerte Herrn Ribot daran, daß ich, sowie ich am Sonnabend abend erfahren hätte, daß Ihre Majestät die Kaiserin Friedrich am Mittwoch herkommen wolle, gleich Sonntag morgen zu ihm gekommen und nachher den Ministerpräsidenten Freycinet aufgesucht, ihnen beiden die Absicht Ihrer Majestät mitgeteilt habe und sie mir die bestimmte Versicherung gegeben hätten, daß Ihre Majestät auf die beste Auf- nahme werde rechnen können, und daß dieser Besuch hier sehr will- kommen sei. Ich hätte also gar nichts anders annehmen können und

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hätte glauben müssen, daß die beiden Minister die öffentliche Stim- mung wirklich kennten*.

Herr Ribot erwiderte mit sichtlicher Verlegenheit, was ich sage, sei eigentlich ganz richtig, es würde aber alles auch sehr gut ver- laufen und sogar äußerst nützlich gewesen sein, wenn der Besuch nicht etwas sehr ausgedehnt worden wäre. Das hätte der Minister mir aber nicht, und selbst ich Ihrer Majestät als Wirt im Hause nicht sagen können.

Gefährlicher und unangenehmer sei die Sache erst durch den Artikel der „Kölnischen Zeitung" geworden, weil dieser noch während der Anwesenheit Ihrer Majestät erschienen sei.

Aber auch da habe die Regierung ihre Pflicht getan, und die Be- völkerung gezeigt, daß sie sich nicht aufregen lasse, was ja auch richtig ist.

Am Schlüsse sagte er mir nochmals, er bedauere die Vorfälle, auch werde ich mich davon überzeugen, daß dieses Bedauern von allen rechtlichen Menschen in Paris geteilt werde ^ und in der Presse ein ganz anderer Ton beginne. Er sei deshalb überzeugt und hoffe, daß unsere Beziehungen durchaus nicht darunter leiden würden.

Über die Verschärfung der Paßvorschriften haben weder der Mi- nister noch viele andere offizielle Persönlichkeiten, die ich bei einem großen diplomatischen Diner beim Präsidenten des Senates, Herrn Royer, sah, kein Wort gesprochen, obgleich diese Maßregel hier viel Aufsehen gemacht und sehr abschreckend und abkühlend gewirkt hat.

Der Präsident Royer und viele anwesende Senatoren, namentlich die Herren Jules Ferry und J. Simon sprachen ihr Bedauern über die letzten Vorfälle aus und tadelten nicht allein die Haltung der Presse und der Künstler, sondern auch in sehr offener Weise die Schwäche der hiesigen Regierung, die sie selbst sehr streng verurteilten und ver- antwortlich machten.

Die beiden Generale Billot und Davoust (Herzog von Auerstedt), die als Senatoren anwesend waren, sprachen in sehr militärischen, kräftigen Ausdrücken ihren Tadel aus und schonten dabei ihren Kriegs- minister nicht, von dem sie sagten, daß es ganz unwürdig sei, daß er als Ministerpräsident und namentlich als Kriegsminister mit einem Manne wie Deroulede bei einer solchen Gelegenheit sich in Ver- handlungen eingelassen habe^.

Dasselbe tut auch, wo ich ihn sehe, General Gallifet und alle Offiziere, denen ich zufällig begegne.

Auch die Art, wie sie den Rittmeister von Funcke* bei seinen Besuchen aufgenommen haben, zeigt ein sehr richtiges, anständiges Gefühl.

Trotzalledem bleibt die Tatsache bestehen, daß die Regierung

Militärattache bei der Pariser Botschaft. 288

schwächer ist, als sie schien, und daß elende Aufwiegler und kleine Minoritäten viel Unheil anrichten können.

Die jetzige Reaktion zeigt aber und das ist eine gute Seite der Sache , daß die Majorität des französischen Volkes das selbst zu fühlen beginnt und die Aufwiegler wie Deroulede und Konsorten"^ erkannt sind und hoffenthch sehr an Einfluß hier und im Elsaß ver- lieren werden.

Die Boulangisten haben gehofft, dabei wieder an Einfluß zu ge- winnen, haben aber nicht ihre Rechnung dabei gefunden und sich mehr geschadet als genutzt.

Wenn ich gleich anfangs andeutete, daß der russische Rubel auf Reisen den Anstoß zu dieser elenden Preßkampagne gegeben habe, so wird mir diese Ansicht von den verschiedensten Seiten be- stätigt. Fühlen läßt sich das, nicht beweisen, weil diese Rubel streng inkognito reisen*, pp. Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL: i Oho!

* unglaublich! was ist da anzuerkennen, das sollte sich doch in der Grande Nation von selbst verstehn!

3 Freycinisten!

* aber Freycinet nicht

^ die aber nie die Energie haben so etwas zu verhindern

ß also direkt eingestanden daß man Beziehungen gehabt! Ei! Ei!

' und Freycinet

Nr. 1559

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Entzifferung Nr. 64 Paris, den 23. iUärz 1891

Herr von Freycinet sagte mir, daß die Gerüchte über die Ab- berufung Herbettes völlig unbegründet seien i, die Regierung habe die- selbe niemals in Erwägung gezogen, und den Angriffen gegen Herbette habe sie gar keine Beachtung geschenkt. Die Regierung lege auf die guten Beziehungen mit Deutschland den größten Wert und wisse, daß Herbette bei uns persona grata sei. Bei dieser Gelegenheit sprach der Minister in den stärksten Ausdrücken seine Mißbilligung aus über die Haltung der Presse während des Aufenthalts der Kaiserin Fried- richs, Die Maler, die sich durch die Patriotenliga haben einschüchtern lassen, hätten selbst den wohlverdienten Schaden. Zu seiner Freude habe aber die Pariser Bevölkerung selbst dieses Vorgehen mißbilligt, und sei doch überall Ihrer Majestät der ihr gebührende Respekt bewiesen.

* Vgl. den charakteristischen Bericht des Militärbevollmächtigten in Petersburg General von Villaume vom 5. März 1891 über den Widerhall der Pariser Vorgänge beim Besuch der Kaiserin Friedrich in der russischen Presse. Kap. XLVII, Nr. 1493.

19 Die Große Politik. 7. Bd. 289

Die Regierung wolle jetzt energisch die Patriotenliga, die, ob- gleich schon früher verboten, im geheimen noch zu bestehen scheine^ beseitigen und ihre Auflösung mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln durchsetzen. Dem Unfug, der mit dem Verkauf von Karikaturen getrieben werde, solle gesteuert werden, und bereite die Regierung eine Gesetzesvorlage zu dem Zweck vor 3. Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Das glaube ich nicht

2 im Privatgespräch aber warum nicht offen in seiner Presse!

3 moutardc apres dinerl

Nr. 1560

Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt

von Holstein

Eigenhändig

Berlin, den 30. März 1891

Angesichts der fortschreitenden russischen Rüstungen scheint es angezeigt, den Generalstab um Auskunft über die für den Herbst in Aussicht genommenen französischen Manöver an der Ostgrenze zu ersuchen.

Die zweite Frage, ob die zur Verwendung kommenden Streit- kräfte Vorsichtsmaßregeln von unsrer Seite nötig machen, könnte entweder gleich oder nach erfolgter Beantwortung der ersten Frage dem Generalstabe gestellt werden. Die Gegenmaßnahmen würden un- zweifelhaft eine Erhöhung der Kriegsgefahr in sich schließen. Es bleibt daher, falls dieselben als unvermeidlich erkannt werden sollten, zu erwägen, ob man nicht die französische Regierung von dieser Even- tualität in Kenntnis setzt, solange sie es vielleicht noch in der Hand hat, den Manövern ihren bedrohlichen Charakter zu nehmen. Andrer- seits würden wir, wenn Frankreich auf unsre Warnung ausweichend oder mit non possumus antwortet, in der Lage sein, uns ein Urteil darüber zu bilden, ob die französische Regierung es auf den Krieg ankommen lassen will. Holstein

Nr. 1561

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Paris Grafen Münster

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 71 Berlin, den 31. März 1891

Die Zeitungen haben in neuerer Zeit wiederholt gemeldet, daß in Frankreich Probemobilmachungen in größerem Maßstabe beabsichtigt werden.

290

Ew. wollen den Herrn Militärattache ersuchen, über das, was er bezüglich solcher Absichten, namentlich betreffs Mobilmachungen in den östlichen Departements in Erfahrung bringt, zu berichten; des- gleichen über die ungefähre Truppenzahl, welche für die diesjährigen Manöver in der Nähe der Ostgrenze zusammengezogen werden sollen.

Marschall

Nr. 1562 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 35 Paris, den 4. April 18Q1

Antwort auf Erlaß Nr. 71 *.

Nach von Rittmeister von Funcke an maßgebender Stelle ein- gezogenen zuverlässigen Nachrichten, die mir auch von anderer Seite bestätigt wurden, sind Gerüchte über in Frankreich beabsichtigte Probe- mobilmachungen im größeren Maßstabe gänzlich unbegründet. Bericht des Rittmeisters von Funcke folgt anfangs der Woche durch Feldjäger.

Münster

Nr. 1563

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Csprivi

Ausfertigung

Nr. 71 Paris, den 6. April 18Q1

Ich habe die Ehre, einliegend den Bericht** des Rittmeisters von Funcke über die Gerüchte beabsichtigter partieller Mobilisations- versuche gehorsamst zu übersenden.

Ich hatte Gelegenheit, mit dem Kriegsminister von Freycinet dar- über zu sprechen.

Der Minister sagte, die Presse übertreibe die Bedeutung militäri- scher Maßregeln teils aus Unkenntnis, noch öfters aber aus bösem Willen, und es schiene jetzt vielfach, als sei die Presse bemüht, in einer solchen Maßregel aggressive Tendenzen und die Vorbereitungen zu einem bald zu erwartenden Kriege zu erblicken.

Er habe mir schon öfters gesagt, daß er allerdings es für seine Pflicht halte, die französische Armee möglichst stark und kriegsbereit zu machen. Er freue sich aber, wiederholt versichern zu können i, daß dieses in der friedlichsten Absicht geschehe. Er gestehe zu, daß

* Siehe Nr. 1561.

** Nicht bei den Akten.

19« 291

darin ein gewisser Widerspruch zu liegen scheine, und dennoch sei es wirklich der Fall. Je mehr Frankreich sich stark fühle, je ruhiger werde die Nation.

Die Unruhe, die sich nach dem Kriege oft gezeigt habe, die chauvinistische Agitation 2 sei vor allem dadurch entstanden und genährt worden, daß das Vertrauen zu der Armee ein zu geringes war, daß die französische Nation das Gefühl gehabt habe, sie könne sich gegen Angriffe von außen nicht wehren und habe eine isolierte, der Größe und wirklichen Kraft der Nation unwürdige Stellung.

Jetzt, wo die Überzeugung sich überall mehr Bahn breche, daß Frankreich eine wirklich imposante, in jeder Hinsicht kriegstüchtige Armee besitzt, beruhige sich das französische Volk 3, welches immer friedfertiger werde und entschieden den Krieg nicht wolle.

Was die in der letzten Zeit öfters besprochenen partiellen Mobil- machungen betreffe, so sei schon von vornherein der Ausdruck falsch. Es seien nicht, wie die Zeitungen es nannten, „des mobilisations par- tielles", sondern „des alertes". Es seien Alarmierungen, wie sie Seine Majestät unser Kaiser öfters befehle.

Die Korpsgenerale müßten sich von dem Zustande und der Kriegs- bereitschaft ihrer Korps überzeugen, und es sei ihnen überlassen, solche „alertes" zu befehlen, wenn sie es für notwendig hielten.

Mobilmachung sei ganz etwas anderes. Es könne keine Kompagnie mobil gemacht werden, ohne ein Spezialgesetz, ohne Einwilligung der Kammern*.

Um die größeren Mobilmachungsversuche des Generals Feron zu ermöglichen, habe es eines besonderen Gesetzes und einer besonderen Bewilligung der Kammern bedurft.

Jetzt sei aber keine Mobilmachung beabsichtigt; auch rückten die Truppen zum Manöver in der Friedensstärke aus: es würden nur wenige Reservisten dazu eingezogen, und von Beteiligung der Armee territoriale sei keine Rede. Die Truppen hätten keine scharfe Munition bei sich, sollten auch beim Gebrauche des rauchlosen Pulvers sehr sparsam sein, weil dieses die Gewehre und namentlich die Geschütze, wenn sie nicht scharf geladen seien, sehr angreife 5.

Die Manöver erschienen dieses Jahr um deshalb bedeutender und großartiger, weil die Korps nicht einzeln, sondern im Zusammenhange erst von zwei und dann von vier Korps manövrieren sollten, was den Zweck habe, die Generale an die Handhabung von größeren Truppen- massen zu gewöhnen.

Ein Grund zur Beruhigung liege also weder in den ,, alertes" noch in den beabsichtigten Manövern, und es sei ihm sehr erwünscht gewesen, so offen sich mir gegenüber haben aussprechen zu können 6.

Dabei bemerkte der Minister, er habe sich gefreut, die Bekannt- schaft des Rittmeisters von Funcke zu machen, und er bitte mich,

292

ihm zu sagen, daß er und die Offiziere seines Kriegsministeriums stets gern bereit sein würden, ihn zu empfangen und ihm jede Aus- kunft zu geben, die er nur wünschen könne''.

Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

^ Dann ist es bestimmt gelogen

" sie ist jetzt ins Volk übergegangen

3 das hat es ja eben gezeigt!!!

* die kann man nachher einholen und wird in Frankreich der Einwilligung sicher

sein ^ Unsinn!!

''' die alte Freycinetsche Phrase! wer so dumm ist auf die hineinzufallen '' Phrase! Schlußbemerkung des Kaisers:

Die ganze Geschichte ist nur hohles Phrasengedresch ohne ernsten Hintergrund.

Nr. 1564

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 96 Paris, den 4. Mai 1891

Die poHtische Situation sieht von hier aus gesehen ruhig aus und läßt für diesen Sommer keine ernsteren KompHkationen erwarten i. Präsident Carnot will gern ruhig im Elysee leben, Madame Carnot be- trachtet sich als eine Art Königin. Die Minister wollen nicht gern anderen ihre Stellung überlassen, und so wird alles vermieden, was im In- oder Auslande zu Krisen führen könnte.

Mit Rußland wird nach wie vor geliebäugelt, die Liebe wird aber hoffentlich noch lange platonisch bleiben.

Mit Italien wünscht man jetzt auch hier auf besseren Fuß 2 zu kommen, und was uns betrifft, so zeigt sich überall das Bestreben, die unangenehmen Eindrücke des Besuches Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich zu verwischen, namentlich zeigt das Herr von Freycinet bei jeder Gelegenheit.

Daß Herrn von Freycinet nicht zu trauen ist, weiß ich sehr wohl, ich weiß aber auch, daß er vor allem an sich und seine eigene Stel- lung denkt und die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, sein Leben als Präsident der Republik zu beschließen. Er hat es sich zur Auf- gabe gestellt, die französische Armee so stark und kriegstüchtig als möglich zu machen, damit die Nation sich stark fühle. Daß ihn das

293

populär macht, hat schon seine Wahl zum Senator in Paris gezeigt. Weiter, bis zum Kriege will er es entschieden nicht treiben 3, denn er weiß sehr wohl, welch gefährliches Spiel der Krieg ist, daß ein sieg- reicher General ihn rasch beseitigen und jeder Mißerfolg auf seine Rechnung kommen würde.

Was die politischen Parteien betrifft, so sucht er es mit den Ra- dikalen nicht zu verderben und, soviel er kann, die Republikaner zu- sammenzuhalten. Es wird ihm das dadurch erleichtert, daß die Bou- langisten und Chauvinisten sich mit den Radikalen, die keinen Krieg wollen, und das ist die Mehrheit derselben, entzweit haben.

Deshalb hat es die Regierung auch gewagt, gegen die Ligue des Patriotes vorzugehen, und wird die Untersuchung gegen dieselbe weiter- geführt.

An eine Ministerkrisis, von der noch ab und zu die Rede ist, glaube ich vorderhand nicht. Präsident Carnot tut, was er kann, um die Minister untereinander zusammenzuhalten und Zwistigkeiten, die häufig entstanden sind, auszugleichen.

Zwischen den Herrn Constans und Bourgeois, dem Kultusminister, war das Verhältnis ein so schlechtes, daß allgemein angenommen wurde, der eine werde dem andern weichen müssen. Herr Bourgeois hat aber vor einigen Tagen ein ministerielles Versöhnungsfrühstück gegeben, bei dem auch gegen Erwarten Herr Constans erschien.

Was das Verhältnis der hiesigen Regierung zu uns betrifft, so muß ich bei dieser Gelegenheit bemerken, daß Rittmeister von Funcke sowohl bei dem Kriegsminister als bei allen Offizieren, mit denen er zusammen kam, die allerbeste und zuvorkommendste Aufnahme gefunden hat.

Herr von Funcke hatte einem Offizier des Kriegsministeriums gegenüber den Wunsch zu erkennen gegeben, die Reitschule in Saumur besuchen zu dürfen. Es ist ihm seitens des Kriegsministers die offizielle Erlaubnis erteilt, und ist von hiesigen Offizieren an Kameraden in Saumur geschrieben worden, daß sie den Rittmeister von Funcke gut empfangen und ihm Wohnung verschaffen möchten*. Herr von Funcke wird nächstens von dieser Erlaubnis Gebrauch machen.

Den hiesigen Militärklub hatten die deutschen Militärattaches nicht benutzt. Sie haben eine Einladung erhalten. Der Vizepräsident des Klubs General Rothweiler hat ihnen selbst den Klub gezeigt und hat, was eine besondere Artigkeit ist, ihnen gestattet, Gäste mitzubringen.

Herr von Freycinet sagte mir, gleich nachdem Rittmeister von Funcke ihm vorgestellt war, daß derselbe, wenn er irgendwie Wünsche "habe, direkt zu ihm kommen möge^ Bei Gelegenheit von kürzlich erfolgten Torpedoversuchen, die eine Privatgesellschaft auf einer Werft von Hävre vornahm, bei denen unsere Militärattaches keine Einladungen erhielten, hat auf meinen Rat Herr von Funcke von dieser Erlaubnis

2Q4

Gebrauch gemacht, und aus dem beiliegenden Militärberichte werden Euere Exzellenz ersehen, welche richtige Stellung Herr von Freycinet dazu genommen hat. Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:

* ! Ich danke Optimismus in optima forma! Hat wahrscheinlich Freycinet ihm gesagt.

* siehe casus Rothschild!*

* hat er wohl wieder gesagt

* und das soll das Verhältniß der Regierungen zueinander charakterisiren Naiv!

* kindlich.

Nr. 1565 Kaiser Wilhelm IL, z. Z. in Darmstadt, an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Darmstadt, den 9. Mai 1S91

Im Lauf eines Gesprächs mit dem Großherzog von Baden brachte ich auch die vertrauliche Nachricht vor, weiche Euere Exzellenz mir vor zwei Tagen zukommen ließen, betreffend den Bestechungsversuch des Hauses Rothschild-Paris bei dem Ministerpräsidenten Rudini**. Der Großherzog bemerkte darauf, daß wohl die Angelegenheit eine tiefer- gehende Bedeutung habe. Sie bestätigte ja außerdem seine Ansicht, welche er sich in der letzten Zeit gebildet habe, daß nämlich Frank- reich auch seinerseits jetzt nicht mehr scheuen werde, zu einem ihm geeigneten Zeitpunkt selbst die Offensive zu ergreifen. Aus dem Ge- spräch mit meinem Ohm entnehme ich, daß er im allgemeinen meine Ansichten über den Ernst der europäischen Situation vollkommen teilt. Der letzte an Naivität und kindlichem Vertrauen alles übersteigende Bericht Münsters aus Paris verbrämt mit Funckes Auslassungen hat mich endgültig davon überzeugt, daß er nicht mehr am Platz; er gleicht fast wörtlich dem Bericht Herrn Huebeners vor dem Neujahrsempfang bei Napoleon 1859. Um ganz sicher zu gehen, habe ich Major von Huene*** zitiert und ihn über die Situation ausgefragt. Er zeigte sich ebensogut orientiert wie bisher und wußte entschieden viel mehr als die ganze augenblickliche Botschaft zusammengenommen. Er hätte seinerseits soviel gravierende Nachrichten aus seinen absolut zuver- lässigen Quellen aus Paris erhalten, daß er im Begriff war, mir einen Bericht darüber zu erstatten. Der Gesamteindruck, den er hatte, läßt

* Siehe Kap. XLV, Nr. 1418. Vgl. auch die ebendort geschilderten Bemühungen Frankreichs, Italien vom Dreibund abzusprengen, die ein helles Licht auf Frank- reichs innere Gesinnung gegen Deutschland werfen. ** Siehe Kap. XLV, Nr. 1418.

*** Bisher Militärattache in P^ris, jetzt Generalstabsoffizier der 29. Division in Freiburg.

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sich dahin zusammenfassen, daß es nicht unwahrscheinUch sei, daß die Franzosen in diesem Sommer die Initiative ergreifen würden; alles, was er erfahren habe, trifft zu seinem größten Schmerz genau so ein, wie er es vorausgesagt habe, und reihe sich Quittung an Quittung! für seine Beobachtungen. Ich teilte ihm darauf die uns aus Rußland vor vier Wochen zugegangene Warnung des bewußten Privatmanns vor einem Überfall der Russen über die Österreicher Ende dieses Sommers* mit, welche ein nicht uninteressantes Gegenstück zu seinen französischen Nachrichten bot. Major von Huene ist ebenso wie ich der Ansicht, daß geeignetenfalls die Franzosen nicht auf die Russen warten werden bei ihrem augenblicklichen ins Unendliche gesteigerten Selbstgefühl. Ja, es liege sogar der Schluß nahe, daß zwischen den beiden Ländern Verständigungen dahin zielten, die Franzosen sollten durch ihren Angriff die Hauptkräfte Deutschlands auf sich ziehen, während Rußland da seine Mobilmachung und Aufmarsch so gut wie fertig seien für den Augenblick stillsitzen würde, in der Hoff- nung, dadurch Deutschland zu veranlassen, die meisten Kräfte nach Westen zu engagieren. Dann werde Rußland über das seiner Hoff- nung nach ungenügend unterstützte Österreich mit Aussicht auf Er- folg herfallen. Fürst Hohenlohe, den ich heute morgen sprach, sieht die Situation im Westen ebenso ernst an und bemerkte, wenn Freycinet sich diesen Sommer halte, wäre es sehr gefährlich. Hieraus geht hervor, daß alle oben angeführten Herren übereinstimmend der An- sicht sind, daß in Frankreich die Möglichkeit der Offensive, auch allein, bedeutend vorgerückt sei. Ich bitte daher, daß Euere Exzellenz unserer neulichen Verabredung gemäß dem Grafen zu Münster die Eröffnung machen, daß auf seine Botschafterdienste nicht mehr gerechnet werde, und den Grafen von Wedel** dazu berufen. Ebenso bitte ich, die Schiebung Schwarzhoff-Süßkind mit dem Militärkabinett vornehmen zu wollen.

Wilhelm I. R.

Nr. 1566

Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt

Raschdau

Eigenhändig

Berlin, den 10. Mai 1891 1. Die Möglichkeit, daß Frankreich uns bei erster Gelegenheit mit Krieg überzieht, ist an sich, und soweit man Rußlands dort sicher ist,

* Vgl. Kap. XLVn, Nr. 1496.

** General und Generaladjutant Graf von Wedel, früher Militärattache in Wien.

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insofern eine wachsende, als mit den zunehmenden Rüstungen im Osten und Westen das Selbstvertrauen wächst. Dieser Zustand be- steht aber seit Jahren. Außergewöhnliches in dieser Entwicklung ist hier im Amte in letzter Zeit nicht bekannt geworden.

2. Liegen aber tatsächhch (hier zurzeit nicht bekannte) Zeichen vor, daß Frankreich uns mit einem plötzlichen Überfall in nächster Zeit bedroht, so könnte uns dies nur zu höchster Wachsamkeit und tun- lichster Bereitstellung auffordern. Den Spieß umdrehen, dem Feinde zuvorzukommen durch plötzlichen Angriff oder Verhalten, das provo- zieren würde, etwa gleich Friedrich II. im Jahre 1756, scheint heute, seitdem man seit Jahren die Kriegsabsichten kennt, mit Rücksicht auf die europäische Gesamtkonstellation vom politischen Gesichtspunkte ausgeschlossen. Wir müssen für den nächsten Krieg damit rechnen, wie sich die öffentliche Meinung dazu stellt, bei uns wie im Auslande. Dort wie hier würde man es nicht verstehen, warum man jetzt plötz- lich (ohne bestimmte offenkundige Beweise) den Frieden für so faul hält, daß man den Krieg vorzieht. Die Haltung Englands könnte mög- licherweise durch eine unser Verhalten verurteilende öffentliche Mei- nung zu unseren Ungunsten bestimmt werden, und die Wirkung einer solchen Apathie (um nicht zu sagen Antipathie) auf Italien ist nicht zu unterschätzen. Müssen wir es aber vermeiden, ohne evidenten Anlaß den Angreifer zu spielen (worüber man in Deutschland ziemlich all- gemein einig ist), so müssen wir auch das vermeiden, was dem Gegner einen ihn nach außen rechtfertigenden Anlaß zum Friedensbruch geben könnte.

3. Die Ernennung eines deutschen Generals zum Botschafter ist an sich nichts Ungewöhnliches. In Paris ist es seit langer Zeit nicht vorgekommen, und die Erwägung, die Behandlung zahlreicher delikater Dinge nicht in die Hände eines Vertreters der siegreichen Armee zu legen, hat dabei ohne Zweifel mitgewirkt. (Wir haben sogar bei Be- setzung von Konsulaten in Frankreich den Umstand, daß ein Kandidat bisher den Offizierstitel führte, als mißlich befunden.) Spitzen sich unter einem Militär als Botschafter die Verhältnisse zu, so wird man den schärferen Ton in einer uns unerwünschten Weise interpretieren, ja man wird die bloße Ernennung überall als ein Zeichen deuten wollen, daß wir mit Frankreich ernster zu reden beabsichtigen. Man wird sagen „wir haben angefangen", und das ist eben zu vermeiden.

4. Bisher hat man in Paris behauptet, daß man Herbette nur, wenn er es selbst wünsche, zurückberufen werde. Wir haben unter der Hand mit dem Wechsel Münsters gedroht. Ohne bestimmte Gründe, anders zu handeln, wäre es nicht zu empfehlen, nunmehr unsererseits den ersten Anstoß zu geben.

5. Sollte die Stimmung in Frankreich die gewöhnlich uns gegen- über herrschende, der augenblicldiche Pessimismus also nicht begründet

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sein, dann wäre es unter den jetzt obwaltenden Verhältnissen doppelt bedenklich, auf unserer Seite Mißmut zu zeigen. Die Ablehnung der russischen Anleihe von 500 Millionen Franks durch den französischen Markt* ist geeignet, in Rußland böse Stimmung zu machen. Es ist in der langen glänzenden Wyschnegradskischen Finanzleitung der erste Unfall. Die Operation unterbleibt, nachdem der Zar seinen Namen unter das betreffende Dekret gesetzt. Daß der Fall ohne Wirkung auf das gegenseitige Verhältnis zwischen Rußland und Frankreich bleiben sollte, ist kaum glaublich. Jedenfalls sollten wir, die wir allen Grund haben, der tertius gaudens zu sein, uns in dieser Minute vor einem Eingreifen hüten, das die Schmollenden sofort zusammenführen würde**.

Raschdau

* Der Rücktritt des Bankhauses Rothschild von dem bereits perfekten Kontrakt, der im Hinblick auf die Übersättigung des französischen Markts mit russischen Anleihen auch von dem französischen Finanzminister Rouvier gebilligt sein soll (Aufzeichnung Holsteins vom H. Mai 1891), erfolgte bekanntlich wegen der russi- schen Judenverfolgungen.

** Auch von Holstein liegt eine längere Aufzeichnung vom 11. Mai vor, in der er, ähnlich wie Raschdau, aus dem Verhalten der französischen Regierung in der Anleihefragc den Schluß zieht, daß „die französische Regierung in naher Zeit nicht in die Lage zu kommen glaubt, Rußlands zu bedürfen", und folglich einen nahen Krieg nicht wolle. Gleich Raschdau rät Holstein, von der vom Kaiser an- geregten Abberufung Münsters von seinem Pariser Posten unter allen Umständen Abstand zu nehmen: „Angenommen die vorstehende Ausführung ruhte auf un- richtigen Grundlagen, und wir hätten wirklich Anlaß, uns auf einen nahen Krieg noch mehr vorzubereiten, als wir es ohnehin schon getan haben so wäre eine Veränderung im Botschaftspersonal, namentlich in der Person des Botschafters dann erst recht zu vermeiden, weil sie keinen wesentlichen Nutzen, dafür aber einen wesentlichen Nachteil haben würde. Keinen Nutzen, denn ein neuer Botschafter braucht Zeit, um sich zu orientieren über die Eigenart und über das relative Gewicht der Dinge und der Menschen, mit denen er in Berührung kommt. Wesentlichen Nachteil, weil ein General aus der Umgebung Seiner Majestät des Kaisers Wilhelm II. allgemein im In- und Auslande als ein Werkzeug für die Verwirklichung kriegerischer Plane angesehen werden würde. Dieses Ergebnis wäre gleichbedeutend mit einer politischen Niederlage, da es lähmend auf die Sympathie und Unterstützung wirken würde, ohne welche die Gefahren eines Krieges sich wesentlich steigern. Die Aussicht auf englische Mitwirkung z. B. wäre verloren in dem Augenblick, wo sich Anhaltspunkte für den Verdacht anführen lassen, daß wir den Kriegsausbruch diplomatisch gefördert haben.

Wenn der Major von Huene nicht nur allgemeine Redensarten vorgebracht und alte Angaben aufgewärmt, sondern neue Angaben positiver Natur gemacht hat über Vorbereitungen kriegerischer Aktion, so müssen diese Angaben auf ihren Wert geprüft werden. Das kann aber weder ein neuer Botschafter noch ein neuer Militärattache. Das kann nur der Generahtab durch ein gut organisiertes, von einer geeigneten Persönlichkeit geleitetes Nachrichtenwesen. Es dürfte sich emp- fehlen, daß der Herr Reichskanzler bei dieser Gelegenheit eingehend prüft da auf ihm doch die Verantwortung für das Ganze ruht , ob bei dem Nachrichten- bureau die Vorbedingungen zweckentsprechender Wirksamkeit vorhanden sind."

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Nr. 1567

Der Major im Oeneralstabe der 29. Division in Freiburg Freiherr von lioioingen genannt Huene an das Auswärtige Amt

Eigenhändig Bericht über einige aus Frankreich erhaltene Nachrichten*

Freiburg in Baden, den 15. Mai 1891

1. Ein mit dem französischen Kriegsministerium bzw. mit den technischen französischen Artilleriebehörden seit Jahren in Geschäfts- beziehung stehender nordamerikanischer Großindustrieller und ein mir seit längerer Zeit bekannter nordamerikanischer Offizier, welcher in Frankreich und speziell in der französischen Marine vielfache Beziehun- gen hat, äußerten mir gegenüber kürzlich gesprächsweise, wie in den Kreisen der französischen Armee- und Marineleitung in letzter Zeit wieder mehr wie in den letzten Jahren von der Möglichkeit bzw. auch Wahrscheinlichkeit eines baldigen Krieges mit Deutschland gesprochen werde.

Auf meine Bemerkung, ich hätte in Frankreich vielfach beobachtet, wie derartige Redereien ohne speziellen Untergrund periodisch wieder- zukehren pflegten und dann wieder verschwänden, äußerten genannte Herrn, diese Erfahrung sei ihnen ebenfalls nicht fremd; die gegen- wärtigen Redereien schienen ihnen jedoch deshalb beachtenswert, weil bei denselben nicht mehr, wie bisher stets der Fall, „l'annee prochaine" d.h. ein allgemeiner Termin als Zeitpunkt des Krieges genannt werde, sondern weil die Äußerungen mit Bestimmtheit auf „den Herbst" lauteten, auch auf „die Zeit der großen Manöver".

Erstgenannte Beobachtung, das Bezeichnen eines allgemeinen, nie eines bestimmten Termins, ist nach meiner Erfahrung zu- treffend.

Es dürfte die Nennung „des Herbst" um so auffallender sein, als es im Interesse der französischen Heeresleitung liegen muß, wenn dieselbe in der Lage ist, sich einen Zeitpunkt zum Kriege wählen zu können mit Rücksicht auf die Weiterausnutzung des Wehrgesetzes vom Jahr 1889 wie aus allgemeinen militärischen Gründen eher das nächste Frühjahr wie den kommenden Herbst als Termin zu wählen.

Der zu Anfang bezeichnete amerikanische Offizier, welcher mir als ein guter Beobachter bekannt ist, sagte außerdem, die betreffenden während eines kürzlich beendigten längeren Aufenthalts in Frankreich

* Der Bericht erfolgte auf Grund eines kaiserlichen Befehls vom 12. Mai, daß Major von Huene dasjenige, was über Frankreich bei der letzten Anwesenheit Seiner Majestät in Karlsruhe von gedachtem Offizier mündlich geäußert worden sei, schriftlich unter Angabe der Quellen, auf denen seine Angaben beruhen, dar- legen solle (Reichskanzler von Caprivi an den Chef des Militärkabinetts General- leutnant von Hahnke, 12. Mai 1891).

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gehörten Äußerungen hätten ihm den Eindruck erweckt, als ob den- selben eine zum Herbst von Rußland aus zu erwartende Maßnahme ^ zugrunde liege, welche zum Kriege führen würde, bzw. daß Frankreich durch irgendeine von Rußland ausgehende Maßnahme Gelegenheit finden würde, zu Felde zu ziehen.

Die amerikanischen Herrn fügten hinzu, Äußerungen, welche diesen Gedanken variierten, seien ihnen in letzter Zeit so vielfach ent- gegengetreten, daß sie den Eindruck hätten, es müsse denselben min- destens ein bestimmtes Gerücht zugrunde liegen.

2. Ein mir seit etwa zehn Jahren bekannter höherer italienischer Offizier, welcher sich mehrere Jahre in Paris in dienstlicher Stellung befand und die daselbst vielfach auftauchenden Sensationsgerüchte je nach ihrem Untergrund zu sondieren versteht, will aus Kreisen der Pariser haute finance, mit welcher er verwandtschaftliche Beziehungen hat, Nachrichten über ähnliche Gerüchte betreffend einen eventuellen Krieg zum Herbst haben. Derselbe sagte gesprächsweise, in genannten Kreisen werde in letzter Zeit geäußert, die französische Regierung verspreche sich für einen Krieg im Herbst von den für genannte Zeit angesetzten großen Truppenzusammenziehungen gewisse Vorteile, bzw. würden letztere zu einer eventuellen bezüglichen Ausnutzung veranlagt.

Worauf diese Gerüchte zurückzuführen seien, habe er nicht zu ergründen vermocht, die Art des Auftretens derselben scheine ihm jedoch bemerkenswert.

Freiherrvon Hoiningen gt. H u e n e

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:

1 Stimmt mit der gestrigen Meldung von Yorck, daß Russen im Herbst größere Truppenverschiebungen vornehmen werden. W.

Nr. 1568

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 122 Paris, den 27. Mai 1891

Geheim

Euerer Exzellenz bin ich sehr dankbar für die Übersendung des Berichts des Freiherrn von Huene*, die Aufforderung mich zu äußern, und beehre mich folgendes auf den hohen Erlaß vom 23. d. Mts. Nr. 111 zu erwidern.

Siehe Nr. 1567. 300

Als ich von den Alarmnachrichten, die nicht allein an allerhöchster Stelle, sondern auch sonst durch diesen Offizier verbreitet wurden, hörte, glaubte ich, daß dieselben auf einigermaßen zuverlässige Quellen zurückzuführen sein müßten, und daß er in der Lage sein würde, zu- verlässige Gewährsmänner und Tatsachen vorzuführen, die ihn einiger- maßen dazu hätten veranlassen können, in seiner jetzigen Stellung auf so unberechtigte und unverantwortHche Weise die Alarmglocke zu läuten.

Freiherr von Huene tat das aber auf Grund oberflächUcher Ge- spräche mit amerikanischen Erfindern und Waffenlieferanten, die ein Interesse haben, ihre Erfindungen und Waffen an den Mann zu bringen, und auf Äußerungen eines Italieners, der Verbindungen mit der Börse hat.

Major von Huene gibt selbst zu, daß er solche Gespräche und Nachrichten hier in Paris beständig gehört habe, glaubt aber, daß sie deshalb wichtig seien, weil ein bestimmter Termin „nach oder während der Manöver" angegeben sei.

Major von Huene ist ein viel zu guter Offizier, um nicht zu wissen, daß der Zeitpunkt der Manöver der schlechteste wäre, den die franzö- sische Kriegsverwaltung würde wählen können, und daß es ebenso lächerlich ist zu glauben, daß die Franzosen uns mit vier nicht mobilen Korps überfallen wollen, als es die Befürchtung sein würde, die Fran- zosen wollten mit der Flottenabteilung, die sie nach Kronstadt schicken, unsere Schiffe und Küstenplätze in der Ostsee angreifen.

Solange ich die Ehre habe, der Botschafter Seiner Majestät des Kaisers hier auf diesem verantwortlichen Posten zu sein, ist es nicht allein meine Pflicht, aber auch die Pflicht der mir beigegebenen Be- amten und Offiziere, auf alles sorgfältig zu achten, was hier auf politi- schem und militärischem Gebiete vorgeht.

Diese Pflicht geht vor allem dahin, die Kriegsgefahr beizeiten richtig zu erkennen, aber auch dafür zu sorgen, daß unbegründete Alarmnachrichten auf das richtige Maß zurückgeführt werden.

Meine Berichterstattung während fast sechs Jahren zeigt, daß ich in den schwierigsten, gefährlichsten Zeiten ich verweise dabei auf die Zeit des General Boulanger stets richtig gesehen und die Tat- sachen meinen Voraussagungen stets recht gegeben haben.

Ich glaube, die hiesigen Verhältnisse und die Franzosen gut zu kennen, und auf die Gefahr hin, als Optimist zu gelten, behaupte ich, daß trotz der großen Fortschritte der französischen Armee die wirk- liche Stimmung des Volkes, der Kammer und der Regierung, solange ich hier bin, noch nicht friedlicher und ruhiger gewesen ist als in diesem Augenblicke, und jetzt Krieg ausrufen, ist weiter nichts als absichtlich den Kriegsteufel an die Wand malen.

Glaubte Major von Huene selbst an seine Alarmnachrichten, dann

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würde er, der sehr gut schreiben kann, anders geschrieben haben, als dieser seinen Fähigkeiten nach ganz elende Bericht es zeigt.

Es wäre, wenn dieser Offizier glaubte, solche Nachrichten bis an die allerhöchste Stelle gelangen lassen zu dürfen, wohl seine Pflicht gewesen, bei mir, der ich ihn während seiner Zeit nur zu gut behandelt habe, anzufragen, ob ich solche Gerüchte für begründet halte, und da- durch auch seinen Kameraden, seinem Nachfolger und dem Haupt- mann von Süßkind, Gelegenheit zu geben, diesen Nachrichten nach- zuforschen und aufmerksam darauf zu werden.

Das Verbreiten solcher Nachrichten hinter dem Rücken seines früheren Botschafters und seines an seine Stelle kommandierten Nach- folgers ist ein Benehmen, welches ich nicht näher qualifizieren will.

Ich behalte mir vor, mich noch näher nach den Gewährsmännern des Majors von Huene zu erkundigen und dann auf diese Sache zurückzukommen.

Münster

Nr. 1569

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Entzifferung

Nr. 142 Paris, den 21. Juni 1891

Die Kriegsgerüchte verstummen mehr und mehr. Präsident Carnot und seine Ratgeber haben nicht die Absicht gehabt, einen Krieg zu provozieren. Das Spiel würde für sie selbst und die Republik, die sie verkörpern, zu gefährlich sein. Sie wissen, daß ein siegreicher General nolens volens Imperator werden müßte, und daß eine verlorene Schlacht wie ein Blitz im Elysee einschlagen und alles, was drum und dran hängt, wegfegen würde. Hätten Herr Carnot und seine Minister wirk- lich Krieg gewollt, so muß die jetzige politische Lage ihnen solche Gedanken vertreiben. Daß die Tripleallianz fortbestehen wird, weiß man hier, daß England unter Umständen mitwirken würde, bezweifelt man nicht; wie bisher auf Rußland unter allen Umständen zu rechnen, scheint nicht mehr ganz sicher.

Wollen die Franzosen keinen Krieg, wozu dann die ganzen über- triebenen Rüstungen? Diese Frage liegt nahe, meine Antwort darauf ist folgende.

Der Vorwand zu diesen Rüstungen ist Elsaß-Lothringen, der an- gebliche Zweck Wiedereroberung dieser Provinzen. Dieses Mittel zieht in der Kammer und vor dem Volke und verschafft mit Leichtigkeit die Geldmittel für die Armee. Der Versuch der Wiedereroberung wäre doch gefährlich, daher begnügt der gern renommierende Franzose sich

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mit diesem Gedanken i; der Kriegsminister muß den Revanchegedanl<en lebendig erhalten, sonst droht die Quelle zu versiegen, aus der er so reichlich schöpft. Folgendes sind für die Republik die Motive für die übertrieben starke Armee:

Das französische Volk wird niemals ruhig sein, wenn es sich nicht für die grande nation und zwar für la plus grande nation hält. Nach unseren Siegen ging das nicht, daher die Unzufriedenheit und die Wut gegen uns, die Sieger. Die Nation fühlt sich gedemütigt und die Besorgnis, daß Deutschland das geschwächte Frankreich jeden Tag überfallen könnte, wurde in Frankreich selbst und von Anfang an von Rußland aus stets künstlich genährt.

Die Unruhe, welche dieser Gedanke erzeugte, war gefährlich nach innen wie nach außen.

Wollte Frankreich wirklich gerüstet sein, so mußte die Nation das Opfer der allgemeinen Wehrpflicht bringen und ein Drittel der ganzen Staatseinnahmen auf Heer und Flotte verwenden. Das Selbst- vertrauen der Nation ist durch diese übertriebenen Anstrengungen sehr gewachsen, der kriegerische Sinn der Nation aber nicht. Die allgemeine Wehrpfücht hat, Gott sei es gedankt, ganz anders gewirkt als bei uns.

Das Selbstvertrauen der Franzosen ist jetzt da. Die Franzosen freuen sich darüber, daß sie sich wieder stark fühlen können, haben aber noch gar keine Lust, ihre Kraft auf die Probe zu stellen. Nach außen will die Republik stark erscheinen, nach innen ist die Armee der einzige Faktor, auf den die Republik re-chnen kann. Wie in einem monarchischen Staat das monarchische Gefühl vor allem in der Armee wurzelt und durch die allgemeine Wehrpflicht im Volke stets von neuem belebt wird, so ist es, freilich in geringerem Grade, in der Republik der Fall. Die republikanischen Ideen werden in der Armee und durch die Armee immer mehr verbreitet. Solange die Republik wie jetzt auf diese Armee rechnen kann, ist sie gesichert, das weiß sie, sie weiß aber auch, daß mit dem ersten Tage des Kriegs diese Sicherheit gefährdet werden könnte.

Die Republik befestigt sich, die Monarchisten verlieren täglich Anhänger. Die Prätendenten und ihre Häuser werden kaum noch beachtet, und was das Wichtigste ist, Rom versöhnt sich mit der Republik. Hätten die Bonapartisten noch denselben Einfluß wie zur Zeit des Boulangismus, so würde die Kaiserin Eugenie und die Fa- milie Bonaparte nicht ruhig hier im Hotel sein und sich überall zeigen können.

Der Boulangismus war das letzte Aufflackern der monarchischen Idee. Der Klerus glaubte noch an die Möglichkeit einer monarchischen Restauration, jetzt sieht er, daß er sich irrte. Der Papst will die Republik gebrauchen 2, sonst würde Kardinal Rotelli im Elysee nicht

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so gesprochen haben*, und ein Artikel im „Osservatore Romano" sagt deutlich, daß seine Worte gebilligt wurden. Rede und Artikel folgen besonders.

Die Annäherung des Papstes an die demokratische Republik ist gefährlich, vor allem für Italien 3, und mein italienischer Kollege und seine Regierung blicken mit Sorge auf diese Kundgebungen.

Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

^ Glaube ich nicht, wenn der Russe hilft versucht er es doch.

2 gegen das Protestantische Deutschland!

3 ja auch für uns

Nr. 1570

Der Reichskanzler von Caprivi an den Statthalter in Elsaß- Lothringen Fürsten von Hoheplohe

Konzept von der Hand des Vortragenden Rat-- Raschdau

Nr. 15 Berhn, den 21. Juli 1891

Vertraulich

Wie Euerer Durchlaucht bekannt, wird die Lage Frankreichs wie kaum ähnlich in einem anderen Staate von plötzlichen, teils wahren, teils erkünstelten Erregungen der öffentlichen Meinung beherrscht, deren Einfluß die leitende Gewalt sich nur mit Mühe entziehen kann. Soweit Deutschland dabei in Frage kommt, nimmt diese Erregung fast ausnahmslos ihren Ausgang von Vorgängen im Reichslande, die dann in Frankreich von einer in der Wahl ihrer Mittel rücksichtslosen Presse in übertriebener und verzerrter Weise dargestellt und in aufhetzendem Sinne ausgebeutet werden. Auf diese Art erlangen aii sich vielleicht nicht besonders wichtige Vorkommnisse im Reichslande für unsere auswärtigen Beziehungen eine Bedeutung wie in keinem anderen Ge- biet Deutschlands. Es ist hier nun bei verschiedenen Anlässen als ein besonderer Nachteil empfunden worden, daß die Leitung der auswär- tigen Politik des Reichs über solche Vorgänge überhaupt nicht oder doch nicht rechtzeitig und nicht ausreichend unterrichtet war. Die Mitteilungen der Presse, selbst wenn sie den Ereignissen schnell folgen, sind keine genügende Informationsquelle, um daraufhin Entschlüsse von Tragweite fassen zu können. Als der zurzeit mit der Leitung der auswärtigen Beziehungen des Reichs betraute Ratgeber Seiner Majestät halte ich es daher für dringend wünschenswert, über Vor- gänge im Reichslande, die für den Gang unserer auswärtigen Politik von Einfluß sein können, rechtzeitig amtlich unterrichtet zu werden.

* Kardinal Rotelli hatte bei der Feier der Überreichung des Kardinalshutes am 10. Juni eine Ansprache an Präsident Carnot gehalten, in der die unauflösliche Verbindung „des destinees de la papaute et de la France" betont wurde.

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Ich glaube kaum im einzelnen näher erörtern zu sollen, welcher Art diese Vorkommnisse sein können. Wo bei Maßregeln gegen die Frem- den oder bei dem Grenzverkehr französische Interessen direkt im Spiel sind, oder wo wie bei den politischen Wahlen im Lande sich die Gefühle der Bevölkerung des Reichslandes Frankreich gegenüber doku- mentieren, oder wo im Vereinsleben, in Schule und Kirche usw. sich stärker bemerklich machende Einwirkungen einer nach der Fremde zielenden Agitation zeigen, muß die nähere Kenntnis der Verhältnisse für die allgemeine Politik des Reichs von Wert sein. Ich brauche in dieser Beziehung nur an die letzten elsaß-lothringischen Gemeinde- ratswahlen zu erinnern, die in den deutschen Zeitungen zwar eingehend, aber doch wesentlich vom Parteistandpunkte besprochen worden sind, sodaß deren Informationen für die diesseitige Beurteilung nicht aus- reichendes Material lieferten. Ich darf hier auch der Nachricht von der Entdeckung einer zur Wiedergewinnung der Grenzgebiete gegrün- deten geheimen Gesellschaft in Nancy Erwähnung tun. Wäre diese durch die „Frankfurter Zeitung" gebrachte Nachricht rechtzeitig direkt zur Kenntnis des Auswärtigen Amts gelangt, so hätte vielleicht durch geeignete Instruierung des Kaiserlichen Botschafters in Paris erreicht werden können, daß den die öffentliche Meinung in Europa mißleiten- den Verdächtigungen des Interpellanten Laur von vornherein die Spitze abgebrochen und die Verhandlung am ersten Tage zum Abschluß gebracht worden wäre*. Euere Durchlaucht werden bei Ihren lang- jährigen Erfahrungen auf dem Gebiete der französischen Politik am besten in der Lage sein zu beurteilen, welche Vorgänge in der an- gedeuteten Richtung hier von Interesse sein können. Bei den eigen- tümlichen staatsrechtlichen Verhältnissen des Reichslandes fehlt es mir als Leiter der auswärtigen Politik des Reichs und Preußens an einem besonderen Organe, das in gleicher Weise, wie dies seitens der preußi- schen Vertreter in den deutschen Bundesstaaten geschieht, mich über die wichtigeren Vorgänge informieren könnte. Es liegt aber kein Hindernis vor, diesem Mangel durch direkte Mitteilungen der dortigen Landesregierung abzuhelfen, und ich würde Euerer pp. zu Dank ver- pflichtet sein, wenn Hochdieselben geneigtest Veranlassung treffen wollten, daß ich von dort aus über alle wichtigeren Vorgänge, die für unsere auswärtigen Beziehungen von Einfluß sind oder voraussicht- lich werden könnten, rechtzeitig informiert werde.

Ich würde mich freuen, wenn Euere pp. die Geneigtheit haben * wollten, mich baldgefälligst Ihres Einverständnisses zu versichern.

v. Caprivi

* Am 16. Juli hatte der Abgeordnete Laur in der französischen Kammer eine Inter- pellation über die Handhabung des Paßwesens in Elsaß-Lothringen eingebracht, deren Beratung trotz des Widerspruchs des Ministers Ribot beschlossen wurde. Erst am 17. wurde die weitere Beratung durch einen Kammerbeschluß inhibiert, nachdem Ribot die Kabinettsfrage gestellt hatte.

20 Die Große Politik. 7 Bd. - 305

Nr. 1571

Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 180 Paris, den 29. Juli 1891

Minister Ribot brachte, als ich ihn heute an seinem Empfangstage besuchte, in freundschaftlichem Tone und, wie er nachdrücklich betonte^ in ganz vertraulicher Weise die Rede auf den Paßzwang „cette question malheureusement tres-irritante". Es liege ihm fern, sagte er, die Paß- maßregel selbst diskutieren zu wollen, ebensowenig wie er sich bei- spielsweise auf die Erörterung einer Ausweisung würde einlassen können; er wolle mir nur sagen, wie peinlich es ihm sei, täglich mehr mit Reklamationen von Personen überhäuft zu werden, denen das Visa aus nicht ersichtlichem Grunde verweigert worden. Die chau- vinistische Agitation habe sich nunmehr der Paßmaßregel bemächtigt und finde damit bei der öffentlichen Meinung fruchtbaren Boden; die Zeitungen, selbst gemäßigte, begännen die einzelnen Abweisungen in erschreckend zunehmender Zahl zu registrieren und zu besprechen, kurz, er müsse befürchten, daß die Erregung eine solche Höhe er- reichen werde, daß die Regierung schließHch doch, so ungern sie sich auch dazu entschließen würde, gezwungen werde, Gegenmaßregeln in Erwägung zu ziehen.

Der Minister wünschte ganz freundschaftlich Auskunft darüber, ob denn neuerdings Verschärfungen in der Handhabung der Paßmaß- regeln eingetreten seien, und wie etwa die Zahl der Abweisungen zur Gesamtzahl der Anträge sich verhalte.

Ich habe Herrn Ribot gesagt, ich könnte auch meinerseits auf eine Erörterung der Paßmaßregel an sich nicht eingehen, bezüglich deren ihm ja überdies unsere Auffassung hinlänglich bekannt sein dürfte. Was die augenblickliche Handhabung derselben betreffe, so sei mir von einer neuerlichen grundsätzlichen Verschärfung nichts bekannt. Die Anträge überstiegen jetzt während der Reise- und Ferienzeit sehr erheblich das gewöhnliche Maß, daher erschienen jetzt auch die Abweisungen zahlreicher und machten um so mehr Eindruck, als die Presse, die sich damit beschäftigt, sich wohl hüte, neben den verneinenden Antworten auch die bejahenden aufzuzählen. Im übrigen vermied ich es, dem Minister das ziffermäßige Verhältnis zwischen Anträgen und Abweisungen anzugeben, bemerkte jedoch, daß die von dem Abgeordneten Laur beigebrachten Zahlen und Einzelheiten unseres Paßgeschäfts ebenso irrig seien wie die meisten in den Zeitungen erscheinenden ähnlichen Behauptungen. Die Handhabung des Paß- zwanges geschähe mit derjenigen Strenge, zu welcher wir uns zu unserem eigenen lebhaften Bedauern veranlaßt sähen, Härten jedoch

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suchten die heimischen Behörden sowohl wie die Kaiserliche Botschaft nach Tunlichkeit zu vermeiden.

Als der Minister schließlich noch der Hoffnung Ausdruck gab, daß der Paßzwang in nicht zu ferner Zeit gemildert oder beseitigt werde, konnte ich es mir nicht versagen, ihn daran zu erinnern, daß derselbe bereits einmal dem Erlöschen nahe war, daß wir aber leider durch die Erfahrungen, welche uns die Vorgänge anläßlich des Be- suches Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich gebracht haben, zur Wiederaufnahme veranlaßt wurden. Herr Ribot hat darauf nichts er- widert.

Daß die Handhabung des Paßzwangs in neuerer Zeit wieder an Schärfe zugenommen hat, ist in dem Berichte des Herrn Botschafters vom 24. d. Mts. Nr. 176 bereits erwähnt. Abgesehen davon, daß die Verhältniszahl der Abweisungen erheblich zugenommen hat, pflegt der Herr Statthalter in Elsaß-Lothringen in den meisten Fällen der Visa- bewilligung die Berechtigung zum Aufenthalt auf kurze Zeit zu be- schränken. Wie peinlich diese Strenge hier empfunden wird, hat die Kaiserliche Botschaft reichlich Gelegenheit, aus den Reklamationen und Bitten um nochmalige Verwendung zu erfahren, mit welchen sie in geradezu erdrückender ^Weise bestürmt wird.

V. Schoen

Nr. 1572

Der Reichskanzler von Caprivi an den Geschäftsträger in Paris

von Schoen

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Raschdau

Nr. 70 Berlin, den 4. August 1891

Mit Bezug auf Bericht Nr. 180*.

Bezüglich Paßzwang war schon Milderung im Gange, als Bevölke- rung Frankreichs uns durch ihr zeitweiliges Verhalten an weiterem Entgegenkommen hinderte. So die beleidigenden Demonstrationen in Paris bei Besuch der Kaiserin Friedrich und neuerlich Angriffe in Deputiertenkammer**. Auch haben wir kürzlich genaue Kenntnis von einer Ligue de la Revanche in Nancy, aus etwa 400 Mitgliedern be- stehend, erhalten, die sich die Abtrennung der Reichslande von Deutsch- land zur Aufgabe gemacht. Es ist nur natürlich, wenn unter solchen Umständen unsere Grenzbehörden bei der Zulassung Fremder im Reichslande mit doppelter Vorsicht handeln. Des ungeachtet wünschen wir lebhaft eine Milderung der Paßvorschriften und hoffen, solche

* Siehe Nr. 1571.

** Vgl. Nr. 1570, S. 305, Fußnote.

20« 307

in nicht ferner Zeit eintreten lassen zu können, wenn wir wirksames Entgegenkommen der französischen Regierung gegenüber derartigen uns feindsehgen Bestrebungen auf französischem Boden finden.

Ist es nötig, Herrn Ribot gegenüber auf die Sache zurückzukom- men, so äußern Sie sich in diesem Sinne.

Zu Ihrer persönlichen Information gereiche, daß Statthalter zu vorsichtigem Vorgehen aufgefordert ist, daß wir aber auch der emp- findlichen öffentlichen Meinung in Deutschland Rücksichten schulden und Eindruck des Schwankens vermeiden müssen*.

V. Caprivi

Nr. 1573 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

Berlin, den 7. August 1891

Im Lauf einer Unterhaltung äußerte Herr Herbette heut mir gegenüber, er glaube nicht, daß der Lärm der grosses caisses, der jetzt von Kronstadt nach Frankreich klinge**, die öffentliche Meinung in letzterem Lande fortreißen würde. Man würde in einiger Zeit sich um so eher beruhigen, als wie er sich persönlich überzeugt habe sein Gouvernement durchaus friedliche Absichten habe. Er könne das insbesondere von Monsieur de Freycinet versichern. Er wolle per- sönlich und akademisch hierbei eine Frage berühren, die ihn schon lange beschäftigte, und die ein Mittel bieten könnte, seinem Gouverne- ment die versöhnliche Haltung zu erleichtern, das sei die Paßfrage. Er habe schon vor Jahren seine Regierung gebeten, über diese Frage mal hier sprechen zu dürfen, diese Bitte sei ihm aber wiederholt ab- geschlagen. Unsere Paßverordnung sei eine unglückliche Maßregel, sie gebe Stoff, um die Gemüter zu erregen, und ihre Legalität sei im Hinblick auf Artikel 11 des Frankfurter Friedens bestreitbar. Sie richte sich zwar nicht allein gegen Franzosen, aber doch nur gegen die französische Grenze, und wirke deshalb im wesentlichen ebenso, wie wenn sie ausspräche, daß Franzosen im Elsaß anders behandelt werden sollten, wie andere. Er begreife, daß im gegenwärtigen Augen- blick jene Verordnung nicht aufgehoben werden könne, aber er sei

* Auf Caprivis Hinneigung zu einem Abbau des Paßzvvanges scheinen die Vor- stellungen nicht ohne Einfluß geblieben zu sein, die der damalige Generalkonsul in Marseille Julius von Eckardt bei einem Besuch im Auswärtigen Amt im August 1891 vorbrachte. Vgl. J. v. Eckardt, Aus den Tagen von Bismarcks Kampf gegen Caprivi (1920), S. 8 ff.

** Vom 23. Juli bis 8. August hatte der Besuch der französischen Flotte in Kron- stadt stattgefunden. Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1502.

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überzeugt, die Stimmung in Frankreich würde sich bald beruhigen, und er behielte sich vor, dann mal wieder auf die Sache zurückzukom- men. Er sei, auch wenn er sich auf den Standpunkt unseres Gou- vernements in Elsaß-Lothringen stelle, überzeugt, daß man mit den Meldekarten, deren Einführung ihm deshalb eine glückliche Maßregel geschienen habe, dasselbe erreichen könnte, was wir mit dem Paß- zwang erreichen wollten. Er sei zufrieden, in Berlin geblieben zu sein, er fasse seine Aufgabe hier als eine mission de conciliation auf, er würde sich glücklich schätzen, wenn er an der Paßfrage seinen Landsleuten mal zeigen könnte, daß man mit einer versöhnlichen Hal- tung in Berlin eher Erfolge hätte, wie mit einer feindseligen.

Ich habe ihm geantwortet, was letztlich über den gleichen Gegen- stand an Herrn von Schoen geschrieben ist, daß wir in bezug auf die Legalität unserer Auffassung gegenüber Artikel 11 des Frankfurter Friedens anderer Ansicht wären, und daß ich mich des Tages freuen würde, an dem die Paßverordnung aufgehoben werden könne, und das doppelt, wenn ich Herrn Herbette dadurch die Fortführung seiner versöhnlichen Mission erleichtern könnte.

V. Caprivi

Nr. 1574

Der Reichskanzler von Caprivi an den Statthalter in Elsaß- Lothringen Fürsten von Hohenlohe

Abschrift

Geheim Berlin, den 2. September 1891

Euere Durchlaucht beehre ich mich ganz ergebenst davon in Kennt- nis zu setzen, daß ich Mitte dieses Monats der Frage näher zu treten gedenke, ob und wie der Paßzwang in Elsaß-Lothringen durch andere Maßregeln (etwa Ausbildung des Meldekartenwesens) zu ersetzen sein möchte. Euerer Durchlaucht Einverständnis vorausgesetzt, würde ich dann bitten, den Unterstaatssekretär von Koller, mit den nötigen In- struktionen versehen, hierher zu senden, um hier, vielleicht unter Zu- ziehung eines Mitgliedes der Botschaft in Paris, die Einzelnheiten zu beraten. Zunächst würde ich für eine Mitteilung darüber, ob diese Idee Euerer Durchlaucht Zustimmung findet, dankbar sein*.

(gez.) Caprivi

* Vgl. dazu Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst Bd. II, 48 ff. Fürst Hohenlohe entsandte nicht nur den Unterstaatssekretär von Koller, sondern reiste auch selbst zu den Verhandlungen über die Frage des Paß- zwanges nach Berlin (14. September), die bis zum 19. zum Abschluß kamen. Am 21. erfolgte, von Straßburg aus, eine Verordnung betreffend die Milderung des Paßzwanges, wonach die Paßpflicht nach Maßgabe der Verordnung vom 22. Mai 1888 auf aktive Militärpersonen, ehemalige aktive Offiziere sowie die Zöglinge

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Nr. 1575 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

Berlin, den 18. September 1891 Herr Herbette fragte mich nach China*. Ich habe ihm gesagt, wir hätten nicht die Absicht, uns dort von dem Vorgehen der Franzosen zu trennen, wir würden antworten, sobald wir näher informiert wären, die Schwierigkeit läge für uns darin, daß wir nur geringe exekutive Mittel in China hätten, unser Kreuzergeschwader sei in Chile noch festgehalten.

In bezug auf den Paßzwang übergab er mir, ohne einen Antrag zu stellen, anliegendes Verzeichnis von Personen, die wegen Paß- verweigerung vorstellig geworden wären. Ich würde raten, diese Liste schleunigst zu prüfen und die davon unschädlich Befundenen bald mit einem Paß zu versehen und Herrn Herbette Anzeige davon zu machen, so daß es als eine Rücksicht auf seine Person erscheint.

Das um so mehr, als er heut seinen früheren Wunsch: ihm den Paß- zwang zu opfern, fallen ließ, sagte: „Je m'efface completement" und selbst vorschlug, die Initiative von Elsaß-Lothringen ausgehen zu lassen. Am 16. Oktober träten die französischen Kammern zusammen, er hielte für höchst wünschenswert im Interesse der Beruhigung, daß bis dahin irgend etwas geschehen sei, und wenn es auch nur das Aufheben der Bezahlung für die Pässe wäre. v. Caprivi

Nr. 1576

Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 234 Paris, den 24. September 1891

Die Aufhebung des allgemeinen Paßzwanges für Elsaß-Lothringen ist im großen und ganzen von der hiesigen Presse mit großer Be- friedigung begrüßt worden.

militärisch organisierter Schulen des Auslandes beschränkt, im übrigen aber auf eine bloße Meldepflicht reduziert wurde. Das Paßvisum sollte hinfort kostenlos er- teilt werden.

Die seil längerem eingewurzelte fremdenfeindliche Bewegung in China hatte seit dem Sommer 1891 zu ernsteren Unruhen geführt, die ein gemeinsames Vorschreiten der europäischen Mächte nahelegten. In dieser Richtung schien, während Eng- land und Rußland sich der Anwendung der ultima ratio abgeneigt zeigten, Frank- reich die Initiative ergreifen zu wollen. Schon am 15. September fragte Bot- schafter Herbette im Auftrage Ribots in Berlin an, was Deutschland zu tun ge- denke.

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Einzelne Blätter erklären unumwunden, daß in dieser Maßregel „ein Akt der Weisheit und der guten Politik", ein Beweis zu erblicken sei, daß Deutschland nach wie vor das Bedürfnis habe, mit Frankreich in Frieden zu leben, und durch die jüngsten Wandlungen der politischen Lage sich nicht beunruhigt fühle.

„Temps" sagt, er wolle nicht die Beweggründe untersuchen, die den Kaiser veranlaßten, seine Verordnung zu erlassen. Man müsse bei solchen Dingen nicht zurück, sondern vorwärts blicken. Ein Stein des Anstoßes sei aus dem Wege geräumt. Deutschland erachte die Lage für hinlänglich stetig, um den Anfang zu einer Besserung zu machen und das zu zerstören, was man früher in Berlin als wirksame Garantien bezeichnet habe. Ein solches Anzeichen habe immerhin seinen Wert, der noch vermehrt werde durch die entschieden friedliche Tragweite einer in diesem Sinne aufgefaßten Maßregel, welche in Elsaß-Lothringen mit außerordentlicher Erleichterung begrüßt werden müsse und in Frankreich eine dem Sinne, in welchem sie erlassen wurde, ent- sprechende Aufnahme finden werde. Überhaupt seien keinerlei Gründe vorhanden, ein so wesentliches Nachlassen der Spannung in den Be- ziehungen zweier großen Völker nicht freudig zu verzeichnen. Ähnlich wie „Temps" sprechen sich nahezu alle tonangebenden Zeitungen aus.

Daß die patriotischen Hetzblätter die Bedeutung der Maßregel abzuschwächen suchen, um zu verhindern, daß dadurch eine Beruhigung der öffentlichen Meinung eintritt, ist nahezu selbstverständlich; sie sagen, die Abschaffung des Paßzwangs sei ihnen angenehm, weil dadurch für die elsässischen und lothringischen „Brüder" eine Erleichterung ihres traurigen Schicksals herbeigeführt werde, man schulde aber da- für Deutschland nicht die geringste Dankbarkeit, und es könne gar nicht davon die Rede sein, daß dadurch an den Beziehungen Frankreichs zu Deutschland irgend etwas geändert werde, pp.

Trotz dieser Entstellungen von chauvinistischer Seite ist die An- sicht vorherrschend, daß die Aufhebung des Paßzwanges lediglich dem aufrichtigen Bedürfnis Deutschlands entspringt, ein Hindernis guter Beziehungen mit Frankreich aus dem Wege zu räumen.

Die Annahme, daß die Maßregel Gefühle der Schwäche offenbare, tritt nirgends zutage.

Daß die Nachricht von der Aufhebung des Paßzwanges auch bei der französischen Regierung die höchste Befriedigung erregt hat, be- darf kaum der Erwähnung. Herr Ribot kam bei meinem gestrigen Besuche auf die Sache zu sprechen und verhehlte nicht seine freudige Genugtuung darüber, daß nunmehr ein Element, aus welchem fort- während bedenkliche Zwischenfälle entstehen konnten, beseitigt sei.

V. S c h o e n

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Nr. 1577

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 241 Paris, den 2. Oktober 1891

Die hiesige Regierung hat in der letzten Zeit Glück gehabt, und Herrn Ribot habe ich noch niemals so guter Laune gesehen als jetzt. Mit dem Zusammentreten der Kammer am 15, werden die Sorgen für Herrn Ribot und seine Kollegen wohl wiederkehren. Die Republik und die jetzige Regierung haben aber doch im allgemeinen an Kraft ge- wonnen.

Die Frage der Handelsverträge und Tarifreform und der Interessen- kampf, der stets die Folge des Schutzzollsystems sein muß, wird ein heftiger sein.

Wenn nun auch die bedeutenden Mitglieder des Kabinetts mehr der freihändlerischen Richtung angehören, so werden sie doch kaum versuchen, den Schutzzöllnern ernstlich Widerstand zu leisten.

Auf politischem Gebiete sind den Radikalen und Chauvinisten die gefährlichsten Waffen genommen. Die Aufregung, die durch den Kron- städter Flottenunfug, durch das Kriegsspiel der großen Manöver künst- lich erzeugt wurde, hätte gefährlicher werden können, wenn zu der Zeit die Kammer hier in Paris versammelt gewesen wäre. Jetzt hat sich die Stimmung wesentlich beruhigt, und das Vertrauen auf die russische Freundschaft, auf den russischen Kaiser, der hier plötzlich der populärste Monarch geworden ist, das Vertrauen auf die eigene Armee und das Gefühl, wieder die Grande Nation zu sein, befriedigt die Franzosen für den Augenblick.

Die Aufführung der Oper Lohengrin im großen Opernhause* war eine Falle, die der schlaue und energische Constans den Chauvinisten und Boulangisten gelegt hatte. Sie sind in die Falle gefallen und gründlich durchgeprügelt worden. Durch das energische, brutale Ein- schreiten der Polizei ist denen, die Lust haben könnten, auf der Straße zu demonstrieren, gezeigt worden, daß die Regierung die Mittel hat, Ordnung zu halten und Aufwiegler zu züchtigen.

Die neue Taktik der hiesigen Polizei, sie so stark auf gewissen Punkten zu konzentrieren, daß sie ohne Anwendung von Waffen durch Prügeln und Fußtritte die Aufwiegler und dumme Neugierige behan- delt, wirkt sehr gut.

Durch die Aufhebung des Paßzwanges an der elsaß-lothringischen Grenze ist der Regierung ein sehr großer Dienst geleistet und ist

* Sie hatte am 16. September stattgefunden; versuclite Straßendemonstrationen der Chauvinisten wurden von der Polizei, die an die 3000 Personen verhaftete, vereitelt.

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den radikalen Chauvinisten eine Waffe genommen, auf welche sie für die Kammerdebatten und Presse sehr rechnen konnten: es war ein sehr gefährHches Agitationsmittel, welches nicht sowohl gegen uns als gegen die eigene Regierung benutzt werden sollte.

Herr Ribot empfing mich gleich damit, daß er mir sagte, daß durch die Aufhebung des Paßzwanges der hiesigen Regierung ein großer Dienst geleistet und große Verlegenheiten erspart seien, und nichts mehr zur Beruhigung der Gemüter hier beitragen könnte.

So viel, als Seine Majestät unser Kaiser jetzt gewährt habe, sei kaum erwartet worden, aber eben deshalb sei die Wirkung eine so erwünschte.

Ich benutzte gleich die Gelegenheit, um Herrn Ribot zu sagen, daß ich sehr hoffte, daß wir darauf rechnen können, die Regierung werde gegen die Ligue des Patriotes und die elsasser Aufwiegler energischer auftreten, als das bisher geschehen sei.

Herr Ribot erwiderte, er hoffe, die Agitation werde sich sehr legen, und komme jetzt der Selbstmord des Generals Boulanger* zu gelegener Zeit. „Boulanger n'etait plus un danger, mais il pouvait toujours devenir un embarras!" Die Partei der Boulangisten sei klein, aber doch sehr aggressiv gewesen, und es sei gut, daß sie ihre Fahne verloren habe.

Was die äußere politische Lage betrifft, so sei sie, wie Herr Ribot wiederholt betonte, seit längerer Zeit nicht so friedlich gewesen als jetzt, und er habe es für ein sehr glückliches Zusammentreffen ge- halten, daß Euere Exzellenz in Osnabrück und er hier an demselben Tage und fast mit denselben Worten die friedliche Lage^ geschildert hätten**

Münster

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:

1 Nur nicht zu optimistisch der Herzfehler bleibt darum doch.

* t 30. September in Brüssel.

** Am 27. September 18Q1 hatte Reichskanzler von Caprivi gelegentlich der 25jährigen Jubelfeier seines Regiments eine Ansprache gehalten, in der er trotz der in Kron- stadt manifestierten französisch-russischen Annäherung (vgl. Kap. XLVII, Nr. 1502) sich sehr optimistisch über die Erhaltung des Friedens ausließ: Keine der euro- päischen Regierungen habe den Wunsch, einen Krieg hervorzurufen. Auch die Annäherungen der Staaten in der neuesten Zeit gäben keinen Grund zu Befürch- tungen; sie seien nur der Ausdruck schon vorhandener Verhältnisse, vielleicht seien sie nichts anderes als die Feststellung eines europäischen Gleichgewichts, wie es früher bestanden habe. Zu den Caprivischen Äußerungen stand die Rede, die der französische Minister Ribot am gleichen Tage bei der Enthüllung eines Denkmals für den General Faidherbe in Bapaume hielt, insofern doch in einem Gegensatz, als Ribot kein Hehl daraus machte, daß durch die französisch-mssische Annäherung eine neue Lage für Frankreich entstanden sei, von der man die günstigsten Auswirkungen erwarten könne. Allerdings setzte er hinzu, daß man in dem Augenblicke, wo die bisherige Politik einen solchen Umschwung zuwege

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Nr. 1578

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 243 Paris, den 5. Oktober 18Q1

Gestern abend besuchte ich Herrn von Freycinet und hatte mit ihm ein sehr langes, ganz interessantes Gespräch.

Der Ministerpräsident begrüßte mich auf das freundschaftlichste und empfing mich gleich damit, daß er sagte, die politische Lage in Europa sei nach seiner Ansicht seit Jahren nicht eine so friedliche gewesen, als sie ihm in diesem Augenblick erscheine.

Zu seiner Freude und Genugtuung könne er auch konstatieren, daß die Republik an Kraft und Ansehen im Innern sehr gewonnen habe. Daß Finanzen, das Budget und Tarifreform und namentlich die Vorlage wegen der Versicherung der Arbeiter unangenehme Debatten in der Kammer verursachen und ihm und seinen Kollegen viel Arbeit und viel Schwierigkeiten bereiten würden, erwarte er. Auf eine ernst- liche Ministerkrisis rechne er aber nicht.

Die Beunruhigung, welche überall, auch namentlich in Deutschland, während dieses Sommers fühlbar gewesen wäre, sei durch die schlechte Presse, an der alle Länder, und dieses Land am meisten, litten, künst- lich hervorgerufen.

Woher solle der Krieg kommen? Kein Staatsmann, der ein Ge- wissen habe, werde die Verantwortung dafür übernehmen wollen. Ein europäischer Krieg bedeute ganz etwas anderes als bisher, es werde nicht mehr ein Krieg der Armeen, sondern der Krieg der Nationen sein und die ganze europäische Zivilisation laufe Gefahr, auf Jahr- hunderte zerstört zu werdend

Die jetzige französische Regierung wolle entschieden den Frieden, und die Partei, welche eine kriegerische, gegen andere Staaten aggres- sive Politik und gar zum Kriege treiben wolle, sei numerisch viel zu schwach 2. Die französische Bevölkerung, welche Frieden wolle, werde den radikalen Aufwieglern und den unsinnigen Chauvinisten ä la Derou- lede kein Gehör schenkend

Seine Majestät unser Kaiser wolle, davon sei man jetzt in Frank- reich überzeugt, keinen Krieg, wolle das Beste seines Landes und sei sich seiner großen Aufgaben voll bewußt. Die Aufhebung des Paß-

gebracht habe, sich nicht einer neuen Politik anzupassen habe. „In dem Augen- blick, wo wir mit der größten Würde in Frieden leben l<önnen, werden wir uns nicht dem aussetzen, den Frieden zu gefährden," Frankreich im Bewußtsein seiner Stärke, voll Vertrauen auf die Zukunft, werde fortfahren, die Klugheit und das kalte Blut zu zeigen, die ihm die Achtung der Völker verschaffen und dazu beitragen, ihm den Rang wiederzugeben, den es in der Welt einnehmen müsse.

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Zwanges an der elsaß-lothringischen Grenze habe ebenso wie die Rede Euerer Exzellenz den allerbesten Eindruck hervorgebracht, und die friedlichen Elemente Frankreichs seien dadurch sehr gestärkt worden.

Er wisse sehr wohl, daß der Kaiser von Rußland als der zukünftige Friedensstörer angesehen und in der Annäherung Frankreichs an Ruß- land eine Gefahr erblickt werde. Das sei ganz falsch. Frankreich habe sich der Tripleallianz gegenüber isoliert gefühlt: daher die Annäherung an Rußland, welche hier nur beruhigend wirke.

Wenn ich auch glaube, daß Herr von Freycinet aufrichtig ge- sprochen hat und die ganze politische Lage eine so friedliche ist, wie das in dem bewaffneten Lager denn das ist jetzt Europa über- haupt noch möglich ist, so wären wir leichtsinnig, wenn wir nicht die Augen offen hielten und uns nicht sagten, daß wir auch im glücklichsten Falle lange Jahre* hindurch Frankreich gegenüber voll gerüstet^ sein müssen.

Durch die Kronstädter Demonstration, durch den Glauben, der in der Nation dadurch verbreitet wurde, der mehr in die unkundigen Massen gedrungen ist, daß Frankreich sicher auf Rußland rechnen könne, durch das größere, künstlich erweckte Vertrauen zur eigenen Armee ist das Selbstgefühl der französischen Nation, welches durch den unglücklichen Krieg fast verschwunden war, von neuem erwacht, und dieses Gefühl befriedigt die Grande Nation und beruhigt^ für einige Zeit. Auf wie lange, ist aber die Frage.

Die jetzige Republik und deren Machthaber müssen für ihre eigene Erhaltung den Frieden wollen, man kann aber bei dem Parteitreiben und bei einer Regierung, die schließlich dem allgemeinen Stimmrecht ihre Existenz allein verdankt, nicht sicher auf sie rechnen'^.

Wer kann dafür stehen, daß nicht unvernünftigere Staatsmänner als die jetzigen an das Ruder kommen, wer steht uns dafür, daß, falls der Radikalismus die Oberhand gewönne, nicht ein fähigerer und wirklich energischerer General als Boulanger die Macht an sich reißt und dann sein Heil im Kriege versuchen würde I^

Das sind Gefahren, die eintreten können, gegen die wir gerüstet sein müssen, die aber, davon bin ich überzeugt, so bald nicht eintreten werden.

Die Gefahr für den Frieden liegt im Osten, und die Kronstädter Salutschüsse, deren Echo bis hierher gedrungen ist, haben in Frank- reich gefährliche Hoffnungen erweckt. Übertriebene Hoffnungen, die nicht bald realisiert werden, führen oft Enttäuschungen herbei, und darauf rechne ich auch in diesem Falle.

Nachdem Herr von Freycinet die politische Lage geschildert hatte, brachte er das Gespräch auf die großen Manöver, lobte vor allem die Haltung der Truppen und der Bevölkerung, welche dieses Mal viel ruhiger gewesen sei als während der Manöver des vorigen Jahres

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und alle Demonstrationen vermieden habe. Dieses bestätigten auch die fremden Offiziere.

Der Kriegsminister sprach darauf seine volle Befriedigung hinsicht- lich der Infanterie aus, die durch ihre Marschfähigkeit alle Erwartungen bei weitem übertroffen habe.

Mit einer Offenheit, die mich überraschte 9, sprach er aber über die Kavallerie. Diese habe viel weniger geleistet, als hätte erwartet werden müssen. Einzelne Regimenter hätten zwar übertrieben große Märsche, bis zu 90 km an einem Tage, gemacht, das sei aber auf Kosten des Pferdematerials geschehen, und der Prozentsatz der lahmen und gedrückten Pferde sei viel zu groß gewesen.

Überraschend günstig sei der Gesundheitszustand der Truppen gewesen. Trotz der tropischen Hitze seien nur fünf Mann am Sonnen- stich und im ganzen nur neun Mann gestorben, was bei 100000 Mann allerdings, namentlich bei der Hitze, ein merkwürdig günstiges Re- sultat ist. pp.

Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Das wissen wir allein und ist nichts Neues

2 qui vivera verra ^ abwarten

^ 50 mindestens

^ noch mehr

s nein! dies Selbstgefühl wird bald sich bethätigen wollen, erst in Artikeln, und

dann in Thaten ^ richtig

8 ja

9 da ist nichts Ueberraschendes, da er doch weiß, wie die Militfär] Attaches be- richtet haben. Da sagt er eben dasselbe und giebt sich den Schein biedrer Offenheit

Nr. 1579

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler

von Csprivi

Ausfertigung

Nr. 251 Paris, den 14. Oktober 1891

Präsident Carnot ist von Fontainebleau wieder in die Stadt ge- zogen und hat mich vor einigen Tagen im Elysee empfangen.

Ich habe den Präsidenten noch niemals zufriedener aussehend und geradezu aufgeweckt gefunden als dieses Mal.

Er empfing mich damit, daß er mir sagte, er freue sich sehr, mich hier wieder zu begrüßen, und er hoffe, daß meine Eindrücke angenehme und friedliche sein würden.

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Der Präsident äußerte darauf, er wisse, daß in Deutschland wäh- rend des Sommers der Ausbruch eines Krieges befürchtet, ja fast erwartet worden wäre^. Er begreife diese Beunruhigung nicht recht. Frankreich wolle den Frieden, bedürfe denselben, und je mehr sich die Republik befestige, je kräftiger deren Regierung werde, je mehr werde dieser gesichert.

Der Kaiser von Rußland wolle den Frieden auch und werde, da- von sei er, der Präsident, überzeugt, keine Komplikationen wollen und werde solche auch auf der Balkanhalbinsel nicht wachrufen 2.

Der Kaiser sei wirklich friedlich gesinnt, und seine Armee sei durchaus nicht ganz 3 kriegsbereit.

Diese letztere Äußerung überraschte mich.

Wenn der Präsident auch nicht direkt von Kronstadt sprach, so deutete er an, daß das gute Verhältnis zu Rußland nicht nur nach außen sondern für die Stärkung und Sicherung der Republik von großer Wichtigkeit sei.

Er sagte: „Bei meinen Reisen bin ich namentlich in letzter Zeit (d.h. nach Kronstadt) in mehreren Departements und an Orten, die bisher durchaus monarchisch gesinnt waren, mit einem Enthusiasmus empfangen und von Mitgliedern des Adels empfangen worden, die bisher sich mit Ostentation bei solchen Gelegenheiten fern hielten.''

Der Präsident hat ganz recht das zu betonen. Die Idee, welche aus seinem ganzen Gespräch hervorging, daß in Beziehung auf die äußere Politik nicht viel geändert und die Kriegsgefahr nicht größer geworden sei, daß aber durch die erfolgte Anerkennung der Republik durch den mächtigen Kaiser, der bisher für den Beschützer des legi- timen Prinzips galt, diese befestigt wurde, ist richtig*.

Der Zar in seiner panslawistischen Verblendung ist sich wohl nicht ganz klar darüber gewesen, wohin dieses Aufgeben früherer Prinzipien, dieses Buhlen mit der Neuzeit führen muß. In der Um- armung des Kosaken mit der Republik liegt aber eine Gefahr für die europäische Zivilisation^, welche hoffentlich die monarchischen Staaten Europas erkennen, und die sie zum festen Zusammenhalten führen wird.

Die meisten Monarchisten Frankreichs sehen jetzt ihre Sache für verloren an 6.

Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 ! Wer hat ihm denn den Unsinn aufgebunden?!

- braucht er auch nicht denn sie sind schon da 3 I

* ja 5 ja

* ich nicht

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Nr. 1580

Der Reichskanzler Graf von Caprivi an den Botschafter in Paris

Grafen Münster

Telegramm. Eigenhändiges Konzept

Nr. 40 Berlin, den 25. Mai 18Q2

Bei Gelegenheit des Festes in Nancy* soll Exkursion in die Vogesen über Gerardmer bis unmittelbar an unsere Grenze geplant sein. Möglichkeit der Verletzung unserer dortigen Hoheitszeichen oder dergleichen durch Teilnehmer, worunter vielleicht auch Tschechen i, naheliegend. Fragen Sie an, ob französische Regierung dort Sorge für Respektierung unserer Grenze übernehmen will. Zu Ihrer Information bemerke ich vertraulich, daß wir am liebsten sehen würden, diese Exkursion unterbliebe ganz. Findet sie aber statt, so ziehen wir vor, die französische Regierung verpflichtet sich, Ausschreitungen zu ver- hüten, und enthebt uns dadurch der Erwägung, ob wir nicht selbst bewaffnetes Personal an der Stelle zu stationieren haben würden, wo- von Konsequenzen weitgehend sein können.

v. Caprivi

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: 1 Ja

Schlußbemericung des Kaisers: Sehr gut

Nr. 1581

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 126 Paris, den 25. Mai 1892

Der Präsident der Republik wird am Nachmittag des 5. Juni in Begleitung des Konseilpräsidenten und des Unterrichtsministers sowie der militärischen Suite in Nancy eintreffen. Dem Turnfest selbst widmet der Präsident nur 1 1/2 Stunden am 6. Juni, wo er dem Vorbeimarsch

* Für den 5. Juni war das Bundesfest der französischen Turner nach Nancy aus- geschrieben. Die Studentenschaft der Universität Nancy trug sich mit dem Plan, mit diesem Feste eine große internationale studentische Feier zu verbinden, und lud dazu alle ausländischen Universitäten mit alleiniger Ausnahme der deutschen ein. Der dadurch dem Feste von vornherein aufgeprägte Charakter der Deutschfeind- lichkeit wurde noch durch die in der Presse laut angekündigte Teilnahme tsche- chischer Deputationen erhöht, die laut eines Berichts von Reuß aus Wien vom 23. Mai mit der ausgesprochenen Absicht nach Nancy gingen, „um dort in pan- slawistischem und franzosenfreundlichem Sinne gegen den Dreibund zu demon- strieren".

318

der Turnvereine und der Preisverteilung beiwohnt. Im übrigen wird der Aufenthalt des Präsidenten in Nancy durch Empfänge der Behör- den, Festessen, eine Parade, Besuche von Hospitälern und andern Veranstaltungen ausgefüllt, welche mit dem Turn- und Studentenfest nichts zu tun haben. Am T.Juni reist der Präsident nach Luneville und Toul und nach Paris zurück.

Von auswärtigen Gästen sind, soviel verlautet, einige belgische, luxemburgische und schweizerische Turnvereine angemeldet. Eine her- vorragende Rolle werden die Sokols, tschechische Turner, spielen, von denen einige vierzig erwartet werden und als bekannte Deutschenhasser eine besonders warme Aufnahme finden sollen. Herr Loubet soll übrigens einem Interviewer gesagt haben, von diesen Sokols seien nur einige wenige des Französischen mächtig, chauvinistische Kund- gebungen derselben daher nicht besonders zu befürchten. Was sie in unverständlicher Sprache etwa schreien würden, sei gleichgültig.

Die Nanziger Studenten verzeichnen bis jetzt nur magere Zusagen. Von auswärtigen Hochschulen wollen Cambridge, Lüttich, Brüssel, Lau- sanne und Neufchätel Delegierte schicken.

Inzwischen ist nun das Fest in Nancy infolge der Erörterungen der deutschen und der französischen Presse zu einem Ereignis ge- worden, auf welches die öffentliche Meinung mit einer gewissen Ängst- lichkeit achtet. Die deutsche Presse, so berechtigt sie auch gewesen ist, auf das chauvinistische Treiben der Turner und Studenten und die feierliche Weihe, welche dasselbe durch den Besuch des Präsidenten zu erhalten scheint, hinzuweisen, ist doch vielleicht in der Beurtei- lung der ganzen Sache etwas zu weit gegangen i. Es ist nicht aus dem Auge zu verlieren, daß ein Besuch des Präsidenten in den Ostdeparte- ments schon seit Jahren geplant war, und wenn es auch vom Stand- punkt der deutsch-französischen Beziehungen aus nicht unbedenklich erscheinen mochte, denselben mit dem Turnfest zusammenfallen zu lassen, so läßt sich doch vom praktischen Standpunkt der Bevölkerung aus erklären, daß ihr das Zusammenfassen mehrerer festlicher Ver- anlassungen erwünscht war. Auch mag der Regierung der Gedanke vorgeschwebt haben, daß die Anwesenheit des Staatsoberhauptes manchen chauvinistischen Neigungen die Spitze abbrechen und die Feststimmung in neutraler Weise ablenken würde.

Die etwas scharfen Bemerkungen einiger deutscher Blätter haben das Unangenehme gehabt, daß die französische Presse dieselben noch weit schärfer erwidert. Dieselbe braust gegen diese „Einmischung in innere französische Dinge" gewaltig auf und beschuldigt die deutsche Presse des Suchens nach einer Störung der seit einiger Zeit eingetrete- nen ruhigeren Beziehungen. Sie führt dabei, wie so häufig, einen un- ehrlichen Kampf, indem sie gegen Behauptungen auftritt, die nicht aufgestellt wurden, oder indem sie die Tatsachen entstellt und ver- dreht. So übergeht sie die chauvinistischen Treibereien der Turner

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und Studenten mit glattem Schweigen und läßt nur die Reise des Präsidenten an die Ostgrenze als den Punkt erscheinen, auf den sich die deutschen Angriffe richteten. Daran schließen sich dann Ver- gleiche zwischen dem Auftreten des Präsidenten Carnot und den er- folgten und bevorstehenden Besuchen Seiner Majestät des Kaisers in den Reichslanden 2, das Brüsten mit eigener vornehmer Ruhe, mit verächtlicher Zurückweisung der „deutschen Herausforderungen" und dergleichen. Die erbitterte Sprache der hiesigen Presse, worin aller- dings die ernstere nicht eingestimmt hat, scheint hauptsächlich durch das Gerücht verursacht gewesen zu sein, daß an Wiedereinführung des Paßzwanges gedacht werde. Seitdem dieses Gerücht als unbe- gründet erkannt ist, hat sich der Ärger etwas gelegt, der übrigens auch der Aufdeckung und Durchkreuzung der eigenen Zirkel entsprun- gen sein mag. Vie. leicht ist es auch der Presse darum zu tun, schon jetzt Stimmung gegen die Reise Seiner Majestät des Kaisers in die Reichslande zu machen oder auch großen Lärm zu machen, um hinter- her sagen zu können: „Seht, so ruhig haben sich trotz der deutschen Aufreizungen die Feste in Nancy vollzogen, so würdig und friedlich hat der Präsident gesprochen."

Das Gute hat die Preßfehde immerhin gehabt, daß sie die öffent- liche Meinung und die öffentlichen Gewalten einigermaßen darüber belehrt hat, was man bei uns über das Fest in Nancy denkt, und sie veranlaßt hat, auf Dämpfung der chauvinistischen Wallungen sorg- sam bedacht zu sein. In dieser Beziehung scheint die Regierung Ver- säumtes nachgeholt und die Turner und Studenten zu ruhiger Haltung angewiesen zu haben. In dem bereits erwähnten Interview, das bis jetzt kein Dementi erfahren, und das ich in einem Zeitungsausschnitt hier gehorsamst beifüge, hat der Konseilpräsident das bekannte Rund- schreiben der Studenten vorsichtig getadelt und sich für ruhigen Ver- lauf der Festtage verbürgt. Sehr unglücklich jedoch ist die Äußerung des Herrn Loubet, daß peinliche Zwischenfälle infolge Anwesenheit deutscher Offiziere in Nancy nicht zu befürchten seien, da die Trup- pen in Elsaß-Lothringen während der Festtage konsigniert seien.

Mir gegenüber hat noch keine hiesige politische Persönlichkeit das Fest in Nancy und die damit zusammenhängende Preßerregung berührt, und meinerseits vermeide ich es gleichfalls, die Rede auf dieses Thema zu bringen, um so mehr, als mir in der hiesigen Presse bereits Remonstrationen angedichtet worden sind. Münster

Nachschrift

Paris, den 25. Mai 1892 Herr Ribot, den ich soeben an seinem Empfangstage besuchte, hat dabei zum ersten Male die Rede auf das Turnfest in Nancy ge- bracht. Er bedauerte lebhaft die erregte Preßkampagne und sagte mir,

320

daß die Regierung bemüht sei, beruhigend auf die hiesige Presse zu wirken, und dankbar wäre, wenn bei uns das auch geschähe 3. Er gab mir die Versicherung, daß die Regierung sich für einen durchaus ruhigen Verlauf der Feste in Nancy verbürge, sie habe in dieser Beziehung die strengsten Weisungen an die dortigen Behörden er- gehen lassen. Es sei ein bedauerlicher Umstand, daß das Rundschreiben der Studenten, das nur an Private in Frankreich versandt worden sei, durch eine Indiskretion bekannt geworden sei.

Meinem österreichischen Kollegen gegenüber hatte sich Herr Ribot kurz zuvor ähnlich ausgesprochen. Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.: i Das hat wohl Freycinet gesagt!!

2 aber! bin ja gar nicht dagewesen!*

3 bei uns ist keine Erregung.

Nr. 1582

Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung Nr. 67 Paris, den 26. Mai 1892

Antwort auf Telegramm Nr. 40**.

Herr Ribot erkannte an, daß es besser sein würde, wenn die Exkursion nach Gerardmer unterbleibe, und wolle er deshalb mit seinen Kollegen Rücksprache nehmen. Finde sie aber statt, so würde französische Regierung alle Maßregeln treffen, um jeden Unfug oder Konflikt an der Grenze energisch zu verhindern. Die Anwesenheit der Tschechen ist der hiesigen Regierung selbst sehr unangenehm.

Münster

Nr. 1583 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung Nr. 70 Paris den 26. Mai 1892

Soeben suchte mich Herr Freycinet auf und sagte mir, daß er es bedaure, daß der Reise des Präsidenten nach Nancy von der Presse eine Bedeutung beigelegt werde, welche sie nicht habe; sie sei schon voriges Jahr geplant worden. Er habe durch die Ostbahndirektion gehört, daß ein Ausflug an unsere Grenze beabsichtigt sei, er werde einen anderen von unserer Grenze abliegenden Ausflug vorschlagen.

* In der Tat war Kaiser Wilhelm II. seit seinem Besuch in Straßburg am 21. August 1889, der erst anläßlich der Kaisermanöver im September 1893 wiederholt wurde, nicht in den Reichslanden gewesen. •** Siehe Nr. 1580.

21 Die Große Politik. 7. Bd. 321

Alles, was von militärischen Maßregeln gesagt werde, sei vollständig unbegründet, und um das zu zeigen, habe er es abgelehnt, den Präsi- denten zu begleiten. Münster

Nr. 1584

Aufzeichnung des Reichskanzlers Grafen von Caprivi

Eigenhändig

Berlin, den 25. Mai 1892 Das Auswärtige Amt ersuche ich, mir baldigst eine Denkschrift darüber vorzuhgen, welche Mittel uns zur Verfügung stehn, um, falls in Nancy Ausschreitungen stattfinden, welche wir nicht ruhig hin- nehmen können, Frankreich unser Mißfallen zum Bewußtsein zu bringen, ohne den Krieg zu erklären. Von denjenigen Mitteln, welche in Elsaß- Lothringen anwendbar sind, ist abzusehen. Auch bitte ich um Aus- kunft darüber, welches die letzten Fälle von Abberufung deutscher oder preußischer Gesandter gewesen sind und aus welchen Anlässen.

V. Caprivi

Nr. 1585

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Reinschrift*

Berlin, den 26. Mai 1892 Ausschreitungen bei Gelegenheit des Nancyer Turnfests, welche wir nicht ruhig hinnehmen können, würden meo voto nur solche sein, bei denen die Regierung oder Beamte und Olfiziere direkt beteiligt sind, bzw. solche, welche letztere stillschweigend geschehen lassen, obwohl sie sie hätten unschwer hindern können. Im letzteren Falle wird man nicht zu streng sein dürfen, weil der Nachweis, die Regie- rung hätte die Ausschreitung hindern können, schwer zu führen sein wird. In Frankreich und in Rußland sind Ausschreitungen genug vor- gefallen, ohne daß sie weitere Konsequenzen gehabt hätten. Man wird die Ausdehnung und die Folgen in Rechnung ziehen müssen, wenn man irgendwelche Reklamationen an solche chauvinistische (stillschwei- gend geduldete) Ausschreitungen knüpfen will.

Anders, wo eine tatsächliche Beteiligung oder ganz offenbare Konnivenz amtlicher Organe vorliegt. Hiergegen würden je nach dem Grade der Ausschreitung, der Bedeutung der Beteiligten und der sonstigen Haltung der maßgebendsten französischen Behörden folgende Mittel, Frankreich unser Mißfallen zu bezeugen, zu Gebote stehen:

* Nach einem Entwurf von der Hand des Vortragenden Rats Raschdau. 322

1. Amtliche Besprechung der Sache durch den Kaiserlichen Bot- schafter mit verschiedenartiger Einleitung, sei es durch einfachen Hin- weis auf den Vorfall, sei es durch eine Anfrage, ob derselbe tatsächlich so liege, wie berichtet, sei es durch eine bestimmte Reklamation gegen die Schuldigen. Je nach der Form kann schon die Anfrage, ob der Fall so liege, zu bedenklichen Weiterungen führen, insbesondere von der öffentlichen Meinung sehr ernst aufgefaßt werden. Je nach der Schwere des Falls kann hier die ganze Tonleiter diplomatischer Mittel in Frage kommen.

2. Führen diese zu keinem Erfolge, so würde zu erwägen sein, ob unser Mißfallen sich in einer Beurlaubung des Botschafters (über deren Grund kein Zweifel bestehen würde) aussprechen solle. Hier- mit könnte je nach Umständen Hand in Hand gehen ein „Schneiden" des hiesigen französischen Botschafters. Man würde sich auf die lau- fenden Geschäfte durch den ältesten Beamten der Botschaft beschränken können. So war z. B. während des Karolinenstreits vom Fürsten Bis- marck in Aussicht genommen, als die Sprache der Presse eine immer maßlosere geworden, daß Graf Solms in Madrid um Urlaub telegra- phisch einkommen solle.

3. Eine weitere, wegen ihrer äußeren Formen aber erheblich schärfere Maßregel wäre die Abberufung des Botschafters oder deren Androhung. Die öffentliche Meinung faßt einen solchen Schritt als den Vorläufer einer Kriegserklärung auf, und die Wirkung auf die Gemüter wird demgemäß in Rechnung zu ziehen sein, auch v/enn keine Kriegsabsichten bestehen. Die Maßregel oder deren Androhung wird dann den gewünschten Zweck erreichen, wenn dem anderen Teil vor den letzten Konsequenzen bangt. Als im Jahre 1888 im deut- schen Paßburcau in Paris von einem Franzosen Schüsse abgefeuert wurden*, drohte Fürst Bismarck mit der Abberufung der Botschaft und erreichte damit, daß Herr Goblet, der zuerst allerhand Ausflüchte machte, und Herr Herbette hier die verlangte Satisfaktion gewährten.

Andere Fälle von Androhungen der Abberufung der deutschen diplomatischen Vertretung aus neuster Zeit (mit friedlichem Ausgange) sind mir nicht gegenwärtig.

Die Abberufung des Botschafters in Konstantinopel im Jahre 1877

* Vgl. über diesen Vorfall die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" vom 5. Sep- tember 1888. Der Fall, der von Bismarck zunächst sehr ernst genommen wurde und zu der Weisung nach Paris Veranlassung gab, daß „die Botschaft ihre Ge- schäfte würde einstellen müssen, wenn ihr weder Satisfaktion noch Sicherheit würde", fand dadurch Erledigung, daß der Täter Gasnier, der durch das Attentat einen Kriegsfall zwischen Deutschland und Frankreich provozieren zu wollen er- klärt hatte, für verrückt erklärt und in ein Irrenhaus gesperrt wurde. Darauf, und nachdem der Botschafter Herbette am 8. Oktober noch einmal das Bedauern seiner Regierung ausgesprochen hatte, ließ Bismarck am 9. Oktober das Auswärtige Amt dahin anweisen, „daß der Fall Gasnier nicht weiter urgiert, sondern einfach fallen gelassen werde".

21- 323

und die Entfernung des Gesandten in Athen in den achtziger Jahren gehören nicht wohl hierher. Es handelte sich damals darum, gewisse gemeinschaftliche Beschlüsse der Mächte gegenüber der Halsstarrig- keit der Pforte und Griechenlands durchzusetzen, und wir operierten dabei im Konzert der Mächte. Marschall

Randbemerkung des Grafen von Caprivi: Bitte um Auskunft, was auf Seite 3 mit „der ganzen Tonleiter diplomatischer Mittel" gemeint ist. Es war gerade mein Wunsch, diese Mittel kennenzulernen; ich finde aber statt einer ganzen Tonleiter hier nur zwei: Beurlaubung und Ab- berufung des Botschafters. v. Caprivi 30/5.

Nr. 1586

Der Reichskanzler Graf von Caprivi an Kaiser Wilhelm IL, z. Z. in Prökelwitz

Ausfertigung

Berlin, den 27. Mai 1892

Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät beehre ich mich bezüglich des demnächst in Nancy veranstalteten Turnfestes allerunter- tänigst folgendes vorzutragen:

Die Absicht, in der ersten Hälfte des Juni in Nancy ein großes Turnfest zu feiern, war bereits seit längerer Zeit bekannt, ohne in Deutschland besonders bemerkt zu werden. Nur in Elsaß-Lothringen wurde dem Vorgange wegen seiner Rückwirkung auf gewisse unruhige Elemente eine größere Bedeutung beigelegt. Vor vierzehn Tagen aber wurde ein Zirkular von Studenten der Nancyer Universität bekannt, in welchem zu Beiträgen für die Festkosten aufgefordert wurde und dem Feste eine „nationale" und spezifisch „elsaß-lothringische" Bedeutung vindiziert wurde. Ausdrücklich wurde dabei hervorgehoben, daß alle Universitäten „mit Ausnahme der deutschen" eingeladen würden. Seit- dem wurde die Angelegenheit in der deutschen Presse lebhafter be- sprochen und angegriffen, worauf in den französischen Blättern chau- vinistischer Richtung sehr heftig, in den gemäßigteren und der Re- gierung nahestehenden mit dem Bestreben, dem Feste seine anti- deutsche Tendenz abzustreiten, erwidert wurde. Jedenfalls war es den Nancyer Komitees geglückt, der Frage eine politische Bedeutung zu verleihen und den in letzter Zeit in Frankreich weniger hervor- tretenden Revancheideen neue Nahrung zuzuführend Die Zusage einiger tschechischer, belgischer und luxemburger Turnvereine, das Fest zu besuchen, verfehlte nicht, den jugendlichen Enthusiasmus in Nancy weiter zu schüren.

In das Festprogramm war unter anderem eine Exkursion der Turner nach Gerardmer, einer in der Richtung des Münstertales am

324

jenseitigen Abhänge der Vogesen gelegenen Örtlichkeit in unmittel- barer Nähe der deutschen Grenze, aufgenommen. Euerer Majestät Statthalter in Elsaß-Lothringen ließ die Frage anregen, ob es geratener scheine, polizeiliche oder militärische Vorkehrungen diesseits der hier über einen hohen Berg und Aussichtspunkt, den Hohneck, führenden Grenze zu treffen oder ruhig abzuwarten, wie die Sache verlaufen werde. Touristen verkehren auf diesem Berge oft, es laufen Fußwege neben der Grenze her, Wohnungen sind auf deutscher Seite nicht in der Nähe. Reeller Schaden kann schwerlich geschehen, und wäre eventuell von Regierung zu Regierung hierüber zu verhandeln, immer- hin aber kann es zu Exzessen kommen. Ich habe infolge davon den Grafen Münster ersucht, die Angelegenheit bei der französischen Re- gierung zur Sprache zu bringen und sie zu fragen, ob sie die Sorge für die Respektierung unserer Grenze übernehmen wolle. Das be- bezügliche Telegramm* gestatte ich mir zu Euerer Majestät allergnä- digster Kenntnisnahme beizufügen, ebenso wie die beiden hierauf ein- gegangenen Meldungen des Grafen Münster**. Es geht aus letzteren hervor, daß die französische Regierung sich verbindlich macht, jeden Unfug oder Konflikt an der Grenze energisch zu verhindern, falls es etwa gegen ihren Willen und ihre Bemühungen doch noch zu dem geplanten Ausfluge kommen sollte. Angesichts dieser formellen Zusage erscheint es angezeigt, von außergewöhnlichen Vorkehrungen an der Grenze, welche geeignet sein könnten, den Exzedenten ein willkommenes Objekt zu schaffen, was ohnedem wahrscheinlich fehlen würde, diesseits Abstand zu nehmen 2, und ich glaube Euerer Majestät allergnädigster Zustimmung sicher zu sein, wenn ich den Fürsten Hohenlohe dementsprechend mit Mitteilung versehen habe.

G. v. Caprivi

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.: 1 Das wird die Hauptsache gewesen sein * ja

Nr. 1587

Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Entzifferung

Nr. 131 Paris, den 30. Mai 1892

Die Erregung der Presse aus Anlaß der Feste in Nancy hat sich gelegt, nachdem man sich nicht weiter der Erkenntnis verschließen

Siehe Nr. 1580.

** Siehe Nr. 1582 und 1583.

325

kann, daß die Klagen über deutsche Herausforderung und unbefugte Einmischung in innere französische Dinge sich nicht begründen lassen. Wenn die Presse ihren Rückzug mit der kühnen Behauptung zu ver- decken sucht, daß die deutschen Angriffe an der würdigen Haltung auf französischer Seite kläglich gescheitert seien, und dem französischen Zeitungsleser nun doch die Meinung bleibt, daß der Deutsche Händel gesucht habe, so können wir das wohl mit Gleichmut hinnehmen.

Auch die Turner, Studierenden und Einwohner von Nancy verwah- ren sich jetzt in mannigfachen Preßmitteilungen dagegen, jemals an deutschfeindliche Kundgebungen gedacht zu haben, kurz es kommt allgemein das Gefühl zur Geltung, daß vorsichtige Zurückhaltung am Platze sei.

Bei dieser Stimmung ist auch bis jetzt die Nachricht, daß die österreichische Regierung den Sokol die korporative Teilnahme an den Festen in Nancy untersagt habe, mit stiller Resignation aufgenom- men worden.

Vereinzelte Hetzblätter versuchen es, das erlöschende Feuer wie- der anzufachen, indem sie die Regierung wegen ihrer angeblich demü- tigenden Rücksichtnahme auf deutsche Empfindlichkeiten angreifen. So wird dieselbe heute beschuldigt, aus Erwägungen der äußeren Politik die Parade in Nancy abbestellt zu haben. Was an der Sache ist, läßt sich noch nicht erkennen, vorläufig scheint es jedoch, daß es sich lediglich um eine rein praktisch begründete lokale Verlegung der Truppenschau handele.

v. Schoen

Schlußbemerkung Kaiser Wilhelms II.:

Das kalte Wasser hat genützt! doch das Eis aus Kiel wird noch besser ab- kühlen.

Nr. 1588

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 141 Paris, den S.Juni 1892

Der Präsident Carnot ist gestern abend von seiner Reise nach Nancy und den östlichen Provinzen, wie ich höre, sehr befriedigt zurückgekehrt.

Der Franzose hat eine Leidenschaft für solche öffentliche Feier- lichkeiten, liebt es, eine hochstehende Persönlichkeit zu feiern, und begeistert sich für den Pseudomonarchen ebenso, als ob es ein wirk- licher wäre.

326

Herr Carnot selbst beginnt, es zu lernen, den Monarchen zu spielen.

Alle diese Feierlichkeiten so nahe an unserer Grenze hätten leicht zu unangenehmen Demonstrationen führen können, und waren sie deshalb nicht ganz ungefährlich. Der Präsident Carnot selbst und auch die Minister fühlten das, und von ihrer Seite ist auch alles geschehen, um jede Unannehmlichkeiten mit uns zu vermeiden.

Sowie ich darauf aufmerksam machte, daß die projektierte Turner- fahrt bis hart an unsere Grenze unerwünscht sei, wurde sie sofort inhibiert und mehr nach dem Innern verlegt.

Wenn auch die Presse zu hetzen versuchte, so hat der gegenüber die Regierung allen ihren geringen Einfluß angewandt, um sie zu mäßigen.

Die Anreden an den Präsidenten und seine Antworten waren vorher sorgfältig vorbereitet worden und sind auch so ruhig gehalten als nur zu erwarten war.

Es wurde sogar unter der Hand der mäßige Gebrauch russischer Fahnen anempfohlen.

Ob es wahr ist, daß der Großherzog von Luxemburg wirklich hat nach Nancy gehen wollen, und daß auch in Brüssel Schritte getan sind, um die Absendung einer Mission nach Nancy zu verhindern, habe ich nicht feststellen können: die offiziöse Presse behauptet es.

Alles würde sehr ruhig und ohne jede Demonstration verlaufen sein, wenn nicht durch den ebenso unerwarteten als taktlosen Besuch des Großfürsten Konstantin die Gemüter in Aufregung gebracht wor- den wären.

Nach meiner Überzeugung ist der Präsident Carnot wirklich durch diesen Besuch überrascht worden i, und es steht sogar fest, daß er versucht hat, denselben zu verhindern, indem er auf das erste Tele- gramm des Großfürsten, welches er ganz unerwartet um zehn Uhr morgens erhielt, ihm antwortete, daß er ihm die lange Eisenbahnfahrt es ist eine Fahrt von 3^2 Stunden nicht zumuten wolle, den Großfürsten bitte, sich nicht zu bemühen, ihn aber, wenn er darauf bestehe, um 4^/^ Uhr empfangen werde.

Um zwei Uhr traf eine Depesche ein, welche die Ankunft des Großfürsten auf 3 1/2 ankündigte. Durch Indiskretion der Telegraphen- beamten wurde es bekannt, und sofort sammelte sich ein großer Volks- haufe und viele Studenten vor dem Bahnhofe, und wurde eine ziemlich wilde Demonstration improvisiert, russische Fahnen, Fahnen mit„Alsace- Lorraine'' wurden geschwenkt und vor dem Großfürsten vorgetragen und aus vollem Halse „Vive la Russie!" „Vive l'Alsace-Lorrainel" geschrien.

Der Großfürst konnte nur mit Mühe auf die Präfektur gelangen.

Präsident Carnot, der sein Programm ausführte und sich nicht

^ 327

stören ließ, war nicht dort, und mußte der Großfürst ^4 Stunden auf ihn warten.

Die Demonstration, welche der Großfürst hervorrief, war die einzige wirklich deutschfeindliche auf der ganzen Reise.

Die böhmischen Sokols haben nicht den Effekt gemacht, den sie erwarteten, haben einige dumme Reden gehalten und veranlaßt, sind aber im ganzen ziemlich unbemerkt geblieben.

Die gesamte französische Presse sieht in dem Besuch des Groß- fürsten ein zweites Kronstadt und sucht darin Trost für den Besuch in Kiel und nimmt allgemein an, daß dieser Besuch auf ausdrücklichen Befehl des Zaren unternommen worden sei.

So unwahrscheinlich es auch scheinen mag, daß der Großfürst ohne Einwilligung* oder Befehl seines Kaisers nach Nancy gegangen ist, so bin ich doch sehr geneigt, es anzunehmen i.

Den Kaiser von Rußland halte ich einer solchen Taktlosigkeit in dem Augenblicke, wo er nach Kiel unterwegs war, nicht für fähig^.

Die Großfürsten sind, wenn sie in Frankreich losgelassen worden, immer les enfants terribles, und das gefährlichste Kind der Art ist Mohrenheim, der eigentlich kein Kind mehr sein sollte.

Ich führte gestern abend bei einem großen offiziellen Diner bei Lord Dufferin Frau von Mohrenheim zu Tisch und habe aus ihren Äußerungen entnehmen können, daß ihr Mann sehr erfreut und stolz über den Coup ist, den er ausgeführt hat 3.

Er hat geglaubt, die sehr abgeblaßten Erinnerungen von Kronstadt wieder neu beleben und auch seinen sinkenden Kredit wieder heben zu sollen*.

Gestern sah ich mehrere der französischen Minister, die mir alle sagten, daß, wie sie es mir vorher gesagt hätten, alles auf der Prä- sidentenreise gut und ohne Zwischenfall verlaufen sei.

Einer der Minister ging sogar weiter und sagte: „Le seul incident un peu regrettable a ete la visite du Grand-Duc Constantion ä laquelle ni le President ni un ministre ne s'attendaient et qui a donne lieu ä des demonstrations que nous ne voulions certes pas, mais les Grands- Ducs ont la passion de fourrer leur nez ils n'ont rien ä faire ^Z*

Um seine Franzosenliebe noch mehr zu zeigen, ist der Großfürst Konstantin am anderen Tage nach Domremy gefahren, wo Jeanne d'Arc gefeiert wird, und ließ sogar seinen Adjutanten an einer Pro- zession teilnehmen.

Uns kann das alles schon recht sein, denn die Franzosen lächeln schon selbst, und viele fühlen, daß sie mit Sicherheit doch nicht auf

* Die Einwilligung des Zaren war allerdings eingeholt und erteilt worden. Vgl. Kap. L, Nr. 1636, S. 409, Fußnote *♦,

328

die Russen rechnen können. Je weiter der Krieg hinausgeschoben wird, je mehr wird dieses Mißtrauen wachsen 6.

Münster

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Ja

2 Nein

3 da haben wir die Bestätigung * Hauptsache für ihn

5 bravo! das muß in diskreter Manier Schweinitz in Petersburg verwenden

6 ja

Nr. 1589

Aufzeichnung des Reichskanzlers Grafen von Caprivi*

Eigenhändig

Berlin, den 19. September 1892 , Wenn die Kolonialabteilung, ohne Mehrforderungen zu stellen, die Mittel zur Entsendung des Dr. Preuß hat, so habe ich nichts dagegen ; ut quid fiat, ohne mir aber einen nennenswerten Erfolg davon zu ver- sprechen.

Einen förmlichen Protest bei der französischen Regierung zu er- heben, halte ich nicht für rätlich, wünsche aber, daß unsere Auffassung Frankreich gegenüber gelegentlich zum Ausdruck gelangt.

Solange wir die Abrechnung über Elsaß-Lothringen noch vor uns haben, werden wir gut tun, Situationen zu vermeiden, die, um frag- würdigen kolonialen Besitzes wegen, zu Verwickelungen mit Frank- reich führen können, bei denen die Stellung unserer Bundesgenossen und vollends Englands mindestens ungewiß wäre. Kommt es zum Kriege am Rhein, so entscheidet dessen Erfolg über die Kolonien mit; siegen wir, so werden wir die Auswahl haben, werden wir ge- schlagen, so ist es mit unserer Kolonialpolitik überhaupt zu Ende. Sehr viel wird bei dem Zukunftskriege auf die mise en scene ankommen, ich wüßte aber kaum eine unglücklichere, wie wenn der Schauplatz des ersten Aktes Adamaua wäre. Daraus folgere ich, daß es auch im vorliegenden Fall gut sein wird, Händel mit Frankreich zu ver- meiden, auf die letzten Mittel der großen Politik nicht zu rechnen und unsere Ziele mit unseren zurzeit verfügbaren kolonialen Mitteln in Einklang zu halten.

* Mitte September 1892 legte die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes dem Reichskanzler Grafen von Caprivi eine „Denkschrift betreffend die Frage der Sicherung des Hinterlandes von Kamerun" gegenüber neuerdings von französischer Seite erhobenen Ansprüchen vor. Es wurde darin angeregt, gegen das französische Vorgehen in aller Form zu protestieren, die deutschen Ansprüche aber durch Ent- sendung einer deutschen Expedition etwa unter Führung des Botanikers Dr. Preuß zu stützen.

329

Ich bitte also, unsere Ansprüche in Afrika Frankreich gegenüber auf diplomatischem Wege so gut zu wahren, als es ohne einen Kon- flikt zu provozieren, möglich sein wird.

V. Caprivi

Nr. 1590 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 29 Paris, den 18. Januar 1893

Die Presse fährt fort, die Vertreter der Tripelallianz zu beschul- digen, daß die Angriffe gegen Baron von Mohrenhüim in der Panama- sache von ihnen ausgingen*. Heute wird Graf Hoyos** sogar aus- drücklich genannt und wegen seiner Beziehungen zu dem ausgewiese- nen ungarischen Korrespondenten angegriffen. Ich werde Herrn De- velle*** darauf aufmerksam machen, daß diese Angriffe auf die Ver- treter der Tripelallianz unmöglich geduldet werden können, und daß, sollten irgend Anspielungen auf meine Person dabei vorkommen, ich die Sache sehr ernst nehmen würde.

Münster

Nr. 1591

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Paris Grafen Münster

Telegramm. Eigenhändiges Konzept Nr. 9 Berlin, den 19. Januar 1893

Antwort auf Bericht Nr, 10 und Telegramm Nr. 29 t. Euer pp. sind ermächtigt, in dem Augenblicke, der Ihnen geeignet erscheint, zu erklären, daß die monarchischen Kabinette zu erwägen

* Seit Mitte November 1892 hielt die Panama-Affäre ganz Frankreich in Atem. Der innerpolitische Skandal, in dessen Rückwirkung das Ministerium Loubet-Ribot Anfang Dezember in ein Ministerium Ribot-Loubet, und dieses wieder Mitte Januar 1893 in ein Ministerium Ribot-Develle umgewandelt wurde, drohte dadurch eine außenpolitische Wendung zu nehmen, daß seit Mitte Januar in den französischen Blättern Andeutungen erschienen, als ob der russische Botschafter von Mohrenheim in die Affäre verwickelt sei. Durch die von der französischen Regierung verfügte Ausweisung eines ungarischen Korrespondenten Szekely und eines deutschen Journalisten von Wedel, welche die Andeutungen der französischen Zeitungen weitergegeben hatten, wurde die französische Presse zu Angriffen gegen die Ver- treter des Dreibundes verleitet, als ob diese die Verdächtigungen gegen Mohren- heim inszeniert hätten.

** Österreich-ungarischer Botschafter in Paris. *** Minister des Äußern im Kabinett Ribot-Develle. t Siehe Nr. 1590.

330

haben werden, ob Botschafter als Vertreter der Person des Sou- veräns in einem Lande verbleiben können, in welchem sie Angriffen auf ihre Ehre und Geschäftsführung schutzlos preisgegeben sind.

Euer pp. Ermessen überlasse ich, Ihren Kollegen Kenntnis von diesem Telegramm zu geben.

* Marschall

Nr. 1592 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung Nr. 33 Paris, den IQ. Januar 1893

Habe, bevor Telegramm Nr. 9* eingegangen, durch Herrn von Schoen, da selbst noch nicht ausgehen kann, dem Ministerium des Aus- wärtigen Erklärungen im Sinne meines Telegramms Nr. 29 geben lassen. Develle bedauert lebhaft die ganz ungerechtfertigten Preßangriffe gegen Tripelallianz und Verdächtigungen gegen Botschafter, die nicht zu dulden seien, Regierung hoffe, bald durch Novelle zum Preßgesetz Waffe gegen derartige Ausschreitungen zu erlangen. Inzwischen werde sie andere Maßregeln erwägen, um Preßorgane gegen Dreibund zum Stillstand zu bringen. Die für offiziös gehaltene Note des „Temps" von Montag über Ausweisung von Journalisten des Dreibundes sei nicht im Sinne der Regierung redigiert und von ihr getadelt.

Develle will mich heute oder spätestens morgen besuchen. Je nach seinem Verhalten werde von der Ermächtigung in Telegramm Nr. 9 Gebrauch machen.

Münster

Nr. 1593 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 36 Paris, den 22. Januar 1893

Minister Develle war längere Zeit bei mir. Er wiederholte sein Bedauern wegen der schamlosen Angriffe auf die Botschafter der Tripelallianz. Er erkannte an, daß es die Pflicht der Regierung sei, sie gegen solche Angriffe zu schützen und versprach, es mit aller Energie tun zu wollen. Spätestens morgen solle. eine offiziöse Erklä- rung der Regierung im „Temps" erscheinen. Er sei überzeugt, daß

Siehe Nr. 1591.

331

keine Angriffe weiter erfolgen würden. Die Novelle zum Preßgesetz werde in einigen Tagen in der Deputiertenkammer beraten, und die Regierung betrachte deren Annahme als gesichert.

Münster

Nr. 1594 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 37 Paris, den 22. Januar 1893

„Temps" enthält in Form von Telegramm aus Wien Desavouierung der Preßangriffe gegen Dreibundbotschafter. Wie Develle vertraulich Graf Hoyos vorbereitet hatte, geht diese Entgegnung nicht weit genug, Regierung könne augenblicklich eine direkte offizielle Note durch Agence Havas nicht geben, ohne sofort peinliche Interpellation hervor- zurufen. Sie werde aber bei Debatte über Preßgesetznovelle weit- gehende befriedigende Erklärungen abgeben. Text der „Temps"-Note folgt telegraphisch en clair.

Münster

Nr. 1595

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Entzifferung Nr. 15 Paris, den 23. Januar 1893

pp. Die Furcht vor einer Interpellation rücksichtlich der Angriffe auf die Tripelallianz hat Herrn Ribot verhindert, gleich die Erklärung durch die Agence Havas zu veröffentlichen, die Graf Kälnoky ver- langte, weil eine solche zu neuen Angriffen in der Presse und zu einer nicht zu vermeidenden Interpellation geführt haben würde.

Wenn auch die Erklärung, die gestern der „Temps" brachte, un- genügend ist, so wird es jetzt sehr darauf ankommen, welche Erklärun- gen bei der Debatte über die Preßnovelle abgegeben werden, und ob dieselbe angenommen wird.

Die hiesige Regierung hat gesehen, wie ernst dieser Zwischenfall hätte werden können, und wird jetzt sehr vorsichtig sein.

Wir alle drei Botschafter haben ihr sehr bestimmt erklärt, daß wir solche Angriffe nicht leiden, und ich würde der allgemeinen Lage wegen nicht für rätlich halten, die Sache weiterzutreiben.

Übrigens muß ich konstatieren, daß bei allen Angriffen gegen meine Kollegen gegen mich kein Wort gesagt worden ist.

Ich habe viel darüber nachgedacht, woher der Panamaangriff gegen

332

den Botschafter Baron von Mohrenheim, den ich für ganz unbegründet halte, weil er der Panamagesellschaft nicht hätte nützen können, ge- kommen sein kann. Meiner Überzeugung nach sind es die hiesigen Russen, sowohl die der ersten Gesellschaft als auch der anarchisti- schen Kreise, welche Baron von Mohrenheim hassen, seine Geld- verlegenheiten kennen, welche solche Gerüchte verbreiten. Die hie- sigen Zeitungsschreiber konnten dann nicht widerstehen, sie zu ver- breiten.

Die Angriffe auf die Tripelallianz und auf Lord Dufferin, der per- sönlich am stärksten angegriffen wurde, führe ich auf Baron Mohren- heims Geschwätz zurück. Er hat schon seit längerer Zeit ein ganzes Arsenal von Phrasen gegen die Tripelallianz und gegen Lord Dufferin und das englische Geld, welches die französische Presse korrumpiert, losgelassen, und daß er jetzt diese benutzt haben wird, um sich gegen die schändlichen Insinuationen und Verdächtigungen zu ent- schuldigen, liegt auf der Hand.

Daß solche Insinuationen bei Herrn Ribot, der immer fürchtet, sein Kartenhaus der russisch-französischen Allianz zusammenfallen zu sehen, dankbaren Boden fand, ist erklärlich.

Develle ist ein sehr verständiger, ruhiger Mann, der aber noch ganz von Herrn Ribot abhängt. Ich hoffe aber, daß er sich bald in die Geschäfte hereinarbeitet und dann selbständiger werden wird.

Münster

Nr. 1596

Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt von Kiderlen für den Staatssekretär Freiherrn von Marschall

Eigenhändig

Berlin, den 26. Januar 1893

Der österreichische Botschafter, welcher Euere Exzellenz heute im Amte aufsuchen wollte, aber nicht antraf, hat mich gebeten. Euerer Exzellenz mitzuteilen, daß Graf Hoyos nach sehr ernsten Vorstellungen bei Herrn Ribot vom Minister Develle den Entwurf eines offiziellen Dementis wegen der gegen Graf Hoyos gerichteten Preßangriffe er- halten habe. Graf Hoyos habe den Entwurf ad referendum genommen und telegraphisch nach Wien berichtet. Graf Kälnoky habe sich da- mit einverstanden und den Zwischenfall für erledigt erklärt, auch um dem französischen Ministerium nicht zu große Schwierigkeiten zu bereiten, da man nicht wissen könne, was sonst in Frankreich passiere.

Kiderlen

333

Nr. 1597

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung'

Nr.6Q Paris, den 5. April 1893

Kein Minister ist nach seinem Falle von der Presse schlechter behandelt und härter beurteilt worden als Herr Ribot*. Er verdiente es in vollem Maße.

Euere Exzellenz mögen vielleicht geglaubt haben, daß ich diesen Minister, als er die auswärtigen Angelegenheiten führte, zu schaH beurteilte und gegen ihn eingenommen sei. Er war ein schlechter, demoralisierender Minister für Frankreich, weil ihm jedes Mittel recht war, um seine politische Rolle zu spielen, gefährlich für das Ausland, weil er, ohne jede Vorbildung und Kenntnis der auswärtigen Politik, keinen andern Gedanken fassen konnte, als den der alleinseligmachen- den russischen Alhanz, und er gegen uns und England einen blinden Haß besaß, und er alles Üble stets auf den Dreibund zurückführte.

Unkenntnis und dieser Haß konnten bei einem Manne wie Ribot gefährlich werden, weil er die Tragweite seiner Ungeschicklichkeiten nicht übersah.

Wo er nur irgend konnte, hat er gegen uns intrigiert, und alle Schwierigkeiten, die ich hier hatte, waren immer auf ihn zurück- zuführen, wenn er auch noch so liebenswürdig gegen mich erscheinen wollte.

Bei dem Besuche Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich hat er, davon bin ich überzeugt, gehetzt. Die Ausweisung des Korrespondenten von Wedel**, die Beschuldigung der Tripelallianzbotschafter sowie die Ausweisung Brandes'*** und die gehässige Ausbeutung dieser Aus- weisungen sind allein auf Ribot zurückzuführen.

Euere Exzellenz glauben nicht, welche Mühe es gekostet hat, den Botschafter Herbette zu halten. Ribot wollte jetzt wieder die Panamaangelegenheit dazu benutzen, fand aber bei Develle, den ich darauf vorsichtig vorbereitet hatte, Widerstand.

* Am 30. März war das Kabinett Ribot zu Fall gekommen; an seine Stelle war das Kabinett Dupuy getreten, in dem Develle von neuem das Äußere übernahm. ♦♦ Vgl. Nr. 1590, Fußnote *.

*** Ende März 1893 war auch der Korrespondent des „Berliner Tageblatts" Brandes von der französischen Regierung ausgewiesen worden. Bei seiner Abreise wurde er in Asnieres von einem Volkshaufen beschimpft und mit Steinen beworfen. Vgl. den scharfen Artikel der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung", der die an- läßlich der Ausweisung der beiden deutschen Korrespondenten v. Wedel und Brandes wieder zutage getretene landläufige französische Deutschenhetze brand- markte.

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Er fühlte zuletzt selbst, daß er sich doch nicht länger halten könne, und so benutzte er den Konflikt zwischen Deputiertenkammer und Senat, um eine Kabinettsfrage aus einer Sache zu machen, die es an sich nicht war. pp. Münster

Nr. 1598

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den französischen Botschafter in Berlin Herbette*

Konzept von der Hand des Dirigenten der Kolonialabteilung Kayser

Berlin, den 15. Juli 1893 [abgegangen am 20. Juü] Die Verhandlungen über eine Abgrenzung der deutschen und französischen Interessensphäre in Westafrika sind im Jahre 1890 ohne Ergebnis verlaufen. Inzwischen haben deutsche und französische Ex- peditionen jene Länderstrecken durchzogen und dadurch die Aufmerk-

* Hier abgedruckt, weil es von Interesse ist, festzustellen, was übrigens auch von französischer Seite anerkannt wird (vgl. Rapport de la Commission d'Enquete sur les faits de la Guerre Vol. I [1919], p. 250), daß die Anregung zu einer Ver- ständigung zwischen Deutschland und Frankreich über die Interessensphären von Deutsch-Kamerun und Französisch-Kongo von deutscher Seite ausgegangen ist. Einen eigentlich politischen Hintergrund hatten die Verhandlungen zunächst nicht gehabt. Die Notwendigkeit einer Verständigung ergab sich schon daraus, daß das frühere Abkommen vom 24. Dezember 1385 (siehe dasselbe in: Das Staatsarchiv Bd. 46 [1886], S. 243 ff.) deutscherseits so aufgefaßt wurde, als ob damit die deutsche Interessensphäre im Osten von Kamerun ein für allemal bis zum 15. Längengrade, und zwar in der ganzen Ausdehnung von der im Süden verein- barten Grenzlinie bis nördlich zum Tschad-See festgelegt sei, während die Fran- zosen dem Abkommen eine so weite Auslegung keineswegs zuerkennen wollten. Nun konnte sich Deutschland allerdings für seine Absicht, das Hinterland von Kamerun nordöstlich bis zum Tschad-See auszudehnen, auf das deutsch-englische Abkommen vom 15. November 1893 stützen, doch war von Paris her gegen dieses Abkommen, das übrigens auch engiischerseits nicht als eine Anerkennung der deutschen Hinterlandstheorie gemeint war, sondern dem realen Bestreben ent- sprang, den französischen Expansionsgelüsten an einer für England besonders empfindlichen Stelle einen Riegel vorzuschieben, sofort Protest eingelegt worden. Bei den durch die oben abgedruckte deutsche Note vom 15. Juli 1893 angeregten Verhandlungen, die durch die Entsendung des Direktors der französischen Kolonial- abteilung Haußmann und des Kommandanten iVlonteil nach Berlin im Dezember 1893 in Fluß kamen, vermochte denn auch die deutsche Regierung ihre Ansprüche keineswegs durchzudrücken, sondern mußte sich im Abkommen vom 15. März 1894 (siehe dasselbe in: Das Staatsarchiv Bd. 57, S. 61 ff.) mit einem Ergebnis be- gnügen, das zwar im Süden das Gebiet des Sanga-FIusses jenseits des 15. Längen- grades für Deutschland erschloß, dafür aber im Norden die deutschen Ansprüche im Gebiet des Tschad-Sees auf den Schari-Lauf zurückschraubte.

Daß Deutschland, indem es, ungern genug, Frankreich mit dem Gebiet öst- lich des Schari die Straße zum Bahr el Ghazal und nach Faschoda freigab, die Absicht verfolgt habe, Konfliktsmöglichkeiten zwischen England und Frankreich heraufzubeschwören, wie George Pages im Rapport de la Commission d'Enquete sur les faits de la Guerre p. 251 mutmaßt, findet in den Akten des Auswärtigen

335

samkeit der öffentlichen Meinung in der Heimat zu erregen gesucht. Eine Fortsetzung dieser Forschungsreisen, bei welchen jeder Teil be- müht ist, den anderen auszuschließen, würde mit der Zeit einen Wett- bewerb herbeiführen, welcher geeignet ist, eine unerfreuliche Einwir- kung auf die gegenseitigen Beziehungen beider Regierungen auszuüben. Es dürfte sich deshalb fragen, ob es nicht angezeigt ist, die im Sommer 1890 unterbrochenen Verhandlungen wiederaufzunehmen.

Ich beehre mich, Ew. pp. in der Anlage eine Denkschrift zu über- senden, welche die deutschen Forderungen näher entwickelt* und gleichzeitig zum Ausdruck bringt, inwieweit die Kaiserliche Regierung bereit ist, ihr Entgegenkommen zu bezeugen, falls die Regierung der Französischen Republik mit ihr eine Beseitigung der bestehenden Streit- fragen wünscht. Marschall

Nr. 1599 Kaiser Wilhelm IL, z. Z. in Hubertusstock, an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Hubertusstock, den 17. Oktober 1893

Erfahre soeben, daß Marschall Mac Mahon verstorben ist**. Da derselbe außerordentlicher Botschafter des Kaisers Napoleon bei der Krönung meines Großvaters war und von der Zeit an mit demselben in guten Beziehungen gestanden hat, er auch während meines Inkognito- aufenthalts in Paris im Jahre 1878*** als Präsident der Republik alles

Amts keinerlei Stütze. Im Gegenteil ergibt sich aus ihnen, daß die englische Re- gierung das ihr sehr unsympathische Abkommen vom 15. März 1894 wiederholt zum Anlaß nahm, um der deutschen Regierimg ein gemeinschaftliches Vorgehen gegen Frankreich in In.ierafrika vorzuschlagen: eine Anregung, die deutscherseits abgelehnt wurde. Vgl. Bd. VIII, Kap. LIV, B, Nr. 2022, 2023, 2025.

Näheres über die zu dem Abkommen vom 15. März 1894 führenden Ver- handlungen, die hier nicht verfolgt werden können, findet sich in der „Denk- schrift zum Abkommen vom 15. März 1894": Das Staatsarchiv Bd. 57, S. 66ff. * Hier nicht aufgenommen, weil von nur kolonialpolitischem Interesse. ** t am 17. Oktober auf Schloß La Forest bei Montargis.

*** Über den Inkognitoaufenthalt des damaligen Prinzen Wilhelm in Paris im Jahre 1878, der sicherlich dem Besuch der französischen Weltausstellung gegolten hat, geben die Akten des Auswärtigen Amts keine Auskunft. Bismarck hatte damals auf die vertrauliche Anregung des neuernannten französischen Botschafters Grafen St. Vallier, „daß möglichst viel höchste Herrschaften aus Deutschland zur Besich- tigung der Weltausstellung nach Paris kommen möchten", erklärt, die Verantwort- lichkeit dafür nicht wohl übernehmen zu können (vgl. Bd. III, Nr. 650 nebst Fuß- note). Auf eine erneute vertrauliche Anregung des Botschafters im Mai erging laut Notat des Auswärtigen Amts vom 14. Mai die Antwort, „daß französischer- seits auf einen Besuch der Pariser Ausstellung durch Seine Königliche Hoheit den Kronprinzen und die Frau Kronprinzessin nicht gerechnet werden könne". Etwas Authentisches über den Aufenthalt des Prinzen Wilhelm in Paris ist bisher über- haupt nicht bekannt geworden.

336

I

getan hat, um mir mein Inkognito zu erleichtern, so halte ich es für angemessen, daß Graf Münster in meinem Namen einen Kranz auf seinem Grabe niederlegt. Er war ein tapferer Soldat von untadelhafter Führung und vornehmer Gesinnung, ein Ehrenmann durch und durch. Die Kranzniederlegung geschieht am besten in La Forest.

Wilhelm LR.

Nr. 1600

Der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt von Holstein an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall,

z. Z. in Bremen

Telegramm. Eigenhändiges Konzept

Berlin, den 17. Oktober 1893

Seine Majestät hat telegraphiert, daß und aus welchen Gründen er für angemessen erachtet, daß Graf Münster auf dem Grabe Mac Mahons im Namen Seiner Majestät einen Kranz niederlege.

Ich habe das Telegramm vollständig weitergegeben mit dem Hin- zufügen, daß der Botschafter etwaige, aus der jetzigen abnormen Er- regung der Franzosen* sich ergebende Bedenken Eurer Exzellenz direkt telegraphieren möge.

Mir schwebte dabei vor, daß dem Könige von Italien, welcher sich telegraphisch nach dem Befinden des Waffengefährten von König Viktor Emanuel erkundigt hatte, seitens der französischen Presse die ärgsten Injurien und Verdächtigungen seiner Motive zugeschleudert worden sind.

Falls der kaltblütige Graf Münster von einem Schritt, der bei all- täglicher Stimmung jedenfalls günstig wirken müßte, jetzt abraten sollte, dann wäre auf das Vorhandensein ernster Bedenken mit Sicher- heit zu schließen.

Holstein

Nr. 1601 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Abschrift

Nr. 260 Paris, den 18. Oktober 1893

Habe folgendes Telegramm an Marschallin Mac Mahon gerichtet, da Ort und Zeit der Beisetzung noch nicht bekannt: Duchesse de Ma- genta, Chäteau la Forest. Sa Majeste l'Empereur d'Allemagne des

* Vom 13. bis 29. Oktober 1SQ3 fand in Erwiderung des Kronstadter Besuchs vom Jahre 1S91 der Besuch eines russischen Geschwaders in Toulon statt, was Anlaß zu rauschenden Festlichkeiten und zu hoher nationaler Erregung der französischen Bevölkerung Anlaß gab. Siehe Kap. XLVII, Nr. 1532 und 1533.

22 Die Große Politik. 7. Bi 337

qu'elle a eu connaissance de la perte cruelle que vous venez de faire m'a Charge dans une pensee de profonde Sympathie de deposer en son nom une couronne sur le cercueil du vaillant et noble marechal. En vous exprimant, Madame la Duchesse, mes sentiments personnels de plus sincere condoleance je vous prie de bien vouloir me faire connaitre le jour et l'endroit je pourrai avoir l'honneur de m'acquitter de cette haute mission. Comte de Münster Ambassadeur d'Allemagne.

(gez.) Münster

Nr. 1602 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 262 Paris, den 20. Oktober 1893

Die Russenfeste verlaufen programmäßig unter lebhafter Beteili- gung der unteren Volksklassen. Regierung und auch der größte Teil der Presse tut alles, um den Chauvinismus, der doch der ganzen Sache zugrunde liegt, zu bemänteln und das Friedenshorn zu blasen. Die kühle Antwort des Kaisers Alexander auf das Telegramm des Präsidenten Carnot* hat hier sehr unangenehm berührt und ernüch- ternd gewirkt.

Die Kundgebung unseres allergnädigsten Herrn für den Marschall Mac Mahon ist hier sehr gut aufgenommen worden.

Einen Artikel des „Matin" darüber schicke ich durch die Post. Bezeichnend dabei ist, daß dieser nicht allein die Befriedigung Frank- reichs, aber auch die des Kaisers Alexander betont.

Münster

Nr. 1603

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzhr Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 237 Paris, den 25. Oktober 1893

Der hochherzige Gedanke Seiner Majestät, den verstorbenen Mar- schall Mac Mahon durch eine Beileidskundgebung zu ehren, hat hier einen ganz vorzüglichen Eindruck hervorgebracht, der gerade im gegenwärtigen Augenblick, wo das ganze Volk von einem Taumel der Freude und eingebildeten Hoffnungen ergriffen ist, besondere Be- achtung verdient**, pp. Münster

* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1533.

♦* Es folgen sehr ausführliche Mitteilungen über das Leichenbegängnis am 22. Ok- tober, die hier übergangen werden können.

338

Nr. 1604

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 35 Paris, den 12. Februar 1S94

Daß der Konseilpräsident Casimir Perier* als solcher sehr an seinem Platze ist, habe ich in einem gestrigen Berichte zu begründen versucht. Daß er als auswärtiger Minister ebenso tüchtig sein wird, nehme ich an. Der persönliche und geschäftliche Verkehr mit ihm ist viel angenehmer als mit allen seinen Vorgängern.

Beide Ämter, Konseilpräsident und Minister des Äußern, sind für einen Mann aber zu viel, namentlich wenn, wie es Herr Casimir Perier tut, er die Leitung der Regierung ganz in die Hand nimmt.

Die politische Lage Frankreichs ist doch eine solche, daß der Leiter der Politik seine ganze Zeit darauf verwenden sollte.

Gerade jetzt ändert sich diese Lage.

Vor der russischen Sonne, welche die Vorgänger im Amte be- schien, steigen Wolken auf. Unser Handelsvertrag mit Rußland** kommt für uns zur rechten Zeit, und zur Erhöhung der Oetreidezölle konnte Frankreich für sich keinen schlechteren Augenblick wählen***.

Wenn auch ein Teil der französischen Industriellen Gewinn aus unserem Vertrage zu ziehen hofft, so versteht doch die große Mehr- zahl der Franzosen die politische Tragweite, übersieht die Folgen besser als anscheinend unsere Agrarier. Die Franzosen verstehen, daß unser Handelsvertrag eine schlechte Antwort auf Kronstadt und Toulon ist, und alle Phrasen Mohrenheims wenn er zurückkehren sollte werden das Mißtrauen nicht verwischen, welches hier sich zu zeigen beginnt.

Daß ein besseres Verhältnis zwischen den beiden großen Nach- barländern eintreten wird, erwartet man hier, und daß diese Über- zeugung den Wind aus den Segeln der chauvinistischen Russenfreunde nimmt, liegt auf der Hand.

Die Haltung eines Teils der russischen Presse und die Schaden- freude der englischen Presse, die auch versteht, was die Folgen unseres Handelsvertrages sein werden, verstimmen hier sehr. pp.

Unsere Beziehungen zu Frankreich werden besser, sowie auf Ruß- land nicht mehr sicher gerechnet wird und die Beziehungen zu Eng- land und anderen Staaten schlechter werden.

Daß eine wirkliche Verständigung mit Frankreich noch lange nicht zu erwarten ist, weiß ich und mache mir darüber keine Illusion. Meine

Das Kabinett Casimir Perier hatte Anfang Dezember 1893 das Kabinett Dupuy

abgelöst.

*♦ Vgl. Kap. L, B., Nr. 1666.

»** Vgl. dazu Schultheß' Europäischer Oeschichtskalender Jg. 1894, S. 262.

22- 339

Aufgabe war von jeher eine schwierige: sie bestand und besteht noch darin, die Winkel abzustumpfen und abzurunden. Durch die Presse und zur Bismarckschen Zeit wurden auch durch die Regierungen gelbst diese Winkel oft bedenklich zugespitzt^: sie sind in letzter Zeit stumpfer geworden.

Wenn wir es dahin bringen könnten, daß die Presse beider Länder mäßiger würde, so könnte wenigstens der Kriegszustand im Frieden aufhören. Die Aussichten für den wirklichen Krieg werden geringer. Wenn Rußland den Krieg nicht will, beginnt ihn Frankreich nicht. Die Republik befestigt sich. Die gemäßigten Elemente scheinen Ein- fluß zu gewinnen. Die Furcht vor der Anarchie und dem Sozialismus hilft dazu. Die eigentliche Kriegs- und Revanchepartei hat entschieden an Intensität und Einfluß verloren. Ohne Rußland, das immer mehr im nordischen Nebel verschwindet, ist Frankreich isoliert, führt außerdem mit Ausnahme von uns Zollkrieg mit allen Ländern.

Die Vorgänge in Afrika sind zur Erhaltung des Friedens günstig, und gut ist es, daß wir dort zu einer Verständigung gelangt sind*.

Münster

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.: *■ Richtig

Schlußbemerkung des Kaisers: Völlig einverstanden

Nr. 1605 Kaiser Wilhelm IL, z. Z. in Kiel, an den Botschafter in Paris

Grafen Münster

Telegramm. Entzifferung des vom kaiserlichen Chiffreur an das Auswärtige Amt

gesandten Duplikats

Kiel, den 30. Juni 1894 Wenn Sie morgen bei Gelegenheit der Leichenfeier für Carnot** meinen Kranz niedergelegt haben, sprechen Sie dem neuerwählten Präsidenten nochmals meine Teilnahme an dem Schmerz Frankreichs aus. Zugleich haben Sie demselben zu eröffnen, daß ich zum Zeichen meines besonderen Wohlwollens ihm und seiner neuen Regierung gegenüber Befehl gegeben habe, beide französische Spione***, welche in Kiel vor einem Jahr gefaßt wurden, am Beisetzungstage Carnots wieder freizulassen. Seine Exzellenz der Reichskanzler ist damit ein- verstanden. Wilhelm I. R.

* Gemeint ist das seit Anfang 1893 vorbereitete deutsch-französische Abkommen über Kamerun und Kongo vom 15. März 1894. Vgl. Nr. 1598, Fußnote. ** Am 24. Juni war Präsident Carnot in Lyon von einem italienischen Anarchisten ermordet worden. Zu seinem Nachfolger wurde am 27. Juni Casimir Perier er- wählt.

*** Es handelte sich um die beiden französischen Marineoffiziere Degouy und Delguey-Malavas, die im Dezember 1893 vom Reichsgericht zu 6 bzw. 4 Jahren Festungshaft verurteilt und seither in Glatz interniert waren.

340

Nr. 1605 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 150 Paris, den I.Juli 1894

Folgendes habe ich an Seine Majestät den Kaiser nach Kiel tele- graphiert:

Bei der Leichenfeier im Elysee hat mich der Präsident der Re- publik, dem ich hatte sagen lassen, daß ich ihn im Auftrage Seiner Majestät zu sprechen wünsche, empfangen in Gegenwart des ganzen Kabinetts. Nachdem ich nochmals das Beileid Euerer Majestät aus- gesprochen hatte, teilte ich dem Präsidenten die erfreuliche Nachricht von der auf so gnädige Weise befohlenen Freilassung der beiden Spione mit.

Der Präsident gab mir tiefbewegt die Hand und sagte: „Dites ä Sa Majeste que cet acte de gräce va droit au coeur de la nation fran^aise.**

Darauf dankte mir der Ministerpräsident im Namen des Kabinetts,^ der Kriegsminister im Namen der Armee, der Marineminister im Namen der Marine. Der Minister des Äußern sagte:

„Cet acte genereux a une grande portee politique." Er bat mich im Namen des Präsidenten, dem Leichenzug nicht zu Fuß zu folgen, denn die Hitze ist erstickend. Ich fahre daher in die Notre-Dame-Kirche. Münster

Nr. 1607 Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 151 Paris, den 1. Juli 1894

Für Seine Majestät den Kaiser.

Die Feier ist bei erdrückender Hitze ohne Zwischenfall gut ver- laufen. Die Begnadigung der beiden Offiziere und die Art und Weise, wie sie an diesem Tage geschah, hat einen noch größeren Eindruck gemacht, eine noch größere wirklich aufrichtige Anerkennung gefunden, als ich selbst erwartete. Wie ich meldete, haben der Präsident der Republik, der Konseilpräsident im Namen des Kabinetts, der Kriegs- minister im Namen der Armee, der Marineminister im Namen der Marine mich gebeten, Euerer Majestät den tiefgefühlten Dank aus- zusprechen.

Während der Feier im Dom kam der Präsident des Senats* zu mir und bat mich in seinem Namen und in dem der versammelten Se- natoren Eurer Majestät ihren wärmsten Dank zu übermitteln.

* Challemel-Lacour.

341

Den Kranz Euerer Majestät hatte ich schon gestern abend auf Wunsch der Madame Carnot in der Capelle Ardente niedergelegt. Madame Carnot ließ mir sagen, daß von allen Beileidsbezeugungen und Telegrammen die Worte Euerer Majestät sie am tiefsten gerührt haben. Münster

Nr. 1608

Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 135 Paris, den S.Juli 1894

Die vielen Beweise der Teilnahme und der Entrüstung, welche von allen Seiten und von allen Souveränen hier einliefen, haben hier sehr erfreut. Es haben diese Kundgebungen dem so eminent eitlen Volke sehr geschmeichelt. Von den Republikanern wird das als eine Anerkennung und Sanktionierung der Republik angesehen.

Daß die Telegramme unsers allergnädigsten Herrn und die Frei- lassung der französischen Olfiziere so ganz im rechten Augenblick einen guten Eindruck machen würden, erwartete ich. Meine Erwartung ist bei weitem übertroffen, und wenn der „Figaro" sagte, daß am Sonntag abend unser Kaiser der populärste Mann in Paris gewesen sei, so ist das richtig.

Meine persönliche Stellung hat auch dabei sehr gewonnen.

Daß unsere Beziehungen in letzter Zeit überhaupt viel besser ge- worden sind, als die Presse und die durch sie sehr irre geleitete öffentliche Meinung in Deutschland glauben wollen, ist sicher. Den- noch weiß ich, daß solche Stimmungen umschlagen können. Von Seiten beider Regierungen muß aber alles getan werden, damit dieses nicht geschieht.

Die Zeit gleicht am besten Gegensätze aus. So geht es auch mit unsern Beziehungen zu Frankreich.

Elsaß-Lothringen wird nach und nach vergessen werden, und, ist diese Frage nicht mehr so brennend, kühlt sich, wie das schon sehr zu bemerken ist, der Chauvinismus ab, so werden die Franzosen doch immer mehr einsehen, daß unsere sonstigen Interessen in vieler Beziehung den französischen weniger widersprechen als die russischen.

Je mehr die Aussicht auf Krieg abnimmt, je mehr fällt der Grund für die absurde Russenliebe der Franzosen fort.

Eine ernste Ehe war es nie, und wenn bei Liebhabern der Rausch der Liebe aufhört, und sie erst anfangen zu streiten, so werden sie gewöhnlich die bittersten Feinde.

Als im vorigen Herbste ganz Paris auf dem Kopfe stand, und der russische Admiral der Held des Tages war, wurde ich oft von hiesigen

342

Bekannten mit einem Anfluge von Hohn gefragt, ob mir das nicht sehr unangenehm sei. Ich erwiderte ruhig: „Nein, im Gegenteil, denn ich habe die Überzeugung, daß, wenn, wie ich sehr hoffte, der Friede erhalten bleibe, die Russen in Paris in drei bis höchstens fünf Jahren Gefahr liefen, mit faulen Eiern und Äpfeln beworfen zu werden i."

Dieses klang und war auch etwas übertrieben. Dennoch muß jeder, der hier beobachten kann, sehen, daß die Beziehungen zu Ruß- land nicht dieselben sind als früher.

Als der Botschafter Mohrenheim zur Leichenfeier in das Elysee über den Place de la Concorde fuhr, und die Durchfahrt durch Wagen und Bänke gesperrt war, sein Kutscher aber versuchte durchzufahren, wurde er geradezu beschimpft und kam ganz außer sich ins Elysee. Das wäre vor einem Jahre unmöglich gewesen. Mir gegenüber sprach mein russischer Kollege mit Geringschätzung von der Botschaft des Präsidenten* und nannte sie nichtssagend.

Es ist, wie ich glaube, diese Kritik dadurch veranlaßt, daß nicht, wie bisher stets geschah, die Beziehungen zu Rußland erwähnt wur- den. Der Satz, der ihm besonders mißfallen haben wird, ist der, der so beginnt:

„Sure d'elle meme, confiante en son armee et en sa marine, la France peut, la tete haute, affirmer son amour de la paix."

Was hier sehr verstimmt hat, war das sehr verspätete und sehr kalte Telegramm Seiner Majestät des Kaisers von Rußland. Außerdem erwartete man wenigstens von Rußland die Absendung einer beson- dern Mission.

Mit England sind die Beziehungen zum englischen Hofe die besten, und hat Ihre Majestät die Königin es durch ihre Teilnahme sehr ver- standen, die Herzen hier zu gewinnen.

Dagegen sind die Beziehungen zur englischen Regierung entschie- den nicht als gute zu bezeichnen.

Italien ist noch ein wunder Punkt, darüber beehre ich mich aber besonders zu berichten. Die Besorgnis, daß die Aufregung über den durch einen Italiener verübten Mord ernste Folgen haben konnte, hat ßehr abgenommen.

Herr Casimir Perier und sein auswärtiger Minister** wollen beide keine äußeren Komplikationen und wollen vor allem Ordnung im Innern und eine feste Regierung zu ermöglichen suchen. Auf Kriegs- abenteuer werden sich beide nicht einlassen.

Münster

Randbemerkung Kaiser Wilhelms H.: i Richtig.

* Siehe den Wortlaut aus der Botschaft vom 3. Juli in Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Jg. 1894, S. 268 f. ** Hanotaux.

343

Kapitel XLIX

Der Draht nach Rußland ISQO— 1S92 A. Äußere Politik

Nr. 1609 Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt Raschdau

Reinschrift. Unsigniert* Notizen zu der russischen Reise

Berlin, den 18. Juli 1890

1. Den verwandtschaftlichen Charakter des Besuchs hervorkehren; zu politischen Gesprächen insbesondere bezüglich orientalischer Ver- hältnisse — nicht die Initiative ergreifen.

2. Auf das Thema der Solidarität der Monarchien und die Bedeu- tung der sozialen Frage für letztere gegenüber den überall hervor- tretenden Umsturzbestrebungen gern eingehen.

3. Werden politische Fragen berührt, so lehnen wir es ab, die Rolle des ehrlichen Maklers von neuem zu übernehmen. Unsere schlechten Erfahrungen besonders nach Berliner Kongreß hervor- heben.

4. In bezug auf Herzog von Cumberland** formal: Wir lehnen Zwischenpersonen ab; sachlich: Gesetz allegieren, das in der Ver- mögensfrage jede Entscheidung von gesetzgebenden Körpern mit ab- hängig macht; außerdem auf Intrigen der Weifenpartei, die noch bei letzten Wahlen ihre reichsfeindlichen Bestrebungen bekundet, hinweisen. Ohne Garantien keine Konzessionen.

5. Wir können Verträge mit Rußland nicht schließen, da sie zur Erregung von Mißtrauen im In- und Auslande gegen uns ausgebeutet würden 1. Hervorheben, wie unsere bisherigen Verträge trotz weit- gehender Zugeständnisse nicht vermocht hätten 2, feindselige Stim- mung in Rußland gegen uns zu mäßigen. Aber auch ohne Ver- träge werde unsere Haltung gegen Rußland stets eine friedliche, loyale und entgegenkommende sein.

6. Wir haben kein Interesse in Bulgarien***, während wir russisches gern anerkennen. Wenn ohne Störung des Weltfriedens dort legaler Zustand nach Maßgabe Berliner Vertrages hergestellt werden könnte, whrcn wir bereit, jeden dazu führenden Schritt zu unterstützen. Bei

* Auf dem eigenhändigen Konzept Raschdaus befindet sich eine Randverfügung Caprivis: „Bitte hiervon zu fertigen je eine deutsche Kopie und eine französische Übersetzung, beides auf gebrochenem Bogen für Seine Majestät und für mich. Ersteres will ich in Wilhelmshaven überreichen." Man sieht, wie sorgfältig und von langer Hand her der für Mitte August geplante Kaiserbesuch am russischen Hofe politisch vorbereitet wurde. ** Vgl. dazu Bd. VI. *** Über die bulgarische Frage seit 1890 vgl. Bd. IX, Kap. LV.

347

Verschiedenartigkeit der dort gegenüberstehenden europäischen Inter- essen aber sei nach aller Voraussicht jedes Einschreiten für europäi- schen Frieden bedrohlich.

7. Prinz Ferdinand sei nicht legal gewählt, da nicht alle Mächte beigestimmt. Wer aber würde nach russischer Ansicht die all- gemeine Zustimmung finden? .Man käme also aus einem illegalen Zustand in den andern.

8. Die Meerengenfrage* tunlichst vermeiden; wir würden auch in dieser Frage uns an die bestehenden Verträge von 1856 und 71 loyal halten.

9. Wird Serbien berührt, nach wie vor erwähnen, daß unseres Wissens die Österreicher nicht daran dächten, dort gewaltsam ein- zuschreiten. Auch dort würden die Ereignisse am besten sich selbst überlassen.

Randbemerkungen des Reichskanzlers von Caprivi:

* Wir müssen auf die öffentliche Meinung viel mehr Rücksicht nehmen als zu Fürst Bismarcks Zeit

' Politik, die auf Willen eines Einzigen beruht, kann zu leicht umgestimmt wer- den. Gortschakow bekam es fertig, das gute Verhältnis zwischen Wilhelm I. und Alexander II. zu stören

Nr. 1610

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 205 St. Petersburg, den 30. Juli 1890

Geheim

Herr von Giers benutzte eine sich ihm bietende Gelegenheit, um mir vertrauliche Eröffnungen über dasjenige zu machen, was er mit Euerer Exzellenz bei der bevorstehenden Begegnung zu besprechen be- absichtigt.

„Der Kaiser", so ungefähr erzählte der Herr Minister, „hat mir auf meine Frage, wie ich mich bei der bevorstehenden Ankunft Seiner Majestät des Kaisers Wilhelm zu benehmen habe, geantwortet, ich solle nicht nach Narwa kommen, sondern mich erst in Peterhof vor- stellen."

„Der Kaiser", so fuhr Herr von Giers fort, „hat mir ferner gesagt: Da die Initiative zu dem Abbruche der beim Ausscheiden des Fürsten Bismarck dem Abschlüsse nahen Verhandlungen vom General von Ca- privi ausgegangen sei, so solle ich bei demselben nicht mehr auf diese

über die Meerengenfrage seit 1890 siehe Bd. IX, Kap. LV.

348

Sache zurückkommen und überhaupt jede Rekrimination vermeiden*. Ich werde also dem Herrn Reichskanzler gegenüber nur erwähnen, daß Sie von ihm beauftragt gewesen sind, hier zu erklären, daß Deutsch- land seine guten Beziehungen zu uns erhalten und pflegen und an der bisherigen Richtung seiner Politik Rußland gegenüber nichts ändern will."

„Als Herr Stambulow im vergangenen Juni seine bekannte Note nach Konstantinopel richtete, habe ich den Grafen Schuwalow an- gewiesen, mit Herrn General von Caprivi über diesen, die Ruhe auf der Balkanhalbinsel gefährdenden Schritt der illegalen Regierung in Sofia zu sprechen; der Herr Reichskanzler hat die befriedigende Ant- wort erteilt, daß die deutsche Regierung die Zustände in Bulgarien nach wie vor als nicht normale betrachte**."

„Ich will mit Herrn von Caprivi hierüber, aber auch noch über einen zweiten Punkt sprechen, nämlich über die Meerengen. Sie er- innern sich, daß zur Zeit des Gefechtes am Kuschk und des Pandscheh- streites*** England den Verträgen über die Meerengen eine Auslegung gab, welche ersteren nicht entspricht und für uns nachteilig ist; über diese Frage möchte ich mich mit dem Herrn Reichskanzler ver- ständigen."

Diese Äußerungen des Herrn Ministers erwiderte ich in demselben freundschaftlichen Tone, in welchem Seine Exzellenz sie tat, indem ich sagte, es sei gut, daß Seine Majestät der Kaiser Alexander auf die Ver- handlungen vom März dieses Jahres nicht zurückkommen wolle, und es sei richtig, daß ich beauftragt gewesen bin, hier zu erklären: Deutschland wolle seine guten Beziehungen zu Rußland erhalten und pflegen und weder an seiner auswärtigen Politik im allgemeinen noch speziell Rußland gegenüber etwas ändern.

Was nun die Meerengenfrage betrifft, welche, wenn ich nicht irre, bei den bevorstehenden Besprechungen Euerer Exzellenz mit Herrn von Giers in den Vordergrund treten dürfte, so beschränkte ich mich darauf, den russischen Minister daran zu erinnern, daß, soviel mir be- kannt, der Londoner Vertrag vom 13. März 1871 f die Schließung und Öffnung der Dardanellen und des Bosporus geregelt habe und in

Vgl Kap. XLIV.

** Die Auslassungen Minister Giers' sind nicht ganz korrekt. Die bulgarische Note vom 16. Juni, die bei der Türkei von neuem die Anerkennung des Prinzen Ferdinand, sowie die Zulassung bulgarischer Bischöfe in der Türkei usw. in Anregung brachte, rührt noch von dem Vorgänger Stambulows, Stranski, her, der am 17. aus dem Ministerium schied. Auch hat Graf Schuwalow nicht mit dem Reichskanzler von Caprivi, sondern mit dem Staatssekretär von Marschali am 25. Juni über die Angelegenheit gesprochen und von diesem die Antwort er- halten, daß nach Auffassung der deutschen Regierung der gegenwärtige Zustand in Bulgarien im Widerspruche mit dem Berliner Vertrage stehe und daher als illegal zu betrachten sei. *** Vgl. Bd. IV, Kap. XXII. t Siehe Bd. II, Kap. IX.

349

voller Gültigkeit fortbestehe; Herr von Giers sagte, er wolle sich den Text dieses Vertrages wieder vorlegen lassen.

Im ferneren Verlaufe unseres Gespräches kam der Minister noch- mals au? die Besorgnisse zurück, welche ihm die Balkanpolitik des Wiener Kabinetts und der magyarischen Kreise einflöße; er brachte hierbei wenig Neues vor, erinnerte vielmehr an seine Unterredung mit dem Staatssekretär Grafen Bismarck vom Juli 1888*, in welcher er die Möglichkeit des Einrückens der Österreicher in Serbien als ernste Komplikation bezeichnet habe, und ließ hierbei die Bemerkung fallen, daß die Serben bei einem neuen Konflikt mit den Bulgaren noch gründ- licher geschlagen werden würden als vor fünf Jahren.

Da ich aus den ängstlichen Hindeutungen auf vermeintliche von Österreich-Ungarn her drohende Kriegsgefahr darauf schließen durfte, daß die mit der Giersschen Politik nicht einverstandenen militärischen Ratgeber Seiner Majestät des Kaisers Alexander höchstdenselben neuer- dings durch Berichte über Rüstungen in Galizien, neue Befestigungen bei Prczemysl und dergleichen beunruhigt haben, so sagte ich dem Herrn Minister ungefähr folgendes:

„In einigen Wochen wird in Wolhynien, dicht an der österreichi- schen Grenze, eine Anhäufung von Truppen stattfinden, wie die Ge- schichte keine ähnliche in Friedenszeiten aufzuweisen hat; zwei russi- sche Generale, deren Gesinnungen durch ihre Reden und andere Kundgebungen als kriegerisch bekannt sind, Dragomirow und Gurko, werden dort mehr als 150 000 Mann versammeln, und der Kaiser von Österreich sagt kein Wort dagegen; können Sie einen stärkeren Beweis von seinem Vertrauen zu Kaiser Alexander verlangen, und verdient er nicht mindestens das gleiche? Der Kaiser Franz Joseph findet jetzt den Trost für das Unglück seiner Jugend in der Erwerbung und Ent- wickelung zweier Provinzen, welche Sie ihm in Reichstadt und durch den Pester Vertrag zugebilligt haben ; wenn er hierin nicht gestört wird, so können Sie sich darauf verlassen, daß er weder auf einen Krieg sinnt noch nach Saloniki hinstrebt."

Herr von Giers machte gegen diese Auffassung keine Einwendun- gen, ging aber auf das Verhalten Österreichs in Sofia und Konstanti- nopel über und berührte dabei die Tagesfrage der bulgarischen Bis- tümer**, ohne jedoch näher auf dieselbe einzugehen, wozu auch für mich keine Veranlassung vorlag; Herrn Nelidows Meldung lautete, alle Mächte hätten sich für die Berats-Erteilungi bei der Pforte verwendet; dieser Punkt blieb aber zwischen Herrn von Giers und mir unerörtert.

Im Hinblick auf die Besprechung der Meerengenfrage, welche der russische Herr Minister bei der Begegnung mit Euerer Exzellenz herbei-

Siehe Bd. VI, Kap. XLUI, Nr. 1345.

** Vgl. dazu IJulius von Eckardtl Berlin— Wien— Rom. Betrachtungen über den neuen Kurs und die neue europäische Lage (1892), Anhang: Die orthodoxe Kirche und der griechisch-bulgarische Kirchenstreit S. 268 ff.

350

zuführen beabsichtigt, beehre ich mich einiges hierauf bezügliche aus den Erinnerungen meiner hiesigen amtlichen Tätigkeit zusammenzu- stellen und in der Anlage Euerer Exzellenz ehrerbietig zu unter- breiten *. V. S c h w e i n i t z

Randbemerkung des Reichskanzlers von Caprivi:

1 Hat mit den Verträgen nichts zu tun. Haben uns auf Befragen geäußert türkisches Internum. Lag im Sinne der Erhaltung des Friedens, weil dadurch die Aner- kennungsfrage aus der Welt kam. Rußland hat sich früher aufs lebhafteste für diese Bistümer interessiert.

Nr. 1611

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 229 St. Petersburg, den 25. August 1890

Ganz vertraulich

Unmittelbar nach der Abfahrt Seiner Majestät des Kaisers und Königs von Peterhof ** haben beide russische Majestäten Herrn von Giers die große Befriedigung ausgesprochen, mit welcher sie der Kaiserliche Besuch erfüllt hat. Der Zar hat geäußert, er sei jetzt vollständig be- ruhigt, und Ihre Majestät die Kaiserin hat dem Minister gesagt, daß der diesmalige Besuch unseres allergnädigsten Kaisers und Herrn noch weit besser verlaufen sei als derjenige von 1888.

Dieser überaus günstige Eindruck ist, wie mir Herr von Giers mitteilte, nicht bloß bei den russischen Majestäten, sondern auch bei den andern hohen Mitgliedern des Kaiserlichen Hofes, welche am Landungsplatz Abschied genommen hatten, bemerkbar gewesen. Der Zar hat außerdem noch vorgestern abend dem Herrn Minister kurz erzählt, daß er mit Euerer Exzellenz eine höchstihn sehr befriedigende Unterredung gehabt hat. Herr von Giers will nun morgen bei dem Dienstags-Immediatvortrage seinem erhabenen Souverän berichten, was er mit Euerer Exzellenz besprochen hat, und sich von Seiner Majestät ausführlichere Mitteilungen über das Gespräch höchstdesselben mit Euerer Exzellenz erbitten. Der Herr Minister wird dann den wesent- lichen Inhalt beider Unterredungen schriftlich zusammenfassen und dem Kaiserlich russischen Geschäftsträger in Berlin diese „Fixierung" des zwischen den hohen Monarchen und deren Ministern erfolgten Gedankenaustausches zusenden, damit Graf Murawiew dieses Schrift-

* Näheres über die Meerengenfrage siehe in Bd. IX, Kap. LV. ** Am 17. August war Kaiser Wilhelm II. zum Besuche des Zaren in Narwa ein- getroffen. An der Zusammenkunft des Herrscherpaars nahmen u. a. auch Reichs- kanzler Caprivi und Botschafter von Schweinitz teil. Am 22. August begaben sich beide Kaiser nach Peterhof. Am 23, erfolgte die Abreise Kaiser Wilhelms II.

351

stück Euerer Exzellenz vorlese und die Bemerkungen, welche Euere Exzellenz dazu machen werden, entgegennehme.

Herr von Giers drückte mit großer Wärme die Befriedigung aus, mit der ihn das Ergebnis der Monarchenbegegnung und der Besprechun- gen mit Euerer Exzellenz erfüllt hat, eines Ergebnisses, welches vor allem andern in der Befestigung rückhaltlosen gegenseitigen Ver- trauens besteht i. v. S c h w e i n i t z

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:

1 Dann soll er nun mal auch öffentlich das in der Russischen Presse sagen, und einheimischen und französischen Blättern damit das Maul stopfen!

Nr. 1612 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi

Eigenhändig

Berlin, den 8. September 18Q0

Graf Murawiew war heut bei mir, um mir die von Herrn von Schweinitz in Aussicht gestellte „Fixierung" der Unterredungen, die mir der Zar in Peterhof und Herr von Giers in Petersburg ge- stellt hatten, vorzulesen.

Das Schriftstück konstatierte, daß ich ausgesprochen, die Regie- rung Seiner Majestät Wilhelm II. habe durchaus friedliche Tendenzen, sie stehe vor sehr schweren inneren Aufgaben, und wir wären der Meinung, daß in bezug auf letztere alle monarchischen Staaten gleiche Interessen hätten.

Russischerseits wurde dem zugestimmt und die gleiche Versiche- rung friedlicher Tendenzen ausgesprochen.

Zwei Detailfragen seien erwähnt worden : Bulgarien und die Meer- engenfrage. Rußland habe in bezug auf Bulgarien die Ansicht, gestützt auf die Verträge, daß der gegenwärtige Zustand illoyal sei und von Seiten Rußlands, das soviel Opfer für Bulgarien gebracht, nie anerkannt werden könne.

In bezug auf die Meerengen halte Rußland an den Verträgen von 1841, 1856, 1871 und den Schuwalowschen Erklärungen auf dem Ber- liner Vertrage fest

Meinerseits sei erwidert worden, daß wir ebenfalls gesonnen seien, an den Verträgen festzuhalten, und daß auch wir den Zustand in Bul- garien für illoyal hielten.

Die vom Zaren getanen Äußerungen in bezug auf das Wünschens- werte der Herstellung der Monarchie in Frankreich waren in dem Schriftstück, das Graf Murawiew vorlas, nicht erwähnt.

Graf Murawiew fügte als eine von ihm selbst kommende Bitte hinzu, ich möge schriftlich bescheinigen, daß er mir das Schriftstück

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vorgelesen, und sein Inhalt von mir anerkannt sei. Obschon ich letztres mit gutem Gewissen gekonnt hätte, habe ich es mit dem Bemerken, Herr von Giers werde sich auch mit einer mündlichen Äußerung meiner- seits begnügen, abgelehnt, um nichts Schriftliches zu geben*.

v. Caprivi

Nr. 1613

Der Geschäftsträger in Petersburg Graf von Pourtales an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 231 St. Petersburg, den 7. September 1890

Obwohl viele Lügen auch von hier aus über die Narwaer Kaiser- zusammenkunft in die Welt geschickt worden sind und, wie zu er- warten war, es in der hiesigen Presse nicht an Stimmen gefehlt hat, welche die Bedeutung dieses Ereignisses herabzusetzen bestrebt waren**, so kann doch der Gesamteindruck, welchen der jüngste Besuch Seiner Majestät des Kaisers hier hinterlassen hat, im allgemeinen als ein gün- stiger bezeichnet werden.

Personen aus der Umgebung des Zaren bestätigen, daß beide russische Majestäten von den Tagen ihres Zusammenseins mit ihrem erlauchten Gaste die angenehmsten Erinnerungen behalten und dies auch wiederholt ausgesprochen hätten. „Kaiser Alexander", so wurde mir noch vor einigen Tagen von jemandem gesagt, der den Charakter des Zaren aus nächster Nähe zu beobachten Gelegenheit hat, „ver- steht es nicht, seine Gefühle und Stimmungen zu verbergen; wenn er während der Tage in Narwa und Peterhof eine gleichmäßige, ja sich steigernde heitere Stimmung gezeigt hat, so ist dies der beste Beweis dafür, daß ihn der herzhche ungezwungene Verkehr mit Kaiser Wilhelm angenehm berührte und ihm wohltat." Auch Herr von Giers äußert sich sehr befriedigt über den Verlauf des Besuches und hat dies, wie ich wiederholt zu konstatieren Gelegenheit hatte, den anderen auswärtigen Vertretern i gegenüber ausgesprochen.

Bei den Betrachtungen, welche hier an den zweiten Besuch unseres Kaisers bei dem hiesigen Hofe geknüpft werden, tritt ein Moment be-

* Vgl. dazu die auf dem russischen Aktenmaterial fußenden Mitteilungen bei Goriainow, The End of the Alliance of the Emperors. The American Historical Review Vol. XXIII, Nr. 2, p. 347 s.

** Auch in der deutschen und österreichischen Presse war vielfach zum Ausdruck gelangt, daß die Zusammenkunft der beiden Kaiser im ganzen oder doch in den letzten Tagen einen kühlen und formellen Charakter getragen habe. Vgl. dazu den Aufsatz „Der Kaiserbesuch in Rußland" im Septemberheft 1890 der „Preu- ßischen Jahrbücher", der die Verantwortung für den mißglückten und überhaupt nicht angebrachten Besuch auf den Fürsten Bismarck schieben möchte, wogegen sich dieser in den „Hamburger Nachrichten" (Hofmann, Fürst Bismarck 1890 bis 1898 Bd. I [1913], S. 291 f.) verwahrt hat.

23 Die Große Politik. 7. Bd. 353

sonders in den Vordergrund, welches auch in den zahllosen Ergüssen der Presse immer wieder zum Ausdruck gelangt, nämlich, daß bei der diesjährigen entrevue nicht mehr, wie der „Grashdanin" sich aus- drückt, unsichtbar eine dritte Person in Gestalt des Fürsten Bismarck zwischen beiden Monarchen gestanden habe. Man habe daher nur noch mit der aufrichtigen und geraden Politik Kaiser Wilhelms zu rechnen, während man früher nie sicher gewesen wäre, wie weit sich „die hinterlistigen Pläne" des früheren Reichskanzlers mit dieser Po- litik gedeckt hätten. Man sieht hieraus, wie selbst bis in die neueste Zeit das Mißtrauen gegen den Fürsten hier nie geschwunden ist, er vielmehr für den eigentlichen Feind Rußlands gehalten wurde 2*.

Diese Betonung des Vertrauens in die jetzige deutsche Politik könnte man gewiß nur mit Freuden begrüßen, sie könnte sogar zu sanguinischen Hoffnungen 3 hinsichtlich der nunmehrigen Gestaltung der Beziehungen zwischen uns und Rußland berechtigen, wenn nicht durch die Seiner Majestät, unserem allergnädigsten Herrn, gespendeten Lobeserhebungen nur zu deutlich die Erwartungen hindurchschimmer- ten, welche an die von der Bevormundung des Fürsten Bismarck be- freite neue Richtung unserer Politik geknüpft werden. Diese Er- wartungen laufen auf nichts anderes hinaus, als daß Seine Majestät der Kaiser seine freundschaftlichen Gesinnungen gegen Rußland be- weisen möge, indem er „den österreichischen Intrigen auf der Balkan- halbinsel" entgegentrete und womöglich sich von dem den Russen so verhaßten Dreibunde lossage. Weisen doch schon jetzt einige Blätter darauf hin, daß sich unserem allergnädigsten Herrn sehr bald Gelegen- heit bieten werde, im russischen Sinne auf den Kaiser Franz Joseph zu wirken*.

Die Befürchtung liegt nur zu nahe, daß die Enttäuschungen, welche man sich russischerseits auf solche Weise bereitet, auch wieder zu einer Abkühlung der im gegenwärtigen AugenbHck verhältnismäßig freund- lichen Stimmung gegen uns führen wird. Diejenigen russischen Kreise aber, die das Vertrauen in den deutsch-russischen Beziehungen nicht aufkommen lassen wollen, tun natürlich das ihrige, um die Erwartungen, die man an die angebliche Schwenkung der Politik unseres Kaisers im russenfreundlichen Sinne zu knüpfen berechtigt sei, möglichst hoch zu schrauben 5, damit nachher die Enttäuschung eine um so gründlichere und das Mißtrauen ein um so nachhaltigeres werde.

F. Pourtales

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Audi den Franzosen?

2 darüber hat er sich bis heute den größten Illusionen hingegeben

3 bei mir nicht!

* werde mich hüten * wie die Französische Presse vor meinem Besuch in Rußland.

Vgl. dazu jedoch Bd. VI, Nr. 1365, S. 374 nebst Fußnote 354

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Schlußbemerkung des Kaisers: Rußland will, wir sollen ihm auf der Balkanhalbinsel durch irgend eine noch so unscheinbare Einmischung Gelegenheit geben, sich über uns zu beschweren, und mit einem Schein von Berechtigung dann über uns Friedensstörer und heim- tückische Verräter herfallen; indem es sich noch dazu mit der Gloriole moralischen Rechtes und gekränkten Vertrauens umgeben will.

Nr. 1614

Der Geschäftsträger in Petersburg Graf von Pourtal^s an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 243 St. Petersburg, den 24. September 1890

Geheim

Bei dem Besuche, den ich heute Herrn von Giers machte, sagte mir der Herr Minister, es liege ihm daran, sich über eine Angelegen- heit offen mir gegenüber auszusprechen, um dadurch ein mögliches Mißverständnis zu verhüten.

Wie er dem Kaiserlichen Herrn Botschafter vor dessen Abreise bereits angekündigt, habe er über die Unterredung, die er hier mit Euerer Exzellenz gehabt habe, eine Aufzeichnung an den Grafen Mu- rawiew mit dem Auftrage geschickt, dieselbe Euerer Exzellenz vor- zulesen. Seine Absicht sei dabei einmal gewesen, der russischen Bot- schaft in Berlin von dem anläßlich des jüngsten Besuches Seiner Majestät, unseres allergnädigsten Herrn, bei dem hiesigen Hofe stattgehabten Gedankenaustausch Kenntnis zu geben, andererseits Euere Exzellenz in die Lage zu setzen, etwaige Ungenauigkeiten in der Wiedergabe jener Unterredung richtigzustellen.

Nunmehr ersehe der Minister aus dem inzwischen eingegangenen Berichte des russischen Geschäftsträgers in Berlin mit größter Be- friedigung, daß Euere Exzellenz seine Aufzeichnung als genau mit der stattgehabten Unterredung übereinstimmend bezeichnet hätten; er ent- nehme aber aus dem Bericht zugleich, daß Graf Murawiew sich „par exces de zele"i habe verleiten lassen, von Euerer Exzellenz eine schrift- liche Gegenäußerung zu erbitten» eine Bitte, welche Euere Exzellenz unter Hinweis auf den Charakter gegenseitigen Vertrauens, den der Ge- dankenaustausch mit Herrn von Giers getragen habe, abgelehnt hätten.

Der Minister lej^t nun, damit, wie er sagte, auch nicht der Schatten eines Mißverständnisses auf das überaus befriedigende Ergebnis seiner ersten Begegnung mit Euerer Exzellenz falle, Wert darauf, Hoch- dieselben davon zu überzeugen, daß der russische Geschäftsträger bei dem an Euere Exzellenz gestellten Ansinnen ganz ohne Instruktion ge- handelt habe. Der sonst so gewandte Graf Murawiew habe hier eine Ungeschicklichkeit begangen ; offenbar habe er den Wunsch gehabt, daß die ihm von Euerer Exzellenz gegebene Erklärung durch schrift- liche Formulierung eine noch größere Bedeutung erlange. Dies sei

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jedoch nach des Ministers Auffassung gar nicht nötig gewesen; die Mitteilung seiner Aufzeichnung an Euere Exzellenz sei: „une com- munication de galant homme ä galant homme" gewesen, welche nicht „wie bei dem Verkehr zwischen Bankiers einer Quittung bedurfte".

Um mir zu beweisen, daß es ihm gänzlich fem gelegen habe, von Euerer Exzellenz irgendeine schriftliche Äußerung extrahieren zu wollen, las mir Herr von Giers sodann die ganze Aufzeichnung vor und be- tonte besonders die Stellen, in welchen dargelegt wird, daß er die Gründe, welche Euere Exzellenz bewogen hätten, die geheimen Ab- machungen mit Rußland nicht zu erneuern, vollständig zu würdigen wisse, und daß es im Hinblick auf die in Narwa und Peterhof in so erfreulicher Weise zum Ausdruck gelangten vertrauensvollen Beziehun- gen zwischen unseren beiden Herrschern sowie auf die in der offenen Aussprache zwischen Euerer Exzellenz und ihm hinsichthch gewisser Punkte zutage getretenen Übereinstimmung der Ansichten eines Schrift- stückes nicht bedürfe, es sich vielmehr ledigHch darum handele, „d'etablir un courant de confiance mutuelle".

Wenn somit Graf Murawiew, allerdings in bester Absicht, gewisser- maßen eine Quittung auf die Mitteilung dieser Aufzeichnung verlangt habe, so habe er hierin ganz auf eigene Faust gehandelt. „Sie sehen selbst", so schloß der Minister, „daß ich, bei den aufrichtigen loyalen Beziehungen, die zwischen uns jetzt bestehen, auf ein Schriftstück nicht den geringsten Wert lege."

Ich möchte dahingestellt lassen, ob nicht doch vielleicht der De- marche des russischen Geschäftsträgers der Wunsch des Herrn von Giers zugrunde gelegen hat 2, noch einen letzten Versuch zu machen, um von Euerer Exzellenz „ein Blatt Papier" zu erlangen, und nunmehr, wo dieser Versuch mißlungen ist, Graf Murawiew desavouiert wird.

F. Pourtales

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL: ^ Sollte er nicht dazu instruiert worden sein? 2 natürlich sicher Schlußbemerkung des Kaisers: Die Trauben waren zu sauer!

Nr. 1615

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler von Caprivi*

Nr. 272 St. Petersburg, den 9- November 1890

Ganz vertraulich

Es ist mir noch in frischer Erinnerung, wie an dem Tage, an welchem der Zarewitsch geboren wurde, eine Hofdame der erlauchten

* Bei der Bedeutung, die die Persönlichkeit des letzten russischen Herrschers für die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen gewonnen hat, mag der aus-

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Mutter mir erzählte, diese habe, mitten in der vollen Freude, einen Sohn zu besitzen, besorgt ausgerufen: „Wem werde ich seine Er- ziehung anvertrauen können?" Diese Frage war wohl berechtigt am Hofe Alexanders II., und noch mehr wäre sie es heute; sie ist auch nie beantwortet worden, denn Nikolaus Alexandrowitsch hat nie einen Erzieher in dem an Höfen geltenden Sinne gehabt; er ist aufgewachsen zwischen Vater und Mutter in einem durch innige Zuneigung eng verbundenen Familienkreise, dessen Frohsinn weder durch die ihn bedrohenden Gefahren, noch durch die zum Schutze notwendige Ab- geschlossenheit getrübt worden ist.

An Lehrern hat es dem Thronfolger natürlich nicht gefehlt, aber keiner von ihnen, auch Herr Pobedonoszew nicht, ebensowenig wie sein nomineller Gouverneur, General Danilowitsch, hat Einfluß auf ihn gewonnen; dieser Offizier war seinerzeit vom Kriegsminister Mi- Ijutin zu der verantwortungsvollen Aufgabe, den Thronerben zu erziehen, berufen worden; er war, dem Geiste seines Meisters entsprechend, ein radikaler und nationaler Doktrinär, ehrlich und gewissenhaft; näher als dieser MiHtär stand dem Prinzen ein Zivilist, ein Engländer, Mr. Heath, welcher mehr mit gymnastischem als mit wissenschaftlichem Unterricht betraut war und sich die Zuneigung der kaiserlichen Kinder zu erwerben wußte; mit vielen guten Eigenschaften verbindet er ein hübsches Talent für Aquarellmalerei. Gouverneurs und Gouvernanten im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es am Kaiserhofe nicht; eine dänische Dame, Frau von Flothow geborene von Greschau, nimmt eine Vertrauensstellung in dem hohen Hause ein, hat aber mit der Erziehung nichts zu tun.

Die ersten tiefen Eindrücke, welche der damals neunjährige Prinz empfing, wurden durch die Teilnahme seines erlauchten Vaters am Türkenkriege und durch das Elend, welches letzterer mit sich brachte, erzeugt; als der Großfürst 13 Jahre zählte, warfen die furchtbaren Ereignisse, welche mit der Ermordung des Großvaters ihren Abschluß fanden, dunkle Schatten auf alles, was ihn umgab; mit 18 Jahren ent- ging er nur durch die im letzten Augenblicke erfolgte Entdeckung des Attentats vom 13./1. März 1887 den Bomben, welche den Wagen, in dem er mit seinen Eltern saß, zerschmettern sollten ; im darauffolgenden Jahre sah er sich mit Eltern und Geschwistern durch ein Wunder gerettet zwischen Toten und Sterbenden unter den Trümmern eines Bahnzuges.

Die Wirkungen solcher erschütternder Ereignisse auf das Gemüt des Knaben werden vielleicht zu erkennen sein, wenn er zum Manne

führliche Bericht Schweinitz' über die Einflüsse, denen er als Thronfolger aus- gesetzt gewesen ist, und über seine Reise nach dem fernen Osten unverkürzt zum Ausdruck gelangen, obgleich er etwas aus dem Rahmen des Kapitels herausfällt.

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herangereift ist; die glückliche Jugendzeit haben sie nur momentan getrübt; länger als bei den meisten, viel länger als bei andern Hoch- stehenden, dauerte sie dem russischen Prinzen; weder durch vorzeitige Teilnahme an Vergnügungen junger Männer, noch durch militärische Spielereien wurde sie gestört, und übermäßiges Lernen hat die Wangen des zwar kleinen, aber regelmäßig entwickelten Jünglings nicht ge- bleicht; auch die Umgebungen, in deren Mitte er aufwuchs, die Herren und Damen des kleinen Hofes von Oatschina, sind „nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt"; ich wüßte unter ihnen allen nicht einen zu nennen, der durch Gespräche anregend oder durch sein Bei- spiel anfeuernd auf den Zarewitsch hätte wirken können; sie haben indessen auch nichts verdorben; hiergegen gewährte das innige Ver- hältnis zwischen dem Sohne und den liebevollen Eltern genügenden Schutz.

So wenig nun auch die Personen, die den Ring von Gatschina bilden, durch Intelligenz und Bildung hervorragen, so sind sie doch klug genug, um alle, die klüger sind als sie, fernzuhalten ; ihr Be- streben, nur Mittelmäßigkeiten in die Nähe der Machtquelle gelangen zu lassen, ist selten von glänzenderem Erfolge gekrönt worden als jetzt bei der Wahl der zur Reisebegleitung des Thronerben berufenen Personen.

Ein bemerkenswerter Zug im Charakter der meisten Mitglieder des russischen Kaiserhauses ist die große Beständigkeit in ihren Zu- neigungen; an drei oder vier hohen und traurigen Beispielen läßt sich nachweisen, daß großes Unheil nicht durch flatterhaften Leichtsinn, sondern durch zu feste Anhänglichkeit an eine und dieselbe Person herbeigeführt wurde. Ebenso beständig sind diese hohen Herren in dem Vertrauen und in der Freundschaft, die sie Männern schenken: die jungen Leute, welche Alexander IL bei der Reise, die er als Thron- folger zur Brautschau unternahm, begleiteten, sind bis an sein Lebens- ende in seiner Nähe geblieben und von ihm begünstigt, befördert oder, wenn sie durch eigene Schuld tief sanken, unterstützt worden; sie ge- nossen das wertvolle Privilegium, bei ihm einzutreten, wenn er sich rasierte; mancher von ihnen hat in meinem Zimmer im Palais von Zarskoe Selo, morgens gegen 8 Uhr, diesen kostbaren Moment ab- gewartet

Nicht viel anders ist es bei dem jetzigen Kaiser: außer dem Fürsten Peter Wolkonsky, der es als Stallmeister gar zu arg trieb, hat Alexan- der III. fast alle Begleiter seiner Jugendzeit noch heute um sich. Nach solchen Erfahrungen kam es den Interessierten darauf an, bei der be- vorstehenden zehnmonatlichen Reise des künftigen Herrschers keine Leute in seine Nähe zu bringen, die später gefährliche Konkurrenten werden könnten; nur hierdurch ist es zu erklären, daß Fürst Baria- tinsky auf eine Stelle berufen wurde, die nur durch einen Mann aus-

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gefüllt werden kann, welcher Takt, Erfahrung, Kenntnisse mit welt- männischer Bildung vereint.

Der Generalmajor Fürst Wladimir Anatolowitsch Bariatinsky war, als ich ihn vor 25 Jahren kennenlernte, ein bildhübscher junger Mensch, herzensgut, wenig begabt, und gehörte zum intimen Freundeskreise des damaligen Thronfolgers ; er trank ziemHch viel, war aber sonst nicht besonders ausschweifend; als er sich in die Hofdame Schukowski, die spätere Geliebte, ja sogar angetraute Gemahlin des Großfürsten Alexis verliebte, wurde er von seiner Mutter, der Fürstin Olympia, nach Tasch- kent expediert, wo er einen Feldzug mitmachte; nach seiner Rückkehr heiratete er eine sehr reiche Gräfin Steinbock, mit deren Gelde er die Schulden seiner Eltern tilgte; beim Regierungsantritt des jetzigen Kaisers wurde er Oberjägermeister, mußte aber dieses Amt nieder- legen, weil er schon mehrere Schlaganfälle gehabt hat; von ihm ist also für eine ferne Zukunft keine Rivalität zu besorgen.

Die jüngeren Begleiter des Zarewitsch sind: der Flügeladjutant, Leutnant Fürst Obolensky, bisher Regimentsadjutant bei der Garde zu Pferde; er ist ein Vetter des Hofmarschalls gleichen Namens und ein Bruder des Fürsten Obolensky, welcher mit einer Tochter des Herrn Polowtsow verheiratet ist; seine Aussichten für die Zukunft sind also die günstigsten ; ferner zwei Stabsrittmeister, von den Gardehusaren Wolkow und Fürst Kotschubey von der Chevaliergarde.

Es würde unbegreiflich erscheinen, daß man den jungen Prinzen unter dieser Obhut eine solche Reise antreten läßt, wenn nicht der Konteradmiral Bassargin, welcher die „Pamjat-Asowa" befehligt, das volle Vertrauen beider Majestäten genösse, denen er als Flaggenkapitän der kaiserlichen Eskadre genau bekannt ist. Der Admiral kann aber die schwere auf ihm ruhende Verantwortung doch nur auf dem Wasser tragen, und noch mehr als an Bord bedarf Telemach auf dem Fest- lande eines Mentors; dies scheint man erst kurz vor dem Antritt der morgenländischen Reise erkannt zu haben; der russische Gesandte in Athen wurde also hierher berufen und beauftragt. Seine Kaiserliche Hoheit zu begleiten; ob nur bis Suez oder bis Indien, ist noch un- bestimmt. Herr Onou, ein Levantiner, hat sich durch seine Geschick- lichkeit als Dragoman der russischen Botschaft in Konstantinopel und durch seine Heirat mit der Pflegetochter des verstorbenen Baron Jomini aus der Subalternlaufbahn zum Gesandten aufgeschwungen; er ist tief eingeweiht in alle Gänge, welche die russische Orientpolitik sowohl zur Zeit Ignatiews als nach dem Kriege verfolgte; auch seine archäo- logischen Kenntnisse werden gerühmt, aber da er gar keine echt- russischen Verbindungen hat und kein homme du monde, kein Kavalier ist, so glauben diejenigen, welche ihn jetzt zu dem Vertrauensposten vorschlugen, nicht befürchten zu müssen, in ihm einen Minister der auswärtigen Angelegenheiten in Zukunft erstehen zu sehen.

Jedenfalls ist Herr Onou wohl befähigt, in Griechenland und in

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Ägypten «dem hohen Reisenden gute Ratschläge und belehrende Aus- kunft zu erteilen und die Korrespondenz mit den fremden Autoritäten zu führen; zu letzterem Zwecke hat sich übrigens Fürst Bariatinsky noch kurz vor der Abreise einen sprachkundigen und weitgereisten jungen Beamten, den Fürsten Uchtomsky, attachieren lassen.

Der Aufenthalt in Indien soll 49 Tage währen; auf meine Frage, warum eine so lange Dauer für eine Reise in Aussicht genommen sei, deren Nutzen in keinem richtigen Verhältnis zu dem Werte der Zeit und der Gesundheit des Thronfolgers stehe, wurde mir geantwortet, der Hafen von Wladiwostok werde nicht vor dem 1. Mai eisfrei, und diese 5 Monate müsse man also auszufüllen suchen. Warum aber dann die Abreise nicht hinausgeschoben wurde, wußte mir niemand zu sagen, ebensowenig wie man mir die Frage beantworten konnte, wer denn eigentlich der geistige Urheber des Reiseplanes sei und wer die Einzeln- heiten desselben in geographischer, wissenschaftlicher, sanitärer und politischer Beziehung ausgearbeitet habe.

Den nautischen Teil dieser so wichtigen Vorstudien hat Admiral Bassargin übernommen, im übrigen aber scheint wenig vorgearbeitet worden zu sein, außer vom Zarewitsch selbst, dessen persönlichen Wün- schen von seinem erlauchten Vater gern entsprochen wird, denn Kaiser Alexander betrachtet ihn jetzt als erwachsen und zu selbständigem Denken und Handeln reif.

Was nun den langen Aufenthalt In Britisch-Indien anbetrifft, so ist wohl anzunehmen, daß sich der Großfürst, welcher englisch wie seine Muttersprache redet, ganz der englischen Führung überlassen wird; ob Sir Mackenzie Wallace, der ehemalige Sekretär Lord Dufferins, der Aufforderung, über welche ich unlängst zu berichten mich beehrte, Folge leisten wird, ist noch nicht bekannt geworden; neuerdings aber habe ich gehört, daß Mr. Hardinge, Botschaftssekretär in Konstanti- nopel, der mehrere Jahre als Sir Robert Moriers nützlichster Arbeiter hier war und sehr unterrichtet, gewandt und tätig ist, berufen wurde, den russischen Gästen, deren Sprache er kennt, in Indien zur Seite zu stehen.

Dem hiesigen holländischen Gesandten ist amtlich gesagt worden, daß Seine Kaiserliche Hoheit Ende Februar, ich glaube am 24., in Batavia einzutreffen und einige Tage dort zu verweilen gedenkt.

Die Mitteilung, welche mir der chinesische Geschäftsträger vor einigen Monaten machte, wonach der Hauptstadt Chinas ein offizieller Besuch zugedacht sei, wird sich nicht bestätigen; wohl aber dürfte dem japanischen Hofe diese Auszeichnung widerfahren; die russische Re- gierung läßt ja überhaupt keine Gelegenheit, sich Japan zu verpflichten, ungenutzt vorübergehen.

Der wichtigste Abschnitt der Reise des Thronerben, der be- lehrendste für ihn, der fruchtbringende für sein Vaterland, beginnt dort, wo er den Fuß auf russischen Boden setzen wird, in Wladiwostok.

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Selbst wenn der zweite Teil des weitreichenden Reiseprogramms nicht vollständig zur Ausführung kommen sollte, so würde schon die Erwartung, daß der Zarewitsch quer durch Sibirien fahren will, große Fortschritte zur Folge haben; man darf annehmen, daß schon heute viele Tausende geschäftiger Hände Straßen und Brücken ausbessern, Gefängnisse reinigen, Spitäler in Stand setzen und zu beiden Seiten des 8000 Werst langen Weges Potemkinsche Dörfer bauen, aus denen, ebenso wie in Südrußland, im Laufe eines halben Jahrhunderts blühende Städte werden können.

Herr von Oom, vortragender Privatsekretär Ihrer Majestät der Kaiserin, welcher ebenso wie General von Richter vom verstorbenen Thronfolger in den Dienst des Kaiserpaares übertrat und trotz mancher Anfeindungen in seiner Vertrauensstellung blieb, hat, wie er mir streng vertraulich erzählte, den General Danilowitsch gefragt, ob er denn den Zarewitsch einigermaßen auf dasjenige vorbereitet habe, was er in Sibirien zu sehen bekommen werde, und worauf er seine Aufmerksam- keit richten solle. Herr von Oom hat hierbei besonders auf das De- portationssystem hingewiesen, auf welches durch das Kennansche Buch die Aufmerksamkeit Amerikas und Europas neuerdings gelenkt wurde. Der Erzieher hat erwidert, dies sei nicht geschehen und sei auch nicht nötig; jene Orte lägen weit ab vom Wege des Großfürsten. An diesen hat sich nun der biedere Geheimrat Oom direkt g^ewendet, und Seine Kaiserliche Hoheit hat ihm geantwortet: „Lassen Sie den Alten nur reden, ich werde doch alles sehen, was ich sehen wilL"

Nach meiner unmaßgeblichen Ansicht ist der Reiseplan des Zare- witsch nicht genügend durchdacht; unter anderem scheint mir die Wagenfahrt durch das Land zwischen dem Amur und dem Baikalsee Ende Mai oder Anfang Juni sehr schwierig. Wenn man das Pro- gramm, so wie es jetzt besteht, einhält, so würde der Großfürst erst im August hierher zurückkehren, um bald nachher seine erlauchten Eltern nach Kopenhagen zu begleiten und dann, heute übers Jahr, am 9. November 1891 ihre silberne Hochzeit in St. Petersburg mit ihnen zu feiern.

Es ist wohl eine merkwürdige Erscheinung, daß der russische Thronerbe aus eigenem Antriebe seinen ersten freien Flug nicht dorthin nimmt, wo sich Genüsse jeder Art einem zweiundzwanzigjährigen Prinzen bieten, sondern nach dem fernen Osten, wohin Rußland zum eigenen und zu unserem Besten mehr und mehr seine Blicke richtet; der Reihe hierauf deutender Anzeichen, dem Bau der transkaspischen Bahn, der Reise des Finanzministers nach Merw und Turkestan und den Entwürfen sibirischer Schienenwege schließt sich die Reise des Zarewitsch bedeutungsvoll an.

v.Schweinitz

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Nr. 1616

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß

Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein

Nr. 39 Berlin, den 30. Januar 1891

Geheim [abgegangen am 2, Februar]

Gestern abend brachte Graf Schuwalow, unbefangen und sehr heiter, das Gespräch auf die deutsch-russischen Beziehungen. Er be- urteilte dieselben als günstig, beklagte aber den Mangel jedes vertrags- mäßigen Bandes. Wir hätten doch ein solches mit Österreich. Aller- dings habe dieses Abkommen einen defensiven Charakter. Aber was wir z. B. tun würden, wenn Rußland nach Bulgarien hineingehe? Nicht, daß man im geringsten diese Absicht habe, aber die Möglichkeit sei doch gegeben. Der Botschafter hob dabei hervor, daß der vom Fürsten Bismarck so eifrig vertretene Gedanke einer geographischen Teilung der balkanischen Interessensphären zwischen Rußland und Österreich gänzlich undurchführbar sei.

Die Form der Äußerungen war halb scherzhaft, halb akademisch. Nur der Umstand, daß Graf Schuwalow mit den verschiedenartigsten Windungen mehrfach auf dieselben Punkte zurückkam, gestattet die Annahme, daß es sich vielleicht um eine Rekognoszierung handelte.

Ich hielt mich an die Form und vermied eingehende Erörterungen, indem ich auf den allmähUch bekannt gewordenen Inhalt (ier Ab- machungen verwies.

Dies zu Euer pp. persönlichen Information.

Marschall

Nr. 1617 Der Konsul in Kiew Raffauf an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 1000 Kiew, den 23. März 1891

Die mannigfachen Ereignisse, welche die europäische Politik in neuester Zeit brachte, haben hier nur wenig Eindruck gemacht. Was speziell Deutschland angeht, so verhält sich die russische Presse höhnisch, und das Publikum vermag nicht im entferntesten sich ein Bild von den dortigen Vorgängen zu machen. Es behilft sich mit der Annahme, daß immer mehr in Deutschland alles drunter und drüber gehe. „Neuer Kurs'' bedeutet für die Leute so viel, daß das deutsche Reich der Auflösung entgegentreibt.

Das Verständnis für deutsche Verhältnisse, daß in gewisser Be- ziehung ebenso wie das Interesse früher unzweifelhalft vorhanden war,

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ist in den letzten Jahren verwirrt worden. Über diesen Punkt sind mir von verschiedenen Seiten schon des öfteren Bemerkungen gemacht worden. Neuerdings hat sich hierüber ein angesehener und hoch- gebildeter Russe folgendermaßen ausgesprochen*

„Wie sollten wir uns wohl hier eine Meinung über Deutschland bilden können! Niemand liest eine deutsche Zeitung. Wer eine solche halten wollte, würde sie ja doch nur geschwärzt und somit verstümmelt in die Hand bekommen. Kann man es uns also verargen, wenn wir uns mit unseren russischen Zeitungen begnügen? Wir sind seit Jahren ge- wöhnt, unausgesetzt Anschuldigungen der schlimmsten Art gegen Deutschland in unseren Blättern zu lesen. Wir sehen und hören aber fast nie etwas von Widerlegung dieser Anschuldigungen. Kann man sich da wundern, wenn der Deutschenhaß immer mehr bei uns Fort- schritte macht? Und eigentlich war es anfangs nur eine Handvoll Schreier, die gegen Deutschland zu Felde zog. Habt Ihr irgend etwas getan, um gegen diese Schreier einen Wall zu errichten? Kein be- rufener Verteidiger ließ sich vernehmen gegenüber jenen Angriffen*. So wuchs der Chor, und die russische Gesellschaft leistete allmählich Heeresfolge, bis es schließhch zum guten Ton geworden ist, deutsch- feindlich zu sein."

TatsächHch steigt der Deutschenhaß herab in immer breitere Volks- kreise. Die „Erziehung durch die Presse" tut eben unbehindert ihre Dienste. Auch in der Klasse der Gewerbetreibenden, bei denen noch vor drei Jahren garnichts von Feindseligkeiten gegen den „Nemetz" zu merken war, gewinnt der Haß gegen Deutschland immer mehr Boden.

Schien an einer Stelle sich eine Besserung zu zeigen, nämlich in der Beurteilung der Persönlichkeit Seiner Majestät unseres Kaisers, so haben die allerneuesten Ereignisse in Deutschland diesen Fortschritt wie- der hinweggeschwemmt. Jetzt ist die Auffassung zurückgekehrt, die man sich früher entworfen, vielleicht noch in verstärktem Maße. Vor allem konstatiert man und das mit sichtlicher Genugtuung , daß der deutsche Kaiser seinem ganzen Charakter nach wohl imstande wäre, sich eines Tages zu einem Kriege gegen Rußland fortreißen zu lassen. Und das wäre es grade, was die meisten hier wünschen. Zu diesem engeren Thema gehört die Schadenfreude, mit der man die neuesten Ereignisse in Deutschland begrüßt. Bei jedem neuen Vorgang glaubt man nach einem Grunde zur Freude in Rußland suchen zu müssen, pp.

Raffauf

* Anmerkung im Berichte Raffaufs: Es mag hier daran erinnert werden, daß der „Kiewljanin", mit dem das Konsulat in Fühlung getreten, durch sein Eintreten ifür die deutschen Kolonisten doch manches erreicht hat. Wenigstens wagen es die kleinen Kläffer, wie der „Wolhynetz" und der .,\Veltzin", nicht mehr so leicht- hin, Artikel gegen den „Nemetz" zu bringen, aus Furcht, daß ihnen ein größerer, der „Kiewljanin", in den Nacken kommt.

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Nr. 1618

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 195 St. Petersburg, den 18. Juni 1891

Ganz vertraulich

Das russische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten macht seinen Jahresabschluß altem Gebrauche gemäß zu Ostern, und um diese Zeit legt der Minister seinem Souverän eine Übersicht über die politische Gesamtlage vor; dies hat sich im laufenden Jahre wegen wiederholter Trauerfälle und wegen der Moskauer Reise Seiner Maje- stät verzögert und ist erst vorgestern geschehen.

Herr von Giers erzählte mir, sein Jahresbericht sei im ganzen recht befriedigend ausgefallen und er habe sich dabei überzeugen können, daß der Kaiser Alexander fester als je sei in den Grundsätzen und Überzeugungen, welche die bisher befolgte friedfertige Politik auch für die Zukunft sicherstellen.

„Der Kaiser", so sagte der Minister unter anderem, „ist so ent- schieden abgeneigt, kriegerische Machtmittel anzuwenden, daß er auch „nach der anderen Seite hin", nämlich gegen Persien, nicht drohen will, obgleich man uns dort fortwährend Schwierigkeiten an der Grenze macht."

„Im allgemeinen", so fuhr Herr von Giers fort, „ist die Lage gut mit Ausnahme der einen Stelle, wo die schmerzende Wunde noch immer nicht geheilt ist, nämlich in Bulgarien, aber auch dort ist Seine Majestät fest entschlossen, nichts zu tun, sondern dieselbe abwartende Haltung zu bewahren wie bisher."

Bei flüchtiger Musterung des Gesamtbildes, welches die diplo- matische Situation bietet, sagte Herr von Giers, diese sei ruhiger ge- worden, seit Herr Crispi nicht mehr im Amte sei*; „einen solchen Mann in die gute Gesellschaft aufzunehmen, war kein glücklicher Griff des Fürsten Bismarck; aber freilich war der Fürst damals von hier aus gar zu sehr provoziert worden" i; diese Bemerkung führte den Herrn Minister zurück in die Erinnerung an jene schweren Zeiten, in denen er den entscheidenden Kampf gegen Katkow siegreich bestand.

„Sie erinnern sich", sagte Herr von Giers, „daß Seine Majestät damals Katkow befahl, zu mir zu gehen, und daß ich ihn nicht empfing; als mich der Kaiser dann fragte, warum ich mich geweigert habe, Katkows Erklärungen anzuhören, antwortete ich: „Euere Majestät würden aufgehört haben, mich zu achten 2, wenn ich es getan hätte." Der Kaiser hat mir später recht gegeben und die Erfahrungen jener Zeit sind ihm von großem Nutzen gewesen."

* Er hatte am 31. Januar seine Entlassung genommen. 364

Ich versicherte Herrn von Oiers, daß ich ihm zu seinem gün- stigen Jahresabschluß aus voller Überzeugung Glück wünschen könne; das Ansehen Rußlands und das Vertrauen in die guten Absichten und den edlen Charakter seines Kaisers habe bei Fürsten und Völkern zu- genommen; „aber", so fügte ich hinzu, „dabei marschiert ein Ba- taillon, ein Regiment, eine Division nach der anderen von Norden, Osten und Süden nach dem Westen" 3. ^^SoUte dies wirklich wahr sein?" entgegnete er*; „ja", sagte ich, „hierüber ist kein Zweifel mög- lich, und wenn Sie es wünschen, kann ich es Ihnen einzeln aufzählen." Hierauf antwortete Herr von Giers: „Man sagt mir immer ^ (hiermit meinte er die Generale), Österreich wolle Krieg mit uns; natürlich nicht allein, sondern mit Ihrer Hülfe." Ich erwiderte, daß er dies doch un- möglich glauben könne; wenn Österreich für seine bedrohte Sicher- heit sorge, so sei dies nur zu berechtigt, pp.

V. Schweinitz

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:

1 ?

2 bravo! s richtig

* Aber!! das ist stark.

* Matte Ausrede! „Man sagt"! geht ihn doch nichts an; sehe er doch mit eignen Augen

Schlußbemerkung des Kaisers:

Wir werden sehn. Im übrigen, they go on drifting as before.

Nr. 1619

Der Geschäftsträger in Petersburg Alfred von Bülow an den Reichskanzler von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 366 St. Petersburg, den 25. November 1891

Vertraulich

Der Kaiserliche Botschafter, welchem die langsam fortschreitende Besserung gestattet, täglich nur einen oder zwei seiner nächsten Be- kannten im Krankenzimmer zu empfangen, hat gestern für Herrn Pobe- donoszew eine Ausnahme gemacht, weil es Seiner Exzellenz nützlich erschien, die Anschauungen des Oberprokurators des heiligen Synods gleich nach Rückkehr desselben aus der Krim kennenzulernen.

Der Herr Botschafter hat mit Herrn Pobedonoszew ein längeres Gespräch gehabt. Der Oberprokurator des heiligen Synods ändert seine Ansichten bekanntlich nie. Alle Argumente, welche gegen die- selben vorgebracht werden können, kennt er, will sie aber nicht gelten lassen, sondern verfolgt sein Ziel, Einheit in Religion, Sprache und Nationalität in Rußland herzusiellen, in rücksichtslosester .Weise.

365

Diejenigen Äußerungen des Herrn Pobedonoszew, welche, ohne wesentlich Neues zu bringen, besonderes Interesse bieten und ein cha- rakteristisches Licht auf hier verbreitete irrige Anschauungen werfen, hat der Herr General aufgezeichnet und mir zu vertrauHcher dienst- licher Verwertung übergeben.

Euerer Exzellenz verfehle ich nicht, diese Aufzeichnung* ehr- furchtsvoll zu überreichen.

A. von Bülow

Anlage

Aufzeichnung Seiner Exzellenz des Herrn Botschafters, eine Unterhaltung mit Herrn Pobedonoszew betreffend.

Nachdem Herr Pobedonoszew über den Notstand und über die Schwierigkeiten gesprochen hatte, welche die Ausdehnung der be- troffenen Gebiete, der Charakter des Landvolks, der Mangel an ge- eigneten Organen usw. der Regierung bereite, erwähnte er mit Teil- nahme der vielen Krankheits- und Todesfälle, durch welche der russische Hof heimgesucht wurde, und gab seiner tiefen Betrübnis über das Hin- scheiden der Großfürstin Paul** Ausdruck. Gerade diese Ehe, die ein- zige, welche zwischen einem jüngeren Großfürsten und einer wirklich orthodox geborenen Prinzessin bestanden, lag dem Oberprokurator des heiligen Synods ganz besonders am Herzen. Am Schlüsse seiner trüben Betrachtungen sagte Herr Pobedonoszew: „und bei allem diesem die schreckliche Ungewißheit! Die fürchterliche Gefahr eines Krieges!"

„Was für einen Krieg meinen Sie denn?" fragte ich (Herr von Schweinitz). „Ich sehe keine neue Kriegsgefahr als diejenige, welche der Kaiser von Rußland durch seine Behandlung der Franzosen und deren hierdurch gesteigerten Übermut geschaffen hat."

Es war hier und im Auslande die Meinung verbreitet, daß Herr Pobedonoszew die Verbrüderung mit der gottlosen Nation gemißbilligt habe. Die Antwort des Oberprokurators des heiligen Synods belehrte mich eines anderen. Er gab zwar zu, daß besonnene Männer die Über- treibungen tadelten, zu denen der Kronstädter Besuch*** geführt habe. Doch stellte sich Herr Pobedonoszew nichtsdestoweniger sehr ent- schieden auf jenen Standpunkt, welchen Herr von Giers einnimmt, wenn er hervorhebt, daß Rußland durch die Tatsachen und die Art der Er- neuerung des Dreibundes sowie durch die Aufnahme unseres alier- gnädigsten Herrn in England bedroht wurde und nicht länger allein bleiben durfte.

Herr Pobedonoszew sagte weiter, Rußland habe überall, außer

* Siehe Anlage.

** t 24. September 1891.

*♦* Über den Besuch der französischen Flotte in Kronstadt (23. Juli bis 8. August)

und dessen Rückwirkung auf die deutsch-russischen Beziehungen siehe Kap. XLVII.

366

eben in Frankreich, nur Feinde. Diese seine Behauptung ist nicht ganz unrichtig, insofern das System Pobedonoszews in direi<tem Widerspruch mit allen heiligen und auch mit allen materiellen Interessen der Mensch- heit steht.

Ich will aus der Darlegung des Genannten noch zwei Sätze an- führen; „Beobachten Sie das schnelle Heranwachsen der deutschen Sozialdemokratie," so sagte der Oberprokurator, „lesen Sie Bebeis Reden! Jene mit erschreckender Schnelligkeit an Macht gewinnende Partei, welche den Krieg im allgemeinen verwirft, fordert ihn gegen uns, nur ^gegen uns."

Dann sprach Herr Pobedonoszew über den Haß Englands gegen Rußland. Der Oberprokurator des heiligen Synods ist in ungewöhn- lichem Maße mit der englischen und nordamerikanischen Literatur ver- traut, vorzugsweise mit der theologischen und soziologischen. Er liest viele reviews, korrespondiert auch mit hohen Mitgliedern der angli- kanischen Kirche, kurz: er hat einen weiten Überblick über das un- geheure Gebiet von politischen Interessen und Kulturbestrebungen, auf welchem sich die anglosächsische und die russische Welt schroff gegen- überstehen. Nun ist Herrn Pobedonoszew nicht entgangen, daß die Zahl seiner anglikanischen Freunde abnimmt, während die .\ngriffe gegen ihn sich mehren. Er klagt über die vielen Lügen, welche von England aus über Rußland und speziell über ihn verbreitet werden, wie z. B. jetzt über Studentenunruhen in Moskau, Verhaftungen, sowie Verschickung von armenischen Bischöfen, Stundisten, Molokanen und anderen Sektierern. An alledem sei kein wahres Wort.

Als Herr Pobedonoszew nochmals auf die Unsicherheit der gegen- wärtigen Lage zurückkam und uns alle Schuld daran zuschob, konnte die Truppenanhäufung im Westgebiet nicht unerwähnt bleiben. Der Oberprokurator des heiligen Synods sieht darin nichts, als die unabweis- liche Deckung gegen überraschende Angriffe. Ich sagte, „wir hätten nichts dagegen, daß Rußland auf einem Gebiet, welches so groß wie Deutschland sei, ebenso viele Truppen aufstelle, wie wir in Friedens- zeiten überhaupt haben; das Herausfordernde und Bedrohliche liege darin, daß Massen von marschbereiter Kavallerie und vollständig be- spannter Artillerie unmittelbar an der Grenze lägen".

Der Oberprokurator, welcher sich weder mit militärischen noch mit diplomatischen Fragen befaßt, entgegnete mir, „Rußland müsse jeden Augenblick gewärtig sein, von uns angegriffen zu werden, und zwar ohne Kriegserklärung. Von Seiner Majestät Kaiser Wilhelm sei dergleichen wohl zu erwarten"! „Haben Sie wirklich", so unterbrach ich Herrn Pobedonoszew, „schon jemanden begegnet, der so etwas glaubt?" „Gewiß," lautete die Antwort Pobedonoszews, „alle halten es für möglich, und wenn man so manches in Betracht zieht, so kann man nicht anders, als an eine solche Gefahr glauben. Bei uns sagen daher alle: ,Gott behüte uns vor dem Kriege!'"

367

Nr. 1620

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 40 ,Wien, den 9. Ftbruar 1892

Als wir gestern über die serbischen Angelegenheiten* und über die Haltung Rußlands redeten, knüpfte Graf Kälnoky daran einige all- gemeine Betrachtungen über die politische Lage.

Es sei auffallend, so äußerte er, daß, wie er mir schon neulich ein- mal gesagt, in St. Petersburg das Bewußtsein der bedenklichen inneren Lage noch so wenig zum Durchbruch gekommen zu sein scheine. Fürst Lobanow habe ihm selbst eingestanden, daß von militärischer Seite zum Kriege gehetzt würde. Auch sei nicht zu bemerken, daß irgendein Stillstand in den militärischen Vorbereitungen an unseren Grenzen ein- getreten sei. Wenn es auch begreiflich wäre, daß man die ungeheuren Mundvorräte in den polnischen Magazinen als eisernen Bestand kon- servieren wolle, so wäre es doch wohl natürlich gewesen, wenn man den für den Kriegsfall aufgespeicherten Überfluß für die hungerleidenden Provinzen verwendet haben würde i. Es hätte fast den Anschein, als wenn die Kriegspartei, die sich doch wohl klar sein müßte, daß Ruß- lands Kraft auf Jahre hinaus lahm gelegt sein werde, die augenblick- lich noch bestehende Kriegsbereitschaft benutzen und im Frühjahr einen coup de tete machen wolle.

Trotz dieser bedenklichen Anzeichen glaube er aber nicht an eine drohende Kriegsgefahr. Inwieweit der Zar von dem Zustande seines Reiches unterrichtet sei, könne man nicht wissen ; aber obgleich man ihm sicherlich vieles verberge, so scheine es doch in seinem Kopfe aufzudämmern. Die plötzliche Entlassung des Verkehrsministers** deutete darauf hin, wie er doch zu merken anfange, daß nicht alles mit rechten Dingen zuginge. Auch spräche man von der Entfernung des unfähigen Ministers des Innern***, Die sprunghaft angeordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Hungersnot deuten außerdem auf ein gewisses Un- behagen in den höchsten Kreisen Rußlands hin.

Jedenfalls bestehe dies Gefühl des Unbehagens, und es sei eine alte psychologische Beobachtung, daß man in diesem Zustande, wenn noch die Selbstverschuldung hinzutritt, besonders empfindlich sei. Eine solche Empfindlichkeit treibe aber nur zu leicht zu unüberlegten Schritten.

Wir hätten in der Hungersnot einen unerwarteten Bundesgenossen gefunden; er sei aber der Ansicht, daß man gerade deshalb noch viel vorsichtiger in der Behandlung Rußlands sein müsse, als dies über-

Vgl. Bd. IX, Kap, LV. ** A. T. Hübbenet. •** J. D, Durnowo.

368

J

haupt schon geboten sei. Würde man dort den Verdacht schöpfen, daß Österreich, auf diesen Bundesgenossen zählend, sich etwa etwas ungeniertere Bewegungen in seiner Orientpolitik aneignen sollte, so würde dies die russische Empfindlichkeit nur steigern. Fänden wir und Österreich mit Recht, daß die militärischen Vorbereitungen Rußlands etwas gar zu ungeniert betrieben würden, so würde es ratsam sein, sich nicht merken zu lassen, daß man dies nicht gerade als Freundlich- keit auffasse. Kühl, höflich und abwartend, in keinem Fall heraus- fordernd 2, das sei seine Devise. Dem Gifte, welches in das innerste Mark des russischen Kolosses eingedrungen sei, müsse man sein Zer- störungswerk überlassen. Was daraus entstehen werde, sei nicht ab- zusehen; für jeden Fall könnten wir aber mit einiger Bestimmtheit darauf rechnen, daß Rußland uns während einiger Jahre in Ruhe lassen werde, wenn es nicht provoziert würde.

Hierzu gehöre eine größtmöglichste Entfaltung einer prononcier- ten österreichischen Politik in den Balkanländern; mit mehr Sorgfalt als je, würde er, Graf Kälnoky, sich derselben enthalten, und sich namentlich nicht in die bulgarischen Angelegenheiten mischen.

Fürst Bismarck habe ihm seinerzeit öfter sein System auseinander- gesetzt, was darauf hinauslief: Rußland den Krieg zu machen, sei eine mißliche Sache, weil weder Deutschland noch Österreich im glücklich- sten Falle dabei gewinnen könnten. Deshalb müsse man lavieren, um einem Bruche vorzubeugen. Der Fürst habe, ohne mit Sicherheit be- zeichnen zu können, was kommen würde, immer mit Bestimmtheit vorausgesagt, daß etwas kommen würde, was den morschen russi- schen Staatsorganismus unterminieren und dieses, heut so gefährliche Reich, für seine Nachbarn unschädlich machen würde.

Er, Graf Kälnoky, habe sich dieser Ansicht auf Grund seiner Kenntnis Rußlands immer angeschlossen. Dieses Etwas scheine nun- mehr gekommen zu sein, man müsse demselben seinen Lauf lassen.

Als sehr bemerkenswert und für die allgemeine Lage wichtig, bezeichnet der Minister die Erscheinungen in Frankreich. Auch hier scheine man die Augen offen zu halten und zu bemerken, daß es mit den großen, auf die russische Allianz gebauten Hoffnungen nicht so glänzend aussähe, wie man dies französischerseits im letzten Sommer gern annehmen wollte*. Der Rausch von Kronstadt sei schon sehr ver- flogen, und die russische Presse selbst habe dazu beio^etragen, die französischen Hoffnungen zu ernüchtern. In Frankreich aber, wo man noch im letzten Frühjahr und Sommer sehr übermütig zu werden und sich militärisch bereits für unbesiegbar zu halten anfing, sei man jetzt bedeutend bescheidener geworden. Die trüben Erfahrungen, die die Regierung bei den großen Manövern des letzten Herbstes über die Schlagfertigkeit der Armee, namentlich aber über die Fähigkeit ihrer Führer gemacht, hätten sehr niederschlagend gewirkt.

Vgl. darüber Kap. XLVII.

24 Die Qr«Be Politik. 7. Bd. 369

Dazu käme die Finanzfrage. Am besten kennzeichne die Ent- täuschung, die Frankreich mit Beziehung auf Rußland erlebe, der ent- schiedene Widerwillen, diesem Reiche Geld zu leihen*. Graf Kälnoky erzählte mir, daß selbst mein französischer Kollege ihm neulich gesagt habe, er glaube kaum, daß es noch möglich sein werde, irgendwelchen französischen Kapitalisten zu bewegen, sein Geld in einer russischen Anleihe anzulegen.

Daß diese französischen Stimmungen der Erhaltung des Friedens zuträglich sind, hält der Minister für unzweifelhaft.

Mir ist es schon längst bekannt gewesen, daß Graf Kälnoky sich nicht auf eine abenteuerliche Politik einlassen will; seine Äußerungen, welche ich im Vorstehenden zu resümieren bemüht gewesen bin, zeigen mir aufs neue, wie aufrichtig er dies meint, und wie sehr er bestrebt ist, durch eine vorsichtige Haltung jeden Vorwand zu be- seitigen, daß andere mit Österreich-Ungarn Händel anfangen könnten.

H. VII. P. Reuß

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Ist zum Teil versucht worden; gelang aber nicht, da die Magazine leer waren

2 d. h. nur keine Gegenmaßregeln treffen

Nr. 1621

Der preußische Gesandte in Dresden Graf Carl von Dönhoff an den

preußischen Minister der Auswärtigen Angelegenheiten

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 37 Dresden, den 11. Februar 189,2

Ganz vertraulich

Seine Majestät der König von Sachsen beehrte mich gestern abend mit einer längeren Ansprache, wobei er unter anderen auch die russi- schen Verhältnisse in den Kreis seiner Betrachtungen zog. Anlaß hierzu gaben höchstihm einige vertrauliche Mitteilungen des unmittelbar aus Rußland hier eingetroffenen schwedischen Kronprinzen. Aus diesen Mitteilungen, sagte mir Seine Majestät, entnähme er, daß sehr bedenk- liche Zustände in Rußland herrschen müßten : Verwirrung in allen Zweigen der Verwaltung, Ratlosigkeit, Gleichgültigkeit oder Unzuver- lässigkeit der Beamten und Unstetigkeit im Gange der Regierungs- maschine, hervorgerufen durch steten Wechsel der leitenden Persönlich- keiten. Der Kaiser, der anscheinend ganz unter dem Einflüsse des Fanatikers Pobedonoszew stände, schiene „das Heft gänzlich aus den Händen verloren zu haben", und glaube außerdem weder an die Ver- wirrung in den inneren Zuständen noch an den Notstand, der sich in

* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1516. 370

manchen Gegenden in erschreckender Weise fühlbar mache. In dieser .Weise könnten die Dinge in Rußland nicht lange mehr fortgehen, sonst sei der Eintritt einer Katastrophe über kurz oder lang zu befürchten. Dabei soll, so fuhr der König fort, der Kaiser immer noch von Miß- trauen und wenig wohlwollender Gesinnung gegen die Regierung Seiner Majestät des Kaisers und Königs erfüllt sein. Besonders soll Kaiser Alexander in diesem Sommer durch eine angebliche öffentliche Äuße- rung Seiner Majestät des Kaisers und Königs vor der allerhöchsten Reise nach England bei Gelegenheit einer Festlichkeit des Norddeut- schen Lloyd in Bremen i, wodurch allerhöchstderselbe die damals grade erfolgte Erneuerung des Dreibundes verkündet habe, verstimmt worden sein. Er habe hierauf mit der demonstrativ freundlichen Auf- nahme der französischen Flotte in Kronstadt geantwortet 2.

Ich erinnerte mich bei dieser Äußerung des Königs sogleich der von mir Anfang November v. Js. gemeldeten vertraulichen Mitteilung des hiesigen russischen Ministerresidenten* über eine ähnliche Äuße- des Herrn von Giers, wonach Kaiser Alexander über eine Rede Seiner Majestät des Kaisers und Königs in Kiel nach allerhöchstdessen Rück- kehr von England verstimmt gewesen wäre. Beide Äußerungen dürften in Zusammenhang stehen, und es erscheint die Annahme nicht aus- geschlossen, daß entweder Herr von Giers oder Baron Mengden sich damals ungenau ausgedrückt und die angeblichen Worte Seiner Majestät in Bremen über die Erneuerung des Dreibundes im Sinne gehabt haben, da Seine Majestät der Kaiser und König nach allerhöchst seiner Rück- kehr von England tatsächlich in Kiel nicht öffentlich zu sprechen geruht hat 3,

Der König fuhr fort: Diese Auslegung des demonstrativen Emp- fanges der französischen Gäste in Kronstadt habe ihn überrascht, da er ihn bisher als die russische Antwort auf den Seiner Majestät dem Kaiser und Könige in England bereiteten warmen und herzlichen Emp- fang** angesehen habe. Vielleicht interessiere diese Begründung auch in Berlin*. Er ermächtige mich daher ausdrücklich, sie Euerer Ex- zellenz zu melden.

Ich verfehlte nicht, Seiner Majestät für diese Ermächtigung ehr- erbietigst zu danken.

Graf Carl Dönhoff

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

^ Da bin ich überhaupt gar nicht gewesen***

2 er ist eben auf eine Lüge hereingefallen, und hat sich unendlich viel Schade

getan ' richtig

* mir war sie schon lange bekannt

* Baron Mengden.

** Vgl. Bd. VIII, Nr. 1726, Fußnote **.

*** Es liegt wohl eine Verwechselung mit der Fahrt Wilhelms II. von Hamburg

nach Helgoland (29. Juni) vor, auf der der Kaiser dem Direktor der Paketfahrt,

24* 371

Nr. 1622

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Eigenhändig

Berlin, den 12. Februar 1892

Seine Königliche Hoheit der Kronprinz von Schweden erwies mir heute die Ehre eines längeren Besuchs. Er kam sofort auf seine Ein- drücke in St. Petersburg zu sprechen und sagte mir in dieser Beziehung folgendes: die Stimmung in der russischen Hauptstadt sei eine sehr trübe und gedrückte, und wenn auch Gespräche über den gegenwärtigen Notstand vermieden würden, so trete einem doch überall das Gefühl entgegen, daß das gegenwärtige System abgewirtschaftet habe und man einer Katastrophe entgegengehe. Am schärfsten habe die Großfürstin Maria Pawlowna diesem Gefühle mit den Worten Ausdruck gegeben : „wir stehen vor einem Krach, von einem Tage zum andern können wir gewärtigen, davongejagt zu werden". Die interessanteste Er- scheinung sei die weitverbreitete Furcht vor einem deutschen Angriff; die Überzeugung von der derzeitigen Schwäche, ja Ohnmacht Ruß- lands trete in diesen Befürchtungen deutlich zutage. Auf meine Frage, wie es denn möglich sei, daß verständige Männer an einen deutschen Angriff glaubten, da Rußland uns gar nichts zu bieten vermöchte, was für uns ein begehrenswerter Siegespreis wäre, erwiderte der Kronprinz, daß Männer, wie Herr von Giers, von der Grundlosigkeit jener Befürch- tungen überzeugt seien, daß das Ohr des Kaisers aber nicht diesem Staatsmanne, sondern in erster Linie Herrn von Pobedonoszew und ferner dem Grafen Woronzow-Daschkow gehöre, der ebenfalls einen schlechten Einfluß auf den Monarchen ausübe. Der Zar sei offenbar durch zwei Dinge gegen Deutschland eingenommen worden, einmal durch einzelne Manöverreden Kaiser Wilhelms, die man ihm als kriegerisch und provozierend geschildert habe, und sodann durch den Eklat, den man bei der Verkündung der Erneuerung des Dreibunds gemacht habe. Ich bemerkte, daß in beiden Beziehungen der Zar offen- bar falsch unterrichtet worden sei, da Seine Majestät der Kaiser nie- mals eine kriegerische oder provozierende Rede gehalten habe und ein besonderer Eklat bei der Erneuerung des Dreibunds überhaupt nicht angewendet worden sei*. Daß in unsrer öffentlichen Meinung sich eine Entfremdung gegenüber Rußland kundgebe, rühre von den Vorgängen in Kronstadt sowie davon her, daß der Zar zweimal deut-

Nissen, Mitteilung von der erfolgten Verlängerung des Dreibundes gemacht hatte. Über die Verstimmung, die der Abschluß des neuen Dreibundvertrages (6. Mai 1891) bei Kaiser Alexander zurückgelassen hatte, siehe Kap. XLVII, Nr. 1502. * Vgl. Nr. 1621; ferner Kap. XLV, Nr. 1428, Fußnote, und Kap. XLVII.

372

sches Gebiet berührt habe*, ohne unserm Kaiser seinen Besuch zu machen. Der Kronprinz entgegnete, daß die Kronstadter Feste dem Zaren über den Kopf gewachsen seien; die Anhörung der Marseillaise sei schließlich nichts Absonderliches, da jenes Lied nun einmal die Na- tionalhymne der französischen Republik sei. Dagegen beruhe allerdings der unterlassene Besuch am preußischen Hofe nicht in der Bequem- lichkeit des Zaren oder in seiner zahlreichen Reisegesellschaft, sondern in seinem bestimmten Willen, unserm Kaiser die Unzufriedenheit über dessen Politik kundzutun. Die Annahme des deutschen Kaisers, daß die Königin von Dänemark den Zaren zur Unterlassung des Besuchs bestimmt habe, sei unzutreffend. Die Königin sei sehr gescheit, intrigant und antideutsch gesinnt, er glaube jedoch nicht, daß sie den Zaren in dieser Beziehung beeinflußt habe; allerdings werde sie ihm auch nicht zugeredet haben, seinen Besuch zu machen. Auf meine Bemerkung, daß der Zar voraussichtlich, wie schon früher, durch entstellte und falsche Mitteilungen über unsere Politik und speziell einzelne Aus- sprüche des Kaisers zu seinem Entschluß gebracht worden sei, sagte der Kronprinz, er würde es für sehr wünschenswert halten, wenn die beiden hohen Herren sich einmal offen und gründlich aussprechen könnten, und glaube er, daß hierzu eine Begegnung an einem neutralen Orte der geeignete Weg sei. Er habe an eine Zusammenkunft in Däne- mark aus Anlaß der goldenen Hochzeit in diesem Frühjahr gedacht, allein Seine Majestät der Kaiser habe ihm gestern bestimmt gesagt, daß er bei dieser Gelegenheit nicht nach Dänemark gehen werde.

Ich sagte dem Kronprinzen, daß eine offene Aussprache der beiden Monarchen gewiß nützlich sein werde, eine Begegnung an einem neu- tralen Orte würde ich jedoch nicht befürworten können; nachdem der Zar entgegen den bestehenden Regeln der Courtoisie zweimal durch Deutschland gereist, ohne unsern Kaiser zu sehen, würde unsere öffent- liche Meinung nicht verstehen, wenn unser Kaiser mit dem Zaren an einem andern Orte zusammentreffe als hier in Berlin; zudem böte an einem neutralen Orte die Etikettenfrage so große Schwierigkeiten, daß auch aus diesem Grunde dieser Weg nicht wohl gangbar sei. Der Kron- prinz kam dann auf die finanzielle Lage Rußlands und glaubte dieselbe

* Am 25. September 1891 hatte das russische Kaiserpaar, von Kopenhagen kom- mend, Berlin passiert; am 31. Oktober landete es wieder, von der dänischen Haupt- stadt zurückkehrend, in Danzig, um die Reise ohne Aufenthalt zu Lande fort- zusetzen. Am Berliner Hofe berührte es peinlich, daß weder die eine noch die andere Gelegenheit zu einer Enviderung des kaiserlichen Besuchs in Narwa- Peterhof ausgenutzt wurde. Vgl. die entschuldigenden Äußerungen Giers' zu Reichskanzler von Caprivi vom 25. November 1891. Kap. XLVH, Nr. 1514. Ganz anders freilich äußerte sich Giers am 21. November zu dem französischen Minister Ribot, laut dessen Aufzeichnung: „L'Empereur n'a pas voulu s'arreter ä Bedin parcequ'il lui est impossible de prendre un »visage composex. II ^tait trop irrite contre TAIlemagne pour pyouvoir faire des politesses ä l'Empereur." Troisieme Livre Jaune Frangais. L'AUiance Franco-Russe, p. 35.

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auf Grund seiner Informationen in Petersburg als sehr schlecht be- zeichnen zu sollen. Ich sagte ihm, daß bei uns die Regierung [sich] in der Frage etwaiger neuer russischer Anleihen neutral halte, die öffent- liche Meinung dagegen zumal, nachdem Frankreich ebenfalls den Abschluß neuer Anleihen verweigere gegen jeden Versuch deutscher Bankiers, deutsches Kapital nach Rußland zu bringen, entschieden Stel- lung nehme, pp.

Marschall

Nr. 1623

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 55 St. Petersburg, den 12. Februar 1892

Ganz vertraulich

Die hohen Erlasse Nr. 57 vom 4. und Nr. 65 vom 9. d. Mts.* habe ich zu erhalten die Ehre gehabt, und verbinde nun mit ehrerbietigem Danke für diese hochgeneigten Mitteilungen, welche sich auf die Unter- redung des Grafen Kälnoky mit dem Fürsten Lobanow bezogen, den Versuch, die hieran geknüpften Fragen zu beantworten.

Dem Berichte des Prinzen Reuß vom 30. v. Mts. zufolge hat der russische Botschafter in Wien die Aufregung, welche Herr von Giers unlängst zeigte, durch Hetzereien hiesiger Militärs, die den Krieg wollten, zu erklären gesucht; Fürst Lobanow hat recht, wenn er an- nimmt, daß die Aufgabe des russischen Ministers durch Generale er- schwert wird, welche nicht müde werden, das Mißtrauen des Zaren gegen Österreich-Ungarn zu nähren ; daß aber diese Generale jetzt den Krieg wollen, ist höchst unwahrscheinHch; doch selbst wenn einige hervorragende und ehrgeizige Militärs, auf Frankreich rechnend, auch jetzt unter ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen und vor Vollendung der Neubewaffnung zum Kriege drängen sollten, so sind sie vereinzelt. Wenn unter „Partei" eine größere Anzahl von Personen zu verstehen ist, welche zur Erreichung eines gemeinsamen Zweckes im Einverständnis untereinander zusammenwirken, so gibt es in Rußland keine Kriegs- partei, und hat auch, seit ich hier bin, keine gegeben.

Angesichts der alles Maß übersteigenden Rüstungen, der Sprache der Zeitungen und der feindlichen Demonstrationen aller Art muß diese Behauptung näher begründet werden. Zunächst ist oft Gesagtes zu wiederholen, nämlich, daß viele gebildete Russen den Krieg wün- schen, weil sie mit Sicherheit darauf rechnen, daß er zum Sturze des

Siehe Bd. IX, Kap. LV, Nr. 2125. 374

herrschenden Systems führen werde. Die Zahl der Unzufriedenen, welche diese Anschauung teilen, ist sehr groß; viele von ihnen hoffen jetzt, daß die Übelstände, welche die Mißernte zutage fördert, diejenige Wirkung haben mögen, welche sie von kriegerischen Mißerfolgen er- warteten. Den unteren Schichten der Gesellschaft und den großen Massen des Landvolkes ist alle Kriegslust fremd, wenn auch die un- ausgesetzte Aufstachelung durch die Presse den Wunsch, daß die Deutschen und die Österreicher einmal tüchtig geschlagen werden möchten, im ganzen Lande angeregt hat; dies ist auch der Lieblings- gedanke, mit welchem in hohen Kreisen gespielt wird, ohne den Willen, auf eigene Gefahr seine Verwirklichung zu unternehmen. Weder am Hofe noch in der hohen Beamtenwelt, noch im Reichrat und am wenigsten im ganzen Bestände des Ministeriums des Äußern wüßte ich eine Persönlichkeit zu bezeichnen, von welcher sich sagen ließe, daß sie mit Bewußtsein zum Kriege treibe.

Tiefer eingehende Prüfung erfordert der Geist des Heeres; um ihn zu schildern, muß ich in die Zeit zurückgreifen, in welcher die jetzige Armee, die Schöpfung Dimitri Miljutins, aus den alten Truppenkörpern mit 25 jähriger Dienstzeit neu erstanden ist.

Nach dem Krimkriege wurde während sechs Jahren nicht rekru- tiert; der Kaukasus war 1859 pazifiziert; Schamyl gefangen worden, und der Generalstabschef des siegreichen Fürsten Bariatinski, General Mi- Ijutin, wurde Kriegsminister. Die Bauernbefreiung erfolgte 1861, der polnische Aufstand 1862 und 63; ganz Europa, außer Preußen, nahm Partei für die Polen, allerdings nur mit gemeinsamem Notensturm gegen Rußland; dies war der Augenblick, in welchem Katkow die von Alexander Herzen beherrschte, im europäischen Sinne revolu- tionäre Stimmung der russischen Gesellschaft in die jetzt so hoch gesteigerte nationalrussische wie mit einem Zauberschlage umwandelte.

Während unter dieser mächtigen Bewegung die übereilten alexan- drinischen Reformen sich überstürzten, begründete der Kriegsminister Miljutin sein wohldurchdachtes System, welches während voller zwanzig Jahre mit eiserner Konsequenz durchzuführen ihm vergönnt war.

Die wunderbare Art, in welcher sich der Übergang aus dem Alten in völlig Neues vollzog, zu schildern, ist hier nicht der Platz; ich will nur erwähnen, daß zur Zeit, als ich hierher kam (1865), drei Jahr- gänge alter, länger als 12 Jahre dienender Soldaten, und zwei Jahr- gänge junger, von der Leibeigenschaft befreiter Leute, bei den Fahnen waren. Die Prügelstrafe war abgeschafft, die Behandlung eine über- aus milde, die Verpflegung eine bessere geworden, und nirgends wurde die so plötzlich eintretende Erleichterung gemißbraucht.

Nun schritt Miljutin sofort zu dem Werke, welches sein größtes werden sollte, und mit dessen Resultaten wir es jetzt zu tun haben: er gründete zwei Kriegsschulen, viele Junkerschulen und Militärgymna- sien und nährte in allen russischen Geist und Eifer zum Lernen; die

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modernen Anschauungen, die Vorliebe für die exakten und Naturwissen- schaften kamen zur Geltung, die nationalen Gesinnungen wurden mehr gepflegt als die ritterlichen und monarchischen; der größte Teil aller jetzt dienenden russischen Offiziere bis zu den Regimentskommandeuren und jüngeren Generalen hinauf ist aus Miljutins Erziehungsanstalten hervorgegangen; am deutlichsten aber tragen die Mitglieder des General- stabes den Stempel seiner Geistesrichtung. Miljutin war mehr Erzieher als Soldat; was ihm an den Eigenschaften des letzteren fehlte, besitzt General Wannowski in hohem Grade und hat es während seiner jetzt schon zehnjährigen Amtsführung betätigt; dies hat viel dazu beigetragen, daß die russische Armee die hohe Stufe, auf welcher sie jetzt steht, erreichen konnte, während so vieles andere im Reiche zurück- gegangen ist.

Während mehr als dreißig Jahren hat sich im Kriegsministerium nur einmal, während siebenundsiebzig Jahren im Ministerium des Äußern nur zweimal ein Personenwechsel vollzogen.

Zu spät erkannte der Feldmarschall Fürst Bariatinski die Ziele, nach denen sein ehemaliger Stabschef strebte, und doch hätte er vor- aussehen können, daß dieser ähnliche demokratische oder richtiger gesagt allem Vornehmen feindliche Tendenzen verfolgen werde, wie sein hochbegabter Bruder Nikolai Miljutin, mit welchem der andere Feldmarschall, Graf Berg in Warschau, zu rechnen hatte. Es gab da- mals noch vornehme Herren in der russischen Armee, wirkliche Grand- seigneurs, unter denen die beiden genannten Marschälle, die Brüder Stroganow und Fürst Simon Woronzow, hervorragten; Fürst Baria- tinski, vom Grafen Berg unterstützt, und mit Hülfe des jungen, vom Zaren und vom Thronfolger verzogenen Grafen Woronzow-Daschkow, machte einen vergeblichen Versuch, den Kriegsminister zu stürzen; er bediente sich hierbei der Feder des gewandten, aber gesinnungslosen Generals Fadejew. Dieser, jetzt fast in Vergessenheit geratene Mann, aus dessen Schriften ich damals Auszüge machte und Seiner Majestät dem Könige einreichte, ist der eigentliche Schöpfer oder wenigstens Kodifikator des russischen Generalstabschauvinismus; das bekannte Schlagwort: „der Weg nach Konstantinopel führt über Wien", rührt von Fadejew her. Gleichzeitig trat Obrutschew als Militärschriftsteller auf und Dragomirow als Taktiker. Dies waren die bedeutendsten unter den Professoren an der Generalstabsakademie, der eigentlichen Pflanz- schule für Miljutinsche Ideen. Dragomirow, mit welchem ich viel ver- kehrte, und der erst, nachdem er im böhmischen Feldzuge bei uns viel Freundlichkeiten genossen hatte, Preußenhasser wurde, sprach schon damals die österreichfeindlichen Absichten aus, die er heute noch ver- tritt; auf der Landkarte suchte er mir zu beweisen, daß Rußland Galizien bis zu den Karpathen besitzen müsse; in solchen Gesprächen sagte er wohl auch gelegentlich, es sei eine Anomalie, daß der Njemen, dessen ganzer Lauf in Rußland liege, gerade dort, wo ihn die An-

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vvohner „Russ" nennen, aufhöre, ein russischer Strom zu sein. Ein junger Offizier von den Grodnohusaren, Skobelew, zählte damals zu den begabtesten und fleißigsten Schülern der Akademie; dies war der Mann, welcher fünfzehn Jahre später eine Kriegspartei bilden wollte und der alle hierzu nötigen Eigenschaften besaß; es würde ihm wahr- scheinlich gelungen sein, wenn ihn die Vorsehung nicht abberufen hätte; an Nachahmern hat es ihm nicht gefehlt, aber keiner hat Erfolg gehabt.

Der Krimkrieg, und mehr noch der polnische Aufstand, welcher der kurzen in Stuttgart geschlossenen Freundschaft mit Frankreich ein Ende machte, hatten den Beweis geliefert, daß eine Koalition aller europäischen Mächte gegen Rußland nicht unmöglich sei; General Miljutin stellte sich die Aufgabe, sein Vaterland gegen eine solche Ge- fahr zu sichern; er hat mir dies damals selbst gesagt, und alles, was er seitdem getan hat, spricht dafür: da Preußen durch den böhmischen Krieg mächtig und von Rußland unabhängig geworden war, so richtete er vor allem anderen seine Sicherungsmaßregeln gegen uns; er ließ das russische Bahnnetz in der Weise vervollständigen, welche als die vorteilhafteste angesehen werden muß, um die Heeresmacht gegen die preußischen Grenzen hin zu konzentrieren; die ersten strategischen Linien, welche er bauen ließ, waren nicht auf einen Krieg gegen Öster- reich und noch weniger auf einen Türkenkrieg berechnet; wenn es nicht ohnehin bekannt wäre, daß er letzteren nicht wollte, so würde es aus seiner Eisenbahnpolitik sich ergeben; er bestand auf dem Ausbau der in Brest-Litowsk konvergierenden Linien und verhinderte die von uns gewünschten polnischen Bahnanschlüsse. Als nach dem französi- schen Kriege aus Norddeutschland ein Deutsches Reich geworden war, verdoppelte Miljutin seine Augmentationen und beschleunigte die Aus- führung seines Programms der Truppenmassierung im westlichen Ge- biete. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1874, die Verkürzung der Dienstzeit, die Vermehrung der Kavallerie und Ar- tillerie und die Bildung von 24 Reserve-Infanterie-Divisionen sowie die Anlage großer Befestigungen, dieses alles gehört noch in Miljutins Pro- gramm, dessen folgerichtige Ausführung und Erweiterung wir jetzt vor Augen haben.

Der sowohl Alexander IL wie seinem Kriegsminister unwillkommene Türkenkrieg unterbrach das systematische Vorgehen des letzteren; gleich nach dem Frieden ging er aber mit erhöhter Energie ans Werk; fast die ganze Kavallerie wurde aus den futterreichen Gouvernements in unwirtliche Quartiere nahe an der preußischen Grenze verlegt.

Als nach dem Berliner Kongreß die deutsch-russischen Beziehun- gen schlecht wurden, wuchs die Bedeutung so umfassender kriegerischer Vorbereitungen; unsere Aufmerksamkeit war schon seit 1876 und auch noch früher auf letztere gerichtet; auch sind sie, und namentlich die Anhäufung der Reiterei und bespannter Batterien in den Grenzbezirken, mehrfach Gegenstand von Unterredungen zwischen dem verewigten

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Zaren und mir gewesen, wobei Seine Majestät sehr reizbar wurde und schließlich erklärte, nicht mehr darüber sprechen zu wollen.

Dennoch drückte ich in meiner Berichterstattung unter anderem in einer eingehenden Abhandlung vom 22. März 1879 die Überzeugung aus, daß die unausgesetzte Vermehrung der Streitkräfte nicht durch kriegersiche Absichten der maßgebenden Personen veranlaßt werde, und daß solche Pläne beim russischen Volke keiner Ermutigung, sondern dem Widerstände der Trägheit begegnen würden ; ich fügte aber damals hinzu und wiederhole jetzt, daß unter der Masse von Offizieren und inmitten eines sich überhebenden Generalstabes unter dem Einfluß einer national überreizten Presse chauvinistische Ideen nicht ausbleiben können.

Zwei von den maßgebenden Persönlichkeiten, welche ich damals ins Auge fassen mußte, sind vom Schauplatze abgetreten; Alexander II. würde, wie ich aus genauer Kenntnis seiner ganzen Natur annehmen durfte, aus Pietät für das Andenken seiner Mutter nur gezwungen zum Kriege gegen uns geschritten sein; General Miljutin aber erblickte in der Armee weniger ein Instrument zur Vermehrung äußerer Macht als ein Institut zur Volksbildung in seinem auf freiheitliche Entwickelung im Innern gerichteten Sinne. Aber der dritte unter den Begründern des strategischen Systems steht noch in voller Wirksamkeit, und zwar der geistige Träger desselben: daß General Obrutschew den Krieg wünscht, kann ich weder behaupten noch bestreiten; es wäre fast un- natürlich, wenn er es nicht täte; ein General, der seiner Begabung und Überlegenheit bewußt, sein ganzes Leben dazu verwendet hat, die Kräfte eines Volkes von hundert Millionen für eine einzige ungeheure Anstrengung zu sammeln, muß wünschen, die Kraftprobe zu machen, ehe er zu alt dazu ist. Dennoch halte ich ihn für zu bedachtsam, als daß er jetzt zum Kriege treiben sollte, aber selbst wenn er es täte, so würde ich ihn doch nicht als das Haupt einer Kriegspartei bezeichnen können; ein Parteiführer ist General Obrutschew nicht. Nun ist aber bei Unter- suchung der so wichtigen Frage, ob wir es hier mit einer Kriegspartei zu tun haben, noch ein anderer bedeutender Faktor in Betracht zu ziehen, nämlich der Kriegsminister als solcher und als maßgebender Mitleiter der zentralasiatischen Politik. General Wannowski ist ein hoch achtbarer Mann und Soldat im vollen Sinne des Wortes; als solcher kann er den Krieg nicht scheuen ; als Minister kann er ihn gerade jetzt, noch ehe er fertig ist, nicht wünschen.

Was nun die mittelasiatischen Dinge betrifft, so hat es damit eine ganz eigene Bewandtnis: die Zentralleitung der russischen Diplomatie muß die Machtstellung in Transkaspien, in Turkestan und im Amurlande ausnutzen, um ihre Gesamtpolitik, vornehmlich ihre Stellung zu Groß- britannien, zu stärken. Der Kriegsminister aber muß vor allem dar- auf Bedacht nehmen, die Machtstellung in den genannten sehr exponier- ten Gebieten zu erhalten, für die Sicherheit der dort stehenden Truppen

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zu sorgen und das hierzu in Asien unbedingt notwendige Prestige zu wahren. General Wannowski und sein asiatischer Stab darf also in manchen Fällen nicht so nachgiebig sein, wie Herr von Giers es wünscht, um Reibungen mit England zu vermeiden. Wenn von Schwierigkeiten die Rede ist, welche dem Minister des Äußern von Generalen bereitet werden, so ist hierbei gewöhnlich an die asiatischen Befehlshaber zu denken.

Nach meinem ehrerbietigen Dafürhalten ist Rußlands Stellung in Mittelasien nicht so stark, wie vielfach angenommen wird; wenn russi- sche Zeitungen so sprechen, als wenn der Bestand der indobritischen Herrschaft nur von seinem guten Willen abhinge, so ist dies eine Rodo- montade. Ich gehe nicht so weit wie Herr Schischkin, der mir neulich in einer streng vertraulichen Unterredung sagte: „wir sind unserer Stellung in Mittelasien nicht sicher von einem Tage zum andern", aber ich glaube, daß ein großer Teil der Kirgisen in Turkestan und in den Chanaten und die Masse der Turkmenen in Transkaspien bei günstiger Gelegenheit über die Russen herfallen würden. Noch wirkt die furcht- bare Lektion, welche Skobelew den Turkmenen bei Geok Tepe* erteilt hat, nach, aber elf Jahre sind seitdem vergangen, und allmählich wächst eine Generation heran, welche jene Schrecknisse nicht mit erduldet hat.

Der Generalgouverneur von Turkestan hat freilich mindestens 26000 Mann zu seiner Verfügung, und General Kuropatkin 15000; aber ihre Verbindung mit dem Kaspischen Meere beruht auf einer Eisenbahn, die leicht zerstört werden kann und welche überdies wenig leistungs- fähig ist, schon aus dem Grunde, daß es an Wasser für die Lokomotiven mangelt; sie würde, wie man mir sagt, nicht mehr als drei oder vier- hundert Mann an einem Tage befördern können. Die Turkmenen sind gefährliche Gegner, wie der klägliche Ausgang der Lazarewschen Expedition im Jahre 1879 bewiesen hat, und die Russen würden nicht immer so leichte Siege erkämpfen, wie bei dem letzten Gefechte auf asiatischem Boden unter General Komarow gegen die Afghanen zur Zeit des Streites um Pendschdeh.

Der Kriegsminister, der Generalstabschef und die asiatischen Spe- zialisten, unter denen General Kuropatkin und Oberst Jonow die be- deutendsten sind, haben also allen Grund, darüber zu wachen, daß die Russenfurcht, auf welcher ihre Sicherheit beruht, nicht durch Nach- giebigkeit des auswärtigen Ministeriums den Engländern gegenüber in Mittelasien vermindert werde, auch in Persien nicht.

Die gegenwärtigen Chefs in Taschkent und Aschabad, Baron Wrewski und General Kuropatkin, sind zuverlässige Männer, welche die Regierung nicht mutwillig in Verwickelungen bringen werden; in ihren Hauptquartieren gibt es freilich viele katilinarische Existenzen, und die Erfahrung hat gezeigt, daß die Verhältnisse, unter welchen die

* Die Erstürmung der Festung Geok Tepe fand am 12. Januar 1881 statt.

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russischen Offiziere in Zentralasien leben, wohl geeignet sind, Unter- nehmungslust und kriegerische Eigenschaften zu fördern; es hat der Regierung Mühe genug gekostet, den Eroberer von Taschkent, General Tschernajew, endlich zur Ruhe, wenn auch nicht zum Schweigen zu bringen; daß es diesem Manne nie gelungen ist, eine Kriegspartei um sich zu scharen, spricht auch dafür, daß es an Elementen zu einer solchen fehlt.

Wenn ich hiermit die Aufgabe, welche mir der hohe Erlaß Nr. 57 vom 4. d. Mts. stellte, erfüllt und meine Beobachtungen in der Richtung des Bestehens einer Kriegspartei in Rußland zusammengefaßt habe, so bleibt noch die Beantwortung der im Erlaß Nr. 65 vom 9. d. Mts. enthaltenen Frage übrig, ob die von russischen Staatsmännern periodisch zur Schau getragenen Befürchtungen vor angeblichen feindlichen Ab- sichten Österreichs wirklich aufrichtig gemeint sind.

Trotz seiner Verehrung für Kaiser Franz Joseph hat Alexander III. ein tief wurzelndes Mißtrauen gegen die österreichisch-ungarische Po- litik und eine sehr geringe Meinung von der Widerstandsfähigkeit des Wiener Kabinetts gegen ungarische und polnische Bestrebungen. Aus diesen Gesinnungen macht der Zar kein Geheimnis; fast in jeder politischen Unterhaltung, mit welcher er mich im Laufe der Jahre be- ehrte, hat er sie in starken Ausdrücken zu erkennen gegeben. Der Kriegsminister und die Generale Dragomirow und Gurko kennen diese Auffassung des Monarchen und bestärken ihn in derselben; neue Geid- forderungen für Augmentationen, Dislokationen, Befestigungen, Bahn- und Straßenbauten werden Seiner Majestät gegenüber mit dem fast zum Axiom gewordenen Satze motiviert, daß Österreich-Ungarn, Deutsch- lands sicher, Rußland angreifen wolle. Die wiederholten, nur ungern eingestellten Bemühungen des Herrn von Giers, „etwas Schriftliches zu haben, nur ein paar Zeilen", wodurch Rußland gegen einen solchen Angriff gesichert würde, erklären sich aus dieser vorgefaßten Meinung, Durch unsere Abweisung der an uns gestellten Zumutung wurde man in jenem Wahne bestärkt und zur Annäherung an Frankreich bestimmt. Herr von Giers geht in seinem Mißtrauen nicht so weit wie der Zar und in seinen Besorgnissen nicht so weit wie die Generale; er ist aber nicht stark genug, um ihren Verdächtigungen der Wiener Politik Schran- ken zu setzen ; grade hierzu bedurfte er so dringend der „paar Zeilen".

Die Nachrichten, welche in neuester Zeit das russische Mißtrauen gegen Österreich so auffallend gesteigert haben, sind gewiß, wie Fürst Lobanow zugab, aus serbischen Quellen geflossen, aber auch in ruhigeren Zeiten fehlt es nicht an Berichten aus den Grenzprovinzen und aus den Donauländern, welche den Verdacht, daß Österreich aggressive Pläne verfolge, rege erhalten.

So unwahrscheinlich es auch klinge, so muß ich doch die Über-

* Siehe Kap. XLIV: Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages. 380

i

feugung aussprechen, daß die in Rede stehenden Besorgnisse russi- scher Staatsmänner aufrichtig gemeint sind, und ich muß die nicht minder schwer zu erklärende Tatsache anführen, daß man, nicht im Ministerium des Äußern, aber am Hofe, in der Gesellschaft und in politi- schen Kreisen seit einigen Monaten gegen uns noch mißtrauischer ist als gegen Österreich.

Ich wollte dies anfänglich nicht glauben, als es mir von Herrn Pobedonoszew (Bericht Nr. 366 vom 25. November v. Js.*) gesagt und von Herrn von Giers, der bei seiner Rückkehr vom Urlaube ebenso er- staunt darüber war wie ich, bestätigt wurde (Bericht Nr. 374 vom 30. November v. Js.**) ; ich habe jedoch seitdem viele Beweise erhalten, welche jeden Zweifel daran ausschließen, daß man in höchsten Kreisen Angriffspläne bei uns vermutet. Je mehr ich mich bemühte, den Grund und den Ursprung dieser Besorgnisse zu erforschen, um so deutlicher erkannte ich, daß sie nicht auf dem niedrigen Felde des Geschwätzes und der Tagespresse entsproßt, sondern von oben herunter gedrungen waren. Viele unserer Zeitungen, besonders diejenigen, an denen balti- sche Emigranten mitarbeiten, führen zwar eine so gehässige Sprache gegen Rußland, daß sie hier Befürchtungen kriegerischer Absichten erregen können, aber niemand schließt daraus auf Pläne der Regierung; CS müssen andere Indizien an hoher Stelle vorgelegt oder vorgespiegelt worden sein, welche vielleicht von dem schlüpfrigsten Boden für preußi- sche und russische Lebensfragen, dem polnischen, hergekommen sind.

So unbegründet das russische Mißtrauen gegen uns und gegen Österreich auch sein mag, so ist es doch nicht als zur Schau getragen, sondern als aufrichtig zu bezeichnen; durch den Ton, in welchem die österreichisch-ungarische und ein Teil der deutschen Presse über den Notstand spricht, wird das Mißtrauen bis zur ernsten Besorgnis ge- steigert, und dies ist insofern schädlich, als es zu erhöhter Tätigkeit auf militärischem Gebiet, wovon Anzeichen vorliegen, und zu sorg- fältigerer Pflege der etwas erkaltenden französischen Freundschaft führt.

v.Schweinitz

* Siehe Nr. 1619, Anlage.

** In seinem Berichte vom 30. November (Nr. 374) hatte Schweinitz ausführlich eine Relation wiedergegeben, die ihm Minister von Giers über seine Reise nach Berlin, Paris usw. erstattet hatte. Es hieß in dem Bericht u. a.: „Hier in Peters- burg ist Herr von Giers schon auf dem Bahnhofe von seinem Vertreter Herrn Schischkin mit der Meldung empfangen worden, daß die Furcht vor einem deut- schen Angriff allgemein verbreitet sei; woher dies Gerücht komme, wisse er nicht; aber alle warteten mit größter Spannung auf die Nachrichten, die der Minister mitbringe".

„Bei jedem Schritt, den ich tat," erzählt Herr von Giers, „fand ich dies bestätigt; die Leute wollten wissen, was ich, nicht aus Paris, sondern aus Berlin mitbringe, und ihre Freude war groß, als sie hörten, daß dort alles gut stehe; ein sehr hochgestellter Mann, den ich nicht nennen will, ist dem Grafen Lams- dorff (der vertrauteste Rat des Ministers) um den Hals gefallen, als ihm dieser jene Versicherung gab."

Kaiser Wilhelm II. bemerkte dazu am Rande: „sie sind toll"!

3S1

Nr. 1624

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 68 St. Petersburg, den 20. Februar 1802

Euerer Exzellenz beehre ich mich, einen Bericht des Kaiserlichen Generalkonsuls in Moskau gehorsamst zu unterbreiten, in welchem Herr Bartels meldet, daß dort Besorgnisse gehegt werden, Deutschland wolle, die Verlegenheiten Rußlands benutzend, dieses angreifen.

Dem Wunsche des Generalkonsuls, daß dieses Gerücht dementiert werde, schließe ich mich nicht an, weil man doch füglich nicht zu erklären braucht, daß man nicht beabsichtige, eine Torheit^ zu begehen; die große und zunehmende Verbreitung der mehrerwähnten Besorg- nisse darf ich aber nicht verschweigen. Herr von Giers tat derselben Erwähnung, nachdem er mir seine Freude über die guten Nachrichten ausgesprochen hatte, welche er durch den Grafen Schuwalow aus Berlin erhält, und durch die er zu der Hoffnung berechtigt wird, daß es, wenn auch langsam, doch zu einer Zollverständigung kommen werde*, welche auch Herr von Wyschnegradski wünscht und mögUchst zu för- dern versprochen hat.

Je befriedigender die Berichte aus Berlin lauten, um so unerklär- licher findet es der russische Minister, daß die Furcht vor einem deut- schen Angriffskriege sich immer mehr verbreitet; „ernste, hochstehende Männer**, sagt Herr von Giers, „kommen besorgt zu mir, um sich zu informieren, und meine Tochter erzählt mir, wenn sie aus einer Tanz- gesellschaft zurückkehrt, daß die jungen Offiziere sie gefragt haben, ob es denn gewiß sei, daß im Frühjahr Krieg wird."

Manche meiner Bekannten, welche russische Diener haben, die militärpflichtig sind oder in Kasernen verkehren, hören von ihnen vom nahen Kriege wie von einer ausgemachten Sache sprechen.

Hinreichend bekannt ist die Wertlosigkeit des Petersburger Ge- schwätzes; diesmal ist es ausnahmsweise durch die russische Presse nicht angeregt und genährt worden ; es hat seinen Ursprung in höheren Regionen und seine Ursache in polnischen Umtrieben 2.

Die preußisch-russischen Beziehungen sind seit hundert Jahren vornehmlich durch die Konsequenzen der Teilung Polens bestimmt worden, welche die Interessengemeinschaft der beiden nichtkatholischen Teilungsmächte begründete; unter den vielen Beweisen für diese Fundamental Wahrheit ist der deutüchste im Aufstande von 1862 zu er- kennen, durch welchen das diplomatische Feld für unsere nationale Po- litik von 1864 und 1866 frei gemacht wurde. Jede Änderung in den

Siehe Kap. L, Nr. 1661, Fußnote. 382

polnischen Dingen macht sich bald, nicht bloß an der tausend Kilometer langen unnatürlichen Grenze fühlbar, sondern auf dem Gebiete der Gesamtpolitik.

Das Bevorstehen einer solchen Änderung glaubt man jetzt hier wahrzunehmen; den hierauf deutenden Symptomen wird durch polni- sche und jüdische Unwahrheiten, sowie durch die Berichte der Militär- und Zivilbehörden im Grenzlande übertriebene Wichtigkeit beigelegt. „Jenen Berichten zufolge sind die Polen", so sagte Herr von Giers, auf deren sanguinisches Temperament hinweisend, „überzeugt, daß Kaiser Wilhelm ihr Reich wieder herstellen wird 3; es gibt nichts Großes und Schönes, was sie nicht von seinem hohen Geist und Mut er- warten."

Im weiteren Verlaufe unserer Unterredung, deren Offenherzigkeit durch unsere sechzehnjährige Intimität zu entschuldigen ist, erzählte der Minister, daß die Wahl des Bischofs Stablewski eine große Wir- kung auf die Polen hervorgebracht habe, daß über Herrn von Koscielsky viel gesprochen werde und dergleichen mehr*. Als ich Herrn von Giers fragte: „Was sagt denn eigentlich Ihr hoher Gebieter zu diesen Be- richten aus Polen?", antwortete er: „L'Empereur n'a pas de nerfs, 11 a des Cordes; er bleibt bei allen diesen Nachrichten ganz ruhig; als er von den angeblichen Begünstigungen hörte, welche Ihren Polen jetzt zuteil werden, sagte er: ,Das schadet uns nichts; dafür werden die Deutschen selber bezahlen müssen.*"

Die Erfahrungen, welche der Vater und der Großvater mit den Polen gemacht haben, lassen es erklärlich erscheinen, wenn Alexander III. der Überzeugung ist, daß sie Zugeständnisse mit Ansprüchen, Wohltaten mit Undank, Vertrauen mit Verrat zu vergelten pflegen"^.

Dem Gedanken an die mögliche Wiederherstellung eines polnischen Staates wird in Rußland wohl wenig Raum gegeben ; man weiß, daß die wrertvoUsten Bestandteile eines rekonstituierten Polens in Galizien, Posen und Westpreußen, nicht aber auf russischem Territorium liegen würden; in den ehemals polnischen Landen, die östlich von Weichsel,

* Dem vielerörterten polnischen „Versöhnungskurs", der durch die auszeich- nende kaiserliche Behandlung des flottenfreundlichen Abgeordneten von Kosciel- ski, die Verfügung des preußischen Kultusministers Grafen von Zedlitz wegen des polnischen Sprachunterrichts (11. April 1891) und durch die Ernennung des Prälaten von Stablevvski zum Erzbischof von Posen und Gnesen (2. November 1891) illustriert wird, sind in der Öffentlichkeit vielfach antirussische Tendenzen untergeschoben worden. Die Akten des Auswärtigen Amtes enthalten nichts, was dieser Auffassung zur Stütze gereichen könnte. Speziell die Ernennung Stablew- skis, der sich allerdings auf dem Thorner Katholikentage sehr russenfeindlich ge- äußert hatte („wir sind Söhne der katholischen Kirche, deren erbittertster Feind Rußland ist"), ist nach den Akten nicht sowohl als ein Entgegenkommen gegen die Polen, sondern gegen den Römischen Stuhl zu werten, dem die preußische Regierung nach bereits drei abgelehnten Kandidaten (von Poninski, Szoldrski, Likowski) nicht auch noch den vierten abschlagen wollte. Aufzeichnung Caprivis vom 17. Oktober 1891.

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Bug, Narew und Njemen liegen, ist das Landvolk größtenteils orthodox und dem Einflüsse der katholischen Edelleute, die ihren Besitz noch erhalten haben, entrückt; auch in Kongreßpolen würden die Bauern, deren Lage durch die russische Regierung wesentlich verbessert ist, wahrscheinlich zu ihr stehen; die Industriellen im Weichsellande be- finden sich recht wohl mit der Schutzmauer der russischen Zölle hinter und mit einem großen Absatzgebiete vor sich; außer bei den Geist- lichen, den Juden und einigen Edelleuten würde ein Regenerator Russisch-Polens wenig Unterstützung in diesem Lande finden, in wel- chem es an einem tüchtigen Bürgertum fehlt.

V. Schweinitz

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

* ? Thorheit wäre das nicht, aber eine Gemeinheit 3 und in dem schlechten Gewissen

3 danke! sehr schmeichelhaft

* richtig

Nr. 1625

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 66 >Vien, den 8. März 1892

Vertraulich

Für die mir mittelst hohen Erlasses Nr. 112 vom 23. v. Mts. ge- neigtest gemachte Mitteilung des Berichts des Kaiserlichen Botschafters in St. Petersburg vom 12. Februar*, die russische Politik Deutschland und Österreich gegenüber betreffend, sage ich Euerer Exzellenz meinen verbindlichsten Dank.

Da in den Gesprächen, die ich mit dem Grafen Kälnoky seitdem gehabt, diese Verhältnisse sehr häufig berührt worden sind, so habe ich den mir zur vertraulichen Information mitgeteilten, obenerwähnten Bericht zwar nicht zur Kenntnis des österreichisch-ungarischen Herrn Ministers gebracht, aber es doch für nützlich gehalten, ihm von den in so bemerkenswerter \Veise dargestellten russischen Verhältnissen einiges zu erzählen.

Der Minister ist ganz der Ansicht des Herrn von Schweinitz, daß in Rußland eine eigentliche Kriegspartei nicht besteht, wohl aber, daß von einzelnen Militärs das Mißtrauen des Zaren gegen Deutschland und Österreich künstlich wachgehalten wird. Er erklärt sich dieses Mißtrauen gegen die österreichische Politik aus dem Umstand, daß der Kaiser Alexander nicht vergessen kann, daß Österreich mit den von

Siehe Nr. 1623. 384

Rußland in Bulgarien seit 1886 begangenen Fehlern nicht einverstanden gewesen ist, daß man hierseits die Kräftigung dieses Staates nicht hin- dert, und daß man den Prinzen Ferdinand von Sachsen-Koburg, der es sich angelegen sein läßt, die Ordnung auf diesem brennenden Boden der Balkanhalbinsel aufrechtzuerhalten, also das tut, was im Interesse der Erhaltung des europäischen Friedens nützlich ist, daß Österreich diesen Prinzen ungeschoren läßt und sich laut und energisch gegen die Mordanschläge ausspricht, deren Ausgangspunkt das bulgarische Flücht- lingsnest in Odessa ist, welches unter den Augen der russischen Re- gierung arbeitet.

Auch das möge das russische Mißtrauen erregen, daß die russische Politik in Rumänien keinen Fuß zu fassen vermag. Wenn aber russi- sche Grenzberichte von neuen militärischen österreichischen Bewegun- gen oder Verstärkungen sprechen, und die betreffenden Hetzgenerale ihrem Herrn damit Angst machen, so sei dies geradezu lächerlich und der böse Wille mit Händen zu greifen. Denn wenn der Sicherheits- dienst an der galizischen Grenze etwas aufmerksamer betrieben werden und zu diesem Ende ein paar hundert Gensdarmen mehr nach Galizien geschickt werden sollten, so würde selbst der hiesige russische Militär- attache, Oberst Zujew, nicht die Stirn haben, diese Maßregel als eine Aggression zu bezeichnen.

Was das Mißtrauen gegen Deutschland betrifft, so kann sich Graf Kälnoky dasselbe nicht anders erklären, als daß dabei der alte Ärger über die Macht des jungen Deutschen Reiches die Hauptrolle spielt. Auch zweifelt er nicht daran, daß die veränderte Haltung der Politik der Königlich Preußischen Regierung den Polen gegenüber dem Zaren so dargestellt worden sein mag, als bereite man sich bei uns darauf vor, für den Kriegsfall diese unsichere Nationalität in unseren Dienst zu ziehen.

Der Minister, der die Polen nicht liebt, hat sich in letzter Zeit über diese Frage nicht ausgesprochen, ich kenne aber seine Ansichten genau. Hier in Österreich spielen die galizischen Polen als eiserner Bestand einer Regierungspartei eine gewisse Rolle. Man läßt sich dies gern gefallen, und streichelt sie gelegentlich, auch zum Nachteil der anderen Stämme. Graf Kälnoky weiß aber sehr gut, daß unter dem schwarzgelben Mantel, in welchen sich die Polen mit den loyalsten Gebärden hüllten, der weiße Adler sorgfältig versteckt wird, der nur auf den Moment wartet, seine Flügel auszubreiten. Er betrachtet daher diese Nationalität mit Mißtrauen, baut keine Pläne auf ihre Loyalität a toute epreuve, und würde, wenn in einem eventuellen glücklichen* Kriege mit Rußland diese Unabhängigkeitsträume zum Vorschein kommen sollten, diesen Herren eine bittere Enttäuschung bereiten, ja ihnen eventuell die Ruthenen auf den Hals hetzen.

Graf Kälnoky teilt die Ansicht, daß es eine große Anzahl von intelligenten Russen gibt, die von einem unglücklichen Krieg einen

25 Die Große Politik. 7. Bd. 38S

Systemwechsel erhoffen und nunmehr von der inneren Kalamität ihres Vaterlandes ein solches Resultat erwarten. Ob dies der Fall sein wird, das wagt der Minister nicht vorher zu sagen. Jedenfalls hält er aber an der Hoffnung fest, daß der kriegerische Flug für einen längeren Zeitabschnitt lahmgelegt sein wird.

Daß, wie Herr von Schweinitz am Schluß seines Berichts sagt, der Ton, in welchem die österreichisch-ungarische Presse über den Notstand in Rußland spreche, ein provozierender oder höhnender wäre, will Graf Kälnoky nicht bemerkt haben. Jedenfalls hat er darauf hin- zuwirken gesucht, daß dies nicht geschehe.

H. VII. P. Reuß

38Ö

B. Handelspolitische Beziehungen

Nr. 1626

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Reinschrift

Berlin, den 3. Dezember 1890

Bei dem heutigen Diplomatenempfang kam Graf Schuwalow auf eine jüngst nach dem Diner des Herrn Reichskanzlers zwischen uns gepflogene private Unterredung über die handelspolitischen Beziehungen, zwischen Deutschland und Rußland zurück und äußerte dabei folgendes:

Er glaube, daß in Deutschland Herr von Wyschnegradski mit Unrecht als ein handelspolitischer Gegner Deutschlands angesehen werde, der absichtlich auf dessen Schädigung in wirtschaftlicher Hin- sicht hinarbeite; vielmehr könne er persönlich mit Bestimmtheit ver- sichern, daß Herr von Wyschnegradski die besten Intentionen gegen uns habe und einen handelspolitischen modus vivendi zwischen uns lebhaft wünsche. Was ihn den Grafen Schuwalow betreffe, so sei mir wohl bekannt, daß er stets die Ansicht vertreten habe, daß die guten Beziehungen zwischen beiden Ländern Hand in Hand mit einem besseren handelspolitischen Verhältnisse gehen müßten. Diese Anschauung werde von seiner Regierung geteilt; er könne mir streng vertraulich mitteilen, daß er nach unserer jüngsten Unterredung, zu der er eine Instruktion nicht gehabt, an seine Regierung telegraphiert und von dort die Ermächtigung erhalten habe, mit mir vertraulich in diesem Sinne zu reden. Unsere gegenwärtigen Verhandlungen mit Österreich-Ungarn* interessierten Rußland sehr; aus den zahlreichen Mitteilungen der öffentlichen Blätter wisse man ja, welche Fragen den Mittelpunkt jener Verhandlungen bildeten: Ermäßigung der land- wirtschaftlichen Zölle unsererseits gegen Erlangung von Konzessionen für den Export unserer Industrieerzeugnisse. Ich hätte neulich ihm gesagt, daß wir Rußland gegenüber stets in der Defensive gewesen

* Seit dem Herbst 1890 waren zwischen Deutschland und Österreich Verhand- lungen über den Abschluß eines Handelsvertrags im Gange, die zunächst auf große Schwierigkeiten stießen, aber im Mai 1891 zu glücklichem Abschlüsse ge- langten. Näheres darüber siehe in: Die Handelspolitik des Deutschen Reichs vom Frankfurter Frieden bis zur Gegenwarrt (1899), S. 155 ff.

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seien, und der Verteidiger, der dem Angreifer Propositionen mache, in den Verdacht gerate, kapitulieren zu wollen ; mit Rücksicht darauf wolle er selbst die Initiative ergreifen und mir ganz offen sagen, welche Wünsche Rußland habe; sie bezögen sich auf Erleichterung der Einfuhr für Getreide, Holz und Kerosine. Ich möge meinerseits ihn wissen lassen, welche Forderungen man bei uns an Rußland stelle; bezüglich der Industriezölle werde nur das Eisen Schwierigkeiten machen, da in dieser Beziehung den Fabrikanten bestimmte Ver- sprechungen für längere Zeit gemacht seien.

Ich erwiderte dem Grafen Schuwalow etwa folgendes: Wenn wir den handelspolitischen Absichten des Herrn von Wyschnegradski kein besonderes Vertrauen entgegenbrächten, so sei dies sehr natürlich; seit Jahren suche er uns wirtschaftlich auf jede mögliche Weise zu schaden; in der hiesigen Finanzwelt gebe es Leute, die behaupteten, daß er jeweils den Rubelkurs steigere, um damit den Anlaß für weitere Erhöhung der Eingangszölle gegen uns zu schaffen, und dann, wenn der Getreideexport beginne, den Kurs wieder herabdrücke, um •das russische Getreide billig bei uns einzuführen. Auch daß Herr von Wyschnegradski vor kurzem dem hiesigen Markt gerade in dem Augenblick, als wir ein größeres Reichs- bzw. preußisches Anlehen emittierten, ein erhebliches Quantum Gold entzogen habe, sei nirgends als ein zufälliges Zusammentreffen betrachtet worden. Wenn ich den kompetenten Reichsbehörden die amtliche Mitteilung machen würde, daß Herr von Wyschnegradski nunmehr versöhnliche Absichten gegen Deutschland hege, so würde mir wohl die Frage entgegengehalten werden, ob diese Gesinnungen nicht gerade deshalb im gegenwärtigen Augenblick zutage treten, um unsere Verhandlungen mit Österreich- Ungarn zu erschweren oder zu konterkarieren? Daß die letzteren in Rußland Interesse erweckten, sei sehr begreiflich; die Politik Herrn von Wyschnegradskis, Rußland speziell gegen Deutschland handels- politisch zu isolieren, drohe ins Schwanken zu geraten, wenn wir mit Österreich-Ungarn zu einem bessern handelspolitischen Verhältnisse ge- langten. Übrigens würden uns alle diese Erwägungen nicht daran hindern, ein Nachlassen der wirtschaftlichen Spannung zwischen uns und Rußland aufrichtig zu wünschen; nur würden wir nach den Er- fahrungen der letzten Jahre Wert darauf legen, daß der bezügliche Wunsch russischerseits nicht in Worten, sondern in Taten bekundet werde, und zwar um so mehr, als wir die Initiative in dieser Rich- tung dadurch ergriffen, daß wir den Eintritt russischer Schweine unter gewissen Kontrollen gestattet hätten*. Diese Maßregel sei von uns

* Im Herbst 1890 war die Einfuhr lebender Schweine aus Rußland für die Städte Myslüwitz und Beuthen in Oberschlesien unter bestimmten Bedingungen frei- gegeben worden. Später erhielten auch Thorn, Kattowitz und Tarnowitz die gleiche Vergünstigung. Zu einer generellen Aufhebung des Schweineeinfuhrverbots

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getroffen ohne Hintergedanken, allerdings nur in widerruflicher Weise. Die „question d'etiquette", von der wir neulich gesprochen, wer den ersten Schritt in tatsächlichem Entgegenkommen zu tun habe, existiere also nicht mehr. Wir erwarteten nun, was von russischer Seite erfolge.

Graf Schuwalow sprach sich sehr dankbar für diese Maßregel aus, um die er sich so oft vergeblich bemüht habe, wies jedoch darauf hin, daß verschiedene deutsche Zeitungen die Erleichterung der Ein- fuhr von Schweinen an unserer Ostgrenze als durch die öffentliche Meinung bzw. die hohen Fleischpreise geboten bezeichneten, es also zweifelhaft sei, inwieweit man das in Rußland als eine Konzession ansehen werde. Auch müsse er darauf aufmerksam machen, daß der Gedanke, Rußland gegenüber Österreich hinsichtlich der Getreide- einfuhr differentiell zu behandeln, auf den entschiedensten Widerspruch in unseren östlichen Provinzen gestoßen sei; auch werde eine solche Differenzierung Rußland nicht viel schaden, da das Getreide par un detour doch zu uns gelangen werde.

Ich erwiderte dem Grafen Schuwalow, daß er die hiesigen Partei- verhältnisse doch genug kenne, um zu wissen, daß das ganze Geschrei der freisinnigen Presse über Verteuerung der Lebensmittel lediglich Parteizwecken diene und in der großen Menge der produzierenden Bevölkerung, namentlich der östlichen Provinzen keinen Widerhall finde; die Freisinnigen hätten bei billigen Lebensmittelpreisen ebenso über Verteuerung des Brotes und des Fleisches des armen Mannes geklagt wie jetzt, wo die Preise etwas gestiegen seien. Irgendeinen Einfluß auf die Entschließungen der Regierung übten derartige Aus- lassungen nicht. Daß die vorwiegend landwirtschaftliche Bevölkerung im Osten eine Ermäßigung der Getreidezölle gegen Rußland wünsche, sei ein großer Irrtum; es handle sich nur um eine Petition einiger kommerzieller Gremien unserer Ostseestädte, die natürlich an einer möglichst freihändlerischen Gestaltung unserer Handelspolitik ein Inter- esse hätten. Gegen die Gefahr, daß das russische Getreide auf einem detour doch zu ermäßigtem Zollsatze bei uns eingeführt werde, wür- den wir uns eventuell zu schützen wissen.

Das Resümee meiner Auslassungen an Graf Schuwalow war, daß wir den besten Willen haben, Rußland entgegenzukommen und diesen auch durch die Aufhebung des Schweineeinfuhr\'erbotes bekunden, daß wir aber den Beteuerungen des Herrn Wyschnegradski über seine handelspolitische Freundschaft zu Deutschland vorläufig skeptisch gegenüberstehen und zunächst einen tatsächlichen Ausdruck derselben erwarten, bevor wir uns auf weiteres einlassen.

- Marschall

vom 14. Juli 1889 ist es mit Bezug auf Rußland nicht gekommen, während das Verbot mit Bezug auf Dänemark, Schweden und Norwegen am 5. Dezember 1890, und mit Bezug auf Amerika am 3. September 1891 aufgehoben wurde.

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Nr. 1627

Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler

von Caprivi

Abschrift

Nr. 44 St. Petersburg, den 20. Februar 1891

Geheim

In ganz vertraulicher Unterredung drücicte Herr von Giers den Wunsch aus, mit mir nicht als Minister mit dem deutschen Botschafter sondern als alter Freund mit dem General Schweinitz über eine An- gelegenheit sprechen zu dürfen, welche ihm am Herzen liege. Graf Schuwalow, welcher sich mit Eifer und Verständnis die Erfüllung der Aufgaben angelegen sein lasse, die ihm in handelspolitischer Rich- tung gestellt worden seien, habe in zwei streng vertraulichen Privat- briefen über Unterredungen mit dem Herrn Staatssekretär des Äußern und mit dem Herrn Handelsminister von Berlepsch Bericht erstattet. Beide Gespräche, so fuhr der Minister fort, hätten dem Botschafter den besten Eindruck zurückgelassen, jedoch sei daraus nicht mit voller Klarheit zu entnehmen gewesen, welche Erleichterungen des Zolltarifs wir fordern und welche wir gewähren wollten; es würde sich also vielleicht empfehlen, dies genauer zu präzisieren und auch hier in St. Petersburg vielleicht in Unterhaltungen zwischen dem Finanz- minister und mir vertraulich zu erörtern.

Auf den Wunsch des Herrn von Giers, meine amtliche Eigenschaft beiseite zu lassen und freundschaftlich über die uns beiden gleich wünschenswerte wirtschaftliche Annäherung Deutschlands und Ruß- lands zu sprechen, ging ich bereitwillig ein; „aber," so sagte ich, „Sie setzen bei mir eine gewisse Naivität voraus, wenn Sie erwarten, ich solle glauben, daß wir, so lange als Sie bei Ihrem jetzigen System bleiben, irgend etwas Nennenswertes von Ihnen erreichen werden."

„Zunächst," so fuhr ich fort, „möchte ich wissen, welche Aufträge Sie dem Grafen Schuwalow erteilt haben."

„Meine Instruktionen an den Botschafter," sagte der Herr Minister, „beruhen auf einem Briefe, welchen Herr Wyschnegradski, ich glaube im Monat Oktober v. Js., an mich gerichtet hat; ich werde dieses Schreiben, welches ich nicht zur Hand habe, heraussuchen und Ihnen gelegentlich dessen Inhalt mitteilen."

Dies geschah bei unserer nächsten Begegnung; Herr von Giers las mir den in russischer Sprache geschriebenen Brief des Finanz- ministers auszugsweise vor; ich entnahm daraus, daß Herr von Wyschne- gradski bestrebt ist, Erleichterungen des nachbarlichen Verkehrs zu erlangen und zu gewähren, daß er zu diesem Zwecke in Erfahrung bringen möchte, ob wir geneigt sind, die Zölle auf Getreide, Holz und Petroleum und auf noch einige minder wichtige Artikel zu er-

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mäßigen, und welche Gegenleistungen wir beanspruchen würden; zu solchen erklärt er sich bereit, „insofern sie die russische Industrie nicht schädigen". Der Finanzminister spricht die Vermutung aus, daß hierbei Metalle den ersten Platz einnehmen würden; der Schwerpunkt seiner Ausführungen liegt in dem Postulate der Zollermäßigung für Getreide, Holz und Naphta.

Das Gespräch in der freundschaftlichen Weise, in welcher es be- gonnen hatte, fortsetzend, sagte ich, daß der Wunsch der russischen Regierung, die Verkehrshemmnisse zu vermindern, bei uns gewiß Ent- gegenkommen finden würde; daß es mir auch ganz natürlich scheine, wenn Herr von Wyschnegradski dringend wünsche, den russischen Grundbesitzern leichteren Absatz für ihr Getreide zu schaffen, da sie ohnehin unter dem hohen Kurs, der ihm zu verdanken ist, zu leiden haben und ihm darum nicht freundlich gesinnt seien. Aber, so fuhr ich fort, die Großindustriellen und die reichen Moskauer Schutz- zöllner werde sich der Herr Finanzminister auch nicht verfeinden wollen; wie stark diese sind, wisse ich aus langer Erfahrung; vor 25 Jahren, als hier noch eine starke Ökonomistenpartei (gemäßigte Freihändler) bestand, wäre ich Zeuge gewesen, wie ein preußischer Delegierter, Herr Kellerholm, ein Jahr hier zugebracht habe, um Ver- handlungen über Zollerleichterungen zu führen, welche, als sie dem Ziele nahe zu sein schienen, abgebrochen wurden; vor zwölf oder drei- zehn Jahren habe die Mission des Herrn Hitzigrath das gleiche Schicksal gehabt, ebenso wie eine Sendung des sehr gut intentionierten Herrn von Thörner nach Berlin. „Hier auf dieser selben Stelle," sagte ich, „habe ich Ihnen im Auftrage des Fürsten Bismarck, welcher damals wegen der Lasker-Feier mit dem amerikanischen Gesandten Mr. Sargent einen Konflikt hatte*, große Erleichterungen der Petroleumeinfuhr an- geboten gegen sehr geringe Gegenleistungen und dann sogar ohne jede solche, und nach Beratung mit den Herren Abasa, Bunge und Baranow haben Sie dieses Anerbieten zurückgewiesen, weil jene Herren fürchteten, daß wir später mit Forderungen kommen würden; Sie wer- den es also erklärlich finden, daß ich mich den Absichten des Herrn Wyschnegradski gegenüber skeptisch verhalte, bis er deutlich gesagt haben wird, was er geben will."

Herr von Giers sagte, der Finanzminister sei ein so erfinderischer Kopf, daß er gewiß Mittel ersinnen werde, um gegenseitige Erleichte- rungen zu ermöglichen; wenn Herr von Wyschnegradski einmal eine Urlaubsreise mache und durch Berlin käme, würden Besprechungen mit den dortigen maßgebenden Persönlichkeiten vielleicht nicht ohne Ergebnis bleiben. Auf diesen Gedanken bin ich nicht näher eingegangen, obwohl ich nicht unterließ, den guten Absichten der russischen Regie-

* Siehe darüber Bismarcks Reichstagsrede vom 13. März 1884. Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, ed. Horst Kohl Bd. X, S. 7 ff.

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rung warme Anerkennung zu zollen und die besten Wünsche für ihre Verwirklichung auszusprechen.

Herr von Giers, dem viel daran gelegen ist, daß etwas zustande komme, sagte dann, es verstehe sich von selbst, daß wir zuvörderst den Abschluß der Wiener Verhandlungen abwarten wollen, ehe wir positive Angaben über dasjenige, was wir Rußland etwa zugestehen könnten, machen.

Zum Schlüsse gestatte ich mir ehrerbietig daran zu erinnern, daß laut dem am 7. Mai/25. April 1887 im russischen „Regierungsanzeiger" veröffentlichten Gesetze die Zölle auf Gußeisen in Gänzen, als Bruch und Abfall, vor dem 1./13. Januar 1898 nicht herabgesetzt werden dürfen.

(gez.) v. Schweinitz

Nr. 1628 Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivl

Eigenhändig

Berlin, den 4. April 1891

Der russische Botschafter war eben bei mir und sagte, er würde in kurzer Zeit zu seiner Freude in der Lage sein, uns einige Vor- schläge zu machen, von denen er hoffe, daß sie die kommerziellen Be- ziehungen beider Länder erleichtern würden. Er sei früher schon zwei- mal in der Lage gewesen, mit Herrn von Berlepsch über diese Dinge zu sprechen; damals hätte seine Autorisation aber nur hingereicht, sie als seine persönliche Ansicht zu berühren. Herr von Berlepsch habe namentlich betont, daß es uns auf Stabilität ankäme. Er habe jetzt in diesem Sinne in Petersburg gesprochen und werde ermäch- tigt werden, offiziell darauf zurückzukommen. Er hoffe, dadurch die guten Beziehungen beider Reiche zu verbessern. Der Carnotsche Orden* sei eine Frage der Courtoisie, über die er auch mit Herrn von Schweinitz gesprochen habe und die sicherlich von uns richtig verstanden werden werde.

Ich bitte nun, der bulgarischen Anleihe unsere Börse zu versagen.

V. Caprivi

Nr. 1629

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Eigenhändig

Berlin, den 14. April 1891 Der russische Botschafter kam beim heutigen Empfangstag auf unsere früheren Unterredungen wegen einer kommerziellen Annähe-

Am 25. März war dem Präsidenten Carnot durch den Botschafter von Mohren- heim der St. Andreas-Orden überreicht worden. Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1494.

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rung zwischen Deutschland und Rußland zurück und teilte mir untt. Hervorhebung der Notwendigkeit, die Sache vorläufig streng geheim zu halten, folgendes mit:

Herr Wyschnegradski stelle folgendes Raisonnement an: von dei russischen Gesamteinfuhr in Deutschland betrage die Getreideeinfuhr zirka ein Drittel; lasse man diese letztere außer Betracht, so hielten sich die restierenden zwei Drittel der deutschen Einfuhr in Rußland etwa die Wagschale; daß die deutsche Einfuhr in Rußland in den letzten Jahren gegen früher erheblich zurückgegangen sei, rühre vor- nehmlich daher, daß durch den Kampf, welchen Fürst Bismarck gegen die russischen Finanzen geführt habe, der Rubelkurs zum Sinken ge- bracht worden sei seitdem letzterer sich wieder in steigender Rich- tung bewege, nehme auch die deutsche Einfuhr in Rußland wieder zu.

Wenn nun Deutschland geneigt sein würde, Rußland bezüglich der Einfuhr in Getreide und von Holz mit Österreich-Ungarn gleich zu behandeln, auch bezüglich der Kerosine eine Zollermäßigung ein- treten zu lassen, so werde Rußland seinerseits bereit sein, Gegen- konzessionen bezüglich seines Zolltarifs zu machen. Nach Rücksprache, die er Graf Schuwalow mit verschiedenen Sachverständigen, auch Herrn von Berlepsch, genommen, bezögen sich die deutschen Wünsche auf etwa sechs bis sieben Positionen darunter landwirtschaftliche Maschinen. Eine Stabilisierung der russischen Zölle hinsichtlich dieser Punkte werde voraussichtlich keine Schwierigkeit machen und damit, wenn auch zunächst in beschränktem Umfange, die Basis für eine Annäherung zu gewinnen sein.

Ich habe dem Grafen Schuwalow erwidert, daß, nachdem er mir vertraulich die Anschauungen des Herrn Wyschnegradski mitgeteilt habe, ich keinen Anstand nehme, ihn von der Auffassung, die ich persönlich mir vorläufig gebildet, in gleich vertraulicher Weise Kenntnis zu geben. Wenn ich die Möglichkeit der Gewährung der Österreich- Ungarn eventuell zu konzedierenden Agrarzölle an Rußland für nicht ausgeschlossen erachte und auch die Ermäßigung des deutschen Zolls auf Kerosine nicht a limine zurückweise, so könne von beiden Dingen doch nur die Rede sein, wenn Rußland vollwertige Gegenkonzessionen gewähre. Und als solche vermöge ich die Minderung der gegen- wärtigen russischen Einfuhrzölle in keiner Weise zu betrachten. Ob Herr von Wyschnegradski das vor zwei bis drei Jahren eingetretene Sinken des Rubelkurses mit Recht oder Unrecht der damaligen deut- schen Regierung zuschreibe, wolle ich nicht untersuchen; dagegen stehe fest, daß, nachdem der Rubelkurs sich zu erholen begonnen, und damit die Aussicht einer Hebung des deutschen Imports in Ruß- land wieder eingetreten war, der russische Finanzminister den steigen- den Rubelkurs als Motiv benutzte, um die Zölle, speziell auf die wich- tigsten deutschen Provenienzen wiederholt zu erhöhen, zum letztenmal im Jahre 1890 um zwanzig Prozent. Damit hätten die russischen Zölle

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eine Höhe erreicht, daß sie bezüglich einer Reihe der wichtigsten deutschen Artikel prohibitiv wirkten. An der Bindung prohibitiver Zölle hätten wir lediglich kein Interesse, sondern nur an einer Ermäßigung, die den Zugang unserer Produkte wieder ermögliche. Unser zweites Gravamen sei die differenzielle Behandlung, welche in Rußland zum Nachteile wichtiger deutscher Provenienzen, wie Kohlen, Roheisen, Baumwolle usw. bestehe. Wenn Rußland die Begünstigungen unseres demnächst zum Abschluß gelangenden Vertrags mit Österreich-Ungarn sich zu sichern wünsche, so werde es kein unbilliges Verlangen sein, wenn auch wir unsrerseits die Aufhebung der differenziellen Behand- lung seitens Rußlands begehrten.

Graf Schuwalow frug mich schließlich, ob [ich] nicht in der Lage sein würde, ihm die Positionen des russischen Zolltarifs zu bezeichnen, bezüglich deren wir eine Ermäßigung der Zollsätze wünschten? Ich erwiderte ihm, daß ich, nachdem Herr von Wyschnegradski seine De- siderien formuliert habe, auch keinen Anstand nehmen werde, ihm bei einer demnächstigen Unterredung meine persönliche Anschauung über die voraussichtlich von Deutschland zu begehrenden Gegenkonzessionen mitzuteilen, immer unter der Voraussetzung, daß meine bezüglichen Äußerungen gerade so unverbindlich sein würden, wie diejenigen des russischen Finanzministers.

Marschall

Nr. 1630

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Reinschrift

Berlin, den 21. April 1891 Bei dem heutigen Diplomatenempfange habe ich dem Grafen Schuwalow mit Bezug auf seine handelspolitischen Eröffnungen folgen- des mitgeteilt:

Wir seien, wie dem Herrn Botschafter bekannt, stets von dem Wunsche geleitet, die guten Beziehungen, welche zwischen unseren beiden Ländern beständen, zu erhalten und zu pflegen; wie auf politi- schem Gebiete keine erhebliche Divergenz in den Interessen Rußlands und Deutschlands bestehe, so lägen auch auf kommerziellem Gebiete die Verhältnisse keineswegs so, daß eine Verständigung über einzelne Punkte als ausgeschlossen zu betrachten sei. Die An- schauung, daß man politisch in Freundschaft leben und sich gleichzeitig handelspolitisch bekriegen könne, vermöchte ich nicht zu teilen; zum mindesten würden in unserer Zeit, da die materiellen Interessen so sehr im Vordergrunde ständen, die guten politischen Beziehungen eine weitere Garantie der Stetigkeit erhalten, wenn auch

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auf kommerziellem Gebiete eine Verständigung eintrete. Ich hätte darum die private Mitteilung über die persönlichen Ansichten des Herrn von Wyschnegradski einer sorgfältigen Prüfung unterzogen und wolle dem Herrn Botschafter das Resultat derselben mit dem Vorbehalte unterbreiten, daß auch ich zurzeit nur meine persönliche Auffassung von der Sachlage kundgeben könne.

Ich wolle mit Herrn von Wyschnegradski die russisch-deutsche Getreideeinfuhr vollständig außer acht lassen und nur den übrigen Handelsverkehr der beiden Länder ins Auge fassen. Die Auffassung, daß, wenn man von dem Getreide absehe, die Einfuhr russischer Pro- dukte nach Deutschland und die Einfuhr deutscher Produkte nach Rußland ungefähr balanciere, möge nach der russischen Statistik zu- treffen, weil vermutlich der Durchgangsverkehr in den betreffenden Zahlen einbegriffen sei. Lasse man den Durchgangsverkehr, an wel- chem Deutschland doch nur ein sekundäres Interesse habe, außer Be- tracht, so ergebe sich, daß 1889 Rußland nach Deutschland für etwa 230 Millionen Mark, Deutschland nach Rußland für etwa 160 Millionen Mark Güter eingeführt habe. Die russische Einfuhr habe daher zur- zeit ein surplus von zirka 70 Millionen Mark. Dabei sei besonders hervorzuheben, daß von den aus Rußland nach Deutschland eingeführ- ten Waren etwa die Hälfte zollfrei eingehe, während die deutsch- russische Einfuhr durchweg einem bedeutenden und in den letzten zehn Jahren wiederholt gesteigerten Zoll unterliege. Die gegenwärtige Situation für Deutschland sei also: Unterbilanz von 70 Millionen Mark, sinkende Einfuhr nach Rußland infolge der neuesten russischen Zoll- erhöhungen, andererseits steigende Einfuhr von Rußland nach Deutsch- land.

Für die Bindung dieses für Deutschland ungünstigen Zustandes irgendeine Konzession zu machen, sei unmöglich; vielmehr sei die erste Voraussetzung irgendeiner handelspolitischen Abmachung, daß Rußland seine Zölle soweit ermäßige, daß wenigstens unsere wichtig- sten Artikel wieder lohnend nach Rußland eingeführt werden könnten ; nur unter dieser Voraussetzung könne überhaupt von Konzessionen unsererseits bezüglich des Getreides, Holz und Kerosine die Rede sein.

Auf Anfrage des Herrn Botschafters, ob ich in der Lage sei, ihm die Artikel zu benennen, bezüglich deren wir eine Ermäßigung des Zolles wünschten, erwiderte ich, daß wir nach zweierlei Richtung Konzessionen verlangen müßten:

1. Zollermäßigung verschiedener Positionen innerhalb folgender Gruppen: Metallwaren, Instrumente, Maschinen und Fahrzeuge, Che- mikalien, Farbstoffe und Salz, Baumwollen-, Wollen- und Seidenwaren, Hopfen, Gemüse, Zucker, Kohlen und Koks; und hier müßten die Zollermäßigungen bezüglich einzelner Positionen weitergehen als die bloße Aufhebung des im vorigen Jahre beschlossenen Zuschlags von 20%.

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2. Aufhebung der Differenzialzölle für Roheisen, Kohle, Koks, Baumwolle.

Auf die Bemerkung des Herrn Botschafters, daß es sich zunächst nicht um einen traite de commerce, sondern nur um ein Arrangement handeln werde als ersten Schritt zu späterer weiterer Verständigung, und daß es die Abmachung erleichtern werde, wenn zunächst nicht zu viele Gegenstände in die Verhandlung einbezogen würden, erwiderte ich, daß ich den Gedanken, zunächst nur ein „Arrangement", nicht einen förmlichen Vertrag anzustreben, gern akzeptierte und nicht auf die Zahl der Gegenstände, auf welche sich die Abmachung erstrecke, sondern darauf das entscheidende Gewicht lege, daß wir zu einem Zustande gelangten, bei dem abgesehen von dem Getreide die Einfuhr von Deutschland nach Rußland und diejenige von dort wieder ins Gleichgewicht gebracht würde, welches durch die russische Zoll- maßregel zu unseren Ungunsten sich verschoben habe.

Graf Schuwalow stellte mir weitere Mitteilungen in Aussicht.

Marschall

Nr. 1631

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Petersburg von Schweinitz

Konzept

Nr. 160 Berlin, den 6. Mai 1891

Geheim

Ew. beehre ich mich, anliegend Aufzeichnungen über zwei Unter- redungen, welche ich im vergangenen Monate mit dem Grafen Schu- wolaw über die deutsch-russischen Handelsbeziehungen gehabt habe*, zur gefälligen vertraulichen Information ergebenst zu übersenden.

Ew. werden daraus entnehmen, daß unsere Unterredungen sich noch immer in dem Rahmen eines privaten Meinungsaustausches hal- ten und die Äußerungen des Grafen Schuwalow keinerlei Gewißheit darüber geben, ob es der russischen Regierung in der Tat ernst ist mit der Absicht, bessere Handelsbeziehungen mit Deutschland anzu- bahnen, oder ob die wiederholten Anregungen nur den Zweck von Rekognoszierungen über die Tendenz unserer Handelspolitik verfolgen. Der Umstand, daß mir Graf Schuwalow schon wiederholt eine schrift- liche Aufzeichnung über die Gedanken des Herrn von Wyschnegradski in Aussicht gestellt hat, bisher aber eine derartige Mitteilung nicht er- folgt ist, erweckt den Eindruck, daß man in Petersburg zurzeit noch zwischen der Befürchtung, von Deutschland bezüglich von Getreide und Holz differenzieil behandelt [zu werden] und der Hoffnung schwankt,

* ^iche Nr. 1629 und 1630. 3Q8

daß wir aus Rücksicht auf unsere östlichen Provinzen ohnehin dazu gezwungen sein würden, Rußland dieselben Vorteile zu gewähren, die wir Österreich-Ungarn eingeräumt haben. Würde die letztere An- schauung die Oberhand gewinnen, so dürfte der Wunsch des russischen Finanzministers, mit uns zu einer handelspolitischen Berührung zu gelangen, eine wesenthche Abschwächung erfahren.

Unter diesen Umständen wird es rätlich sein, dem russischen Finanzminister darüber keinen Zweifel zu lassen, daß für uns die Ent- scheidung, ob wir Rußland differenziell behandeln sollen oder nicht, keineswegs nur von der Rücksicht auf gewisse Interessengruppen unserer östlichen Provinzen, sondern auch davon abhängen wird, welche handelspolitische Stellung Rußland uns gegenüber einnimmt. Sollte Herr von Wyschnegradski glauben, daß wir Rußland bezüglich des Getreides, Holz usw. die faktische Meistbegünstigung auch dann einräumen würden, wenn Rußland die auf allmählichen Ausschluß deut- scher Produkte zielende Handelspolitik weiter verfolgt, so würde eine solche Auffassung als eine irrtümliche zu bezeichnen und darauf hinzuweisen sein, daß auf die Dauer kein Land exportieren kann, welches seine Grenzen dem fremden Importe verschließt, und wir nicht in der Lage sind, die Einfuhr der russischen Massenartikel dauernd zu erleichtern, wenn gleichzeitig unser Export nach Rußland systematisch unter- bunden und zurückgedrängt wird.

In der Unterredung mit dem russischen Botschafter war ich ferner wiederholt veranlaßt, der Auffassung entgegenzutreten, als ob eine Basis für eine handelspolitische Annäherung darin zu finden sei, daß Deutschland seine Getreide-, Holz- und eventuell Petroleumzölle er- mäßige, Rußland dagegen sich zur Bindung einer Anzahl von Posi- tionen verstehe. Es genügt darauf hinzuweisen, daß schon im Jahre 1886 der damalige Zustand für Deutschland für so unbefriedigend er- achtet wurde, daß Opfer zur Stabilisierung desselben als ausgeschlossen erschienen; es wurde festgestellt, daß die russische Zollerhöhung ge- rade die deutschen Hauptartikel getroffen, daß sie auf verschiedene dieser Artikel prohibitiv gewirkt hatten und die Einfuhr deutscher Artikel differenziell belastet war. Das Bild hat sich seit 1886 nicht gebessert sondern erheblich verschlechtert. Die Differenzialzölle auf Kohlen und Koks, auf Gips, Kreide, Zucker usw. blieben bestehen; es wurden neu eingeführt Differenzialzölle auf Roheisen, Rohbaumwolle. Speziell erhöht wurden ferner die Zölle auf wichtige Textilwaren, Metall- waren usw. Vor allem aber ist durch den im September 1890 verfügten allgemeinen Zollzuschlag von 20 o/o der Vorteil der inzwischen ein- getretenen Steigerung des Rubelkurses mehr als aufgewogen.

Unter diesen Umständen erscheint es als die Vorbedingung eines jeden handelspolitischen Abkommens, daß bezüglich einer Anzahl wich- tiger deutscher Exportartikel in eine Ermäßigung des russischen Zolles gewiUigt wird. Unsere speziellen Desiderien werden wir benennen,

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sobald wir die Überzeugung gewonnen haben, daß Rußland ernstlich sich uns zu nähern wünscht. Bei der großen Anzahl der Artikel, welche wir nach Rußland exportieren, dürfte es nicht unmöglich sein, für einzelne derselben Konzessionen zu erzielen, die ein Äquivalent für die uns angesonnenen Erleichterungen bieten, ohne für Rußland einen Bruch mit dem Systeme des Schutzes der nationalen Arbeit zu bedeuten. Von diesem Gesichtspunkte aus sind wir bereit, den vom Grafen Schuwalow wiederholt geäußerten Gedanken zu akzeptieren, daß wir uns beiderseits bei diesem ersten Schritte handelspolitischer Annäherung tunlichste Beschränkung auferlegen und zunächst keinen eigentlichen Handelsvertrag, sondern nur eine Verständigung über ein- zelne Fragen ins Auge fassen sollten.

Euer pp. bitte ich, sich sowohl Herrn von Giers wie Herrn von Wyschnegradski gegenüber im Sinne dieser Darlegungen zu äußern. Die jüngst erfolgte Paraphierung des deutsch-österreichischen Handels- vertrags und die Anwesenheit des Grafen Schuwalow in Petersburg wird voraussichtlich Anlaß zu Besprechungen über die Frage bieten. Zur näheren Information Ew. pp. beehre ich mich, ein Promemoria des diesseitigen Referenten über das dermalige deutsch-russische handels- politische Verhältnis ergebenst anzuschließen.

Marschall

Nr. 1632

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Reinschrift

Berlin, den 23. Mai 1891 Der österreichisch-ungarische Botschafter hat mich heute auf- gesucht und mich vertraulich um Aufschluß darüber gebeten, ob an den vielfachen Zeitungsnachrichten, wonach zwischen Deutschland und Rußland Handelsvertragsverhandlungen schwebten, irgend etwas Wahres sei.

Ich habe dem Grafen Szechenyi erwidert, daß alle diese Nach- richten insgesamt der Begründung entbehrten; es läge nichts anderes vor, als daß wir auf indirektem Wege in Erfahrung gebracht hätten, der russische Finanzminister wünsche eine handelspolitische Annähe- rung zwischen Deutschland und Rußland, und daß demnächst Graf Schuwalow und ich die Frage gelegentlich in rein akademischer Weise besprochen hätten, wobei sowohl seitens des russischen Botschafters der Mangel eines amtlichen Auftrages wie meinerseits der rein private und unverbindliche Charakter meiner Äußerungen besonders betont worden sei. Auch bei diesen Unterredungen sei übrigens niemals von einem „Handelsvertrag", sondern nur von Verständigung über

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einzelne Punkte behufs Anbahnung eines besseren handelspolitischen Verhältnisses gesprochen worden. Ob es Rußland überhaupt ernst sei, mit uns eine solche Verständigung zu suchen, darüber fehle uns bis jetzt jeder bestimmte Anhaltspunkt.

Als Graf Szechenyi sodann auf unsere gelegentlich der deutsch- österreichischen Handelsvertragsverhandlungen gegebene Erklärung, daß vi'ir zurzeit nicht die Absicht hätten, die Österreich-Ungarn ge- währten agrarischen Konzessionen auch Rußland einzuräumen, hin- wies und die Frage an mich richtete, ob etwa in diesen Anschauungen inzwischen bei uns eine Änderung eingetreten sei, habe ich erwidert, daß in unseren handelspolitischen Verhältnissen zu Rußland bis jetzt nichts eingetreten sei, was geeignet wäre, unsere bezüglichen Absichten zu modifizieren, daß übrigens die Frage der Verallgemeinerung der Österreich-Ungarn gewährten agrarischen Konzessionen keineswegs allein aus dem Gesichtspunkte unserer kommerziellen Beziehungen zu Rußland werde entschieden werden, vielmehr in dieser Beziehung eine Reihe interner und technischer Momente die Rücksicht auf Handel und Verkehr in unseren östlichen Provinzen, die technische Ausführ- barkeit einer differenziellen Behandlung, die Frage, ob und inwieweit die indirekte Einfuhr über meistbegünstigte Länder zu hindern sei in die Wagschale fielen.

Marschall

Nr. 1633

Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Reinschrift

Berlin, den 25. November 1891

Herr von Giers, mit dem ich heute eine längere Unterredung hatte, betrat das politische Gebiet mit der Bemerkung, daß er durch den Grafen Schuwalow von dessen Besprechungen mit mir über han- delspoütische Fragen gehört habe und dringend wünsche, daß eine Einigung zwischen Deutschland und Rußland zustande komme. Ich erwiderte, daß wir diesen Wunsch teilten und daher die uns unter- breiteten Vorschläge einer sorgfältigen Prüfung unterziehen würden, pp.

Herr von Giers kam zum Schluß nochmals auf die kommerzielle Frage zurück, die ihm offenbar sehr am Herzen lag. Er wies darauf hin, daß, als der Zar vor einigen Jahren hier zum Besuche gewesen, Fürst Bismarck das Lombardverbot für russische Papiere gerade an demselben Tage erlassen habe*. Der Kaiser sei dadurch froissiert geworden. Herr von Giers glaubt nicht an die Maxime des Fürsten

* Siehe Bd. V, Kap. XXXVI, Anhang A

26 Die Große Politik. 7. Bd. 401

Bismarck, daß man politisch gut stehen und sich wirtschaftlich bekriegen könne. Ich erwiderte, daß das Lombardverbot nur eine Antwort auf zahlreiche uns schwer schädigende Maßregeln der russischen Regie- rung gewesen sei. Das werde uns nicht abhalten, die russischen Vorschläge sorgfältig zu prüfen, immerhin müßten wir dabei mit unserer öffentlichen Meinung rechnen, pp.*.

Marschall

Nr. 1634

Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt

von Holstein

Eigenhändig

Berlin, den 30. November 1891

Graf Szechenyi besuchte mich heute zum erstenmal nach seiner Rückkehr, pp.

Bezüglich der Anwesenheit des Herrn von Giers** sagte ich, daß seine Äußerungen friedlich aber ohne besonderes politisches Interesse gewesen seien; die französische Regierung habe er gegen den Verdacht in Schutz genommen, daß sie in den lateinischen Nachbarländern re- publikanische Propaganda treiben wolle.

Graf Szechenyi erwiderte, er wisse, daß der Schwerpunkt der Eröffnungen des Herrn von Giers auf wirtschaftlichem Gebiete liege.

Ich erwiderte, Rußland habe seiner Getreideausfuhr die Türen von innen verschlossen, während seine verringerte Kaufkraft keine besonderen Vorteile für unsere Ausfuhr verhießen, selbst in dem jetzt noch nicht vorliegenden Falle, wo Rußland die Zölle sollte herab- setzen wollen. Diese ungünstige Lage Rußlands werde voraussichtlich Jahr und Tag dauern, sich vielleicht auch noch verschlimmern. Gerade im jetzigen Augenblick würde daher eine wirtschaftliche Abmachung mit Rußland für uns und zwar aus rein wirtschaftlichen Gründen kaum vorteilhaft sein.

Der Botschafter sagte darauf, die russische Regierung beschäftige sich zurzeit nicht mit der Zollfrage, sondern mit der Finanzfrage. Sie suche nach Mitteln, den drohenden Finanzkrach abzuwenden, und sei deshalb bestrebt, den deutschen Geldmarkt wieder für russische Werte zugänglich zu machen. Er, Graf Szechenyi, habe gehört, daß der Herr Reichskanzler persönlich einem Entgegenkommen gegen Ruß-

* Die hier ausgelassenen Teile der Marschallschen Aufzeichnung siehe in Kap. XLVII, Nr. 1515.

** Er weilte am 23. und 24. November, von Paris kommend, in Berlin und wurde bei dieser Gelegenheit vom Kaiser und vom Reichskanzler v. Caprivi empfangen. Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1513 ff.

402

land in dieser Frage, d.h. einer Aufhebung des russischen Lombard- verbots zuneige*.

Ich erwiderte, der Botschafter möge sich deswegen an den Herrn Staatssel<retär wenden, welcher genauer als ich mit den Ansichten des Herrn Reichskanzlers bekannt sei. An sich sei es nicht wahr- scheinlich, daß man seitens der deutschen Regierung dazu werde bei- tragen wollen, das deutsche Kapital zum Ankauf russischer Werte zu ermutigen. Denn einerseits werde wegen budgetärer und vielleicht auch innerer sozialer Schwierigkeiten der russischen Regierung ein erhebliches Fallen der russischen Fonds erwartet, andererseits habe auf Jahr und Tag hinaus Rußland aus den bereits angedeuteten Grün- den nichts zu bieten, was dem Risiko, dem man das deutsche Kapital aussetzen würde, als Gleichgewicht würde dienen können. Dies sei die gegenwärtige Lage der Sache. Für die Zukunft bleibe die Regelung unserer wirtschaftlichen Beziehungen als offene Frage be- stehen, pp.

Holstein

Siehe Bd. V, Kap. XXXVI, Anhang A.

26» 403

Kapitel L

Der Draht nach Rußland 1892-1894 A. Äußere Politik

Nr. 1635

Der Gesandte in Kopenhagen Freiherr von den Brincken an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 62 Kopenhagen, den S.Juni 1892

Vertraulich

Der Prinz von Wales, welcher seit der Zeit meines Aufenthalts in England bei sich bietendem Anlaß mir immer viel Huld und Gnade zu erweisen pflegt, hat am 4. d. Mts. noch kurz vor seiner Abreise von Kopenhagen mich „als alten Londoner Bekannten" in Privataudienz empfangen und mit einer längeren Unterredung beehrt.

Wegen der tiefen Trauer um den Herzog von Clarence* ist meines Wissens außer dem englischen Gesandten und mir keiner der in Kopenhagen beglaubigten fremden Vertreter von Seiner Königlichen Hoheit während des jetzigen Hierseins gesehen worden.

Im Laufe des von dem Prinzen mit mir geführten Gesprächs er- wähnte höchstderselbe auch den bevorstehenden Besuch des Kaisers von Rußland bei Seiner Majestät dem Kaiser und Könige in Kiel und bezeichnete diese Begegnung als eine im Interesse des allgemeinen Friedens durchaus erwünschte und in sich selbst bedeutungsvolle Be- gebenheit.

Mit dieser Äußerung verband Seine Königliche Hoheit die weitere Bemerkung, daß König Christian sich ein nicht unwesentliches Ver- dienst um die Herbeiführung des betreffenden Besuchs erworben habe, da derselbe an dem Tage der goldenen Hochzeit** eine direkte Bitte^ dieserhalb an seinen kaiserlichen Schwiegersohn gerichtet habe, deren Gewährung von dem Zaren dann ohne irgendwelche Einwendungen oder Schwierigkeiten zu machen sogleich zugestanden worden sei.

Auch von anderer Seite waren mir bereits vor der Unterredung mit dem Prinzen von Wales ähnlich lautende Mitteilungen über eine von König Christian in der gedachten Richtung ausgeübte Einwirkung zugegangen.

Bei Gelegenheit eines zufälligen Zusammentreffens mit dem Könige von Dänemark am 6. d. Mts. hat Seine Majestät über die Begegnung in

* Albert Victor, Herzog von Clarence, ältester Sohn des Prinzen von Wales,

t 14. Januar 1892.

** 26. Mai 1892. Vgl. Kap. XLIX, Nr. 1622.

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Kiel sich höchstselbst gegen mich etwa mit folgenden Worten aus- gesprochen:

„Ich freue mich aufrichtig über den morgen stattfindenden Besuch des Kaisers von Rußland bei Ihrem Kaiserlichen Herrn. Zur Herbei- führung des betreffenden Entschlusses hat es allerdings hier einer kleinen Pression bedurft. Immerhin bleibt es doch die Hauptsache, daß der Besuch gemacht wird, und gereicht es mir zu besonderer Freude, daß derselbe von hier aus geschieht."

Daß König Christian eine Begegnung des Kaisers von Rußland mit des Kaisers und Königs Majestät von jeher gewünscht hat und in dieser Beziehung auch zu wirken bemüht gewesen ist, kann meines gehorsamsten Erachtens sicherlich nicht in Zweifel gezogen werden.

Es ist daher vielleicht nicht zu verwundern, daß, nachdem der Besuch fest beschlossen war, beziehungsweise nachdem derselbe nun- mehr stattgefunden hat, man an dem Zustandekommen der betreffen- den Begegnung ein gewisses Verdienst hier bei Hofe für sich in An- spruch zu nehmen geneigt ist.

Nichtsdestoweniger glaube ich, auf Grund der von mir gemach- ten Wahrnehmungen und gewonnenen Eindrücke an der bereits früher ehrerbietigst ausgesprochenen Ansicht festhalten zu sollen, daß der Entschluß des Kaisers Alexander, unserem allergnädigsten Herrn einen Besuch abzustatten, im Prinzip schon vor der Reise nach Kopenhagen festgestanden hat und vielleicht nur die letzte Entscheidung über die wegen der Zeit und der Einzelheiten der Begegnung unserem aller- höchsten Hofe zu machenden Vorschläge hier getroffen worden ist.

Brincken

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:

* Das ist sehr viel

Nr. 1636

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freinerr von Marschall an den Botschalter in Petersburg von Schweinitz*

Telegramm. Eigenhändiges Konzept

Nr. 46 Berlin, den Q.Juni 1892

Die vorgestrige Entrevue zwischen Seiner Majestät und dem Zaren in Kiel ist in der befriedigendsten Weise verlaufen. Nachdem schon die erste Begegnung an Bord der „Hohenzollern" sehr herzlich ge- wesen war, verkehrten die beiden Monarchen während des ganzen Tages in ungezwungener und heiterer Weise zusammen. Unserem allergnädigsten Herrn gelang es durch seine Liebenswürdigkeit sieht-

* Das Telegramm ging auch an die Botschafter in Wien (Nr. 102), Rom und London, sowie an die preußischen Gesandten in München, Stuttgart, Dresden und Karlsruhe.

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lieh, den hohen Gast in die beste Stimmung zu versetzen, welche während des ganzen Tages unverändert andauerte. Sowohl während des Frühstücks wie bei der Oalatafel und bei der Bootfahrt am Nach- mittage führten die Monarchen lebhafte Gespräche; auch da, wo die Monarchen allein waren, wurde Politik nicht berührt. Kurz vor der Galatafel ernannte Seine Majestät den Zaren mit dessen Zustimmung zum Admiral ä la suite der deutschen Flotte. Der Toast des Kaisers lautete: „Ich trinke auf das Wohl Seiner Majestät des Zaren, des Admirals ä la suite der deutschen Flotte." Der Zar antwortete in französischer Sprache auf den Kaiser mit dem Ausdruck des Dankes „pour toutes les bontes que Votre Majeste a eues pour moi." Die Abreise des Zaren erfolgte abends gegen 10 Uhr.

Nach einem Telegramm des Kaiserlichen Gesandten in Kopen- hagen hat der Zar sowohl seiner Gemahlin wie dem Könige von Dänemark telegraphisch seine hohe Befriedigung über den ihm zuteil gewordenen Empfang ausgedrückt.

Unser Eindruck ist, daß die Kieler Zusammenkunft an der augen- blicklichen politischen Situation zwar nichts Wesentliches ändert, die persönliche Annäherung beider Monarchen aber eine neue bedeutsame Friedensgarantie bildet. Der Zar hat durch seinen Besuch während des Nancyer Festes* bekundet, daß für ihn eine elsaß-lothringische Frage nicht existiert, und er trotz Kronstadt für eine französische Re- vanchepolitik nicht zu haben ist. Dieser Eindruck bleibt bestehen, auch wenn der Besuch des Großfürsten Konstantin in Nancy auf Befehl des Zaren oder mit dessen Genehmigung** erfolgt sein sollte.

Marschall

Nr. 1637

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 160 Wien, den 10. Juni 18Q2

Der Kaiser von Österreich, den ich in letzter Zeit häufiger zu sehen die Ehre hatte, ist den Vorbereitungen für die Zusammenkunft Seiner Majestät des Kaisers und Königs mit dem Zaren mit Aufmerk- samkeit gefolgt und hatte Nachrichten aus Berlin gehabt, wonach unser

* Vom 5. bis 8. Juni fand in Nancy ein Studententurnfest statt, dem schon durch die Tatsache, daß alle Universitäten mit alleiniger Ausnahme der deutschen ge- laden waren, ein deutschfeindlicher Charakter aufgeprägt wurde. Auf dem Feste erschien auch der zur Zeit in einem französischen Bade weilende Großfürst Kon- stantin, der mit ungeheurem Jubel begrüßt wurde. Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1588. ** Tatsächlich hatte Großfürst Konstantin, wie Botschafter von Schweinitz am 10. Juni auf Grund von Äußerungen des Ministergehilfen Schischkin berichtete, die Erlaubnis des Zaren zu dem Besuch in Nancy eingeholt

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allergnädigster Herr mit wenig Befriedigung über die ganze Sache allerhöchst sich ausgesprochen hätte.

Um so froher war Kaiser Franz Joseph, als ich ihm gestern abend bei dem großen Hoffest mitteilen konnte, was mir Euere Exzellenz durch Telegramm Nr. 102* über den vortrefflichen Verlauf der Entrevue zu eröffnen die Gewogenheit gehabt haben.

Der Kaiser verkennt nicht die hohe Bedeutung dieser Zusammen- kunft und begrüßt mit aufrichtiger Freude in der erfolgten Annäherung der beiden Monarchen eine neue Friedensgarantie.

Dagegen wollte dem Kaiser das unerwartete Erscheinen des Groß- fürsten Konstantin in Nancy** durchaus nicht gefallen. Russischerseits habe man der Franzosen wegen den guten Kieler Eindruck abschwächen wollen, und das sei zu beklagen. Es freute den Kaiser zu hören, wie ruhig dieses Intermezzo bei uns aufgefaßt würde, er bemerkte aber, daß man doch keine zu großen Hoffnungen auf die in Kiel gezeigte gute Laune des Kaisers Alexander bauen dürfe. Immerhin wolle er auch gern das Beste glauben.

Graf Kälnoky teilte mir heut ein Telegramm des Grafen Wolken- stein mit, wonach man in St. Petersburg wissen wolle, Baron Mohren- heim habe dem jungen Großfürsten geraten, den Präsidenten der fran- zösischen Republik gerade zur selben Zeit zu besuchen, wo Kaiser Alexander sich für die Fahrt nach Kiel rüstetet

Der Minister äußert sich meinen Kollegen gegenüber in einer sehr zufriedenen Weise über die Kieler Zusammenkunft. Er ist, wie ich bereits zu melden mich beehrte, überhaupt bemüht, den hohen Wert dieses Ereignisses herauszustreichen. H.VII. P. Reuß

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:

1 Ist im allgemeinen richtig, blos der Rath tel quel ward nicht gegeben sondern die Angelegenheit dahin gefingert.

Nr. 163S

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 288 Wien, den 15. November 1892

Mit ganz gehorsamster Bezugnahme auf meinen Bericht Nr. 287 vom 13. d. Mts., den Besuch Seiner Kaiserlichen Hoheit des Thronfolgers von Rußland am hiesigen Hofe betreffend, beehre ich mich, die hier- über eingezogenen Erkundigungen in nachstehendem zusammen- zufassen.

* Siehe Nr. 1636, S. 408, Fußnote. ** Vgl. Nr. 1636, S. 409, Fußnote **.

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Es ist der Wunsch des hiesigen kaiserlichen Hofes gewesen, den hohen Gast mit ganz besonderer Aufmeri<samkeit zu behandeln. Ob die verschiedenen Nuancen von letzterem bemerkt worden sind, ist zweifelhaft, wenigstens wurde mir von Seiten der Herren der russi- schen Botschaft dies bestätigt. Man hat den Großfürsten von dieser Seite darauf aufmerksam machen müssen, wie hoch es anzurechnen sei, daß z. B. Ihre Majestät die Kaiserin Elisabeth bei der Galatafel er- schienen ist. Seit dem ersten Besuche unseres allergnädigsten Herrn in Wien ist dies nicht mehr der Fall gewesen.

Wie mir Seine Majestät der König von Rumänien erzählte, hat der Kaiser diesem gesagt, er habe mit Absicht diesem Besuch einen ganz besonders feierlichen und herzlichen Charakter geben wollen, um dem russischen Hofe zu zeigen, daß hierseits großer Wert darauf gelegt würde, die persönlichen Beziehungen so freundschafthch wie möglich zu gestalten. Der Zar schlösse sich ganz ab gegen die Außen- welt, sei umgeben von Leuten, die es sich zur Aufgabe machten, ihn den benachbarten Kaiserhöfen zu entfremden. Da habe er es für seine Pflicht gehalten, seinerseits offen zu dokumentieren, daß man hierseits durchaus nicht gewillt sei, die Familienbeziehungen erkalten zu lassen i.

Nach Ansicht des Kaisers würden solche, den Mitgliedern des russischen Kaiserhauses erwiesenen Freundschaftsbezeugungen keinen direkten Einfluß auf die russische Politik ausüben 2; aber man dürfe auch der ferneren Zukunft wegen nie verabsäumen, höflich zu sein. Das habe doch immer einen gewissen Einfluß und man schaffe sich Traditionen, die dann doch einmal günstige Reflexe auf die politische Haltung werfen könnten.

Ganz in demselben Sinne hat sich Seine Majestät auch dem Bot- schafter Grafen Wolkenstein gegenüber geäußert, der seinerseits die Bedeutung solcher Begegnungen nicht unterschätzt und ihnen einen gewissen Wert für die Beziehungen Rußlands, nicht bloß zu Öster- reich-Ungarn sondern auch zu den verbündeten Mächten beilegt.

Der Kaiser Franz Joseph will den Frieden. Er hält es im Interesse der Dreibundspolitik, die die Erhaltung des Friedens izu ihrer Aufgabe gemacht hat, für nützlich, wenn er seinerseits versucht, Rußland gegen- über alles aus dem Wege zu räumen, was zu einem Bruch führen könnte. Er glaubt, daß bessere persönliche Beziehungen zwischen beiden Höfen dazu beitragen ^ könnten.

Dem Kaiser Franz Joseph ist die Persönlichkeit des Thronfolgers sympathisch und er hat ihm dies auch durch die herzliche Weise, wie er ihn behandelt hat, zu erkennen gegeben.

Dagegen ist dieser Prinz, der übrigens sehr höflich gewesen und unter anderem den Feldzeugmeister Baron Beck in deutscher Sprache angeredet hat, nicht recht aus seiner Reserve herausgekommen. Aus großer Verlegenheit hat er sich unbeholfen gezeigt*; die Unterhaltung bei Tafel, wo er zwischen den beiden Majestäten gesessen, ist nur

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sehr mühsam in Fluß zu erhalten gewesen, sodaß selbst die hiesigen russischen Herren durchaus nicht befriedigt von dem linkischen Be- nehmen ihres Thronfolgers gewesen sind.

Wie ich höre, ist von Politik gar nicht gesprochen worden, wenn auch Graf Kalnoky eine Audienz beim Thronfolger gehabt hat. Man ist aber hier mit dem Effekt, den der russische Besuch hier und außer Österreich hervorgebracht hat, zufrieden und macht sich nichts aus der üblen Laune, welche in der französischen Presse sich hier und da ge- zeigt hat. H.VII.P.Reuß

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:

1 Gut

2 richtig ' ja

* weil der arme Junge nie aus der Kinderstube und von den Schürzenbändern der Mama fortgelassen wird

Nr. 1639 Kaiser Wilhelm II. an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Telegramm. Entzifferung

Neues Palais, den 18. November 1892 Der Graf Schuwalow hat mir soeben ein Telegramm seines Souve- räns an ihn vorgelesen, in welchem der Zar den Grafen beauftragt, mir mitzuteilen, daß er wünsche, wenn es angängig wäre, den General von Werder als Nachfolger des Generals von Schweinitz* in St. Peters- burg zu sehen. Der Zar würde es als eine besondere Liebenswürdigkeit meinerseits ansehen, wenn ich diesem Wunsche willfahren sollte, und es würde ihm eine ganz speziell persönliche Freude damit gemacht werden. Ich teilte dem Großfürsten** diese Nachricht mit und be- fragte ihn darob. Aus seinem Gesicht konnte ich entnehmen, daß er darum wußte. Er setzte sofort hinzu, er hoffe sehr, daß sich die Sache machen lasse, da er mir versichern könne, daß sein Bruder ein abso- lutes und unbegrenztes Vertrauen in den General habe, weil dieser offen und ohne Rückhalt ihm schon oft seine Ansichten gesagt habe. Ich habe daraufhin dem Botschafter geantwortet, daß ich für das Ver- trauen Seiner Majestät, sich direkt an mich in dieser Angelegenheit zu wenden, sehr dankbar sei. Es käme bei unseren intimen Beziehungen

* General von Schweinitz reichte am 28, November sein infolge geschwächter Ge- sundheit schon länger geplantes Abschiedsgesuch ein, das am 5. Dezember genehmigt wurde. Der für seine Nachfolge in Frage kommende General von Werder war noch von der Zeit her, wo er Bevollmächtigter in Petersburg gewesen (vgl. Bd. II, Kap. X) war, am russischen Hofe persona gratissima. ** Seit dem 17. November weilte Großfürst Wladimir, von Paris kommend, zu Besucli am deutschen Kaiserhofe. Er brachte Kaiser Wilhelm II. die ersten Nach- richten über die durch die Panamaaffäre hervorgerufene französische Regierungs- krise.

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mir vor allem darauf an, daß der Zar zu meinem Vertreter volles Ver- trauen habe, und sei es mir in diesem Fall eine Freude, seinem Wunsche nachkommen zu können. Falls General von Werder es mit seiner Ge- sundheit leisten könne und Euere Exzellenz einverstanden seien, würde ich ihn schicken.

Wilhelm LR.

Nr. 1640

Der Reichskanzler Graf von Caprivi an Kaiser Wilhelm II., z. Z. in Jagdschloß Göhrde

Telegramm. Eigenhändiges Konzept

Berlin, den 18. November 1892 General von Werder ist bereit, den Posten anzunehmen, seine Gesundheit sei kein Hindernis. Ich befürworte die Sache allerunter- tänigst und stelle anheim. Euerer Majestät Entschluß Seiner Kaiser- lichen Hoheit dem Großfürsten Wladimir mitzuteilen.

In Paris ist Entscheidung erst heut zu erwarten. Ministerium Loubet hat Vertrauensfrage gestellt.

V. Caprivi

Nr. 1641

Kaiser Wilhelm IL, z.Z.in Jagdschloß Göhrde, an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Telegramm. Entzifferung

Göhrde, den 18. November 1892 Seine Kaiserliche Hoheit der Großfürst* ist hoch erfreut über die rasche Erledigung des Wunsches des Zaren und dessen Mitteilung an ihn. Er meint, es werde den allerbesten Eindruck auf Seine Ma- jestät machen. Ich werde Seiner Majestät telegraphisch Mitteilung machen, jedoch ohne Nennung der Namen in unverfänglicher Weise. Graf Schuwalow, den ich orientierte, ist außer sich vor Freude. Groß- fürst bleibt bei seiner Ansicht, daß französisches Ministerium unter allen Umständen fallen werde. Prinz Albert von Altenburg**, den ich vertraulich von der von Werderschen Frage informierte, erklärte, als er vernahm, daß der Zar in dieser Angelegenheit persönlich den ersten Schritt getan habe, daß nach seiner durch Erfahrungen wohl begründe- ten Ansicht eine solche vom Zaren völlig unerwartete Initiative als ein außerordentlich günstiges Zeichen aufzufassen sei.

* Wladimir.

** Er hatte als früherer russisch'^r Generalmajor ä la suite des Kaisers nahe Be- ziehungen zum russischen Hofe.

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Wenn dieser sich so schwer entschließende Herr einen solchen Schritt in so wichtiger Angelegenheit aus sich selbst heraus mache, so sei das als ein absolut sicheres Zeichen anzusehen, daß er die red- liche Absicht habe, mit uns auf einen besseren und freundlicheren Fuß wieder zu kommen. Er begrüße diesen Vorfall mit ungeheuchelter Freude und hege die feste Überzeugung, daß politisch viel Gutes für uns beide dabei herauskommen werde. Er sei der Meinung, daß dieses Ereignis eines der größten und wichtigsten in der augenblick- lichen Politik sei. Das russische politische Publikum, welches eine ungemein feine Nase habe, werde sofort nach Bekanntwerden dieser Sache daraus einen politischen Wink des Zaren erblicken, uns gegen- über mal wieder andere Saiten aufzuziehen und demgemäß wieder deutschfreundlicher sich zu stellen streben.

Der Prinz ist keinen Augenblick im Zweifel, daß bei dem un- begrenzten Vertrauen des Zaren zu General von Werder es demselben sehr bald gelingen werde, des Grafen von Montebello uns gefähr- lichen und schädlichen Einfluß bald aufzuheben und Seine Majestät allmählich aus dem französischen Fahrwasser herauszubringen. Dieses Ereignis in Verbindung mit der Mißstimmung, die augenblicklich gegen Paris umsichzugreifen anfange, werde, da es ziemlich gleichzeitig mit dem Sturz des französischen Ministeriums (Kronstadter Ministerium) zusammenfalle, einen sehr scharfen und ernüchternden kalten Wasser- strahl auf die Franzosen werfen.

Euere Exzellenz werden aus dem vorhergehenden ersehen, wie wichtig von allen Eingeweihten und Wohlmeinenden die Kandidatur von Werders betrachtet wird, und daß wir mit ihm anscheinend einen guten Trumpf in unseren politischen Karten auszuspielen haben. Ich bin erfreut, durch diese Gefälligkeit in der Lage zu sein, dem Zaren von neuem aufrichtigen Beweis meiner persönlichen Freundschaft für ihn habe geben zu können. Zugleich ist dieser Vorfall ein schlagender Beweis wiederum dafür, wie sehr sich seit dem Rücktritt des Fürsten von Bismarck das persönliche Vertrauen des Zaren zu uns ge- hoben hat.

Wilhelm I. R.

Nr. 1642

Kaiser Alexander III. von Rußland, z. Z. in Galschina,

an Kaiser Wilhelm IL, z. Z. in Jagdschloß Qöhrde

Telegramm en clair. Ausfertigung

Gatschina, den 18. November 18Q2 Suis tres heureux de la bonne nouvelle que Tu me donnes et tres sensible ä cette nouvelle preuve de Ton aimabilite en nommant WferderJ ä Petersbourg que Tu savais me ferait plaisir. Mille amities.

Alexandre

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Nr. 1643

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 9 Wien, den 6. Januar 1893

pp. Graf Kälnoky knüpfte hieran* eine allgemeine Betrachtung über die russische Politik. Er hält dafür, wie Euerer Exzellenz bekannt, daß Seine Majestät der Kaiser Alexander durchaus friedliche Absichten hat, und hofft auch, daß, was seine Sympathien und Antipathien betrifft, sich allmähUch eine Wandlung in dem Gemüte des Zaren vollziehen dürfte.

Zu bedauern sei aber, daß sich beim Kaiser der Gedanke fest eingenistet habe, wie der Dreibund in erster Linie gegen Rußland geschlossen worden sei, daß ihm deshalb von dort aus stets Gefahr drohe.

Aus diesem Grunde ließe der sonst so friedfertige Kaiser den allerdings schon seit langer Zeit beschlossenen Aufmarsch der russischen Armee an unseren Grenzen sich vollziehen.

Er, Graf Kälnoky, könne nun einmal den Gedanken nicht los wer- den, daß in dieser großen Ansammlung von Truppen die größte Ge- fahr liege**. Trotz der Friedensliebe des Zaren, der ja nicht unsterblich sei, würde diese zum Kriege bereite große Macht gewissermaßen durch das Gesetz der Schwere einmal in Bewegung kommen. Der gering- fügigste Anlaß könne dies bewirken. Man belächele diese seine Ansicht, wenn er sie ausspräche; er könne sich aber nicht von dieser Be- fürchtung los machen. Es bleibe daher nichts anderes übrig als immer weiter zu rüsten.

Ich benutzte den mir im weiteren Gespräch gegebenen Anlaß, um dem Minister von meinem neulichen Gespräch mit seinem Kaiser zu reden. Ich fand bei ihm Verständnis, als ich ihm dagte, die k. u. k. Regierung müsse sich endUch einmal entschließen, trotz des Wider- standes der Herren Finanzminister einen etwas tieferen Griff in den Beutel zu tun. Unsere Verbündeten, in welche wir das größte Ver- trauen setzten, hielten nicht gleichen Schritt mit uns, und ich hätte mich außerordentUch gefreut, vor einigen Tagen aus dem Munde Seiner

Den Anfang des Berichts über die Äußerungen des Grafen Kälnoky siehe Bd. IX, Kap. LV, Nr. 2129.

** Vgl. auch den Bericht des französischen Botschafters Grafen de Montebello vom 7. September 1893 über die seit Jahresfrist ganz systematische Verschiebung der russischen Streitliräfte gegen die deutsch-österreichische Grenze. „Le travail de concentration de ses forces miütaires vers les frontieres d'Allemagne et d'Au- triche s'est poursuivi avec une rcgularite qui ne s'est pas un instant dementie". Gelbbuch "L'AlHance Franco-Russe" (1918), p. 187.

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Majestät selbst zu hören, daß eine Vermehrung des Präsenzstandes notwendig sei und gemacht werden müsse. Es koste dies allerdings viel Geld und wir stürzten uns in Schulden, weil wir die Pflicht, für alle Fälle unseren Gegnern ebenbürtig zu sein, allen anderen Rück- sichten voransetzten.

Der Minister erkannte dies an und gab mir zu, daß hier mehr ge- schehen müsse als bisher.

Ich will wünschen, daß diese Ansicht seinerzeit den Finanz- ministern gegenüber geltend gemacht werde. H.VII.P. Reuß

Schlußbemerkung Kaiser Wilhelms II.: Wollen es hoffen.

Nr. 1644

Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 6 St. Petersburg, den 13/1. Januar 1893

Daß ich die Ehre gehabt habe, gestern meine Kreditbriefe Seiner Majestät dem Kaiser Alexander zu überreichen, habe ich schon telegra- phisch gemeldet.

Der Empfang war der an hiesigem Hofe gebräuchliche, ein feier- licher, pp.

Nachdem ich meine Kreditbriefe überreicht hatte und der Kaiser die gebräuchlichen allgemeinen Fragen nach Seiner Majestät dem Kaiser und der kaiserlichen Familie, der bevorstehenden Hochzeit* getan hatte, ich ihm gegenüber sitzend, fragte er mich, wie es mit der Militärvorlage** stände.

Ich konnte ihm darauf nur erwidern, daß das Schicksal derselben sich in der nächsten Zeit entscheiden müßte, da die Kommissions- verhandlungen angefangen hätten, daß, wenn auch die Opposition gegen dieselbe, namentlich gegen die Geldbewilligung eine sehr starke wäre, Seine Majestät der Kaiser und Euere Exzellenz fest entschlossen wären, sie mit allen Mitteln durchzuführen.

* Gemeint ist die auf den 25. Januar festgesetzte Vermählung der Prinzessin Mar- garete mit dem Prinzen Friedrich Karl von Hessen, an der dann auch der russische Thronfolger teilnahm.

** Am 23. November 1892 hatte der Reichskanzler eine Militärvorlage großen Stiles, die auf der einen Seite eine Erhöhung des Friedenspräsenzstandes um 83 894 Mann forderte, auf der anderen den Übergang zu der zweijährigen Dienst- zeit involvierte, mit einer großen Rede im Reichstage eingebracht, die auch aus- führlich auf die Beziehungen Deutschlands zu Rußland und Frankreich einging und in der hochherzigen und friedlichen Gesinnung Kaiser Alexanders III. einen der stärksten Faktoren für die Erhaltung des Friedens in Europa sehen wollte.

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Als ich sagte, wie ungerechtfertigt z. B. die Opposition gegen die Biersteuer wäre, da der Aufschlag für den Konsumenten minimal, gar nicht zu bemerken wäre, äußerten Seine Majestät, das wäre ganz wie hier mit der projektierten Salzsteuer.

Der Kaiser sprach in der objektivsten Weise über die Militär- vorlage, in keiner Weise so, als wenn dieselbe, durchgeführt, eine Ge- fahr für sein Land in sich trüge. Er beklagte, daß keine Regierungs- vorlage mehr sachgemäß beraten werden könne, sondern daß die Ver- handlungen immer seitens der verschiedenen Parteien in einer ge- hässigen Weise geführt würden. Und er bezog dies nicht etwa nur auf Deutschland.

Die Unterhaltung schloß damit, daß der Kaiser sagte, er sähe sehr schwarz und er glaube, daß das 20. Jahrhundert uns große Katastrophen bringen würde.

Aus der Unterredung mit Ihrer Majestät der Kaiserin möchte ich hervorheben, daß die hohe Frau zweimal sehr lebhaft äußerte, Seine Majestät der Kaiser wären in einer so besonders liebenswürdigen und freundschaftlichen Weise dem Wunsche des Kaisers Alexander, mich hier als Botschafter zu sehen, entgegengekommen.

Nach dem Empfang durch Ihre Majestät stellte ich mich dem Thronfolger vor. Dieser sagte mir, er freue sich sehr auf Berlin und bedauere, daß seine Antwort auf das Einladungsschreiben Seiner Ma- jestät des Kaisers so lange hätte auf sich warten lassen, dasselbe wäre aber während seiner Abwesenheit im hiesigen Ministerium eingetroffen und man hätte es ihm unbegreiflicherweise nicht nachgeschickt.

Seine Majestät der Kaiser Alexander hat mich beauftragt, unserem allergnädigsten Herrn seinen besten Dank für die ihm durch mich überreichten Geschenke auszusprechen.

Bei der heutigen Neujahrsgratulation lud mich der Kaiser ein, ganz wie früher Sonntags zur Messe und zum Frühstück zu kommen, immer wenn es mir paßte, es wäre natürlich nicht obligatoire.

Ich muß sagen, daß mich das überrascht hat, das hatte ich nicht erwartet, und als ich Seiner Majestät meinen Dank für diesen Gnaden- beweis aussprach, sagte allerhöchstderselbe, „es sollte alles wie früher bleiben, sich nichts in den alten Beziehungen ändern*'.

Heute trifft der Emir von Buchara mit zahlreichem Gefolge hier ein. Er wird im Winterpalais wohnen, aber besondere Feiern werden für ihn nicht stattfinden. Man verlangt, daß er die ersten Besuche macht.

v. Werder

Bemerkung Kaiser Wilhelms II. am Schluß des Schriftstücks: Das Entree ist so günstig wie man nur wünschen kann. Ich vertraue Werder, daß er es zum Heile unsrer Beider Häuser und Länder gut ausnutzen wird. Der Friede Europas ruht nicht zu einem geringen Theil in seinen Händen.

27 Die Große Politik. 7. Bd. 41 7

Nr. 1645

Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Eigenhändiger Privatbrief

St. Petersburg, den 31. Januar 1893 Euer Exzellenz!

Beehre ich mich in nachstehendem den Inhalt einer Unterredung, welche ich mit Seiner Majestät dem Kaiser Alexander am Geburtstage Seiner Majestät des Kaisers vor dem Frühstück in seinem Kabinett gehabt habe, ganz gehorsamst zu unterbreiten.

Nachdem wir uns gesetzt hatten, begannen Seine Majestät die Unterhaltung folgendermaßen:

„Ich habe Ihnen noch nicht von den Reden des Grafen Caprivi* ge- sprochen, weil ich keinen großen Wert darauf lege (je n'en fais pas de cas), ich finde aber doch, daß der General zu viel gesagt hat, wodurch seine Worte ein unangenehmes Aufsehen in Rußland und im übrigen Ausland gemacht haben. Das kommt aber vom Parlamentarismus und der General ist kein Parlamentarier sondern Soldat. Ich kann ja auch begreifen, daß er etwas zu weit gegangen ist (qu'il a pris la note un peu trop haute), da ihm alles daran liegt, die Vorlage durchzubringen.'*

Auf meine Äußerung, daß Eure Exzellenz ja die Ihnen in den Mund gelegten Äußerungen, welche die Presse so wiedergegeben hätte, als hätten Eure Exzellenz sie erfunden, gleich in der offiziellsten und energischsten Weise hätten dementieren lassen, und daß der Charakter und die politische Vergangenheit Euer Exzellenz dafür bürgten, daß Sie, Herr Reichskanzler, gar nicht so hätten sprechen können, wie die Telegramme es in der Welt verbreitet hätten, sagten Seine Majestät: „Ja das weiß ich, denn ich habe die höchste Achtung vor dem Cha- rakter des Generals und ich zweifle nicht daran, daß er bestrebt ist, gute Beziehungen zwischen unsern Ländern zu erhalten".

Ich bestätigte dieses natürlich und fügte hinzu, daß Eure Exzellenz diese Politik ganz im Sinne Seiner Majestät des Kaisers führten.

In der Hoffnung, daß Eure Exzellenz damit einverstanden sind.

* Gemeint ist neben der großen Reichstagsrede vom 23. November 1892 (siehe Nr. 1644, Fußnote **) die Rede, mit der Caprivi am 11. Januar 1893 die Be- ratungen der Reichstagskommission für die Militärvorlage eröffnete, und in der er wieder auf die Möglichkeit eines Zweifrontenkriegs und die Wahrscheinlichkeit militärischer Abmachungen zu Wasser und zu Lande zwischen Frankreich und Rußland hinwies. Vgl. Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Jg. 1893, S. 2f. Nach einem Bericht Werders vom 18. Januar 1893 wäre die Rede Caprivis in Petersburg zunächst in einer sehr entstellten Fassung bekannt geworden. Vgl. dazu die amtliche Erklärung in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" vom 13. Januar.

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habe ich es vorgezogen, diesen ganz gehorsamsten Bericht in privater Form zu machen und behalte mir vor, den Schluß der Unterredung einem politischen Bericht anzufügen,

V. We r d e r

Nr. 1646

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Petersburg von Werder

Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen von Pourtales

Nr. 22 Berlin, den 27. Januar 1893

Augenscheinlich um günstige Wirkung des Besuches des Groß- fürsten-Thronfolger an unserem Hofe* zu neutralisieren, werden in französischer, englischer und österreichischer Presse Nachrichten lan- ciert, daß in diesem Frühjahr russischer Angriff auf Deutschland in Aussicht stehe.

Englisch-französische „Agence Dalziel" meldete kürzlich, russische Rüstungen nähmen in diesem Augenblick derartig bedrohlichen Cha- rakter an, daß in höchsten Berliner Kreisen dem Frühjahr mit Beun- ruhigung entgegensehen werde. „Neue Freie Presse" hat sich dazu hergegeben, diese Nachricht weiter zu verbreiten.

Heutiger „Figaro'' bringt Mitteilung, derzufolge der jüngste Be- such des Großfürsten Sergius in Frankreich den Zweck gehabt habe, festzustellen, ob Frankreich zu einem Kriege im Frühjahr hinlänglich vorbereitet sei**. Französische Regierung habe sich dieser Mission des Großfürsten gegenüber reserviert verhalten.

Die Nachricht der „Agence Dalziel'' wird in „Norddeutscher All- gemeiner Zeitung" widerlegt und dabei bemerkt, daß hier von Kriegs- befürchtungen der höchsten Kreise für nächste Zeit nie die Rede ge- wesen ist. Marschall

* Er weilte vom 24. bis 28. Januar am deutschen Kaiserhofe. Vgl. auch Kap. XLVII, Nr. 1526.

♦* Es hieß in dem „Figaro"-ArtikeI u. a., kurz vor Beginn des Ahlwardtschen Prozesses hätte die russische Militärpartei durch Hinweis auf die enthüllten Mängel der deutschen Bewaffnung und durch das hierauf gegründete Argument, daß Frank- reich im Fall eines sofortigen Krieges einen mehr als neunmonatigen Vorsprung vor Deutschland voraus habe, dem Zaren den Vorteil eines baldigen Krieges nahe- gelegt. Der Zar habe daraufhin den Großfürsten Sergius in geheimer Mission nach Rom, London, Paris gesandt. In Rom habe sich der Großfürst überzeugt, daß Italien lange noch nicht kriegsbereit sei. In Paris habe man gewisse Reserve gezeigt; doch habe der Großfürst die Oberzeugung von der Kriegsbereitschaft Frankreichs gewonnen. In London habe der Großfürst gesehen, daß England Neutralität nur gegen Überlassung von Ägypten und Marokko, gegen völlige Un- abhängigkeit der Balkanstaaten usw. versprechen würde. Im ganzen sei der Großfürst mit dem Eindruck heimgekehrt, daß die Stimmung in Westeuropa von dem Optimismus der russischen Militärpartei weit entfernt sei.

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Nr. 1647

Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 25 St. Petersburg, den 31. Januar 1893

Euerer Exzellenz beehre ich mich infolge des geehrten Telegramms vom 20. d. Mts. Nr. 24* ganz gehorsamst zu berichten, daß ich ver- mieden habe, Seiner Majestät dem Kaiser Alexander über den Artikel des „Figaro", den Großfürsten Sergei in Paris betreffend, zu sprechen, weil ich am Geburtstage Seiner Majestät des Kaisers eine längere Unterredung mit allerhöchstdemselben hatte und ich, die Natur des Kaisers kennend, es nicht für richtig halte, ihn oft auf politische Dinge anzureden i.

Dagegen gab mir Ihre Majestät die Kaiserin Gelegenheit, ihr so- wohl von diesem Artikel als von dem in der „Agence Dalziel", dessen Inhalt ja offiziell dementiert worden ist, zu sprechen. Ihre Majestät sagte mir nämlich, der Thronfolger hätte aus Berlin nicht geschrieben, aber öfter telegraphiert und sich höchst befriedigt und gerührt über die Aufnahme, welche er dort gefunden hätte, ausgesprochen. Dieses benutzte ich, um Ihre Majestät zu fragen, ob sie die beiden Artikel gelesen hätte, was sie bejahte, und natürhch war sie auch entrüstet darüber.

Ich bin überzeugt, daß sie dem Kaiser darüber sprechen wird.

Seine Majestät äußerte unter anderem im Gespräch mit mir: er zweifle nicht daran, daß das Ziel Euerer Exzellenz Führung der po- litischen Angelegenheiten das sei, gute Beziehungen zwischen Deutsch- land und Rußland zu erhalten.

Ich bestätigte dies aus voller Überzeugung und fügte hinzu, daß Euere Exzellenz diese Politik ganz im Sinne und im Einverständnis mit unserem allergnädigsten Herrn führten und auch dieser von den friedlichsten Gesinnungen beseelt sei. Seine Majestät sowohl als Euere Exzellenz hätten mir das öfter ausgesprochen.

„Ja, das weiß ich," sagte darauf der Kaiser. „Als der Kaiser Wilhelm so jung auf den Thron kam, konnte man befürchten, daß er durch Ruhmsucht und den Wunsch, sich Lorbeeren zu erreichen, zu kriegerischen Anwandlungen hätte getrieben werden können, aber das ist jetzt vorbei. Was würde das auch für ein Krieg werden!" setzte Seine Majestät hinzu.

„Ja, ein furchtbarer," entgegnete ich darauf, „die Menschen, die ihn herbeiführen wollten, sollten sich nur klarmachen, daß nur die

* Durch Telegramm Nr. 24 war dem Botschafter anheimgegeben worden, mit Kaiser Alexander III. über den „Figaro"-ArtikeI vom 27. Januar zu sprechen.

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Umsturzpartei einen Vorteil von ihm haben würde; diese dränge zum Kriege, weil sie hoffe, Seide dabei zu spinnen, die monarchistischen Regierungen zu stürzen ^.'^

„Ja," sagte der Kaiser, „und an der Spitze dieser Partei stehen überall die Juden 3, das ist ganz unzweifelhaft/'

Ich habe mich durch dieses Gespräch wieder davon überzeugt, wozu ich schon oft Gelegenheit hatte, daß der Kaiser Alexander der in äußerer Politik mäßigst denkende Mann in Rußland ist und dabei der friedliebendste. Ich habe ihn nie, wie so oft seinen Herrn Vater, in schroffer, leidenschaftlicher Weise über politische Ereignisse sprechen hören, Charakter und Temperament verbieten das.

Er liebt es sehr, wenn man ihn in Ruhe läßt, Liebenswürdigkeiten, sei es durch Aufmerksamkeiten oder Geschenke, sind an ihm ver- geudet; der Sinn hierfür geht ihm ab.

Über den Aufenthalt Seiner Kaiserlichen Hoheit des Thronfolgers hat er nicht mit mir gesprochen. Ihre Majestät die Kaiserin sagte mir aber, sie sähe die Verleihung der Kette des Schwarzen Adlerordens an ihren Herrn Sohn als eine besondere Liebenswürdigkeit Seiner Majestät an, da sie wüßte, daß fremde Fürstlichkeiten diese sonst nicht erhielten. v. Werder

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

i Richtig

2 gut

' u[ndl Franzosen

Nr. 1648

Kaiser Franz Joseph von Österreich an Kaiser Wilhelm II.

Eigenhändiges Handschreiben

Wien den 5. Februar 1893 Mein theurer Freund,

Vor Allem laße mich Dir dafür danken, daß Du im Gedränge von Geschäften und Menschen meiner gedacht und Du Dich der Mühe unterzogen hast, mir über Dein Zusammensein mit dem Großfürsten Thronfolger eingehende Mittheilung zu machen*. Die Schilderung seiner Haltung, seines sympathischen Wesens und ruhigen selbstständigen Urtheiles entspricht vollständig dem Eindrucke, den mir dessen Besuch im November vorigen Jahres hinterlassen hat.

Das korrekte Privatissimum, welches Du ihm über die Entstehung, die Natur und die Ziele des Dreibundes gehalten**, scheint empfäng-

* Der Brief des Kaisers an Franz Joseph findet sich nicht bei den Akten des

Auswärtigen Amts.

•* Siehe Kap. XLVII, Nr. 1526.

421

liehen Boden gefunden zu haben; dafür spricht der Umstand, daß er Dich um die schriftHche Abfaßung der erhaltenen Aufklärungen in der Absicht ersucht hat, diese ihrem vollen Inhalte nach verwerthen zu können. Mit Recht hebst Du hervor, daß es nun zumeist darauf an- komme, ob es der Thronfolger verstehen und es ihm gelingen werde, den verlästerten Bund, seinem Vater gegenüber, im wahren Lichte er- scheinen zu lassen.

Nicht unwesentlich dürfte der Versuch durch die Zeit, in welche er fällt, unterstützt werden, da sich Heute wohl Niemand mehr der Erkenntniß wird verschliessen können, daß bei dem sich allenthalben vorbereitenden Anstürme die Interessen des Friedens und der Monarchie auf dem Spiele stehen. Dazu kommt, daß die als Paroli gegen die Trippel-Allianz geschaffenen engeren Verhältnisse zwischen heterogenen Elementen zu unnatürlich sind, als daß nicht der Augenblick kommen müßte, wo sich auch Rußland mit den übrigen monarchischen Mächten Eins fühlen werde. Möge sich diese Erkenntniß noch rechtzeitig Bahn brechen!

Indeß haben wir Beide ausreichend Gelegenheit gehabt, an Hoff- nungen das Maß der Erfahrungen zu legen und kann ich mich daher der Besorgniß nicht erwehren, daß uns auch weiterhin Enttäuschungen und schwere Prüfungen nicht erspart bleiben werden. HoffentHch treffen uns etwaige ernste Ereignisse nicht unvorbereitet.

Zu besonderer Genugthuung gereicht mir die vertrauensvolle Stim- mung, mit welcher Du dem Schicksale der Militärvorlage entgegen siehst. Den gesicherten Erfolg werde ich mit Freuden begrüßen.

Sei auf das Herzlichste umarmt von

Deinem

treu ergebenen Freunde Franz Joseph

Nr. 1649

Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 34 St. Petersburg, den 6. Februar 1893

Geheim

Euerer Exzellenz beehre ich mich ganz gehorsamst zu berichten, daß ich die von Seiner Majestät dem Kaiser für Seine Majestät den Kaiser Alexander bestimmten Photographien allerhöchstdemselben über- geben habe.

Seine Majestät haben über den Aufenthalt Seiner Kaiserlichen Ho- heit des Thronfolgers in Berlin nicht mit mir gesprocher.,

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Das ist nicht auffällig und hat keine Bedeutung, es sieht dies Seiner Majestät ganz ähnlich, das Gegenteil würde mich gewundert haben.

Der Thronfolger dagegen sprach sich äußerst befriedigt aus, „cela s'est admirablement passe, je ne puls pas dire ä quel point on a ete aimable", wiederholte er mehrere Male. Aber erst auf meine Frage, von selbst würde auch er nichts darüber gesagt haben.

Inwieweit er beauftragt gewesen ist, so zu sprechen, wie er es in Berlin getan hat, ist sehr schwer zu ergründen. Ich neige mich, gestützt auf die Kenntnis der dabei in Frage kommenden Persönlichkeiten der Ansicht zu, daß er dahin instruiert gewesen ist, sich sehr reserviert zu verhalten! und nichts aus eigener Initiative zu sagen 2. Diese Auf- fassung wird von einem der Offiziere, welche Seine Kaiserliche Hoheit begleitet haben, geteilt.

V.Werder

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Ist ihm gar nicht eingefallen

2 Das ist Unsinn. Er hat sich so offen über alles ausgesprochen wie noch nie ein Großfürst mit mir.

Nr. 1650

Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 38 St. Petersburg, den 11. Februar 1893

Die russische Presse hatte bis jetzt so gut wie gar keine Notiz von den am Geburtstage Seiner Majestät des Kaisers gehaltenen „Generalsreden'' genommen. Nur einige Zeitungen hatten ohne Kom- mentar die Auslassungen deutscher Blätter über sie gebracht.

Es scheint, daß dieses Stillschweigen jetzt gebrochen werden soll. Die „Moskauer Nachrichten'* machen den Anfang und bringen einen langen Artikel über die ungewöhnlichen Kundgebungen, die sei- tens deutscher Generale vorlägen, und bringen dann wörtlich die Rede des Generals von Schopp, der sich am offenherzigsten und aufrich- tigsten ausgesprochen hätte. „Könnten denn die Generale einen solchen Ton anschlagen," fragt die Zeitung, „wenn der Kaiser Wil- helm wirklich gesonnen wäre, seine Politik zu verändern*?"

* Die bei Gelegenheit des Kaiserlichen Geburtstags gehaltenen „Generalsreden" sind u. a. zusammengestellt in der „Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung" vom 30. Januar 1893, abends. General von Schopp, der Gouverneur von Köln, hätte danach beim Festmahl auf dem Gürzenich, vom Kaiser redend, gesagt: „Er ist im wahren Sinne des Wortes ein Friedensfürst. Wenn er aber das Schwert in die Hand nimmt, dann wird er es nicht eher in die Scheide stecken, bis das

423

Daß das Blatt fernerhin sagen kann, daß die deutschen Generale bis jetzt stets vermieden hätten, poUtische Reden zu halten, und nun ergriffen auf einmal vier derselben das Wort, das hat mich, wie ich Euerer Exzellenz nicht verhehlen kann, auf das Empfindlichste berührt, da ich, wenn russische Generale politische Reden hielten, wie das vor einiger Zeit Sitte geworden war, immer gesagt habe, daß das bei uns ganz unmöglich wäre.

Die mir gestellte Aufgabe, hier für die Aufrechterhaltung des Friedens und gute Beziehungen zu wirken, wird mir durch solche Vorkommnisse natürlich sehr erschwert, ja unmöglich gemacht.

Sollte der Kaiser Alexander mich darüber interpellieren, so weiß ich wirklich nicht, was ich ihm antworten soll, nachdem ich ihm kürzlich erst, wie ich Euerer Exzellenz ganz gehorsamst berichtet habe, die bündigsten Versicherungen über die Friedensliebe Seiner Majestät und Euerer Exzellenz gegeben habe.

Es ist sehr zu bedauern, daß die warmen, so herzlichen Worte, welche Seine Majestät der Kaiser in dem Toast auf den Kaiser Alexander gesprochen*, teils durch die Reden der Generale, welche einen so wenig guten Eindruck gemacht haben, teils durch den aller- höchsten Toast auf die englische Flotte** nach hiesiger Auffassung verwischt werden. Die deutsche Presse tut auch dazu das Ihrige, indem sie sich befleißigt, die Bedeutung des Toastes auf Seine Ma- jestät den Kaiser Alexander herabzumindern.

V. Werder

Randverfügung des Reichskanzlers Grafen von Caprivi: Bitte zu antworten:

Von alters her fänden die Diners der nicht regimentierten Offiziere zu Königs Geburtstag im Verein mit den Spitzen der Zivilbehörden statt. Dabei sei auch

Vaterland vom letzten Feinde befreit ist, oder bis er mit seinem Volke gebrochen am Boden liegt. Der Krieg kommt! Gebe Gott, daß er das deutsche Volk um seine Fürsten geschart findet. Wenn nicht, dann ade, du schönes Land! Dann werden die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges wiederkehren, wo Gesittung und Kultur auf Jahrhunderte erschüttert werden!"

* Bei einem Frühstück, welches der zur Vermählung der Prinzessin Margarete in Berlin anwesende Großfürst-Thronfolger am 26. Januar beim Kaiser Alexander- Garde-Grenadierregiment einnahm, hatte Kaiser Wilhelm den Zaren Alexander als „den Träger altbewährter monarchischer Traditionen, oft erwiesener Freundschaft und inniger Bande intimer Beziehungen zu meinen erlauchten Vorgängern" ge- feiert.

** Anläßlich der Anwesenheit des Herzogs von Edinburg in Berlin hatte Kaiser Wilhelm II. am 22. Januar einen Toast auf die englische Flotte ausgebracht, in dem es u. a. hieß: „Und sollte es sich einmal ereignen, daß die englische und die deutsche Marine Schulter an Schulter gegen einen gemeinsamen Feind zu kämpfen haben, dann wird die berühmte Parole: .England erwartet, daß jeder Mann seine Pflicht tut', welche der größte Seeheld Englands vor der Schlacht von Trafalgar ausgegeben hat, ein Echo in dem patriotischen Herzen der deut- schen Marine finden."

424

früher die allgemeine Lage nicht selten berührt worden, wenn der älteste Offizier den Toast ausbringt. Es sei verständlich, daß dabei die Fragen erwähnt würden, die wie jetzt die Militärvorlage das Herz des Monarchen am meisten bewegten: Sonst hätte die Presse dergleichen nicht erwähnt, bei der gegen- wärtigen, durch die Militärvorlage erregten Stimmung sei auch das nicht zu ver- wundern. Hier legten nur oppositionelle Blätter, indem sie das auszunutzen suchten, dem Wert bei.

Auch der Toast auf die englische Flotte sei, nachdem der Herzog von Edin- burg einen Rang in der deutschen Flotte erhalten habe, und nur Seeoffiziere dem Fest beigewohnt, nicht auffallend, und ohne alle politische Tendenz. In den ersten Jahrzehnten des Bestehens einer deutschen Flotte habe diese sich lediglich nach der englischen gebildet, es seien deutsche Offiziere auf englischen Schiffen ausgebildet, und habe sich seitdem eine gute Kameradschaft zwischen den englischen und den deutschen Seeoffizieren erhalten. v. C. 14/2.

Nr. 1651

Der Reichskanzler Graf von Caprivi an den Botschafter in Petersburg

von Werder

Konzept

Nr. 84 Berlin, den 17. Februar 1893

Vertraulich

Aus Ew. pp. gefälligem Berichte Nr. 38 vom ll.d. Mts.* habe ich mit Bedauern ersehen, daß gewisse hiesige Vorkommnisse der letzten Zeit in maßgebenden Petersburger Kreisen Verstimmungen hervor- gerufen haben, die nach Ihrer Ansicht geeignet sind, die Pflege guter Beziehungen zwischen uns und Rußland zu erschweren, wenn nicht unmöglich zu machen.

Ich muß zunächst vorausschicken, daß ich diese Besorgnis für etwas weitgehend zu halten geneigt bin. Würde ich aber tatsächlich die Überzeugung gewinnen, daß die Möglichkeit der Pflege guter Beziehungen zu Rußland auf so schwachen Füßen steht, so würde damit allerdings meine Hoffnung auf dauernde Erhaltung dieser Be- ziehungen überhaupt wesentlich erschüttert werden.

Ew. pp. ist bekannt, daß unsere Politik darauf gerichtet ist, mit dem russischen Reiche soweit als angängig in freundnachbarlichem Verhältnis zu leben und womöglich die Spannung, welche zeitweise in den Beziehungen zwischen beiden Höfen eingetreten ist, zu be- seitigen. Daß wir keinerlei aggressive Absichten gegen Rußland hegen, auch überhaupt einen Krieg mit dieser Macht zu vermeiden wünschen und hoffen, hat unsere Haltung in der letzten Zeit zur Genüge be- wiesen. Hätten kriegerische Absichten bei uns vorgelegen, oder wäre auch nur die Überzeugung zum Durchbruch gelangt, daß der Krieg

* Siehe Nr. 1650.

425

gegen Rußland doch unvermeidlich und es infolgedessen für uns vorteilhafter wäre, bei demselben die Initiative zu ergreifen, so würden wir zweifellos die letzten Jahre, wo Rußland durch den Notstand geschwächt und seine Armee in der Umbewaffnung begriffen war, zu einer solchen Initiative benutzt haben. Wir haben dies nicht nur nicht getan sondern sind vielmehr unausgesetzt bemüht gewesen, auf allen Gebieten die Empfindlichkeiten des Kaisers Alexander zu schonen und Rußland, wo es nur immer mit unserer Würde vereinbar war, entgegenzukommen. Ich brauche Ew. pp. hierbei nur an eine Reihe von Vorgängen aus dem letzten Jahre zu erinnern: die Umstände, unter welchen die Kieler Zusammenkunft zustande kam*, die auf den Wunsch des Zaren erfolgte Ernennung Ew. pp. zum Botschafter am russischen Hofe **, die Einladung des Großfürsten-Thronfolgers zu den Vermählungsfeierhchkeiten im vergangenen Monat*** und die ihm an unserm allerhöchsten Hofe gewährte herzliche Aufnahme, unser Ent- gegenkommen in der Frage des Handelsvertrages, endlich unsere Hal- tung Bulgarien gegenüber, welche noch jüngst bei der Frage der Heirat des Prinzen Ferdinand von Koburg ganz besonders zum Ausdruck gekommen ist.

In der Rücksichtnahme gegen Rußland weiterzugehen, als ge- schehen ist, würde ich mit der Würde Seiner Majestät des Kaisers und des Deutschen Reiches nicht für vereinbar halten. Wenn aber in der Tat die gugenblickliche Verstimmung über einige hier gefallene Äußerungen genügen könnte, um alle eben angeführten Beweise des Entgegenkommens und der versöhnlichen Gesinnungen unseres alier- gnädigsten Herrn umzustoßen, dann würde ich allerdings zu der Er- kenntnis gelangen, daß es nur ein Mittel geben würde, das Wohlwollen Rußlands und des Kaisers Alexander dauernd zu gewinnen, nämlich unsere Politik, wie dies in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts geschah, gänzlich in den Dienst der russischen zu stellen und jeden unserer Schritte von dem einzigen Gesichtspunkte abhängig zu machen, welchen Eindruck derselbe in Petersburg macht. Zu einer solchen Politik werde ich aber Seiner Majestät dem Kaiser niemals raten können.

Um nun zu den Vorkommnissen selbst zu kommen, über welche Ew. pp. Bericht handelt, so möchte ich Ew. pp. zunächst bitten, nicht aus den Augen zu verlieren, daß im gegenwärtigen Augenblick die Militärvorlage unser politisches Leben im Innern vollständig beherrscht, und daß das Interesse, mit welchem diese Existenzfrage für das Reich in weitesten Kreisen verfolgt wird, allerorts zum Ausdruck kommen muß.

Eine jede Erörterung der Notwendigkeit einer Erhöhung unserer

Vgl. Nr. 1635.

** Vgl. Nr. 1639.

*♦* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1526.

426

Wehrkraft ist aber naturgemäß von einer Besprechung der vorhandenen Kriegsgefahren unzertrennlich. Wenn auch ich genötigt gewesen bin, auf die MögHchkeiten eines Krieges öfter hinzuweisen, als es mir vielleicht mit Rücksicht auf unsere auswärtigen Beziehungen erwünscht gewesen wäre, so bin ich hierzu durch Umstände veranlaßt worden, an welchen ich keine Schuld trage. Wenn z. B. von seiten der Opposi- tion der Besuch des Großfürsten-Thronfolgers gleich dahin ausgebeutet wurde, daß durch dies eine Symptom einer besseren Gestaltung unserer Beziehungen mit Rußland auch gleich die Vermehrung unserer Armee überflüssig gemacht werde, so konnte ich nicht umhin, vor übertriebe- nem Optimismus in dieser Richtung zu warnen, und vermag es nicht zu verhindern, wenn sich in der Presse über diese Frage eine Polemik entspinnt, welche ich allerdings vom Standpunkt unserer Beziehungen zu Rußland als unerwünscht betrachten muß.

Den Vergleich, welchen Ew\ pp. zwischen den Reden einiger unserer Kommandierenden Generäle zu Kaisers Geburtstag und den Auslassungen gewisser chauvinistischer russischer Generäle ziehen, ver- mag ich als zutreffend nicht anzuerkennen. Der große Unterschied liegt meines Erachtens darin, daß, während in den ersteren die Mög- lichkeit eines von uns nicht gewünschten Krieges zum Ausdruck kam, aus den letzteren der Wunsch, daß es zu einem solchen Kriege kommen möge, nur zu oft deutlich hervortritt. Ew. pp. ist bekannt, daß von alters her am Geburtstage Seiner Majestät Diners der nicht regimen- tierten Offiziere mit den Spitzen der Zivilbehörden stattfinden. Dabei bringt häufig der älteste Offizier das Hoch auf den Kaiser aus, und es ist auch früher nicht selten vorgekommen, daß in der betreffenden Rede die allgemeine Lage berührt wurde. Daß in diesem Jahre die Frage, welche augenblicklich das Herz des Monarchen am meisten bewegt und zugleich einen jeden Militär lebhaft beschäftigen muß, berührt wurde, ist natürlich. In früheren Fällen hat die Presse der- artige Reden gar nicht erwähnt; wenn es in diesem Jahre geschehen, so ist dies bei der gegenwärtig erregten Stimmung nicht zu verwun- dern. Im Inlande haben sich übrigens vornehmlich nur oppositionelle Blätter mit den „Generalsreden" beschäftigt, um dieselben zu ihren Zwecken auszunutzen.

Auch der Toast Seiner Majestät des Kaisers auf die englische Flotte ist, nachdem der Herzog von Edinburg einen Rang in der deutschen Marine erhalten hat, nicht auffallend. In den ersten Jahr- zehnten des Bestehens einer deutschen Flotte hat diese sich ledig- lich nach der englischen gebildet, deutsche Offiziere haben auf eng- lischen Schiffen ihre Ausbildung erhalten, und es hat sich seitdem eine gute Kameradschaft zwischen englischen und deutschen Seeoffi- zieren erhalten. Auf einem Fest, dem nur Seeoffiziere beiwohnten, konnte daher den Worten Seiner Majestät nicht die geringste politische Tendenz beiwohnen.

427

Ich ersuche Ew. pp. ergebenst, sich vorstehende Erörterungen als Richtschnur bei Ihren Gesprächen mit maßgebenden Persönhchkeiten dienen zu lassen. Bei Ihren vortrefflichen Beziehungen zum russischen Hofe und der Petersburger Gesellschaft gebe ich mich der bestimmten Erwartung hin, daß es Ew. pp, nicht schwer fallen wird, Verstimmungen, wie die von Ihnen gemeldeten, und welche ich zunächst nur als vor- übergehende ansehen kann, zu zerstreuen.

V. C a p r i V i

Nr. 1652

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 72 Wien, den 10. März 1893

Graf Kälnoky hat mir heut im vertraulichen Gespräch einiges von der letzten, sehr eingehenden Unterhaltung erzählt, welche er mit dem Fürsten Lobanow vor dessen Abreise nach St. Petersburg gehabt hat.

Der Botschafter hat ihm von unserer Militärvorlage* gesprochen und die Besorgnis ausgedrückt, daß diese große Vermehrung der deut- schen Armee doch einen kriegerischen Hintergedanken haben könnte. Der Zar sei allerdings von der früheren Annahme zurückgekommen, daß wir beabsichtigten, über Rußland herzufallen: aber diese großen Rüstungen müßten doch zu denken geben, um so mehr als der Kaiser, sein Herr, an nichts weniger denke, als seine Nachbarn anzugreifen.

Der Minister hat ihm darauf geantwortet, daß diese Besorgnisse im Munde eines Russen etwas sonderbar klängen. Wenn man einen Blick auf die russische Dislokationskarte werfe, so müßte es selbst dem Laien auffallen, wie Rußland fast seine ganze Armee an den deut- schen und österreichischen Grenzen massiert habe und zwar in einer zum Angriff bestimmten Aufstellung**.

Wie solle man diese Maßregeln in Deutschland sich vollziehen sehen, ohne nicht beunruhigt zu werden? Die bei uns projektierten neuen Einrichtungen seien weniger eine Vermehrung der deutschen Armee als eine Umbildung unserer Armee-Einrichtungen, die sich nicht als ausreichend erwiesen hätten. Deutschland befände sich seiner geographischen Lage wegen in keiner so günstigen Lage wie Rußland.

Wenn man auch in Berlin von der Friedensliebe des Zaren über- zeugt sei, so habe man doch außer Rußland noch andere Nachbarn, denen man kein so unbedingtes Vertrauen schenken könnte. Frankreich habe, ohne die riesenhaften Kosten zu scheuen, ein so formidables

Vgl. Nr. 1644, Fußnote **. ♦* Vgl. Nr. 1643, Fußnote **.

428

Kriegsinstrument geschaffen, daß Deutschland gezwungen worden sei, auf Verbesserung seiner Verteidigungsmittel zu sinnen.

Fürst Lobanovv hat hiergegen geltend zu machen gesucht, daß niemand in Frankreich an eine kriegerische Politik denke, besonders nach dem jüngsten traurigen Panamaskandal nicht, er hat aber schließ- lich zugestehen müssen, daß bei der Instabilität der französischen Ver- hältnisse doch einmal in unvorhergesehener Weise die Regierung in die Hände von Abenteurern kommen könnte, die die Lust verspüren oder gedrängt werden könnten, von der friedliebenden Politik der jetzi- gen Machthaber abzugehen. Da sei denn eine so schlagfertige und zahl- reiche Armee, wie die französische ohne allen Zweifel heute sei, ein gar gefährliches Werkzeug für die Nachbarn. Daß die deutsche Re- gierung dieser Eventualität gegenüber ihre Vorkehrungen treffen müsse, das könne ihr doch niemand verdenken.

Der Botschafter hat dies anerkennen müssen, und hofft Graf Käl- noky, daß seine Ausführungen nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben sind. pp.

H.VII. P. Reuß

Nr. 1653

Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 71 St. Petersburg, den 24. März 1893

Anknüpfend an den Bericht des Prinzen Reuß vom 10. d. Mts. Nr. 72*, Äußerungen des Fürsten Lobanow über die Militärvorlage be- treffend, beehre ich mich Euerer Exzellenz ganz gehorsamst zu be- richten, daß Seine Majestät der Kaiser Alexander sich neulich über diese ausließ.

Er sprach seine Freude darüber aus, daß sie wenig Aussicht habe, durchzugehen, und daß er hoffe, daß es dabei bleiben würde**, „denn", fügte er hinzu, ,, tritt sie in Kraft, so fangen natürlich die anderen auch an." Ich zitiere diese Worte wörtlich; was Seine Majestät damit sagen wollten, ist ja klar. V.Werder

Siehe Nr. 165Z

** Tatsächlich fand die Miütärvorlage in ihrer im Herbst 1892 eingebrachten Ge- stalt weder in der Kommission noch im Plenum des Reichstages Annahme. Am 6. Mai erfolgte daraufhin die Auflösung des Reichstags. Nach den Neuwahlen wurde die Vorlage, wenn auch unter Reduzierung der ursprünglichen Forderungen, wieder eingebracht und dank dem geschlossenen Eintreten der polnischen Reichs- tagsfraktion in ihrem wesentlichen Gehalt am 15. Juli angenommen.

429

Nr. 1654

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall an den Botschafter in Petersburg von Werder

Konzept

Nr. 145 Berlin, den 29. März 1893

Aus Ew. gefälligem Bericht Nr. 71 vom 24. d. Mts.* habe ich ersehen, daß Seine Majestät der Kaiser Alexander Ihnen gegenüber seiner Ge- nugtuung über das nach seinen Informationen wahrscheinlich bevor- stehende Scheitern der Militärvorlage zum Ausdruck gebracht hat.

Ich möchte zunächst bemerken, daß, selbst wenn die Vorlage die Zustimmung des gegenwärtigen Reichstages nicht erlangen sollte, von einem Aufgeben der auf Vermehrung und Verjüngung unserer Armee gerichteten Pläne keine Rede ist, Seine Majestät und allerhöchstdessen Regierung vielmehr an diesen Plänen, deren Verwirklichung für die Sicherheit des Reiches als unabweisbares Erfordernis erkannt worden ist, unverrückt festhalten.

Es muß einigermaßen auffallen, daß Seine Majestät der Kaiser von Rußland, der sich noch bei Ew. Antrittsaudienz (cfr. Bericht Nr. 6 vom 13. Januar**) in objektiver Weise über die in Rede stehende Vorlage aussprach und sogar die Opposition, welcher der Herr Reichs- kanzler begegnet, kritisierte, in seinen jetzigen Äußerungen anscheinend einen veränderten Ton angeschlagen hat. Damals waren Ew. in der Lage zu berichten, daß Kaiser Alexander das Projekt einer Vermehrung unserer Armee so besprach, „als wenn dieselbe keinerlei Gefahr iur sein Land in sich trüge". Seine Majestät hob ferner bei einer anderen Gelegenheit, wie Ew. unter dem 31. Januar d. Js. (Nr. 25)*** berich- teten, das feste Vertrauen hervor, welches er in die Friedensliebe un- seres allergnädigsten Herrn setze, und erkannte rühmend an, daß die Befürchtungen, welche mit Bezug auf kriegerische Gelüste vielfach an das jugendliche Alter unseres Monarchen geknüpft worden seien, sich als durchaus ungerechtfertigt erwiesen hätten.

Es ist mir nicht bewußt, daß irgend ein Schritt unserer auswärtigen Politik im Laufe der letzten Monate dazu angetan gewesen wäre, beim Zaren dieses Vertrauen zu erschüttern, vielmehr kann Kaiser Alexander billigerweise nicht umhin^ anzuerkennen, daß wir auf jedem Gebiete beflissen sind, seine und Rußlands berechtigte Empfindlichkeiten zu schonen.

Wenn sich nun auch die von Seiner Majestät kundgegebene Freude über das wahrscheinliche Scheitern unserer Militärvorlage nicht anders deuten läßt, als daß höchstderselbe, entgegen seiner früheren Auffas-

Siehe Nr. 1653. *♦ Siehe Nr. 1644. ♦♦* Siehe Nr. 1647.

430

sung, neuerdings in unserer Armeevermehrung ein bedrohliches Mo- ment erblici<t, so möchte ich derartigen Äußerungen des russischen Monarchen eine übertriebene Bedeutung nicht beilegen, dieselben viel- mehr zunächst auf Rechnung einer vorübergehenden Verstimmung setzen. Eine solche Verstimmung dürfte in diesem Augenblick vielleicht auf die jüngsten Vorgänge in Bulgarien zurückzuführen sein, wofür auch ein Symptom in der bekannten Zirkularnote an die russischen Vertretungen im Auslande* zu erblicken wäre. Wenn eine solche Ver- stimmung uns gegenüber immer etwas verschärfter auftritt, ist dies nichts Neues; beim Kaiser Alexander ist nun einmal der Glaube nicht gänzlich auszurotten, daß wir bis zu einem gewissen Grade an den jetzigen Zuständen in Bulgarien Schuld tragen und dieselben unter der Hand begünstigen.

Ich will hier auf die Ew. bekannten und bereits zur Genüge dargelegten Gründe, welche uns zwingen, auf Verstärkung unserer Wehrkraft Bedacht zu nehmen, nicht näher eingehen. Wenn aber Kaiser Alexander mit kaum versteckter Drohung Ew. gegenüber bemerkt hat, diese Verstärkung zwinge unsere Nachbarn nunmehr ebenfalls zu neuen Rüstungen zu schreiten, so kann dies nur als eine vollständig irrige Beurteilung der tatsächhchen Verhältnisse bezeichnet werden. Nicht wir zwingen unsere Nachbarn, sondern diese zwingen uns zu weiteren Rüstungen. Für die Wahrheit dieses Satzes spricht, abgesehen von unserer geographischen Lage, schon allein der Umstand, daß in Deutschland Regierung und Volk mit der gegenwärtigen Verteilung der Machtverhältnisse in Europa zufrieden sind und lediglich eine Auf- rechterhaltung des Status quo und des Friedens erstreben, während in Frankreich mit Elementen gerechnet werden muß, die zur Wieder- gewinnung von Elsaß-Lothringen den Krieg herbeizuführen trachten, und auch in Rußland ein Teil der Bevölkerung, welcher schon einmal unter der früheren Regierung dem Monarchen das Schwert in die Hand gedrückt hat, unausgesetzt bestrebt ist, eine nur auf gewaltsamem Wege zu erreichende Neuordnung der Dinge herbeizuführen.

Bei der bekannten Abneigung des Kaisers Alexander gegen längere politische Unterhaltungen kann ich nicht erwarten, daß Ew. oft in die Lage kommen, obige Gesichtspunkte Seiner Majestät gegenüber eingehend zu beleuchten; ich darf aber darauf rechnen, daß Ew. ge- eignete Gelegenheiten nicht vorübergehen lassen, an höchster Stelle und in maßgebenden Kreisen wiederholt der Auffassung entgegenzutreten, als ob unseren Rüstungen bedrohliche Absichten zugrunde lägen.

Sollten die Äußerungen Kaiser Alexanders dahin zu verstehen sein, daß unsere geplante Armeevermehrung von russischer Seite zum Vor-

* Die russische Zirkularnote vom 5. März 18Q3, auf die hier angespielt wird', legte Protest ein gegen die beabsichtigte Änderung der bulgarischen Verfassung von Tirnowo. Vgl. Bd. IX, Kap. LV, Nr. 2130.

431

wände für erneute Vorschiebungen von Truppen an unsere Grenzen genommen werden wird, so würde, da Rußland einen Angriff von keiner Seite zu befürchten hat, eine solche Maßregel uns unstreitig mehr Berechtigung geben, an der russischen Friedensliebe zu zweifeln, als Rußland Grund hat, die unserige in Zweifel zu ziehen. Wir würden auf diese Weise nur einen neuen, beklagenswerten Beweis dafür erhalten, daß unsere Besorgnisse vor der Eventualität eines Krieges nach zwei Fronten durchaus gerechtfertigte sind.

Marschall

Nr. 1655

Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 110 St. Petersburg, den 30. April 1893

Herr von Giers ist vorgestern in Zarskoe-Selo angekommen, wo ich ihm gestern einen Besuch machte. Ich fand ihn ganz außerordent- lich gealtert, er leidet besonders an sehr starkem Herzklopfen, und den Gebrauch der Beine scheint er beinahe ganz verloren zu haben, er konnte mich, als ich fortging, kaum bis an die Tür begleiten, die Stimme ist sehr schwach. Die geistigen Fähigkeiten haben aber in keiner Weise gelitten. Er wird und kann auch nicht Zarskoe-Selo ver- lassen, hat aber an Seine Majestät den Kaiser Alexander die Bitte ge- richtet, die Geschäfte wieder übernehmen zu dürfen.

Wenn man ihn so sieht, findet man es unbegreiflich, daß er in der jetzigen Jahreszeit zurückgekommen ist, er sagt aber, die hier herr- schende Kälte und feuchte Luft täte ihm gut, er hätte in der trockenen heißen Luft gar nicht mehr atmen können.

Ich sagte ihm, ich hätte mich sehr darüber gefreut, daß der Kaiser Franz Joseph und Graf Kälnoky ihn in Wien besucht hätten*, da dies hier einen sehr guten Eindruck gemacht und der Kaiser Alexander es doch gewiß sehr hoch aufgenommen hätte.

Er sagte mir darauf, er wisse ja sehr gut, daß diese Aufmerksam- lieiten nicht seiner Person gälten sondern eine Folge des Empfanges des Prinzen von Koburg** wären, und in diesem Sinne hätte er sich auch darüber gefreut.

* Am 23. April war Minister von Giers auf der Rückreise nach Petersburg in Wien eingetroffen. Wie Prinz Reuß am 25. April berichtete, hatte Kaiser Franz Joseph durch seinen Besuch bei dem unpäßlichen russischen Minister zeigen wollen, „daß er keine Gelegenheit unbenutzt lassen will, um dem russischen Hofe sowie der Regierung des Kaisers Alexander seine persönlichen freundschaftlichen Gesinnungen zu erkennen zu geben".

** Fürst Ferdinand von Bulgarien war auf der Fahrt zu seiner Vermählung mit der Prinzessin Marie Louise von Parma (20. April 1893) ebenso wie Minister- präsident Stambulovv am IL April vom österreichischen Kaiser empfangen worden.

432

Der Kaiser Franz Joseph hätte nur ganz allgemein gesprochen, alle Gespräche über heikle Angelegenheiten vermieden, dagegen ist die Unterhaltung mit dem Qrafen Kälnoky eingehender gewesen.

Herr von Giers scheint mir von dieser nicht sehr befriedigt, beson- ders war ihm ganz unbegreiflich die Äußerung des Graten: Rußland vi'äre ja vor einiger Zeit am Vorabende eines Krieges mit ihnen ge- wesen. Herr von Giers drückte sich über diese Behauptung nicht sehr parlamentarisch aus; er will den Grafen unter anderem gefragt haben, was eine österreichische Armee tun würde, wenn sie wirklich bis Kiew vorgedrungen wäre; er möchte nicht vergessen, daß dahinter Millionen ständen, die sich nicht ergeben würden. Ich glaube, daß diese Unter- redung, welche die Chancen eines Krieges, Bulgarien, den Dreibund usw. umfaßt hat, die wenigen Sympathien des Herrn von Giers für seinen österreichischen Kollegen nicht vermehrt hat. Er kann ihm z. B. seine bekannten Äußerungen über bulgarische Verhältnisse in den Delegationen nicht verzeihen. „Wie war es möglich," sagte er, „so zu sprechen, nachdem ich eben von einem Besuche beim Fürsten Bismarck zurückgekommen war*."

Herr von Giers erzählte mir hierauf, Graf Schuwalow habe ihm nach Warschau den Artikel der „Norddeutschen Zeitung" gebracht, welcher die Antwort auf den kürzlich in den „Hamburger Nach- richten" erschienenen Artikel, unsere Beziehungen zu Rußland be- treffend, bilde, und äußerte sich sehr beifällig über denselben**.

Hierauf ging das Gespräch auf den Dreibund und den Fürsten Bismarck über.

Der Minister sprach sein Bedauern aus, daß Deutschland vor Bil- dung des Dreibundes nicht versucht habe, in nähere Beziehungen zu Rußland zu treten. „Aber", fuhr er fort, „man hat das Gegenteil getan, der Fürst Bismarck hat uns in die Arme Frankreichs getrieben i; be- sonders auch durch seine Finanzmaßregeln," „Wie war es möglich," sagte er sehr erregt, „die russischen Papiere einige Tage vor der An- kunft unseres Kaisers von der Reichsbank auszuschließen. Ein solches Benehmen ist doch noch nie dagewesen***.

Der Minister gab da nur dem Ausdruck, was jeder Russe denkt.

Auf Frankreich zurückkommend sagte er, es bestände keine Allianz mit diesem Lande; nach Bildung des Dreibunds hätte Rußland sich aber doch für eventuelle Fälle nach einem Verbündeten umsehen müssen, Frankreich aber würde nie einen Angriff auf Deutschland wagen, ohne der Unterstützung Rußlands sicher zu sein, und die würde ihm nie durch den so friedliebenden Kaiser Alexander zuteil werden, welcher durch- aus den Frieden wolle. Lebte der hochselige Kaiser noch, so könnte

* Vgl. Bd. V, Nr. 990, S. 70, Fußnote ***.

** Beide Artikel sind nicht feststellbar; entweder muß Giers oder Werder ein

Irrtum untergelaufen sein.

*** Vgl. Bd. V, Kap. XXXVI, Anhang A.

28 Die Große Politik. 7. Bd. 433

man dieses nicht mit solcher Bestimmtheit behaupten. Diese Ansicht habe auch ich immer verfochten.

Naturgemäß kam nun der Minister auf die stete Vermehrung der stehenden Heere zu sprechen und stellte die Frage auf, ob die Staaten bei den eminenten Friedensaussichten nicht einen Vertrag schließen könnten, durch welchen die Heeresmacht eines jeden Staates festgestellt würdet.

Natürlich eine sehr gut gemeinte, aber ganz unpraktische Idee.

Herr von Schischkin, welcher mich gestern besuchte, wiederholte mir, ohne dazu aufgefordert zu sein, die Bedingungen für einen langen Frieden lägen jetzt so außerordentlich günstig 3.

Der Minister und sein Gehülfe teilen also in erfreulicher Weise die Ansicht über die Friedensaussichten*. v. Werder

Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:

1 Ein recht bedeutsames Wort

' aber Giers

3 daß man ordentlich ängstlich werden kann

* so lange es ihnen paßt.

Nr. 1656

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den

Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 117 Wien, den 1. Mai 1893

Graf Kälnoky hat mir heut nachfolgendes über seine Besprechung mit Herrn von Giers erzählt.

Wenn auch der russische Minister körperlich sehr gebrochen und hinfällig gewesen, so habe er ihn doch geistig sehr frisch gefunden. Freier im Urteil und entschiedener in der Aussprache, sozusagen weni- ger unter dem Druck der Petersburger Luft als früher.

An seinen versöhnlichen und friedfertigen Gesinnungen habe er ja nie gezweifelt, dieselben seien aber hier mit großer Entschiedenheit zum Ausdruck gekommen. Er habe erklärt, von Frankreich wolle er nichts wissen; Rußland werde sich hüten, sich in den Dienst dieser unsicheren, revanchelustigen Nation zu stellen und sich irgendwie die Hände zu binden; was gingen Rußland die französischen Revanche- gedanken an, durch welche dieses Volk ganz beherrscht würde!

Er sei gegen die Kronstädter Demonstrationen gewesen, er hat dieselben indessen in der bekannten russischen Weise nicht gerade zu entschuldigen, aber zu erklären gesucht. Rußland habe sich isoliert gefühlt etc. etc., außerdem sei der Zar durch die fortwährend zuneh- menden Rüstungen bei seinen westlichen Nachbarn nervös geworden, und übelwollende Ratgeber hätten ihn glauben gemacht, daß er be- droht sei.

434

über die bulgarischen Angelegenheiten habe sich Herr von Giers auch mit Entschiedenheit und zwar dahin ausgesprochen, daß sich die russische Politik nicht mehr in dieselben mischen werde. Man werde dieses undankbare Land sich selbst überlassen; dasselbe werde aber auch von dem Wohlwollen Rußlands nichts mehr zu erwarten haben.

Diese Äußerung sei mit der Andeutung auf den Prinzen Ferdinand gefallen.

Ich fragte den Minister, ob Herr von Giers nicht den Wunsch aus- gesprochen hätte, sich mit Österreich über diese Frage endlich einmal zu verständigen? Er verneinte dies entschieden und sagte, der rus- sische Staatsmann habe rückhaltlos erklärt, Bulgarien würde zwischen Österreich und Rußland niemals mehr ein Zankapfel werden. Er hoffe natürlich, daß von bulgarischer Seite keine solchen Provokationen aus- gehen würden, welche Rußland nicht mit Stillschweigen übergehen könne. Im übrigen sei aber Bulgarien für Rußland Luft!

Graf Kälnoky hat hierauf bemerkt, es sei ihm lieb, dies zu hören. Man solle aufhören, Österreich verantwortlich für alles zu machen, was in Bulgarien geschehe. Schon früher habe er einmal in den Delega- tionen gesagt, Bulgarien habe die Kinderschuhe abgelegt und sei allein verantwortlich für seine Handlungen. Er habe dies neuerdings den bulgarischen Machthabern sehr eindringlich angeraten und auch jetzt wieder davor gewarnt, bei den Einzugsfeierlichkeiten des neu ver- mählten Paares* etwa Kopflosigkeiten zu begehen.

Herr von Giers habe auch die Initiative ergriffen und von den jüngst in Sofia erfolgten Publikationen gesprochen**. Sehr erstaunt war Graf Kälnoky zu hören, daß sein Unterredner die Echtheit einiger dort veröffentlichten Schriftstücke nicht angezweifelt hat. Er habe zuge- standen, daß mehrere dieser Briefe leider von Beamten des russischen Auswärtigen Ministeriums herrührten, dieselben seien aber ohne sein Wissen und Wollen geschrieben, und müsse er die Verantwortlichkeit dafür entschieden zurückweisen. Die meisten Schriftstücke seien aber gefälscht; dies beweise schon der Umstand, daß Herr Jacobsohn sie ver- öffentlicht, denn die Sprache sei mehr jüdisch als russisch. Die Veröffentlichung habe der russische Minister als eine große Unge- schicklichkeit bezeichnet; dieselbe habe Bulgarien gar nichts genützt und Rußland unnütz verstimmt.

Graf Kälnoky hat ihm hierin recht gegeben. Mir sagte er, er habe sich seinerzeit in Bulgarien auch in diesem Sinne geäußert.

Herr von Giers, der die russische Politik vom Jahre 1876 getadelt

» Vgl. Nr. 1655, Fußnote **.

** Es handelt sich um eine auf einen Dragoman a. D. Jacobsohn zurückgehende in Sofia erschienene Broschüre, die demnächst auch unter dem Titel „Geheime Doku- mente der russischen Orientpolitik 1881—1890, nach dem in Sofia erschienenen russischen Original herausgegeben von R. Leonow" in deutscher Übersetzung er- schien, und die die russische Orientpolitik sehr bloßstellte.

28« 435

und den russisch-türkischen Krieg immer als durchaus den russischen Interessen zuwider angesehen hätte, habe nochmals die bulgarische Undankbarkeit hervorgehoben. Die Befreiung dieser Brüder habe das russische Reich nur in Verlegenheiten gebracht. Nach einer von ihm auf- gestellten Berechnung der Kriegskosten im Verhältnis zur bulgarischen Bevölkerung habe der Minister bemerkt: jeder Bulgare koste Rußland 461 Rubel, und das sei alles verlorenes Geld!

Vom Zaren und dessen Charaktereigenschaften sprechend habe Herr von Giers gesagt, bei ihm sei man vor solchen Überraschungen sicher, wie man sie beim Kaiser Alexander II. erlebt habe; der slawi- schen Pression nachgebend habe er damals in Moskau den Krieg pro- klamiert, während er wenige Tage vorher in Petersburg den größten Widerwillen gegen denselben ausgesprochen habe.

Ob Herr von Giers seines traurigen körperlichen Zustandes wegen noch lange in der Lage sein wird, durch seinen Rat der Sache des europäischen Friedens förderlich zu sein, scheint dem Grafen Kälnoky zweifelhaft.

Ich will nicht unerwähnt lassen, daß er sehr befriedigt von dem Eindruck ist, den nach den heute hier eingetroffenen russischen Zei- tungen der Besuch des Kaisers Franz Joseph bei dem russischen Herrn Minister auf die dortige öffentliche Meinung gemacht zu haben scheint. H.VII. P. Reuß

Nr. 1657

Der Geschäftsträger in Wien Prinz Max von Ratibor an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 164 Wien, den Q.Juni 1893

Bei meinem gestrigen ersten Besuch bei Graf Kälnoky kam der- selbe sogleich auf die Äußerungen zu sprechen, welche seine in den Delegationsausschüssen gehaltenen Reden * in der fremdländischen Presse hervorgerufen. Bei dem Thema „Rußland" brachte der Minister das Gespräch auf seine Unterredung mit Herrn von Giers, über welche Prinz Reuß unter dem 1. Mai d. Js.** berichtet hat.

Graf Kälnoky sagte mir, er habe gehört, eine Quelle wurde nicht angegeben daß sich Herr von Giers in St. Petersburg nicht so befriedigt über seine Wiener Eindrücke ausgesprochen habe, als er, Graf Kälnoky, dies zu erwarten berechtigt gewesen sei. Herr von Giers

* Im Auswärtigen Ausschuß der ungarischen Delegation und im Budgetausschuß der österreichischen Delegation hatte Graf Kälnoky am 3. und am 5. Juni Ex- poses über die auswärtige Lage gegeben. ** Siehe Nr. 1656.

436

habe in St. Petersburg erzählt, daß er einigermaßen erstaunt gewesen sei, aus dem Munde seines österreichisch-ungarischen Kollegen unter anderem die Äußerung zu hören, daß Rußland vor nicht langer Zeit vor einem Kriege gestanden habe.

Graf Kälnoky trug diesen Worten des Herrn von Giers gegenüber große Gleichgültigkeit zur Schau und meinte, der „arme alte Herr" sei wohl etwas gekränkt darüber gewesen, daß der österreichisch- ungarische Minister des Äußern nicht eingehend über die voraussicht- liche zukünftige Lage Europas mit ihm gesprochen habe. Er habe aber den russischen Minister körperlich so gebrochen gefunden, daß er sich gesagt habe, es verlohne sich nicht, mit demselben in weit- tragende politische Diskussion sich einzulassen.

Graf Kälnoky war offenbar zu dem Zwecke auf diese Angelegen- heit zurückgekommen, um die Aufrichtigkeit seiner dem. Prinzen Reuß über die Unterredung mit Giers gemachten Angaben zu bekräftigen und die Äußerungen des russischen Ministers als unrichtig hinzustellen. Speziell die Worte über einen Krieg, vor welchem Rußland vor einiger Zeit gestanden, will Graf Kälnoky nicht gesprochen haben und leugnete dies mehrfach ab, ohne durch mich dazu veranlaßt worden zu sein.

M. R a t i b o r

Nr. 1658

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 242 Wien, den 27. September 1 893

Gestern vor der Hoftafel in Schönbrunn sprach Seine Majestät der Kaiser von Österreich längere Zeit mit mir und äußerte, da er noch nicht Gelegenheit gehabt hätte, etwas eingehender mit unserem aller- gnädigsten Herrn zu reden*, so habe er sich vorgenommen, allerhöchst- demselben bei der Fahrt nach dem Bahnhof noch besonders ans Herz zu legen. Seine Majestät möchten die russische Armee doch ja nicht zu sehr unterschätzen i. Dieselbe habe wohl ihre Fehler, sei aber nicht so schlecht, wie man gern annähme; außerdem aber bleibe die riesen- hafte Anzahl der Soldaten, die Rußland ins Feld zu stellen vermöge, immerhin eine nicht wegzuleugnende Tatsache. Und abgesehen hier- von bleibe ein Krieg, selbst ein siegreicher, doch immer ein großes

* Kaiser Wilhelm II. hatte, von den großen deutschen Manövern kommend, sich Mitte September nach Güns in Ungarn begeben, um den Österreich-ungarischen Manövern beizuwohnen. Im Anschluß an diese Manöver hatte er sich vom 22, bis 27. September bei Kaiser Franz Joseph zur Jagd als Gast aufgehalten.

437

Unglück, dessen Folgen und daraus erwachsendes Elend bei der heu- tigen Beschaffenheit der Waffen gar nicht abzusehen sei.

Ich erlaubte mir, Seiner Majestät zu sagen, höchstweicher offenbar unter dem Eindruck zu stehen schien, als habe man bei uns eine zu ge- ringe Meinung von der russischen Kriegsmacht, es sei immer ein Fehler, den Gegner zu unterschätzen, und ich glaubte nicht, daß dies uns vorge- worfen werden könnte. Seine Majestät wüßten ja, wie friedfertig unser allergnädigster Herr gesinnt sei, und könnte ich dies auf das aller- bestimmteste versichern; auch wüßten höchstdieselben, wie fern es Seiner Majestät liege, kriegerische Absichten gerade gegen Rußland zu hegen, und wie Deutschland nur gezwungen in einen Krieg mit seinem mächtigen Nachbar eintreten würde. Wir würden einen sol- chen Krieg nicht anfangen, auch hätte Seine Majestät, unser Kaiser, die Überzeugung, daß der Zar von den friedfertigsten Gesinnungen durch- drungen wäre.

Diese gleiche Beruhigung könnten wir leider nach der anderen Seite hin nicht haben, und die Narrheit, mit der die französische Presse sich in den letzten Wochen benommen hätte, ohne dabei von der Re- gierung gezügelt worden zu sein*, könne uns nicht die Besorgnis nehmen, daß Frankreich einmal über uns herfallen werde.

Der Kaiser bemerkte hierauf, er glaube auch an die friedlichen Gesinnungen des Zaren, fürchte aber, derselbe würde in einem solchen Falle seine russischen Chauvinisten nicht zurückhalten können.

Ich weiß nicht, weshalb mir Kaiser Franz Joseph die obige Be- merkung gemacht hat, kann mir aber folgendes denken: Unser alier- gnädigster Herr hat sich bei den Manövern bei Güns zu verschiedenen Persönlichkeiten ganz besonders lobend über die dort an den Tag ge- legte vortreffliche Führung jener großen Truppenmassen ausgespro- chen und vielleicht allerhöchstsich auch dahin geäußert, daß wir mit solchen Truppen keinen Feind zu fürchten brauchten. Ich habe es daher für nützlich gehalten, dem Grafen Kälnoky über mein Gespräch mit seinem Souverän zu reden. Ich bat ihn, auch seinerseits eine gewisse Beunruhigung, die ich bemerkt hätte, beim Kaiser Franz Joseph zu bekämpfen und ihm den eventuell erwachten Glauben zu nehmen, als sei unser allergnädigster Herr unter dem frischen Eindruck der großen Manöver in Deutschland und Österreich-Ungarn vielleicht etwas krie- gerisch gestimmt worden.

Der Minister dankte mir für meine Mitteilung und versprach mir, in dem von mir gewünschten Sinne zu wirken. Er ist seinerseits davon überzeugt, daß es unserem allergnädigsten Herrn nicht einfällt, den Krieg nach irgendeiner Seite hin zu wünschen oder gar zu provozieren, und wenn allerhöchstderselbe eine gewisse Zuversicht in den Erfolg

* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1529. 438

eines eventuellen Krieges ausgesprochen hätte, so sei dies sehr schmei- chelhaft für die österreichische Armee, berechtige aber nicht, auf krie- gerische Absichten zu schließen.

H.VII. P. Reuß

Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:

^ ! Nun die Begründung unsrer milit[ärischen] Vorlage hätte ihn beruhigen können. Ich! ich predige seit Jahren das Gegentheil!

Schlußbemerkung des Kaisers: Das sind die Folgen fortdauernder Niederlagen! Die paar Lobsprüche be- rechtigte — von mir, und die versuchte Stärkung des oesterr[eichischen] Selbst- vertrauens — das noch sehr mangelhaft ist hat schon so erschreckt, daß das die Folgen sind!! Uebrigens hat der Kaiser mir nichts von dem gesagt, was er sagen wollte! Ich hätte alles eher vermuthet als einen solchen Ver- dacht!

Nr. 1659

Kaiser Wilhelm II. an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe

Telegramm. Entzifferung

Neues Palais, den 30. Oktober 1894

Ein Telegramm des Großfürsten Thronfolgers teilt mir mit, daß des Zaren Zustand* sich wieder verschlimmert habe und die letzte Nacht eine schlechte gewesen sei. Nach privaten Nachrichten ist Lungen- entzündung dazu getreten mit Blutspeien verbunden, so daß die Ge- fahr wieder näher gerückt sei. Für meine Mitteilungen über hiesigen Kanzlerwechsel** usw. ließ mir der Zar bestens danken durch den Thronfolger, besonders dafür, daß ich persönlich ihn gleich infor- miert habe.

Wilhelm LR.

Nr. 1660

Der Botschafter a. D. von Schweinilz, z. Z. in Kassel, an den Reichs- kanzler Grafen von Caprivi

Eigenhändiges Privatschreiben

Kassel, den 23. Oktober 1894 Aus den Zeitungen entnehme ich, daß man erzählt, Seine Majestät wolle, wenn der Zar stirbt, nach Petersburg zur Beisetzung reisen***.

* Zar Alexander III. litt schon seit Sommer 1894 an einer unheilbaren Nieren- erkrankung.

** Am 29. Oktober war die Ernennung des Fürsten Chlodwig von Hohenlohe zum Reichskanzler an Stelle des Grafen von Caprivi erfolgt.

*** Diese Absicht bestand in der Tat. Wie Kaiser Wilhelm dem auf Urlaub in Berlin weilenden Botschafter von Werder sagte, wollte er die Gelegenheit wahr- nehmen, um Fühlung mit dem jungen Kaiser zu nehmen. Nach Rußland zurück-

439

Eure Exzellenz bitte ich in meiner Vaterlandsliebe die Rechtfertigung zu finden, wenn ich vergesse, daß ich nicht mehr berufen bin, über russische Zustände, Stimmungen und Leidenschaften zu berichten. Diese glaube ich genügend zu kennen, um die Überzeugung aussprechen zu dürfen, daß es ratsam sei, dem künftigen Herrscher Rußlands zu überlassen, den ersten Schritt auf dem Wege wünschenswerter An- näherung zu tun.

Durch Entgegenkommen steigern wir bei den Russen Hochmut und Mißtrauen; mit letzterem hat auch der Zar zu rechnen, dessen beide Vorgänger ihr Verhältnis zu uns in das dichteste Geheimnis zu hüllen genötigt waren.

Eine auffällige Betätigung freundschaftlicher Beziehungen zu dem jungen Monarchen würde diesem Zurückhaltung auferlegen und die russische Gesellschaft sowie besonders die Presse veranlassen, den Franzosen erhöhte Sympathie zu beweisen.

Der Zauber, mit welchem das persönliche Auftreten unseres alier- gnädigsten Herrn auf die Bevölkerung in allen von ihm besuchten Hauptstädten gewirkt hat, würde auch in St. Petersburg nicht aus- bleiben ; je tiefer dieser Eindruck wäre, um so eifriger würde man bestrebt sein, Frankreich zu versichern, daß Rußlands Gesinnungen durch den Thronwechsel keine Änderung erleiden, eine solche herbei- zuführen, steht vorläufig nicht in der Macht des Zaren.

V. Schweinitz

gekehrt, riet von Werder indessen, die Anknüpfung intimerer Beziehungen lieber auf eine spätere Zeit zu verschieben, wo dem Zaren ein allmählicher Übergang zu einer anderen Politik erleichtert wäre. In Würdigung dieser Argumente ver- zichtete Kaiser Wilhelm II., als Alexanders III. Tod eintrat (1. November 1894), auf die Ausführung seines Planes.

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B. Handelspolitische Beziehungen

Nr. 1661

Der Botschafter in Petersburg von Werder an das Auswärtige Amt

Telegramm. Entzifferung

Nr. 78 St. Petersburg, den 22. Juli 1893'

Herr Schischkin zeigte mir soeben mündlich an, daß Maximal- tarif am I.August eingeführt werden würde, falls Deutschland nicht ein Provisorium mit Rußland eingehe*. Die Vorschläge zu demselben würden heute Sonnabend mittels Kuriers nach Berlin gesandt.

Werder

über die Entwicklung der deutsch-russischen Handelsbeziehungen seit den ersten ergebnislosen Erörterungen zwischen beiden beteiligten Regierungen im Jahre 1891 (siehe Kap. XLIX) vgl. die dem Bundesrat im Juli 1893 vorgelegte Denk- schrift (gedruckt u. a. in Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Jg. 1893, S. 99 ff.). Auf die deutsche Bevorwortung, daß die Ausdehnung des inzwischen durch die Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien und der Schweiz begründeten deutschen Konventionaltarifs auf Rußland nur dann in Aussicht ge- nommen werden könne, wenn dieses seinerseits Deutschland außer Erleichte- rungen des Grenzverkehrs und der Zollformalitäten sowie der Beseitigimg der Differenzialzölle eine erhebliche Ermäßigung des russischen Tarifs bewillige, ver- langte die russische Regierung zunächst im Juli 1892 die Mitteilung einer detaillierten Liste derjenigen Artikel, für welche Deutschland Zollermäßigung be- gehre. Diese Arbeit wurde im Reichsamt des Inneren im August 1892 in Angriff genommen; doch wurde sie wesentlich dadurch erschwert, daß vor allem die deutschen Agrarier, die schon mit den seither abgeschlossenen Handelsverträgen sehr wenig zufrieden gewesen waren, heftig gegen eine Ausdehnung der darin festgelegten Agrarzölle auf Rußland opponierten. Im Februar 1893 kam es darüber im Reichstage, dann auch im preußischen Abgeordnetenhause zu stür- mischen Debatten. So konnten die deutschen Vorschläge erst im März 1893 der russischen Regierung zugestellt werden. Sie fanden indessen auf russischer Seite wenig Gegenliebe. Am 25. Juni 1893 führte die russische Regierung vielmehr, nachdem sie kurz zuvor mit Frankreich eine HandelsI<onvention (17. Juni) ab- geschlossen hatte, die diesem einige, jedoch unwesentliche Zollerleichterungen be- willigte, einen doppelten Zolltarif ein und drohte alsbald der deutschen Regierung, gegen alle Waren deutschen Ursprungs mit dem Maximaltarif vorzugehen, falls Deutschland ihr nicht, fürs erst? auf dem Wege eines Provisoriums, die Vci- günstigungen seines Konventionaltarifs zubillige.

443

Nr. 1662

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall afl den Botschaf .er in Petersburg von Werder

Telegramm. Abschrift Nr. 64 Berlin, den 22. Juli 1893

Zu Nr. 78*.

Graf Schuwalow hat mir bereits am ll.d. Mts. in amtlichem Auf- trage und unter Bezugnahme auf unser Provisorium mit Rumänien das Ansinnen gestellt, Rußland unsern Konventionaltarif bis zum 31. Dezember zu gewähren, wogegen Rußland uns die an Frankreich gemachten Zolltarifermäßigungen konzedieren würde.

Ich habe das kurzweg abgelehnt, weil wir zu einem solchen Pro- visorium des Reichstags bedürfen, und es ausgeschlossen war, den Reichstag nach der Erledigung der Militärvorlage noch für handels- politische Fragen hier zu halten**, und weil die Konzessionen Ruß- lands an Frankreich nach eigenem russischen Zugeständnis „insigni- fiantes'' sind. Herr Witte weiß also, daß wir zurzeit staatsrechtlich außerstande sind, auf den Vorschlag eines Provisoriums einzugehen.

Wahrscheinlich fand Herr Witte den Kaiser besser als ihm lieb war für Deutschland disponiert und wählte das Auskunftsmittel der Stellung eines bereits abgelehnten Vorschlags, um dem Monarchen unseren bösen Willen glaubhaft zu machen.

Wenn Ew. pp. morgen beim Frühstück Gelegenheit finden, den Kaiser darüber aufzuklären, daß wir verfassungsmäßig ein Proviso- rium zurzeit gar nicht bewilligen können, so dürfte dies vielleicht nützlich sein. Wena auch nach dem letzten Schritte des russischen Finanzministers ein zeitweiliger Zollkrieg nicht vermeidbar scheint, so ist es doch für spätere befriedigende Regelung, an der ich selbst heute nicht zweifle, von Wichtigkeit, daß Kaiser Alexander an unseren Wunsch, uns zu verständigen, schon jetzt glaubt.

(gez.) Marschall

Nr. 1663

Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichsl^axizler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 182 St. Petersburg, den 28. Juli 1893

Den mir durch Euere Exzellenz erteilten Auftrag, der hiesigen Regierung mitzuteilen, daß unsere Regierung beabsichtige, die Ein-

* Siehe Nr. 1661.

** Am 15. Juli war bereits der Reichstag nach Erledigung der Militärvorlage ge-

sclilossen.

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Führung des russischen Maximaltarifs gegen Deutschland durch Er- höhung der Steuern auf die Einfuhr russischer Produkte zu beant- worten, habe ich ausgeführt.

Nachdem ich es bei Herrn von Schischkin getan hatte, suchte ich gestern zu diesem Zwecke Herrn von Giers auf.

Beiden machte ich noch einmal in entschiedener Weise klar, daß der Finanzminister sich im Irrtum befunden hätte, als er annahm, daß die Kaiserliche Regierung berechtigt sei, ohne Einholung der Zu- stimmung des Reichstags ein Zollprovisorium einzuführen, und daß die Berufung auf Rumänien ganz ungerechtfertigt sei, da unsere wirt- schaftliche Stellung diesem Lande gegenüber von der zu Rußland wesentlich abweiche.

Herr von Schischkin nahm die Mitteilung ad referendum.

Bei einer früher stattgehabten Unterredung hat er mir gesagt, er müßte mir doch sagen, daß die deutsche Regierung Rußland sehr „rudement" behandle, und er gebrauchte dann, um seine Ansicht noch mehr zu betonen, einen sehr drastischen in Studentenkreisen gebräuchlichen Ausdruck.

Herr von Giers nahm die Sache sehr tragisch. Er sagte, nachdem die deutsche Regierung wiederholentlich erklärt hätte, daß die Chancen einer Verständigung nur in dem Falle günstig ständen, daß auf der Basis ihrer Forderungen verhandelt würde, wäre die Einführung des Maximaltarifs nicht mehr zu umgehen gewesen*. Er hoffe aber, da ja unsere Regierung beantragt hätte, am 1. Oktober in kommissarische Verhandlungen einzutreten, daß wir dann den Zollkrieg beendigen könnten, nachdem ein für beide Länder annehmbares Abkommen zu- stande gekommen wäre.

Auf die politischen freundnachbarlichen Beziehungen übergehend, sagte mir Herr von Giers, der Kaiser könne sich gar nicht denken, daß Kampfzölle irgendeinen nachteiligen Einfluß auf diese haben könn- ten. Seine Majestät habe als Beispiel angeführt, daß trotz der ganz besonderen Verehrung, welche der Kaiser Nikolaus für seinen Schwie- gervater den König Friedrich Wilhelm IIL hatte, immer unter seiner Regierung eine Art von Zollkrieg zwischen Rußland und Preußen geführt worden v/äre, aber es hätte dieser nie die vortrefflichen ver- wandtschaftlichen und politischen Beziehungen gestört.

Der Minister sagte mir dann noch, er hätte den Minister des Innern aufgefordert, die Presse dahin zu instruieren, daß sie anläß- lich der gegenseitigen Zollmaßregeln keine gehässigen Artikel gegen Deutschland schreiben dürfe. Unsere Presse sei sehr „mechante" fügte

* Tatsächlich verfügte der russische Finanzminister für alle Waren aus Deutsch- land nicht nur den Maximaltarif, sondern auch noch einen Zuschlag von 50 o/o, wogegen Deutschland lediglich einen Zuschlag von 50 o/o auf die bisher be- stehenden Eingangsabgaben anordnete.

445

er hinzu, aber er wisse ja, daß die Regierung keine gesetzliche Hand- habe gegen sie habe. Ich entgegnete darauf, daß ich überzeugt wäre, daß wenigstens die offiziöse Presse angehalten werden würde, sich eines anständigen Tones zu befleißigen.

Mein Besuch war sehr kurz, da ich den Minister in höchstem Maße angegriffen fand.

V. Werder

Nr. 1664

Der Reichskanzler Graf von Caprivi, z. Z. in Karlsbad, an den Staats- sekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall

Privatbrief. Eigenhändig

Karlsbad, den 24. September 1893 Euer Exzellenz danke ich für die Anzeige Ihrer mir willkommenen Rückkehr nach Berlin

In bezug auf den Handelsvertrag mit Rußland bin ich gegen ein Provisorium (Waffenstillstand), wobei wir auf den status quo ante zurückkehrten. Unserem Handel und unserer Industrie würde das dann, m. E., erheblich nutzen, wenn die Wahrscheinlichkeit, daß ein defini- tiver Vertrag zustande kommt, die Voraussetzung dieses Provisoriums wäre, wenn also der Handel sich auf lange Zeiten einrichten könnte. Das würde Rußland auch erkennen und unser Friedensbedürfnis über- schätzen. Für sich selbst aber hat Rußland starke Motive zu einem Provisorium, auch wenn ihm dies nur soviel Zeit schafft, seine dies- jährige Ernte abzuschieben.

Ich nehme an, daß unsere Kommissionen keine besondere Instruk- tion erhalten, sondern den Tarif auf Grund unserer Offerte behandeln. Den Vertragstext selbst habe ich noch nicht gesehen und bitte, mir Abschrift oder Auszug vom Wesentlichen zu schicken.

Ich wünsche nach wie vor das Zustandekommen eines Vertrages mit Rußland aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen dringend. Aber wir müssen wenigstens soviel von Rußland erreichen, daß Handel und Industrie im ganzen befriedigt werden.

Ziehen die Verhandlungen sich in die Länge, so scheint mir das nicht ungünstig. Jedenfalls darf vor den Tagen Toulon* die Sache nicht scheitern, pp.**

V. Caprivi

* Gemeint ist der bevorstehende Besuch des russischen Geschwaders in Toulon

(13. Oktober). Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1529.

*♦ Den Schluß des Briefes in Kap. XLVII, Nr. 1530.

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Nr. 1665

Der Geschäftsträger in Petersburg Graf Rex an den Reichskanzlei

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 265 St. Petersburg, den 28. Oktober 1893

Herr von Giers erzählte mir, daß die deutsch-russischen Zoll- verhandlungen* einen guten Fortgang nähmen, er sei bei der kurz vor der Abreise nach Berlin stattgehabten Konferenz, welcher auch Graf Schuwalow beigewohnt hätte, der einzige gewesen, welcher an einen glücklichen Ausgang der Verhandlungen geglaubt habe und von dem ernstlichen Bestreben der deutschen Regierung, einen Vertrag herbeizuführen, überzeugt gewesen sei.

Aus den Ausführungen des Ministers konnte ich entnehmen, daß er mit dem in seiner Abwesenheit erfolgten Vorgehen des Finanz- ministers gegen Deutschland keineswegs einverstanden war, er er- kannte die schwierige Stellung der deutschen Regierung gegenüber den Agrariern vollständig an.

Herr von Giers bemerkte noch im Laufe des Gesprächs, daß er den Grafen Schuwalow bewogen habe, schon jetzt nach Berlin zurück- zukehren, da er es nicht verantworten könne, eine solche Kraft in einem so kritischen Moment in Urlaub zu lassen.

Graf Rex

Nr. 1666 Kronratsprotokoll vom 18. Februar 1894**

Abschrift

St. M. 637 Berlin, den 18. Februar 1894

Sekret

Auf allerhöchsten Befehl war heute unter dem Vorsitz Seiner Majestät des Kaisers und Königs das Staatsministerium im Schlosse zu Berlin zu einer Kronratssitzung zusammengetreten, an welcher

* Sie hatten, gemäß dem Vorschlag der deutschen Regierung, Anfang Oktober in Bedin begonnen. Russischerseits führten die Verhandlungen hauptsächlich Staats- rat Timiriazew, deutscherseits Gesandter Freiherr von Thielmann und General- konsul von Lamezan. Näheres siehe in „Die Handelspolitik des Deutschen Reichs vom Frankfurter Frieden bis zur Gegenwart" (1899), S. 172f. ** Über den Verlauf der Verhandlungen über den russischen Handelsvertrag liegen im Archiv des Auswärtigen Amts nur wenig Akten. Ein sonst sehr instruktiver Erlaß an den Botschafter von Werder vom 25. November 1893 empfiehlt sich nicht zum Abdruck, weil er ohne die nicht veröffentlichten Drucksachen des Zoll- beirats, auf die fortwährend Bezug genommen wird, nicht überall verständlich ist. Einen guten Ersatz gewährt das oben abgedruckte Kronratsprotokoll vom 18. Februar, das die Entstehungsgeschichte des am 9. Februar unterzeichneten Handelsvertrags ab ovo darlegt.

447

außer sämtlichen Mitgliedern, sowie dem mit Führung des Protokolls beauftragten Unterstaatssekretär desselben, der Staatssekretär des Aus- wärtigen Amts und der Gesandte Dr. Freiherr von Thielmann teil- nahmen.

Es stand der mit Rußland abgeschlossene Handels- und Schiff- fahrtsvertrag zur Beratung.

Seine Majestät geruhten zunächst dem Reichskanzler das Wort zu geben.

Derselbe rekapitulierte, wie man zum Abschlüsse dieses Vertrages gekommen sei.

Seit den zwanziger Jahren hätten Versuche stattgehabt, zu einer Verständigung zu gelangen, bald sei ein Schritt vorwärts, bald aber auch wieder rückwärts gemacht, niemals habe Rußland sich zu etwas Festem verpflichten wollen, so daß über allen geschäftlichen Be- ziehungen zu diesem Lande die Unsicherheit geschwebt habe, ob auch nun zu dem Zeitpunkte, wo Waren die Grenze passierten, noch dieselben Bestimmungen in Kraft ständen, wie zur Zeit des Abschlusses des bezüglichen Geschäfts. Zollplackereien seitens der einzelnen Be- amten, Bestechungen, Schmuggelhandel seien die Folge solcher Zu- stände gewesen. Daß dies nicht schlimmere Früchte für die Be- ziehungen beider Länder getragen, liege an dem damaligen glücklichen Verhältnis der beiderseitigen Dynastien, dem damals weniger entwickel- ten Nationalgefühl, der geringeren Entwickelung der Presse und der Kommunikationen.

Im Herbst 1890 sei zuerst von Rußland aus der Gedanke des Ab- schlusses eines Handelsvertrages geäußert worden, im November 1891 der Vorschlag einer entente commerciale gemacht in dem Sinne, daß Rußland die Bewilligung unserer Zölle gegen Österreich gewünscht und dagegen das Meistbegünstigungsrecht habe einräumen wollen. Seine Majestät hätten genehmigt, daß zu diesem Vorschlage eine ab- wartende Stellung eingenommen worden sei. Durch ein Eingehen auf denselben hätten die damals schwebenden Verhandlungen mit Öster- reich-Ungarn gefährdet werden können. Andererseits sei zweifelhaft erschienen, ob man Rußland auf die Dauer differenziell würde be- handeln können. Im Dezember 1892 habe Rußland dann die Auf- stellung eines Maximaltarifs angekündigt, neben welchem der bis- herige Tarif als Minimaltarif habe weiterbestehen sollen. Im Februar 1893 seien wir mit allerhöchster Genehmigung auf den Wunsch Ruß- lands eingegangen, diejenigen Punkte zu bezeichnen, auf welche wir bei einem zu schließenden Abkommen Wert zu legen hätten, an der Spitze das Verlangen, daß die Landeinfuhr nicht höher als die Einfuhr zur See besteuert werde, dann, daß uns auch für den Verkehr mit Finnland Vorteile eingeräumt würden. Im Juli 1893 hätten wir als- dann auf Wunsch Rußlands unsere Bereitwilligkeit erklärt, auf Ver-

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Handlungen einzugehen, es jedoch als notwendig bezeichnet, daß vor- her eine Basis für solche geschaffen werde. Vom I.August 1893 ab habe Rußland dann seinen Maximaltarif in Kraft treten lassen, jedoch unter gleichzeitiger Erklärung, daß es zu weiteren Verhandlungen be- reit sei.

Vom 15. Juli ab hätten wir die russischen Einfuhrartikel mit einem Zollaufschlage von 50 o/o belastet, was Rußland mit der gleichen Maß- regel beantwortet habe, und seitdem bestehe der Zollkrieg, der beide Teile habe belehren können, wie erwünscht eine Verständigung sei. Auf Rußlands Wunsch habe man sich dann über Konferenzen geeinigt, welche am I.Oktober v. Js. eröffnet worden seien.

Nachdem auf den Wunsch des Reichskanzlers Seine Majestät so- dann dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts das Wort gegeben hatten, um die Bedeutung des nunmehr abgeschlossenen Vertrages klar- zustellen, führte derselbe aus, die russischen Unterhändler hätten schon beim Beginn der Konferenzen sich zu weitergehenden Konzessionen bereit gezeigt, als man habe erwarten dürfen. Von unserer Seite seien solche namentlich begehrt worden für landwirtschaftliche und chemische Produkte, Metall- und Textilwaren u. a. Unsere Ausfuhr nach Ruß- land sei seit dem Jahre 1880 von 220 auf 125 bis 130 Millionen Mark zurückgegangen, wobei noch anzunehmen, daß unsere Industriellen schließlich, um sich den russischen Markt zu erhalten, noch mit Verlust Geschäfte mit Rußland gemacht hätten. Unter dem dankenswerten Beistande Sachverständiger seien nun Resultate erzielt worden, von denen diese erwarteten, daß die Ausfuhr wiederum steigen werde. So habe denn auch die Industrie, wie dies für Handel und Schiffahrt selbstverständlich gewesen, den veröffentlichten Vertrag günstig auf- genommen. Ein Rückblick auf die Vergangenheit lasse die Vorteile desselben am besten erkennen. Seit 20 Jahren folge eine Erhöhung der Zölle auf unsere Waren der andern. Zuerst sei die Entrichtung der Zölle in Gold, statt in Papier, verlangt, was nach damaligem Kurse einer Erhöhung um 30 o/o gleichkomme, dann hätten in den Jahren 1882, 85, 87, 89, 91 Erhöhungen stattgefunden. Wir hätten reklamiert, verhandelt, nie aber erlangt, daß Rußland sich auf längere Zeit habe binden wollen, dann seien auch wir mit Zollerhöhungen vorgegangen. Der wesentliche Grund, weshalb wir seit 1879 das ge- mäßigte Freihandelssystem verlassen hätten, sei der gewesen, daß wir nur durch Zölle auf agrarische Erzeugnisse Rußlands uns gegen letzteres hätten wehren können. Unser seit 1887 geltender Getreide- zoll von 5 Mark sei eigentlich ein Kampfeszoll gegen Rußland, das uns durch einen fast als Prohibitivzoll zu bezeichnenden Zoll auf Eisen und den Differenzialzoll zum Nachteil für den Landverkehr gegen« über dem Seeverkehr benachteiligt habe.

Der damalige Reichskanzler habe das Reichsschatzamt um gut- achtliche Äußerung über die zu ergreifenden Maßregeln ersucht, und

29 Die Große Politik. 7. Bd. 449

dieses habe jene Zölle vorgeschlagen, jedoch in der Weise, daß sie allgemein durch Gesetz eingeführt würden, so daß sie dann auch Österreich-Ungarn gegenüber als Kompensation wirken könnten. So sei die Vorlage von 1887 mit ihren Zollerhöhungen auf Getreide, Holz und andere landwirtschaftliche Produkte entstanden.

Breche daher Rußland jetzt mit seinem autonomen Zolltarif, so sei es nur logische Konsequenz, daß wir jene Zölle wieder herab- setzten. Mit Sicherheit vorherzusagen, was die Folge hiervon sein werde, sei freilich schwer. Nach dem im Auswärtigen Amt gesammelten statistischen Material nehme er an, daß der Rußland gegenüber be- stehende Differenzialzoll von 5 Mark oder jetzt 7,50 Mark der Land- wirtschaft keinen Schutz gewährt, vielleicht sogar zu dem Sinken der Getreidepreise und der Stagnation des Getreidegeschäfts mit bei- getragen habe. Der Hauptgrund für die niedrigen Preise liege freilich in der zwei Jahre hintereinander, 1892 und Q3, in allen Erdteilen statt- gehabten guten Ernte, es seien aber auch durch die preußischen Kampf- zölle die Getreidepreise in Rußland sehr gesunken, und Rußland habe für sein Getreide den Weltmarkt aufsuchen müssen, was allenthalben einen hiernach indirekt durch die Höhe des Zolls verursachten Druck auf die Preise geübt habe. Dies sei ein Argument gegen die Behauptung, daß infolge des ermäßigten Zolles die Preise noch weiter- fallen müßten. Selbst bei diesem Zoll von 3,50 Mark sei mit Spesen und Fracht das russische Getreide zu teuer, um mit dem inländischen bei jetzigen Preisen des letzteren konkurrieren zu können. Der Vertrag, der der Industrie, dem Handel und der Schiffahrt großen Vorteil bringe, bedrohe daher auch nicht die Landwirtschaft. Über allgemeine Redensarten seien auch diejenigen, welche eine solche Gefahr be- haupteten, nicht hinausgekommen. Schlösse man selbst unsere Grenzen gegen russisches Getreide ganz ab, so würde es auf den Weltmarkt geworfen werden und auf diesem Wege die Preise drücken.

Der Gesandte Dr. Freiherr von Thielmann erhielt das Wort, um über den Lauf der Verhandlungen selbst sich zu äußern und trug vor, dieselben seien bis zum Anfang des Dezember langsam vorgerückt. Der Zollbeirat habe im November an unseren Forderungen etwas nachgelassen, dagegen eine Liste nachträglicher Wünsche vorgelegt, auf welche Rußland anfangs nicht habe eingehen wollen. Gegen Weih- nachten sei angesichts der traurigen Lage der russischen Landwirt- schaft ein Umschwung eingetreten und damals eigentlich die Grund- lage des Vertrags gewonnen, so daß seitdem es sich wesentlich um redaktionelle Tätigkeit gehandelt habe. Der Vertrag komme nicht allein den von dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts genannten Haupt- artikeln, sondern einer Reihe anderer Industriezweige aus allen Teilen Deutschlands, namentlich auch dem Kleingewerbe zugute, so daß, seit er bekannt sei, eine Reihe günstiger Kundgebungen aus industriellen Kreisen erfolgt sei, eine solche auch in Berlin heute wahrscheinlich

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stattfinden werde. Der Handel erlange dem bisherigen Zustande gegen- über große Vorteile und die Landwirtschaft werde nicht leiden.

Der Minister für Handel und Gewerbe schloß sich dieser Auf- fassung durchaus an. Den Hauptvorteil von dem Vertrage zögen die oberschlesische Eisen- und Kohlenindustrie und die Ostseehäfen. Die letzteren wären schon mit den Tarifen vor den Kampfzöllen zufrieden gewesen, die erstere gewinne hauptsächlich durch Beseitigung des Differenzialtarifs zwischen Land- und Seeeinfuhr, von welchem England und Belgien großen Vorteil vor uns gezogen hätten.

Neben dem schon hervorgehobenen Rückgang unseres Exports seit 1880 sei noch als besonders erheblich zu nennen der Rückgang seit Einführung der Kampfzölle, der in 5 Monaten 16 Millionen Mark betrage, wobei unsere Industrie zuletzt, um sich nur den russi- schen Markt zu erhalten, mit Verlust gearbeitet habe. Auf die Länge sei dies nicht durchzuführen, und würden auch die jetzt verbhebenen 125 Millionen zum großen Teil noch in Wegfall gekommen sein. Jetzt dürfe man hoffen, vielleicht den Stand von 1880 wieder zu erreichen. Kein industrieller Verband habe bisher ungünstig über den Vertrag sich geäußert gegenüber vielen günstigen Äußerungen. Nur ein ein- zelner Eisenindustrieller habe sich gefunden, der gegen den Vertrag sich ausgesprochen habe.

Viel klarer sei noch der Gewinn der Ostseestädte. Königsberg, Danzig, Memel würden bei fortgesetzter Sperre der Grenze ihren Handel fast ganz eingebüßt haben. Auch die Hansestädte seien zu- frieden. Die Landwirtschaft werde, auch seiner Meinung nach, keinen Schaden haben.

Seine Majestät der Kaiser und König geruhten zu bemerken, ihre Stellung zur Sache sei bekannt. Der Vertrag sei ökonomisch wie po- litisch von größter Bedeutung. Die erstere Seite sei bereits genügend beleuchtet. Die Reichsregierung sei die erste, die sich über die zu befolgende Handelspolitik klar geworden sei. Der russische Handels- vertrag mit seinen Vorgängern sei ein fundamentales Werk, das alle europäischen Staaten als Vorbild ansehen sollten, denn der gegen- seitige Abschluß der Staaten gegeneinander würde den Ruin Europas herbeigeführt haben, pp.

Politisch sei der russische Handelsvertrag von der größten Wich- tigkeit und sei für dessen Zustandekommen das Verhältnis der beider- seitigen Dynastien maßgebend gewesen. Von russischer Seite sei schon zurzeit der Regierung Seiner Majestät Kaiser Wilhelms I. ein kühleres Verhalten gezeigt worden, ebenso gehe jetzt von dort, ohne daß aller- höchstsie eine neue Anknüpfung gesucht hätten, das Entgegenkommen aus. Der Moment, in welchem Rußland ein solches bezüglich des Handelsvertrags gezeigt habe, sei der gewesen, als Seine Majestät der Kaiser von Rußland, aus Dänemark zurückgekehrt, die traurige Lage der russischen Landwirtschaft erkannt und den Befehl gegeben hätten,

29* 451

mit dem Abschluß des Vertrags ernstlich vorzugehen. Seine Majestät begrüßten diesen Abschluß von ganzem Herzen. Ein gutes politisches Verhältnis könne zwischen Staaten, deren wirtschaftliche Beziehungen schlechte seien, auf die Dauer nicht bestehen, und so hofften sie auf Verbesserung der Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland und Lockerung derjenigen zwischen Rußland und Frankreich.

Bedauerlich sei die Gegnerschaft eines großen Teils der Land- wirtschaft gegen den Vertrag. Seine Majestät hätten den Zusammen- schluß der Landwirte in der Hoffnung freudig begrüßt, daß man nun über die Bedürfnisse der Landwirtschaft Klarheit erlangen werde. Stattdessen stehe man einer Agitation gegenüber, welche, geeigneter Führer ermangelnd, in den Formen fortschrittlicher Observanz ver- meintliche Standesinteressen unter Zurückstellung des Staatswohls ver- folge. Auch Männer von sonst vornehmer Gesinnung hätten sich in diese Bewegung hineinziehen lassen und glaubten sich an dieselbe gebunden, obwohl sie im Grunde mit allerhöchstihrer eigenen Ansicht und den Bestrebungen der Regierung einverstanden wären. Seine Ma- jestät hätten sich offen ausgesprochen und auf die Brücken gewiesen, auf welche diese Gegner treten könnten. Die Thronrede bekunde das der Landwirtschaft geschenkte Wohlwollen, Maßregeln auf dem Ge- biete der Währungsfrage seien Gegenstand der Erwägung, und man werde jahrelang die Hebung der Landwirtschaft im Auge behalten müssen, die sich freilich von heute auf morgen nicht erzielen lasse.

Einer Opposition gegenüber, welche den russischen Vertrag zu Falle bringen wolle, würden Seine Majestät ihre Rechte voll zur Geltung bringen, und auch der heutige Kronrat solle zeigen, daß sie und das Staatsministerium geschlossen hinter den Männern ständen, welche den Vertrag zu vertreten hätten. Seine Majestät wüßten sich einig mit denselben, hielten den Vertrag für eine der größten je für Preußen und Deutschland erzielten Errungenschaften und seien dem Reichskanzler dankbar für das Erreichte. Sicher würde auch dessen Amtsvorgänger mit Befriedigung darauf geblickt haben, wenn es ihm geglückt wäre, solche Konzessionen von Rußland zu erreichen.

Für Meinungsverschiedenheiten zwischen Preußen und Bayern be- züglich der Stellung zu dem Vertrage sei ja der glücklichste Ausgleich gefunden. Ebenso werde in Sachsen die Sachlage richtig gewürdigt.

Seine Majestät geruhten hierauf die Sitzung zu schließen.

(gez.) Graf zu Eulenburg, von Boetticher, von Schelling, Freiherr von Berlepsch, Graf vonCaprivi,Miquel,vonHeyden,Thielen> Bosse, Bronsart von Schellendorf.

Schlußbemerkung Kaiser NX'ilhclms H. in Abschrift: Genehmigt! (gez.) Wilhelm R.

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Nr. 1667 Kaiser Wilhelm II. an Kaiser Alexander III. von Rußland

Telegramm en clair. Konzept

[Berlin, le 16 Mars 1894] C'est avec une vive satisfaction que je m'empresse de T'annoncer que le tralte de commerce a ete vote aujourd'hui par le Reichstag. J'espere que cette oeuvre pacifique qui, gräce au puissant con- cours que Tu y as prete, vient d'etre menee ä bonne fin, ne manquera pas de resserrer davantage les liens traditionnels d'amitie qui existent entre nos deux pays et nos deux maisons.

Ces liens fondes jadis par nos peres sur les principes monarchi- ques je les envisage comme un legs sacre que nous sommes appeles ä conserver et ä cultiver pour le bonheur de nos peuples.

Ouillaume*

Nr. 1668 Kaiser Alexander III. von Rußland an Kaiser Wilhelm II.

Telegramm en clair. Ausfertigung

St. Petersburg, Palais Anitschkow, den 17. März 1894 En Te remerciant chaleureusement de l'aimable empressement que Tu as mis ä m'annoncer Tadoption de notre traite de commerce par le reichstag, je suis tres touche des sentiments que tu m'exprimes ä cette occasion. Connaissant le prix tout particulier que j'attache aux traditions dont Tu evoques le souvenir Tu ne saurais douter de la reciprocite de mes voeux les plus sinceres. Alexandre

Nr. 1669

Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 79 Wien, den 4. April 1894

Graf Kälnoky sprach mir heut über den österreichisch-russischen Handelsvertrag, der, wenn auch noch nicht formell abgeschlossen, durch das seit dem 2. d. Mts. bereits gültige Provisorium doch vollkommen gesichert sei.

Der Minister legt diesem Vertrag eine hohe politische Wichtigkeit bei. Ebenso wie durch die Haltung, die die russische Regierung bei Abschluß des deutsch-russischen Vertrages eingenommen, sei auch bei

Unterschrift von der Hand des Unterstaatssekretärs Freiherrn von Rotenhan mit dem Randvermerk: „Von Seiner Majestät genehmigt. Rotenhan."

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den hiesigen Verhandlungen der Wunsch Rußlands unverkennbar ge- wesen, mit seinen beiden westlichen Nachbarn auch auf wirtschaft- lichem Gebiet in regelmäßige und auf längere Zeit gefestigte Bezie- hungen zu treten. Rußland habe hier seine Forderungen auf Ermäßigung der Getreidezölle fallen lassen und, wie gesagt, sich auf 10 Jahre ge- bunden. Man könne hierin nur eine Wendung zum Besseren auch auf politischem Gebiet erblicken, und dies sei eine hocherfreuliche Tat- sache. Denn ein Staat, welcher sich auf den Weg der Abenteuer begebe und feindselige Absichten gegen seine Nachbarn habe, pflege sich nicht auf längere Zeit hinaus handelspolitisch zu binden.

Daß dies auch an anderer Seite ebenso aufgefaßt werde, beweise die Mißstimmung, die man in Frankreich, der beiden russischen Han- delsverträge wegen, bemerken könne*. Offenbar fühle man sich dort unsicher, und das sei sehr hoch anzuschlagen.

Der Minister fügte hinzu, daß, soweit es an ihm liege, er alles tun würde, um die erfreuliche Wandelung in den russischen Auffassun- gen zu pflegen. Dem Kaiser Alexander und höchstdessen persönlicher Einwirkung sei es ohne Zweifel in erster Linie zu danken, daß man jetzt mit größerer Zuversicht an die friedliche Politik Rußlands glauben könne.

Bei den durch die Krankheit des Herrn von Giers hervorgerufenen anarchischen Zuständen im russischen Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten könne man die Einwirkung dieses Amtes nur gering anschlagen.

H.VII.P.Reuß

Nr. 1670

Der Geschäftsträger in Petersburg Graf Rex an den Reichskanzler

Grafen von Caprivi

Ausfertigung

Nr. 71 St. Petersburg, den 6. April 1894

Wenige Tage sind erst seit Abschluß des deutsch-russischen Han- delsvertrages verflossen, und schon zeigt sich mir in allem, was mich umgibt, die ungeheure Tragweite dieses Vertrages.

In kommerzieller Beziehung ist eine Geschäftigkeit eingetreten wie nie zuvor. Die Importeure arbeiten Tag und Nacht, um den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden, die deutschen Indu- striellen erstreben mit Macht das durch den Zollkrieg Verloren- gegangene wieder einzuholen. Ob es ihnen gelingen wird, ihre alte Stellung hier wieder voll einzunehmen, vermag ich heute noch nicht zu sagen, da viele russische Kaufleute Verbindungen mit englischen und französischen Häusern angeknüpft haben. Das russische Getreide-

* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1536.

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geschäft hat eine nennenswerte Belebung noch nicht erfahren, da die allgemeine internationale Lage des Getreidemarkts seit Abschluß des Vertrages noch nicht seine Klärung gefunden hat.

Die russische Presse hat den Abschluß des Vertrages in großen Leitartikeln gefeiert und mit großer Wärme hervorgehoben, welchen lebhaften Anteil Seine Majestät der Kaiser und König an dem Zu- standekommen des Vertrages genommen hat. Bemerkenswert ist, daß darin weniger von den kommerziellen Beziehungen der beiden Länder, als von den politischen die Rede ist. Man hat hier allgemein das Ge- fühl, daß Rußland einer Kriegsgefahr entronnen ist, und daß der Deutsche nun nicht mehr als der Feind Rußlands zu betrachten ist. Die gegenwärtige Sprache der Presse und alle Unterhaltungen, die ich mit maßgebenden Persönlichkeiten über den Abschluß des Ver- trages gepflogen habe, bestätigen meine Auffassung, die ich Euerer Exzellenz im September v. Js. zu unterbreiten die Ehre hatte, daß näm- lich der Zollkrieg mit Rußland zu einem nationalen Kampfe gegen Deutschland ausgeartet sei.

Während des Zollkrieges glaubte hier jede Behörde, so schroff als möglich den Wünschen der Kaiserlichen Botschaft entgegentreten zu müssen. Ich hege die Hoffnung, daß hierin eine Wandlung ein- treten wird.

So sagte mir beispielsweise General Schebeko, als ich nach Ab- schluß des Vertrages in einer Ausweisungssache ihn aufsuchte, „je tächerai d'arranger l'affaire selon Vos desirs, nous sommes donc de nouveau amis".

Hervorheben muß ich, daß die Sprache der russischen Blätter seit Abschluß des Vertrages an Begeisterung für Frankreich wesentlich ab- genommen hat. Die Indiskretionen, die seitens französischer Beamten in letzter Zeit begangen worden sind, haben das Ihre dazu beigetragen. Der „Grashdanin" polemisiert wieder in seinen Leitartikeln gegen die russisch-französische Verbrüderung, der, wie er sagt, der feste Boden fehlt, pp.

Graf Rex

Nr. 1671

Der Konsul in Kiew Schäffer an den Reichskanzler Grafen von Caprivi

Ausfertigung Nr. 2209 Kiew, den Q.Mai 1894

Die beiden bedeutsamen Ereignisse der letzten Zeit: das Zustande- kommen des deutsch-russischen Handelsvertrags und die Verlobung des Großfürsten-Thronfolgers mit einer deutschen Prinzessin* haben

* Die Verlobung des Großfürrten-Thronfolgers mit der Prinzessin Alix von Hessen war am 20. April in Koburg erfolgt.

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die hiesigen chauvinistischen Panslawisten sehr verstimmt. Die fried- liche Strömung, hervorgerufen durch das Bedürfnis einer Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die ihrerseits wiederum von der Wirk- samkeit des Handelsvertrags und freundlicheren Beziehungen zwischen den beiden Nachbarvölkern erhofft wird, ist jedoch zurzeit in der Masse der Bevölkerung eine zu starke, als daß die „Patrioten", ohne sich der Gefahr auszusetzen, sich selbst zu schaden, es wagen dürften, das alte Lied von dem sich selbst genügenden Rußland und dem treulosen, egoistischen Deutschland fortzusetzen. Sie haben daher in ihrer Presse eingeschwenkt und machen gute Miene zum bösen Spiel, indem sie in den allgemeinen Jubel über die Verlobung des Thron- folgers einstimmen und sich über die handelspohtische Verständigung mit Deutschland befriedigt zeigen.

In Wirklichkeit jedoch haben die hiesigen Panslawisten die über den Handelsvertrag geführten Verhandlungen niemals als ernst auf- gefaßt und stehen noch immer auf dem Standpunkt, daß derselbe Rußland zum Schaden gereiche. Sie behaupten, daß, wenn die Aus- fuhr der russischen Rohprodukte erschwert wäre, sich die bearbeitende Industrie und die landwirtschaftlichen Gewerbe im Lande viel schneller auf Kosten des Ackerbaues entwickeln würden, und Rußland daher weder auf den deutschen Markt für sein Getreide, noch auf deutsche Industrieerzeugnisse angewiesen sei.

In den breiteren Schichten der hiesigen Panslawisten galten seiner- zeit die Verhandlungen als ein von dem Finanzminister Witte, den sie ebenso wie seinen Gehilfen Herrn Antonowitsch zu den ihrigen zählen*, inszeniertes Manöver war doch die in Kiew erscheinende, dem letzteren gehörige Zeitung „Kiewskoje Slowo" fast bis zum letzten Augenblick Gegnerin des Vertrages , um den Deutschen in der Meinung des russischen Volkes vollends zu diskreditieren. Wäh- rend die Verhandlungen schwebten, bemühte sich die hiesige Provin- zialpresse, mit Ausnahme des „Kiewljanin", die Verantwortung für den Zollkrieg und die dadurch für das russische Volk entstehenden Schäden und Schwierigkeiten Deutschland aufzubürden, in dessen Inter- esse es sei, Rußland wirtschaftlich unter allen Umständen zu schwä- chen. Rußland tue alles, um eine Verständigung herbeizuführen, stoße aber auf den bösen Willen des Nachbarn, welcher es jahrelang in schamloser Weise ausgebeutet habe. Auf ein Zustandekommen des Vertrages sei daher nicht zu rechnen. Man verstieg sich sogar zu der Behauptung, der Zollkrieg sei als Anfang des unvermeidlichen Waffen- ganges mit Deutschland zu betrachten. Später, als der Vertrag ab- geschlossen war, suchte man nachzuweisen, daß Rußland im Grunde

I

* In einem Bericht Schaffens vom 24. Juni 1893 wird der eben zu seiner Würde als Gehilfe des Finanzministers Witte erhobene ehemalige Kiewer Professor Antonowitsch als „Panslawist, Deutschenfresser, Franzosenfreund und Schutz- zöllner" bezeichnet.

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keine nennenswerten Zugeständnisse gemacht, Deutschland dagegen klein beigegeben habe und im übrigen der Vertrag keinen Einfluß auf die äußere Politik Rußlands üben werde. Frankreich brauche durch- aus nicht zu befürchten, aus der Gunst Rußlands von Deutschland verdrängt zu werden. Letzteres bleibe nach wie vor der falsche, selbst- süchtige Freund Rußlands. Herrn Wittes Freunde aus demselben Lager suchen ihn der Verantwortung für den Abschluß des Vertrags da- durch zu entheben, daß sie behaupten, er habe nur dem persönlichen Willen Kaiser Alexanders nachgegeben, ja, sowohl der Finanzminister wie Herr Antonowitsch hätten infolgedessen sogar ihr Abschiedsgesuch eingereicht, dasselbe sei jedoch vom Kaiser nicht angenommen wor- den. Hierauf ist vielleicht die vor längerer Zeit von der „Kölnischen Zeitung" gebrachte Nachricht von dem Rücktritt Antonowitschs zurück- zuführen.

Ferner erzählt man sich, und zwar nicht bloß in panslawistischen Kreisen, daß die gar zu hoch schlagenden Wellen der Franzosen- freundschaft Seine Majestät den Zar mit Besorgnis erfüllt hätten, und er durch Abschluß des Handelsvertrages, sowie durch seine Zustimmung zur Verlobung des Großfürsten-Thronfolgers mit Ihrer Großherzog- lichen Hoheit Prinzessin Alix einen Damm gegen Überflutung der Bewegung, welche leicht dem Absolutismus, ja selbst dem monarchi- schen Prinzip in Rußland verhängnisvoll werden könnte, setzen wollte.

Eine bemerkenswerte Erscheinung ist, daß auch die hiesige pol- nische Gesellschaft, soweit sie nicht den landwirtschaftlichen Kreisen angehört, im Gegensatze zu ihren Stammesgenossen in Deutschland, dem Handelsvertrag abhold ist. Es hat den Anschein, als fürchte man gerade das, was die Panslawisten in Abrede zu stellen sich bemühen, nämlich daß mit Besserung der Handelsbeziehungen der beiden Nach- barstaaten sich auch ihr politisches Verhältnis zueinander freundlicher gestalten werde.

Die Handels- und landwirtschaftliche Welt, ebenso wie der nüch- tern denkende Teil der Bevölkerung haben den endlichen Abschluß des Vertrages mit unverhohlener Freude begrüßt, Sie sind von der politischen Bedeutung desselben nahezu überzeugt und geben sich der Hoffnung hin, daß die Lage sich so günstig gestalten werde, daß die Regierung sich fortan mit Erfolg der Ordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Innern widmen kann.

Es ist, wie eingangs bemerkt, nicht zu verkennen, daß im großen und ganzen zurzeit eine freundlichere Stimmung Deutschland gegen- über Platz gegriffen hat. Ob dieser Umschwung zum Bessern sich von Dauer erweisen wird, ist eine andere Frage. Hierüber äußerte sich neulich im Laufe einer längeren Unterhaltung eine der hiesigen Presse angehörige, mit den Verhältnissen sehr vertraute Persönlichkeit unge- fähr wie folgt:

„Ich zweifle, daß der Handelsvertrag einen dauernden Einfluß auf

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die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern haben wird. Die seit mehr als zwanzig Jahren fast von unserer gesamten Tages- presse systematisch betriebene Verhetzung alles Deutschen hat nicht verfehlt, Früchte zu tragen. Der Deutschenhaß ist ebenso wie der Kultus der Franzosen in gewissen Kreisen guter Ton geworden und hat auch in den breiteren Volksschichten Boden gewonnen. Neben der Presse ist es unsere chauvinistische, stark panslawistisch angehauchte Beamtenwelt und das Militär, sowohl die höheren wie die niederen Kreise, welche den Deutschenhaß pflegen. Für sie hat diese Hetze auch in der Tat eine praktische Bedeutung, weil sie sich mit dem deutschen Element in beständigem Kampfe befinden und seit Jahren bemüht sind, dasselbe aus den Stellungen, welche es noch immer in der Verwaltung und der Armee einnimmt, zu verdrängen. Es ist dies eine Art Kampf ums Dasein, der geführt wird. Wenn nun auch unsere Presse die Fähigkeit besitzt, urplötzlich die Front zu wechseln und, wie wir es soeben erlebten, heute das gut zu heißen, was sie gestern verurteilte, so darf dies doch keineswegs als eine Sinnesände- rung aufgefaßt werden, sondern ist lediglich als eine Unterordnung der eigenen Ansicht und Sympathien höheren Gewalten und Interessen, anzusehen. Unsere Presse versteht es eben, den Mantel nach dem Winde zu hängen. Selbst angenommen, daß es ihr mit dem Front- wechsel ernst ist, was ich, wie gesagt, bezweifle, so bleibt doch noch der andere, vielleicht weit mächtigere Faktor, welcher sich nicht be- seitigen läßt, weil er sein Vorhandensein dem persönlichen Interesse bestimmter, einflußreicher, dem Gemeinwohl ziemlich kühl gegenüber- stehender Kreise verdankt."

„Schon jetzt kann man übrigens die Wahrnehmung machen, daß die Presse unserer beiden Hauptstädte Neigung zeigt, ins alte Fahr- wasser einzulenken. Bereits werden Stimmen laut, daß der Abschluß des Handelsvertrags ein Fehler war, und daß nur Deutschland Vorteil von ihm hat, indem es den russischen Markt mit seinen Erzeugnissen überschwemmt, während unser Getreide infolge des niedrigen Preis- standes in Deutschland nach wie vor keinen Absatz dorthin findet."

Schäffer

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